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German Pages 193 Year 2018
THEOLOGIE DER LITURGIE
Verlag Friedrich Pustet
Martin Stuflesser, Joris Geldhof, Andy Theuer (Hg.)
»Ein Symbol dessen, was wir sind« Liturgische Perspektiven zur Frage der Sakramentalität
THEOLOGIE DER LITURGIE Herausgegeben von Martin Stuflesser Band 13 „Ein Symbol dessen, was wir sind …“ Liturgiewissenschaftliche Perspektiven zur Frage der Sakramentalität Verlag Friedrich Pustet Regensburg
Joris Geldhof, Martin Stuflesser Andy Theuer (Hg.)
„Ein Symbol dessen, was wir sind…“ Liturgiewissenschaftliche Perspektiven zur Frage der Sakramentalität Verlag Friedrich Pustet Regensburg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. eISBN 978-3-7917-7189-2 (PDF) © 2018 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg Umschlag: Martin Veicht, Regensburg eBook-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich: ISBN 978-3-7917-2585-7 Weitere Publikationen aus unserem Programm finden Sie unter www.verlag-pustet.de
Inhaltsverzeichnis
Die Societas Liturgica ........................................................................................................ 7 Martin Stuflesser Vorwort: „Ein Symbol dessen, was wir sind …“ Liturgiewissenschaftliche Perspektiven zur Frage der Sakramentalität ..................... 9 Tobias Weyler / Andy Theuer Ursprung, Anspruch und Praxis sakramentaler Feiern Der 26. Kongress der Societas Liturgica im Überblick .................................................. 13 Congress Statement „Ein Symbol dessen, was wir sind …“ ......................................................................... 18 Programm des Kongresses ............................................................................................. 23 Martin Stuflesser „… damit wir einst als unverhüllte Wirklichkeit empfangen, was wir jetzt in heiligen Zeichen begehen.“ Anmerkungen zur Theologie der Sakramente und der Sakramentalität im ökumenischen Kontext.................................................................................................... 25 Peter Gärdenfors Pantomime als Grundlage für Ritual und Sprache...................................................... 50 Josef Quitterer Liturgie als geteilte intentionale Praxis .......................................................................... 68 Thomas Pott Sakramentale Grenzgänge Liturgie zwischen Lebenswirklichkeit und Glaubenswahrheit.................................. 83 Elbatrina Clauteaux Das Prinzip der Sakramentalität Offenbarung der Göttlichkeit und der Menschlichkeit Gottes ..............................100 Janet Walton / Cláudio Carvalhaes Sakramente und globale Realitäten Ein Dialog ........................................................................................................................115 Johnson Kwabena Asamoah-Gyadu Zeichen, Token und Gegenständlichkeit Religiöser Symbolismus und Sakramentalität im nicht-westlichen Christentum .133
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Inhaltsverzeichnis
Lieven Boeve Symbole dessen, was wir berufen sind zu werden ....................................................155 Vorträge in Arbeitsgruppen zu Themenfeldern des Kongresses ...........................175 Ferenc Herzig Sakramentalität verstehen. Eine kurze Retrospektive ..............................................182 Martin Stuflesser Predigt der Kongress-Eucharistie ................................................................................186 Danksagung .....................................................................................................................189 Autorenverzeichnis.........................................................................................................191
Die Societas Liturgica
Die Societas Liturgica ist eine ökumenische Vereinigung von Liturgiewissenschaftlern. Ihre Mitglieder entstammen unterschiedlichen christlichen Traditionen, sie sind katholisch, evangelisch, anglikanisch oder orthodox, sie stammen aus Asien, Europa, Amerika oder Australien. Die Entstehung der Societas Liturgica geht zurück auf die Initiative des niederländischen Pastors Wiebe Vos. Er gründete Anfang der 1960er Jahre „Studia Liturgica“, eine ökumenische Zeitschrift für die Erforschung und Erneuerung der Liturgie. Im Jahr 1967 trafen sich dann Theologen und Kirchenvertreter erstmals zu einem internationalen Kongress in Driebergen in den Niederlanden. Ein halbes Jahrhundert und 25 Kongresse später ist die Societas Liturgica lebendiger und internationaler als je zuvor (www.societas-liturgica.org). Auch heute fühlen sich ihre Mitglieder der Ökumene und der Erneuerung der Liturgie verpflichtet.
Vorwort
„Ein Symbol dessen, was wir sind …“ Liturgiewissenschaftliche Perspektiven zur Frage der Sakramentalität
Martin Stuflesser
Vom 7.–12. August 2017 fand in Leuven/Belgien der 26. Kongress der Societas Liturgica statt zu dem Thema: „Ein Symbol dessen, was wir sind …“. Liturgiewissenschaftliche Perspektiven zur Frage der Sakramentalität. Obwohl sich die Societas in der Vergangenheit auf ihren Kongressen immer wieder mit einzelnen Sakramenten auseinandergesetzt hat – so zuletzt im Jahr 2011 in Reims (Frankreich) mit der Theologie und der rituellen Praxis der Taufe –, hat sich die Societas Liturgica noch nie ausdrücklich mit einer generellen Theorie oder Theologie der Sakramentalität beschäftigt. Auf ihrem 26. Kongress im Sommer 2017 setzte sich die Societas nun auch mit dieser Grundfrage auseinander, wie im ökumenischen Kontext theologisch näherhin zu verstehen ist, dass, so die christliche Grundannahme sakramentalen Handelns in der Kirche, Gottes gnadenhaftes Handeln vermittelt in und durch sichtbare Zeichen geschieht. Der Kongress der Societas widmet sich hierbei einem echten Desiderat liturgiewissenschaftlicher Forschung: Angestoßen durch die Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils Sacrosanctum Concilium und der auf den liturgietheologischen Prämissen der Liturgiekonstitution aufbauenden, umfassenden Liturgiereform der römisch-katholischen Kirche haben seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auch andere christliche Konfessionen ihre rituelle Praxis einer grundlegenden Reform unterzogen.1 Zeitgleich wurden zum Teil sehr weitgehende neue Ansätze zur Sakramententheologie entwickelt. Insofern stellen die vergangenen 50 Jahre liturgie- wie theologiegeschichtlich auch im Blick auf die Sakramente, deren Sinngehalt (= theol. Bestimmung), wie deren Feiergestalt (= rituelle Gestalt), eine bedeutsame Periode dar. Maßgeblich für die in diesem Zeit-
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Vgl. hierzu grundlegend: G. W. Lathrop / M. Stuflesser (Hg.), Liturgiereformen in den Kirchen. 50 Jahre nach Sacrosanctum Concilium (Theologie der Liturgie 5), Regensburg 2013.
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Martin Stuflesser
raum vorgelegten sakramententheologischen Entwürfe waren v. a. (sich teilweise überlappende) Versuche, (a) die traditionelle Theologie der (sieben) Sakramente aufs Neue auszulegen und vorzustellen im Hinblick auf einen sozio-kulturellen Kontext, der sich in rasantem Wandel befindet; (b) die Sakramente nicht länger ausschließlich theologisch zu betrachten, sondern sich ihnen aus einer interdisziplinären Perspektive anzunähern, wobei v. a. kultur- und sozialwissenschaftliche Zugänge eine Rolle spielen, aber auch philosophisch-anthropologische; (c) die klassische Theologie der Sakramente aus zeichentheoretischer Sicht zu erneuern. In den meisten bislang vorgelegten Entwürfen wird allerdings über einen wesentlichen Aspekt der Sakramente hinweggesehen: die christliche Liturgie als rituell geprägtes Handlungsgeschehen und damit die konkrete Feiergestalt der Sakramente wird nicht näher beachtet. Insofern erfassen die bisherigen sakramententheologischen Ansätze ihren Gegenstand nicht bzw. nur zu Teilen oder in unbefriedigender Weise. Diesem Desiderat widmet sich der Kongress der Societas Liturgica, indem er versucht dazu beizutragen, eine allgemeine Theorie der Sakramente aus liturgiewissenschaftlicher Perspektive zu entwickeln und dabei zumeist ausgeht von einzelnen, als „sakramental“ zu charakterisierenden konkreten rituellen Vollzügen. Das Council der Societas Liturgica vertrat mit der Wahl dieses Themas für den 26. Kongress die Auffassung, dass ein Neuansatz einer allgemeinen Sakramentenlehre induktiv, d. h. ausgehend von den konkreten rituellen Vollzügen her entwickelt werden muss. Dazu bedarf es liturgiewissenschaftlicher Untersuchungen, die eben jene rituellen Vollzüge der Sakramente und ihr Erleben zu erfassen vermögen.2 Mit anderen Worten: Dieses Desiderat erfordert zwingend einen konsequenten „liturgical turn“ in der Sakramententheologie.3 Dieser grundlegende Paradigmenwechsel soll – dies sei explizit in Richtung der anderen einschlägigen theologischen Disziplinen festgehalten – keineswegs insinuieren, dass damit zukünftig „der systematische Blick auf die liturgische Fundierung der Sakramente
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Zum methodischen Instrumentarium der Liturgiewissenschaft vgl. grundlegend: Martin Stuflesser / Stephan Winter, Liturgiewissenschaft – Liturgie und Wissenschaft? Versuch einer Standortbestimmung im Kontext des Gesprächs zwischen Liturgiewissenschaft und Systematischer Theologie, in: Liturgisches Jahrbuch 51 (2001) 90–118. Ein methodischer Ansatz, dem leider auch jüngere Veröffentlichungen nicht immer genügen. Vgl. etwa auch das unlängst erschienene, in dieser Hinsicht eher kritisch zu betrachtende, von Hans Boersma und Matthew Levering herausgegebene: The Oxford Handbook of Sacramental Theology, Oxford 2015.
Vorwort 11 […] eher den Fachkollegen von der Liturgiewissenschaft überlassen bleibt“; vielmehr muss es das Ziel sein, „dass Theologie insgesamt liturgisch denkt“4.
Die in diesem Band dokumentierten Hauptvorträge spiegeln dabei die nachfolgenden Forschungsfelder („research axes“) wider, denen auch die 84 kürzeren Vorträge („papers“) zugeordnet sind: Forschungsachse 1: Sakramentalität: Interdisziplinäre Perspektiven (Philosophie, Kulturtheorie)
Forschungsachse 2: Sakramentalität und Sakralität (Anthropologie; Religionswissenschaften; Ritual Studies)
Forschungsachse 3: Sakramentalität in Schrift und früher Christenheit (Bibelwissenschaften; Kirchengeschichte)
Forschungsachse 4: Sakramente und Liturgie (Systematische Theologie; Theologiegeschichte)
Forschungsachse 5: Auseinandersetzungen um Sakramente und Sakramentalität (Ökumene)
Forschungsachse 6: Sakramentalität und Pastoral-Liturgie (Praktische Theologie)
Forschungsachse 7: Sakramentalität, Heil, Heiligkeit, Heiligung (Liturgietheologie; (liturgische) Spiritualität)
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Stefan Oster, Allgemeine Sakramentenlehre, in: T. Marschler / T. Schärtl (Hg.), Dogmatik heute: Bestandsaufnahme und Perspektiven, Regensburg 2014, 467–508, hier 488. – Dies hat bereits die Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanums Sacrosanctum Concilium ausdrücklich eingefordert, wenn es dort in Art. 16, wo die Liturgiewissenschaft als theologische Hauptdisziplin etabliert wird, heißt: „Darüber hinaus mögen die Dozenten der übrigen Fächer, insbesondere die der dogmatischen Theologie, die der Heiligen Schrift, der Theologie des geistlichen Lebens und der Pastoraltheologie, von den inneren Erfordernissen je ihres eigenen Gegenstandes aus das Mysterium Christi und die Heilsgeschichte so herausarbeiten, dass von da aus der Zusammenhang mit der Liturgie und die Einheit der priesterlichen Ausbildung deutlich aufleuchtet.“
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Martin Stuflesser
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Aufgabe, die sich der 26. Kongress der Societas Liturgica gesetzt hatte, war es, einen Begriff des Sakramentalen a) im ökumenischen Kontext und b) aus liturgiewissenschaftlicher Perspektive zu gewinnen, aus der Perspektive also des/der Liturgiewissenschaftlers/-in sowohl im gegenwärtigen Kontext als auch als Teilnehmende am Kongress, die zusammen diese Liturgie der Sakramente auch feiern und leben, diese reflektieren und diese diskutieren. Mögen die hier dokumentierten Forschungsergebnisse nun auf ein ebenso großes Interesse nach der Frage der Sakramentalität aus liturgiewissenschaftlicher Perspektive stoßen, wie dies auch den 26. Kongress der Societas Liturgica in Leuven im August 2017 ausgezeichnet hat.
Würzburg, am 1. Advent 2017 Martin Stuflesser (für die Herausgeber)
Ursprung, Anspruch und Praxis sakramentaler Feiern Der 26. Kongress der Societas Liturgica im Überblick
Tobias Weyler / Andy Theuer
Beim Kongress beschäftigten sich rund 230 internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fünf Tage lang intensiv mit Fragen zu Sakramenten und Sakramentalität im interkonfessionellen Diskurs. Alle Beiträge, sowohl die in diesem Band abgedruckten Hauptvorträge, als auch die zahlreichen Kurzvorträge, so zu strukturieren, dass am Ende ein handfestes Ergebnis steht, wäre ein kühnes, nahezu aussichtsloses Unterfangen. Dieser Rückblick, der gleichzeitig einen Ausblick auf die nachfolgenden Beiträge bietet, möchte jedoch zumindest den Versuch wagen, die Hauptvorträge in ihren Kernaussagen und den grundlegenden Fragen, die sie aufwerfen, vorzustellen, rote Fäden zu identifizieren und so einen Überblick über das zu geben, was den 26. Kongress der Societas Liturgica (SL) ausmachte.1 In seiner Eröffnungsansprache als Präsident der SL legt Martin Stuflesser zentrale Fragen und Probleme einer liturgischen Sakramententheologie dar: Da sich die sakramentale Idee in der Krise befinde, müsse zum einen in ökumenischem Rahmen bedacht werden, wo die christlichen Sakramente ihre Wurzeln haben: in der im Gottesdienst verkündigten Heiligen Schrift als der institutio sacramenti. Zum anderen seien Überlegungen anzustellen, wie die Bedeutung sowie der lebenspraktische Effekt und Anspruch der Sakramente heutzutage adäquat zum Ausdruck kommen könne. Neben der theologischen Begründung bedürfe es einer Feiergestalt, welche den Sinn des Gefeierten deutlich zum Ausdruck bringt (vgl. SC 21). Es müsse darum gehen, das Ersthandeln Gottes und die darauffolgende Antwort des Menschen in der Liturgie aussagekräftig darzustellen, um dadurch dem Ziel der Sakramente, dass Christen im Leben einholen und umsetzen, was in ihnen symbolhaft gefeiert und empfangen wird, näher zu kommen. 1
Um diesem Anspruch gerecht zu werden, werden die Vorträge nicht chronologisch, sondern hinsichtlich ihrer thematischen Schnittmengen abgehandelt.
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Tobias Weyler / Andy Theuer
Ursprung, Anspruch und Feier – diese drei Gebiete, aus denen sich die meisten Fragen, Beiträge und Diskussionen der Tagung speisten, sollen im Folgenden betrachtet werden.
Ursprünge und Erscheinungsformen der sakramentalen Idee Die Hauptvorträge nähern sich dem Thema aus verschiedenen Perspektiven: Elbatrina Clauteaux bemüht sich um eine „Entspannung“ des Begriffs Sakramentalität, indem sie zeigt, dass jeder Mensch Adressat der – so formuliert sie bewusst neutral – „Offenbarung der Göttlichkeit und der Menschlichkeit des ‚Göttlichen‘“ ist: Das „Prinzip der Sakramentalität“ versteht sie als die symbolische, narrative und rituelle Vermittlung von Transzendenz. Es sei als Möglichkeit in die Schöpfung eingeschrieben und ausschließlich der Mensch besitze die Fähigkeit, symbolisch zu kommunizieren und so das sich im Symbol offenbarende Göttliche zu erkennen und anzueignen. Dazu bedürfe es, so zeigt sie als Anthropologin am Beispiel der symbolisch kommunizierenden und kommunizierten Religion der Pemón-Indianer, nicht unbedingt eines genuin christlichen Ansatzes. In ähnlicher Weise, aber mit Fokus auf die pfingstlich-charismatischen Kirchen Afrikas, beschäftigt sich Johnson Kwabena Asamoah-Gyadu mit der christlichen Übernahme und Neudeutung von Zeichen und Token, die ihren Ursprung in den traditionellen afrikanischen Religionen haben. Beispielsweise finden Substanzen wie Öl, Seife, Sand oder auch der Atem des gesalbten, charismatischen Priesters in diesem Kontext als religiöse Gegenstände eine breite Verwendung. Diese würden hierbei als sakramentale Zeichen in einem umfassenderen Sinne als in der traditionellen Theologie verstanden, stünden aber – dies sei positiv zu bemerken – nicht im Widerspruch zu den traditionellen Praktiken: Laut dem ghanaischen Methodisten bedeuten diese religiösen Gegenstände eine Erneuerung im Sinne eines Amalgams aus biblischen und traditionellen Religionen. Wenngleich die Gefahr besteht, dass sich mit diesen Praktiken Magievorstellungen oder gar Aberglaube etablieren, sei die Entwicklung in den pfingstkirchlichen Bewegungen insgesamt als eine christlich-religiöse Innovation zu verstehen, die nicht zuletzt auch neue Wege, den Glauben auszudrücken, bereiten könne. Ob eine Gemeinschaft durch rituelle Vollzüge konstituiert werde oder diese Vollzüge bloß der Ausdruck des Gemeinschaftssinnes seien, diskutieren Peter Gärdenfors und Josef Quitterer: Der Kognitionswissenschaftler Gärdenfors verortet den Ursprung von Ritualen in pädagogischen Kontexten, die darauf abzielen, durch Pantomime, Demonstration und Imitation von Prozessen die Fähigkeit zu vermitteln, das jeweilige gewünschte Ergebnis selbst zu erreichen. Rituale seien
Ursprung, Anspruch und Praxis sakramentaler Feiern
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durch Formalität, Wiederholung, Redundanz und Stereotypizität gekennzeichnet und hätten die Intention, Lehren rituell zu vermitteln und dadurch die dem Ritual passiv beiwohnenden und so belehrten Menschen zu einer Einheit zusammenzuführen. In direkter Erwiderung stimmt der Theologe und Philosoph Quitterer den erstgenannten Charakteristika auch aus sakramententheologischer Sicht zu, weist jedoch gleichzeitig darauf hin, dass das von Gärdenfors vorgestellte Konzept mit Blick auf liturgische Rituale modifiziert werden müsse: Die Feier von Sakramenten setze einen gemeinsamen, von allen geteilten Glauben ebenso voraus wie die zwar gestufte, aber doch wesentlich aktive Teilnahme aller Versammelten. Die Wirksamkeit der Rituale bestehe darin, dass ihnen im Glauben eine transformierende Kraft zugeschrieben werde, welche sich dann im Alltag realisiere.
Sakramente zwischen Anspruch und Realität Doch können wir diesen Glauben in der heutigen Zeit voraussetzen? Sind christliche sakramentale Feiern in den Augen der Gläubigen mehr als nur die Vergewisserung der Liebe Gottes, der eigenen Identität als Christ sowie der Tatsache, dass andere Menschen allen Säkularisierungsthesen zum Trotz einen ähnlichen Glauben teilen, wie der Fundamentaltheologe Lieven Boeve in seinem Vortrag postuliert? Können Sakramente als Teilhabe an den Mysterien Christi erfahrbar und im Alltag wirksam werden; kann das, was wir in den Sakramenten symbolhaft feiern, Realität werden? Und wenn ja, wie? Antwortmöglichkeiten auf diese Fragen wurden sowohl theoretisch erörtert als auch an praktischen Beispielen konkretisiert: Einen theoretischen Ansatz liefert Thomas Pott, Mönch der Abtei Chevetogne. Die östliche Theologie biete mit ihrem Begriff von mysterion/Sakrament einen Ansatz, die Gläubigen nicht als bloße, mehr oder weniger würdige Empfänger einer gültig vollzogenen Heilstat Christi zu sehen: Mysterion/Sakrament meine nicht, dass Christus selbst in symbolischer Weise gegenwärtig ist, sondern der Terminus bezeichne den Akt und Zustand der Teilhabe der Gläubigen am Wesen des gestorbenen und auferstandenen Herren. Wenn wir dem folgen und voraussetzen würden, dass wir im eucharistischen Mahl an Christi Leib und Blut selbst teilhaben, dann sei das mysterion/Sakrament im Vollzug des Mahles gegenwärtig, dann müsse nicht länger – für viele unverständlich – um die Gegenwart Christi unter einer bestimmten Materie als bestimmte substantielle Form gerungen werden. So könne die Zeichenhaftigkeit des Mahles in der Feier des mysterions/Sakramentes stärker hervortreten und erfahrbar werden: Es ist dann gemeinschaftsstiftendes und Stärkung gebendes, mit den Anderen geteiltes Mahl. Mit diesem Verständnis gelinge – im Gegensatz zum bloßen, meist passiven Sak-
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Tobias Weyler / Andy Theuer
ramentenempfang – die Hineinnahme in die sakramentale Wirklichkeit dessen, was wir sind, tun und was wir werden sollen. Beispielhafte Versuche des Lebens aus der transformierenden Kraft der Sakramente angesichts vielfältiger globaler Herausforderungen wie Krieg, Flucht, Hunger, Wasserknappheit stellen Janet Walton und Cláudio Carvalhaes vor: Dort beispielsweise, wo ein Obdachloser das letzte Stück trockenes Brot dem Seelsorger für die gemeinsame Eucharistiefeier überlässt und dieser es an die versammelte Gemeinde der Obdachlosen austeilt, werde die Selbsthingabe Christi an die Seinen und die Gemeinschaft der Marginalisierten erfahrbar. Ebenso könne eine leibhaftige Symbolisierung des Gefeierten helfen, mehr als zuvor den Gehalt zu begreifen und couragiert in das eigene Leben und Denken zu übersetzen: Amerikanische Studenten, die auf dem Boden der Universitätskapelle liegend die Toten des Irakkriegs darstellten, seien lebendige Stolpersteine und so mahnendes, den Betrachter in Unruhe versetzendes Zeichen, sich für den Frieden einzusetzen, den die Welt nicht geben kann und den wir in den Sakramenten erflehen.
Gefeierte Liturgie in aussagekräftigen Zeichen Wie ist die liturgische Praxis heute also zu gestalten? Darauf versuchten die gemeinsam gefeierten Gottesdienste praktische Antworten zu entwickeln, die – auch wie bei den vorangegangenen Kongressen – neben der wissenschaftlich-theoretischen Auseinandersetzung einen festen Bestandteil des Programms bildeten. Dass die SL sich den Prinzipien der Liturgischen Bewegung und dem ökumenischen Gedanken verpflichtet weiß, wurde durch ein gemeinsames Gebet im byzantinischen Ritus am Grab von Dom Lambert Beauduin, einem der Initiatoren besagter Bewegung in Belgien, in der Abtei Chevetogne deutlich. Morgen- und Abendgebete in der Kirche Sint Michiel direkt neben dem Tagungsort, vorbereitet und geleitet von Angehörigen verschiedener Konfessionen und Riten, rahmten die Tage der Kongresswoche. Den Eröffnungsgottesdienst in der zentral gelegenen Sint Pieter Kirche leiteten Vertreter der anglikanischen, reformierten und lutherischen Tradition gemeinsam mit dem Bischof von Brügge, Dr. Lodewijk Aerts. Zentraler Akt war dabei die feierliche Inthronisation der Heiligen Schrift in Form des eigens erstellten Kongresslektionars. Weitere Höhepunkte gefeierter Liturgie bildeten ein ökumenischer Versöhnungsgottesdienst, in dem der lutherischen Reformation vor 500 Jahren unter dem Motto „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“ wirkmächtig und eindrucksvoll mit einem gemeinsamen Gebet um Vergebung und einem gemeinsamen Taufgedächtnis gedacht wurde sowie die Kongresseucharistie in der Beginenhofkirche zum Abschluss der Woche, der Präsident Martin Stuflesser vorstand: Nachdem die liturgia verbi im Kirchenschiff gefeiert
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worden war, versammelte sich die Gemeinde zur liturgia eucharistica um die runde Altarinsel vor dem Chorraum. Erstmals verwendet wurden bei dieser Messe jüngst angefertigte liturgische Gefäße, die es aufgrund ihrer ungewöhnlichen Größe ermöglichen, auch bei einer großen Anzahl an Gottesdienstteilnehmern für die Feier lediglich e i n e n Kelch (mit 1,5 l Fassungsvermögen) und e i n e Hostienschale zu verwenden. Diese werden dann für die Kommunionausteilung um kleinere, ähnlich modellierte Schalen und Kelche ergänzt und verdeutlichen so, was die Feier des Sakramentes im Symbol darstellt und erreichen möchte, eine Gemeinschaft im Mahl und darüber hinaus: „E i n Brot ist es. Darum sind wir viele e i n Leib; denn wir alle haben teil an dem e i n e n Brot.“ (1 Kor 10,17).
„Ein Symbol dessen, was wir sind …“ Liturgiewissenschaftliche Perspektiven zur Frage der Sakramentalität
Congress Statement
In ihrer langen Geschichte hat sich die Societas Liturgica noch nie ausdrücklich mit einer generellen Theorie oder Theologie der Sakramentalität beschäftigt. Zwar waren einzelne Sakramente der Gegenstand intensiver Forschung und Diskussionen – so zuletzt die Taufe auf dem Kongress 2011 in Reims. Auf dem kommenden Kongress wollen wir uns aber auf das Prinzip konzentrieren, dass Gott sichtbare Zeichen verwendet, um seine Gnade zu vermitteln. Deshalb erscheint es besonders interessant und auch an der Zeit zu sein, sich auf die Frage der Sakramentalität zu fokussieren. Zusätzlich scheint es angemessen zu sein, Sakramentalität als ein grundlegendes Charakteristikum menschlicher Erfahrung anzusehen. Deshalb lädt die Societas all ihre Mitglieder und alle Interessierten dazu ein, dieses Thema auf ihrem 26. Kongress in Leuven zu behandeln: „Ein Symbol dessen, was wir sind.“ Liturgiewissenschaftliche Perspektiven zur Frage der Sakramentalität. Sakramente und Sakramentalität haben im Laufe der Geschichte des Christentums Unterschiedliches bedeutet: Von der Siebenzahl der römisch-katholischen Tradition bis zu der Interpretation, dass es nur zwei Sakramente gibt, wie es in vielen Gemeinschaften charakteristisch ist, die der Tradition der Reformation entstammen. Wir wollen jedoch bei diesem Kongress ganz bewusst über entstandene Konflikte in der Lehre hinausgehen und vielmehr ein ganzes Themenfeld eröffnen, das von human- und liturgiewissenschaftlichem wie allgemein theologischem Interesse ist. Vorläufig ließe sich „Sakramentalität“ definieren als die christliche Bestimmung heiliger Handlungen, Personen, Dinge und Phänomene, die sie auf die eine oder andere Weise in die Heilsgeschichte einschreiben und durch die das Pascha-Mysterium Christi vermittelt wird. Dieses Mysterium wird jedoch verstanden als eine Gabe oder Gnade Gottes an und für die Menschheit, die sowohl dafür ausgerüstet als auch dazu aufgerufen ist, an diesem Mysterium „tätig teilzunehmen“. Unterschiedliche Praktiken christlichen Gottesdienstes haben dabei in der komplexen Geschichte der Vermittlung, Aneignung und Verinnerlichung immer eine Schlüsselrolle gespielt. Der Horizont im Hintergrund, vor dem sie auftauchen, ist die geschaffene Realität, weil sie als verkörperter Ausdruck in die
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physische Materialität eingebettet sind. Es scheint aber, dass es viele Fragen gibt, die sich auf diese Realität beziehen, die man zu Recht „Sakramentalität“ nennen kann, und dass diese Fragen auch heute noch Geltung haben. So gibt es mindestens fünf mögliche Zugangswege zu diesem Thema, die alle von besonderer Relevanz für die Liturgiewissenschaft sind: 1) Es gibt verschiedene Schichten, Dimensionen oder mögliche Bedeutungen von Sakramentalität in den Dokumenten der frühen Christenheit, besonders in der Heiligen Schrift. Das Alte und Neue Testament offenbaren unterschiedliche Zugänge zu Heiligkeit und Heiligung, die es auch heute verdienen, studiert und (re-)interpretiert zu werden. Zusätzlich finden sich bei den Kirchenvätern anregende Gedanken zur Sakramentalität, seien diese unmittelbar auf die Schrift bezogen oder nicht. Augenscheinlich ist das zentrale Verständnis von „Mysterium“ entscheidend in diesem Kontext. Liturgiewissenschaftler des 20. Jahrhunderts haben den Konzepten von Mysterium und Sakrament im antiken Christentum besondere Aufmerksamkeit gewidmet und haben Theorien entwickelt, wie diese zusammenhängen mit Kult und Liturgie. Sie haben klare theologische Verbindungen aufgezeigt zwischen Christus und Kirche, die sie beide in der Überzeugung als „sakramental“ verstanden haben, dass beide zuallererst etwas mit der dynamischen Liebe der Trinität zu tun haben. Es wäre jedoch in jedem Fall sinnvoll, diese Akte wieder zu öffnen und die vielfältigen Ergebnisse vorausgegangener Forschung zu (re-)evaluieren. 2) Sakramente bedeuten für viele Menschen eine zunehmend seltsame Realität, zumindest gilt dies in jenem Gebiet, das wir gemeinhin „den Westen“ nennen, wo die Teilnahme am Gottesdienst über mehrere Dekaden stetig abgenommen hat – aber vielleicht trifft dies auch für andere Gegenden zu. Viele Menschen haben heute keine Vorstellung mehr davon, was Sakramente sind, was sie bedeuten und was sie bewirken (können). Zusätzlich scheinen Christen unterschiedlicher Meinung darüber zu sein, was die Sakramente erreichen. Es gab viele theologische Debatten über die korrekte Interpretation der Sakramente. Zur selben Zeit kann Sakramentalität aber als eine Realität der Lebenswirklichkeit von Menschen angesehen worden, die als eine Art von Offenheit für Transzendenz bezeichnet werden kann, als ein Sinn für Wunder, als die Erfahrung einer tiefen Verbundenheit, etc. Da Liturgiewissenschaftler/-innen Spezialisten sind für das Repertoire christlicher Rituale, dürften sie ein grundlegendes Interesse an Sakramentalität haben, hier verstanden als das Feld, auf dem die Verbindung hergestellt werden kann zwischen dem Leben der Menschen auf der einen Seite und den christlichen Feiern, Riten, Gebeten und Sakramenten auf der anderen. 3) Die Frage nach der Sakramentalität ist eine der Hauptbeschäftigungen von Theologen/-innen der Vergangenheit und der Gegenwart. Viele christliche Denker haben ernsthafte Anstrengungen unternommen und tun es noch, zu verstehen und zu erklären, was Sakramentalität ist und was eine sakramentale Erfahrung sein
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Congress Statement
könnte. Auf diese Art wurden Versuche unternommen, zu definieren, was das fundamentale sakramentale Prinzip des Christentums ist. Unterschiedliche Realitäten wie die Kirche, das Christus-Ereignis, aber auch Gebäude, Metaphern, Handlungen, Symbole, Musik und Objekte wurden so als sakramental qualifiziert. Einige Theologen haben Sakramentalität in einem sehr weiten Sinn verstanden, wo andere wesentlich restriktiver waren im Gebrauch dieser theologischen Kategorie – Differenzen, die ohne Zweifel nicht nur entlang, sondern auch innerhalb konfessioneller Grenzen bestehen. Die Liturgiewissenschaft kann vielleicht dazu beitragen, zu klären, was es ist, das diese unterschiedlichen Realitäten verbindet, die als sakramental bezeichnet wurden. Und sie kann dabei helfen, eine angemessene Kriteriologie zu entwickeln, angepasst an die unterschiedlichen Kontexte des frühen 21. Jahrhunderts. 4) Anthropologen und Historiker haben die komplexe Frage der „Heiligkeit“ untersucht und reflektiert. So gibt es zahlreiche Versuche, eine klare Unterscheidung vorzunehmen zwischen dem Heiligen und dem Profanen. Das Verhalten der Menschen, so glaubt man, sei unterschiedlich in jedem dieser beiden Bereiche. Gewöhnliche Aktivitäten wie Laufen und Essen genauso wie einfache Handlungen wie Berühren, Sprechen, Singen werden mit einer völlig anderen Bedeutung aufgeladen in einer heiligen oder sakramentalen Umgebung. Liturgiewissenschaftler/-innen haben vielleicht ein besonderes Empfinden bei diesen Unterscheidungen und haben hier angemessene Denkmodelle, um das Spezifische einer christlich sakramentalen Ordnung zu interpretieren und zu erklären. 5) Im Bereich der Spiritualität scheint Sakramentalität ein Schlüssel zu sein, um die Erfahrung von Menschen zu verstehen, genauso wie deren bunt gemischte Interpretationen. Weil menschliche Wesen heilig oder berufen zur Heiligkeit sind, ist hierbei ein bestimmtes Verständnis von Sakramentalität involviert. Die Liturgiewissenschaft scheint, wiederum, über ein besonders nützliches Know-how zu verfügen, um die Verbindung zwischen dem christlich sakramentalen Haushalt und dem Leben der Menschen zu interpretieren. Forschungsachse 1: Sakramentalität: Interdisziplinäre Perspektiven (Philosophie, Kulturtheorie) Aus einer zeitgenössischen philosophischen Perspektive: Worüber sprechen wir, wenn wir das Konzept von Sakramentalität verwenden? Wo und wie erscheint Sakramentalität in unserer zeitgenössischen Kultur? Was ist symbolische Kommunikation? Was geschieht in unserem Gehirn, wenn wir in sakramentale Praktiken involviert sind? Was können die Einsichten aus dem Bereich der Neuro-Wissenschaften uns lehren im Hinblick auf symbolische Wege der Verbindung und Kommunikation untereinander? Welche Modifikationen bewirken Cyberspace und das digitale Zeitalter im Hinblick auf ein „embodiment“ (eine Verkörperung/Verleiblichung)?
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Forschungsachse 2: Sakramentalität und Sakralität (Anthropologie; Religionswissenschaften; Ritual Studies) Sind menschliche Wesen von Natur aus mit einem Sinn für das Heilige ausgestattet? Ist christliche Sakramentalität zu unterscheiden von generellen Formen religiöser Heiligkeit? Was wäre der angemessenste Standard oder ein Kriterium, beide voneinander zu unterscheiden? Oder ist es unmöglich, oder auch nicht opportun, solch eine Unterscheidung vorzunehmen? Was kann Liturgiewissenschaft in dieser Hinsicht von der Anthropologie lernen? Welches sind konkrete Gestalten, Typen oder Formen sakramentaler Praktiken und sakramentalen Verhaltens, die empirische Forschung untersucht und unterscheidet? Bis zu welchem Punkt ist es möglich, diese Praktiken als eine Dynamik zwischen (oder: über) Entzauberung und Verzauberung zu interpretieren? Forschungsachse 3: Sakramentalität in Schrift und früher Christenheit (Bibelwissenschaften; Kirchengeschichte) Welche Rolle spielt Sakramentalität in den Schriften des Alten und des Neuen Testaments? Wie wird diese Fragestellung in den unterschiedlichen Texten angegangen und ausgedrückt? Welche Interpretationen liefern Kirchenväter und frühe liturgische Dokumente und Kirchenordnungen für Sakramentalität und Mysterium? Was können, oder sollten, heutige Liturgiewissenschaftler/-innen bedenken, wenn sie mit diesem Erbe und diesen Zeugnissen umgehen? Wie haben Theologen der Vergangenheit die Sakramentalität des Wortes interpretiert? Forschungsachse 4: Sakramente und Liturgie (Systematische Theologie; Theologiegeschichte) Wie ist das Verhältnis von Sakramenten und Liturgie? Ist Liturgie immer, und notwendigerweise, oder gar niemals sakramental? Sind Sakramente immer, und notwendigerweise, liturgisch? Was kann liturgiewissenschaftliche Forschung zu einer (allgemeinen) Theologie der Sakramente beitragen? Wie konnte es dazu kommen, dass klassische Sakramententheologen zu großen Teilen das konkrete Ritual und die euchologische Gestalt der Liturgie übersehen haben? Wie haben Theologen, Synoden oder Konzilien das Verhältnis von Liturgie und Sakramenten in der Vergangenheit beschrieben? Wie werden Sakramente (am besten) an zukünftige Generationen weitergegeben? In welcher Hinsicht sind sie Gnadenmittel und Träger des Heils? Wie würde eine liturgische und/oder sakramentale Hermeneutik der Tradition aussehen? Forschungsachse 5: Auseinandersetzungen um Sakramente und Sakramentalität (Ökumene) Welche sind die Hauptdifferenzen zwischen den christlichen Kirchen und Traditionen im Hinblick auf ihre Behandlung von Sakramenten und Sakramentalität?
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Congress Statement
Was erklärt das Auskommen und das zähe Fortbestehen dieser Unterschiede? Sind diese Unterschiede auch heute noch relevant? Oder warum (nicht)? In welcher Hinsicht kann Liturgiewissenschaft dabei helfen, konfessionelle Unterschiede zu überwinden, oder umgekehrt, diese sogar zu verstärken? Was wäre der wichtigste Beitrag der Liturgiewissenschaft zur gegenwärtigen Sachlage in oecumenicis? Forschungsachse 6: Sakramentalität und Pastoral-Liturgie (Praktische Theologie) Warum wäre es heute notwendig oder interessant, Initiativen zu ergreifen, Sakramentalität im gottesdienstlichen Leben christlicher Gemeinden zu fördern? Gibt es eine Verbindung zwischen Sakramentalität und dem Aufbau christlicher Gemeinschaft? Kann und/oder sollte man bei den Menschen den (angeborenen) Sinn für das Heilige fördern, um christliche Sakramentalität zu stärken? Ist es in dieser Hinsicht besonders fruchtbar, aus der Tradition der Mystagogischen Katechesen zu schöpfen? Kann man die Förderung christlicher Sakramentalität als eine Initiation in die Mysterien des Glaubens betrachten? Welches sind gute Beispiele (oder sog. „best practice“), um eine authentische christliche Sakramentalität zu befördern? Forschungsachse 7: Sakramentalität, Heil, Heiligkeit, Heiligung (Liturgietheologie; [liturgische] Spiritualität) Wie ist das Verhältnis von Sakramentalität, Heil und Heiligung näher zu bestimmen? Wie bewirkt die Feier der Liturgie Heil und Heiligung? Was ist sakramentale Gnade? Wie verhält sich diese zur menschlichen Freiheit? Können die Wirkungen der Sakramente konzeptualisiert werden im Hinblick auf Heiligung? Wie ist das Verhältnis von Heilsgeschichte, heiligenden Praktiken und der Feier der Liturgie? Wie stehen Liturgie und Sakramentalität in Verbindung zur Eschatologie? Und wie stehen sie (zur selben Zeit) in Verbindung zum konkreten (täglichen) Leben der Menschen? Wie kann das Nachdenken über Sakramentalität den Menschen in den Anfechtungen heutiger Krisensituationen helfen (im Hinblick auf kriegerische Auseinandersetzungen, Fragen der Umwelt, Formen von Gewalt, Fragen der Gesundheit, der Ernährung der Weltbevölkerung, usw.)? Wie ist das Verhältnis von Sakramentalität und (der Entwicklung) der eigenen Persönlichkeit? Ist es angemessen und zu befürworten, Heiligkeit auf Personen anzuwenden? Wie wäre eine solche (persönliche Form der) Heiligkeit einzuordnen im Hinblick auf christliche Sakramentalität und den universellen Ruf zur Heiligkeit? Welche Perspektiven und Möglichkeiten hat die Liturgie, um Heiligkeit und ein sakramentales Leben zu stimulieren? Übersetzung aus dem Englischen: Martin Stuflesser
Programm des Kongresses Leuven, 7.–12. August Montag, 7. August 2017 14.00–17.00 Uhr 18.00–18.45 Uhr 19.15–20.15 Uhr 20.30–23.00 Uhr
Registrierung Eröffnungsgottesdienst Eröffnung des Kongresses durch den Präsidenten Martin Stuflesser Empfang mit Abendessen und belgischem Bier
Dienstag, 8. August 2017 8.30–9.00 Uhr 9.30.–12.00 Uhr 12.00–14.00 Uhr 14.00–16.40 Uhr 16.50–17.50 Uhr 18.00–18.45 Uhr 19.00–20.00 Uhr 20.30 Uhr
Laudes Hauptvorträge I und II Mittagessen Vorträge zu den Forschungsachsen 1–3 Forum: Die Zukunft der Societas Liturgica Vesper Abendessen Kongress-Konzert
Mittwoch, 9. August 2017 8.30–9.00 Uhr 9.30–12.00 Uhr 12.00–14.00 Uhr 14.00–17.30 Uhr 18.00–18.45 Uhr 18.45 Uhr 19.00 Uhr
Laudes Hauptvorträge III and IV Mittagessen Vorträge zu den Forschungsachsen 4–7 Vesper Empfang für neue Mitglieder der Societas Liturgica freies Abendessen
Sakramentale Grenzgänge
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Donnerstag, 10. August 2017 8.30–9.15 Uhr 9.15–10.45 Uhr 11.00–16.00 Uhr 16.00–17.50 Uhr 18.00–18.30 Uhr 18.30–21.00 Uhr
Versöhnungsgottesdienst zum Gedenken an die lutherische Reformation vor 500 Jahren Fahrt zur Abtei Chevetogne Workshops and Mittagessen in der Abtei Chevetogne Fahrt zur Abtei Keizersberg Vesper Barbecue
Freitag, 11. August 2017 8.30–9.00 Uhr 9.30–12.00 Uhr 12.00–14.00 Uhr 14.00–15.00 Uhr 15.15–16.30 Uhr 18.00–19.30 Uhr 19.30–23.00 Uhr
Laudes Business Meeting für Mitglieder der Societas Liturgica Mittagessen Hauptvortrag V Short Communications I und II Kongress-Eucharistie Bankett
Samstag, 12. August 2017 8.30–9.00 Uhr 9.30–11.00 Uhr 11.00–12.00 Uhr 12.00–12.15 Uhr 12.15–14.15 Uhr
Laudes Hauptvortrag VI Podiumsgespräch der Nachwuchswissenschaftler Abschlussgottesdienst Mittagessen / Abschluss des Kongresses
„… damit wir einst als unverhüllte Wirklichkeit empfangen, was wir jetzt in heiligen Zeichen begehen“ Anmerkungen zur Theologie der Sakramente und der Sakramentalität im ökumenischen Kontext
Martin Stuflesser
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Thematische Annäherung in pastoral-liturgischer Perspektive
Eine Cross-Fit-Box, eine aktuelle Form von Fitnessstudio, ist sicherlich normalerweise nicht der Ort, an dem man Glaubensgespräche führt. Umso mehr überraschte mich mein Trainer und Physiotherapeut, als er mich zu Beginn der Karwoche dieses Jahres mitten in einem frühmorgendlichen Training unvermittelt ansprach: Er müsse mich jetzt doch einmal etwas fragen, wie das mit der Taufe so sei. Sein Bruder und dessen Freundin hätten gerade ihr erstes Kind bekommen. Sie wollten dieses taufen lassen und wurden vom katholischen Pfarrer X zu einem Taufgespräch gebeten. Dieses sei ja nun aber ein völlig unwürdiges Geschacher gewesen, schlimmer als bei einem schmierigen Gebrauchtwagenhändler. Der Pfarrer habe seinem Bruder (ehemals römisch-katholisch, vor längerer Zeit aus der Kirche ausgetreten) und dessen Freundin (evangelisch, nicht praktizierend) mitgeteilt, dass dies so einfach nicht gehe. Beide könnten zunächst gerne einen Glaubenskurs buchen (der etwas kostete, hier kam die Metapher vom Gebrauchtwagenhändler ins Spiel), und wenn sie diesen dann „erfolgreich“ absolviert hätten, könne man weitersehen. Auch brauche es mindestens einen römich-katholischen Paten. Und überhaupt, angesichts des mangelnden Glaubens (!) habe der Pfarrer ihnen von der Taufe eher abgeraten und die Eltern gebeten, sich das mit der Taufe doch noch mal zu überlegen. Der Bruder und Vater des Kindes habe dies dann empört zurückgewiesen. Schließlich wolle man das Kind ganz bewusst taufen lassen, man habe sich das lange überlegt, dass der Schutz Gottes doch wichtig
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Martin Stuflesser
sei, gerade in diesen wirren politischen Zeiten. Auch sei die Kirche doch eine wichtige Gemeinschaft, wo das Kind sicher viele Freunde finden werde. Jesus habe doch alle Kinder gerne gehabt, und es sei doch gut, wenn das Kind von Jesus lerne und ihn als Freund habe. Und überhaupt, er, der Vater, habe doch gerade einen Artikel gelesen, dass dieser Martin Luther doch neu für sich entdeckt und betont habe, dass Gott alle Menschen liebe, und dass das mit der Gnade Gottes eben nicht durch Geld (es fiel das Wort: „Ablass“) zu bezahlen sei. Ich gestehe, ich war – um besagte Uhrzeit, und in diesem Setting – argumentativ doch ein wenig überfordert. Aber es entspann sich an diesem Morgen ein längeres, wirklich gutes und intensives Gespräch, das mir noch lange nachgegangen ist. Und ich würde es gewiss nicht hier, heute Abend, als Einstieg in meinen Vortrag wählen, wüsste ich nicht, dass solche und ähnliche Gespräche in Zeiten, die wir wohl zu Recht als „postchristlich“ bezeichnen, wenn nicht an der Tagesordnung sind, so doch zunehmen. Was ich für unsere Überlegungen in den kommenden Tagen zum Thema „Sakramentalität“ aufschlussreich finde, ist das sich im Votum der Eltern artikulierende (Vor-)Verständnis der christlichen Sakramente, in diesem Fall der Taufe. Die Eltern nehmen dieses Sakrament durchaus als „Zeichen der Nähe Gottes“ wahr. Man wird ihnen nicht einfachhin unterstellen können, wie dies wohl besagter Kollege im priesterlichen Dienst leider getan hat, dass sie über keinen Glauben verfügen. Auch scheint den Eltern in einer von ihnen als immer stärker diversifiziert erfahrenen Gesellschaft die Gemeinschaft der Kirche, in die ihr Kind hineinwachsen soll, ein wichtiges Anliegen zu sein. Und sie betonen gegenüber allen Restriktionen im Hinblick auf den Zugang zu den Sakramenten, dass Gott der Ersthandelnde ist, dass seine unverbrüchliche Gnade reines Geschenk und nicht durch Leistung zu erwerben ist. Unvermittelt musste ich an die klassische römisch-katholische Definition „Was ist ein Sakrament?“ aus dem Katholischen Erwachsenenkatechismus der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts denken: Eingesetzt durch Jesus Christus, äußeres Zeichen, innere Gnade1, von der viele Aspekte in den Aussagen der Eltern aufscheinen. Zumindest in Europa scheint sich zudem der pastorale Sitz im Leben der Sakramente zu wandeln. Konnte man noch vor wenigen Jahren unter dem Eindruck des Säkularisierungsparadigmas den Eindruck gewinnen, dass vor allem die stark volkskirchlich geprägten Sakramente der Initiation (in Westeuropa also: Säuglingstaufe, Erstkommunion, Firmung) eher aus Gewohnheit und unter einem
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„Zu einem Sakrament gehören: 1. das äußere Zeichen, 2. die innere Gnade und 3. die Einsetzung durch Jesus Christus.“ In: Katholischer Katechismus der Bistümer Deutschlands, Münster 1956, Nr. 102. Analog auch: „Die Sakramente sind von Christus eingesetzte und der Kirche anvertraute wirksame Zeichen der Gnade, durch die uns das göttliche Leben gespendet wird.“ (KKK Nr. 1131). Vgl. auch Trienter Katechismus (DH 1639).
Anmerkungen zur Theologie der Sakramente und der Sakramentalität
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gewissen sozialen Druck (etwa dem Wunsch der noch kirchlich sozialisierten Großeltern folgend) irgendwie „mitgenommen“ wurden, weil dies eben „gut katholisch“ oder „gut christlich“ dazugehörte, so scheint sich diese Situation gegenwärtig zu verändern: Mir scheint, und es wäre spannend und lohnend, dies empirisch genauer zu untersuchen, dass bei der weniger werdenden Gesamtzahl derer, die überhaupt noch das sakramentale Handeln der Kirche in Anspruch nehmen, die Zahl derer zunimmt, die schon mit relativ genauen Vorstellungen kommen, um was sie bei den Sakramenten bitten. Ob diese persönlichen theologischen Kriterien freilich immer mit dem korrelieren, was die christlichen Kirchen in jahrhundertelangen theologischen Klärungsprozessen als „Theologie der Sakramente“ zu glauben vorgeben, ist eine andere Frage, die zu den eingangs beschriebenen Konflikten in der Pastoral führen kann. Denn die Frage, inwieweit Kirche ihr sakramentales Handeln, aus dem heraus sie lebt und in dem sie zur Existenz kommt, historisch modifiziert und verändert hat und welche Konsequenzen sich aus solchem historischen Wissen für eine heutige, pastoral angemessene sakramentale Praxis ergeben, scheint mir unverändert virulent zu sein. Gerade im ökumenischen Kontext, in dem wir uns hier bewegen, stellen sich dabei durchaus grundsätzliche theologische Fragen. Mir erscheint jedenfalls sinnvoll, vor diesem konkreten pastoral-liturgischen Hintergrund am heutigen Abend noch einmal das Verhältnis von Sakramenten und Kirche, konkret also von Sakramententheologie und Ekklesiologie in den Blick zu nehmen. Ich will dabei bewusst auf zentrale Glaubenstexte der einzelnen christlichen Denominationen und mittlerweile schon klassisch zu nennende, aber leider vielfach noch zu wenig rezipierte ökumenische Konsenstexte zurückgreifen und damit auch ein paar inhaltliche Pflöcke einschlagen, was Christen in ökumenischer Perspektive unter Sakramentalität und einer Theologie der Sakramente verstehen (können). Ich unternehme dies im nachfolgenden zweiten Punkt bewusst auch als Versuch der Grundlegung eines hoffentlich konsensfähigen theologischen Fundamentes, auf das wir dann vielleicht in den kommenden Tagen unsere weiteren Diskussionen aufbauen können (2). Ein dritter Punkt wird den Fokus noch einmal auf das Verhältnis von Sakramententheologie und Ekklesiologie richten und versuchen, Forschungsfragen, -felder und -perspektiven aufzuzeigen (3). Ein Ausblick kontextualisiert schließlich meine Überlegungen im Rahmen unseres Kongresses und des 50. Geburtstages der Societas Liturgica (4).
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Martin Stuflesser
Theologische Grundlagen: Theologie der Sakramente im ökumenischen Kontext
Die Ökumenische Bewegung hat sich von Anbeginn an auch der Frage des Gottesdienstes zugewandt2, ebenso wie die Liturgischen Bewegungen (Plural!) in den unterschiedlichen christlichen Kirchen immer auch ökumenisch motiviert waren.3 Unterstützt durch historische Studien, welche die Vielgestaltigkeit christlicher Gottesdienstformen schon in frühester kirchlicher Zeit belegten, stand dabei weniger die Suche nach einer gemeinsamen fiktiven Urform des christlichen Gottesdienstes im Mittelpunkt des Interesses, sondern vielmehr die Erreichung einer Konvergenz über die Sinngestalt des christlichen Gottesdienstes, welche dann freilich auch Auswirkungen auf die Feiergestalt hat. Ebenso bedeutsam war allerdings das wachsende Bewusstsein einer gemeinsamen gottesdienstlichen Tradition, die es positiv wertzuschätzen und zu pflegen gilt. Auch die ökumenische Zusammenarbeit auf wissenschaftlicher Ebene zwischen Liturgiewissenschaftlern verschiedener christlicher Kirchen, so wie seit nunmehr 50 Jahren in der Societas Liturgica, hat hier zu neuen, fruchtbaren Erkentnissen geführt im Hinblick auf eine gemeinsame gottesdienstliche Tradition, die allen Christen zu eigen ist: Christen aller Konfessionen sehen in der Heiligen Schrift die Gründungsurkunde ihres Glaubens. Die Verkündigung der Schrift hat ihren Ort im Gottesdienst. Die Verkündigung der Schrift ist dabei in katabatischer Perspektive die Proklamation der Heilstaten Gottes, die im Heilshandeln Gottes in Jesus Christus ihren unüberbietbaren Höhepunkt finden.4 Christen machen sich aber auch
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Grundlegend ist hier die Arbeit der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Weltrates der Kirchen („Faith and Order“) zu nennen. Schon seit der ersten Weltkonferenz der Kommission in Lausanne im Jahr 1927 war die Liturgie immer wieder Gegenstand der Verhandlungen der Kommission gewesen. Bedeutsam sind etwa die Aussagen der Konferenz von Lund/Schweden im Jahr 1952 (hier besonders die Punkte Nr. 92–97). Vgl. den Überblick bei: Martin Stuflesser, „zu fördern, was immer zur Einheit aller, die an Christus glauben, beitragen kann“. Liturgie und Ökumene – Versuch einer Standortbestimmung, in: LJ 60 (2010) 69–93. Sowie: Geoffrey Wainwright, Ecumenical Convergences, in: ders. / K. Westerfield-Tucker (Hg.) The Oxford History of Christian Worship. Oxford 2006, 721–754, hier 734. Vgl. etwa: Lizette Larson-Miller, Sacramentality Renewed. Contemporary Conversations in Sacramental Theology, Collegeville (USA) 2016, hier 146–150. Sowie: Gordon Lathrop, “Is that your liturgical movement?“: Liturgiy and Sacraments in an Ecumenical Ecclesiology, in: P. Bordeyne / B. Morrill u. a. (Hg.) Sacraments. Revelation oft he Humanity of God. Engaging the Fundamental Theology of Louis-Marie Chauvet, Collegeville (USA) 2008, 101–114, hier 104ff. Grundlegend: Geoffrey Wainwright, Scriptural Basis and Theological Frame, in: ders. / K. Westerfield-Tucker (Hg.), The Oxford History of Christian Worship, Oxford 2006, 1–31.
Anmerkungen zur Theologie der Sakramente und der Sakramentalität
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Worte der Schrift zu eigen, um so – dies wäre die anabatische Perspektive – „in Psalmen, Hymnen und Liedern“ (Kol 3,16) Gott zu loben und zu preisen, ihn zu bitten und ihn anzuflehen, ihn anzubeten und zu verherrlichen.5 Christen treten in der Feier der Liturgie ein in den Dialog mit Gott, sie hören die Proklamation der Heilstaten Gottes in der Heiligen Schrift, sie wenden sich an den Gott und Vater Jesu Christi in Lobpreis, Dank und Bitte.6 Christliche Liturgie ist somit – mit den Worten der Liturgiekonstitution des II. Vatikanischen Konzils7 – Feier des Pascha-Mysteriums, ist lobpreisendes Gedächtnis des Heilshandelns Gottes in Jesus Christus.8 Dieses liturgische Gedächtnis geschieht in der Verkündigung der Heiligen Schrift als Zusage Gottes und in den großen anamnetisch-strukturierten (Hoch-)Gebeten der Liturgie als Antwort der Menschen.9 Die Schrift schließlich benennt normative Bezugspunkte für das gottesdienstliche Handeln der Kirche in jenen liturgischen Grundvollzügen, die wir die Feier der Sakramente nennen. Unabhängig von der konkreten Anzahl der Sakramente in den einzelnen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, ist doch eine Rückbe 5 6
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Vgl. Eph 1,12: „Wir sind zum Lob seiner Herrlichkeit bestimmt, die wir schon früher auf Christus gehofft haben.“ So etwa Martin Luther in der berühmten Torgauer Formel, dass Liturgie als dialogisches Geschehen „Wort und Antwort“ ist und in ihr nichts anderes geschehe, „als dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang.“, in: Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers, hg. v. Kurt Aland, 11 Bde., Göttingen 1991, hier Bd. 8, 440–444.
Dies bedeutet jedoch, dass es dem getauften Christen überhaupt erst möglich sein muss, dem Anruf Gottes zu antworten. Hier hat die viel zitierte Formel der Liturgiekonstitution des II. Vatikanischen Konzils von der „actuosa participatio“ (vgl. SC, Art 14, u.ö.) ihren theologischen Ort. Die Feier der Liturgie ist dahingehend zu gestalten, dass es den Getauften ermöglicht ist, auf den Anruf Gottes in voller, bewusster und tätiger, kurz: in wirklicher Teilnahme zu antworten. Vgl. André Haquin, The Liturgical Movement and Catholic Ritual Revision, in: G. Wainwright / K. Westerfield-Tucker (Hg.) The Oxford History of Christian Worship. Oxford 2006, 696–720, hier 715f. Vgl. SC, Art. 5, 6, u. ö. Grundlegend hierzu: Simon Schrott, Pascha-Mysterium. Zum liturgietheologischen Leitbegriff des Zweiten Vatikanischen Konzils, (Theologie der Liturgie 6), Regensburg 2014. Die Wiederentdeckung des biblisch reich gefüllten memoria-Begriffes (anamnesis/ Gedächtnis) hat in einer Vielzahl von kontroverstheologischen Streitfragen zu neuen Einsichten und theologischen Lösungen geführt. Die gemeinsame Windsor-Erklärung von Anglikanern und Katholiken hatte hierzu bereits 1971 festgehalten, Anamnese sei „die wirkungsvolle Verkündigung der großen Taten Gottes durch die Kirche“. Windsor, Nr. 5, in: Dokumente wachsender Übereinstimmung, Bd. 1, 139–142. 9 Mit den Worten der Lima-Erklärung lässt sich festhalten: „Die ,Anamnese‘, in der Christus durch die freudige Feier seiner Kirche handelt, ist somit Vergegenwärtigung wie Vorwegnahme. Sie will nicht nur das, was vergangen ist, und dessen Bedeutung, ins Gedächtnis rufen. Sie ist die wirksame Verkündigung der Kirche von Gottes großen Taten und Verheißungen.“ Lima, Eucharistie, Nr. 7.
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sinnung auf das Zeugnis der Schrift im Sinne einer sehr weit verstandenen „institutio sacramenti“ gerade für eine ökumenische Verständigung über Sinnund Feiergestalt der einzelnen Sakramente von großer Bedeutung.10 Hier dürfte im Hinblick auf die sog. „sacramenta maiora“, also auf Taufe und Eucharistie/Abendmahl, eine Annäherung der Lehrmeinungen am weitesten fortgeschritten sein.11 Insofern ist der gemeinsame Rückgriff auf die Schrift von nicht zu unterschätzender Bedeutung für eine ökumenische Annäherung im Verständnis der Liturgie. Dies lässt sich in sakramentaler Perspektive noch weiter entfalten: Christen sind getauft auf den Namen Jesu Christi, sie sind so wiedergeboren in Wasser und Hl. Geist. Christen feiern ein Gedächtnis des letzten Abendmahles. Sie versammeln sich am ersten Tag der Woche, um der Auferstehung Jesu Christi zu gedenken. Sie entfalten die Heilsgeheimnisse Jesu in einer strukturierten Feier des liturgischen Jahres.12 Bei allen Unterschiedlichkeiten in der konkreten historischen Entwicklung der Feiergestalten in den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften gibt es somit auch eine gemeinsame gottesdienstliche Tradition. Diese wurzelt zum einen in einer realen gemeinsamen liturgischen Tradition aus einer Zeit der Einheit, die vor den jeweiligen Kirchenspaltungen schon bestand. Aber auch nach den erfolgten Schismen und Spaltungen und nach der Zeit der Konfessionalisierung waren die jeweiligen liturgischen Traditionen keinesfalls so hermetisch voneinander abgeschieden, wie dies vielleicht aus den kontroverstheologischen Polemiken heraus
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Vgl. zu den Begriffen Sinn- und Feiergestalt: Hans-Bernhard Meyer, Eucharistie. Geschichte, Theologie, Pastoral. Mit einem Beitrag von Irmgard Pahl (Gottesdienst der Kirche 4), Regensburg 1989, hier 444ff. Zentral ist hier auf der Ebene der Feiergestalt die Wiederentdeckung der Bedeutung der anamnetisch-epikletisch strukturierten (Hoch-)Gebete für die liturgische Feier des Gedächtnisses des Heilshandelns Gottes in Jesus Christus. Gegenüber einer in der Sakramententheologie seit der Hochscholastik enggeführten Sicht allein auf die für den gültigen und erlaubten Vollzug und damit die Wirksamkeit der Sakramente notwendige Materie und Form wurde so der Blick geweitet auf die liturgische Feier (!) der Sakramente als Gebetsgeschehen. Vgl. im Hinblick auf Taufe und Eucharistie: Martin Stuflesser, „Geboren aus Wasser und Heiligem Geist lass sie auferstehen zum neuen Leben“. Die Euchologie der Feiern der Initiation im Spannungsfeld von lex orandi, lex credendi und lex agendi, in: ders. / K. Westerfield u. a. (Hg.), Die Taufe: Riten und christliches Leben. (Theologie der Liturgie 2). Regensburg 2012, 95–144. Sowie: Klemens Richter, Das eucharistische Hochgebet – ein Durchbruch zu ökumenischer Gemeinsamkeit, in: B. J. Hilberath / D. Sattler (Hg.), Vorgeschmack. Ökumenische Bemühungen um die Eucharistie (FS Th. Schneider), Mainz 1995, 308–325. Zur Entfaltung des Paschamysteriums im Jahreskreis vgl. etwa im Hinblick auf eine ökumenische Grundstruktur der Feier der Vigilia Paschalis: Evangelisches Gottesdienstbuch, Berlin 2000, 316f., oder im Hinblick auf die ökumenische Feier der Tagzeitenliturgie: Evangelisches Tagzeiten-Buch, Göttingen 1998.
Anmerkungen zur Theologie der Sakramente und der Sakramentalität
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rückgeschlossen werden mag.13 Hier gab es vielmehr im Verlauf der Kirchengeschichte immer wieder ein wechselseitiges Geben und Nehmen, wodurch die jeweils eigene Tradition mit angereichert wurde.14 Auch wenn in den Jahren seit dem II. Vatikanischen Konzil die ökumenischen Reflexionsprozesse über Sinn- und Feiergestalt des christlichen Gottesdienstes weit vorangeschritten sind, bleiben doch offene (liturgie-)theologische Fragen, die wohl erst in Zukunft einer Klärung zugeführt werden können, die aber in jedem Fall zu klären sind, wenn das Bemühen um die kirchliche Einheit, die sich auch in einer gemeinsamen Feier des Gottesdienstes ausdrückt, nicht zu einem bloßen Lippenbekenntnis degenerieren soll. Umfassend in der Zielsetzung und doch zugleich offen genug formuliert, erscheinen hier die Ausführungen von Gordon Lathrop, der als bleibenden Auftrag an unsere liturgischen Feiern und gleichermaßen an unsere liturgiewissenschaftliche Reflexion formuliert, dass stets danach zu fragen ist, ob in der sonntäglichen gottesdienstlichen Zusammenkunft wirklich das biblische Wort und die Verkündigung des Leben spendenden Evangeliums Jesu Christi, das eucharistische Mahl und das Gebet für und die Sendung zu den Armen der Welt im Zentrum stehen.15
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Kirche als „signum et sacramentum“ – offene Fragen zum Verhältnis von Kirche und Sakramenten, von Sakramentalität und Ekklesiologie
So bedeutsam der im letzten Punkt aufgeführte, im Bereich der christlichen Ökumene erreichte liturgietheologische Konsens ist, so scheinen wir doch derzeit erneut eine „Krise der sakramentalen Idee“16 zu erleben, die die christlichen Kir-
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Vgl. Stuflesser, „zu fördern, was immer zur Einheit aller, die an Christus glauben, beitragen kann“, 69ff. Vgl. Geoffrey Wainwright, United in Song, in: ders. / K. Westerfield-Tucker (Hg.), The Oxford History of Christian Worship, Oxford 2006, 784–789, hier 787. Vgl. Lathrop, “Is that your liturgical movement?“, 106. (Mit Verweis auf den 7. Artikel des Ditchingham Report “Towards Koinonia in Worship” [1994] der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung „Faith and Order“; ebd., 107.) Ich knüpfe hier bewusst an an das bekannte Dictum von Ferdinand Pratzner, der hiermit die Situation etwa ab den beiden Abendmahlsstreiten im Frühmittelalter beschreibt. Vgl. Ferdinand Pratzner, Messe und Kreuzesopfer. Die Krise der sakramentalen Idee bei Luther und in der mittelalterlichen Scholastik, Wien 1970.
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Martin Stuflesser
chen und ihre sakramentliche, liturgische Praxis vor ganz neue Herausforderungen stellt.17 Hilfreich für unsere weiterführenden Überlegungen mag jene Grundfrage sein, die auch das im eigentlichen Wortsinn fundamentale sakramententheologische Werk Louis-Marie Chauvets auszeichnet: „Was bedeutet es für den Glauben, dass er eng mit den Sakramenten verwoben ist? Was bedeutet es, an Jesus Christus zu glauben, wenn dieser Glaube auf strukturelle Weise sakramental ist?“18
Heilige Zeichen, die bewirken, was sie bezeichnen!? Die Denkmodelle der Tradition, allen voran die von der aristotelischen Metaphysik inspirierte Sakramententheologie der Hochscholastik, scheinen, so nicht nur die Kritik Chauvets, ihre Plausibilität verloren zu haben. Oder anders formuliert: Auch wenn diese Erklärungsmodelle aus gutem Grund über Jahrhunderte plausibel und theologiegeschichtlich wirkmächtig waren19, so scheinen sie heute nicht mehr ohne Weiteres verständlich und nachvollziehbar zu sein. Diese schon innerhalb der akademischen Theologie breit diskutierte Fragestellung gewinnt noch einmal an Brisanz vor dem Hintergrund der aktuellen pastoralen Situation. Den Eltern im eingangs geschilderten Beispiel wird es wenig helfen, wenn sie erst einen Grundkurs aristotelischer Metaphysik absolviert haben müssen, um dann erst, vor dem Hintergrund der Kategorien Materie und Form, verstehen zu können, dass etwas und was genau in der Taufe an ihrem Kind geschieht. Analoges ließe sich etwa über 9-jährige Kinder sagen, die bei ihrer Ersten heiligen Kommunion zum ersten Mal unter der Gestalt des eucharistischen Brotes den Leib des Herrn empfangen, der unter diesem heiligen Zeichen real präsent ist. Auch hier wird das Denkmodell der Transsubstantiation, so geeignet es aus theologischer Perspektive ist20, die eucharistische Wesensverwandlung zu erklären, pastoral wenig operationalisierbar sein.
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Vgl. Peter J. Leithart, Signs of Eschatological Ekklesia: The Sacraments, the Church, and Eschatology, in: H. Boersma / M. Levering (Hg.), The Oxford Handbook of Sacramental Theology, Oxford 2015, 631–644. Louis-Marie Chauvet, Symbol und Sakrament. Eine sakramentale Relecture der christlichen Existenz (Theologie der Liturgie 8), Regensburg 2015, hier 164. So auch: Julia Knop, Glaube im Symbol. Anmerkungen zu Louis-Marie Chauvets symbolhermeneutischem Vorstoß, in: Martin Stuflesser (Hg.), Fundamentaltheologie des Sakramentalen. Eine Auseinandersetzung mit Louis-Marie Chauvets ‚Symbol und Sakrament‘ (Theologie der Liturgie 9), Regensburg 2015, 135–148, hier 138. DH 1652.
Anmerkungen zur Theologie der Sakramente und der Sakramentalität
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Zur Wirkung der Sakramente äußert sich etwa das II. Vatikanische Konzil in der Liturgiekonstitution in Art. 6121: Die Wirkung der Sakramente besteht in der Heiligung des Menschen und im Lobpreis Gottes. Dies geschieht, so das Konzil, in der liturgischen Feier selbst durch das lobpreisende Gedächtnis des PaschaMysteriums.22 Gott handelt heilschaffend an seinem Volk.23 Doch auch wenn die euchologischen Texte ein solches Handeln Gottes einfach voraussetzen: Wie ist das Handeln Gottes in der Liturgie zu denken? Und wie findet dies in den euchologischen Texten seinen sprachlichen Ausdruck? Systematisch-theologisch haben wir es hier mit zwei unterschiedlichen Konzepten zu tun: Handelt Gott schöpfungstheologisch „alles in allem“ oder wählen wir einen heilsgeschichtlichen Ansatz, von dem aus auch ein situatives Handeln Gottes gedacht werden kann?24 Sowohl das biblische Zeugnis als auch das rituelle Handeln der Kirche in der Liturgie kennt beide Ansätze und denkt sie zusammen. Hier erscheinen die euchologischen Texte der sakramentlichen Liturgie wirklich als theologia prima, die, in ihrem Rückbezug auf das Zeugnis der Schrift, den Anspruch erhebt, lex orandi zu sein, die dann freilich von einer theologia secunda, der Sakramententheologie, oftmals erst mühsam denkerisch einzuholen ist. Die traditionellen sakramententheologischen Denkmodelle treffen hier in der Moderne auf einen Subjektbegriff, der sich diametral gewandelt hat: Subjekt wird nun nicht mehr als das allem Seienden zugrunde liegende Sein und Wesen (lat. sub-iectum) verstanden, sondern mit der Anthropozentrik der Moderne als individuell gedachte (menschliche) Person, so dass man mit Julia Knop kritisch zurückfragen kann, ob nicht erst dieser veränderte Kontext, also der subjektzentrierte Blickwinkel der Moderne, der u. a. von Chauvet so stark kritisierten scholastischen Sakramententheologie eine „technische, objektivistische Note
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SC, Art. 61: „Die Wirkung der Liturgie der Sakramente und Sakramentalien ist also diese: Wenn die Gläubigen recht bereitet sind, wird ihnen nahezu jedes Ereignis ihres Lebens geheiligt durch die göttliche Gnade, die ausströmt vom Pascha-Mysterium des Leidens, des Todes und der Auferstehung Christi, aus dem alle Sakramente und Sakramentalien ihre Kraft ableiten. Auch bewirken sie, daß es kaum einen rechten Gebrauch der materiellen Dinge gibt, der nicht auf das Ziel ausgerichtet werden kann, den Menschen zu heiligen und Gott zu loben.“ Vgl. SC, Art.5, 6 und 59. Vgl. SC, Art. 5. Die sich hier eröffnenden systematisch-theologischen Fragestellungen, die Legion sind, können hier nicht weiter behandelt werden. Natürlich hängt die Frage, wie Handeln Gottes situativ (also in der Geschichte) zu denken möglich ist, immer zunächst auch davon ab, wie ich Begriffe wie „Handeln“ oder „Wirken“ definiere. Handlungstheoretisch bedarf es aber in jedem Fall bei einer Handlung eines konkreten Handlungssubjektes. Viele anthropomorphe Gottesvorstellungen zeigen, was passiert, wenn Gott in seinem Handeln als nur ein Akteur unter vielen (menschlich Handelnden) gedacht wird. Umgekehrt wird man mit Blick auf die Liturgie ohne ein situativ eingrenzbares Handeln Gottes inkarnationslogisch und pneumatologisch nicht auskommen.
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einträgt, so dass das Ereignis sakramentaler Gnade sich erst jetzt […] wie eine quantitative, subjektiv nutzbare Größe darstellt, die der Kirche zur Vermittlung überantwortet wurde?“25 Wie ist die Wirkung der Sakramente aber dann zu denken? Die Frage wird zudem in der aktuellen Spätmoderne noch einmal verschärft durch eine naturwissenschaftliche, auf empirischer Beobachtung und Beweisbarkeit basierende Weltsicht.26 Kann aber der neuzeitliche Homo faber, der ein Macher und Schaffer ist, überhaupt noch an einen Gott glauben, der für ihn zur Gabe wird? Zur höchsten Gabe, die für uns Menschen vorstellbar ist, denn Gott beschenkt den Menschen mit sich selbst, mit seiner Gegenwart.27 Gnadentheologisch zentral ist für den christlichen Gottesdienst, dass dieser immer die Antwort des Menschen auf das vorrangige Heilshandeln Gottes in Jesus Christus ist. Dieses Ersthandeln Gottes, das allem menschlichen Tun vorausgeht, zeigt sich etwa in der dialogischen Grundstruktur einer jeden Eucharistiefeier, aber auch der übrigen Sakramente, wenn dort zunächst immer erst das Wort Gottes verkündigt wird und die Gemeinde erst im Anschluss, als Antwort hierauf, ihre Bitten und Gaben zum Altar trägt bzw. die sakramentale Symbolhandlung vollzieht. Damit stellen sich aber heute ganz grundsätzliche Fragen: Traut man Gott ein solches Handeln zu? Traut man dem Wort Gottes zu, dass es, um Luthers Diktum aufzugreifen: „Jesum Christum treibet“? Vertraut man noch den (wirksamen) Zeichen der Liturgie, dass diese wirklich bewirken, was sie bezeichnen? Traut man der Verheißung des erhöhten Herrn: „Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt“ (Mt 28,20) und „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20)? Insofern ist es einerseits wichtig und richtig, wenn gerade auch jüngere Publikationen zur Sakramententheologie betonen, dass Christen grundsätzlich eine sakramentale Weltsicht haben28, dass es bei den Sakramenten um ein Zusammenspiel von Transzendenz und Immanenz Gottes geht, dass sakramentales Handeln immer ein „Davor“ und ein „Danach“ kennt, dass in den Sakramenten also wirklich „etwas“ geschieht: personale Begegnung mit dem in der Feier gegenwärtigen 25 26
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Knop, Glaube, hier 138. Vgl. als Versuch, eine solche mit einer christlich/sakramentalen Weltsicht ins Gespräch zu bringen, den aktuellen Sammelband: Michael P. Plekon (Hg.), The World as Sacrament. An Ecumenical Path toward a Worldly Spirituality, Collegeville (USA) 2017. Vgl. John F. Baldovin, Reforming the Liturgy. A Response to the Critics, Collegeville 2008, 150; Martin Stuflesser, Eucharistie. Liturgische Feier und theologische Erschließung, Regensburg 2013, bes. 293–297. Vgl. etwa: Kevin W. Irwin, The Sacraments. Historical Foundations and Liturgical Theology, New York (USA) 2016, bes. 210f.; J. F. Baldovin / D. F. Turnbloom (Hg.), Catholic Sacraments. A Rich Source of Blessings, New York (USA) 2015; oder als klassisches Handbuch: Theodor Schneider, Zeichen der Nähe Gottes, Mainz 71998, 10ff.
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erhöhten Herrn, und dass die Redehandlungen der Sakramente deshalb immer illokutionär und performativ zu verstehen sind: Sie bewirken, was sie bezeichnen, und umgekehrt. Das Konstatieren alleine wird jedoch unsere theologische Reflexion nicht davon entbinden, auch denkerische Modelle anzubieten, wie solches Handeln Gottes vorstellbar und, wenn auch nicht bis ins Letzte verstehbar, weil auch die Feier der Sakramnete unter einem eschatologischen Vorbehalt des „Noch nicht“ steht, so doch zumindest nachvollziehbar ist.
(Sieben) Zeichen der Nähe Gottes – oder? Hinzu kommt, dass die Grenzen sakramentalen Handelns in den einzelnen Konfessionen und den einzelnen sozio-kulturellen Kontexten durchaus wandelbar waren und es teilweise auch heute noch sind. Die Siebenzahl der Sakramente muss an dieser Stelle nicht eigens problematisiert werden: Selbst innerhalb der römisch-katholischen Tradition ist sie erläuterungsbedürftig, wenn wir von der christlichen Initiation sprechen (Taufe, Besiegelung/Firmung und Eucharistie also als eine Einheit ansehen), umgekehrt aber das Sakrament des Ordo sich in Diakonat, Presbyterat und Epsikopat dreifach entfaltet. Aus der anglikanischen Tradition kommend, drängt sich hier das bekannte Bonmot von Louis Weil auf: „There are two sacraments, which number seven.“29 Ich bitte mich hier nicht misszuverstehen: Vor dem Hintergrund einer jahrhundertelangen Tradition und einer gelebten liturgischen Praxis, die die genannten sacramenta maiora: Taufe und Eucharistie/Abendmahl und daneben weitere sakramentale Vollzüge kennt, die im Hinblick auf Sinn- und Feiergestalt keinesfalls beliebig sind, sondern in vielen, wenn nicht den meisten christlichen Denominationen auf die eine oder andere Weise vorkommen, wäre es ein wenig erfolgversprechendes Unterfangen, hier die Anzahl dieser „Zeichen der Nähe Gottes“ einfach minimieren oder beliebig ausweiten und vervielfachen zu wollen. Wohl aber geht es mir darum, in unserem Fach um eine neue Sensibilität dafür zu werben, dass viele sich entwickelnde rituelle Vollzüge („emerging rituals“) durchaus von der oben beschriebenen sakramentalen Weltsicht zeugen, etwa eine durchaus „sakramental“ zu nennende Grundstruktur einer zentralen Symbolhandlung und eines diese Handlung begleitenden eulogischen Gebetswortes auf-
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Zitiert nach: Larson-Miller, Sacramentality, 14. Interessanterweise finden sich etwa auch im relativ aktuellen „Oxford Handbook of Sacramental Theology“ (Oxford 2015) Abhandlungen zu „allen“ sieben Sakramenten; ebd. 455–571.
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zeigen30, die bewusst an das sakramentale Handeln der Kirche inhaltlich wie formal andocken.31 Ich würde deshalb dafür plädieren, solche „emerging rituals“ in unserem Fach noch bewusster wahrzunehmen und sie stärker noch als bisher in ihrer Korrelation zu den Kernhandlungen der Sakramente zu betrachten. Zudem würde ich ebenfalls dafür werben, solche „emerging rituals“ gerade von kirchenamtlicher Seite zu fördern, denn in ihnen wird etwas von jener sakramentalen Weltsicht transportiert, die wir als Theologen allzugern postulierten, von der es uns aber anscheinend leichter fällt, sie liturgisch zu feiern, als sie theologisch angemessen zu beschreiben und gar zu erklären.32 Wichtig wäre ebenfalls, jene Feiern, die wir in römisch-katholischer Diktion klassischerweise als „Sakramentalien“ bezeichnen, stärker in ihrer Hinordnung auf die Kernvollzüge des sakramentalen Handelns der Kirche zu betrachten. Gerade die neuere liturgiewissenschaftliche Forschungsliteratur zu dem weiten Feld der Personen- und Sachbenediktionen33 vermittelt hier auch neue Zugangswege zu den Sakramenten selbst und zur Frage nach deren Wirken.34 30
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Vgl. etwa zu den teilweise ökumenisch, teilweise multi-religiös konzipierten Trauerfeiern nach sog. Großschadensereignissen: B. Kranemann / B. Benz (Hg.), Trauerfeiern nach Großkatastrophen. Theologische und sozialwissenschaftliche Zugänge. (EKGP 3), Würzburg 2016. Hier besonders die Überlegungen von: Benedikt Kranemann, Liturgie in der Öffentlichkeit. Trauerfeiern nach Großkatastrophen, 21–39. Sowie: Stephan Winter, „… Oder bleibt nichts?“ Zur Herausforderung biblisch begründeter Gottes-Rede angesichts von Großkatastrophen, 89–103. Stärker als bisher wäre deshalb aus meiner Sicht über die Frage der Sakramente und Sakramentalität auch das Gespräch mit jenen evangelikalen oder (frei-)kirchlichen Gemeinschaften zu suchen, die u. U. nominell gar keine Sakramente oder sakramentale Strukturen im „klassischen“ Sinn kennen. Und der Blick wäre wohl auch zu weiten über den rein binnenchristlichen Raum hinaus auf das interreligiöse Gespräch, wenn sich hier, etwa im Hinduismus, ebenfalls interessante Anknüpfungspunkte bieten. Vgl. Larson-Miller, Sacramentality, 169f. Vgl. hierzu etwa den Versuch von: David Brown, A Sacramental World: Why It Matters, in: H. Boersma / M. Levering (Hg.), The Oxford Handbook of Sacramental Theology, Oxford 2015, 603–615. Vgl. etwa: Florian Kluger, Benediktionen. Studien zu kirchlichen Segensfeiern, (StPaLi 31.) Regensburg 2011. Exemplarisch sei diesbezüglich auf den sakramententheologischen Entwurf von Lothar Lies verwiesen, der das „eulogisches Gedenken Gottes“ als Kurzformel für die Sinngestalt sakramentlicher Liturgie angibt, die sich aus deren Feiergestalt (!) ergibt. Vgl. Lothar Lies, Die Sakramente der Kirche. Ihre eucharistische Ausrichtung auf den dreifaltigen Gott, Innsbruck 22005. Vgl. hierzu meine Überlegungen in: Stuflesser, „Geboren aus Wasser und Heiligem Geist lass sie auferstehen zum neuen Leben“, 95–144. Betrachten wir etwa das Gebet zur Taufwasserweihe, so geht es vordergründig um die Heiligung des Wassers durch den Hl. Geist. Folgt man jedoch dem schöpfungstheologischen Ansatz von Reinhard Meßner, dann geht es um „den rechten schöpfungsgemäßen Gebrauch der gesegneten Dinge durch den Menschen“ (Art. Sakramentalien, in: Theologische Real-Enzyklopädie 29, 648–663, hier 657), in
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Ein weiteres Desiderat wäre es deshalb, auch die Feier des liturgischen Jahres stärker aus sakramententheologischer Perspektive zu betrachten. Gerade im Hinblick auf die jährliche Osterfeier und hier auf die Feier des Triduum Paschale unterstreicht Patrick Prétot dessen Bedeutung als höchste Form der Aktualisierung des Mysteriums Christi und der Kirche: Hier konstituieren die drei großen liturgischen Feiern – die Messe vom letzten Abendmahl am Gründonnerstag, die Feier vom Leiden und Sterben des Herrn am Karfreitag und die Feier der Ostervigil – so etwas wie eine Matrix des sakramentalen Lebens der Kirche, und es verbinden sich dabei in vorbildlicher und modellhafter Weise die anthropologische, die trinitarisch strukturierte theologische, die ekklesiologische und die eschatologische Dimension christlicher Sakramentalität.35
Äußeres Zeichen, innere Gnade – und ein Mehr an Kirchlichkeit Aber wodurch zeichnen sich dann jene (zwei oder sieben) sakramentalen Kernhandlungen aus, die wir die Sakramente nennen – gerade in Abgrenzung zur Vielgestalt anderer ritueller Vollzüge der christlichen Liturgie? Weiterführend, um diese Fragestellung zu beantworten, erscheint mir ein ekklesiologischer Ansatz zu sein, wie wir ihn etwa bei Chauvet finden, dass sich also in den Sakramenten Kirche-Sein manifestiert.36 So dass es bei der Unterscheidung von unterschiedlichen Feierformen sakramentalen Handelns nicht um ein Mehr oder Weniger an Heil geht (Gnade lässt sich ohnehin nicht quantifizieren), sondern um ein Mehr oder Weniger an Kirche.37 Wenn also in unseren Breiten immer weniger Menschen nach den Sakramenten fragen, entziehen sich diese nicht zwangsläufig der Gottesbegegnung, „wohl
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unserem Fall also um den schöpfungsgemäßen Umgang mit dem Wasser im weiteren Sinne. Das Wasser als Schöpfungsgabe ist Teil der von Gott ins Dasein gerufenen Welt, und diese Schöpfung wiederum ist Gottes fundamentale Äußerung seines allumfassenden Heilswillens. Freilich werden die epikletisch formulierten Bitten nicht gleichsam im luftleeren Raum gesprochen: Sie sind kontextualisiert durch das Ritual der Taufe insgesamt, welches die Aussagen der euchologischen Texte, und hier konkret der epikletisch formulierten Bitten als liturgischen Sitz im Leben mitbestimmt (Kluger, Benediktionen, 411). In der Bitte um die Heiligung des Wassers wird demnach, folgt man den Gedanken Meßners, eine „Wahrheit der Dinge“ freigelegt, die das Wasser als „Symbol der Gegenwart Gottes in der Welt“ aufscheinen lässt, durch das Gott am Menschen, und hier konkret am Täufling, heilschaffend handelt (Meßner, Sakramentalien, 660). Vgl. Patrick Prétot, The Sacraments as “Celebrations of the Church”: Liturgy’s Impact on Sacramental Theology, in: P. Bordeyne / B. Morrill (Hg.), Sacraments. Revelation oft he Humanity of God. Engaging the Fundamental Theology of Louis-Marie Chauvet, Collegeville (USA) 2008, 25–41, hier 41. Chauvet, Symbol und Sakrament, 275f. Ebd., 394.
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aber dem Leib der Kirche, der im [sakramentalen, M. St.] Ritus Gestalt findet“.38 Das heißt mit den Worten Julia Knops: „Die Feier der Sakramente konstituiert (bewirkt) und symbolisiert (bezeichnet) kirchliche Identität – nicht nur der Intention nach, sondern kraft des vollzogenen Ritus.“39
Und die Rolle der Kirche? Schon der eingangs genannte Fall des Taufgesprächs an ungewöhnlichem Ort fragte im Grunde nach der Rolle der Kirche im sakramentalen Geschehen. Es mag für unsere durch das Inklusionsparadigma geprägte Spätmoderne schwer fasslich oder gar unerträglich sein, aber Sakramente kennen nicht nur gnadentheologisch ein Davor und Danach, sie kennen im Bezug auf die Zugehörigkeit zur Kirche auch ein Drinnen und Draußen. Nur ist die Frage der Zulassung zu den Sakramenten und damit die Frage der sakramentalen Ordnung insgesamt im Rückblick auf die Kirchen- und Liturgiegeschichte zu unterschiedlichen Zeiten, in unterschiedlichen sozio-kulturellen Kontexten und unterschiedlichen christlichen Denominationen auch durchaus unterschiedlich beantwortet worden.40 Letztlich geht es hier, sakramententheologisch gesprochen, um die Frage, welche Rolle dem sogenannten „Empfänger“ der Sakramente zukommt. Chauvet kritisiert hier zurecht, dass das „Was“ eines Sakramentes, traditionell also: dessen Wirkung, die Vermittlung sakramentaler Gnade, nicht gleichsam objektiviert und losgelöst vom konkreten liturgischen Vollzug betrachtet werden kann. Auch wäre seines Erachtens das „ex opere operato“ komplett missverstanden, würde es den so bezeichneten „Empfänger“ des Sakramentes in eine rein passive Beobachterrolle drängen, der allenfalls noch einen „obex“ zu setzen im Stande ist.41 Chauvet unternimmt demgegenüber im Rückgriff auf die Überlegungen von Marcel Mauss zur Phänomenologie der Gabe eine Reformulierung der traditionellen Sakramentenlehre, weil diese „sowohl die Gratuität der Gabe (anschaulich
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Knop, Glaube im Symbol, 142. Ebd., 143. Mit Verweis auf: Chauvet, Symbol und Sakrament, 275f., 317, 410 u. ö. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass das Konzil von Trient in seinen Überlegungen zur allgemeinen Sakramentenordnung eindeutig festhält, dass die Kirche durchaus das Recht und sogar die Pflicht hat, die sakramentale Praxis so zu ordnen, wie es vor den jeweiligen pastoralen Gegebenheiten her angemessen erscheint: „Stets lag bei der Kirche die Vollmacht bei der Verwaltung der Sakramente – unbeschadet ihrer Substanz – das festzulegen, oder zu verändern, was nach ihrem Urteil dem Nutzen derer, die sie empfangen, bzw. der Verehrung der Sakramente selbst entsprechend der Verschiedenartigkeit von Umständen, Zeiten und Gegenden zuträglicher ist.“ (DH 1728). Chauvet, Symbol und Sakrament, 393f.
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in der Epiklese) und die Dynamik der Handlung (katabatisch – anabatisch) als auch die konstitutive Beteiligung der ,Empfänger‘ beschreiben kann.“42 Damit gelingt es Chauvet, einerseits den Primat des Handelns Gottes und die Unverfügbarkeit der göttlichen Gnade zu wahren, denn Gott ist der „Geber“. Es gelingt ihm aber auch, dass der Empfänger ein Gegenüber wird, „ein Beteiligter, dessen Beteiligung nicht nur der Form halber nötig ist, sondern die konstitutiv dafür ist, ob überhaupt von einem Sakrament die Rede ist.“ Kritisch wäre jedoch mit Julia Knop im Hinblick auf die Kosequenzen dieses Ansatzes zurückzufragen: „Ist eine sakramentale Handlung – eine Taufe oder Firmung, eine Eucharistiefeier, eine sakramentale Eheschließung –, die innerlich unbeteiligt begangen wird, die unbeantwortet, ,ohne Gegengabe‘ bleibt, Sakrament (gültig, aber fruchtlos) oder Simulation eines Sakraments? Diese Frage ist nicht nur bzw. nicht erst kanonistisch relevant. Sie reicht in den Kern einer Theologie der Pastoral und der Sakramente.“43 Es war Patrick Prétot, der schon in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in einem grundlegenden Aufsatz zur Sakramententheologie Chauvets auf die gravierenden Schwierigkeiten hinwies, auf die das hier zugrundeliegende sakramentale Denken, das vor allem den gemeinschaftlichen, objektivierenden Aspekt der Feiern der kirchlichen Gemeinschaft betont, in einer heutigen, an Konsum und Selbstverwirklichung orientierten Gesellschaft stößt. Dabei warnte er ausdrücklich vor der Wiedereinführung magischer Vorstellungen, die unter dem Deckmantel eines gewissen „Symbolismus“ versuchten, das sakramentale Denken auch heutigen Menschen zugänglicher zu machen.44 Prétot sieht dabei die Hauptschwierigkeit darin, dass das Leben als Christ zutiefst in einen gemeinschaftlichen Rahmen eingeschrieben ist. Die Liturgie und die Sakramente sind, so Prétot, hier eher ein Indikator für ein zugrunde liegendes, viel tiefer gehendes Problem: das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft in der Spätmoderne. Auf der einen Seite beansprucht man den Respekt für das Individuum, das in Freiheit seinen eigenen Weg sucht, vergisst
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Knop, Glaube im Symbol, 141. Ebd., 142. Vgl. ebenfalls kritisch: Larson-Miller, Sacramentality, 169. Diese Fragestellungen der Abgrenzung von sakramentalem Handeln gegenüber magischen Vorstellungen sind keineswegs neu, denn jüngere Forschung zeigt, dass die epikletischen Aussagen euchologischer Texte der frühen Kirche durchaus im Kontext von zeitgenössischer Magie und antiker Beschwörungsformeln interpretiert werden können, sei es als Imitation und Umdeutung solcher bereits vorhandenen und damit bekannten Texte durch frühchristliche Autoren, sei es als bewusste Abgrenzung von solchen als „heidnisch“ apostrophierten magischen Praktiken. Vgl. Etwa: Caroline Johnson, Ritual Epiclesis in the Greek Acts of Thomas, in: François Bovon / Ann Graham Brock u. a. (Hg.), The Apocryphal Acts of the Apostles, Cambridge (USA) 1999, 171–204.
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dabei aber, so Prétot, dass die Liturgie und die Sakramente uns mit einer normativen, strukturierten und vorgegebenen Erfahrung konfrontieren. Deshalb erscheint seiner Meinung nach auch gerade die ganz konkrete Feier der Sakramente oftmals als ein unüberwindlicher Stolperstein, weil die Feier die Mitfeiernden dazu auffordert, ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse hintan zu stellen und sich auf die Dynamik des Bundes und des symbolischen Tausches einzulassen. Dies bedeutet wiederum, so Prétot mit Verweis auf die Initiationsliturgie, auch die Absage an alle gottwidrigen Herrschaftsformen, um sich überhaupt so erst für jene Gabe öffnen zu können, die der Mensch sich nicht selbst geben kann.45 Aus liturgiewissenschaftlicher Sicht wird man hier einmal mehr auf die Notwendigkeit eines Katechumenats, also einer vorbereitenden Hinführung zur Feier der einzelnen Sakramente verweisen dürfen. Gerade vor dem Hintergrund der positiven Erfahrungen, die mit dem durch das II. Vatikanum wiederbelebten Erwachsenenkatechumenat gemacht wurden, verwundert es schon, dass entsprechende Vorschläge im Hinblick auf die übrigen Sakramente, obwohl in der einschlägigen Sekundärliteratur zuhauf vorhanden, bis heute weitgehend der Umsetzung harren.46 Im Hinblick auf das eingangs erzählte Beispiel wäre hier vor den falschen Alternativen zu warnen: Es kann nicht darum gehen, einer überkommenen Volkskirche, die wahrscheinlich zumindest für West-Europa wirklich ein religionssoziologisches Auslaufmodell darstellt, nun ein gefährlich ans Sektiererische heranreichendes, elitär verstandenes Entscheidungschristentum gegenüberzustellen. Die Bedeutung des durch das II. Vatikanum wiederentdeckten und wiedereingeführten Erwachsenenkatechumenats war, wie mein theologischer Lehrer Klemens Richter in seinen Vorlesungen nicht müde wurde zu wiederholen, gerade ein Paradigmenwechsel im Hinblick auf das Verständnis der Sakramente. Wirkte Kirche vorkonziliar für einen Erwachsenen, der Christ werden wollte, wie eine hermetisch abgeriegelte Burg mit hochgezogenen Zugbrücken, zu der man keinen Zugang fand, so öffnete das Konzil die Tore zur Kirche nicht nur weit, es markierte mit dem Erwachsenenkatechumenat auch klare und in ihrem Prozess-Charakter nachvollziehbare Wege, die, um in der Metapher zu bleiben, den Eingang zu den nun einladend offen stehenden Burgtoren markierten. Die Alternative bei dem eingangs beschriebenen Elternpaar dürfte also nicht sein, ihnen von der Taufe des Kindes abzuraten, sondern sie vielmehr zu einem
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Vgl. Prétot, The Sacraments as “Celebrations of the Church”, 34f. Vgl. etwa zum Vorschlag eines Katechumenats im Grundschulalter als Vorbereitung auf die Erstkommunion und eine vorgezogene Feier der Firmung: Martin Stuflesser / Stephan Winter, Wiedergeboren aus Wasser und Geist. Die Feiern des Christwerdens (Grundkurs Liturgie, Bd. 2), Regensburg 2004, hier 104.
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Weg einzuladen und sie auf diesem Weg auch zu begleiten, auf dem sie an einen Punkt gelangen können, an dem sie – ihrer eigenen (!) Glaubensbiographie entsprechend – die in der Feier der Taufe für ihr Kind übernommene Verantwortung auch wirklich zu tragen im Stande sind. Wären etwa im Falle der Taufe Unmündiger solche Elternkatechumenate der Regelfall und ein flächendeckendes Angebot in der Sakramentenpastoral, würden diese auch nicht als vermeintliche Strafaktion missverstanden, sondern schlicht, wie bei der Erwachseneninitiation auch, als der reguläre Weg zum Empfang der Sakramente: Keine Feier der Sakramente ohne entsprechende Vorbereitung! Oder, noch deutlicher: Kein Sakrament ohne ein Katechumenat im weitesten Sinne!
Kirche als (Grund-)Sakrament Dabei soll in ekklesiologischer Perspektive die Rolle der Kirche gerade nicht überhöht werden, wie dies in der vorkonziliar bestimmenden neuscholastischen Sakramententheologie in der Analogie von Kirche und Sakramenten der Fall war, wo analog zur menschlichen Natur Christi als Werkzeuge der Gnade auch die Kirche selbst und die Sakramente geschichtlich als „Christus incarnatus prolongatus“ interpretiert wurden. Es ist vielmehr das Verdienst der nouvelle théologie des 20. Jahrhunderts – vorrangig wären zu nennen Yves Congar, Jean Danielou, Henri de Lubac u. a.47 –, auch im Rückgriff auf die Mysterientheologie Odo Casels eine sakramentale Sicht von Kirche wiedergewonnen zu haben48, die dann in der berühmten Aussage der Kirchenkonstitution des II. Vatikanums Lumen Gentium ihren Niederschlag fand, dass Kirche als Sakrament zugleich „signum et instrumentum“ ist (LG 1).49 Die Kirche ist selbst Sakrament, weil sie (in der Feier der Sakramente) die Begegnung mit Christus ermöglicht, der seinerseits Sakrament der Begegnung mit Gott ist.50 Die hiermit wiedergewonnene sakramentale Ekklesiologie lässt sich mit Julia Knop wie folgt zusammenfassen:
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Vgl. als kurze und konzise Zusammenfassung: Larson-Miller, Sacramentality Renewed, 144f. Sowie grundlegend: Karl Rahner, Kirche und Sakramente, in: Sämtliche Werke XVIII, Freiburg 2003, 3–72. Vgl. zur Bedeutung der Theologie Odo Casels in diesem Kontext: Prétot, The Sacraments as “Celebrations of the Church”, 28ff. LG, Art. 1: „Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit.“ So der einschlägige Titel des Standardwerkes von Edward Schillebeeckx, Christus, Sakrament der Gottesbegegnung, Mainz 1960.
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Martin Stuflesser „Kirche und Sakramente werden in Lumen Gentium weiterhin als Vermittlungsgrößen der Gnade beschrieben […] und durchaus in Analogie zur Inkarnation, d. h. christologisch, entfaltet. […] Dies geschieht aber nicht mehr im Bild einer ekklesialen Verlängerung der physischen Präsenz Christi auf Erden […] Vielmehr erläutert das Konzil Sinn und Aufgabe der Kirche über eine Verhältnisanalogie. […] Denn die Kirche wird vom Konzil nicht (mehr) als nachösterliche Gestalt der Menschheit Jesu begriffen (als Christus prolongatus). Vielmehr wird sie dem Geistwirken so zugeordnet wie die Menschheit Jesu dem Wirken des Logos. Diese Verhältnisanalogie ist gerade die Pointe der einschlägigen Passage der Kirchenkonstitution.“51
Die epikletische Dimension der symbolischen Sprachhandlungen der Sakramente verdeutlicht diesen Aspekt in jeder liturgischen Feier: Sie zielt auf die pneumatisch vermittelte Gegenwart Jesu Christi im Tun und Feiern der Kirche. Die Feier der Sakramente ist also, mit den Worten der Liturgiekonstitution, „manifestatio ecclesiae“52, oder anders ausgedrückt, Kirche in actu, „indem sie auf symbolische Weise das, was sie ist und was sie werden kann, verkündet.“53 Dies betrifft in besonderer Weise die Feier der Eucharistie und die hiervon abgeleitete eucharistische Ekklesiologie.54 Mit Alexander Gerken können wir festhalten: „Die Eucharistiefeier ist Vollzug der Kirche als der um den Herrn versammelten Gemeinde.“55 Die Kirche ist eucharistische Gemeinschaft (Communio), denn in der Feier der Eucharistie wird die Kirche, der Leib Christi, auferbaut.56 Das II. Vatikanische Konzil betont deshalb zu Recht in SC, Art. 7, dass das grundlegende Zeichen der Gegenwart Christi in der Liturgie die liturgische Versammlung selbst ist. Dies ist ein hoher Anspruch, denn die versammelte Gemeinde ist hiermit die deutlichste Erscheinung von Kirche, sie ist wirksames Zeichen. Sie wird zum Grundsakrament für die Gegenwart Jesu Christi, weil sie der Leib Christi ist, weil der letztlich in ihr und durch sie handelnde Christus als das Ursakrament in ihr
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Knop, Glaube im Symbol, 145. Mit Verweis auf Lumen Gentium, Art. 8: „Deshalb ist sie in einer nicht unbedeutenden Analogie dem Mysterium des fleischgewordenen Wortes ähnlich. Wie nämlich die angenommene Natur dem göttlichen Wort als lebendiges, ihm unlöslich geeintes Heilsorgan dient, so dient auf eine ganz ähnliche Weise das gesellschaftliche Gefüge der Kirche dem Geist Christi, der es belebt, zum Wachstum seines Leibes.“ SC, Art. 41: „dass die Kirche auf eine vorzügliche Weise dann sichtbar wird, wenn das ganze heilige Gottesvolk voll und tätig an denselben liturgischen Feiern, besonders an derselben Eucharistiefeier, teilnimmt: in der Einheit des Gebets und an dem einen Altar und unter dem Vorsitz des Bischofs, der umgeben ist von seinem Presbyterium und den Dienern des Altars.“ Chauvet, Symbol und Sakrament, 410. Vgl. Schneider, Zeichen der Nähe Gottes, 24–37. Vgl. Larson-Miller, Sacramentality Renewed, 151f. Alexander Gerken, Theologie der Eucharistie, München 1973, 217 (Hervorhebungen/M. St.). Vgl. grundlegend: Nikolai Afanasieff, L’Eglise qui préside dans l’amour, in: ders. La primauté de Pierre dans l’eglise orthodoxe, Neuchâtel 1960, hier 7–64. (Vgl. hierzu auch die Aussagen im Ökumenismusdekret des II. Vatikanums Unitatis Redintegratio, Nr. 15.)
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gegenwärtig ist. Es ist das Verdienst des großen französischen Theologen Henri de Lubac, in seiner grundlegenden Studie „Corpus mysticum“ diese eucharistische Ekklesiologie der kirchlichen Frühzeit neu ins Gedächtnis gebracht zu haben.57 Die Liturgiekonstitution greift die eucharistische Ekklesiologie der frühen Kirche wieder auf: Jesus Christus ist in seiner Kirche und Gemeinde – so SC, Art. 7 – „immerdar gegenwärtig, besonders in den liturgischen Handlungen“.58 Mit Arno Schilson können wir zusammenfassend sagen: „Der eigentliche und wahre Träger der sakramentalen Handlung bleibt zwar zunächst und zuerst Christus; aber mit dem selben Recht ist die Kirche, und zwar die konkrete Gemeinde (…) Mitakteurin.“59 Ein solcher sakramentaler Kirchenbegriff hat freilich auch Auswirkungen auf die sakramentale Praxis selbst, etwa kritisch im Hinblick auf die Praxis in einigen christlichen Denominationen, auch Ungetaufte zu Eucharistie/Abendmahl zuzulassen. Wenn sich Kirche als Leib Christi in der Feier der Eucharistie manifestiert60, Ungetaufte aber noch keine Glieder am Leib Christi sind, dann sind diese zwangsläufig in diesen „Manifestationsprozess“ von Kirche (noch) nicht inkludiert.61
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War in der Zeit der Kirchenväter die konkret versammelte Gemeinde, die Kirche das „corpus reale“ und die Eucharistie das „corpus mysticum“, so verkehrt sich dieser Sprachgebrauch im Mittelalter in das Gegenteil: Die Kirche wird zum mystischen Leib, während die Eucharistie nun der wirkliche Leib ist. Vgl. Henri de Lubac, Corpus mysticum. Eucharistie und Kirche im Mittelalter, Einsiedeln 1969. Die Ausführungen von SC, Art. 7 sind gerade ökumenisch höchst bedeutsam: Gegenüber einer vorkonziliar enggeführten alleinigen Konzentration auf die somatische Realpräsenz Jesu Christi in den eucharistischen Gestalten von Brot und Wein, gewinnt das Konzil hier eine im eigentlichen Wortsinn katholische Sicht der christlichen Liturgie wieder, indem es den Blick weitet auf eine personale Aktualpräsenz des Auferstandenen in der Feier der Liturgie. Vgl. Ralph Kunz, Impulse für eine ökumenische Theologie der Liturgie, in: M. Klöckener / B. Kranemann (Hg.), Gottesdienst in Zeitgenossenschaft. Positionsbestimmungen 40 Jahre nach der Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, Fribourg 2006, 161–187, hier 167. Arno Schilson, Theologie als Sakramententheologie. Die Mysterientheologie Odo Casels (TTS 18), Mainz 21987, hier 249. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an das auf Augustinus zurückgehende Dictum: „Empfangt, was ihr seid: Leib Christi, damit ihr werdet, was ihr empfangt: Leib Christi.“ (vgl. Sermo 272). Lizette Larson-Miller merkt hierzu kritisch an: “The sacramentality of this model […] also corrects any possibility of the misunderstanding that baptism does not precede the Eucharist. If the church makes the Eucharist in a dynamic exchange within the totus Christus, and if the nonbaptized are not in the Body of Christ, then they are not part of the ‘making’ of all that Eucharist is and builds in the mystical and real Body of Christ.” Larson-Miller, Sacramentality Renewed, 148. Vgl. hierzu auch: Karen Westerfield-Tucker, Taufe und Ökumene, in: M. Stuflesser / P. Prétot u. a. (Hg.), Die Taufe. Riten und christliches Leben (Theologie der Liturgie 2) Regensburg 2012, 21–34, bes. 23ff.
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Umgekehrt wird man kritisch fragen müssen, was es sakramententheologisch bedeutet, wenn in immer mehr Gemeinden der römisch-katholischen Kirche zumindest in der westlichen Hemisphäre aus Gründen eines echten oder vermeintlichen Mangels an ordinierten Vorstehern (Priestern) die sonntägliche Eucharistiefeier nicht mehr gefeiert wird. Kappt hier nicht Kirche eine Tradition und damit die (geistlichen, liturgischen) Wurzeln, aus denen heraus sie lebt oder doch zumindest leben sollte? Es ist jedoch an dieser Stelle abschließend auch kritisch darauf hinzuweisen, dass ein solches, im weitesten Sinne sakramentales Kirchenverständnis durchaus nicht allen christlichen Denominationen zu eigen ist. Hier wären – so hilfreich ein solches Verständnis aus unserer Sicht für eine Theologie der Sakramente sein kann – in Zukunft sicherlich weitere ökumenische Gespräche und Klärungsprozesse vonnöten.
Und die Rolle der Liturgiewissenschaft? Der im zweiten Kapitel in aller notwendigen Kürze dargestellte Konsens macht noch einmal deutlich, dass Liturgiewissenschaft so, wie sie etwa auch in und von der Societas Liturgica von Anbeginn an gepflegt wurde, nur noch ökumenisch betrieben werden kann.62 Gerade die Erfoschung der Liturgiegeschichte hat hier – über alle Konfessionsgrenzen hinweg – zu neuen, wichtigen Einsichten und Forschungsergebnissen zur geschichtlichen Entwicklung des christlichen Gottesdienstes geführt. Entgegen landläufigen Stereotypen, die Liturgiegeschichte mit einem Baumdiagramm zu erkären suchen: am Anfang die Einheit, die sich in unterschiedlichen Riten und Ritusfamilien verzweigt, hat uns die historische Forschung, nicht zuletzt von Paul Bradshaw63, gezeigt, dass der historische Befund wesentlich komplexer ist: Am Anfang, schon zu apostolischer Zeit, gab es wohl eher die Vielfalt, dann immer wieder Uniformisierungstendenzen, dann wieder Wachstum, Vielfalt, aber auch Auswüchse und Missbräuche, dann wieder Reform, die immer wieder an Schrift und Tradition Maß nimmt, eine Reduktion auf das Wesentliche, ja, und dann?64
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Vgl. Lathrop, “Is that your liturgical movement?”, 105. Vgl. Paul F. Bradshaw, Eucharistic Origins, New York (USA) 2004, bes. 139–157. In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Gordon Lathrop, wenn er im Hinblick auf die Erforschung der Liturgiegeschichte (hier der Eucharistie) kritisch anmerkt: „Furthermore a certain kind of history has indeed been overused and over-interpreted as the source for the liturgical renewal. The Eucharist has a more diverse history than we have ordinarily told, though that ought not discourage our efforts at reform. Rather, the source of the Eucharist is Jesus Christ even now breaking into our symbolization and ritualization of meals and
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Ist Liturgiegeschichte ein dialektischer Fortschritt? Wenn dem so wäre, ließe sich dann die geschichtliche Entwicklung der christlichen Liturgie als eine asymptotische Annäherung an die himmlische Liturgie denken? Oder anders gefragt: Können wir heute ernsthaft meinen, die Liturgie so viel besser zu verstehen als jene, die etwa in den 60er/70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sich redlich nach dem Kenntnisstand ihrer Zeit mühten, euchologische Texte zu reformieren? Sicher ist Reinhard Meßner zunächst zuzustimmen, wenn dieser warnend einwendet: „Es kann doch keine Zukunftsperspektive sein, den jeweils letzten, doch niemals endgültigen, irreformablen Stand der liturgiewissenschaftlichen Forschung in liturgische Formulare und Bücher zu überführen“65. Mit Patrick Prétot ist vor diesem Hintergrund einmal mehr an den Unterschied von (Liturgie-)Geschichte und (kirchlicher) Tradition zu erinnern: Der Rekurs auf die Tradition ist dabei etwas grundsätzlich anderes als der Rekurs auf die Geschichte. Prétot unterstreicht hier durchaus den unmittelbaren theologischen Wert, der dem Begriff der „Tradition“ innewohnt, weil dieser unterschiedliche Praktiken und Theorien im Hinblick auf das große Ganze der Kirchengeschichte zueinander in Beziehung setzt. Tradition meint hier also so etwas wie den roten Faden, auch im Sinne einer gewissen Ausgeglichenheit, der sich gerade nicht in den unterschiedlichen Moden theologischer Meinungen, ekklesialer Institutionen oder einzelner liturgischer Praktiken verliert.66 Natürlich arbeitet auch Liturgiewissenschaft wie jede Wissenschaft mit Modellen, um Inhalte entsprechend zu veranschaulichen. Dies ist solange legitim, wie wir uns vor Augen halten, dass es sich hierbei eben um (in unserem Fall: historische) Modelle handelt.
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making the resultant open celebration to be the place of his self-giving in the Spirit for the life of the world. In thought about that present juxtaposition – Jesus and our own ritual meal practice – there are rich, current resources for an ongoing renewal.” Lathrop, “Is that your liturgical movement?”, 109. Reinhard Meßner, Einige Probleme des eucharistischen Hochgebets, in: ders. / E. Nagel u. a. (Hg.), Bewahren und erneuern. Studien zur Meßliturgie (FS Hans Bernhard Meyer), Innsbruck 1995, 174–201, hier 201. Die hier von Meßner favorisierte „reine Wissenschaft“, die nicht sofort in Liturgie umgesetzt würde und somit, so Meßner, „der Kirche den besseren Dienst“ leistet (ebd., 201), wäre jedoch ebenfalls kritisch zu diskutieren: So ist zu fragen, ob es unter den Bedingungen der conditio humana überhaupt so etwas wie „reine Wissenschaft“ geben kann? Arbeitet Wissenschaft nicht immer mit Vorverständnissen, theologischen Kriterien und Modellbildungen, die zum Zwecke der Anschaulichkeit Komplexität zu reduzieren suchen? Und wäre es dann nicht eher notwendig, eben diese Vorverständnisse und theologischen Leitmotive offenzulegen, um sie einem kritischen, fachwissenschaftlichen Diskurs zugänglich zu machen – dies gerade aufgrund der von Meßner zu Recht kritisierten Erfahrungen bei der jüngsten Liturgiereform im Bereich der römisch-katholischen Kirche? Vgl. Prétot, The Sacraments as “Celebrations of the Church”, hier 38f.
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Martin Stuflesser
Diese liturgiegeschichtliche Perspektive beantwortet jedoch noch nicht die Frage nach der Normativität von geschichtlichen Entwicklungen: Warum haben sich im Hinblick auf die Feier der Sakramente gewisse Traditionen durchgesetzt und andere nicht? Warum wurden diese und jene theologischen Akzentsetzungen vorgenommen und favorisiert, während andere, unter Umständen ebenso legitime theologische Aspekte in den Hintergrund traten? Liturgiegeschichte kann hier zunächst nur instruktiv sein. Ein vorschneller Rückschluss: Weil dieses oder jenes phänomenologisch betrachtet so oder so geschichtlich vorkam und sich auf eine spezifische Weise entwickelt hat, muss es heute so und nicht anders werden, verbietet sich als logischer Kurzschluss von selbst. Denn noch einmal: Die liturgische Tradition war reicher und vielgestaltiger, als uns dies heute im Regelfall bewusst ist. Fragen wir nach den Motiven für das Verfassen, das Umschreiben oder gar die Reform euchologischer Texte und sakramentaler Riten, so hilft ein Blick auf die Magna Charta der jüngsten Liturgiereform in der römisch-katholischen Kirche: Artikel 21 der Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium des II. Vatikanischen Konzils. Hier wird eine Agenda für die Reform der Liturgie formuliert, die auch zu anderen Zeiten der Kirchengeschichte ihre Gültigkeit besaß: Die Feiergestalt der Liturgie ist dahingehend zu reformieren, dass in ihr der Sinngehalt der Liturgie deutlicher, klarer und für die Mitfeiernden erkennbarer zum Ausdruck kommt.67 Lizette Larson Miller erinnert daran, dass die Liturgische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen konkreten Antwortversuch darstellt auf eine in den damaligen Zeitkontexten so empfundene einseitige Überbetonung der Transzendenz Gottes, auf eine als klerikalistisch wahrgenommene Feier der Liturgie, die dazu noch dem gemeinen Gläubigen wenig zugänglich erschien. Im Gegenzug betonten, so Larson-Miller, die Autoren der Liturgischen Bewegung nun stärker die Immanenz Gottes, das gemeinsame Priestertum aller Getauften und eine zugängliche, man könnte sagen: geradezu benutzerfreundliche Liturgie. Aber nach 50 Jahren konkreter liturgischer Erfahrung mit der Feier dieser refomierten Liturgien scheint es derzeit eine Pendelbewegung zu geben, die einen gangbaren Mittelweg sucht: mit einer Akzentverschiebung von einer Sicht auf Liturgie als etwas, das „wir“ tun, so Larson-Miller, hin zu einem Raum, in dem Gott an uns handelt. Nach Ansicht Larson-Millers wird hier derzeit eine u. U. einseitige Fokussierung auf die rein horizontale Linie (mit der Betonung der Versammlung, der Gemeinschaft, des Handelns der gesamten Gemeinde) wieder stärker ausbalanciert durch
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Was freilich die Gefahr eines hermeneutischen Zirkels in sich birgt, denn der Sinngehalt ist wiederum nur aus der Feiergestalt zu erheben. Vgl. Meyer, Eucharistie, 444ff. Historisch betrachtet erfolgten solche Klärungen zumeist in Form von negativen Abgrenzungen, indem nämlich festgelegt wurde, was Liturgie nicht ist, wann eine Feier aufhört, Liturgie zu sein, oder in typisch kirchenrechtlicher Diktion, wann eine Feier gültig und/oder erlaubt vollzogen wurde.
Anmerkungen zur Theologie der Sakramente und der Sakramentalität
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eine Betonung der Vertikalen des gott-menschlichen Dialogs: des Handelns Gottes an der Gemeinde und der Antwort der Gemeinde hierauf.68 Liturgiewissenschaft wird hier im Blick auf das Hier und Heute, gerade im ökumenischen Kontext, weiterhin ideologiekritisch sowohl offen daliegende als auch eher verborgene theologische Motive mit der dem Fach eigenen Methodenvielfalt auf ihre jeweilige theologische Plausibilität hin überprüfen müssen.69 Dabei kann, was einmal historisch, kontingent, in einer bestimmten Phase der Kirchenund Liturgiegeschichte eine hohe Plausibilität hatte, heute, in einem anderen religiösen und sozio-kulturellen Kontext durchaus fragwürdig erscheinen. Umgekehrt können zur Tradition gewordene gottesdienstliche Feierformen unterschiedlicher Kirchen aus unterschiedlichen Zeiten auch heute noch unseren Blickwinkel bereichern. Insofern lässt sich mit Patrick Prétot als bleibender Auftrag der Sakramententheologie beschreiben, gleichermaßen in Kontinuitäten zu denken (und dabei theologische Konzepte wie „Substanz der Sakramente“ oder „Einsetzung der Sakramente“ in die Gegenwart zu übersetzen), wie auch die konkrete Fortentwicklung der sakramentalen Praktiken zu bedenken, um hierdurch zu unterscheiden, wozu die Tradition als lebendiger Prozess uns einlädt, im Hier und Heute zu entscheiden.70
4
Ausblick: „… damit wir einst als unverhüllte Wirklichkeit empfangen, was wir jetzt in heiligen Zeichen begehen.“
Die Überschrift unseres abschließenden Punktes „Ausblick“, die auch dem gesamten Vortrag/Artikel vorangestellt ist, ist dem Schlussgebet des 30. Sonntags im Jahreskreis aus dem römisch-katholischen Messbuch entnommen. Ich habe sie bewusst auch für diesen Ausblick gewählt, denn der Abschnitt aus besagtem Schlussgebet macht noch einmal den eschatologischen Vorbehalt deutlich, unter dem auch alles sakramentale Handeln der Kirche steht. Bei aller Zeit und denkerischen Kraft, die wir in eine angemessene Theologie der Sakramente und des Sakramentalen investieren, bei aller Mühe in der Vorbereitung konkreter Gottesdienste, bei noch so gelungenen, im Sinne von: Gottes Heilshandeln in seinem Sohn Jesus Christus im Heiligen Geist spürbar werden lassenden Gottesdiensten – dies alles ist nur ein Vorgeschmack dessen, was uns erwartet und verheißen ist.
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Vgl. Larson-Miller, Sacramentality Renewed, 37. Vgl. Lathrop, “Is that your liturgical movement?”, 108f. Vgl. Prétot, The Sacraments as “Celebrations of the Church”, 38f.
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Martin Stuflesser
Der Anspruch der anamnetischen Akklamation im Eucharistischen Hochgebet in der römisch-katholischen Eucharistiefeier gilt für alle Sakramente: „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“ Ja, bis der Herr wiederkommt in Herrlichkeit – dies mag für unser Tun in den kommenden Tagen gleichermaßen Anspruch und Zuspruch sein. Die Vorläufigkeit unseres irdischen theologischen/liturgiewissenschaftlichen wie auch des gottesdienstlichen Tuns mag man nicht mit Schlampigkeit übersetzen – eher das Gegenteil ist der Fall, denn es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Begegnung mit dem lebendigen Gott, die wir in heiligen Zeichen feiernd begehen. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Mitglieder der Societas Liturgica! Die letzten Monate waren im Leben der Societas keine einfachen. Wir werden in den kommenden Tagen sicher noch Gelegenheit haben, uns über die Erfahrung der letzten Monate auszutauschen. Wir werden uns dabei selbstkritisch fragen müssen, wo wir Fehler gemacht haben, und wir werden – hoffentlich! – aus diesen Fehlern lernen. Aber ich möchte an diesem Abend in meiner Eigenschaft als Präsident dieser Vereinigung doch darum bitten, bei allem Dissens über einzelne Verfahrensfragen und trotz der Verunsicherung über die Vorgänge der letzen Wochen und Monate doch das große Ganze nicht aus dem Blick zu verlieren. Die Societas Liturgica blickt bei diesem Kongress auf 50 Jahre zurück, auf 50 erfolgreiche Jahre. Vieles von dem, was ich Ihnen hier heute Abend vortragen durfte, inklusive meiner eigenen Gedanken, ruht auf den Schultern derer, die diese Societas gegründet haben und die vor uns in der Societas aktiv mitgewirkt haben. Ich hoffe, dass es uns gelingt, aus dem Blick auf die Vergangenheit unserer Gemeinschaft neuen Mut zu schöpfen für mindestens weitere 50 Jahre. Ich hoffe, dass es uns gelingt, auch die institutionellen Fragen der Societas Liturgica einer guten Lösung zuzuführen, damit diese gut aufgestellt in die Zukunft blicken und gehen kann. Wir tun dies als eine Gemeinschaft von Christenmenschen unter den manchmal allzu menschlichen Bedingungen unserer irdischen Existenz, wo wir uns auch und gerade als Christen eingestehen müssen, dass wir alle allzumal Sünder sind. Ich bitte daher jetzt schon, mir und allen Mitgliedern des Vorstandes nicht mit einer Hermeneutik des zersetzenden Zweifels zu begegnen, sondern in einer Hermeneutik geschwisterlichen Vertrauens, dass wir es in der Ausübung der uns von Ihnen übertragenen Ämter und Aufgaben – bei aller Sünd- und Fehlerhaftigkeit! – immer gut gemeint haben und meinen und immer das bonum commune der Societas vor Augen hatten und haben.
Anmerkungen zur Theologie der Sakramente und der Sakramentalität
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Ich hoffe schlussendlich, dass die gemeinsame Beschäftigung gerade mit diesem, unserem Kongressthema der Sakramentalität sowohl in den akademischen Hauptvorträgen und Papers, aber mehr noch in der gemeinsamen Feier der Liturgie uns dabei helfen, ein Mehr an Gemeinschaft zu werden, mit einem Mehr an wechselseitigem Vertrauen, und einem Mehr an Geschwisterlichkeit. Auf dass die Societas Liturgica auch in Zukunft das sein kann, was sie die vergangenen 50 Jahre war: signum et instrumentum, (Hoffnungs-)Zeichen und liturgiewissenschaftliches, akademisches Werkzeug der ökumenischen Bewegung, zur höheren Ehre des dreifaltigen Gottes. Hiermit erkläre ich den 26. Kongress der Societas Liturgica für eröffnet! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!
Pantomime als Grundlage für Ritual und Sprache Peter Gärdenfors
Zusammenfassung Dieser Beitrag versucht, die evolutionären Ursprünge von Ritualen nachzuvollziehen. Meine These ist dabei, dass Rituale als Konventionalisierungen von Pantomimen entstanden sind. Die ursprüngliche Funktion von Pantomime ist die Lehre. In dieser Funktion bezieht sich Pantomime auf Demonstration. Mein Schwerpunkt in diesem Beitrag liegt auf Ritualen, die eine Identifikation als Gruppe erzeugen. Wie die Pantomime, bezeichnen Rituale eine Bedeutung, die über die eigentliche Aktion hinausgeht. Wie Pantomime und Demonstration ist auch das Ritual ein Instrument für das Lernen. Gelernt werden Glaubenssysteme, die in einer Gesellschaft geteilt werden. Der geteilte Glaube stärkt den Zusammenhalt in einer Gesellschaft. Obgleich sowohl Ritual als auch Sprache Werkzeuge sind, um Welten zu teilen, haben sie teilweise unterschiedliche Funktionen. Eine Funktion von Ritualen ist der Aufbau und die Förderung von langfristigen Beziehungen, wohingegen Sprache vorrangig Handlungen koordiniert.
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Einführung
Eines der größten Mysterien in der menschlichen Evolution ist, warum wir die einzige Spezies sind, die eine symbolische Sprache nutzt. Die Forschung ist sich uneins über die Selektionsmechanismen, die diese Fähigkeit hervorgebracht haben. Es gibt natürlich noch weitere Fähigkeiten, die Menschen einzigartig machen. Dieser Beitrag versucht, die evolutionären Wurzeln von Ritualen nachzuvollziehen. Rituale gibt es in allen menschlichen Gemeinschaften und sie haben vermutlich sehr alte Wurzeln. Meine Hauptthese ist, dass Rituale als Konventionalisierungen von Pantomime entstanden sind. Die ursprüngliche Funktion von Pantomime ist die Lehre. In
Pantomime als Grundlage für Ritual und Sprache
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dieser Funktion lässt sich Pantomime von Demonstration ableiten. Wenn sich Pantomime in eine rituelle Konvention entwickelt, ist die hauptsächliche Funktion das Herbeiführen von Gruppenidentifikation. Wie Pantomime gehen auch Rituale in ihrer Bedeutung über die eigentliche Handlung hinaus. Wie Demonstration und Pantomime ist auch das Ritual ein Werkzeug für das Lernen. Der Gegenstand des Lernens ist ein Glaubenssystem, das in einer Gesellschaft geteilt wird. Dieser Prozess schließt die gleichen Mechanismen mit ein, die zum Tragen kommen, wenn Lernende Autoritäten in Form von Imitation Vertrauen schenken. Der geteilte Glaube, der durch Rituale erzeugt wird, stärkt den Zusammenhalt in einer Gemeinschaft und erleichtert so die Zusammenarbeit. Im Vergleich von Ritualen und Sprache möchte ich feststellen, dass sie teilweise unterschiedliche Funktionen haben. Ich beschreibe Pantomime als einen evolutionären Vorläufer von Sprache und vergleiche die Funktionen und Mechanismen von Ritualen und Sprache. Mein wichtigstes Fazit ist, dass rituelle Funktionen langfristige Kooperationen fördern, während Sprache Handlungen koordiniert.
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Was ist Pantomime?
2.1
Demonstration als der Ursprung
Donald formuliert eine „mimetische Hypothese“, die besagt, dass seine spezifische Form der Kognition (und einer entsprechenden Kultur) zwischen der der Vorfahren, die wir mit den Affen gemeinsam haben, und der des modernen Menschen vermittelt.1 Kurz gesagt schlägt Donald vor, dass, während die Kultur der Affen auf assoziativem Lernen basiert, sich der Mensch aufgrund einer neuartigen Form der Kognition entwickelte. Die Grundlage dafür war, dass der Körper willentlich dazu genutzt werden konnte, etwas zu tun, das jemand anderes tut (Imitation), eine Fähigkeit einzuüben und außenstehende Ereignisse darzustellen, um zu kommunizieren (Mimik, Gestik). Ein erster Typ der Mimese ist Demonstration: jemand anderem bewusst zu zeigen, wie man eine Aufgabe ausführt oder ein Problem löst. Dies ist eine Form des Lehrens, die die menschliche Spezies von anderen unterscheidet. Demonstration ist ein zentrales Element in der „natürlichen Pädagogik“ und ist in allen
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Vgl. Merlin Donald, Origins of the Modern Mind. Three Stages in the Evolution of Culture and Cognition, Cambridge 1991.
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Peter Gärdenfors
menschlichen Gemeinschaften zu finden.2 Einem Kind zu zeigen, wie ein Spielzeug funktioniert oder wie es sich die Zähne putzen oder die Schuhe zubinden kann, sind gängige Beispiele aus dem Alltag. Gärdenfors und Högberg legen dar, dass Demonstration bereits vor 2,5 Millionen Jahren bei der oldowanischen Technik des Steinschlagens Anwendung fand, und dass das Erlernen dieser Technik keine symbolische Form der Kommunikation voraussetzt.3 Wenn ein Lehrer einem Lernenden zeigt, wie man eine bestimmte Aufgabe ausführt, sind folgende Kriterien charakteristisch:4 (D1) Der Demonstrierende führt die Handlungen vor, die zu einer Aufgabe gehören. (D2) Der Demonstrierende stellt sicher, dass der Lernende die Folge der Handlungen aufmerksam verfolgt. (D3) Der Demonstrierende sorgt dafür, dass der Lernende die richtigen Handlungen in der korrekten Reihenfolge erfasst. (D4) Der Demonstrierende übertreibt und verlangsamt einige der Handlungen, damit der Lernende wichtige Merkmale wahrnimmt. Die Kriterien (D2) und (D3) bringen mit sich, dass Demonstration auf fortgeschrittener Intersubjektivität (Theorie des Geistes) basiert und sowohl den Lehrenden als auch den Lernenden betrachtet. Wie in früheren Beiträgen5 unterscheide ich zwischen fünf Ebenen der Intersubjektivität: (1) Verstehen der Emotionen anderer (Empathie); (2) Verstehen der Wahrnehmung anderer (z. B. durch das Nachverfolgen von Blicken); (3) Verstehen der Bedürfnisse anderer; (4) Verstehen der Absichten anderer; und (5) Verstehen der Überzeugungen und des Wissens anderer. Der effizienteste Weg, um (D2) erfolgreich zu absolvieren, ist, dass der Lehrende und der Lernende eine gemeinsame, zeitgleiche Wahrnehmung erzielen, aber es gibt auch andere Mittel, um die Aufmerksamkeit des Lernenden zu steuern. (D3) geht davon aus, dass der Lehrende den Mangel an Kenntnis beim Lernenden versteht und dass der Lernende erkennt, dass es etwas zu lernen gibt.
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Vgl. Gergely Csibra / György Gergely, Natural pedagogy, in: Trends in Cognitive Sciences (2009) 148–153; Gergely Csibra / György Gergely, Natural pedagogy as evolutionary adaptation, in: Philosophical Transactions of the Royal Society. Biological Sciences (2011) 1149–1157. Vgl. Peter Gärdenfors / Andreas Högberg, The archaeology of teaching and the evolution of Homo docens, in: Current Anthropology 58 (2017), 188–201. Vgl. Peter Gärdenfors, Demonstration and pantomime in the evolution of teaching, in: Frontiers in Psychology 8 (2017), URL: https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyg.2017.00415/full. Vgl. Peter Gärdenfors, How Homo Became Sapiens: On the Evolution of Thinking, Oxford 2003; Peter Gärdenfors, Evolutionary and developmental aspects of intersubjectivity, in: H. Liljenström and P. Århem (Hg.), Consciousness Transitions. Phylogenetic, Ontogenetic and Physiological Aspects, Amsterdam 2007, 281–305.
Pantomime als Grundlage für Ritual und Sprache
2.2
53
Pantomime
Eine zweite Form der Mimese ist Pantomime. Dabei ist Pantomime nicht nur eine Kunstform, sondern nimmt alle Fähigkeiten des Körpers in Anspruch, um Handlungen darzustellen. Ich sehe Pantomime als einen speziellen Fall – vielleicht als den zentralen – der mimetischen Fähigkeiten an, die Donald als einen entscheidenden Schritt in der menschlichen Evolution beschrieben hat.6 Viele Forscher beschreiben Pantomime als eine Art Gestikulieren, aber sie hat größeren Nutzen. In meinem Beitrag von 2017 stelle ich fest, dass die primäre Rolle der Pantomime eine belehrende ist, aber sie kann ebenso für andere Zwecke genutzt werden, zum Beispiel zum Erzählen oder als Teil eines Witzes. An dieser Stelle möchte ich auf Pantomime eingehen, die für jemanden notwendig ist, um eine bestimmte Aufgabe auszuführen. Die folgenden Kriterien sind charakteristisch für diese Funktionen:7 (P1) Der Mime vollführt die Bewegungen der Handlungen in den Aufgaben, ohne die Handlungen wirklich auszuführen. (P2) Der Mime stellt sicher, dass der Lernende die Abfolge der Handlungen erfasst. (P3) Der Mime stellt sicher, dass der Lernende die richtigen Handlungen in der korrekten Reihenfolge erfasst. (P4) Der Mime übertreibt und verlangsamt einige der Handlungen, um sicherzustellen, dass der Lernende wichtige Merkmale wahrnimmt. Die Kriterien (P2)–(P4) decken sich mit den Kriterien (D2)–(D4), die dort gemachten Feststellungen gelten auch hier. Der entscheidende Unterschied ist (P1), da in der Pantomime die eigentlichen Handlungen nicht ausgeführt werden, sondern nur eine mehr oder weniger vereinfachte Form. (P1) setzt voraus, dass die Pantomime freiwillig passiert, dies wiederum ist Teil der mimetischen Funktion. Im Hinblick auf (P3) stellt Arbib fest: „Wo die Imitation der typische Versuch ist, Bewegungen zu reproduzieren, die jemand anderes vorgemacht hat, entweder um eine Fähigkeit zu erlangen oder einfach nur als Teil sozialer Interaktion, da wird Pantomime mit der Absicht vollführt, den Beobachter an eine spezifische Handlung oder ein bestimmtes Ereignis denken zu lassen.“8 Ein entscheidender Unterschied im Vergleich zur Demonstration ist, dass Pantomime deplatziert ist, im Sinne Hocketts.9 Das bedeutet, dass Pantomime auf
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7 8 9
Vgl. Merlin Donald, Origins; Merlin Donald, Evolutionary origins of autobiographical memory: a retrieval hypothesis, in: D. Berntsen / D. C. Rubin (Hg.), Understanding Autobiographical Memory. Theories and Approaches, Cambridge 2012, 269–289. Vgl. für eine ausführliche Darstellung Michael Arbib, How the Brain Got Language: The Mirror System Hypothesis, Oxford 2012, 218–219. Arbib, Brain. Vgl. Charles F. Hockett, The origin of speech, in: Scientific American 203 (1960), 88–96.
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Peter Gärdenfors
Dinge verweisen kann, die nicht im unmittelbaren Umfeld vorhanden sind.10 Ich kann zum Beispiel pantomimisch darstellen, wie eine knifflige Tür zu öffnen ist, um zu beschreiben, wie man in meine Wohnung kommt, zu der sich jemand Zutritt verschaffen soll. Dieses Merkmal rückt die Pantomime näher an die symbolische Kommunikation heran als die Demonstration (vgl. Abschnitt 5). Es ist wichtig zu beachten, dass Pantomime eine Art Vortäuschung ist. So kann man vorgeben, zwei Erklärungen für das gleiche Objekt oder die gleiche Handlung zu haben – die eigene Wahrnehmung (des Objekts oder der Handlung) und eine eingebildete Version davon.11 Wenn zum Beispiel ein Junge vorgibt, dass eine Kiste ein Auto ist, weiß er genau, dass es eine Kiste ist. Gleichzeitig „sieht“ er sie aber als Auto, dass er „fährt“. Durch die Unterdrückung der eigentlichen Wahrnehmung kann er stattdessen seine Vorstellungskraft nutzen. Sein Bild ist dabei eine bewusst falsche Repräsentation der Wirklichkeit. Gemäß diesem Beispiel stellt Leslie fest, dass solche imaginierten Ereignisse essentiell für die Fähigkeit der Vortäuschung sind.12 Im genannten Beispiel muss die Wahrnehmung der Kiste unterdrückt und die Handlung mit dem Wissen über Autos und ihre Verwendung aus dem Gedächtnis heraus vervollständigt werden. Leslie schreibt, dass das Spiel mit der Vortäuschung bei kleinen Kindern „ein frühes Signal für die Fähigkeit des menschlichen Denkens ist, Dinge nach eigener Auffassung zu beschreiben und zu manipulieren. Kurz gesagt: Die Fähigkeit, etwas vorzutäuschen, ist eine frühe Manifestation dessen, was wir Theorie des Geistes nennen“13 (i. E. Theory of the Mind). Meine Charakterisierung von Pantomime war bisher sehr eng auf die Darstellung von Handlungen beschränkt. Man kann aber auch eine umfassendere Perspektive einnehmen und Pantomime dazu nutzen, Gesten und Handlungen sowie Gesten und Objekte und ihre jeweiligen Eigenschaften miteinander zu kombinieren oder anders anzuordnen. Diese Interpretation ist auch von Żywiczyński und anderen14 intendiert, die erläutern, dass pantomimische Handlungen die Größe von Sätzen und Aussagen haben und nicht so sehr in kleine einzelne Einheiten aufzuteilen sind. Sie sind nicht so sehr Teile eines größeren kommunikativen Ganzen, sondern sie drücken vollständige, in sich geschlossene kommunikative
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Vgl. Przemysław Żywiczyński / Sławomir Wacewicz u. a., Defining Pantomime for language evolution research, in: Topoi (2016), Kap. 3.8, URL: https://link.springer.com/article/10.1007/s11245-016-9425-9. Vgl. Alan M. Leslie, Pretense and representation: The origins of “theory of mind”, in: Psychological Review 94 (1987) 412–426; Mark Nielsen, Imitation, pretend play, and childhood: Essential elements in the evolution of human culture? in: Journal of Comparative Psychology 126 (2011) 170–181. Vgl. Leslie, Pretense, 412–426. Ebd. Vgl. Żywiczyński / Wacewicz, Pantomime, Kap. 3.7.
Pantomime als Grundlage für Ritual und Sprache
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Akte aus. Diese Sichtweise geht mit Arbibs Idee einher, dass frühe Kommunikation auf Holophrasen aufbaute.15
3
Ritual als konventionalisierte Pantomime
3.1
Imitation vs. Emulation
Bevor ich zu den Verbindungen zwischen Pantomime und Ritual komme, muss ich einige Konzepte zu Imitation einführen. Individuen können lernen, ohne dass sie gelehrt werden, aber das Lernen findet in einem sozialen Kontext statt. Beim sozialen Lernen beobachtet das Individuum das Verhalten eines kompetenten Individuums (das Modell), währenddessen das Modell sein Verhalten kaum anpasst, um dem anderen Individuum das Lernen zu erleichtern.16 Schon Aristoteles merkt an, dass „es das angeborene menschliche Bedürfnis ist zu imitieren, und der Mensch unterscheidet sich auch dadurch von all den anderen Lebewesen, dass er der am meisten Imitierende von allen ist“17. Tomasello unterscheidet zwischen dem Lernen durch Emulation, bei der der Lernende die Ergebnisse der Handlungen des Modells beobachtet und versucht, dassselbe Ergebnis zu erreichen (zielorientiertes Lernen), und dem Lernen durch Nachahmung (Imitation) bei dem der Lernende die Abfolge der Handlungen beobachtet, die das Modell durchführt und dann versucht, die gleichen Handlungen durchzuführen (prozessorientiertes Lernen).18 Die Versuche mit der künstlichen Frucht von Whiten und anderen hatten das Ziel, die Unterschiede zwischen Emulation und Imitation herauszuarbeiten.19 Frühe Ergebnisse haben darauf hingewiesen, dass Schimpansen emulieren, während die Kinder imitieren; spätere Ergebnisse zeigten, dass die Situation kompli-
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17 18 19
Vgl. Arbib, Brain; vgl. dazu auch Jordan Zlatev, Przemysław Żywiczyński, u. a., Multimodal-first or pantomime-first? Communicating events through pantomime with and without vocalization, erscheint in Kürze in: Interaction Studies. Vgl. Mark Nielsen / Francys Subiaul u. a., Social learning in human and nonhuman animals: Theoretical and empirical dissections, in: Journal of Comparative Psychology 126 (2012) 109–113. Aristoteles, Poetik 148b. Vgl. Michael Tomasello, The Cultural Origins of Human Cognition, Cambridge 1999. Vgl. Andrew Whiten / Victoria Horner u. a., Selective imitation in child and chimpanzee: A window on the construal of others’ actions, in: S. Hurley / N. Chater (Hg.), Perspectives on Imitation: From Neuroscience to Social Science, Cambridge 2005, 263–283.
Peter Gärdenfors
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zierter ist.20 Froese und Leavens merken an, dass Schimpansen und Kinder in vielen Situationen direkt die Absicht des Modells erfassen und in diesen Situationen emulieren.21 Wie bereits erwähnt, ist dies eine Form des Gedankenlesens. Kinder, und bis zu einem gewissen Grad auch Schimpansen22, imitieren meistens, wenn eine Handlung durch Konventionen beschränkt ist (oder einfach nur ausgedacht ist) und dadurch die Absicht des Modells nicht erfasst werden kann. Froese und Leavens schreiben, dass „eine Über-Imitation eigentlich eine rationale Lernstrategie einer bestimmten Verhaltensform ist. Das wichtigste Ziel ist die Aneignung von Verhaltensnormen, die auf arbiträren sozialen Konventionen beruhen. Deshalb ist es auch wahrscheinlich, dass es zuerst eine Zunahme der sozialen Normen in frühen hominiden Gemeinschaften war, die eine verbesserte Fähigkeit zur Nachahmung notwendig machte und den Nebeneffekt hatte, fortgeschrittene Werkzeugtechniken zu vermitteln.“23
Froese und Leavens vermuten, dass eine Handlung umso besser imitiert werden kann, je mehr sie auf Konventionen beruht. Besonders diese Annahme ist wichtig, wenn man Rituale und Pantomime vergleicht.
3.2
Der Vergleich von Pantomime und Ritual
Die Verbindung zwischen Pantomime auf der einen und Ritualen auf der anderen Seite, die ich als Ausgangspunkt für die weitere Argumentation nutzen möchte, ist die konventionalisierte Form der Pantomime, die Ritualen zugrunde liegt. Diese Idee ist nicht neu, da bereits Weber über die „Routinisierung“ sozialen Verhaltens in religiösen Kontexten schrieb.24 Zum Beispiel wurde das Segnen einer Person durch das Halten einer Hand über ihren Kopf ein gebräuchliches Ritual, das die tatsächliche Berührung des anderen ersetzt.
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Vgl. Andrew Whiten / Nicola McGuigan u. a., Emulation, imitation, over-imitation and the scope of culture for child and chimpanzee, in: Philosophical Transactions of the Royal Society B 364 (2009) 2417–2428; Alexandra Horowitz, Do humans ape? Or do apes human? Imitation and intention in humans (Homo sapiens) and other animals, in: Journal of Comparative Psychology 117 (2003) 325–336. Vgl. Tom Froese / David A. Leavens, The direct perception hypothesis: perceiving the intention of another’s action hinders its precise imitation, in: Frontiers in Psychology 5 (2014)., URL: https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyg.2014.00065/full. Vgl. David Buttelmann / Melinda Carpenter u. a., Encultured chimpanzees imitate rationally, in: Developmental Science 10 (2007), F31–F38. Froese / Leavens, Perception, 2. Vgl. Max Weber, The Theory of Social and Economic Organization, Oxford 1947.
Pantomime als Grundlage für Ritual und Sprache
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Das Nutzen von Konventionen scheint eine spezifisch menschliche Fähigkeit zu sein, aber es gibt klare Hinweise auf Ritualisierungen bei Primatenspezies.25 Ein Bonoboneugeborenes dreht sich um 360 Grad, um der Mutter zu signalisieren, dass es auf den Arm genommen werden möchte. Diese Ritualisierungen entwickeln sich zwischen Paaren von Individuen als ein Ergebnis wiederholter Interaktionen in vergleichbaren Situationen. Bei den Menschen können sich ritualisierte Konventionen wie das Händeschütteln zur Begrüßung in ganzen Gesellschaften etablieren. Lewis präsentiert eine detaillierte Analyse von Konventionen, die auf dem Konzept des geteilten Wissens basieren. Dies schließt auch eine fortgeschrittene Form des Gedankenlesens ein, bei der alle Handelnden das benötigte Wissen und die Überzeugungen der anderen teilen müssen.26 Rituale beinhalten aber mehr als Konventionen. Kapitány und Nielsen nennen dies die rituelle Haltung.27 Sie gehen davon aus, dass Rituale „eine zusammenhängende Abfolge von Handlungen sind, die durch Formalität, Wiederholung, Redundanz, Stereotypie und kausale Undurchlässigkeit gekennzeichnet sind, und bei denen die Aufführung wichtiger als das Ergebnis und nur wenig Varianz in der Ausführung erlaubt ist.“28 Ein Hinweis bei dieser Charakterisierung muss zur Formalität und Stereotypie der Rituale gegeben werden. Dieser bezieht sich wie bei Pantomime und Demonstration auf die Ausführung in Anwesenheit eines Lernenden, da auch dort die Lehrenden ihre Bewegungen übertreiben, sie betonen den Anfang und das Ende der Bewegungen und sie machen eine Pause vor und nach der Aufgabe. Diese Merkmale sind auch Teil der anschaulichen Zeichen, die ein Lehrer nutzt, um sich der Aufmerksamkeit der Lernenden zu versichern.29 Diese Handlungsweise wird auch Motionese genannt.30 Wie bei der Motionese hilft auch die Stereotypizie von Ritualen dem Betrachter dabei, sich Details der Ausführung zu merken.
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Vgl. Marta Halina / Federico Rossano u. a., The ontogenetic ritualization of bonobo gestures, in: Animal Cognition 16 (2013), URL: https://link.springer.com/article/10.1007%2Fs10071-013-0601-7. Vgl. David Lewis, Convention: A Philosophical Study, Cambridge 1969. Vgl. Rohan Kapitány / Mark Nielsen, Adopting the ritual stance: The role of opacity and context in ritual and everyday actions, in: Cognition 145 (2015) 13–29, URL: http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0010027715300469?via%3Dihub. Ebd. 13. Vgl. György Gergely / Katalin Egyed u. a., On pedagogy, in: Developmental Science 10 (2007), 139–146. Vgl. Rebecca J. Brand / Dare A. Baldwin u.a, Evidence for ‘motionese’: Modifications in mothers’ infant‐directed action, in: Developmental Science 5 (2002) 72–83; Katharina Rohlfing / Jannik Fritsch u. a., Learning to manipulate objects: A quantitative evaluation of motionese, in: Third International Conference on Development and Learning (ICDL 2004), La Jolla, CA, 2004, 27.
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Peter Gärdenfors
Im Hinblick auf die Wiederholung bei Ritualen muss festgehalten werden, dass sie, wie Demonstrationen und Pantomime, für das Lernen gedacht sind. Die Wiederholung eines Rituals erinnert den Betrachter an den Inhalt. Whitehouse und Lanman schreiben, dass Rituale zur Gruppenidentifikation beitragen und „uns ermöglichen, die sozialen Normen größerer, eher anonymer Gesellschaften zu lernen, sie zu befolgen und zu stärken, und vom kooperativen Gewinn zu profitieren, den solche Normen bieten.“31 Vergleichbar zur Pantomime werden Rituale durch Handlungen ausgedrückt. Wie die Pantomime beinhalten Rituale zur Gruppenidentifikation (siehe Kapitel 4.1) typischerweise eine Art der Vortäuschung, die auf der doppelten Interpretation beruht, die ich weiter oben beschrieben habe. So stellt der Wein in der Kommunion das Blut Jesu dar. Ein Unterschied zwischen Pantomime und Ritual ist jedoch, dass viele Rituale Performative im Sinne Austins sind.32 Die Taufe und die Eheschließung sind ebenso typische Beispiele. In diesen Fällen weisen die Handlungen des Rituals kausale Konsequenzen für die sozialen Eigenschaften der Individuen auf. Es gibt aber auch einen fundamentalen Unterschied zwischen Pantomime und Ritual. Die Absicht hinter der Pantomime ist dem Beobachter normalerweise evident und es ist klar, wie die Handlungen im gewünschten Ergebnis enden. Im Gegensatz dazu sind Rituale vom Grundsatz her undurchsichtig, da es kein geteiltes Verständnis des Mechanismus davon gibt, wie das ritualisierte Verhalten in seinem Ergebnis endet. Legare und Souza halten fest: „Rituale sind auf unnachvollziehbare Weise undurchsichtig, da sie (1) nicht gebunden sind an die gleichen intuitiven physisch-kausalen Einschränkungen, die nicht-rituelle Handlungen aufweisen und sie (2) keine intuitiv kausale Verbindung zwischen der spezifischen Handlung aufweisen, die vollzogen wird (z. B. an einem Tontopf reiben), und dem gewünschten Ergebnis oder Effekt (z. B. es regnen lassen).“33
Die kausale Undurchsichtigkeit von Ritualen evoziert auch eine kognitive Frage: Wie beurteilen Beobachter die kausalen Zusammenhänge von rituellen Handlungen? Ich schlage vor, dass die Antwort die gleiche ist, wie bei den Kindern, die etwas imitieren, ohne die Absicht hinter einer Folge von Handlungen zu erkennen, die ein Erwachsener vorführt. Sie erwarten, dass der Vorführende der Handlungen mehr als sie über die kausalen Mechanismen hinter den Handlungen
31 32 33
Harvey Whitehouse / Jonathan A. Lanman, The ties that bind us: Ritual, fusion, and identification, in: Current Anthropology 55 (2014) 674–695, hier 678. Vgl. John L. Austin, How to Do Things with Words, Camebridge ²1962; vgl. dazu auch Bronislaw Malinowski, Coral Gardens and Their Magic, New York 1935. Cristine H. Legare / André L. Souza, Evaluating ritual efficacy: Evidence from the supernatural, in: Cognition, 124 (2012) 1–15, hier 1, URL: http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0010027712000546?via%3Dihub.
Pantomime als Grundlage für Ritual und Sprache
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weiß. Darüber hinaus neigen die Beobachter eines Rituals dazu zu akzeptieren, dass der Vorführende des Rituals die kausalen Mechanismen kontrolliert, die der Beobachter selbst nicht verstehen, geschweige denn kontrollieren kann. Manchmal wird diesen Mechanismen unterstellt, dass sie übernatürliche Eigenschaften aufweisen. Kapitáni und Nielsen schreiben, dass „wenn wir nicht sofort die physische oder kausale Bedeutung eines Rituals erkennen (aufgrund der Undurchsichtigkeit der Handlung), wir dazu motiviert werden, ein Verständnis zu generieren, das auf normativer und sozialer Schlussfolgerung beruht, die unser Verhalten teilweise beeinflusst“34. Als eine Konsequenz der kausalen Undurchsichtigkeit und der Akzeptanz der Autorität des Vorführenden befördern Rituale den Glauben an kausale Mechanismen, die ansonsten schwer zu verstehen oder zu akzeptieren sind. Malinowski präsentiert eine „Unsicherheitshypothese“, die besagt, dass magische Rituale die Möglichkeit zur Kontrolle des Vorführenden erhöhen.35 Indem sie an die kausalen Beziehungen glauben, die sie mit dem Ritual verknüpfen, wird es den Vorführenden ermöglicht, mit ansonsten unvorhersehbaren Umständen umzugehen. In ähnlichem Zusammenhang vermuten Sosis und Handwerker, dass „Rituale aus einer vorhersehbaren Abfolge von Handlungen bestehen und deshalb die vorführenden Personen das Gefühl der Kontrolle haben, wenn sie die Rituale durchführen. Rituale sind schnell mit magischen Überzeugungen gleichgesetzt, da deren Handlungen normalerweise einen Effekt auf die Umgebung haben. Deshalb erwarten Menschen auch bei ritualisiertem Verhalten, dass etwas passiert.“36
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass seine zentrale Funktion von Ritualen zu sein scheint, dass sie ein System der geteilten Überzeugungen in einer Gesellschaft kreieren, besonders im Hinblick auf kausale Zusammenhänge. Dies erlaubt den Individuen, ihre inneren Welten zu teilen. Whitehouse und Lanman halten diesen Gedanken wie folgt fest: „Das Modell der Darstellung zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit sieht vor, dass die Übermittlung ansonsten schwer zu akzeptierender Überzeugungen, wie die Existenz omnipräsenter und übernatürlicher Beobachter, durch die Aufführung von scheinbar aufwändigen Verhaltensweisen von Modellen oder Lehrenden erleichtert wird. Dies sind meistens Verhaltensweisen, in die ein Modell sich nicht einbringen würde, wenn es sich nicht mit Hingabe der jeweiligen Überzeugung unterordnen würde. Solch eine ausgefeilte Voreingenommenheit, die es den Lernenden ermöglicht, durch die Lehrenden manipuliert zu werden, wird durch doktrinäre Religionen genutzt, aufgrund der Routinisierung, die häufige Teil-
34 35 36
Kapitány / Nielsen, Stance, 14. Vgl. Bronislaw Malinowski, Magic, Science and Religion and other Essays, Garden City 1948. Richard Sosis / Winston P. Handwerker, Psalms and coping with uncertainty: Religious Israeli women’s responses to the 2006 Lebanon war, in: American Anthropologist 113 (2011) 40– 55, hier 41.
Peter Gärdenfors
60
nahme an religiösen Zeremonien ist an sich eine einflussreiche, die Glaubwürdigkeit verstärkende Vorführung.“37
4
Rituale stärken die Kooperation
4.1
Die Funktion von Ritualen
Es gibt viele Möglichkeiten, die Funktionen von Ritualen zu charakterisieren. Ich werde als Ausgangspunkt die Unterscheidung von Whitehouse und Lanman nutzen, die zwischen Ritualen zur Identitätsverschmelzung und Ritualen für die Gruppenidentifikation trennen. Sie schreiben, dass „die Identitätsverschmelzung dann funktioniert, wenn eine soziale Identität eine grundlegende Komponente unserer persönlichen Selbstwahrnehmung wird“38. Diese Art Ritual steht in enger Verbindung mit dysphorischen Erfahrungen wie Initiationsriten. Der zweite Typ ist die Gruppenidentifikation, bei der die Individuen lediglich spüren, dass sie gewisse prototypische Merkmale mit anderen Gruppenmitgliedern teilen, die aber nicht essenziell für ihre individuelle und persönliche Identität sind. Die zwei Funktionen entsprechen verschiedenen Typen von Ritualen.39 Rituale zur Identitätsverschmelzung sind typischerweise einmalige dysphorische Handlungen. Sie sind mit dem episodischen Gedächtnis der Individuen verbunden, die an der Handlung teilnehmen. Im Gegensatz dazu sind die Rituale zur Gruppenidentifikation normalerweise nicht dysphorisch und werden oft wiederholt. Solche Rituale sind mit dem semantischen Gedächtnis verknüpft, da sie es zum Ziel haben, die Teilnehmenden eine bestimmte Kombination von Überzeugungen gemeinsam erleben zu lassen, besonders im Hinblick auf die kausalen Mechanismen. Ich ziehe somit die Schlussfolgerung, dass die hauptsächliche Funktion von Ritualen zur Gruppenidentifikation ist, Überzeugungen zu bestimmten Themen und Ereignissen zu teilen. Die Rituale führen oft neue kausale Mechanismen ein, die zentrale Bestandteile der geteilten Überzeugungen sind. Es gibt konventionalisierte pantomimische Inszenierungen, die von zentraler Bedeutung für die Gruppenidentität sind. Das Ritual erinnert die Teilnehmenden an die dargestellten Ereignisse und die Überzeugungen, die mit diesen verbunden sind. Es nutzt generisches und unpersönliches Wissen im Gegensatz zur narrativen Sprache, die
37 38 39
Whitehouse / Lanman, Ties, 8. Ebd., 3. Vgl. ebd., 6.
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spezifischere und persönliche Informationen enthält.40 Wie beim Lehren durch Demonstration werden die rituellen Handlungen durch Autoritäten durchgeführt. Dadurch weisen Rituale viele Ähnlichkeiten zum Lehren durch Demonstration und Pantomime auf, die sie von der gewöhnlichen verbalen Sprache unterscheiden. Im Gegensatz zur Pantomime bringen Rituale zur Gruppenidentifikation doktrinäre Elemente mit sich.41 Sie beinhalten „regelmäßig ausgeführte und kausal undurchsichtige konventionelle Handlungen mit einem niedrigen Level dysphorischer Erregung, aber sie nutzen sehr betonte und die Glaubwürdigkeit steigernde Projektionsflächen für Überzeugungen, Ideologien und Werte“42. Es ist wichtig zu erwähnen, dass die Etablierung solcher doktrinären Elemente zur Voraussetzung hat, dass die Teilnehmer fortgeschritten in der Theorie des Geistes sind und somit eine Fähigkeit für das Teilen von Überzeugungen haben. Rituale sind darauf angewiesen, dass es die hochentwickelte menschliche Fähigkeit zum kulturellen Lernen gibt.43 Ein Nebeneffekt dieser Mechanismen des Lernens ist, dass sie unter den Mitgliedern einer Gesellschaft eine Hingabe für Überzeugungen generieren, denen bestimmte Narrative (fiktional oder non-fiktional) oder kausale Mechanismen zu Grunde liegen können. Henrich präsentiert eine ähnliche Analyse zur Rolle von Ritualen: „Rituale tendieren dazu, (1) Schlüsselelemente oder -aussagen über den Glauben in den Mund der älteren, angeseheneren und erfolgreicheren Mitglieder der Gemeinschaft zu legen; (2) Berufsgruppen in der Glaubensgemeinschaft zu etablieren, um die konformistische Übertragung zuzuschreiben (z. B. in Gebeten, Gesängen, gruppenöffentlichen Eiden); (3) aufwändig zu erwerbende symbolische Marker zu nutzen, die die Mitglieder der Gemeinschaft von anderen Gruppen unterscheiden; (4) Musik, Rhythmus und Synchronität zu nutzen, um das Gefühl der Gemeinschaft durch Mimikry zu erhöhen; (5) Praktiken zu präsentieren, die es nur sehr angesehenen Gläubigen erlauben, ihren Grad innerhalb des Glaubens anzuzeigen (z. B. während des Predigens mit Schlangen zu hantieren), oder Praktiken, die mehrere Mitglieder mit harten, schmerzhaften oder erschreckenden Erfahrungen einbeziehen.“44
40 41 42 43 44
Vgl. Gergely / Egyed u. a., Pedagogy, 139–146; Gärdenfors / Högberg, Archaeology, 188–201. Vgl. Harvey Whitehouse, Inside the cult: religious innovation and transmission in Papua New Guinea. Oxford 1995. Whitehouse / Lanman, Ties, 6. Vgl. Peter J. Richerson / Robert Boyd, Not by Genes Alone, Chicago 2005. Joseph Henrich, The evolution of costly displays, cooperation and religion: Credibility enhancing displays and their implications for cultural evolution, in: Evolution and Human Behavior 30 (2009), 244–260.
Peter Gärdenfors
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4.2
Rituale als ein Werkzeug für Kooperation
Zu sagen, dass Rituale für die Identitätsverschmelzung oder eine Gruppenidentifikation funktionieren, ist eine naheliegende Erklärung. Ich möchte nun zu dem kommen, was die ultimative, evolutionäre Erklärung dafür sein könnte, warum Menschen Rituale durchführen. Bereits Durkheim argumentierte, dass es die Rolle des Rituals ist, die Koalitionsbildung und die Kooperation zu fördern45. Whitehouse und Lanman behaupten, dass „die Gruppenidentifikation ein Produkt unserer gewachsenen Koalitionspsychologie zu sein scheint, die es uns ermöglicht, die sozialen Normen größerer anonymer Gemeinschaften zu erlernen, zu verfolgen und zu unterstützen. Ebenso können wir von den kooperativen Dividenden profitieren, die solche Normen vor allem in Zeiten der Unsicherheit und Bedrohung bieten.“46
Mehrere empirische Studien deuten darauf hin, dass Menschen eine kognitive Fähigkeit entwickelt haben, um mit anderen Individuen zusammenzuarbeiten, die auch die Gruppennormen teilen, die in Ritualen Ausdruck finden. Ich sehe in der Stärkung der Kooperation die Hauptfunktion des Rituals in der Evolution der menschlichen Gesellschaften. Eines der Hauptprobleme einer Gesellschaft, in der nicht jeder jeden kennt, ist es, geeignete Kooperationspartner zu finden. Ich stelle fest, dass es eine Lösung ist, dass Rituale die Gruppenidentifikation und die Zusammenarbeit verbessern, da sie eine Reihe von gemeinsamen Überzeugungen in einer Gesellschaft generieren. Wenn Sie einem Fremden begegnen, bei dem sich herausstellt, dass er die gleichen Überzeugungen mit denselben Ritualen verbindet, dann ist diese Person eher ein geeigneter Kooperationspartner als jemand, der diese Überzeugungen nicht teilt. Dies wird durch die Tatsache gestärkt, dass die gemeinsamen Überzeugungen es wahrscheinlicher machen, dass sich beide auf eine vorgeschlagene Lösung für ein gemeinsames oder ähnliches Problem einigen können. In der Begrifflichkeit von Clark kann man sagen, dass es ein breiteres gemeinsames Wissen gibt, aufgrund dessen man die Kooperation bilden kann.47 Solch gemeinsames Wissen ist ein nützliches Werkzeug, um Vertrauen zwischen den Einzelnen aufzubauen. Bei bestimmten Tierarten findet man eine ziemlich fortgeschrittene Form der Kooperation namens „wechselseitiger Altruismus“, die man als „Du kratzt meinen Rücken und ich kratze deinen“ übersetzen kann. Der reziproke Altruismus ist eine dyadische Form der Kooperation – eine Beziehung zwischen zwei Individuen –, die auf gegenseitigem Vertrauen aufbaut. In kleinen Gruppen von Hominiden kann eine solche Kooperation für den alltäglichen Gebrauch ausreichen, aber in 45 46 47
Vgl. Emilie Durkheim, The Elementary Forms of Religious Life. London 1912. Whitehouse /Lanman, Ties, 5. Vgl. Herbert Clark, Arenas of Language Use, Chicago 1992.
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größeren Gruppen sind fortgeschrittenere Formen erforderlich. In früheren Veröffentlichungen48 habe ich argumentiert, dass die Menschen einzigartige Formen der Zusammenarbeit entwickelt haben, insbesondere die Kooperation bei gemeinsamen Zielen und die sogenannte indirekte Reziprozität. Diese ist eine extreme Form des Altruismus, die zusammengefasst aussagt: „Ich helfe dir und jemand anderes wird mir helfen“, wie etwa beim Barmherzigen Samariter gezeigt wird. Damit die indirekte Gegenseitigkeit als kooperativer Mechanismus in einer Gesellschaft etabliert werden kann, muss es einen Mechanismus geben, die Reputation der Individuen in der Gesellschaft zu kommunizieren.49 Indirekte Reziprozität kann somit als eine Art sozialer Form des Vertrauens bezeichnet werden. Große Gesellschaften, die kooperative Strategien wie indirekte Reziprozität benötigen, profitieren von gemeinsamen Ritualen.50 Insbesondere ist die Teilnahme an Ritualen mit pro-sozialem Verhalten in der Gruppe verbunden und wird daher zur Verbesserung der Reputation der Teilnehmer beitragen. Darüber hinaus werden Rituale von der kulturellen Evolution begünstigt, da sie das Engagement für den Glauben übertragen und damit die Kooperation fördern.
5
Pantomime als ein Vorläufer der Sprache
Bisher habe ich mich darauf konzentriert, wie sich Pantomime zu Ritualen entwickelt hat. In diesem Abschnitt möchte ich die Entwicklung mit dem Übergang von Pantomime und anderen Gesten zur Sprache vergleichen. Als Kommentar zu den Werken von Marcel Jousse schreibt Sinaert: „Der Mensch ging von der ‚corporage‘ zur ‚manuélage‘ zur ‚langage‘, als sich die globale Sprache schrittweise in der manuellen Sprache konzentrierte – der Gebärdensprache der Hände – und in der laryngo-bukkalen Sprache, die des Phonatorsystems, eine gestikuläre Reduktion erfuhr, die durch die Sorge zur Energieeinsparung erklärt wurde und als eine Befreiung der Bewegung für andere Zwecke als die Kommunikation.“51
48
49 50 51
Vgl. Peter Gärdenfors, The cognitive and communicative demands of cooperation (LNCS 7010) in: J. van Eijck / R. Verbrugge (Hg.), Games, Actions and Social Software, Berlin 2012, 164–183; Peter Gärdenfors / Ingar Brinck u. a., Coevolution of cooperation, cognition and communication, in: F. Stjernfelt / T. Deacon u. a. (Hg.), New Perspectives of the Symbolic Species, Berlin 2012, 193–222. Vgl. Martin A. Nowak / Karl Sigmund, Evolution of indirect reciprocity, in: Nature 437 (2005) 1291–1298 Vgl. Natalie Henrich / Joseph Henrich. Why Humans Cooperate. A Cultural and Evolutionary Explanation, Oxford 2007; Whitehouse / Lanman, Ties, 674–695. Edgard R. Sienaert, Marcel Jousse: The oral style and the anthropology of gesture, in: Oral Tradition 5 (1990) 91–106, hier 96.
64
Peter Gärdenfors
Dieses Zitat zeigt, dass irgendwo in der Evolution des Menschen die gesprochene Form der Kommunikation dominant wurde, obwohl unterschiedliche Formen von Gesten – einschließlich Pantomime – immer noch die Sprache begleiten. Es ist wichtig zu beachten, dass es zwei Hauptfunktionen für die Pantomime gibt: Die erste ist eine Einladung zum Kopieren – die Lehrfunktion. Die zweite ist die Kommunikationsfunktion, die sich zu Protosigns und später zur Sprache entwickelt hat. Dabei stellt sich natürlich die Frage, welche Funktion die primitivere ist. Die folgende Aussage von McNeill verweist auf eine Antwort: „Natürliche Gestensignale bei den modernen Affen haben auch eine anfängliche Form der Handlung, für die es charakteristisch ist, dass die Handlung verkürzt dargestellt wird und der Aktionsstab zum Signifikanten wird; eine Art Metonymie. Der sich langsam entwickelnde Vorgänger (von vor fünf Millionen Jahren bis vor zwei Millionen Jahren) hat eine Gestensprache aufgebaut, die er aus instrumentalen Handlungen, wie sie in einzelnen Gesten vollzogen wurden, abgeleitet hat. Es wäre ein möglicher Weg der Evolution, der zur Pantomime führt.“52
McNeil sieht die Lehrfunktion folglich als die primitivere und die kommunikativen Funktionen als metonymische Erweiterung an. Diese Haltung wird auch durch die Argumentation von Gärdenfors und Högberg gestärkt.53 Obwohl der Beweis für das Nutzen der Pantomime bei Affen schwach ist, sind sie in der Lage, andere Formen von Gesten zu nutzen. Solche Gesten sind typischerweise dyadisch, es sind zwei Individuen beteiligt, aber kein externes Objekt; zum Beispiel, wenn ein Affe gestikuliert, wo er gepflegt werden will oder um zu zeigen, welche Kopulationsposition er wünscht.54 Ein Beispiel für eine triadische Geste ist ein Mensch, der auf ein Objekt in Gegenwart eines anderen Individuums hinweist, um eine gemeinsame Aufmerksamkeit zu erreichen. Ein charakteristischer Aspekt von Pantomimen ist, dass sie Handlungen ausdrücken. Dieser Punkt kann durch die Betrachtung der semantischen Ebenen verschiedener Arten von Gesten geklärt werden. Es gibt drei Arten von Darstellungsgesten, die drei verschiedenen Arten von semantischen Ebenen entsprechen:
52
53 54
David McNeill, The co-evolution of gesture and speech, and downstream consequences, in: C. Müller / A. Cienki u. a. (Hg.), Body – Language – Communication. An International Handbook on Multimodality in Human Interaction 1 (Handbooks of Linguistics and Communication Science 38/1), Berlin 2013, 480–512, Kap. 5.3. Vgl. Gärdenfors / Högberg, Archaeology, 188–201. Vgl. Joanne E. Tanner / Richard W. Byrne, Representation of action through iconic gesture in a captive lowland gorilla, in: Current Anthropology 37 (1996) 162–73; Jordan Zlatev / Torsten Persson u. a., Bodily mimesis as ‘the missing link’ in human cognitive evolution, in: Lund University Cognitive Studies 121 (2005); Amy S. Pollick / Frans B. de Waal, Ape gestures and language evolution, in: PNAS 104 (2007) 8184–8189, URL: http://www.pnas.org/content/104/19/8184.full.
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Raum. Hierbei handelt es sich um den Bereich des physikalischen Raumes, der die charakteristische Referenzebene für das Zeigen von Gesten ist. (ii) Objekteigenschaften. Gesten können die Form, Größe, Länge, Höhe, Tiefe und ggf. andere Eigenschaften eines Objekts darstellen. Diese Eigenschaften gehören jeweils zu einer Ebene der Objektkategorie.55 (iii) Handlungen. Den Ergebnissen von vorherigen Analysen folgend werden Handlungen als Muster von Macht repräsentiert.56 Arbib argumentiert, dass Protosigns sich durch die Konventionalisierung von Pantomime und anderen Gesten entwickelt haben.57 Er stellt fest, dass „Pantomime an sich kein Teil der Protosigns ist, aber ein Gerüst für dessen Aufbau“58. Doch in seiner Funktion als eine Art Einladung zum Kopieren ist auch Pantomime ein Vorläufer von Tanz und Ritual. Abbildung 1 fasst meine Position zusammen und zeigt die Beziehungen zwischen den verschiedenen Formen der Handlung auf (eine Protosprache ist ein konventionelles gesprochenes oder gezeigtes Kommunikationssystem, das keinerlei syntaktische Struktur aufweist)59. (i)
Abbildung 1: Die Stellung der Pantomime in der Evolution der menschlichen Kognition und Kommunikation.60
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57 58 59 60
Vgl. Peter Gärdenfors, The Geometry of Meaning. Semantics Based on Conceptual Spaces, Cambridge 2014, Kap. 6. Vgl. Peter Gärdenfors, Evolutionary and developmental aspects of intersubjectivity, in: H. Liljenström / P. Århem (Hg.), Consciousness Transitions. Phylogenetic, Ontogenetic and Physiological Aspects, Amsterdam 2007, 281–305; Peter Gärdenfors / Massimo Warglien, Using conceptual spaces to model actions and events, in: Journal of Semantics 29 (2012), 487– 519; Peter Gärdenfors, Geometry, Kap. 8. Vgl. Arbib, Brain, 219–226. Ebd., 224. Vgl. Derek Bickerton, Language und Species, Chicago 1990. Vgl. Peter Gärdenfors, Demonstration.
Peter Gärdenfors
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Es gibt mehrere Ähnlichkeiten zwischen Ritual und Sprache: Beide entwickeln sich aus der Pantomime und beide sind konventionell. Wie im vorigen Abschnitt dargestellt, ist eine weitere gemeinsame Funktion von Ritual und Sprache, dass sie beide verwendet werden, um die Kooperation in einer Gesellschaft zu verbessern, aber sie führen diese Funktion auf unterschiedliche Weise durch: Rituale helfen bei der Schaffung gemeinsamer Überzeugungen, die die Gruppenidentifikation verbessern und sie sind Instrumente zur Festlegung des Reputationsmechanismus, der bei der Entstehung der Zusammenarbeit in Form von indirekter Reziprozität von zentraler Bedeutung ist. Mit anderen Worten: Rituale helfen Personen, ihre äußeren und inneren Welten zu teilen. Die Sprache dagegen wird vor allem dazu genutzt, Pläne für künftige Kooperationen zu schmieden oder Informationen über andere Personen zu vermitteln,61 auch wenn sie für weitere Nutzungsformen entwickelt wurde.
6
Fazit
In einem früheren Beitrag, habe ich argumentiert, dass Pantomime eine wichtige Komponente in der Evolution des Lehrens ist, die dann zu einem Werkzeug für die Kommunikation umgestaltet wurde.62 In diesem Artikel ist die Hauptthese, dass Rituale als konventionalisierte Pantomimen entstanden sind. Die Ausbreitung der Pantomime als gemeinsame Wurzel für Ritual und Sprache macht es möglich, ihre Ähnlichkeiten und ihre Unterschiede hervorzuheben. Was die Implikationen der Pantomime für die Evolution der Sprache betrifft, so ist eine wichtige Frage, warum die Hominiden (und nicht andere Arten) ein Bedürfnis nach einer symbolischen Sprache hatten, die als selektive Kraft wirkte. Ich habe vorgeschlagen, dass die Sprache für die fortgeschrittenen Formen der Zusammenarbeit notwendig ist, die sich entlang der Hominid-Linie entwickelt haben, nämlich die Planung für die zukünftige Interaktion und die indirekte Reziprozität.63 Die Unterweisung sollte aber auch als Kooperationsform und als eine der späteren Phasen des Modells von Gärdenfors und Högberg gesehen werden64 – Konzepte vermitteln und die Beziehungen zwischen Konzepten erklären: dies erfordert fortgeschrittene Kommunikationsformen. Ich habe in diesem Beitrag
61 62 63
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Vgl. Peter Gärdenfors, Demands, 164–183; Gärdenfors / Brinck u. a., Coevolution, 193–222. Vgl. Peter Gärdenfors, Demonstration. Vgl. Peter Gärdenfors, The evolution of semantics: Sharing conceptual domains, in: R. Botha / M. Everaert (Hg.), The Evolutionary Emergence of Language, Oxford 2013, 139–159; Gärdenfors / Brinck u. a., Coevolution, 193–222. Vgl. Gärdenfors / Högberg, Archaeology, 188–201.
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dargelegt, dass es die zentrale Funktion des Rituals ist, die Kooperation durch die Stärkung der gemeinsamen Überzeugungen innerhalb einer Gemeinschaft zu verbessern. Es ist schwer zu sagen, welche, wenn überhaupt, von diesen Formen der Zusammenarbeit eine dominierende Kraft gewesen ist, die die Entwicklung eines symbolischen Kommunikationssystems angetrieben hat. Es ist möglich, dass alle Formen zur Evolution der menschlichen Erkenntnis und Kommunikation beigetragen haben. Pantomime ist jedoch ein entscheidender Schritt in der Evolution einer dieser Formen.
Danksagung Ich danke Professor Josef Quitterer für seine sehr hilfreichen Bemerkungen zu diesem Artikel. Ich möchte meinen Dank aussprechen für die Unterstützung des Stellenbosch Institute for Advanced Studies (STIAS) und des Schwedischen Forschungsrates (Projekttitel: The Materiality of Education and Social Learning within the Evolution of Mankind (dnr 721-2014-2100) and to the Linnaeus environment Thinking in Time: Cognition, Communication and Learning). Übersetzung aus dem Englischen: Torsten Wieschen
Liturgie als geteilte intentionale Praxis1 Josef Quitterer
Zusammenfassung In meinem Beitrag vertrete ich im Unterschied zu Peter Gärdenfors die These, dass liturgische Rituale geteilte Überzeugungen, Intentionen und Zielsetzungen bei den an einer liturgischen Feier beteiligten Personen voraussetzen. Auch wenn es in der Liturgie unterschiedliche Rollen (Priester, Diakone, „normale Gläubige“) gibt, kann man von keiner intentionalen Asymmetrie zwischen Ausführenden und Beiwohnenden sprechen. Bei liturgischen Veranstaltungen handelt es sich um geteilte Aktivitäten aller Beteiligten, die auf geteilten Überzeugungen, Intentionen und Zielsetzungen beruhen.
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Gärdenfors über den Unterschied zwischen Ritual und Pantomime
In seinem Beitrag geht Peter Gärdenfors von einem inneren Zusammenhang zwischen Ritual und Pantomime aus. Seiner Meinung nach sind Rituale konventionalisierte Pantomimen. Er behauptet, dass es sich sowohl bei Pantomimen als auch bei Ritualen letztlich um Instrumente der Wissensvermittlung2 handelt. Darüber hinaus haben beide Tätigkeiten ähnliche kognitive Voraussetzungen. Beide setzten die Fähigkeit voraus so-zu-tun-als-ob, sowie ein Wissen über die (abweichenden) Überzeugungen anderer Personen: Das heißt, die ausführende Person muss eine Handlung x so vollziehen können, als wäre sie die Handlung y.3 1 2 3
Ich danke Katherine Dormandy für zahlreiche hilfreiche kritische Bemerkungen und Verbesserungsvorschläge. „Wissen“ wird hier in einem sehr breiten Sinn verstanden, etwa auch als vermeintliches Wissen über fiktive kausale Zusammenhänge. Kinder besitzen zum Beispiel diese Fähigkeit, wenn sie im Spiel so tun als würden sie ein Auto fahren, einen Kuchen (aus Sand) backen etc.
Liturgie als geteilte intentionale Praxis
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Außerdem muss sie Kenntnisse über die richtigen und falschen Überzeugungen jener besitzen, für welche sie das Ritual oder die Pantomime vollzieht. Es gibt jedoch nach Gärdenfors einen „fundamentalen Unterschied zwischen Pantomime und Ritual“. Dieser Unterschied betrifft den Bereich der geteilten (shared) Überzeugungen und Intentionen. Beide Tätigkeiten setzen die Fähigkeit voraus, Überzeugungen und Intentionen zu teilen, aber nur bei der Pantomime muss diese Fähigkeit schon während der Ausführung realisiert sein. Eine Pantomime ist nur erfolgreich, wenn die Betrachter während ihrer Durchführung die vom Akteur suggerierten Intentionen und Überzeugungen teilen und verstehen.4 Genau unter dieser Rücksicht unterscheidet sich nach Gärdenfors das Ritual von der Pantomime: Während die Betrachterin in der Regel die einer Pantomime zugrundeliegende Intention kennt, und es für sie klar ist, wie die Handlugen zu den beabsichtigen Konsequenzen führen, sind Rituale für sie zunächst „undurchsichtig, da es kein geteiltes Verständnis des Mechanismus davon gibt, wie das ritualisierte Verhalten in seinem Ergebnis endet“5. „Rituale [sind] vom Grundsatz her undurchsichtig, da es kein geteiltes Verständnis des Mechanismus davon gibt, wie das ritualisierte Verhalten in seinem Ergebnis endet. […] Rituale [befördern] den Glauben an kausale Mechanismen, die ansonsten schwer zu verstehen oder zu akzeptieren sind.“6 „Ich ziehe somit die Schlussfolgerung, dass die hauptsächliche Funktion von Ritualen zur Gruppenidentifikation ist, Überzeugungen zu bestimmten Themen und Ereignissen zu teilen. Die Rituale führen oft neue kausale Mechanismen ein, die zentrale Bestandteile der geteilten Überzeugungen sind.“7
Nach Gärdenfors führen Rituale zu einer „Gruppenidentifikation“8, indem „sie ein System der geteilten Überzeugungen […], besonders im Hinblick auf kausale Zusammenhänge [kreieren]“9, die vor und während des Rituals undurchsichtig waren. Seiner Auffassung nach sind geteilte Überzeugungen über kausale Mechanismen, die vorher undurchsichtig waren, zentral für die Herausbildung von
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„For a pantomime, the addressee must also understand that the teacher intends the pantomime to stand for a real action and that the teacher intends the addressee to realize this.“ (Peter Gärdenfors, Demonstration and Pantomime in the Evolution of Teaching, in: Frontiers in Psychology 8 (2017) 1–12, hier 7). Peter Gärdenfors, Pantomime als Grundlage für Ritual und Sprache, in: J. Geldhof / M. Stuflesser u. a. (Hg.), „Ein Symbol dessen, was wir sind …“ Liturgiewissenschaftliche Perspektiven zur Frage der Sakramentalität (Theologie der Liturgie 13), Regensburg 2018, 50–68, hier 58. Ebd. f. Ebd., 60. Ebd. Ebd., 59.
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Gruppenidentifikationen. Diese Überzeugungen sind das Ergebnis eines erfolgreichen Rituals. Während des Rituals ist die Beziehung zwischen den ausführenden und beobachtenden Personen eindeutig asymmetrisch: Die Ausführenden sind im Besitz bestimmter Intentionen und Überzeugungen, welche den Beobachtern (noch) fehlen. Diese asymmetrische Relation setzt folgende Annahmen über die Theorie des Geistes (Theory of Mind) der beteiligten Personen voraus: Im Unterschied zu denjenigen, die das Ritual vollziehen, haben die Beobachter zum Zeitpunkt t1 noch nicht die Überzeugung dass p. Das Ritual wird vollzogen, um die Beobachter zur Annahme dieser Überzeugung zu bringen. So wird (im Gelingensfall) die Überzeugung dass p zu t2 eine Überzeugung, die von allen Beteiligten geteilt wird. Gärdenfors behauptet die Gültigkeit seiner These vor allem für bestimmte magische Rituale, wie zum Beispiel dem Regenmachen. Die Beziehung zwischen der Handlung „an einem Tontopf reiben“10 und der Wirkung des Rituals – dem entstehenden Regen – ist für die Beobachter zunächst kausal undurchsichtig. Diejenigen, die dieses Ritual vollziehen, wollen die Beobachter zur gemeinsamen Überzeugung bringen, dass durch das Ritual Regen erzeugt wird. Lässt sich dieses These auf typische liturgische Praktiken der katholischen oder evangelischen Kirchen anwenden? Was wären kausal undurchsichtige Relationen im Kontext christlicher Liturgien? Ist etwa die Relation zwischen dem eucharistischen Gebet und der Wandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi (ein Beispiel, auf das Gärdenfors selbst Bezug nimmt) kausal undurchsichtig, oder die Relation zwischen dem Taufakt und der Zugehörigkeit zur Kirche oder die zwischen dem Trauungsritual und dem Entstehen einer Ehe? Eine genauere Analyse typischer Beispiele liturgischer Rituale, wie z. B. der Messliturgie, offenbart eine etwas komplexere Situation.
2
Liturgische Rituale – das Beispiel der Messliturgie
Es wäre theologisch höchst problematisch, die Relation zwischen einem liturgischen Vollzug und seiner Wirkung als kausale Relation zu verstehen. Was genau sollte denn die kausale Relation zwischen dem Hochgebet und der Wandlung von Brot und Wein sein? Worin bestünde hier eine kausale Beziehung zwischen der verursachenden Handlung und der verursachten Wirkung? Es kann ja nicht von der Absicht des Priesters abhängen, ob Christus sich im Brot manifestiert oder nicht. Anstatt hier weiter ein missverständliches Eucharistieverständnis zu diskutieren, möchte ich die Aufmerksamkeit auf ein grundsätzlicheres Thema lenken: Wenn man einmal von der These der undurchsichtigen Kausalität absieht, basiert 10
Ebd., 58.
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Gärdenfors Verständnis des Rituals vor allem auf einer asymmetrischen Beziehung zwischen demjenigen, der das Ritual vollzieht und denjenigen, die dem Ritual beiwohnen. Genau hier gibt es meines Erachtens im Bereich der liturgischen Rituale einen wesentlichen Unterschied. In der Liturgie scheint es so zu sein, dass die innere Anteilnahme der Anwesenden ein integraler Bestandteil der performativen Sprechhandlungen der primär handelnden Personen (Priester, Diakone etc.) ist. Liturgische Rituale werden also nicht von einer einzelnen Person vollzogen und von passiven Zuschauern beobachtet, die schließlich durch das Ritual dazu gebracht werden, bestimmte Überzeugungen über (vermeintliche) kausale Mechanismen und übernatürliche Entitäten zu teilen, im Gegenteil: Folgt man den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils, handelt es sich bei der Liturgie um eine „gemeinschaftliche Feier mit Beteiligung und tätiger Teilnahme der Gläubigen“ (Konstitution über die Heilige Liturgie, Kap. I, I, 27). An anderer Stelle wird gefordert, die „Gläubigen möchten zu der vollen, bewussten und tätigen Teilnahme an den liturgischen Feiern geführt werden, wie sie das Wesen der Liturgie selbst verlangt und zu der das christliche Volk […] kraft der Taufe berechtigt und verpflichtet ist“ (ebd., I, I, 14). Auch wenn an „Auszeichnungen, die auf dem liturgischen Amt oder der heiligen Weihe beruhen“, festgehalten wird (ebd., I, I, 32), bleibt die Liturgie ein Ritual, welches die aktive Mitwirkung aller Beteiligten erfordert. Die kirchlichen Dokumente weisen also darauf hin, dass es in der Messliturgie keine strikte Unterscheidung zwischen aktiven Ausführenden und passiven Beobachtern gibt. Zudem hat die Wir-Formulierung der liturgischen Gebete nicht die Aufgabe, den Anwesenden weitere Überzeugungen über vermeintliche kausale Zusammenhänge und übernatürliche Entitäten zu vermitteln. Vielmehr kommt darin ein bereits bestehendes System von Glaubensüberzeugungen zum Ausdruck, das von den (meisten) Anwesenden geteilt wird. Diese gemeinsamen Überzeugungen sind die Voraussetzung für die Gemeinschaft der Gläubigen und nicht eine Wirkung, die durch das liturgische Geschehen erst hervorgebracht werden müsste. Im Falle der Eucharistiefeier liegen die Dinge zwar etwas anders, insofern hier der Priester die Wandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi in der Form „zelebriert“, in welcher Jesus selbst es während des letzten Abendmahls mit seinen Jüngern getan hat. Aber selbst in diesem Fall erzeugt das Ritual in der Regel bei den beteiligten Personen keine neuen Überzeugungen. Vielmehr setzt auch dieses Ritual bereits bestehende gemeinsame Überzeugungen der Anwesenden voraus. Nach Ladrière macht sich in diesem Fall die Gemeinschaft der Gläubigen die in den vom Priester ausgesprochenen Worten vollzogenen Sprechakte zu eigen.11
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Jean Ladrière, Die Sprache des Gottesdienstes. Die Performativität der Liturgiesprache, in: Concilium 9 (1973) 110–117, hier 114.
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Josef Quitterer
Kognitive Voraussetzungen liturgischer Rituale
Selbst wenn in der Gottesdienstliturgie eine gewisse Asymmetrie zwischen mehr (Priester, Diakone, Lektoren) und weniger (Gottesdienstbesucher) tätigen Teilnehmern vorherrscht, gibt es keine klare Asymmetrie hinsichtlich der Überzeugungen und Intentionen der beiden Gruppen. Betrachten wir das am Beispiel des Glaubens an die Verwandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Jesu Christi während der Eucharistie: In diesem Fall hätten wir folgenden propositionalen Gehalt der Überzeugung dass p: Während der Eucharistie vollzieht sich die Wandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Jesu Christi. In diesem Teil der Messliturgie gibt es zwar eine klare Asymmetrie zwischen den eher aktiven Zelebranten und den eher passiven Gläubigen, aber keine Asymmetrie hinsichtlich der Überzeugungen der beiden Gruppen. Auch gewinnen die Gläubigen (in der Regel) durch das Ritual keine neuen Überzeugungen über vermeintliche kausale Relationen zwischen der Tätigkeit des Zelebranten und dem Geschehen der Transsubstantiation. Der Glaube an die Wandlung von Brot und Wein während der Eucharistie gehört ja bereits zur Menge jener Überzeugungen, die von den (meisten) anwesenden Gottesdienstbesuchern geteilt werden.12 Für unsere Analyse der kognitiven Voraussetzungen typischer liturgischer Rituale benötigen wir also ein Erklärungsmodell für eine Situation, in welcher eher aktive und eher passive Mitglieder einer Gruppe dieselben Überzeugungen teilen. Raimo Tuomela unterscheidet in seinem Buch The Importance of Us zwischen tätigen und nicht-tätigen Mitgliedern einer Gruppe, welche dieselbe Überzeugung teilen. Selbst wenn die tätigen Mitglieder besondere Aufgaben für die Gruppe erfüllen – in unserem Fall wären das die Sprechhandlungen und Gebete der Zelebranten während der Eucharistiefeier – teilen die tätigen Mitglieder mit den nicht (oder weniger) tätigen Mitliedern dieselbe Gruppenüberzeugung. Nach Tuomela übernehmen die adäquat informierten „nicht-tätigen Mitglieder von G [d. h. der Gruppe] stillschweigend [die Überzeugung] p, zumindest sollten sie diese als Mitglieder von G übernehmen“.13 Dieses kognitive Erklärungsmodell geht mit folgenden Annahmen zur Theorie des Geistes der an einer Eucharistiefeier beteiligten Personen einher: Die tätigen Mitglieder teilen mit den nicht- oder weniger tätigen Mitgliedern dieselbe Überzeugung dass p. Diese geteilte Überzeugung wird beim Vollzug des liturgi-
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Dabei handelt es sich natürlich um eine eher idealisierte Situation, denen nicht alle Gottesdienstbesucher gerecht werden. Es mag sein, dass einige der im Gottesdienst Anwesenden überhaupt nicht wissen, was während der Eucharistiefeier passiert oder dass sie divergierende Überzeugungen haben. Ich erörtere dieses Problem am Ende meines Beitrags (5 b) Raimo Tuomela, The Importance of Us. A Philosophical Study of Basic Social Notions, Stanford 1995, 316.
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schen Rituals vorausgesetzt.14 Darüber hinaus besitzen die meisten tätigen und nicht- (oder weniger) tätigen Mitglieder der Gruppe die zusätzliche meta-repräsentationale Überzeugung (oder ein Wissen darüber), dass die anderen Mitglieder der Gruppe dieselbe Überzeugung dass p haben. Nach Tuomela handelt es sich hier um eine „Situation nach einer bereits getroffenen Entscheidung“15: Sowohl die tätigen als auch die weniger tätigen Mitglieder haben sich vor dem Vollzug des Rituals dazu entschieden, die Überzeugung der Gruppe dass p zu teilen; darüber hinaus haben sie sich (explizit oder implizit) dazu entschieden, die weitere Überzeugung zu teilen, dass sie mit den anderen Gruppenmitgliedern die Überzeugung „dass p“ teilen. Tuomela bezeichnet letztere als wechselseitige Überzeugung (mutual belief).16 Wechselseitige intersubjektive Überzeugungen sind eine Voraussetzung für geteilte intentionale Zustände und geteilte Handlungen, weil ohne sie die Gruppenmitglieder eben nur zufällig dieselben Überzeugungen hätten.17 Im Gegensatz zu Gärdenfors habe ich bis jetzt keine Erklärung dafür angeboten, wie die tätigen und weniger tätigen Teilnehmer an liturgischen Ritualen zu diesen geteilten Überzeugungen kommen. Es bieten sich unterschiedliche Ursprünge für derartige Überzeugungen an: Ein naheliegender Kandidat dafür wären gemeinsame Erfahrungen. Wenn alle von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser dieses Beitrags, die Erfahrung des Geschmacks von vorzüglichem belgischem Bier gemacht haben, werden die meisten wohl zur Überzeugung kommen, dass in Belgien vorzügliche Biere hergestellt werden (vielleicht werden auch manche von Ihnen die zusätzliche Überzeugung über eine kausale Beziehung zwischen zu viel belgischem Bier und Kopfschmerzen entwickeln). Aber selbst wenn die meisten von Ihnen auf der Grundlage ihrer Geschmackserfahrungen davon überzeugt sind, dass belgische Biere vorzüglich sind, handelt es sich dabei nicht notwendigerweise um eine geteilte Überzeugung. Ohne eine weitere Qualifizierung bleibt diese Überzeugung auf der rein individuellen Ebene. Das heißt, das bloße Faktum, dass die meisten von Ihnen dieselbe Überzeugung besitzen, macht diese noch nicht zu einer geteilten Überzeugung. Für sich genommen ergibt sich daraus nur ein „Aggregat oder ein Bündel von Einstellungen der einzelnen Mitglieder des
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Natürlich ließe sich diese Modell auch auf andere liturgische Vollzüge wie die Trauung und die Taufe anwenden, wobei hier der Unterschied zwischen tätigen und nicht- oder weniger tätigen Mitgliedern einer Gruppe noch schwächer ist. Ebd., 318. Vgl. Ebd., 316 und 318. Hinsichtlich dieser wechselseitigen Überzeugungen kommt liturgischen Ritualen wohl doch insofern eine Funktion für die Stärkung der Identifikation mit der Gruppe zu, als durch die gemeinsame Teilnahme an der Liturgiefeier sozusagen eine erneute Selbstvergewisserung darüber erfolgt, dass man mit seinen Überzeugungen nicht allein ist und sie mit anderen Gruppenmitgliedern teilt.
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Kollektivs“18. Die Situation würde sich jedoch grundlegend ändern, wenn wir uns über unsere Bier-Erfahrungen austauschen könnten. In dem Augenblick, in welchem wir überstimmend feststellen, dass es sich bei belgischem Bier um „verdammt gutes Zeug“ handelt, würden wir das besitzen, was Tuomela eine „wechselseitige Überzeugung“ nennt. Aus diesem Grund benötigt eine Gruppe für die geteilte Überzeugung dass p die (explizite oder implizite) Übereinkunft der einzelnen Mitglieder, dass die ganze Gruppe davon überzeugt ist, dass p.
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Liturgische Rituale als geteilte intentionale Handlungen
Nach Gärdenfors haben Rituale vor allem die Funktion, geteilte Überzeugungen hervorzubringen und so zum Zusammenhalt von Gruppen beizutragen. Rituale werden demzufolge von Autoritäten vollzogen und von Zuschauern sozusagen „von außen“ verfolgt. Die Ausführenden unterscheiden sich von den Beobachtern durch eine andersgeartete Sichtweise auf das Ritual. Die interne Sichtweise ist zunächst nur den Autoritäten zugänglich, die das Ritual vollziehen. Nur sie verstehen, was sie tun. Nur für sie ist das Ritual eine Handlung im eigentlichen Sinn – sie tun etwas in der Absicht, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Ganz anders ist die Situation für die Beobachter, die sich dem Ritual sozusagen „von außen“ zuwenden. Diejenigen, die dem Ritual beiwohnen, beobachten von außen die von der Autorität vollzogene Handlung. Am Beginn des Geschehens macht das Ritual für sie noch keinen wirklichen Sinn, deshalb beginnen sie manchmal damit, die Handlung der Autorität zu imitieren. Diese nachahmende Bewegung ist zu diesem Zeitpunkt noch keine Handlung im eigentlichen Sinn, da die Nachahmer hier noch nicht verstehen, was sie eigentlich tun. Es gibt noch keine Absicht, welche das nachahmende Tun leitet – außer vielleicht die Absicht, besser zu verstehen, was da eigentlich geschieht. Gärdenfors vergleicht dies mit der Situation von „Kindern, die etwas imitieren, ohne die Absicht hinter einer Folge von Handlungen zu erkennen, die ein Erwachsener vorführt“19. Erst wenn sie den Zusammenhang zwischen dem Tun und dem damit bezweckten Ziel verstehen und sich selbst aneignen können, wird die nachahmende Bewegung zu einer Handlung im eigentlichen Sinn. Meines Erachtens lässt sich diese These von Gärdenfors nicht auf liturgische Rituale anwenden, denn diese setzen bereits geteilte Überzeugungen voraus. Liturgische Feiern sind Ausdruck eines Zusammenwirkens von mehr oder weniger
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Christian List, Three Kinds of Collective Attitudes, in: Erkenntnis 79 (2014) 1601–1622, hier 1603. Gärdenfors, Pantomime, 58.
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tätigen20 Mitgliedern einer Gruppe auf der Grundlage geteilter Überzeugungen. Diese geteilten Überzeugungen sind nicht bloß das Aggregat der jeweiligen mentalen Zustände der einzelnen Mitglieder. Es handelt sich um die Überzeugungen einer Gruppe, deren Mitglieder die explizite oder implizite Entscheidung getroffen haben, bestimmte Überzeugungen zu teilen. Wenn die mehr oder weniger tätigen Mitglieder darin übereingekommen sind, bestimmte Überzeugungen – aber auch Absichten und Zielsetzungen – zu teilen, ergeben sich daraus bestimmte Konsequenzen für die Natur liturgischer Rituale. Der Unterschied zwischen mehr und weniger (oder nicht) tätigen Mitgliedern impliziert keine Unterscheidung zwischen einer internen und einer externen Sichtweise auf das Ritual. Die weniger tätigen Mitglieder haben denselben internen Zugang zu den Ritualen der Liturgie wie die mehr tätigen Mitglieder. Ersteren kommt ebenso ein Verständnis der liturgischen Vollzüge zu wie letzteren. Obwohl erstere vielleicht eher nur passiv am Ritual teilnehmen, vollziehen sie dabei eine Handlung im vollen Sinn des Wortes; denn die weniger tätigen Mitglieder teilen mit den aktiveren die wesentlichen Überzeugungen, Zielsetzungen und Intentionen, die dem Vollzug des Rituals zugrunde liegen. Damit erfüllen die meisten liturgischen Rituale die von Tomasello u. a. genannten Kriterien für geteilte intentionale Praktiken.21 Tomasellos Begriff der geteilten Intentionalität hebt den Unterschied zwischen eher aktiven und eher passiven (in unterschiedlichen Rollen tätigen) Mitgliedern der Gruppe keineswegs auf – im Gegenteil: Gemeint sind damit spezifische kognitive Fähigkeiten, welche gewährleisten, dass verschiedene Individuen ihre unterschiedlichen Rollen während dieser geteilten intentionalen Praktiken ausüben können. Geteilte intentionale Handlungen setzen dabei nicht nur die Fähigkeit voraus, bestimmte Ziele, Überzeugungen und Intentionen als intentionale Einstellungen der Gruppe zu repräsentieren; sie setzen auch die Fähigkeit voraus, die Haltungen gegenüber diesen geteilten intentionalen Zuständen zu repräsentieren, welche sich aus den unterschiedlichen Rollen der gemeinschaftlich agierenden Individuen ergeben. „Das zweite wichtige Merkmal dieses Modells ist die Tatsache, dass die kognitive Repräsentation der [geteilten] Intention sowohl einen selbst als auch die andere Person betreffen muss. Das ist deshalb notwendig, weil beide Kollaborateure den eigenen Handlungsplan im Lichte des Handlungsplans der anderen Person (und in Abstimmung mit ihm) wählen müssen. […] Das wiederum setzt voraus, dass jeder Teilnehmer beide Rollen der Zusammenarbeit in einem einzigen repräsentationalen Format – sozusagen ganzheitlich, aus einer „Vogelperspektive“ – kognitiv repräsentiert und so Rollenwechsel und wechselseitige Hilfe möglich wird. Im Allgemeinen benötigen kooperative Tätigkeiten also sowohl
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Mit „mehr oder weniger tätig“ ist auch die Teilnahme an der Liturgie in unterschiedlichen Rollen gemeint. Michael Tomasello / Malinda Carpenter u. a., Understanding and sharing intentions: The origins of cultural cognition, in: Behavioural and Brain Sciences 28 (2005) 675–735, hier 680.
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Josef Quitterer die Angleichung des eigenen Selbst an das der anderen Person, um eine geteilte Zielvorstellung bilden zu können, als auch eine Unterscheidung des eigenen Selbst vom anderen, um die unterschiedlichen aber komplementären Rollen in der gemeinsamen Intention zu verstehen und zu koordinieren.22
Die nicht- (oder weniger) tätigen Teilnehmer können also nur dann in eine gemeinsame intentionale Praxis mit den aktiveren Teilnehmern eintreten, wenn sie in der Lage sind folgende repräsentationale Leistungen zu erbringen: 1) Die weniger tätigen Teilnehmer sind in der Lage, die relevanten Überzeugungen p und Ziele z als intentionale Zustände der Gruppe zu repräsentieren. 2) Sie sind in der Lage, p und z in ihren eignen Handlungsplan zu integrieren. Im Falle der Eucharistiefeier würde das bedeuten, dem liturgischen Vollzug beizuwohnen und mit den vorgeschriebenen Gebeten zu antworten. 3) Sie sind in der Lage, den andersgearteten Handlungsplan der primär agierenden Personen (Priester, Diakone, Kantoren etc.) zu repräsentieren und vom eigenen zu unterscheiden. 4) Sie sind in der Lage, die eigene Rolle und die davon abweichende der anderen in die gemeinsame Tätigkeit involvierten Akteure in ein einziges repräsentationales Format zu integrieren. Unter diesen Bedingungen ist die Tatsache, dass der zelebrierende Priester eine andere operative Rolle spielt als der „normale“ Gottesdienstbesucher, vereinbar mit der Annahme, dass die Eucharistiefeier eine intentionale Praxis darstellt, die von den meisten bei der Liturgie Anwesenden geteilt wird. Nach List und Pettit ist es sogar typisch für gemeinsames intentionales Handeln, dass die Mitglieder der Gruppe ganz verschiedene Rollen ausüben. In ihrer Analyse von gemeinsam intentional handelnden Gruppen beziehen sich List und Pettit ausdrücklich auf hierarchische Organisationen, wie Kirchen, in denen es klare Unterschiede in den von den Mitgliedern ausgeübten Rollen gibt: „Die normalen Gläubigen sind in der Kirche gewöhnlich nicht so aktiv wie Priester und Bischöfe, aber sie stimmen in gleichem Maß mit der Kirche überein, indem sie diese als dasjenige begreifen, was für die Gruppe in religiösen Angelegenheit spricht.“23
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass geteilte Überzeugungen nach Gärdenfors das Ergebnis von Ritualen sind, während sie in den meisten liturgischen Praktiken vorausgesetzt werden. Gärdenfors geht eher von einer didaktischen Funktion aus; seiner Ansicht nach führen Rituale oft „neue kausale Mechanis-
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Ebd., 681. Christian List / Philip Pettit, Group Agency. The Possibility, Design, and Status of Corporate Agents, Oxford 2011, 36.
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men“ ein, die dann zentrale Elemente der geteilten Überzeugungen werden. Wie oben gezeigt wurde, trifft dies jedoch nicht auf die liturgischen Rituale zu, wie sie von den meisten christlichen Kirchen gefeiert werden. In diesen liturgischen Praktiken haben sich die Mitglieder der Gruppe in der Regel bereits dazu entschieden, die für den Ablauf des Rituals relevanten Überzeugungen zu teilen. Darüber hinaus haben sie normalerweise die meta-repräsentationale Überzeugung, dass die anderen Mitglieder der Gruppe sich dazu entschieden haben, diese Überzeugungen zu teilen. Es gehört zum Selbstverständnis der liturgischen performativen Handlungen, dass die mehr tätigen Teilnehmer mit den weniger tätigen dieselben wesentlichen Gruppenüberzeugungen teilen.24 Dies trifft zunächst auf evangelische Kirchen zu, in denen der Unterschied zwischen aktiven und eher passiven Teilnehmern vielleicht weniger stark ausgeprägt ist; wie ich oben dargelegt habe, lassen sich aber auch jene Rituale in der Liturgie der römischkatholischen Kirche – wie z. B. die Eucharistiefeier – als geteilte intentionale Handlungen verstehen, in welchen es eine ziemlich klare Unterscheidung von tätigen und nicht-tätigen Teilnehmern gibt.
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Zwei mögliche Einwände
Ich schließe diese Abhandlung mit der Diskussion von zwei Einwänden, die gegen meine These – liturgische Rituale sind geteilte intentionale Praktiken – vorgebracht werden könnten. Der erste Einwand besagt, dass viele, die einer liturgischen Feier beiwohnen, vielleicht gar nicht von der Wahrheit der für das Ritual relevanten Glaubensannahmen überzeugt sind. Im zweiten Einwand wird vorgebracht, dass die meisten oder vielleicht sogar alle Mitglieder der Gottesdienstgemeinde nicht die volle Bedeutung der Überzeugungen, Intentionen und Zielsetzungen erfassen, die in den liturgischen Praktiken vorausgesetzt werden.
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Der Wahrheits-Einwand
Unter den Besuchern eines Gottesdienstes gibt es wahrscheinlich immer welche, die eine skeptische Einstellung gegenüber der Wahrheit der für den Vollzug von Ritualen relevanten Überzeugungen haben. So sind vielleicht viele Gläubige agnostisch oder skeptisch, wenn es zum Beispiel um die Wahrheit der offiziellen kirchlichen Lehre der Transsubstantiation geht. Haben diese epistemisch schwa-
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Das hat natürlich nicht zur Folge, dass das Ritual fehlschlägt, wenn zufällig nicht-gläubige Gottesdienstbesucher anwesend sind.
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chen Gläubigen noch Anteil an der geteilten intentionalen Praxis der Gruppe? In seiner Analyse von Gruppenüberzeugungen unterscheidet Tuomela zwischen einem weiten und einem engen Verständnis der Annahme von Überzeugungen. Dem engen Verständnis zufolge müssen diejenigen, die eine Überzeugung dass p teilen auch davon überzeugt sein, dass p wahr ist. Dieses enge Verständnis der Annahme von Überzeugungen wird jedoch der Realität von Gruppenüberzeugungen nicht gerecht. Nach Tuomela kann man die Gruppenüberzeugung dass p auch teilen, ohne zu glauben, dass p wahr ist. Er argumentiert deshalb für ein weites Verständnis der Annahme von Überzeugungen. Mitglieder einer Gruppe G können darin übereinkommen, eine Gruppenüberzeugung zu teilen, weil sie als tätige Mitglieder eine bestimmte Stellung in G einnehmen.25 Es ist also möglich, Überzeugungen deshalb zu teilen, weil man die Stellung eines tätigen Mitglieds in G hat, auch wenn man nicht an deren Wahrheit glaubt. Nicht-tätige Mitglieder können die Überzeugung dass p „stillschweigend übernehmen“, weil sie Mitglieder von G sind zu deren Gruppenüberzeugungen dass p gehört. Diese sogenannte „Positions-Auffassung“ von Gruppenüberzeugungen scheint auch der Realität liturgischer Vollzüge zu entsprechen. Viele Menschen haben Schwierigkeiten mit der offiziellen Glaubenslehre; sie tun sich schwer, die Wahrheit der in liturgischen Ritualen vorausgesetzten Überzeugungen anzunehmen. Sie teilen aber trotzdem die Überzeugungen, welche für das Ritual konstitutiv sind – nicht weil sie von ihrer Wahrheit überzeugt sind, sondern weil sie zu einer Gemeinschaft von Gläubigen gehören, von denen erwartet wird, dass sie bestimmte Zielsetzungen, Überzeugungen und Absichten teilen. Darüber hinaus scheint nur das weite Verständnis der Annahme von Überzeugungen dem besonderen epistemischen Status des religiösen Glaubens gerecht zu werden. Die meisten in liturgischen Vollzügen vorausgesetzten Überzeugungen beinhalten keinen propositionalen Gehalt, dessen Wahrheit empirisch überprüft werden könnte. Sie beziehen sich stattdessen auf eine Realität, die Gegenstand des Glaubens ist. Wenn das enge Verständnis bei der Annahme der Überzeugung dass p voraussetzt, dass man auf der Grundlage eines Evidenzbeweises wissen muss, dass p,26 ist dies zu eng für die epistemische Rechtfertigung religiöser Überzeugungen. Offensichtlich kann man religiöse Überzeugungen teilen, ohne in der Lage zu sein, für sie eine Rechtfertigung im klassischen epistemischen Sinn zu geben.27
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Tuomela, Importance, 315. Ernest Sosa, Beyond Scepticism, to the Best of our Knowledge, in: Mind 97 (1988) 153–188, hier 170. Eine weitergehende Diskussion der epistemischen Eigenart religiöser Überzeugungen findet sich in: Thomas Schärtl, Glaubensüberzeugung. Philosophische Bemerkungen zu einer Erkenntnistheorie des christlichen Glaubens, Münster 2007.
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Der Bedeutungs-Einwand
Der zweite Einwand besagt, dass normale Gläubige vielleicht nie die volle Bedeutung der Überzeugungen, Zielsetzungen und Intentionen erfassen, die in einem liturgischen Ritual vorausgesetzt werden. Dieser Einwand verweist auf das Problem der Beziehung zwischen den Überzeugungen der Gruppe G auf der einen und den Überzeugungen jedes einzelnen Gruppenmitglieds auf der anderen Seite. Setzt die Tatsache, dass G die Überzeugung dass p hat, voraus, dass jedes Mitglied von G glaubt dass p? Wenn dies der Fall ist, und jedes Gruppenmitglied glaubt dass p, könnte man diese Gruppenüberzeugung auf die intentionalen Zustände der einzelnen Mitglieder von G reduzieren. Margaret Gilbert nennt dies einen „summativen Begriff kollektiver Überzeugungen“. Damit eine Gruppe G summativ glauben kann dass p, „ist es logisch notwendig, dass alle oder die meisten Mitglieder von G glauben dass p“.28 Wie ich oben ausgeführt habe, handelt es sich bei dem summativen Begriff kollektiver Überzeugungen – wenn nicht zusätzliche Bedingungen hinzugenommen werden – um keine Gruppenüberzeugung im eigentlichen Sinn. Wenn die Überzeugung der Gruppe dass p nur in den Überzeugungen der einzelnen Mitglieder von G besteht, kann diese Überzeugung auch letztlich nur den einzelnen Mitgliedern und nicht der Gruppe als solcher zugeschrieben werden. Eine wirkliche Gruppenüberzeugung dagegen setzt nicht nur die individuellen Überzeugungen dass p voraus, sondern auch die Überzeugung dass die Gruppe glaubt, dass p. Oben habe ich bereits auf den Unterschied hingewiesen zwischen einem bloßen Aggregat von Überzeugungen, in welchem unterschiedliche Individuen dieselbe Überzeugung „dass p“ haben, und einer Situation, in welcher verschiedene Individuen die Überzeugung „dass p“ teilen. Letztere setzt voraus, dass die einzelnen Mitglieder voneinander wissen, dass sie glauben dass p. Für eine Gruppenüberzeugung ist es also nicht nur erforderlich, dass alle oder die meisten Mitglieder von G glauben dass p, sondern auch, dass die Mitglieder glauben, dass die meisten Mitglieder von G glauben dass p. Christian List, der diese Art von Gruppenüberzeugung als „gemeinsame Überzeugung“ bezeichnet, nimmt nicht nur diese Überzeugung zweiter Ordnung als notwendige Bedingung an; er postuliert auch zusätzlich die Überzeugung dritter Ordnung, dass „jedes Mitglied glaubt, dass jedes andere Mitglied glaubt, dass jedes andere Mitglied diese Einstellung hat“.29 In eine ähnliche Richtung geht auch John Searle, wenn er für seine sogenannten „wir-Intentionen“ argumentiert. Seiner Meinung nach benötigen die kooperierenden Individuen für kollektive Intentionalität neben mentalen Zustän-
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Margaret Gilbert, Modelling Collective Belief, in: Synthese 73 (1987) 185–204, hier 191. Christian List, Three Kinds of Collective Attitudes, in: Erkenntnis 79 (2014) 1601–1622, hier 1609.
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den (Intentionen, Überzeugungen) erster Ordnung noch repräsentationale Einstellungen zweiter und dritter Ordnung über die Intentionen und Überzeugungen der anderen Gruppenmitglieder.30 Lassen sich diese kollektiven Überzeugungen reduktionistisch deuten? Dies würde implizieren, dass kollektive Überzeugungen letztlich das Aggregat der Überzeugungen dass p erster Stufe jedes einzelnen Gruppenmitglieds zusammen mit allen meta-repräsentationalen wir-Überzeugungen der zweiten und dritten Stufe der einzelnen Gruppenmitglieder ist. In diesem Fall wären die einzelnen Mitglieder Träger der Überzeugungen, nicht die Gruppe: „hier wird angenommen, dass die Gruppenüberzeugung eine Funktion der Überzeugungen der einzelnen Mitglieder der betreffenden Gruppe sind. Diese Sichtweisen sind in dem Sinne reduktionistisch, dass sie die Gruppenüberzeugungen auf individuelle Überzeugungen reduzieren, anstatt Gruppenüberzeugungen einen eigenen ontologischen Status zu geben. Somit gibt es dieser Auffassung zufolge keine Gruppen- oder kollektiven Überzeugungen als solche; wenn man Gruppen Überzeugungen zuschreibt, handelt es sich dagegen nur um eine praktische verkürzte Redeweise, die sich in Wirklichkeit auf eine bestimmte Zusammensetzung individueller Überzeugungen bezieht.“31
Ein derartiges reduktionistisches Verständnis von Gruppenüberzeugungen würde zweifellos den Bedeutungs-Einwand stärken. Der Einwand geht ja davon aus, dass Gruppenüberzeugungen notwendig von jedem einzelnen Mitglied voll erfasst werden müssen. Daraus würden sich negative Implikationen für unsere These ergeben, dass liturgische Rituale geteilte intentionale Praktiken sind: Wenn die Teilnehmer an der Liturgie nicht den vollen Gehalt der für das Ritual relevanten Überzeugungen erfassen, können sie diese Überzeugungen nicht im Vollzug der Liturgie teilen. Ein reduktionistisches Verständnis von Gruppenüberzeugungen ist jedoch dann mit ernsthaften Schwierigkeiten konfrontiert, wenn solche Überzeugungen kollektiv und nicht bloß summativ verstanden werden sollen. So ist es erstens ziemlich kontraintuitiv, dass in einer Gruppe mit der Überzeugung dass p alle Mitglieder sämtliche relevanten Überzeugungen zweiter und dritter Stufe haben, welche die Überzeugung dass p erst zu einer Gruppenüberzeugung machen. Darüber hinaus ist die Überzeugung dass p kein isolierter mentaler Zustand. Wie Deborah Tollefsen ausführt, „können wir Überzeugungen nicht in verständlicher Weise in atomistischer Manier zuschreiben. Der Gehalt einer Überzeugung ist zum Teil eine Funktion ihrer Stellung in einem Netzwerk anderer Einstellungen. Die Verständlichkeit des Zuschreibens eines bestimmten Gedankens an jemanden
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John Searle, Collective Intentions and Actions; in: P. R. Cohen / J. Morgan u. a. (Hg.), Intentions in Communication, Cambridge/Mass 1990, 401–415. Rauk Hakli, Group Beliefs and the Distinction between Belief and Acceptance, in: Cognitive Systems Research 7 (2006) 286–297, 287.
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beruht auf der Möglichkeit, ihm oder ihr viele andere Gedanken zuzuschreiben“.32 Wenn der Gehalt der Überzeugung dass p durch andere Einstellungen weiter bestimmt wird, ist es in höchstem Maß unwahrscheinlich, dass er bei allen Gruppenmitgliedern genau in derselben Weise weiter bestimmt wird. Diese Überlegungen konfrontieren uns mit folgender Alternative: Entweder wir geben den Begriff der Gruppenüberzeugung auf oder wir verzichten auf ein reduktionistisches Verständnis derselben. Nach Tollefsen schreiben wir tatsächlich Gruppen bestimmte Überzeugungen zu, ohne zu wissen, was die einzelnen Mitglieder genau glauben.33 Wenn es starke Gründe dafür gibt, an Begriffen wie Gruppenintentionalität und Gruppenüberzeugung festzuhalten, benötigen wir ein nicht-reduktionistisches Verständnis von Gruppenüberzeugungen, welches „die Ansicht ernst nimmt, dass Gruppen eher die intentional Handelnden sind als die Individuen, aus denen sie bestehen“.34 So eine Ansicht wird zum Beispiel in Margaret Gilberts Ansatz der vereinten Akzeptanz vertreten. Gilbert übernimmt darin die klassische Sichtweise von Gruppenüberzeugungen, wenn sie behauptet, dass eine Gruppe G nur dann glaubt dass p „wenn die Mitglieder von G vereint akzeptieren dass p“.35 Sie weicht jedoch von der klassischen Sichtweise ab, wenn sie den Ausdruck „vereint akzeptieren dass p“ definiert. Nach ihrer Auffassung, akzeptieren die Mitglieder von G die Überzeugung dass p „dann und nur dann, wenn es gemeinsames Wissen in G ist, dass die einzelnen Mitglieder von G ein bedingtes Bekenntnis dazu abgegeben haben, zusammen mit den anderen Mitgliedern zu akzeptieren dass p“.36 Gilberts Definition lässt zugebenermaßen viele Fragen offen. Sie führt aber zur Einsicht, dass man Gruppenüberzeugungen nicht als Überzeugungen verstehen sollte, die jedes einzelne Gruppenmitglied besitzt. Sie sind wirklich Überzeugungen der Gruppe als solcher. Der intentionale Beitrag der einzelnen Mitglieder besteht nicht so sehr darin, dass sie selbst glauben dass p, sondern eher darin, dass sie sich verpflichten dass p als Gruppenüberzeugung zu akzeptieren. In diesem Fall könnte die Überzeugung selbst eine ziemlich vage Bedeutung für das einzelne Gruppenmitglied haben. Es könnte sein, dass die einzelnen Gruppenmitglieder eine sehr allgemeine und schwache Vorstellung darüber haben, worin die Gruppenüberzeugung genau besteht. Sie sind sich aber über ihre Verpflichtung im Klaren, dass p als Gruppenüberzeugung zu akzeptieren. Aufgrund dieser Verpflichtung können die „verschiedenen Gruppenmitglieder in unterschiedlicher Weise zur Herausbil-
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Deborah P. Tollefsen, Collective Intentionality and the Social Sciences, in: Philosophy of the Social Sciences, 32 (2002) 25–50, hier 25. Ebd., 29. Ebd. Gilbert, Belief, 195. Ebd.
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dung von Überzeugungen der Gruppe und zur der Verfolgung ihrer Ziele beitragen“.37 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass ein reduktionistisches Verständnis keine adäquate Rechtfertigung unseres allgemeinen Verständnisses von Gruppenüberzeugungen liefern kann. Gruppenüberzeugungen im eigentlichen Sinn setzen ein nicht-reduktionistisches Verständnis voraus, in welchem die Überzeugungen der Gruppe nicht mit den Überzeugungen der einzelnen Gruppenmitglieder gleichgesetzt werden. Aus diesem Grund ist die Annahme, dass die meisten Gläubigen in einem liturgischen Vollzug nie die volle Bedeutung der Überzeugungen ihrer Gruppe erfassen, kein Argument gegen meine Behauptung, dass die meisten liturgischen Rituale geteilte intentionale Aktivitäten sind, sondern für sie.
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List, Kinds, 1616.
Sakramentale Grenzgänge Liturgie zwischen Lebenswirklichkeit und Glaubenswahrheit
Thomas Pott
„Bezeichnet wird die Kirche in den mysteria nicht wie in Symbolen, sondern wie im Herzen die Glieder und wie in der Wurzel einer Pflanze ein Zweig, und auch so wie der Herr sagte, wie an der Rebe die Rebzweige. Denn nicht ist hierin nur eine Gemeinsamkeit des Namens oder eine Ähnlichkeit der Analogie, sondern sachliche Übereinstimmung.“1
Zu Beginn: Drei Beobachtungen Das Konzept von Sakramentalität und Sakramenten – auf Griechisch spricht man von mysterion – führt uns geradewegs zum allerinnersten Wesenskern, an den Puls von Kirche und Liturgie. Diese Erkenntnis ist nicht neu und doch grundlegend. In der Tat kann die Bedeutsamkeit von Symbolen und symbolischer Sprache in der Verfasstheit der Kirche kaum überschätzt werden, ist doch die Liturgie Drehund Angelpunkt jedes kirchlichen Lebens. Dennoch führen diese Symbole häufig zu Missverständnissen, sie werden ihres ursprünglichen Sinnes entleert und enden letztlich als verdrehte, verzerrte oder gar gegenteilige Aussage ihrer eigentlichen Bedeutung. Der Graben zwischen der Lehre der Kirche über die Sakramente einerseits und dem Leben und dem Glauben der Christen andererseits ist oftmals garstig breit. Und ein Verständnis der Sakramente als „Symbole dessen, was wir sind“ scheint vom sensus fidelium der Mehrzahl der Gläubigen weit entfernt. Wie oft werden die Sakramente vielmehr als etwas verstanden, das es in der Kirche zu tun oder zu absolvieren gilt, denn als eine spezifische Art des Daseins in der Welt. Zudem hängt die Aussagekraft der Symbole, welche die Sakramente vermitteln,
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Nicolas Cabasilas, Explication de la divine liturgie (Sources Chrétiennes 4), hg. v. S. Salaville, Paris 21967, 230.
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Thomas Pott
eng zusammen mit ihrer Rückbindung an ein religiöses, historisches oder soziales Bezugssystem. Warum sollte ein Konzept wie der „Tisch des Herrn“ relevant sein, wenn gemeinsame Mahlzeiten in der Alltagskultur keinen Bezugspunkt mehr darstellen? Es scheint daher wenig verwunderlich, wenn die Welt der Sakramente – stärker noch als andere Ausdrucksformen des kirchlichen Lebens – als etwas Elitäres wahrgenommen wird, das ausschließlich einer – zwar langsam, aber stetig – schrumpfenden Gruppe von Eingeweihten sowohl verständlich als auch zugänglich ist. Hier stellt sich allerdings die Frage, auf wen eigentlich mit dem Finger gezeigt werden soll: Die Eingeweihten oder die Nicht-Eingeweihten. Denn was soll in der Tat aus den grundlegenden Vollzügen der Liturgie und der sakramentalen Heilsordnung (oikonomia) werden – wie etwa dem Segen, der Anamnese, der Epiklese und der Doxologie2 –, wenn ganze Generationen von Gläubigen nicht mehr (im wahrsten Sinn des Wortes) eingeweiht, sondern nur noch oberflächlich empfänglich sind für die spezifische Sprache der Symbole, anhand derer traditionsgemäß die Vermittlung des Heiligen erfolgt? Allerdings vermögen die Rituale der Kirche, wenn sie in einer schönen gepflegten Liturgie ausgefaltet werden, durchaus anziehend zu wirken, selbst auf Menschen, die sich selbst als Nicht-Gläubige bezeichnen. Kirchliche Riten sprechen eine bestimmte religiöse Grundintuition an, nämlich das natürliche, angeborene Streben nach existentieller, ja universaler Harmonie.3 Ebenso lässt sich eine Verbindung zwischen dem theologischen Konzept der Sakramentalität und der wachsenden Aufmerksamkeit für die Schöpfung nicht von der Hand weisen.4 Hingegen scheinen die kirchliche Sakramentenlehre und ihr sakramentales Handeln nicht mehr dieses Interesse zu wecken. Vielmehr rufen sie Verwunderung und kritisches Hinterfragen hervor, selbst bei geschulten und engagierten Gläubigen.5 Sollten etwa die Sakramente ihren Bezug zur Lebenswirklichkeit verloren haben? Oder sollte der Glaube zahlreicher Menschen die „Spur“ der Sakramente 2
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Vgl. auch Thomas Pott, L’autorité de la liturgie: autorité du mystère ou autorité de l’institution? Quelques exemples, in: L’autorité de la liturgie. Conférences Saint-Serge. LIIIe Semaine d’Études Liturgiques (Paris, 26–29 juin 2006), hg. v. C. Braga (BEL.S 142), Rom 2007, 159–168, hier 161–163. Vgl. etwa Expérience religieuse et expérience esthétique. Rituel, art et sacré dans les religions. Actes du Colloque de Liège et Louvain-la-Neuve (21–22 mars 1990), hg. v. J. Ries (Homo religiosus 16), Leuven 1993; The Biological Evolution of Religious Mind and Behavior, hg. v. E. Voland / W. Schiefenhövel, Berlin 2009. Vgl. etwa Steven Bouma-Prediger, Yearning for Home: The Christian Doctrine of Creation in Postmodern Age, in: Postmodern Philosophy and Christian Thought, hg. v. M. Westphal, Bloomington 1999, 169–201; Martien E. Brinkman, Sacraments of Freedom: Ecumenical Essays on Creation and Sacrament, Justification and Freedom, Zoetermeer 1999; Norman Wirzba, From Nature to Creation: A Christian Vision for Understanding and Loving our World. The Church and Postmodern Culture, Grand Rapids 2015. S. etwa Andrea Grillo / Basilio Petrà, „Per tutti i giorni della mia vita.“ L’indissolubilità tra realtà e retorica, Assisi 2015.
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verloren haben und plötzlich von seiner Verwurzelung in der geoffenbarten Wahrheit Gottes abgeschnitten sein? Diese beiden Fragen bezüglich der Lebenswirklichkeit und Glaubenswahrheit sind Leitfragen für das Folgende, welches sich mit drei Befunden beschäftigt: 1. Die Frage nach dem Verhältnis von Liturgie und Sakrament wurde von zahlreichen herausragenden Theologen des 20. Jahrhunderts behandelt, angeregt vornehmlich durch das Konzept des mysterion und die „liturgische Theologie“6 der Kirchenväter. Allerdings lassen sich derzeit wohl zwei Dinge feststellen: Zum einen mag zwar die „Renaissance des Mysteriums“ dem „Teig“ der akademischen Theologie etwas mehr Geschmack verliehen haben, das spirituelle und theologische tägliche Brot, von dem die Kirche lebt, hat sie allerdings nicht recht aufgehen lassen. Zum anderen ist die begriffliche wie inhaltliche Trennung von Liturgie und Sakramenten mittlerweile ein faktischer Zustand, der nicht einmal mehr die engagiertesten Gläubigen irritiert. 2. Bezüglich des Verhältnisses von Sakramentalität im Allgemeinen und den Sakramenten im Besonderen kommt man nicht umhin festzustellen, dass trotz der engen inneren Verbindung beider die Sakramentalität ein gerne, häufig und durchaus fruchtbar diskutiertes Forschungsobjekt von Theologen wie Liturgikern darstellt, während die Sakramente praktisch wie theoretisch als gänzlich dem Kirchenrecht samt dem von ihm beanspruchten dogmatischen Fundament unterstellt gesehen werden. Daraus ergibt sich unschwer die Wahrnehmung einer sachlichen Übereinstimmung zwischen Sakramentalität und Liturgie. Diese Übereinstimmung kann mit dem Begriff oder dem Konzept mysterion bezeichnet werden. Allerdings erscheinen die Sakramente – die doch in der Tradition der Kirchenväter als mysteria bezeichnet wurden – gegenüber dieser Übereinstimmung als eine Art inhaltlicher Fremdkörper. 3. Im Blick auf die Sakramente selbst – Ausdruck und Offenbarung der Heiligkeit der Kirche – fällt es in der Regel nicht leicht, diese ohne erhebliche geistige Anstrengung als Symbole des Lebens oder des Daseins in der Welt wahrzunehmen. Eine gründliche Untersuchung ihrer Beziehung zur Lebenswirklichkeit – ein unerlässlicher Vorgang, bei dem die Glaubenswahrheit „im Feuer geprüft“ wird (vgl. 1 Petr 1,7) – droht jedoch die Sakramente letztlich zunichte zu machen, wenn sie als Rebzweige betrachtet werden, die vom Rebstock abgeschnitten wurden. Die Siebenzahl der Sakramente als Quelle und Wegmarke des christlichen
6
Die Verwendung dieses Begriffs ist mindestens anachronistisch; schon Schmemann kritisierte diesen Gebrauch, vgl. Alexander Schmemann, Liturgical Theology, Theology of Liturgy, and Liturgical reform, in: SVTQ 13 (1969) 217–224, hier 223 (zitiert bei Thomas Pott, La réforme liturgique byzantine. Étude du phénomène de l’évolution non-spontanée de la liturgie byzantine [BEL.S 104], Rom 2000, 62).
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Thomas Pott
Daseins droht damit zu einem „von menschlicher Scheinheiligkeit weißgetünchten Grab“7 zu werden. Die folgenden Überlegungen sollen von diesen drei Befunden ausgehen, allerdings in umgekehrter Reihenfolge. Die zum Zweck der Veranschaulichung angeführten Beispiele entstammen vornehmlich der Tradition der byzantinischen Liturgie. Die Probleme hinsichtlich der liturgischen und sakramentalen Praxis der Ostkirchen sind gewiss nicht geringer als jene der westlichen Liturgien. Grundsätzlich wurde jedoch die Sakramentenlehre des Ostens nicht so sehr von den Kategorien der scholastischen Theologie durchdrungen wie die des Westens. So haben die Sakramente im Osten nicht nur niemals einen beinahe eigenständigen Status gegenüber der Liturgie und dem kirchlichen Ritus erhalten, sie wurden auch nie von ihrer ursprünglichen Verbindung zum Konzept des mysterion losgelöst, selbst wenn diese Verbindung bisweilen gefährdet oder stark geschwächt wurde.
1
Die Sakramente – theologischer „Verdinglichung“ und pietistischem Reduktionismus preisgegeben
Anlässlich der großen Synode der armenischen Kirche von Hromkla in Kilikien 1179 äußerte sich der hl. Nerses von Lambron folgendermaßen: „wir pflegen dieses Brot zur Verherrlichung und zum Gedächtnis Christi zu segnen, der Segen ist ein einziger, der Name Christi ist ein einziger, den die verschiedenen Völker über ihm aussprechen, ein jedes in einer anderen Sprache. Aber nachdem einmal die Feindschaft zwischen uns ausgebrochen ist, nehmen wir dieses Brot zwar voneinander an und essen es ohne Skrupel, bevor wir es gesegnet haben; kaum aber rufen wir den Namen Christi darüber an und machen daraus mit den gleichen Segensworten seinen Leib, empfindet der Armenier einen Abscheu davor, an dem vom Griechen gesegneten Opfer teilzunehmen, und der Grieche an dem vom Armenier gesegneten Opfer. Und dieses Brot, das wir dank dem gleichen Gebet und dank dem gleichen Segenswort Christus nennen, und das jeder von uns dank dem gleichen Geist konsekriert hat, siehe, da verachten wir es plötzlich gegenseitig. Bevor wir es segneten, aßen wir es gemeinsam ohne Abscheu, und dann, nachdem wir es im Namen Christi gesegnet haben, verabscheuen wir es.“8
7 8
Gilbert Keith Chesterton, Les Quatre Petits Saints du Crime, Lausanne 1984, 144 [engl. Original: Four Faultless Felons, London 1930]. Nerses von Lambron, Die Ungeduld der Liebe: zur Situation der christlichen Kirchen; Synodalrede zu Hromlka (1179); Brief an König Lewon II. (1195), hg. v. Iso Baumer (Sophia 36), Trier 2013, 107; vgl. Thomas Pott, L’hospitalité eucharistique: réflexions théologiques et pastorales, in: Rites de Communion. Conférences Saint-Serge. LVe Semaine d’Études
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Dieser Widerspruch, der vor mehreren hundert Jahren bei Nerses von Lambron Verwunderung und Anstoß erregte, zeigt sich heute nicht viel anders, auch wenn im Lauf der Jahrhunderte immer wieder Gestalten wie Nerses darauf hingewiesen haben. Betreffs der Frage nach „Lebensrealität“ und „Glaubenswahrheit“ scheint seine Analyse heute nicht weniger zutreffend als zu seiner Zeit. Sie lässt sich zudem auch leicht auf die anderen Sakramente anwenden wie etwa Weihe und Ehe. Das Problem ist dabei nicht die Tatsache, dass es eine Sakramentenordnung gibt, die auf einer biblischen Grundlage basiert und durch die Tradition vermittelt wird. In der Tat garantiert diese Ordnung geregelte Abläufe in der Gemeinde und die kirchliche Anerkennung – ich vermeide bewusst das Wort „Wirksamkeit“ – einer Wirklichkeit, welche durch einen Ritus und Symbole sichtbar wird; eine Wirklichkeit, die gewissermaßen Ikone ist: Gegenwart des göttlichen Heiles, das sich offenbart und mitteilt. Das Problem scheint vielmehr, dass die sakramentale Praxis oftmals erstarrt und verknöchert ist, nämlich dann, wenn sie selbstbezüglich wird, d. h. wenn sie ihre Daseinsberechtigung nicht mehr aus der Heilsökonomie schöpft, sondern sich in einer Art Satellitensystem bewegt, das so vorgeblich heilig wie in sich verschlossen ist, und in dem überproportional viel Aufmerksamkeit dem Selbstschutz gewidmet wird.
1.1
Die Eucharistie
Hinsichtlich der Eucharistie liegt das grundlegende Problem zweifellos darin, dass seine Verankerung im realen und durchaus konfliktträchtigen9 Gemeinschaftsmahl schon früh gefährdet wurde und in der Folge verloren ging. Für den hl. Paulus hängen Kommuniongemeinschaft und Ausschluss aus selbiger eng von praktischen Faktoren ab und nicht an erster Stelle von theologischen Überlegungen. Im Brief an die Korinther bezieht sich der Apostel auf die Kommuniongemeinschaft mit den Worten „Wenn ihr also zum Mahl zusammenkommt, meine Brüder, wartet aufeinander! […] Weitere Anordnungen werde ich treffen, wenn ich komme.“ (1 Kor 11,33f.) Paradoxerweise stellt es heute genauso wenig wie zur Zeit des Nerses von Lambron ein Problem dar, mit Menschen gemeinsam zu speisen, die weder denselben Glauben noch dieselben Gebräuche haben, kurz, mit denen man nicht in „Kommuniongemeinschaft“ steht. Dies bleibt jedoch nicht ohne Folgen für die „sakramentale Identität“ der Gläubigen. Einerseits ist die Kommunion im eucharistischen Sinne zu einem Symbol exklusivistischer kirchlicher Identität geworden, andererseits wird der zutiefst humane und humanisierende Akt des Teilens von Speise und Trank nicht mehr wirklich in der Eucha-
9
Liturgiques (Paris, 23–26 juin 2008), hg. v. A. Lossky / M. Sodi (Monumenta Studia Instrumenta Liturgica 59), Vatikanstadt 2010, 151–163. Vgl. Apg 6,1–2; 1 Kor 11,17–21.
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ristie widergespiegelt. Zudem müsste sich die Frage stellen, welches theologische Modell jemals in der Lage sein sollte, eine hinreichende Erklärung zu bieten für das begriffliche wie inhaltliche Auseinanderdriften zwischen der communio im Sinn der Eucharistie als ritueller Mahlzeit, der communio, auf die sich die theologischen Dialoge der getrennten Kirchen fixieren und der communio im Sinn der Gemeinschaft derer, die das Geheimnis des Lebens als Ehepaar, als Glaubenszeugen oder im Einsatz für das Wohl der anderen und der Welt miteinander teilen. Ohne Zweifel nähert sich dieser letztgenannte Modus am meisten dem an, was der Apostel Paulus anstrebte. Im Anschluss an die Abspaltung der Eucharistie vom realen Mahl entwickelte sich eine eucharistische Theologie, deren Schwerpunkt zunehmend auf dem repräsentativen Inhalt des Symbols sowie auf seiner Wirksamkeit lag. Die persönliche Würde der Teilnehmer wurde hervorgehoben auf Kosten des Bewusstseins dessen, dass sie alle einen einzigen Leib bilden in der communio sanctorum, der Gemeinschaft der Heiligen. Im Westen ging dies einher mit einer nachdrücklichen Betonung der Wandlung der eucharistischen Gaben (Transsubstantiation) und dem Opfercharakter der Messe.10 Im Osten blieb der Aspekt der Teilnahme und der communio im Mysterium der Erlösung stärker erhalten, wenn auch einer Entwicklung nicht Einhalt geboten werden konnte, welche – anders als der Westen – bezüglich der eucharistischen Gaben und ihrer Wandlung letztere nicht im Moment der Einsetzungsworte, sondern im Moment der Epiklese verortet. Wie auch immer, im Westen wie im Osten hat die Entwicklung der eucharistischen Theologie einerseits zu einer Krise der Teilnahme von Laien an der eucharistischen Gemeinschaft geführt, andererseits zu einer Abschwächung des zentralen Charakters der Eucharistie als Stiftungsereignis der Kirche. Es scheint sehr passend, dass Rowan Williams anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen am 17. November 2010 an die katholische Kirche appellierte, den anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften dabei behilflich zu sein, nach den Gründen dafür zu suchen, dass die Eucharistie im Leben so vieler Kirchen nicht mehr im Zentrum steht. Dennoch befindet sich – praktisch gesehen – die katholische Kirche hinsichtlich ihrer eucharistischen Tradition in keinem besseren Zustand als die anderen Kirchen, zumindest im Blick auf alles, was das – scholastisch gesprochen – „unbedingt Notwendige“ übersteigen würde. Paradoxerweise finden sich die Kirchen in dieser verzerrten eucharistischen Theologie vereint wieder. Vereint sind sie dennoch auch durch ihre liturgischen Texte, die lex orandi, welche dem, was sie ausdrücken sollen, absolut gerecht werden, ohne auf die Kategorien der scholastischen Theologie noch auf die morali-
10
Vgl. Adrien Nocent, Le renouveau liturgique: une relecture (Le point théologique 58), Paris 1993, 55.
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schen Vorschriften zurückzugreifen, die das Glaubensleben der Gläubigen regeln sollen. Die byzantinische Liturgie, auch „Göttliche Liturgie“ genannt, ist trotz – oder möglichweise dank – ihrer starken Ritualisierung ganz und gar auf die Gegenwart der Person Christi inmitten der feiernden Gemeinde ausgerichtet. Die historische Entwicklung des Ritus, die sich von einer eher symbolischen Feiergestalt hin zu einer stärker dramaturgisch-repräsentativ ausgestalteten rituell-interpretativen Form vollzogen hat, hat nie die Christuszentriertheit der ganzen Feier in den Hintergrund gestellt. Die geweihten Gaben erscheinen in der Feier der Liturgie als ein Modus der mystischen Gegenwart Christi, der nicht-exklusiv und nicht „realer“ ist als alle anderen Offenbarungs- und Ausdrucksformen. Vom Beginn bis zum Ende der Liturgie ist das alleinige Mysterium das Mysterium des in seiner Kirche gegenwärtigen Christus – ein Mysterium, das in der Teilhabe an den geweihten Gaben gipfelt, durch welche sich die Gläubigen als vereint im Leib Christi erweisen. Das Verhältnis zwischen den eucharistischen Gaben und den Gläubigen wird in sehr dynamischer Weise verdeutlicht in der Epiklese der Chrysostomos-Liturgie, die hier als einziges Beispiel herangezogen werden soll. Die Epiklese fleht in chiastischer Form zum Vater um Herabsendung seines Heiligen Geistes [A] „auf uns“ [B] „und diese vorliegenden Gaben“, damit [B’] Brot und Wein werden zum Leib und Blut Christi und damit sie „denen, die daran teilnehmen“ – das heißt [A’] für „uns“ – „gereichen zur Nüchternheit der Seele, zur Vergebung der Sünden, zur Gemeinschaft deines Heiligen Geistes, zur Fülle des Himmelreiches, zum Freimut vor dir, nicht aber zum Gericht oder zur Verdammnis“11. So zeigt sich gemäß der lex orandi die gesamte Liturgie – der Ritus, die Lesungen, die Gaben vor und nach ihrer Weihe, die Gläubigen – als Realpräsenz Christi im Heiligen Geist. Als eigentliche Frage bleibt jedoch: Warum ist er gegenwärtig? Diese Frage gehört in den Bereich der Soteriologie. Es ist die zentrale Frage, die an das Sakrament, an das mysterion zu richten ist; aber zuvor ist es die Frage, die das mysterion prüfend an uns richtet. Denn das mysterion ist mysterion, d. h. sich offenbarendes Geheimnis, nur für jene, die sich in es hineingeben und dadurch selbst mysterion im mysterion werden.
11
Orthodoxe Bischofskonferenz in Deutschland, Die Göttliche Liturgie (Neuübersetzung und Erstveröffentlichung, in: http://www.orthodoxie-in-deutschland.de/04_liturgische_tex te/b_lit_texte_im_internet.html (aufgerufen am: 09.06.2017).
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1.2
Weihe und Amt
Im Kontext des Weihesakraments und der Ehe stellt sich die Frage nach der Lebenswirklichkeit und der Glaubenswahrheit auf etwas andere Weise als für die Eucharistie, insofern diese Sakramente dem Empfänger ein unauslöschliches Prägemal verleihen sollen. Der Begriff „Sakrament“ bedeutet hier das Ritual, in dessen Verlauf das Sakrament gespendet wird, bestimmt aber auch den Seinszustand, der dessen dauerhaftes Ergebnis darstellt. Hierbei ist bemerkenswert, dass das Sakrament nicht als ein Instrument wahrgenommen wird, das aus sich heraus das Heil bewirkt, sondern als Begründung eines Standes, der innerhalb der Kirche mit einer bestimmten Aufgabe verbunden ist und daher wesensmäßig öffentlichen Charakter hat. Dies ist einer der Gründe, weshalb die Richtlinien für diese Übergangsriten höchst detailliert definiert und verteidigt werden. Wenngleich das Sakrament der Weihe im Blick auf einen sakramentalen Dienst gespendet wird – insofern sie weitere Sakramente „hervorbringt“, d. h. insofern sie den Empfänger dazu bestimmt, auf intensivste und innigste Weise im Dienst des mysterions zu stehen –, bringt sich der dazu Berufene mit seinem ganzen Dasein ein. Dies wird schön illustriert durch die Formulierung, welche im byzantinischen Weiheritus (cheirotonia) der Bischöfe, Priester, Diakone und Diakoninnen dem Weihegebet vorausgeht. Dieser Text verbindet – abermals in Form eines Chiasmus – das Wirken des Heiligen Geistes und das Gebet der Gläubigen mit dem Übergang, den der Weihekandidat vollziehen muss: „[A] Die göttliche Gnade, welche allzeit [B] die Schwächen heilt und die Mängel ausgleicht, [B’] bestimmt N., den frommen Diakon, zum Priester: [A’] lasst uns also für ihn beten, damit auf ihn herabkomme die Gnade des allheiligen Geistes.“12
Wenn auch zwar die persönlichen Verdienste des Weihekandidaten eine Rolle spielten für seine Erwählung („den du die Güte hast zu erwählen dank seiner tadellosen Lebensführung und seines starken Glaubens“)13, so ruht doch die Kraft des Heiligen Geistes auf dem Neugeweihten und heiligt ihn, nicht dass er sich auszeichne durch einen Aufstieg auf der sozialen14 und religiösen Leiter, sondern indem er seinen Dienst erfülle:
12 13 14
Euchologion to mega syn theo agio, Rom 1873, 135. Ebd. Alexander Schmemann, Pour la vie du monde, Paris 1969, 112 stellte bereits fest, dass „nicht wenige ,priesterliche Berufungen‘ faktisch in einem krankhaften Verlangen nach dieser übernatürlichen Anerkennung Wurzeln geschlagen haben, insbesondere dann, wenn die Chancen auf natürliche Anerkennung eher schlecht stehen“.
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„erfülle ihn mit den Gaben deines heiligen Geistes, damit er würdig werde, ohne Tadel an deinem Altar zu erscheinen, das Evangelium deines Reiches zu verkünden, das Wort deiner Wahrheit zu feiern, dir Gaben und geistige Opfer darzubringen, dein Volk zu erneuern durch das Bad der Wiedergeburt“15
Kehren wir zurück zur Frage nach der Lebenswirklichkeit und der Glaubenswahrheit. Es zeigt sich, dass der Klerikerstand samt seiner sozialen Spiegelung oftmals eine wichtigere Rolle im kirchlichen Bewusstsein spielte als die Qualität des ausgeübten Amtes. In der Tat sind die Weihen mit einer Anzahl an Vorrechten, Pflichten und Rechten verbunden, welche – je nach den genauen kanonischen Vorschriften und je nach dem Weihegrad des Einzelnen – den verschiedenen Mitgliedern des Klerikerstandes bestimmte Machtbefugnisse zugestehen. Doch auch hier besteht jegliche Autorität innerhalb der Kirche, ob sakramental verliehen oder nicht, im Blick auf die Ausübung des Amtes der Christusrepräsentation durch die Kraft des Heiligen Geistes. Deswegen ist selbst die Ausübung der Autorität, genau wie die Weihe und der daraus resultierende Stand, wesensmäßig mysterion: Gegenwart des göttlichen Heiles, das sich offenbart und mitteilt. Wird diese grundlegende Verbindung mit der Soteriologie im Leben der Kirche verletzt, so wird das Amt von seinem Objekt (dem konkreten Menschen) und seinem eigentlichen Subjekt (Christus) getrennt. Die Weihe wird dann zum Schlüssel eines in sich geschlossenen Systems, das so vorgeblich heilig und entweltlicht ist wie selbstbezüglich; der Ausübung von Autorität stehen als Betätigungsfelder dann lediglich noch die Überreste eines alten Feudalwesens zur Verfügung. Das soteriologische Bewusstsein bezüglich des Weihesakramentes findet sich allerdings schon deutlich in dem Schreiben Saepius Officio, das die anglikanischen Erzbischöfe von Canterbury (Frederick Temple) und York (William Maclagan) 1897 an Papst Leo XIII. richteten als Antwort auf seine Bulle Apostolicae Curae von 1896, in welcher der Papst die anglikanischen Weihen als „absolutely null and utterly void“ bezeichnete. Die Erzbischöfe wiesen darauf hin, dass die anglikanischen Priester in der Ausübung ihres Dienstes gemäß dem Auftrag Christi nichts anderes täten als der Papst selbst. Sie fragten sich deshalb, warum dieser annahm, dass das, was er für sein eigenes Dasein als redlich ansehe, nichts zur Würde und zur Ausübung des Priestertums der anglikanischen Priester beitrage.16
15 16
Euchologion, 136. „We therefore, taking our stand on Holy Scripture, make reply that in the ordering of Priests we do duly lay down and set forth the stewardship and ministry of the word and Sacraments, the power of remitting and retaining sins, and other functions of the pastoral office, and that in these we do sum up and rehearse all other functions. Indeed the Pope himself is a witness to this, who especially derives the honour of the Pontifical tiara from Christ’s triple commendation of His flock to the penitent S. Peter. Why then does he suppose that, which he holds so honourable in his own case, to contribute nothing to the dignity and offices of the priesthood in the case of Anglican Priests?“ (Answer of the
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Die grundlegende Frage lautet hier: Was ist der wahre sakramentale Charakter des Weiheamtes? Auch das ist wiederum eine soteriologische Frage. Wenn das Weiheamt ein mysterion darstellt, kann es nicht anders ausgeübt werden denn als Teilhabe an dem mysterion, aus dem es erwächst. Papst Franziskus hat in seiner Predigt am Gründonnerstag 2013 zumindest teilweise darauf geantwortet – und dabei zumindest indirekt angedeutet, wie eine offizielle „Eingangsbestätigung“ des Briefes der anglikanischen Erzbischöfe von 1897 aussehen könnte – indem er mahnte, die Hirten müssten den Geruch der Schafe annehmen.
1.3
Die Ehe
Der Bedeutungsunterschied zwischen Sakrament und mysterion einerseits sowie zwischen „der Tradition getreu“ und „barmherzig wie der Vater“ andererseits gipfelte in den Kontroversen rund um die Familiensynode der katholischen Bischöfe in den Jahren 2015 und 2016. Es handelt sich nicht einfach um die Frage nach dem richtigen Verhalten gegenüber Fällen von Leid und Versagen innerhalb von Partnerschaften. Vielmehr geht es um den Menschen an sich, seine Natur, seine Berufung, die einzigartige und unverwechselbare Stellung des Individuums im Narrativ17 der Heilsökonomie sowie seine relative Eigenständigkeit bzw. seine notwendige Unterordnung im Blick auf die entscheidenden Kategorien von Geschichte und Tradition. Hierbei besteht allerdings die Gefahr, dass jene, die sich zu Verteidigern der Tradition gegen „Modernisten“ oder „Häretiker“ erklären, übersehen, dass ihre Traditionstreue sich auf ein einziges Narrativ stützt, d. h. auf einen ganz bestimmten historischen oder theologischen Interpretationsstrang, der allerdings – wenn er der Tradition treu bleiben will – weder Einzigkeit noch Alleingültigkeit für sich beanspruchen kann. Daher erscheint die Lösung, die angesichts des Problems der Nicht-Zulassung wiederheirateter Geschiedener getroffen wurde – nämlich ein erleichtertes Annulierungsverfahren –, als schwach und bedauerlich, insofern sie ihre Niederlage angesichts der Vormachtstellung der Kategorien einer ganz bestimmten Sakramententheologie – der Scholastik – eingesteht, welche die Kirche, die Sakramente,
17
Archbishops of England to the Apostolic Letter of Pope Leo XIII [Saepius Officio], London 1897, chap. XIX). Zum Konzept des Narrativs vgl. z. B. Johann Michel, Narrativité, narration, narratologie: du concept ricoeurien d’identité narrative aux sciences sociales, in: Revue européenne des sciences sociales 41 (2003) 125–142; Matti Hyvärinen, Towards a Conceptual History of Narrative, in: Studies Across Disciplines in the Humanities and Social Sciences 1: The Travelling Concept of Narrative, hg. von ders./ A. Korhonen u. a., Helsinki 2006, 20–41; Jill Sinclair Bell, Narrative Inquiry: More than just Telling Stories, in: TESOL Quarterly 36 (2002) 207–213; Peter Abell, The Syntax of Social Life: The Theory and Method of Comparative Narratives, Oxford 1987.
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die Pastoral, die gesamte Tradition in Ketten hält. Die Vorstellung, dass die Nichtigkeitserklärung einer Ehe, die mehrere Jahre dauerte und aus der Kinder hervorgingen, ein möglicher und akzeptabler Weg zur „Achtung des Sakraments“18 darstellt, verachtet die Liturgie und verneint das Leben. Denn dieser Weg bestätigt, dass das, was einst gefeiert wurde und was faktisch existierte, nicht das mysterion der liebenden Gegenwart Gottes unter den Menschen war, sondern bloßer Schein: „absolutely null and utterly void“. Doch das scholastische Konzept von Sakrament schöpft die reiche Tradition der Kirche nicht aus, so wie auch die Ehe, eben als Sakrament (mysterion), ihre Wurzeln im Narrativ der Heilsökonomie hat, von der kein philosophisches System je die volle Wahrheit aussagen oder die wahrhaftige Wirklichkeit des göttlichen Planes aufzeigen kann. Angesichts der Verdinglichung der Ehe durch ein „schematisches“ Sakrament mit stärkerem Rechts- denn Feiercharakter und durch eine exklusivistische Theologie droht in Vergessenheit zu geraten, dass die Ehe Ikone – Gegenwart, die sich offenbart und mitteilt – des Bundes zwischen Gott und den Menschen ist, vielmehr als imago – bloße Ähnlichkeit, einer Totenmaske gleich.19 Nicht die Frage nach der Unauflöslichkeit der Ehe, die nach der Tradition der ungeteilten Kirche unbestritten ist, steht im Raum. Stattdessen geht es darum, für den Fall der Verletzung der Ikone „Christi und der Kirche“ (Eph 5,32) zu unterscheiden, welche Lehre man legitimerweise aus der Tradition ziehen kann, die sich nicht durch die Kategorien einer systematischen Theologie auszeichnet, sondern durch die bewegte Erzählung der Heilsökonomie, einer unerschöpflichen Quelle von Leben und Hoffnung für alle, die glauben. Es ist ein mysterion: Gegenwart, die sich offenbart und mitteilt; es ist das mysterion, welches die Kirche in all ihren Gliedern und all ihren Feiern begründet. Das Konzept des mysterion, charakteristisch für das ostkirchliche Verständnis von Liturgie und Sakramenten, stellt keine Einladung dar, die Glaubenswahrheit zu relativieren, so wie auch die orthodoxe Anwendung von oikonomia keine Negierung der Objektivität all dessen ist, was die Liturgie begründet hat. Der Bußcharakter der Gebete im byzantinischen Ritus der zweiten Ehe legt dafür Zeugnis ab.20 Doch in seinem ikonenhaften Wesen wohnt dem mysterion eine außer 18 19
20
Siehe dazu etwa das Interview mit Kardinal Scola im Corriere della Sera vom 14. Dezember 2014. Zur begrifflichen Differenzierung zwischen mysterion und sacramentum sowie zwischen Ikone und imago vgl. Robert Hotz, Sakramente im Wechselspiel zwischen Ost und West (Ökumenische Theologie 2), Zürich 1979, 49–50. Vgl. etwa das erste Gebet in der Feier der zweiten Trauung: „Herrscher und Herr, du unser Gott, der du alle verschonst und für alle sorgst, der du die Geheimnisse der Menschen kennst und Kenntnis hast von allem […] verzeih das Unrecht deiner Diener und rufe sie zur Umkehr“ sowie das zweite Gebet ebd.: „Du bist gütig und menschenfreundlich, erbarme dich und verzeih, vergib, erlass, tilge unsere Sünden, denn du bist es, der sich unsere Krankheiten auf die Schultern geladen hat“ (dt. nach dem Euchologion [wie Anm. 12],
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ordentliche Fähigkeit inne, die Heilsökonomie und die Lebenswirklichkeit als eine „sachliche Übereinstimmung“21 miteinander zu versöhnen.
2.
Die „Sakramentalität der Liturgie“: Zur Entlarvung eines Pleonasmus
Wenn schon die Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils Sacrosanctum Concilium zu zögern scheint, das Konzept des Mysteriums/mysterion auf die Liturgie anzuwenden22, scheint es im Bereich der westlichen Theologie bezüglich der sieben Sakramente mehrheitlich fast nur als terminus technicus verwendet zu werden. Wenige Mitglieder des Gottesvolkes – Seelsorger und Theologen eingeschlossen – erkennen es wirklich als Äquivalent jener Wahrheit an, die die Sakramente bezeichnen. Der Grund liegt sicherlich darin, dass der hellenistisch-heidnische Ursprung des Konzeptes mysterion nach wie vor die religiösen Empfindlichkeiten des Westens stört, die im Blick auf die vorchristlichen kulturellen Ursprünge als aufgeklärter gelten als der Orient. Die Sakramente sind Drehund Angelpunkt dieser religiösen Empfindlichkeit, Garant der Heiligkeit der Kirche und Wächter des christlichen Lebens, weshalb folgerichtig das Kirchenrecht so großes Interesse an ihnen zeigt. So ist das Verständnis der Sakramente zutiefst verbunden mit dem Selbstverständnis der Kirche, die dann wiederum dank der Sakramente leicht in ihrer Selbstbezüglichkeit verharren kann. Von ihrer Natur her ist die Kirche jedoch nicht selbstbezüglich, ebenso wie auch die Heilsökonomie nicht in theologische Kategorien oder in eine einzige historische Form gegossen werden kann. Die Kirche hat bei der Verkündigung des Kerygmas stets auf die verschiedenen Kulturen und Umgangssprachen geachtet, wovon einige Bestandteile letztlich dauerhaft in die Glaubenssprache23 Eingang gefunden haben. Zwar bezog sich in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung der Begriff mysterion meist auf die orientalischen Kultmysterien, während er in der Bibel nirgends für jene Art von Wirklichkeit steht, die später „Sakrament“ genannt werden sollte. Doch bezeichnet das Konzept des mysterion in der Bibel ein Geheimnis in seiner Offenbarung, eine per se dynamische Wirklich-
21 22
23
177); zum Ritus der zweiten Ehe vgl. Kevin Schembri, Oikonomia, Divorce and Remarriage in the Eastern Orthodox Tradition (Kanonika 23), Rom 2017. Cabasilas, Explication (wie Anm. 1), 230. Vgl. Patrick Prétot, The Mystery of Christ in the Liturgy, in: Mediating Mysteries. Understanding Liturgies, hg. v. J. Geldhof, Leuven 2015, 49–64, hier 51–53; vgl. auch Thomas Pott, Liturgia ed ecclesiologia: riflessioni su Sacrosanctum Concilium, in: Vita monastica 68 (2014) 123–150, hier 145f. Vgl. Hotz, Sakramente (wie Anm. 19), 30.
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keit, die für Eingeweihte bestimmt ist, was trotz allem ein charakteristischer Aspekt des mysterion-Sakrament-Verständnis der Kirchenväter bleiben sollte. Dennoch war es die Äquivalenz der Dynamik der hellenistischen Mysterien und jener der christlichen Riten von Taufe und Eucharistie, aufgrund derer die Kirchenväter ganz natürlich allmählich den Begriff und das Konzept des mysterion übernahmen. Die christliche Bedeutung von mysterion kann allerdings nicht einfach ohne einen – zumindest impliziten – Bezug zur neuplatonischen Aufarbeitung des Schemas von Urbild und Abbild verstanden werden, wie es im platonischen Höhlengleichnis beschrieben wird (Politeia VII, 1-3). Dies schadet keineswegs dem authentisch Christlichen der Väterlehre24, im Gegenteil, es zeigt, wie sehr die Kirchenväter Zeugen und Protagonisten ihrer Zeit waren. In diesem seinem Wesen nach dynamischen Schema nimmt der Eingeweihte25 am Mysterium teil dank dem Abbild des Urbildes. Das Urbild teilt sich mit, es ist gegenwärtig in seinem Abbild – das Abbild ist existentiell an das Urbild gebunden, dessen Abbild es ist – selbst wenn die conditio humana keine vollkommene Teilhabe an der Wirklichkeit des Urbildes zulässt. Das mysterion ist hier weder Vorbild noch Abbild, sondern die Teilhabe des Gläubigen am Wesen des Urbildes dank des Abbildes. Auf die christliche Liturgie angewandt bedeutet dies: Das mysterion/Sakrament ist nicht Christus, der gestorben ist, begraben wurde, auferstand und zum Himmel aufgefahren ist, von wo er wiederkommen wird – er ist das Urbild; es ist auch nicht Brot und Wein, sein Leib und Blut – sie sind das Abbild, oder, in der Sprache der Väter, τά ἀντίτυπα26; das mysterion ist unsere Teilhabe an Christus, an seinem Leib und Blut im Mahl der Eucharistie.27 Zwischen
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In Anbetracht der Bedeutung der platonischen Weltsicht für die christliche Entwicklung des Konzepts des mysterion scheint es verwunderlich, dass in einem Buch wie Mediating Mysteries (wie Anm. 23), das ganz dem Verhältnis von Mysterium und Liturgie gewidmet ist, sich nur in einem einzigen Beitrag Bezüge zum Platonismus finden: Enrico Mazza, How to Transmit Mystery? Reflections on the Sources, the Method and the Meaning of Mystagogical Catechesis, ebd., 167–185, hier 177f. Die „Eingeweihten“ entsprechen den „Gefangenen“ der Grotte – von denen Platon sagt, sie würden uns ähneln – die bereits den geistigen Aufstieg (ἀνάβασις) zu den höheren Dimension der Wirklichkeit gemacht haben, von der sie das Abbild betrachten und an der sie teilhaben (trotz ihrer Situation der Gefangenschaft) dank ihrer Realpräsenz im Abbild. Vgl. die Anaphora in der Liturgie des hl. Basilius: „Darum […] wagen auch wir Sünder […] uns deinem heiligen Altar zu nahen. Wir bringen dir die Abbilder (τά ἀντίτυπα) des heiligen Leibes und Blutes Deines Christus dar und bitten und flehen Dich an: Heiliger aller Heiligen, lass im Wohlgefallen Deiner Güte Deinen Heiligen Geist auf uns und auf die vorliegenden Gaben herabkommen: Er segne sie, er heilige sie“ in: Patriarchale Liturgiekommission der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche, Die göttliche Liturgie unseres heiligen Vaters Basilius des Großen, München 2013, 80f. Vgl. etwa auch das Fürbittgebet in der Liturgie des hl. Basilius, ebd., 82f.: „Uns alle aber, die an dem einen Brote und dem einen Kelche teilhaben, lass eins werden in der Gemeinschaft
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Urbild und Abbild gibt es folglich einen engeren inneren Bezug: Das Urbild ist wahrhaft gegenwärtig im Abbild, selbst wenn es auf verborgene, „mystische“ Weise geschieht. Das Abbild ist die „mystische“ Offenbarung des Urbildes, allerdings nur für jene, die in dieses Mysterium eingeweiht sind. Das mysterion ist also keine abwesende Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit selbst, vergegenwärtigt durch das Zeichen, das Symbol. Das mysterion „ist“ gewissermaßen, was es vergegenwärtigt, und umgekehrt erfüllt die „abgebildete“ Wirklichkeit ihr Abbild. So ist die Vorstellung von der Realpräsenz unterschwellig im neuplatonischen Verständnis von Urbild und Abbild vorhanden, ohne dass es nötig wäre, dafür auf Kategorien wie „Transsubstantiation“, „Form“, „Materie“ usw. zurückzugreifen. Gleichzeitig zeigt sich, dass die gesamte Liturgie – entsprechend bei Platon die Dynamik in der Höhle – selbst mysterion ist. Die Ausdifferenzierung zwischen Sakramenten und Sakramentalien, ebenso wie die Festlegung bestimmter Momente und genauer Bedingungen innerhalb der Ausfaltung – der Feier – des mysterion, setzen eine spätere Entwicklung voraus, in deren Verlauf die gründliche Analyse des darstellenden Gehalts des „Bildes“, des Symbols, die Aufmerksamkeit der Gläubigen allmählich abgelenkt hat. In diesem Sinn hat die Anrufung des Priesters in der Basilius-Anaphora „verweigere nicht wegen meiner Sünden den dargebrachten Gaben die Gnade Deines Heiligen Geistes“28, die weit nach den Einsetzungsworten und der Epiklese erfolgt, nichts wirklich Anstößiges an sich. So wurzeln also die Sakramente in ihrer ganzen Dynamik in der Sakramentalität der Liturgie und sind deren Schlusssteine. Es ist dringend notwendig, diese existentielle Verbindung neu zu entdecken und zu neuem Leben auferstehen zu lassen.29 Denn nur in der Sakramentalität der Liturgie – Gegenwart des Heiles, das sich offenbart und mitteilt im Modus des Feierns – können die lebendigen Zeichen, welche die Sakramente als mysterion des Heiles ausmachen, wiederbelebt werden von diesem Geist, der auch auf den heutigen Menschen herabkommt. Ohne allzu ausführlich darauf einzugehen, möchte ich zwei Beispiele anführen, die dem Aufweis dienen mögen, wie sehr der Sakramentalität der Liturgie im dynamischen und – wie in Platons Höhle – „in Bann schlagenden“ Sinne eine eigene Pädagogik innewohnt, die nicht nur zur Bildung der Gläubigen geeignet ist, sondern auch zur Neu-Bildung der Sakramente. Die beiden Beispiele betreffen die Liturgie in ihrer akustischen Dimension in Verbindung mit der Teilnahmedynamik der Gläubigen.
28 29
des einen Heiligen Geistes. Lass niemanden von uns zum Gerichte und zur Verdammung an dem heiligen Leib und Blut Deines Christus teilhaben“. Ebd., 88. Siehe auch Joris Geldhof, Meandering in Mystery. Why Theology Today Would Benefit from Rediscovering the Work of Odo Casel, in: ders., Mediating Mysteries (wie Anm. 22), 11–34.
Sakramentale Grenzgänge
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1. Allem Anschein nach hat die liturgische oder geistliche Musik, gleich ob sie für den Gebrauch in einer gottesdienstlichen Gemeinde komponiert wurde oder nicht, größere Wirkung auf unsere Zeitgenossen als die Liturgie selbst. Als einer der zentralen Bestandteile von Liturgie enthält geistliche Musik einen großen Teil dessen, was Romano Guardini als „Geist der Liturgie“ bezeichnete: Sie nimmt nicht nur Teil an der Dynamik der Sakramentalität, gleich einer Kommunikationsleitung zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt, sondern – wie alle anderen Elemente der Liturgie auch, die sich in direkter Weise auf die menschlichen Sinne beziehen – sie weitet ihre Wirkung weit über die Grenzen des spezifisch liturgischen Bezugsystems hinaus aus. Wenn man aber nun der geistlichen Musik eine eigene Sakramentalität zuerkennt – ist ihr diese auch außerhalb einer konkreten Liturgie eigen? Und weiter: Wenn Liturgie eine Übermittlung – „Tradition“ – der Suche nach der göttlich geoffenbarten Wahrheit darstellt, kann dann das Verfassen und Auffühen von geistlicher Musik, über die Grenzen der Liturgie hinaus, als eine Erkundungsreise in die Tiefen der Wahrheit verstanden werden, frei vom Gewicht eines verkümmerten oder degenerierten Rituals und doch zugleich den zutiefst liturgischen Charakter dieser Musik wahrend? Und kann nicht zuletzt die Liturgie selbst etwas von dieser besonderen Dynamik der liturgischen und geistlichen Musik lernen, um ihrer eigenen Entwicklung willen – ihrer „Reform“ – innerhalb der liturgischen Versammlungen, in denen doch so oft diese vermittelnde und authentisch sakramentale Dimension, die von der Musik bewahrt und veranschaulicht wird, zu fehlen scheint? 2. Als im August 2015 in der byzantinischen Kirche des Klosters Chevetogne ein Webcast30 – eine akustische Live-Übertragung via Internet – installiert wurde, tauchte damit eine neue Gruppe von Gläubigen auf: Sie können alle Gebetszeiten mitverfolgen, jedoch ohne sie zu sehen. Handelt es sich hierbei noch um eine wahrhaftige Teilnahme an der Liturgie oder ist es nur ein Akt virtueller Frömmigkeit, um nicht zu sagen eine Art spirituell-ästhetisches Placebo? Die Antwort ergibt sich aus den Erfahrungen der Zuhörer und erklärt sich anhand des Konzepts der Sakramentalität. Die hörende Teilnahme setzt einen gewissen Grad an Vertrautheit mit der Liturgie und ihren Abläufen voraus; die Zuhörer müssen jedoch einen stärkeren Eigenbeitrag leisten als die physisch anwesenden Teilnehmer, wenn sie sich awesend fühlen möchten. Es ist nun genau diese zusätzliche Anstrengung, zusammen mit dem Bewusstsein, dass sie als Zuhörer die gegenwärtige Wirklichkeit – eine Wirklichkeit, die ihnen je nach ihrer physischen Situation so oder so zugänglich wird – hören, die ihnen eine Form der Anwesenheit ermöglicht, die nicht weniger gegenwärtig ist als bei den physisch anwesenden Teil 30
https://www.monasteredechevetogne.com/webcast; http://mixlr.com/chevetogne. Immer mehr Gemeinschaften und Pfarreien starten ähnliche Projekte, z. B.: http://www.saint thomaschurch.org/webcasts; http://www.stmaryorthodoxchurch.org/ multimedia/live; http://mixlr.com/orthodoxekirche-wien/.
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Thomas Pott
nehmern, sondern nur anders gegenwärtig. In den Worten der Sakramentalität ausgedrückt: Unsere Gegenwart im Mysterium steht immer im Verhältnis zu unserer jeweiligen körperlichen und geistigen Verfassung, genauso wie unsere vertikale und horizontale Kommunikation – mit Gott bzw. den Mitmenschen – stets abgestuft zu sehen ist. Wenn auch eine ganzheitlichere Gegenwart und eine vollkommenere Gemeinschaft anzustreben sind, so ist es doch stets die aktuelle, konkrete Situation, in die hinein sich das Mysterium vor uns enthüllt – jene Situation, in die hinein sich das Heil offenbart und mitteilt.
3.
Die liturgische Reform: Kampf der Nachhut oder Expedition ins Gelobte Land? Wenn die langjährigen Scheidungsparteien in den letzten Zügen liegen. Zum Schluss
Nach Alexander Schmemann liegen die Wurzeln der „aktuellen“ Krise der Liturgie in der Scheidung von Liturgie, Theologie und Frömmigkeit. Die wechselseitige Integration dieser drei Ausdrucksformen kirchlichen Lebens, die noch für die Zeit der Väter typisch war, wurde zu dem Zeitpunkt zerbrochen, da die Liturgie als lebendige Gesamtheit und katholische Selbsterfahrung der Kirche aufhörte, Quelle und Bedingung der Theologie zu sein.31 Folglich nützt eine Liturgiereform überhaupt nichts, wenn sie nicht zuerst die ursprüngliche Verbindung zwischen lex orandi und lex credendi wiederherstellt. Aber basiert eine solche Vision nicht auf einer imaginären Vergangenheit der Liturgie?32 Wann entsprach die Liturgie wirklich vollständig dem, was die Liturgiereformen vorgeblich verfolgen? Es ist ein naiver Gedanke, eine Liturgiereform könne durch Dekrete und Anordnungen die Liturgie wiederherstellen als lebendiger Puls einer Kirche, die in der Lebenswirklichkeit der gegenwärtigen Zeit leben muss. Ebensowenig reicht es aus, wieder häufiger die Kommunion zu empfangen, um ein Gefühl für die ursprüngliche Bedeutung des Herrenmahls in neutestamentlicher Perspektive wiederzugewinnen.33 Nur eine alles umfassende Bewegung der Umkehr und der Reform kann die Herzen derart mit sich ziehen und die Geisteshaltungen erneuern. Das Lebensprojekt der Hauptakteure einer Kirchenreform stirbt, wenn das Leben nicht neues Leben mit sich bringt, wenn die Saat der Propheten in die Dornsträucher der theologischen und akademischen Kontroversen oder auf den kargen Felsen der
31 32 33
Vgl. Schmemann, Liturgical Theology (wie Anm. 6), 219. Vgl. Liturgy’s Imagined Past/s. Methodologies and Materials in the Writing of Liturgical History Today, hg. v. T. Berger/ B. D. Spinks, Collegeville 2016. Vgl. Anm. 9.
Sakramentale Grenzgänge
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Selbstbezüglichkeit fällt, wenn eine Bewegung innerhalb der Kirche letztlich zum Projekt einer bestimmten Vision über die Kirche wird. Selbst die partielle Übernahme scholastischer Kategorien in das theologische und sakramentale Geflecht der orientalischen Kirchen34 beruht auf einer eher spontanen Entwicklung, einem langsamen Vorlauf, der eine neue theologische Hermeneutik ermöglichte oder gar erstrebenswert machte. Der Prüfstein einer solchen Entwicklung ist nicht die logische Stringenz der theologischen Kategorien, sondern das Wohlbefinden und die Fruchtbarkeit des Leibes Christi. Heute ist das Hauptroblem weder die anhaltende Dominanz der Scholastik in Liturgie und Sakramenten noch die in der Tat schwierige Wiederbelebung einer Sakramentenpastoral anhand der reichen Fülle und Dynamik des mysterion-Konzepts, auch nicht die Tatsache, dass die Liturgiereform faktisch zu einer Liturgie der verschiedenen Geschwindigkeiten und z. T. sogar zum Rückschritt geführt hat. Das eigentliche Problem, das unterschiedslos die Liturgie, die Sakramente und das gesamte Leben der Kirche betrifft, liegt darin, dass die „Scheidungsparteien“ von Schmemann – Liturgie, Theologie und Frömmigkeit – den Kontakt zur Leben spendenden Quelle der Sakramentalität verloren haben. Diese Quelle besteht weder in den Riten (lex orandi) noch in den vorgeblich unterschwelligen Schlüssigkeiten (lex credendi) noch in der sogenannten lex agendi (das ethisch-praktische Resultat von lex orandi und lex credendi), sondern im Narrativ35 der Heilsökonomie: Gott, der sich offenbart und mitteilt um zu retten, Gott als das Objekt der Glaubenswahrheit, die in die Lebenswirklichkeit einbricht. Wenn die Liturgie und die Sakramente nicht diese Verbindung zwischen Lebenswirklichkeit und Glaubenswahrheit herstellen oder wiederherstellen, wirken sie nicht nur nichts spezifisch Christliches, sondern werden zudem zu einer Art Anti-Sakrament und Götzenbild durch ihren Anspruch, Einlass zum Heiligen zu gewähren. Dieses Problem, das so typisch für die lex orandi wie für die lex credendi ist, ist unseren untereinander getrennten Kirchen gemein. Zweifelsohne können auch nur gemeinsam neue Perspektiven gefunden werden. Die scholastische Theologie wird zur Lösungsfindung vermutlich nicht die geeignetste sein, wie auch eine exklusivistische Sakramentenlehre mehr trennen als versöhnen wird. Wie dem auch sei – in der Zwischenzeit geht das Fest weiter. Der barmherzige Vater dürfte mit seinem verlorenen Sohn und den andern Gästen zusammen sein. Möge der ältere Sohn draußen bleiben, wenn ihm danach ist, samt seiner Liturgie, seinen Sakramenten und seiner ganzen Theologie! Übersetzung aus dem Französischen: Florence Berg
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Vor allem seit der Zeit der evangelischen Reformation; für eine Zusammenfassung siehe Hotz, Sakramente (wie Anm. 19), 111–120. Siehe oben Anm. 17.
Das Prinzip der Sakramentalität Offenbarung der Göttlichkeit und der Menschlichkeit Gottes
Elbatrina Clauteaux
1
Einleitung
Der vorliegende Beitrag ist im Trialog von Anthropologie, Philosophie und Theologie angesiedelt. Mein Ausgangspunkt sind anthropologische Beobachtungen über die narrativen, symbolischen und rituellen Vermittlungen bei den PemónIndianern im venezolanischen Teil des Amazonasgebiets. Anschließend gehe ich der Frage nach, ob die symbolisch-religiöse Ordnung der Pemón, die von einer „natürlichen“ Heiligkeit geprägt ist, über ihre anthropologische Dimension hinaus die Öffnung zu einer göttlichen Dimension – aus theologischer Sicht – anbieten kann. Angesichts des Themenschwerpunkts dieser Tagung wollte ich gerne ein Gespräch über „Gegenwart“ im Modus einer transzendentalen Offenheit des Prinzips „Sakramentalität“ innerhalb religiöser Symbolvermittlungen außerhalb des Christentums anregen. Das Werk von Louis-Marie Chauvet als sakramentale Relecture der christlichen Existenz in theologischer Gestalt kann als Ausfaltung des Prinzips der Sakramentalität im Christentum rezipiert sowie hier in meinem Gedankengang als Ansatzpunkt vorgeschaltet werden. Kann die Anwesenheit dieses Prinzips in allen Menschen, zumindest in potentia, theologisch gedacht werden? Ein solcher Gedanken ist sehr wohl möglich, zum einen aufgrund der Schöpfungstheologie, zum anderen anhand einer pneumatologischen Christologie, die uns die universale Vermittlung Christi und die Gabe des Heiligen Geistes im heilbringenden Pascha in Erinnerung ruft, was in den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils angemahnt wird.1 Meine These lautet daher: Wenn das Menschliche („l’anthropologal“) potenziell Ort des Göttlichen („le théologal“) ist, wie Chauvet es vertritt, dann ist dies möglich aufgrund des Prinzips der Sakramentalität, d. h. dass Gott sich dem Menschen offenbart und mitteilt durch symboli-
1
LG 16–17; GS 5.22.92; AG 3.7–9.11.15; NA 2.
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sche, narrative und rituelle Vermittlung, weil die Schöpfung, die Geschöpfe2 und die Menschheitsgeschichte sakramentenfähig, symbolfähig und heiligungsfähig sind. Christliche Sakramentalität stellt die Vollendung einer Bewegung der Kommunikation und der mittelbaren Offenbarung zwischen Gott und den Menschen dar, die durch den Schöpfungswillen begonnen und durch die Ankunft Christi und das Wirken des Heiligen Geistes vollendet wurde. „Da nämlich Christus für alle gestorben ist und da es in Wahrheit nur eine letzte Berufung des Menschen gibt, die göttliche, müssen wir festhalten, dass der Heilige Geist allen die Möglichkeit anbietet, diesem österlichen Geheimnis in einer Gott bekannten Weise verbunden zu sein.“ (GS 22)
2
Anthropologische Beobachtungen über die Vermittlungsarten religiöser Transzendenz bei den Pemón-Indianern im Amazonasgebiet Venezuelas
2.1
Die Pemón
Das Volk der Pemón ist ein indigenes Volk Südamerikas, das sich in mehreren Stämmen über Venezuela, Brasilien und Guyana verteilt. Während der zehn Jahre, die ich mit meinem Mann und meinen Kindern bei den Pemón in Venezuela lebte (1980–1990), konnte ich als teilnehmende Beobachterin ihre Symbole, Mythen und Riten aus nächster Nähe studieren und ihre ursprüngliche Weisheit herausarbeiten. Aus dieser ethnologischen Erfahrung resultierten Erzählungen, die das Folgende immer wieder – in Auszügen – illustrieren werden. Pata pemonton („Menschenland“), das Land der Pemón-Indianer, ist ein Ort, der symbolisch in einer Welt-Zeit angesiedelt ist, deren mythische Säulen pia daktay („Ur-Zeit“) und sereware („Jetzt-Zeit“, „Hier-und-Jetzt“) sind.3 Waïpa, das große Haus der Dorfgemeinschaft, symbolisiert diese Welt-Zeit. Seine kreisförmige Struktur – oval oder rund – stützt sich auf zwei Balken, pia daktay und sereware, das Vorher und das Jetzt. Die Pemón erzählen nicht von ih-
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Vgl. Karl Rahner / Herbert Vorgrimler, Kreatur, in: Kleines Theologisches Wörterbuch (Herderbücherei 557) Freiburg 101976, 247: „Kreatur ist alles, was durch Schöpfung existiert, also alles, was seinen Sinn über sich hat, endlich ist, bedroht, offen auf Gott u[nd] in seiner Verfügung (Potentia oboedientialis)“. Pemon heißt Mensch, pata bezeichnet ein besiedeltes Gebiet, pia bedeutet Wurzel, Autorität, Ahn.
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Elbatrina Clauteaux
rem Ursprung, nicht von ihrer Abstammung, nicht davon, wie sie anfingen, pemon, d. h. Menschen zu werden, auch nicht davon, ob es etwas vor ihnen gab oder nicht. Sie sprechen nur von einer Ersten Zeit, die selbst Beginn war, als die ganze Welt pemon-pe („wie Menschen“) war, da Menschen, Tiere und Dinge miteinander sprechen konnten und daher Junge miteinander bekommen konnten. Was wir als Menschheit bezeichnen, war damals Attribut eines jeden Bewohners der pia daktay („Ur-Zeit“) auf pata pemonton („Menschenland“). „tauron panton pia daktay – so sagt das Märchen: In der Ur-Zeit, bevor die Welt ihre Farben im Schlamm von pia konok, dem Großen Regen, verlor, redeten die Menschen mit den Dingen, die Dinge redeten mit den Menschen, und sie konnten Junge miteinander bekommen. Wana, der Grashalm, hatte oftmals ein Kind mit katuru, der Wolke, und der Wind trug ihre Liebe. Waïra, der Tapir, konnte sich mit paranka, der mächtigen Zeder, vermählen, und die Farbe trug ihre Liebe. Ein Pemón konnte ein Junges mit wadamori, der Schildkröte, haben, die Erde trug sie beide einer zum andern. Die Erde war mit a’uka, der Freude der Dinge, zusammen, denn Dinge und Menschen konnten miteinander sprechen. […] tauron panton, so sagt das Märchen.“4
Die Formulierung pia-to daktay tukare-re pemon-pe epu’etipu’e („in dieser Ur-Zeit waren alle Dinge der Welt wie Menschen“)5 drückt eine grundlegende Wirklichkeit der Pemón aus. Die universale Kommunikationsfähigkeit der Ur-Zeit, die nach pia konok, dem Großen Regen, verloren ging, blieb dem Menschen wesenseigen und unterscheidet ihn heute von den Tieren und den Dingen. An diese Zeit wird sich erinnert. Sie wird in den Festen, Tänzen und anderen Riten der Pemón vergegenwärtigt, sodass der rituell gegenwärtige Mythos stets „zum Rätsel der menschlichen Existenz vordringen“6 will, wie es Paul Ricœur im Blick auf die symbolische Funktion von Mythen vertritt. Die Transzendenz dessen, was wir als „das Göttliche“ bezeichnen, sowie die gemeinschaftliche Transzendenz werden stets im Verhältnis zu dieser Ur-Zeit mit ihrem universellen „Gespräch“ gelebt. Das Volk der Pemón ist folglich ausgesprochen religiös, da ja „die Religion ihre gesamte Lebensart durchdringt und ihr Kontur und Konsistenz verleiht.“7 Und doch: Vor 1928–1930 und der Ankunft der ersten Weißen sowie insbesondere der Kapuzinermissionare, schlossen Be-
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Elbatrina Este-Clauteaux, Panton Pata Pemonton. Histoires de la Terre des Hommes. Contes, mythes et légendes d’hier et d’aujourd’hui des Indiens Pémon du Venezuela, Paris 1997, 91f. Vgl. Mariano Gutiérrez Salazar, Las semillas del Verbo en la cultura Pemón, Caracas 1988, 22–24. Paul Ricœur, Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II, München 32002, 187 [frz. Finitude et culpabilité II. La Symbolique du Mal, Paris 1960, 374]. Dt. Übertragung von Gutiérrez Salazar, Semillas, 19.
Das Prinzip der Sakramentalität
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obachter wie die Gebrüder Schomburgk8 und der deutsche Ethnologe KochGrünberg9 aus der Abwesenheit von Göttern, Gott, Totems, Tempeln, Priestern usw., dass die Pemón keine Religion hätten.10 Die transzendente und immanente Transzendenz ist gänzlich übergegangen in die Symbole, Mythen und Riten, welche den Alltag der Pemón beleben und strukturieren. Die Worte der Vorzeit erscheinen als eine ursprüngliche und begründende Instanz, welche das Jetzt heiligt und es öffnet hin zum Übermächtigen, das Halt und Geborgenheit gibt.11 Die ersten Missionare, die sich diese Fragen nach Religion stellten, entdeckten bei den Pemón eine urtümliche Religion, deren religiöses Erleben gänzlich anders ist als einerseits bei dem, was im Westen unter Religion verstanden wird, andererseits als bei den traditionellen Religionen Afrikas und Asiens.12 Auch im Blick auf die Ureinwohner Nordamerikas sind Unterschiede zu bedenken. In Übereinstimmung mit den anthropologischen Erkenntnissen von Philippe Descola13 scheint eine exakte Einordnung der Pemón in eine bestimmte religiöse Kategorie schwierig. Obwohl es bei ihnen durchaus Schamanen gibt, ist ihre Weltanschauung nicht auf der Ebene einer Weltseele angesiedelt, sondern eher auf der einer universellen Kommunikation, als ob alles durch Sprache „vermenschlicht“ werden könnte.
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Robert Hermann (1804–1865) und Moritz Richard Schomburgk (1811–1891) waren deutsche Forschungsreisende, die u. a. in Britisch Guyana, Venezuela und Brasilien tätig waren. Theodor Koch-Grünberg (1872–1924) war ein deutscher Anthropologe, der intensiv zu verschiedenen eingeborenen Völkern Südamerikas forschte. Aus seinen drei Aufenthalten beim Pemón-Stamm der Taulipang/Taurepan (1911–1913) erwuchs das mehrbändige Werk: Vom Roroima zum Orinoco. Ergebnisse einer Reise in Nordbrasilien und Venezuela in den Jahren 1911–1913, Bd. 1–2 Berlin 1916f., Bd. 3–5 Stuttgart 1923–1928. Vgl. etwa George Gaylor Simpson, der nur einige Wochen bei den Pemón verbrachte und in Cesareo de Armellada, Gramática y Diccionario de la lengua Pemón (Arekuna, Taurepan, Kamarakoto), 2 Bde., Caracas 1943f., hier Bd. 1 (Gramatica), 8 erwähnt wird. Er bezeichnet die Religiosität der Pemón als „animistisch“. Wenn es aber in der Welt der Pemón die Präsenz von mawariton, rato, akonoton – einer Art Geistwesen, die klar definierte Bereiche der Welt bewohnen (Berghöhen, Flüsse, Himmel) – gibt, so sind dies Wesen, die zur gleichen Sphäre wie jener der Menschen gehören – es sind keine Gottheiten. Vgl. Martin Heidegger, Einleitung in die Philosophie, in: ders., Gesamtausgabe. II. Abteilung: Vorlesungen 1919–1944. Bd. 27, hg. v. O. Saame / I. Saame-Speidel, Frankfurt a.M. 1996, 360. Nach Heidegger ebd., 359f., ist der Mythos als „Grundmöglichkeit des In-der-Welt-Seins“ „dadurch gekennzeichnet, daß der Halt [den das Dasein angesichts der Übermacht sucht] den Charakter der Bergung im Seienden hat. […] Der Halt wird gefunden im übermächtigen Seienden selbst“. Gutiérrez Salazar, Semillas, 8: „Es gibt ein systematisches Schweigen über die autochthonen primitiven Religionen Südamerikas […] Ich schlage daher vor, eine Auswahl von religiösen Werten des Volks der Pemón zu treffen, damit die Evangelisierung dieses Volkes von ihren eigenen kulturellen Wurzeln sowie ihrer eigenen Weltsicht ausgehen kann.“ (dt. nach der frz. Version d. Vf.). Philippe Descola, Par-delà nature et culture, Paris 2005.
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2.2
Elbatrina Clauteaux
Die Vermittlungen der Transzendenz „sereware – Jetzt-Zeit“
Menschlichkeit – „Pemonität“ – als essentielle Kommunikationsfähigkeit der pia daktay („Ur-Zeit“) wird im jeweiligen Heute empfangen und wieder erlebt in der religiösen Praxis der symbolischen, narrativen und rituellen Vermittlungen. Der Mensch wird darin berührt und ausgerichtet auf das Übermächtige, das Halt und Geborgenheit gibt. Mythos und Ritus sind im Leben verflochten und vergegenwärtigen („re-présenter“) darin die religiöse Identität der Pemón. Dieses Gefüge wird umgesetzt durch folgende symbolische Vermittlungen: panton (Märchen), taren (Gebet), wenkarunnetok (Spiel), manunnetok (Tanz), wanoktok (Fest), kumi (Talisman), weneti (Traum), sewarante (Geschenk). Anhand dieses Symbolsystems, das gewissermaßen als Sprungbrett dient, erreichen die Pemón im jeweiligen Heute wieder pia daktay, das universelle „Gespräch“. Panton (Märchen): Als Vorratsschrank voller Mythen und Riten, Sitten und Gebräuchen, „warum“ und „wie“, sind die Erzählungen der Pemón Träger ihrer Wahrheit. Sie vermitteln sereware („Hier-und-Jetzt“), die Wahrheit von pia daktay („Ur-Zeit“), um die Verbindung wiederherzustellen und zu erhalten. Diese angestrebte Wahrheit ist symbolischer Natur, d. h. die Märchen führen in eine Ordnung ein, zu der sie selbst gehören: die Ur-Zeit.14 Die panton erfüllen als ihre religiöse Funktion die Rückbindung des Menschen an das Übermächtige, das Halt und Geborgenheit gibt, sowie an die übrigen Menschen, und bieten somit eine Öffnung im Dasein. Daher beginnt ein panton immer mit einer Formulierung, die konkret das aktuelle Wort mit den Worten der Alten und mit der UrZeit verbindet: tauron panton pia daktay („so sagt das Märchen: In der Ur-Zeit“). Panton, das Märchen, strukturiert das Leben der Pemón, das jederzeit durch diese Eröffnungsworte der Erzählungen einen religiösen Durchgang öffnen kann. Panton (Märchen) und taren (Gebet) sind die Ur-Vermittlung, die menschlich und heilig macht und die den anderen Vermittlungen überhaupt den Atem von pia daktay („Ur-Zeit“) geben. Das Märchen stellt eine Art liturgischen Marker dar, der dem Leben und seinen hervorgehobenen Eckpunkten, an denen sich Natur und Menschlichkeit treffen, zeremonielles und religiöses Gewicht verleiht. So ist panton sak, der Herr der Märchen, der reichste Mann von pata pemonton, da er stets das besitzt, was er gibt. Taren (Gebet) ist ein poetischer, rhythmischer Ausdruck, der je nach Anlass rezitiert, gesungen oder getanzt werden kann. Er erfleht die Gegenwart des Atems, der Kraft und der Gemeinschaft von pia daktay, die mal als symbolische
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Vgl. Edmond Ortigues, Le discours et le symbole, Paris 1962, 43: „Das Symbol dient dazu, uns in eine Ordnung einzuführen, deren Teil es selbst ist.“
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Kraft der Gruppe empfangen wird, welche rituellen Handlungen Wirksamkeit verleiht, mal als segnende und schützende Unterstützung. Taren versetzt stets das Heute zurück in die Ur-Zeit: Es handelt sich um einen heiligen Ausruf mit einem bisweilen eigenen Sprachspiel – schließlich kann im Alltag etwas auf eine bestimmte Weise ausgedrückt werden, innerhalb von taren jedoch eine andere Bezeichnung annehmen. A’ukarima beispielsweise bedeutet in den taren „Großes Licht“, während „Licht“ in der Umgangssprache viyu heißt. Sekesekerima pia ist in den taren der Name von kurana’u, dem Wirbelwind. Tiritiri bezeichnet die Grille, Zeichen des Regenbogens in den taren, während die Alltagssprache für die Heuschrecke kricha verwendet. Roriwan-pachi ist der archaische Name von toku, dem Kolibri, usw. „Achika! Komm, du, o okoyima, Regenbogen! Achika! Unonsan tiritiri pia! Komm, du, o Gürtel unserer Mutter Erde! Komm, du, o Okoyima, die du trinkst die Wasser von konok, dem Gewitter! Komm, du, o Große Schlange, die du durchbrichst katuru, die Wolke! Komm, du, die du waranapi, den Donner, zum Schweigen bringst! Achika! Achika! Komm! Komm! Achika seterima pia! Komm, du, o Vater des Windes! Komm, du, die du toronko, den Sturm, beruhigen kannst! Achika mochima! Komm, o du Harpyie!15 Komm, du, die du die Wut von konok, dem Regen, besänftigen kannst! Achika okoyima pia menu! Komm, o du Vater der Farben! Komm, okoyima, Regenbogen!“16
Aufgrund seiner Zugehörigkeit zu pia daktay ist taren eine religiöse Vermittlung, welche die Dinge der Welt, die ursprünglich voneinander abhängig waren, wieder ordnen soll, durch die Worte der ursprünglichen Ordnung, die dem Tanz von Welt und Zeit entstammen. Die symbolische Bedeutung von manunnetok (Tanz) wirkt strukturierend auf das Volk der Pemón, da dem Mythos zufolge ein Tanz am Ursprung ihrer Symbolordnung steht. Dieser Mythos über den Beginn des Lebens auf Erden und über die Einsetzung der Symbolordnung erzählt von der Untrennbarkeit von Raum und Zeit, gewissermaßen einer Art Ur-Ehe: „tauron panton pia daktay – so sagt das Märchen: In der Ur-Zeit tanzte non, die Welt, mit daktay, der Zeit, und non verhedderte sich in den Fäden von woiwoy, der Spule der Zeit, und
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Gemeint ist hier selbstverständlich die mittel- und südamerikanische Greifvogelart „Harpyie“, nicht die geflügelte Gestalt der griechischen Mythologie [Anm. d. Übers.]. Edmond Ortigues, Okoyima-le-Grand-Serpent-Arc-en-Ciel, in: L’Itinérant 70 (o. J.) o. S.
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so begann alles, sich mit ihm zu verändern. […] Non, die unbewegliche Welt, der mit daktay, der beweglichen Zeit tanzte, brachte pata pemonton hervor, die von Menschen bewohnte Erde. Regen und Wind, die kamen und gingen unter einem sich wandelnden Himmel und einer sich bewegenden Sonne, befruchteten pata, die Erde. Tauron panton – so sagt das Märchen: Auf der Erde spross Gras, die Bäume wuchsen, der sich wandelnde Himmel und die sich bewegende Sonne ließen die Bäume und die Erde Früchte tragen durch den Regen, und bald gab es auf pata Ströme und Flüsse, ein jeder bevölkert von morok, dem stillen Fisch, und am Ufer der Flüsse gab es eine Fülle von toronon, den geschwätzigen Vögeln […] Pata, die bewohnte Erde, wurde mit Leben erfüllt dank des Tanzes von Welt und Zeit. Als aber in diesem tanzenden Wirbel ein langsamerer Augenblick kam, ein Moment von Einwickeln und Auswickeln, erlaubte der Tanz von Welt und Zeit die Ankunft der Pfotentiere, und wenig später die Ankunft des Pemón, auch er aus der Erde hervorgegangen dank des Tanzes von Welt und Zeit. Tauron panton – so sagt das Märchen: Kaum war der Mensch aus der Erde gekommen, kuray weri – Mann und Frau, tanzte er mit Welt und Zeit und nahm dabei die Tiere mit und tukare-re, alle Dinge der Welt. Tauron panton – so sagt das Märchen.“17
Im Anfang war der Tanz von Welt und Zeit.18 Im Anfang, ganz dicht am Ursprung, war das Spiel, das rhythmische Kommen und Gehen des Tanzens, in dem alles zum Leben kam. Die Verwandtschaft dieses Tanzes, dieses Spiels, mit der biblischen Weisheit über die Schöpfung der Welt gibt zu denken. Wenkarunnetok (Spiel) ist eine grundlegende Handlung bei den Pemón. Das Spiel ist Teil des Lebens und verortet den Menschen in einer Raumzeit, der Transzendenz zu eigen ist. Ein Pemón lebt aus seiner Mythologie und erlernt diese, indem er die Weltordnung spielt – eine Ordnung, die aus dem ursprüngli-
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Elbatrina Este-Clauteaux, La danse du Monde et du Temps, in: L’Itinérant 327 (2001) o. S. Ein interessanter symbolischer Hinweis, der an Heideggers Überlegungen bezüglich der ursprünglichen Verbindung von Raum und Zeit erinnert, welche Bedingung der Möglichkeit der Verschiedenheit des Seins ist und die Anlass zu seiner Selbstkritik gab, in Sein und Zeit die Räumlichkeit des Daseins in die Zeitlichkeit zurückbringen zu wollen; vgl. Martin Heidegger, Zeit und Sein [sic!], in: ders., Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910–1976. Zur Sache des Denkens. Bd. 14, hg. v. F. von Herrmann, Frankfurt a.M. 2007, 5–30. Ähnlich ist auch Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen, in: ders., Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen 1923–1944, Bd. 14, hg. v. P. Jaeger, Frankfurt a.M. 1984, 16: „Unsere Frage ,Was ist ein Ding?‘ schließt […] die Fragen in sich: ,Was ist der Raum?‘, ,Was ist die Zeit?‘ Wir nennen beide gern zusammen, das ist uns geläufig. Aber wie und warum sind Raum und Zeit miteinander verkoppelt? Sind sie überhaupt verkoppelt, äußerlich gleichsam aneinander und ineinander geschoben, oder sind sie ursprünglich einig? Entspringen sie einer gemeinsamen Wurzel, einem Dritten, oder eher einem Ersten, das weder Raum noch Zeit ist, weil es beide schon ursprünglicher ist?“.
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chen Kommen und Gehen besteht, aus dem Tanz von Welt und Zeit;19 eine Ordnung, welche Alterität und Öffnung hin zum Anderen in einer existenziellen und konkreten Situation umfasst. Denn selbst das Spiel des Einzelnen impliziert eine gewisse Spaltung des Selbst. Wenkarunnetok (Spiel) und manunnetok (Tanz) repräsentieren pia daktay („UrZeit“), indem sie rituell die Ur-Welt zur Wirklichkeit von sereware („Hier und Jetzt“) bringen. Kinderspielzeuge bilden ebenfalls die Bewegung der Welt ab. Doch auch die Erwachsenen spielen: Die Jagd ist ein Spiel, auf das sich mit Tanz vorbereitet wird und das anschließend die Geschicklichkeit der Männer und die Schnellkeit und Kraft von karmo, dem Wild, im Spiel einsetzt. Gleiches gilt für den Fischfang, bei dem supari, die Lanze, in parou, den Fluss geworfen und wieder eingeholt wird, um morok, den Fisch, zu fangen. Bei den konuko-Kulturen wiederum, den Lichtungen mit Maniokpflanzungen, die durch Fällungen und Brandrodungen mitten in den Wäldern angelegt wurden, findet sich das Kommen und Gehen im Samen der Aussaat, den Stecklingen der heranwachsenden Pflanzungen, den Früchten und Wurzeln der Ernte. Und das Leben selbst beginnt mit dem Spiel der menschlichen Liebe, das in besonderen Feiern besungen und getanzt wird, im Alltag jedoch eher schlicht gelebt wird. „So so, o akurimay, ich bin waremba-chinak, ich bin deine Liane, ich stütze mich auf dich, um zum Licht aufzusteigen. Wenn das Unwetter dich niederstreckt, werde ich niedergestreckt; wenn der Wind dich umlegt, werde ich umgelegt; wenn du stirbst, werde ich sterben. Ich bin waremba-chinak, ich bin die Liane meines Baumes. So so, o esayuka, ich bin waremba-yey, ich bin dein Baum, du stützt dich auf mich, um zum Licht aufzusteigen. Wenn das Unwetter mich niederstreckt, wirst du niedergestreckt; wenn der Wind mich umlegt, wirst du umgelegt; wenn ich sterbe, wirst du sterben. Ich bin waremba-yey, ich bin der Baum meiner Liane. So so, o akurimay, mein Bruder, so so, komm, mein Bauch wird die Erde unserer Kinder sein […] Tukuy tukuy, lass uns tanzen, lass uns tanzen“20
Wenn das Spiel ein Tanz ist, ist der Tanz ein Spiel.21 Im Spiel wie im Tanz handelt es sich um ein Kommen und Gehen, welches das Bild („figure“) aufgreift, das der Mensch sich von der Welt macht, um es symbolisch in diese Abbildung („re-
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20 21
Das Spiel nimmt die Zeit auf, die somit – rein durch ihr Sein als Spiel – eine Art Altertumskunde, Geschichte und Eschatologie darstellt, d. h. Beginn, Werden und Transzendenz, denn die Bewegung des Spiels stößt die Bewegung von Raum, Zeit und Spieler an. Elba Este-Clauteaux, Panton Pata Pemonton, 141, „Waremba l’Arbre Mariage“. Vgl. dazu den Hinweis auf „die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Spiel als Tanz“ von Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 41975 (unveränderter Nachdruck der 3., erweiterten Auflage), 99.
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figuration“) einzugliedern.22 Der Tanz der Pemón erscheint so vor dem Hintergrund des Spiels. Der Tanz nimmt das symbolische Atmen wieder auf, den Herzschlag der Welt, der im Spiel mittels einer theatralischen Inszenierung erlebt wird. Bei den Pemón sticht das Spiel des Tanzes aus dem Alltäglichen heraus und führt die Menschen in die mythische Ordnung mithilfe eines Schauspiels ein, in welchem die verlorene und wiedergefundene Welt-Zeit für die Gemeinschaft gespielt wird. Der Tanz ist somit ein ritualisiertes, kodifiziertes Spiel, eine Darbietung von pia daktay. Zu dieser Vergegenwärtigung tragen alle Sinne bei: Kostüme, Figuren, Bewegungen und Rhythmen, welche die Körper in Berührung miteinander bringen, Gesänge, Musik, Düfte und reichlich alkoholische Getränke. Wanoktok (Fest): in sereware („Hier und Jetzt“) arbeitet und erzählt der Mensch nicht nur, sondern er tanzt, spielt und feiert. Wanoktok (Fest) ist bei den Pemón eine herausgehobene Zeit. Es ist ein erlaubtes Ausschweifen, angeordnete Unordnung, ein Übertreten im Alltag. Der festliche Ritus verkörpert den archaischen Mythos, die Abwesenheit von Zeit („a-temporalité“) kehrt wieder in der Zeitlichkeit des Festes. So sind Mythos und Ritus im Fest zeitgleich. Gewiss, eine Verunstaltung kann vorkommen, doch die religiös motivierte, festliche Ausschreitung (Trunkenheit, Rausch, Extase) artet normalerweise nicht in Gewalt aus. Feste bei den Pemón sind Riten und erfüllen zudem verschiedene soziale Funktionen. Sie pflegen die Beziehungen zwischen diversen Nachbarstämmen ebenso wie zwischen den Mitgliedern desselben akonta, des Dorfes der Brüder. Gefeiert und getanzt wird bei der Ankunft eines angesehenen Fremden, beim Bau eines neuen tapuy, eines neuen Hauses, um Neuvermählte nach Hause zu begleiten, vor der Jagd oder vor dem Fischfang, beim Anfang der Trockenzeit, beim ersten Regen usw. Kumi (Talisman) und weneti (Traum) sind zwei Vermittlungen, die das Individuum und sein Innenleben betreffen. Kumi, der Talisman, wird von den Pemón in einem kleinen Beutel aus Balsablättern mitgetragen und besteht aus einem zerstoßenen Kraut, dessen Duft vor dem Bösen schützt – ein pflanzlicher Talisman also, der v. a. wegen seines Geruchs geschätzt wird. Die Märchen erzählen allerdings auch, dass ein jeder seinen kumi besitzt – gewissermaßen seinen Aura-DuftGeschmack. Kumi, der Talisman, ist Ausdruck des Bedürfnisses, das Vertrauen in die Welt in seinem eigenen Körper zu konkretisieren.
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Der Phänomenologe van der Leeuw schreibt über dieses kultische Phänomen, dank dessen sich die verstreuten Elemente einer unbestimmten Religiosität in ein individuelles und kollektives religiöses Gedächtnis verwandeln. Im Zelebrieren der religiösen Tänze werden die Welt, der Mensch und das Übermächtige, das Halt und Geborgenheit gibt, ins Bild gebracht; vgl. Gerardus van der Leeuw, Phänomenologie der Religion, Tübingen 21956, 422–426.
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Weneti (Traum) spielt eine wichtige Rolle für die Orientierung der Pemón in der Welt. Er gehört zur Nachtwelt und -zeit, auch wenn er durchaus tagsüber vorkommen kann. Es ist ein Moment von Gleichzeitigkeit mit pia daktay („UrZeit“), da ja im Traum der Pemón seinen Körper wechseln kann wie in der UrZeit, und doch sewerare („Hier und Jetzt“) bleibt. Der Traum ist auch ein Zeichen von Unsterblichkeit. Die Pemón treffen dort die Verstorbenen wieder. Zudem erfahren sie darin eine Zeit, in der nach ihrer Vorstellung esak (Leib) von ekaton (Lebensatem) zurückgelassen werden kann. Weneti, der Traum, kann auch Mitteilung sein, das Vorzeichen von etwas schon Gegenwärtigem oder noch Zukünftigem, wie etwa dann, wenn ein Indio von Feuer träumt und mit Fieber erwacht; oder wenn er träumt, er sei glatzköpfig, und einer seiner Verwandten stirbt; oder wenn er im Traum einen Kochtopf sieht und eine Geburt ansteht – es sei denn, der Kochtopf ist zerbrochen, dann bedeutet er die Rückkehr eines esak (Leib) zur Erde. Der Traum wird bei den Pemón, wie im übrigen auch bei den alten Kulturen, als prophetisch erlebt, verbunden mit der Vision einer vor-gefühlten Wirklichkeit, da die Möglichkeit dieser Realität schon potenziell gegenwärtig war. Sewarante, das Geschenk, ist das Symbol par excellence, es ist Vermittlung der Dankbarkeit und der Verbindung zwischen Personen. In einer symbolischen Denkwelt wie im Fall der Weisheit der Pemón ist die Symbolik Gesetz; das Funktionieren des sozialen Beziehungsgeflechts wird durch alltägliche Handlungen und Gesten sowie durch Feiern aufrechterhalten. Kennen und Erkennen geschieht innerhalb einer Symbolordnung. Im Geschenk nimmt diese Ordnung Gestalt an. Es ist das Symbol der Dankbarkeit des Anderen als eines Gleichwertigen auf Augenhöhe. „Akurimay der Starke bereitet sein sewarante, sein Geschenk, für Ru’i-ko, den Großen Bruder des Dorfes. Einige Monde zuvor hatte Ru’i-ko ihm eine kurak-titipan gegeben, ein ,stilles Blasrohr‘. Akurimay war daher epo’imasak, er war traurig, denn er hatte etwas zuviel, und Ru’i-ko, der Große Bruder, hatte etwas zu wenig […] Tauron panton pia daktay – so sagt das Märchen: In der Ur-Zeit, als alle Dinge in der Welt noch pemón sprachen […] gab katuru, die Wolke, waka’u, dem Schmetterling, etwas, der pereteku, der Kröte, etwas gab, die parika, dem Wildschwein, etwas gab, das waranapi, dem Blitz etwas gab, der katuru, der Wolke, etwas gab. Tukare-re, alle Dinge gaben einem anderen etwas und bekamen etwas von jemandem. Der ganze Weltkreis tukuy tukuy, tanzte tanzte.“23
Ein Verstoß gegen das Gesetz des symbolischen Austauschs verletzt nicht nur das Gleichgewicht der allgemeinen, gemeinsamen Welt, er stört auch die je eigene Welt, die Welt von yure, dem besitzenden Ich. In der Tat berühren die bewilligte Gabe und die empfangene Gabe die Identität eines Pemón – eine Identität des
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Este-Clauteaux, Panton Pata Pemonton, 227, „Sewaranté-le-Cadeau“.
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Besitzes, da man stets „man selbst und was man besitzt“ ist. Sewarante ist Teil des Selbst.24
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Offener Schluss: „das zutiefst Geistliche ereignet sich im zutiefst Leiblichen“ (Chauvet)
Die Beobachtungen bezüglich dieser religiösen, symbolischen, narrativen und rituellen Vermittlungen geben in der Theologie zu denken. Sie zeigen deutlich, dass man für die christliche Sakramentalität nicht zu schnell von Bruch oder Kontinuität sprechen sollte, denn die Vermittlungen können nicht einfach auf die anthropologische Dimension eingegrenzt werden, welche die religiöse Sakralität mit einschließt. Fehlt bei diesen Vermittlungen die Gottes- und Christus-Dimension, die es in der christlichen Sakramentalität gibt, oder ist sie extrinsisch? Wird das religiöse Erleben dieser menschlichen Vermittlungen nicht schon in einer göttlichen Dynamik, die zur Schöpfungsgnade gehört, zur conditio des Geschöpfes, zum österlichen Wirken des Geistes? Könnte man nicht in diesem Gedankengang vertreten, dass – so wie das Übernatürliche sich nicht neben das Natürliche stellt, sondern es bestimmt, und so wie die Gnade die Natur voraussetzt, und so wie das Heil schon in der Schöpfung wirkt – wir bereits das, was ich als das „Prinzip der Sakramentalität“ bezeichne, in den symbolischen Vermittlungen der Pemón vorfinden? Ein Prinzip, das wie alle Prinzipien eine lex radicalis ist, ähnlich der Wurzel einer Pflanze, gewissermaßen ihrer αρχή: stets zugegen, verfügt und waltet sie über die Lebenskraft der Pflanze. Es entspricht unserem Glauben an die Universalität des Heiles und die Einzigartigkeit der christlichen Vermittlung, nicht von vornherein eine nichtchristliche, religiöse Symbolordnung auf eine rein anthropologische Betrachtung zu reduzieren. Das Heilshandeln der Sakramentalität ist schließlich nicht exklusiv im Besitz des Christentums. Einige Denkanstöße mögen als Schlussfolgerung und zugleich als Ausblick dienen: 24
Marcel Hénaff, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt a.M. 2009, 207f. bemerkt bezüglich des zeremoniellen Geschenks, wie es in archaischen Gesellschaften üblich ist, was auch bei den Pemón deutlich erkennbar ist: „die zeremonielle Gabe ist nicht das Teilen eines Guts; sie ist weder eine Manifestation von Altruismus (ein Phänomen, das tatsächlich bei allen Primaten zu beobachten ist) noch die bloße Positionierung in der Gruppe; […] sie ist Gewährung eines verpflichtenden Pfands als Substitut des Gebers […] daß die Sache Pfand und Substitut werden kann, rührt daher, daß sie das Sein desjenigen fortsetzt, der sich mittels ihrer darbietet; sie ist gleichsam ein beweglicher, aber nicht losgelöster Teil von ihm.“ [Hervorhebungen des Autors].
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1. Diese Fragen tauchen regelmäßig innerhalb einer stets auf der Suche befindlichen Theologie auf, im Hinblick auf das Verhältnis des Christentums zu anderen Religionen. In einem schon älteren, aber nach wie vor anregenden Artikel erinnert Marie-Dominique Chenu im Rahmen von Erwägungen zur Sakramentalität im Christentum an die Lehre des Thomas von Aquin, derzufolge „Gott sich jedem Dasein nach seinem Seinsmodus annimmt“25. So entspricht es dem Sein des Menschen, dass die Annäherung zwischen Gott und Mensch nur mittelbar erfolgen kann. Dank der Sakramentalität überantwortet sich der Mensch an etwas Größes als nur sich selbst: an das Übermächtige, das Halt und Geborgenheit gibt (transzendente Transzendenz) und auch an die Gemeinschaft seiner Mitmenschen (immanente Transzendenz). Wie oben dargelegt, zeigt sich bei den Pemón in der Ausübung ihrer Vermittlungen einerseits eine Wiedervermenschlichung („ré-humanisation“) des Menschen, die sich gemäß pia daktay wiederspiegelt, und andererseits eine Vermenschlichung der Natur, mit der sie gemäß pia daktay das Gespräch aufnehmen. Ich betone das „gemäß“, welches auf ein stets verhülltes Enthüllen hinweist. Der, den wir als Gott bezeichnen, ist kein Ding, welches man irgendwie erspüren oder erfahren könnte, wenn nicht in und durch die menschlichen, geschichtlichen und kosmischen Vermittlungen seiner Transzendenz. Das ist ein Grundsatz der göttlichen Kommunikation mit dem Menschen. Ich gebe zu: Ich glaube, dass man bei den Pemón symbolische Vermittlungen vorfindet, deren Wurzel dieselbe ist wie die der christlichen Sakramentalität. „muß [das Göttliche] nicht menschlich werden, wenn es sich dem Menschen offenbaren will? […] So also, um zusammenzufassen, verhalten sich die Urerscheinungen des Mythos, das Getane und das Gesagte, der Kultus und der Mythos im engeren Sinne, daß in dem Einen der Mensch selbst sich ins Göttliche erhebt, mit Göttern lebt und handelt, in dem Anderen aber das Göttliche sich herabläßt und menschlich wird.“26
Im Verweis auf die Sakramente erinnert Louis-Marie Chauvet daran, dass „sie uns sagen, dass das zutiefst Geistliche aufgerufen ist, sich im zutiefst Leiblichen zu ereignen, und dass dieser christliche Ort des Göttlichen das Menschliche ist.“27 Er schlägt vor, die christliche Sakramentalität zu „entspannen“28 und betont dabei den analogen Charakter dieses Ausdrucks. Es ist in genau diesem Sinne, dass ich
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Vgl. Marie-Dominique Chenu, Pour une anthropologie sacramentelle, in: La Maison-Dieu 119 (1974) 85–100. Walter F. Otto, Theophania. Der Geist der altgriechischen Religion, Hamburg 1956, 27. Louis-Marie Chauvet, Les sacraments, ou le corps comme chemin de Dieu, in: A. Gesché / P. Scolas (Hg.), Le corps, chemin de Dieu, Paris 2005, 103–124. Louis-Marie Chauvet, Symbole et sacrement (wie Anm. 23), o. S.; ders., Le sacrement du mariage entre hier et demain, Paris 2003, 235–243 (Kap. 15: Détendre la sacramentalité).
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von einem Prinzip der „Sakramentalität“ als von einem Gesetz spreche, das die Beziehungen zwischen Gott und Mensch lenkt: das Gesetz der Vermittlung. 2. Zwei Ergebnisse sind festzuhalten: a. Der Befund der menschlichen Transzendenz als Bedingung der Möglichkeit des Religiösen. Das zeitgenössische Denken hat von Heidegger eine Auffassung des Menschen übernommen, die ihn als reine Öffnung zur Welt hin sieht:29 zur Umwelt, d. h. zu allem, was uns umgibt, Dinge, Natur, Kosmos; zur Mitwelt, d. h. offen zum andern hin und mit dem andern; zur Selbstwelt, d. h. offen zu sich selbst hin wie zu einem anderen: „,Welt‘ ist der Titel für das Spiel, das die Transzendenz spielt.“30 Jean-Yves Lacoste spricht im Anschluss daran von einer Öffnung hin zur Welt des Göttlichen.31 b. Das symbolische Prinzip: Die Bedingung der Möglichkeit einer sakramentalen Symbolordnung und des Symbols überhaupt findet sich in der Wirklichkeit, deren Teil der Mensch ist. Wenn die symbolische Tätigkeit des Menschen die Wirklichkeit symbolisch ausdrückt, so deshalb, weil die Wirklichkeit symbolisiert werden kann. Damit liegt ein grundlegender Zirkel vor: „In der Bewegung des Denkens entdeckt die Vernunft ihre Wirkmacht, d. h. ihre Übereinstimmung mit der Welt, wie sie gegeben ist, im Wissen und in der Handlung. Dies legt nahe, dass es eine Entsprechung auf der Prinzipienebene gibt zwischen der Welt des Menschen und der kosmischen Wirklichkeit. Was durch die Tatsache ,Mensch‘ wirkt, erscheint als Echo dessen, was sich außerhalb seines Eingreifens ereignet.“32
So erscheinen Sprache, Symbol, Kunst, Kultur, Religion allesamt als Vermittlungen, in denen und durch die der Mensch und die Wirklichkeit miteinander kommunizieren, dank einer Symbolordnung, die ihnen vorangeht. Denn wenn – wie Paul Ricœur annimmt – jede Symbolschöpfung „sich in letzter Instanz einwurzelt
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Vgl. etwa Martin Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, in: ders., Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen 1919–1944. Bd. 58, hg. v. H. Gander, Frankfurt a.M. 1993, 33. „Umwelt“, „Mitwelt“ und „Selbstwelt“ sind drei der verschiedenen Dimensionen des Inder-Welt-seins des Daseins. Vgl. beispielsweise Jean Greisch, La facticité chrétienne: Heidegger, lecteur de Saint Paul, in: Transversalités 60 (1996) 85–89; ders., Monde ambiant, monde commun, monde propre. Les trois mondes de Heidegger et le problème de l’historialité, in: Revue d’éthique et de théologie morale 204 (1988) 7–26; ders., L’arbre de vie et l’arbre du savoir. Le chemin phénoménologique de l’herméneutique heideggérienne (1919–1923), Paris 2000, 33ff. Heidegger, Einleitung, 312. Vgl. Jean-Yves Lacoste, Expérience et Absolu, Paris 1994, 210ff.; ders., La phénoménalité de Dieu, Paris 2008 (darin die études II und IX). Jean Ladrière, L’intelligence de la foi et le devenir de la raison, in: F. Bousquet / P. Capelle (Hg.), Dieu et la raison. L’intelligence de la foi parmi les rationalités contemporaines, Paris 2005, 15–28.
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in den gemeinsamen symbolischen Grund der Menschheit“33, rührt dies daher, dass jede Symbolisierung Ausdruck dieser Ordnung ist, dieses Kosmos, dieser göttlichen Schöpfung aus dem Tohuwabohu, dem Chaos der Genesis. Das Symbolische ist aus dieser Perspektive ein transzendentales Eigengut des Menschen und der Welt, die er bewohnt.34 Als potenzielle Vermittlung ist es vor-gegeben, als aktuelle Vermittlung muss es ausgearbeitet und in der Geschichte umgesetzt werden.35 Wenn also waremba, der von einer Liane umwundene Baum, bei den Pemón im Amazonasgebiet Venezuelas das Symbol der Ehe ist, während das Bild woanders überhaupt keine Bedeutung hat, so ist das Symbol von Baum und Liane nicht nur Symbol, insofern er Symbol bei diesen Indios ist. Vielmehr ist er auch insofern Symbol – in einer symbolischen Logik, welche dem transzendentalen Symbolischen folgt – als diese Verbindung von Baum und Liane so sehr Verbindung ist wie die Beziehung zwischen Mann und Frau. 3. Diese Vermittlungen von Transzendenz bei den Pemón sind Orte der Offenbarung der Göttlichkeit und der Menschlichkeit des „Göttlichen“, das sie übersteigt. In einer theologischen Perspektive sind diese Vermittlungen symbolisch, geprägt von Sakralität und einer auf Christus ausgerichteten Sakramentalität. Ein Christ kann darin das Aufgehen der Saat des Wortes sehen – der Heilssaat Christi. In diesem Sinne ist eine hermeneutische Rezeption des Gleichnisses vom Sämann, der aufs Feld ging und in alle Himmelsrichtungen, auf alle Böden, in alle Zeiten hinein säte, nicht nur für die Theologie der Religionen fruchtbar, sondern ebenfalls dafür, die christliche Sakramentalität zu „entspannen“. In der Tat eröffnet dieses Gleichnis, das in seinem übertragenen Sinn von einer Logik des Wachstums, der Verbreitung und des Überflusses getragen wird, allen das „Geheimnis vom Reich Gottes“ (Mk 4,1–20).
33 34
35
Paul Ricœur, Du texte à l’action. Essai d’herméneutique II (Points Essais 377), Paris 1986, 34. Ernst Cassirer hat aufgezeigt, dass der Mensch sich in und durch ein System von symbolischen Formen bewegt, wovon die Sprache der augenfälligste Ausdruck ist. Der Mensch verfügt weder über Unmittelbarkeit, noch Genauigkeit, noch Eindeutigkeit, noch schnellen Instinkt. Sein Verstand funktioniert indirekt, reflexiv und nachdenklich; vgl. Ernst Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, in: ders., Kleine Schriften 1, Leipzig 1923 (später in: ders., Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 81997, 169–200); vgl. auch Gilbert Durand, L’univers du symbole, in: Revue des Sciences Religieuses 49 (1975) 7–23, hier 12ff. Hier kann auf die Arbeiten von Hans Blumenberg (1920–1996) verwiesen werden, der die Formulierung der „symbolischen Form“ von Cassirer ernstnimmt als Vermittlung der Distanzierung, die für das Verhältnis zur weltlichen Wirklichkeit erforderlich ist (Hans Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1986).
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Erlauben Sie mir, etwas humorvoll zu enden. Milan Kundera gesteht mit einem Zwinkern: „Gott lacht, wenn er mich denken sieht.“36 Ich hoffe, Gott ist zufrieden, wenn er mich darüber nachdenken sieht, wie die Sakramentalität zu „entspannen“ sei, denn er muss gewiss weinen, wenn man sie verengt betrachtet. Übersetzung aus dem Französischen: Florence Berg
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Milan Kundera, Die Kunst des Romans. Essay, München 2007 (dt. Neuübersetzung von Uli Aumüller), 207.
Sakramente und globale Realitäten Ein Dialog
Janet Walton / Cláudio Carvalhaes
Hinführung Als ich für mein Promotionsstudium ans Union Theological Seminary kam, wusste ich nicht, was mir widerfahren würde. Während der sechs Jahre dort hatte ich die Unterstützung und den Rat von Professorin Janet Walton, deren Herz in Bezug auf die Sakramente immer nah bei den Armen war. Deshalb fühlte ich mich dort zu Hause. Ihr beratender Beistand und herausforderndes Denken ließen mich die Sakramente auf neue Weise verstehen. Meine Zeit dort brachte mich zurück zu meinen Leuten, zu den Armen. Jetzt mit einer neuen Perspektive. Bei der Abschlussfeier, als Claudio seinen Doktorhut erhielt, nahm er ihn sofort ab, ging zum anderen Ende des Raumes und setzte ihn seiner Mutter auf. Es war ein überwältigender Moment: nicht nur, dass Claudio seiner Mutter für alles dankte, was sie für ihn getan hatte, sondern er dehnte den Moment auch für alle anderen aus. Er brachte uns dazu, all jene zu sehen, die unsichtbar sind. Sakramente verpflichten zu weiteren Taten.
Persönliche Geschichte – Janet R. Walton Als ich geboren wurde, wurde ich getauft, bevor ich das Krankenhaus verließ. Das war so Usus. Die Schwestern taten es aus Furcht, ich würde in den Limbus kommen, wo meine Seele auf ewig bleiben müsste, wenn ich vor der Taufe sterben würde. Meine Eltern hatten mit dem, was die Schwestern taten, nichts zu tun. Sie wurden nicht gefragt. Während der ganzen Zeit, in der ich zu Hause gewohnt habe, sind wir ausnahmslos jeden Sonntag in die Messe gegangen. Alles drehte sich um diese unsere Tradition. Warum? Uns wurde beigebracht, dass wir eine Todsünde begingen, wenn wir die Messe versäumten und dass wir, wenn wir sterben würden ohne zur Beichte gegangen zu sein, in die Hölle kämen.
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In diesen Jahren definierte der Baltimore-Katechismus Sakramente als äußere Zeichen, die von Christus eingesetzt waren, um Gnade zu vermitteln. Furcht untermauerte unsere Erfahrungen mit ihnen. Wir waren weit davon entfernt, uns irgendeiner Verbindung zwischen Sakramenten und globalen Realitäten, d. h. Geschehnissen in der Welt, bewusst zu sein. Dem zum Trotz beteten wir am Ende jeder Messe für die Bekehrung Russlands. Damals dachte ich, es sei, weil die Leute in Russland nicht an Gott glauben. Niemand erwähnte, dass das orthodoxe Christentum wahrscheinlich im 9. Jahrhundert auf der Kiewer Rus eingeführt worden war. Was wurde uns gelehrt, wie Sakramente wirken? Wir empfingen Gnade von Gott, die vom Klerus verwaltet wurde; uns wurde ein Platz im Himmel versprochen; wir konnten uns als Katholiken fühlen, Mitglieder einer Kirche, die keinen Widerspruch oder Fragen erlaubte. Aber darüber hinaus gab es noch etwas: Als mein Vater im jungen Alter von 49 Jahren starb und meine Mutter mit fünf Kindern hinterließ, sprach die Kirchengemeinde eine riesige Vielfalt von Leuten an, am Requiem teilzunehmen. Lateinische Worte und Gregorianischer Choral formten eine Eucharistie geprägt von Trauer und Unterstützung. Ein großer Sprung nach 1963. Das Zweite Vatikanische Ökumenische Konzil hat einen entscheidenden Blickwinkel aufgetan: Von den ersten Tagen der Liturgischen Bewegung an gab es wissenschaftliche, pastorale und päpstliche Anhaltspunkte, dass es in unseren liturgischen Feiern volle, bewusste und tätige Teilnahme geben solle. Diese Auffassung änderte nicht nur die Definition von Sakramenten, sondern auch die Art und Weise, wie Menschen sich darauf einließen. Der Katechismus der Katholischen Kirche formuliert: „Diese sieben Sakramente betreffen alle Stufen und wichtigen Zeitpunkte im Leben des Christen: sie geben dem Glaubensleben der Christen Geburt und Wachstum, Heilung und Sendung. Es besteht also eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den Stufen des natürlichen Lebens und den Stufen des geistlichen Lebens.“1
In anderen Worten besteht ein Sakrament aus einer Abfolge von Handlungen, die das Tun Gottes, das im Leben einer Person und einer Gemeinschaft bereits geschieht, feiern. Es war nunmehr kein quantifizierbares Element, das einer Person gespendet wurde. Vielmehr bestärkt das Sakrament (eine Bestätigung von Gottes Gegenwart im Leben eines Menschen) eine Person, in diesem Geist zu wachsen und zum Wohlergehen anderer einen Beitrag zu leisten. Es hat Jahre gedauert, diesen Wandel aufzunehmen und noch immer versteht nicht jeder die tiefgreifende Wirkung, die der rituelle Vollzug der Sakramente auf Menschen hat.
1
Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1210.
Sakramente und globale Realitäten
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Als Laie, die Musik, Kunst und Gottesdienst lehrte, hatte ich große Erwartungen an unsere Teilnahme an den Sakramenten, Untertauchen in Wasser, Brot, das wirklich Brot war. Mit unseren Körpern, Herzen und Sinnen bildeten wir den Leib Christi. Wir spürten nicht nur die damit verbundenen Möglichkeiten, wir waren auch dafür verantwortlich, ihnen Gestalt zu verleihen. Es war nun weit davon entfernt, aus Furcht als vorwiegender Motivation zur Messe zu gehen. Als weiblicher Laie dachte ich auch, dass sich die Leitung durch Frauen in der Kirche zu wandeln begänne. Sie tat es auch, aber stets mit gleichbleibenden genauen Prüfungen und Grenzen. Und so setzt es sich fort. Immer noch ist klar zu erkennen, dass einflussreiche kirchliche Führungspersonen Frauen nicht als volle Partner im Leib Christi ansehen. Noch ein Zeitsprung ins Jahr 1980, als ich zum Fakultätsmitglied des Union Theologial Seminary ernannt wurde, einem liberalen protestantischen Seminar in New York City. Das Union Seminar war ein Ort, wo sich die Fakultät der Auswirkung des Konzils auf die liturgischen Ausdrucksformen vieler Kirchen und Religionen bewusst wurde und mit ihnen vertraut war. Einer der Wege, auf dem sich der Enthusiasmus über eine frische Herangehensweise ausdrückte, war die Entscheidung, die die Seminargemeinschaft über ihren Gottesdienst traf. In den späten 70ern, als die Orgel in der Kapelle eine weitreichende Reparatur benötigte, eröffnete die Gemeinschaft eine grundlegende Diskussion über den Gottesdienst. Immer weniger Leute kamen in die Kapelle. Es bestand eine zu große Distanz zwischen dem, über was wir im Klassenraum sprachen und dem, was in unserer Kapelle passierte. In unseren Kursen sprachen wir über Krieg, Armut, Rassismus, Sexismus und sexuelle Orientierung. Schenkten die Predigten diesen Themen noch Aufmerksamkeit, so fanden diese weltlichen Themen im restlichen Gottesdienst keine Resonanz. Die Verwaltung und die Fakultät gingen ein hohes Risiko ein, eines, das viele Alumnen und einige Mitglieder der Fakultät und der zuständigen Kommission nicht mittrugen. Der Architekt Philip Ives wurde engagiert, um einen Plan für die Renovierung der Kapelle zu erstellen. Dieser war sehr radikal. Der Entwurf verlangte nach voller Flexibilität – den Raum von allem zu befreien, was irgendwie unbeweglich war, Kirchenbänke, Kanzel, Tisch. Laut Präsident Shriver war das Ziel nicht, etwas in Ehren Gehaltenes zu zerstören, sondern neue Möglichkeiten aufzutun und vom Vorsteher zu verlangen, über jeden Aspekt unseres gemeinsamen Tuns genau nachzudenken. Unter den dreißig Denominationen, die im Seminar vertreten waren, gab es radikal verschiedene Auffassungen von Sakramenten, sogar allein schon über die Verwendung des Begriffs. Aber ein Ziel zog sich wie ein roter Faden durch unseren Gottesdienst. Wir lernten gemeinsam, was in diesem neugeordneten Kapellenraum zu tun war, der sich mit unserem alltäglichen Leben als Bürger einer
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herausforderungsreichen Welt verband. Es dauerte nicht lange, bis wir den allseits bekannten Aphorismus „Wir gestalten unsere Räume und danach gestalten sie uns.“2 schätzen lernten. Niemand leitete die Kapelle ohne darüber nachzudenken, was wir innerhalb und außerhalb dieses Raumes tun würden. Unsere Planungstreffen stießen Interpretationen von biblischen Texten Seite an Seite mit globalen Realitäten an. Wir lernten, uns dem Zauber des Rituals zu öffnen und wahrzunehmen, dass jedes Ritual Konsequenzen hat.
Persönliche Geschichte – Cláudio Carvalhaes Ich wuchs in einer kleinen Presbyterianer-Kirche in Brasilien in den 70ern und 80ern auf. Bezogen auf das, was ich von dieser kleinen Kirche empfangen habe, kann ich mit dem heiligen Augustinus sagen, dass die Kirche meine Mutter war. Das meiste von dem, was ich heute bin, habe ich von der Kirche empfangen. Mein erstes Spielzeug kam von der Kirche, das Essen, das mich als Kind nährte, kam von der Kirche, meine Erziehung kam von den Leuten dieser Kirche, mein Theologiestudium kam von der Kirche, meine Promotion kam von der Kirche. Ohne die Kirche wäre ich nicht hier. Nachdem ich mein Theologiestudium, das der Liturgiewissenschaftler Jaci Maraschin maßgeblich prägte, abgeschlossen hatte, wurde ich Pastor von zwei kleinen Kirchen: von einer sehr armen Kirche am Stadtrand von São Paulo und dann von einer Kirche mit Immigranten ohne Papiere in den Vereinigten Staaten. Als Pastor der Santa-Fe-Kirche in Brasilien lernte ich, dass das, was Menschen inmitten eines sehr harten Lebens in einer sehr armen Gegend zusammenhält, die Liebe Jesu ist. Einige Male habe ich mich gefragt: „Soll ich diese Kirche zugunsten eines vernunftgeleiteten theologischen Glaubens verlassen oder soll ich bleiben, ihre theologische Denkweise akzeptieren und Teil der Gemeinschaft werden?“ Ich entschied mich für letzteres. Dies war der Punkt, an dem ich zu verstehen begann, dass Dogmen um des Lebens der Menschen willen existieren und nicht das Leben der Menschen um der kirchlichen Lehren willen. Was ich lernte, war, die kirchlichen Lehren nicht aufzugeben, sondern vielmehr darauf zu bestehen, dass das Leben mit seinen Herausforderungen an erster Stelle steht. Diese Perspektive korrigierte die Interpretation der Lehren. Um Leonardo Boffs Redensart von Sakramenten zu benutzen, ist es die Durchmischung des „Lebens der Sakramente“ mit den „Sakramenten des Lebens“3, die das, was
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Winston Churchill zugeschrieben. Leonardo Boff, Kleine Sakramentenlehre, Düsseldorf 1976 (port. Os sacramentos da vida e a vida dos sacramentos. Minima sacramentalia. Ensaio de teología narrativa, Petrópolis 1975).
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im Leben heilig sein soll, bildet und erhält. Die Eucharistie zum Beispiel war ein grenzfreier Ort, der den Bedürfnissen, Hoffnungen, Unglücken, Sehnsüchten, Verwirrungen, dem Leben und dem Tod eines jeden gerecht wurde. Nach dieser unvergesslichen Erfahrung kam ich 1997 in die Vereinigten Staaten, als ich Pastor einer sehr vielfältigen Kirche in Fall River wurde, die vorwiegend aus Menschen ohne Papiere bestand. Es war ein religiöser Zoo: Ich hatte Katholiken, Lutheraner, Episkopale, Methodisten, Presbyterianer, Pfingstler, Neocharismatiker und sogar Atheisten als Gemeindemitglieder. Jeder Gottesdienst war immer ein Segen für die Menschen, aber auch Feld für Schlachten, die in der folgenden Woche geschlagen wurden. Wie in der Santa-Fe-Kirche in Brasilien hielten uns nicht notwendigerweise unsere gemeinsamen Glaubensansichten, sondern unsere gemeinsamen Bedürfnisse zusammen. Wir waren dort, weil jeder einen Ort brauchte, an dem er Sicherheit, Vertrauen und Heilung fand. Die Kirche war ein Geflecht von Schutz, Heiligtum und Fürsorge. Aber viel stärker als in Santa Fe war das Sakrament der Eucharistie das Ereignis, das den Menschen Zusammenhalt gab. Die Eucharistie wurde ein Ort für spirituelle Nahrung und Verbindung mit der Welt im Großen und zur Zusicherung eines sicheren Ortes, wo Menschen ankommen, bleiben und akzeptiert sein konnten. An diesem Altar/Tisch wurden Menschen nicht nach ihrem Ausweis gefragt, sei es der religiöse oder der staatliche. Es gab keine Anklage, keine Fluchandrohung oder Furcht gegenüber jenen, die nicht getauft waren. Der Altar/Tisch war der einzige Ort ohne Grenzen, der diese Menschen von den Gefahren der Welt abzäunte und abgrenzte. Aber damit der Altar/Tisch eine Grenze ohne Grenzen sein konnte, waren die Theologien und liturgischen Praktiken in gewisser Weise anders. Andere Sprache, Partizipation, Aktionen, Essen. Die riesigen Ausmaße des Altars boten jedweden Menschen Platz, ihre Wunden und Sehnsüchte darzubringen. Die Bescheinigung der Liebe Gottes war der wahre Ausweis der Papierlosen. Der transsubstantiierte Leib Christi war die Verklärung der Werte und der Ehre der Menschen. Der konsubstantiierte Leib Christi war die Zusicherung, dass die Liebe Gottes unter, um und in ihrem Leben war. Die wirkliche Gegenwart Christi war eine Bescheinigung, die die Existenz einer Menschengruppe, für die Abwesenheit und Negierung tägliches Brot war, beglaubigte. Das Gedächtnis Jesu Christi war die Bestätigung, dass sie existieren und dass die Erinnerung an Jesus der Umsturz des ganzen Systems von Ausschluss und Ausbeutung war. Wir haben diese unterschiedlichen Eucharistieverständnisse zusammen ausgelebt. Natürlich war es ein radikaler, ökumenischer, theologischer, grenzfreier Ort in einem abgegrenzten Heiligtum/oikos, in einer Welt, die sie verschlingen wollte. Im Rückblick ist das Verständnis von Sakramenten in meinem Dienst als Pastor und jetzt in der Arbeit als Lehrer nichts anderes als eine reflektierte Fortsetzung dessen, was ich von der kleinen Presbyterianerkirche empfangen habe, in
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der ich aufgewachsen bin. Es war diese kleine Kirche, die mir die zwei Pole der Liturgie nahebrachte, also die Heiligung der Menschen und die Verehrung Gottes oder die Ehre Gottes in der Heiligung der Menschheit. Indem sie sich um mein Leben sorgten, verwirklichten sie die Ehre Gottes in der Vermenschlichung meines eigenen Wesens. Diese Kirche ist nicht nur tiefgehend an meinem Leben beteiligt, sondern hat auch das soziale Gefüge meiner Familie verändert. Ohne es zu wissen hat diese konservative protestantische Kirche mich gelehrt, was Karl Rahner einmal die „Liturgie der Welt“ genannt hat, in der Leben und Tod an jedem Ort und zu jeder Zeit geschehen.
Sakramente des Lebens und das Leben der Sakramente Wie sollen wir also nun die Liturgie der Welt, die Liturgie der Kirche und die Liturgie des Nächsten denken, organisieren und gestalten? Die Sakramente sind nicht „einfach“ ein rituelles Ereignis im Leben eines Einzelnen oder einer Institution, sondern die Sakramente sind eine Umsetzung von Gottes Geschenk an uns. Ihre göttliche Wirksamkeit, ihr politischer Odem schafft ein tiefgehendes Verständnis von dem, was es heißt, Mensch zu sein. Die Sakramente fordern uns auf, sowohl todbringende koloniale Projekte im Namen unseres Gottes zu bereuen als auch jene Unterschiede anzunehmen, die sich jenen zuneigen, den an den Rand Gedrängten, den Unglücklichen der Welt. Die Sakramente des christlichen Glaubens verkörpern die befreienden Taten des Lebens und Sterbens und der Auferstehung Jesu Christi; sie können den Gang der Welt verschieben, verwandeln und verändern. Von der Schöpfung bis zum Exodus, von den Propheten bis zu den Frauen im Alten Testament, von Jesu Geburt als Flüchtling und Leben als armer Palästinenser bis hin zu seinem Mord durch das Imperium und seiner Auferstehung am dritten Tag ist die Geschichte Gottes eine der Befreiung. Jesu Leben ist die Geschichte des Ubuntus: „Ich bin, weil wir sind, und wir sind, weil ich bin.“ Aber „Wer ist Jesus Christus, für uns, heute?“, fragt der Ethiker Larry Rasmussen. Seine Antwort berührt jeden Aspekt unserer Traditionen und Praktiken. Rasmussen möchte mehr vom Wesentlichen und vom Herzen des christlichen Glaubens. Es ist eine lange Liste. Sie umfasst eine Relecture der kanonischen biblischen Texte, einen kritischen Blick auf die Auswirkungen spezifisch christlicher Traditionen und Praktiken, eine neuerliche Untersuchung des Inhalts und der Bedeutung des christlichen Glaubens, eine Rückbesinnung auf prägende Symbole, eine Erneuerung der christlichen Gemeinschaften und eine Veränderung der Ämter und Anliegen der Kirche. Es bedeutet, „menschliche Fähigkeiten und Wis-
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sen einander gegenüberzustellen, sodass wir Gott mehr in dem finden, was wir wissen, als in dem, was wir nicht wissen.“4 Solch eine Relecture und Neuorientierung der Sakramente impliziert „eine Reorganisation von Macht und Verteilung von Autorität. Es erfordert Barrieren niederzureißen und die Grenzen von Geschlecht, Klasse, Rasse, Alter und physischen Fähigkeiten zu übertreten. Rekonstruierte Feiern werden nicht nur wieder zum Vorschein bringen, was in traditionellen Nacherzählungen der Bundesgeschichte fehlte, sondern auch korrigieren, was unterdrückend war. Diese Eucharistiefeiern werden sowohl festlich-fröhlich als auch trauervoll sein, so sehr sind sie mit dem verbunden, was in der Welt getan, und dem, was unterlassen worden ist.“5
Die Sakramente haben nichts mit politischen Einstellungen zu tun! Wir müssen Sakramente nicht politisieren; sie sind schon politisch. Die Sakramente leben im Leben der Städte, inmitten der Menschen. Über die Sakramente üben wir, zu leben und uns selbst zu organisieren. Sakramente sind rituelle Handlungen, die menschenfreundliche Handlungen erforderlich machen. Sie erfordern Freiheit und Gerechtigkeit. Sie ermöglichen ein von Gott gegebenes Leben durch eine Ethik der Möglichkeiten, durch die Wendung von Tod in Leben, von Ausgrenzung in Hineinnahme, von unüberwindbaren Grenzen zu einer grenzfreien Gemeinde. Mit den Worten von Tissa Balasuriya: „Die Eucharistie kann eigentlich nicht neben großen Unterschieden von Reichtum und Armut existieren. Das wäre eine Verhöhnung Jesu und seiner Botschaft … Niemand sollte bedürftig sein. Alles sollte für die Bedürfnisse aller da sein.“6
Claudio und ich haben den nächsten Teil unseres Dialogs anhand der Beziehung der Sakramente der Taufe und Eucharistie zu vier globalen Realitäten strukturiert: Krieg, Migration und Flüchtlinge, Armut und Klimawandel. Wenn wir diese Beispiele vorstellen, behalten wir die Worte von Larry Rasmussen im Kopf: „Wir ehren die Goldene Regel, indem wir lernen, uns selbst so leidenschaftlich zu lieben, dass wir uns ändern.“7
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Larry L. Rasmussen, Veni, Creator Spiritus. An Ecological Reformation, 19th Annual Dietrich Bonhoeffer Lecture in Public Ethics, Union Theological Seminary, 8. April 2017. Janet Walton, Eucharist, in: L. M. Russell / J. S. Clarkson (Hg.), Dictionary of Feminist Theologies, 92–93. Tissa Balasuriya, The Eucharist and Human Liberation, Eugene OR 2004, 80. Rasmussen, Veni, Creator Spiritus, a. a. O.
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Wir leben in einer Zeit, in der Krieg als selbstverständlich hingenommen wird und in das weltweite Wirtschaftsgefüge verwoben ist. Wir alle, nah und fern, sind verwickelt in Töten, Bombardierung, Genozid, Hungertod, Zerstörung von Städten und Kulturen, Trümmer, Vergewaltigung, Trauma. Krieg ist nicht nur ein großes Geschäftsfeld, das privaten Unternehmen zugutekommt, er ist ebenso ein Mittel zur Ausübung von Macht über Andere. Im Bewusstsein der nie endenden Realität des Krieges bieten unsere Erfahrungen mit den Sakramenten Möglichkeiten zu radikalem Frieden, Versöhnung, Gleichheit, Gerechtigkeit und Verbundenheit. Wie können wir aus sakramentaler Perspektive über Krieg denken? Wir führen drei Beispiele an:
Oscar Romero Von der Kanzel und vom Altar aus veranlasste Bischof Oscar Romero seine Leute dazu, mit dem gegenseitigen Töten aufzuhören. Woche für Woche bat er das Volk von El Salvador und jene Länder, die den Krieg unterstützten, inständig, im Namen Gottes damit aufzuhören. Als christliche Menschen, bat er jene auf beiden Seiten des Tötens, mögen sie erkennen, dass ihr Glaube Versöhnung fordert. Leidenschaftlich flehte er die herrschende Regierung an, die sowohl von der CIA der Vereinigten Staaten als auch von der Mehrheit der Bischöfe El Salvadors unterstützt wurde.8 Die Abfolge von Ereignissen im Film unterscheidet sich von dem, was geschah. Romero wurde nicht nach seinem Appell an das Militär, sondern am folgenden Nachmittag direkt vor der Eucharistiefeier ermordet. Seine letzten Worte sprach er unmittelbar vor dem Eucharistischen Hochgebet: „Lasst uns innig zusammenstehen im Glauben und in der Hoffnung in diesem Moment des Gebetes“. Für Bischof Romero und sein Volk war die Feier von Sakramenten vordringlich. Aus dem Vollzug der Sakramente bezogen die Menschen Vertrauen auf einen Gott, der bei ihnen ist. Aus der Kraft der Sakramente wussten sie, was im Angesicht von stetiger Bedrohung durch Tod und Völkermord zu tun ist. Wir wissen das aus vielen Beispielen, aber vor allem nach dem Mord an Romeros gutem Freund, Pater Rutilio Grande. Gegen die Beharrlichkeit eines Großteils der Bischöfe rief Romero alle Menschen auf, als Diözese zur Beerdigungsmesse zusammenzukommen. An diesem Sonntag wurde keine andere Messe im Erzbistum
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Blessed Oscar Romeroʼs last sermon: URL: https://www.youtube.com/watch?time_continue=27&v=IuZV6whwj1g.
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San Salvador gefeiert. 100.000 Menschen kamen zusammen. Für Romero und seine Leute war die Eucharistie keine bloße Abfolge von Worten und Handlungen. José Inocencio Alas beschrieb, was geschah: „Romero überschritt eine Linie. Er ging durch eine Tür. Es gibt die Taufe mit Wasser und es gibt die Taufe mit Blut. An diesem Tag gab es auch die Taufe durch die Menschen.“
Sie kamen zusammen, um den Mut zu fassen weiterzumachen, Richtungen zu ändern, im Angesicht himmelschreiender Ungerechtigkeit zu leben. Jedes Wort zählte. Das Eucharistische Hochgebet A von Nathan Mitchell, das er im Jahr 1984 als Teil einer langjährigen Studie und Konsultation über neue Texte zum Gebrauch im römisch-katholischen Bereich entwarf, drückt den sakramentalen Zusammenhang, auf dem Romero beharrte, gut aus. Hier ein kurzer Auszug: „Über zahllose Generationen hungerte dein Volk nach dem Brot der Freiheit. Aus ihnen brachtest Du Jesus hervor, das lebendige Brot, in dem der alte Hunger gestillt wurde, er heilte die Kranken, obwohl er selbst leiden sollte; er brachte Sündern das Leben, obwohl der Tod ihn selbst zur Strecke bringen sollte. Aber mit einer Liebe, die stärker ist als der Tod, öffnete er seine Arme weit und übergab seinen Geist.“9
Aus dem Geist der Sakramente zu leben und ihre Macht zu verkörpern, hat seinen Preis. Im Umfeld des Todes das Wort des Lebens zu sprechen bietet der „Währung“ unserer Zeit Paroli. Die Grenzfreiheit der Sakramente strahlt in Kriegsgebiete aus, nicht nur aus dem Inneren unserer Kirchen heraus, sondern auch direkt in der Mitte von Konflikten! Der rituelle Vollzug des eucharistischen Sakraments erhebt sich als ein Zeichen des Widerstandes.
Sakramentale Leiber I 2014 in Kiew in der Ukraine, „Inmitten von ausgebrannten Bussen, Tränengas und Barrikaden […]: Orthodoxe Priester versammelten sich, nicht zum Protest, sondern vielmehr, um an vorderster Front zu beten.“10 Orthodoxe Priester wand-
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Nathan D. Mitchell, Eucharistic Prayer A, International Committee on English in the Liturgy, Inc., 1986. Antonia Blumberg, In Kiev, Protests Bring Orthodox Priests To Pray On The Frontline Despite Government Warnings, URL: http://www.huffingtonpost.com/2014/01/24/kievprotests-ests_n_4660431.html.
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ten sich an Gott, als sie zwischen pro-europäischen Aktivisten und dem Polizeiaufgebot standen. Wie noch kann unser Taufwasser unsere Körper dazu bringen, den Frieden Christi zu erflehen und die Möglichkeiten von Dialog und gerechtem Leben auszudehnen? Indigene Völker überall auf der Welt kämpfen, um ihr Land zu schützen. In Situationen wie in Standing Rock in den Vereinigen Staaten und überall auf der Welt leisten Ureinwohner beständig Widerstand gegen Schändungen, Beschimpfungen, Eigentumsdiebstahl. Ihre Würde, ihr Glaube, ihre Weltanschauung, ihre ureigene Seele werden schlichtweg zerstört. Wie können das Öl unserer Salbung, die Gaben von Brot und Wein geteilt werden, um dadurch Schutzwälle für jene, die besonders verwundbar sind, zu errichten? Wie kann der Altar des eucharistischen Sakraments eine Schutzmauer für jene bieten, die weggebracht werden? Mit den Worten von Nathan Mitchell: „Sakrament ist ein Akt, keine Sache; es bedeutet, das, was uns am meisten wert ist, der Fürsorge menschlicher Praxis zu übergeben.“11 Wir übergeben also das, was uns am meisten wert ist, die Sakramente unseres Glaubens, in die Hände der Armen an den Orten von Unglück, Krieg, Verlassenheit, Zerstörung und Tod. Nach Augustinus empfangen wir das, was wir sind, dann dort, inmitten von Krieg bringen wir uns selbst als eucharistische Handlung dar, indem wir Leben inmitten von Tod bringen.
Sakramentale Leiber II Wenn wir uns Sakramente als Rituale radikalen Engagements und Handelns im Angesicht von Krieg vorstellen, was können wir hier tun, untereinander? Hier kommt ein Beispiel, das Studenten des Union-Seminars gegeben haben: Es war am fünften Jahrestag des Krieges im Irak. Die meisten Mitglieder unserer Gemeinschaft haben nicht in Kriegsgebieten gelebt. Nur ein Student war Veteran. Trotzdem wollten sie diese Zeitmarke der US-Präsenz im Irak nicht nur mit Worten kommentieren. An der Tür der Kapelle lag an diesem Tag der regungslose Körper eines unserer Studenten auf dem Boden. Jeder musste über ihn steigen, um hineinzukommen. An anderen Stellen in der Kapelle lagen noch mehr regungslose Körper unserer Studenten. Wir mussten um sie herumgehen oder über sie steigen, um zum Stuhl zu finden, und auch als die Kommunionausteilung an der Reihe war.12
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Nathan D. Mitchell, Meeting Mystery. Liturgy, Worship, Sacraments, Maryknoll 1984, 268. Der hier zitierte Ausschnitt ist Teil des längeren Videos „James Chapel Worship-Practicing for Life“, das die Entwicklung des Gottesdienstes im Union Theological Seminary, New York von 1979 bis 2014 veranschaulicht. Der Ausschnitt über Krieg ist zu finden ab Minute 19:29, URL: https://utsnyc.edu/life/worship.
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Die Entscheidung unserer Studenten, wie tot auf dem Kapellenboden zu liegen, erweiterte alles, was wir sangen, hörten, sagten und taten um eine Interpretationsperspektive. Wir fühlten uns unwohl. Das führte zu Offenheit. Krieg hat mit echten Menschen zu tun, mit solchen weit weg, mit solchen, die bei ihrer Rückkehr mit ihrem Kriegstrauma weiterleben, mit uns allen, die die Kriege finanzieren. Im Verlauf dieses Erlebnisses mit der Liturgie des Wortes und des Sakramentes gingen einige Studenten nach hinten in den Narthex und legten die Körper in einen Kreis. Andere knieten bei ihnen. Mit den Worten von Louis-Marie Chauvet: „Das Geistigste findet im Körperlichsten statt, Gott in diesem Geheimnis der Selbstkommunikation, der wirklich ‚unter Leibesgefahr‘ im Sakrament kommt.“13
Durch das Teilen von Wasser, Brot, Wein und Trauben erzählen uns die Sakramente von Gottes Option für den Frieden, und indem wir uns für den Frieden einsetzen, optieren wir für das schwächste Glied in der sozialen Kette: die armen Leute.
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Sakramente und Einwanderung
Vor einigen Monaten erschien in der New York Times ein Artikel, der mit „A Northbound Path, Marked by More and More Bodies“ („Ein Pfad gen Norden, von mehr und mehr Leibern gekennzeichnet“) betitelt war.14 Es war eine Beschreibung von Gegenständen und Körperteilen illegaler Einwanderer, die in Texas und Arizona starben, als sie versuchten, die Checkpoints der Grenzpolizei zu umgehen. Ihre Leiber waren auf Farmen verstreut, wurden in der Nähe von Seen gefunden, manchmal nur Skelette, die die Geier kahlgefressen hatten. Eine Ärztin, die regelmäßig die sterblichen Überreste von Einwanderern untersucht, hat ein Schild in ihrem Büro: Mortui Vivis Praecipant. Mögen die Toten die Lebenden lehren.15
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Louis-Marie Chauvet zitiert nach: Elbatrina Clauteaux, When Anthopologist Encounters Theologian: The Eagle and the Tortoise, in: P. Bordeyne / B.T. Morrill (Hg.), Sacraments: Revelation of the Humanity of God: Engaging the Fundamental Theology of Louis-Marie Chauvet, 2008, 170. Manny Fernandez, A Northbound Path, Marked by More and More Bodies, New York Times, 5. Mai 2017, 1.18.19., URL: https://www.nytimes.com/interactive/2017/05/04/us/texas-border-migrants-deadbodies.html?_r=0. One Border One Body: URL: https://www.youtube.com/watch?v=mFfaI-RtL6Q&t=2s.
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Die Worte von Johannes Chrysostomos, dem Priester aus Antiochien aus dem vierten Jahrhundert, passen hier gut: „Willst du also Christi Leib ehren? Geh nicht an ihm vorüber, wenn du ihn nackt siehst; ehre ihn nicht in der Kirche mit seidenen Gewändern, während du dich draußen auf der Straße nicht um ihn kümmerst, wo er vor Kälte und Blöße zugrunde geht! … Was nützt es, wenn der Tisch voll ist von goldenen Kelchen, jemand dagegen vor Hunger stirbt? Stille zuerst Hunger, dann magst du auch seinen Tisch schmücken, soviel du kannst. Der Tempel des Leibes unseres leidenden Nächsten ist heiliger als der Altar aus Stein, auf dem wir das heilige Opfer feiern.“16
Die Toten an den Grenzen verlangen unsere Aufmerksamkeit. Johannes Chrysostomos erinnert uns daran, dass wir, wenn wir unter die Oberfläche schauen, erfahren, wie sich Heiligkeit anfühlt. Wir werden sie berühren und einfordern. Mit den Worten von Elbatrina Clauteaux: „Denn wenn der Gott Jesu Christi der Ganz Andere ist, ist dieser Gott auch der Ganz Nahe, wirklich in symbolischer und sakramentaler Beziehung mit uns.“17
Zu diesem Zweck, um das Sakrament in eine Beziehung zu gelebten Realitäten zu setzen, hat die Lutheranische Pastorin Heidi Neumark in der Fastenzeit 2017 das Taufbecken, das Lesepult, die Kanzel und den Tisch mit Stacheldraht umwickelt. Mit Neumarks Worten: „In unseren Gesellschaften wird Stacheldraht benutzt, um Menschen innen drin (in Gefängnissen) zu halten und um Menschen außen vor (Grenzen) zu halten.“18
Sie fuhr fort: „Unser Taufbecken, das Lesepult und die Kanzel, von der aus Gottes Wort mitgeteilt wird, und der Altar, wo wir zusammen essen, sind Orte des Heils, des Willkommens, der Gnade. Diese heiligen Orte werden immer dann pervertiert, wenn Kirchen sie nutzen, um jene auszuschließen, zurückzuweisen, zu verurteilen und zu hassen, die wir aufgerufen sind zu lieben.“19
Das Becken befand sich direkt an der Tür der Kirche. Es umwickelt zu sehen erregte die Aufmerksamkeit von jedem, der hereinkam. Sie fühlten sich unwohl bis ins Mark. Das Symbol selbst möchte Schmerz vermitteln, der einen nachhaltigen Eindruck beim Menschen hinterlässt. Taufe ist kein einmaliges Ereignis. Sie
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Michael S. Driscoll, Eucharist and Justice, in: D.K. Donnelly (Hg.), Sacraments and Justice, Collegeville 2014, 40. Clauteaux, Anthropologist, 170. Von Heidi Neumark auf ein Schild in der Nähe des Taufbeckens in der Trinity Lutheran Church in New York City geschrieben. Ebd.
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erfordert stets Selbstreflexion. Getauft zu sein meint, Verantwortung für andere zu übernehmen, wann immer ihnen ihre Menschenrechte vorenthalten werden, hinter einer Grenze, die sie nicht überschreiten können. Am eucharistischen Tisch zu essen und zu trinken, fordert Sprechen und Handeln angesichts von Verspottung und Ausschluss ein. In Mexiko bringt eine kleine Gruppe von Frauen, die „Las Patronas“ genannt werden, Essen und mit ihm Gott und Leben auf die lebensgefährlichen Reisen so vieler Einwanderer, die versuchen, auf dem Todeszug gen Norden zu fahren. Sie leben den eucharistischen Ruf in vollkommener Weise!20 Wie würden wir über unsere Sakramente denken, wenn wir selbst Einwanderer und Flüchtlinge wären? Die Grenzfreiheit der Sakramente wird in der Mitte solcher Camps und an den Grenzstationen rund um den Globus gelebt. Vertreibung bringt Gewalt, staatliche Herrschaft über das Leben, wirtschaftlichen Ausschluss, Landraub, Kriege, Gier, mutwilliges Morden mit sich. Wenn das Sakrament der Ort von Gottes Wohnstätte ist, was sagt es über Vertreibungssituationen? Wenn die Sakramente das Shalom Gottes sind, was sagt das Sakrament von Gottes schrankenloser Umarmung zu Flüchtlingen? Durch das Teilen von Wasser, Brot und Trauben erzählen uns die Sakramente von Gottes Option für die Armen!
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Sakramente und Missachtung: Armut
Die Migranten, die die Grenzüberquerung nicht überleben, werden oftmals begraben, ohne vorher identifiziert zu werden. Das ist der höchste Ausdruck der Missachtung. Diese verstorbenen Männer und Frauen haben alles aufgegeben, was sie hatten, um ihren Familien etwas zu verschaffen, was sicherer und gesünder und vielversprechender wäre. Ihre Körper, was auch immer von ihnen übrig war, wurden in Stoff eingewickelt und in einer Milchkiste oder in einem Haufen von Körpern begraben, oft ohne Namen. Etwas Ähnliches passiert in New York City, wo Claudio und ich leben. Bis heute werden Arme auch in einem Haufen von Körpern begraben – oft auch ohne Namen – in Poetter’s Field auf City Island. Vor einigen Jahren kam eine Gruppe Obdachloser von einer Organisation, die „Picture the Homeless“ heißt, zum Union Seminary und leitete einen Gedenkgottesdienst. Sie hatten ihn einige Monate lang vorbereitet und leiteten ihn dann. Sie gestalteten eine temporäre Mauer, um an ihre Freunde namentlich zu erinnern.
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Women of Las Patronas get fast food to migrants on Mexico’s Beast train – video: URL: https://www.youtube.com/watch?v=YgTzjaAGDG0.
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Bei diesem Erlebnis dabei zu sein hieß, an Menschen zu erinnern, die im Tod namenlos sind, wie auch im Leben oft, aber da war mehr. Wir saßen Seite an Seite, Menschen, die komfortabel wohnten und Menschen, die auf die Straßen zurückgehen würden. Gemeinsam bildeten wir einen sakramentalen Raum über klar gezogene soziale Grenzen hinweg. Die normalen Strukturen der Macht waren umgekehrt, auf den Kopf gestellt. Menschen, an denen man normalerweise vorübergeht und die man ignoriert, leiteten die Liturgie kraft ihrer Menschenwürde. Sie sprachen für sich, anstatt dass andere es für sie taten. Es war ein Schwellenraum: Ungemütlich, unvorhersagbar und durchsetzt mit Heiligkeit. Etwas sehr Fesselndes und Wahres passierte mit jedem: Wir spürten die Missachtung, die bei Obdachlosigkeit großgeschrieben wird. Wir fühlten die Stärke der Wut angesichts zum Himmel schreiender Ungerechtigkeit. Und wir verstanden, wie Fürsorge, Respekt, Mut und Einsatz sich anfühlen, wenn sie von Armut durchdrungen werden. Der Theologe Michael Himes schreibt: „In einer Welt, in der die liebende Freundlichkeit Gottes überall gegenwärtig ist, aber oft übersehen wird, durchbrechen die Sakramente der Kirche den Nebel und erregen Aufmerksamkeit für diese Realität.“21
Über Armut und Sakramente aus dem Blickwinkel des überhaupt Lebensnotwendigen zu sprechen – Brot und Wasser –, bedeutet in Himes’ Worten, „für einen Moment Gnade zu feiern und dadurch der göttlichen Gegenwart die Möglichkeit zu geben, in unseren Leben Fuß zu fassen.“
Die Sakramente können unsere Haltungen zu Armut zunichtemachen, sowohl konzeptuell als auch praktisch. Die Sakramente können eine Wirtschaft fördern, die allen gerecht wird und Würde verleiht. Abseits von Plattitüden verkünden die Sakramente jeden Tag: Niemand geht hungrig! Niemand geht ohne Zuhause! Niemand geht ohne Ehre und Gottes Ruhm! Damit das passiert, brauchen wir sakramentale Riten, die deutlich und kontextuell sind, die aufgebrochen werden können, damit sie den Bedürfnissen jeder Gemeinschaft entsprechen. Wir brauchen eine entkolonialisierte Eucharistie, die die Armen beachtet, die von der Basis aus arbeitet, die von dem geleitet wird, was die Armen tun, um zu überleben und am Leben zu bleiben. Das Bestreben hier ist nicht, unsere theoretische Arbeit durch irgendeine Art von anti-intellektueller Bewegung aufzugeben, die Theorie als Zeitverschwendung betrachtet, sondern vielmehr wahrzunehmen, wie Menschen Wege des Überlebens finden und ihnen unser Denken und Handeln zuzuwenden. Wir können Ideen gegen Zuwendung
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Michael Himes, zitiert nach: Elizabeth A. Johnson, Ask the Beasts Darwin and the God of Love, London 2015, 41.
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tauschen. Aber damit das geschieht, muss die Kirche die Kirche der armen Menschen und für die armen Menschen sein. Nicht die Kirche einer kleinen hierarchischen Spitze, nicht ausschließlich eine Kirche von Männern, nicht ausschließlich eine Kirche von Heterosexuellen, nicht ausschließlich eine Kirche für die reichen Schichten. Es gibt die Geschichte von Pastorin Violet Little. Pfarrerin Little ist die Pastorin einer Obdachlosenkirche in der Innenstadt von Philadelphia, Pennsylvania in den Vereinigen Staaten. Jede Woche kommt man auf Logan Square zusammen, wo viele Menschen ohne und mit Obdach hinkommen, um Gott zu feiern und das Sakrament der Eucharistie miteinander zu teilen. Diese Kirche verlangt keine irgendwie geartete Form von Ausweisen: religiöser Ausweis, moralischer Ausweis, staatsbürgerlicher Ausweis. Jeder wird dort willkommen geheißen. Eines Tages, als Pastorin Little sagte: „Entschuldigung, ich habe kein Brot und keinen Wein mitgebracht“, sagte einer der Menschen ohne Obdach: „Ich habe Brot.“ Und mit diesem alten, verschimmelten Stück Brot, wurde das eucharistische Hochgebet gebetet und jeder genährt. Während die Logik und Grammatik unserer Gesellschaft uns lehrt, dass wir uns selbst retten müssen, haben diese Menschen uns gezeigt, dass wir geben, was wir haben. Das ist die Logik der Eucharistie! Geben, anbieten, teilen, den Körper des jeweils anderen nähren, die Wunden des jeweils anderen heilen. Egal, was wir können – neu anfangen können wir immer. Sakramente sind Orte des Neubeginns, an denen wir alle Würde erhalten, und wo Anerkennung auf jeden Aspekt unseres Lebens ausgedehnt wird. „Wie Sklaverei und Apartheid“22, sagte Nelson Mandela, ist Armut nicht natürlich. Sie ist menschengemacht und sie kann besiegt und ausgemerzt werden durch Taten von Menschen. Die Sakramente sind wirkmächtige Taten mit genügend Widerhall, um unser Denken und Tun zum Ausmerzen von Armut zu drängen. Durch das Teilen von Wasser, Wein und Trauben erzählen uns die Sakramente von Gottes Option für die Armen!
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„Der Planet hat dafür keine Zeit“24, der Titel eines Artikels von Bill McKibben, ist ein Aufruf an jeden Menschen zu beachten, was die Welt verlieren könnte, wenn
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Nelson Mandela, Mandela's poverty speech: http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/politics/4232603.stm. This Changes Everything Trailer | Festival: URL: https://www.youtube.com/watch?v=YQhflH4alO0&t=27s. Bill McKibben, The planet does not have time for this,
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wir nicht im Interesse unseres Planeten handeln. Al Gore lässt die gleiche Dringlichkeit mitschwingen. Der Ethiker Larry Rasmussen setzt sich für nichts Anderes als eine Reformation ein, um die ökologische Krise bei uns anzusprechen. Die Aufgabe der ÖkoReformation ist, schreibt er, „vielfältige soziale Welten zu einem gemeinsamen Blick auf die Geschichten von Menschen und Erde“25 zu verbinden und Allianzen zu finden für das langfristige Wohlergehen der Menschen sowie des Planeten. Das Foto, das Sie hier sehen, ist aus der Christ Lutheran Church, San Diego.26 Der Boden der Kirche ist so gestaltet, dass er einen Wasserstrom darstellt, der das Taufbecken und den Altar miteinander verbindet. Das Wasser fließt durch die Türen des Altarraums, verteilt sich auf der Stufe und geht in die Gemeinde über. Die Idee wurde entwickelt, nachdem Architekt, Künstler und Pastor Ez 47 – das Antlitz der Erde wird vom Wasser bedeckt – und Offb 22 – der Strom des Leben spendenden Wassers, der „vom Thron Gottes und des Lammes ausging und die Mitte der Straßen hinunterfloss“ – gelesen hatten. Dass die Taufe so deutlich mit den Straßen verbunden ist, ist Teil ihrer Mission gegenüber der Hinnahme von Armut, der Oberhand von Gewalt und Diskriminierung. In der Wüste von Sonora in Mexiko existiert eine kleine Baptistengemeinschaft, die eine natürliche Verbindung zur Umwelt hat. Da Wasser in der Wüste nicht selbstverständlich ist, haben sie Reservoirs für das Regenwasser gebaut, sodass sie ihre Pflanzen gießen, ein Bad nehmen und trinken können. Am Taufsonntag hat das Wasserreservoir als Taufbecken für das Sakrament gedient. Nach der Sakramentsfeier wurden die Kinder eingeladen, im Wasser zu spielen.27 Die Sakramente lehren uns, die Ressourcen der Erde zu genießen und zu respektieren und bieten gleichzeitig eine Grenze für unsere Wünsche. Alleine die Vereinigten Staaten, die 6% der Weltbevölkerung ausmachen, verbrauchen 30– 40 % der Ressourcen der Erde.28 Wenn uns die Sakramente nicht zu einem neuen Lebensstil aufrufen, beschwören und auffordern, werden weiterhin tausende arme Menschen jeden Tag sterben und wir setzen die Zukunft unserer Kinder aufs Spiel. Durch das Teilen von Wasser, Wein, Brot und Trauben erzählen uns die Sakramente von Gottes Option für die Armen!
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URL: https://www.nytimes.com/2017/04/21/opinion/the-planet-cant-stand-thispresidency.html. Rasmussen, „Veni, Creator Spiritus“, a. a. O. Larry L. Rasmussen stellte die Geschichte zu diesem Foto zur Verfügung. Baptism Baptist Church Sonora - Compacted version: URL: https://www.youtube.com/watch?v=tQrL9l8s6uQ. Manfred B Steger, Globalization, A Very Short Introduction, Oxford 2003, 87.
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Abschluss Durch Gottes Liebe erzwingen die Sakramente Taten und vermitteln Verbindungen, Beziehungen und Solidarität. Sie besiegen, widerlegen und zerstören den Sinn für privates Eigentum, Mauern und Zäune. Sie fragen die Logik von Krieg und Umweltzerstörung an. Sie brechen mit dem Zur-Ware-Werden unserer Wünsche und mit der Ungleichheit des neoliberalen Markts. Ein prophetisches Geschenk immensen Ausmaßes liegt in unseren Händen. Sakramente sind rituelle Ausdrücke von Gottes Gegenwart, die in und durch uns unsere Lücken ausbessern, unsere Wege erneuern, und die die Welt des Bösen in einen Ort der Gleichheit, Gerechtigkeit und Liebe verwandeln können. Trotzdem besteht ein „epistemologischer Ungehorsam“29 im Herzen der Sakramentsfeiern. Die epistemologische Achse von Gottes Gegenwart liegt in der Gegenwart der Marginalisierten, Armen, Nackten, Gefangenen, Ausgeschlossenen. Durch diese Auffassung des Sakramentenbegriffes vollziehen Gemeinschaften eine Umkehrung von Machtstrukturen. Wo Grenzen sind, die Leben behindern, bringen die Sakramente sie zu Fall! Wo keine Grenzen und Schutz für die Verwundbarsten sind, bauen die Sakramente Schutz, Ehre und Fürsorge auf! Denn die Sakramente sind Gottes Inkarnation mitten unter uns, die Gott eigene Materialität in allen Winkeln der Erde. In den Sakramenten können wir die „Symbole, die wir sind“, umsetzen, ausweiten, zusammenfügen und werden. In den Sakramenten bringen wir der Welt Leben und die Welt erfüllt die Sakramente mit Leben. Übersetzung aus dem Englischen: Tobias Weyler
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Walter Mignolo, Epistemic Disobedience, Independent Thought and De-Colonial Freedom, in: Theory, Culture & Society 26 (2010), 4.
Zeichen, Token und Gegenständlichkeit Religiöser Symbolismus und Sakramentalität im nichtwestlichen Christentum
Johnson Kwabena Asamoah-Gyadu
Zusammenfassung Die Entwicklung des Christentums in Afrika als nicht-westliche Religion hat seit der Mitte des 20. Jahrhunderts Veränderungen mit sich gebracht, die sie von den aus dem Westen geerbten Formen des Glaubenslebens unterscheiden. Christlichreligiöse Innovationen und neue Wege, den Glauben auszudrücken, sind zum Markenzeichen des afrikanischen Christentums geworden. Ein Aspekt, der bei diesen religiösen Veränderungen erkennbar wird, ist die Verwendung von „Zeichen und Token“, das heißt physikalische Substanzen, die in den Händen religiöser Würdenträger einen sakramentalen Wert erwerben und zum Beispiel als Unterstützung für die verschiedenen interventionistischen Handlungen dienen, wie z. B. an Pfingsten. Ein klassisches Beispiel für die neuen sakramentalen Substanzen ist die weit verbreitete Verwendung des Salböls. Das Salböl ist in afrikanischen christlichen Ritualen der Heilung und bei übernatürlichen Interventionen zu einem wichtigen „Berührungspunkt“ geworden. Die Verwendung von Öl für die Salbung ist nicht unbedingt neu in den historisch-christlichen Traditionen. Doch im zeitgenössischen afrikanischen Christentum wurde es in den Heilungs-, Befreiungs- und Exorzismusritualen, die über das hinausgehen, was in den älteren religiösen Traditionen bekannt war, neu erfunden und eingesetzt. In diesem Aufsatz werden neue „Sakramente“ diskutiert, die auch als Zeichen und Token bezeichnet werden können, wie z. B. die Neuerfindung des Salböls als therapeutische Substanz in heutigen Formen des afrikanischen Christentums. Die neue Ritualordnung und die Wahrnehmung von Sakramenten als therapeutische Substanzen helfen uns zu verstehen, was nicht-westlichen Christen, z. B. durch populäre religiöse Neuerungen, an ihrem Glauben wichtig ist, einem Glauben, dessen liturgische Standards ursprünglich von westlichen Missionaren festgelegt wurden.
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Vorwort: Religiöse Gegenstände und christliche Erneuerung in Afrika Dieser Vortrag untersucht die Entwicklung und die Natur der religiösen Gegenständlichkeit oder Sakramentalität im nicht-westlichen Christentum. Er konzentriert sich besonders auf pneumatische Formen des Glaubens, einschließlich der verschiedenen Ströme des Pentekostalismus, wie es sie in Afrika gibt. Pentekostalismus wird hier in Bezug auf christliche Kirchen und charismatische Bewegungen verwendet, die die Erlebnisse des Heiligen Geistes als Teil des normalen christlichen Lebens und der Anbetung wertschätzen, bewahren und bewusst fördern.1 Obwohl Stätten der pfingstlichen Anbetung gewöhnlich frei von religiöser Symbolik sind, ist der Heilige Geist, der als eine vom Himmel herabsteigende Taube auftaucht, für gewöhnlich die Symbolik, die genutzt wird. Biblisch sind dies Bewegungen, die auf der Verheißung der Macht des Heiligen Geistes, der Erfüllung im Leben der frühen Kirche am Pfingsttag und dem Glauben beruhen, dass dies ein Erlebnis ist, das auch die heutige Kirche erfüllen kann (Joel 2,28, Apg 2). Der Pentekostalismus bietet eine sehr interventionistische Theologie, in der die Kraft des Geistes geradezu pneumatische Phänomene vermittelt, wie das Sprechen in neuen Zungen, prophetische und andere charismatische Fähigkeiten oder die Heilung von Menschen. So kann z. B. die Person, die den Heiligen Geist erfahren hat – dieser wird oft als „Salbung“ in bestimmten Formen der Pfingstkirchen gespendet –, anderen die Hände auflegen und dadurch die Macht Gottes übertragen. Der gesalbte Charismatiker kann ebenso mit Dingen beten und sie so mit übernatürlicher Kraft durchdringen, um als Mittler der Gnade den bedürftigen Menschen zu dienen. Was wir hier in diesem Beitrag behandeln, ist eine besondere christliche Weltanschauung, in der die unsichtbare Kraft des Geistes durch sichtbare Substanzen in einer Weise zugänglich gemacht wird, die ihnen zugleich einen sakramentalen Wert verleihen. Im anglikanischen Katechismus ist ein Sakrament definiert als ein uns gegebenes äußeres und sichtbares Zeichen für eine innere Gnade, die von Christus selbst verliehen wird, als ein Zeichen, mit dem wir das Gleiche erfahren, und als ein Versprechen, das uns dies gewährt.2 Die Definition kann je nach dem Verständnis der verschiedenen kirchlichen Traditionen diskutiert werden, aber im Allgemeinen werden Sakramente als ein Mittel der Gnade Gottes angesehen. Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass ein nicht-liturgischer Strom des Christentums, wie die Pfingstkirchler, nicht unbedingt den Ausdruck Sakrament verwenden würde. Der Punkt ist jedoch, dass es Aspekte bei ihren religiösen Praktiken gibt, 1 2
Johnson Kwabena Asamoah-Gyadu, Sighs and Signs of the Spirit: Ghanaian Perspectives on Pentecostalism and Renewal in Africa, Oxford 2015, 2. Siehe John Macquarrie, A Guide to the Sacraments, London 1997, 4.
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die sich aufgrund des Gebrauchs von sichtbaren Symbolen für die Vermittlung oder Beförderung göttlicher Gnade und Macht als sakramental bezeichnen lassen. Um diese Kraft des Geistes in Aktion bei pfingstlichen bzw. charismatischen Christen in Afrika beschreiben zu können, werde ich eine breite Palette von greifbaren Gegenständen oder Symbolen anführen, die das traditionelle Verständnis der Ausprägung von Sakramenten erweitern. Der Gebrauch konkreter Objekte spielt eine wichtige Rolle für die Übertragung der Macht bei den christlichen Bewegungen, über die wir hier sprechen. Mit anderen Worten, in diesen neuen Formen des populären, graswurzelhaften und nicht-liturgischen Christentums ist das Sakramentale nicht auf das traditionelle katholische oder protestantische Verständnis der Taufe, der Eucharistie oder die Krankensalbung beschränkt. Aus diesem Grunde beziehe ich mich auf das neuartige Spektrum der sakramentalen Gegenstände im pfingstlich-charismatischen Christentum in Afrika als religiöse Gegenstände. Wenn etwas fühlbar ist, ist es durch Berührung fühlbar, materiell oder substantiell und konkret wahrnehmbar. So bezieht sich die religiöse Gegenständlichkeit auf die Institutionalisierung und den Einsatz von sichtbaren Substanzen für die Vermittlung der religiösen Macht. Zu diesem Zweck beschäftigt sich der Beitrag mit dem, was in den theologisch und liturgisch definierten Strömen des Christentums als sakramental bezeichnet werden kann.
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Die Klassifizierung der Pfingstkirchen in Afrika
Pentekostalismus ist keine monolithische Bewegung. Es gibt drei Hauptarten der pfingstlich-charismatischen Bewegungen, die im afrikanischen Christentum identifizierbar sind. Sie können grundsätzlich wie folgt klassifiziert werden: 1. Afrikanische unabhängige Kirchen (AICs), die erstmals Anfang des 20. Jahrhunderts charismatische Erneuerung in das Christentum einführten. Sie werden auch als spirituelle Kirchen (Kirchen des Heiligen Geistes), Aladura (Volksgebet) oder zionistische Kirchen (vor allem in Südafrika) bezeichnet. Diese stellen sich nicht unbedingt als „pfingstlich“ dar, aber sie sind in dieser Kategorie von Interesse aufgrund ihrer Selbstdefinition als Bewegungen, die die Erlebnisse des Heiligen Geistes in der christlichen Anbetung hervorheben und weitgehend Heilungen, Exorzismen und Prophetismus praktizieren. 2. Klassische pfingstkirchliche Denominationen: Dies sind vor allem Kirchen, die von ausländischen Pfingstmissionaren in den 1930er Jahren gegründet wurden. Einige von ihnen haben ihre Ursprünge im Azusa Street Revival, das unter der Führung von William J. Seymour in Los Angeles im Jahr 1906 stattfand. In Südafrika sind sie teilweise noch älter.
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Die bekannteste von ihnen ist die Assemblies of God. Es gibt auch mehrere ursprünglich afrikanische wie die Christ-Apostolic Church in Nigeria, die Church of Pentecost in Ghana, die Church of the Foursquare Gospel und verschiedene andere apostolische Kirchen, die ihre Wurzeln in der pfingstlich-missionarischen Tätigkeit haben, aber im Laufe der Jahre unabhängige Konfessionen wurden. 3. Zeitgenössische Pfingstkirchen: Das sind die neuen, eigenständigen, urbanen und wohlhabenden Kirchen, die seit Ende der 70er Jahre entstanden sind. Sie wurden von indigenen Führern der Charisma-Bewegung gegründet, zugleich sind sie von der nordamerikanischen Teleevangelisation in vielerlei Hinsicht inspiriert worden. Zu den bekanntesten in Afrika gehören Redeemed Christian Church of God, geleitet von Pastor Enoch Adeboye aus Nigeria, die Living Faith Church Worldwide oder die Winners’ Chapel unter der Leitung von Bischof David O. Oyedepo aus Nigeria und die ghanaische International Central Gospel Church von Pastor Mensa Otabil. Sie haben extrem große internationale Kirchen und transnationale Netzwerke mit beeindruckender Medienunterstützung aufgebaut. Diese charismatischen Kirchen appellieren sehr an die aufstrebenden Jugendlichen Afrikas, und ihre innovative und umfangreiche Nutzung moderner Medientechnologien ist ein sehr wichtiges Merkmal ihrer Aktivitäten. Von den drei übergeordneten Arten von pfingstlich-charismatischen Bewegungen, die oben aufgeführt sind, sind die beiden, die uns am meisten beschäftigen, die ursprünglichen pneumatischen Bewegungen, die AICs und die zeitgenössischen Pfingstler oder charismatischen Geistlichen. So verwende ich in dieser Arbeit den kombinierten Ausdruck pfingstlich-charismatisch, um sie als kollektives Phänomen mit vielen gemeinsamen Merkmalen zu bezeichnen. Die Vermittlung spiritueller Macht ist für alle von ihnen entscheidend. Das Phänomen der religiösen Gegenständlichkeit oder die Verwendung von beliebten sakramentalen Substanzen, die wir hier besprechen, ist auch bei einer Vielzahl der indigenen und klassischen Pfingstkirchen zu beobachten. Zum Beispiel betreibt die Pfingstkirche, obwohl sie als klassische Pfingstgemeinde klassifiziert ist, einige der größten Heillager in Ghana, wo die Verwendung von religiösen Gegenständen für die Vermittlung der spirituellen Macht durchaus gängig ist.3 Religiöse Gegenständlichkeit ist nicht nur biblisch, wie ich ausführen werde, sie ist auch ein integraler Bestandteil der traditionellen Spiritualität in Afrika. Afrikanische religiöse Traditionen, einschließlich der indigenen Formen des Christentums, sind eng mit der Verwendung von religiösen Sachwerten oder Substanzen verwoben. Dabei sieht
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Siehe Opoku Onyinah, Pentecostal Exorcism: Witchcraft and Demonology in Ghana, Blandford Forum, 2012.
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es manchmal so aus, als hätten die Kirchen die präreformatorischen Ablässe lediglich in modernen Formen des Glaubens wiederentdeckt.
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Sakramentale Christlichkeit
Das Wort Sakrament hatte einen sehr formalen liturgischen Status innerhalb der historischen Missionskirchen, vor allem im Katholizismus und im gängigen Protestantismus. Sakramente sind bei diesen historisch älteren Konfessionen praktisch gleichbedeutend mit Ritualen, die mit religiösen Übergängen wie Säuglingstaufe verbunden sind, und vor allem für Katholiken auch immer eine Bestätigung. Sie sind formalisierte heilige Praktiken, die die natürlich sichtbaren und übernatürlich unsichtbaren Existenzbereiche verbinden sollen. Obwohl sie das liturgisch formale Wort Sakrament nicht nutzen, standen die zeitgenössischen und neuen religiösen Bewegungen, wie die pfingstlich-charismatischen Gemeinschaften, den in ihren Augen „überritualisierten“ Praktiken der älteren Kirchen immer kritisch gegenüber. Dabei haben sie inzwischen ihre eigenen Ritualpraktiken entwickelt, die sich sehr grundsätzlich auch als sakramental einordnen lassen können, wenn sie das Sichtbare und Physische als Vehikel für das Unsichtbare und Geistige im Kontext religiöser Praktiken definieren. Die Menschwerdung Gottes in Christus wurde oft als der ultimative sakramentale Akt zitiert, da der Geist die menschliche Gestalt annimmt. Für die Christen, schrieb Johannes Macquarrie, ist das Ur-Sakrament Jesus Christus in seiner sichtbaren geschichtlichen Menschlichkeit.4 Im Laufe der Geschichte, so stellt er fest, fand die Inkarnation in Jesus Christus statt, die Manifestation des göttlichen Lebens in einer verkörperten Existenz, die in Raum und Zeit lebte.5 Jesus Christus als dem inkarnierten Wort wird in der Eucharistie bei der Segnung des Brotes und Weines gedacht. Theologen sehen darin die Erfüllung der Passahmahlzeiten, die darüber hinaus auch die Befreiung aus Ägypten im Buch Exodus markieren. Im Kontext des christlichen Glaubens werden die heiligen Elemente des Brotes und Weines, die als heilige Kommunion gefeiert werden, als ein „Mittel der Gnade“ angesehen, und das heißt, sie sollen denjenigen, die daran teilnehmen, die Teilnahme an der Macht Gottes ermöglichen. Doch in den traditionellen Missionskirchen ist die heilige Kommunion auch zu einem Mittel der Einbindung in die Mitgliedschaft in der Kirche geworden. So erfährt z. B. ein römischer Katholik die Heilige Erstkommunion und innerhalb der gängigen evangelischen Traditionen sind die Kommunikanten diejenigen, die zur Gemeinschaft gehören.
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Macquarrie, Sacraments, vii. Ebd., 6.
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Religiöse Gegenstände als Segenszeichen
Im zeitgenössischen Pentekostalismus ist die heilige Kommunion nur für Mitglieder reserviert, und ihre theologische Bedeutung ist noch dehnbarer als wir sie in den historischen Missionskirchen finden. So ist die heilige Kommunion in einigen pfingstlich-sakramentalen Diskursen, wie ich später illustriere, ein Mittel der Bevollmächtigung zur Heilung und zu anderen Durchbrüchen im Leben, und nicht notwendigerweise ein Zeichen der konfessionellen Zugehörigkeit. Das Brot und der Wein sind gleichzusetzen mit anderen religiösen Gegenständen, und ich bin Zeuge von Pfingstlern geworden, die die Kommunion zu ihren Kranken nach Hause tragen, ohne auf einen offiziellen pastoralen Besuch zu warten. Wir werden die Geschichte der religiösen Berührbarkeit von Gegenständen oder der sakramentalen Substanzen, wie ich sie nenne, betrachten und zwar von ihren Anfängen in den Praktiken der AICs des frühen 20. Jahrhunderts bis zu ihrer Neuerfindung im zeitgenössischen Pentekostalismus in Afrika. Das historische Kontinuum ist bedeutsam, weil die klassischen Pfingstkirchen in Afrika – unter anderem wegen ihrer Wurzeln in „fremdländischen“ Pfingstmissionen – die historisch älteren AICs stets für ihre Obsession im Hinblick auf religiöse Gegenstände und die Nutzung von Substanzen kritisiert haben. Genau wegen dieser Praktiken sind die älteren AICs nicht Teil der offiziellen Definition von Pfingstkirchen. Einige der „therapeutischen“ Methoden dieser unabhängigen Kirchen werden als zu nahe an traditionellen religiösen Praktiken, wie sie in einigen lokalen Heiligtümern praktiziert werden, gesehen. Klassische Pfingstkirchen, zumindest in der Zeit bevor die ersten unabhängig wurden, bestanden darauf, dass die Erfahrung des Heiligen Geistes vermittelnde sakramentale Substanzen nicht benötigt. Sie kritisierten den Gebrauch von sakramentalen Substanzen als Praktiken, die den Glauben von Jesus Christus weg und hin zu „magischen“ Dingen verlagerten. Diese wiederum wurden dann der Anker für die Menschen, wenn es Krisen gab, und nicht die Hoffnung auf Gott. Trotz dieser Vorbehalte, die noch in einigen Bereichen des klassischen Pentekostalismus bestehen, ist die Verwendung von religiösen Gegenständen im klassischen und zeitgenössischen Pentekostalismus in Afrika insgesamt neu interpretiert worden. Dies deutet auf mindestens drei Entwicklungen hin: erstens, dass der Ausdruck Sakrament eine weitaus breitere Bedeutung hat, die über die Zuweisung durch die traditionelle Theologie hinausgeht; Zweitens, dass Initiativen im Christentum nicht unbedingt den traditionellen sakramentalen und religiösen Praktiken entgegenstehen müssen; Und drittens, dass die christliche religiöse Erneuerung in Afrika in Form eines Amalgams biblischer und traditioneller Religionen verstanden werden könnte. Mit anderen Worten, was dem afrikanischen Christentum seinen eigenständigen Charakter gibt, ist der Einfluss der traditionellen Weltanschauungen auf seine Überzeugungen und Praktiken. Macquarrie macht in Bezug auf die
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Inkarnation als die ultimative sakramentale Handlung Gottes diese sehr lehrreiche Anmerkung: „Bei jeder Begegnung mit Gott hat er die Initiative. Er kommt zu uns, bevor wir wissen, dass wir ihn brauchen. Wir können Gott niemals manipulieren oder über ihn verfügen.“ Das ist eine Aussage, die wir im Gedächtnis behalten sollten. Vor allem, weil in der Verweigerung der Tatsache, dass die Sakramente oder religiösen Handlungen nicht verwendet werden können, um Gott zu manipulieren, Pfingstkirchen gerne von der gewohnten biblischen Lehre und der theologischen Praxis abweichen, die religiöse Gegenstände als eben solche behandelt. Charismatische Pastoren und beinahe prophetische Figuren nutzen eine breite Palette von Objekten, die manchmal so genutzt werden, als wären sie magische Gegenstände.
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Das Sakramentale im Pentekostalismus
Dieser Beitrag untersucht die Entstehung des Sakramentalismus im afrikanischen pfingstlich- charismatischen Christentum, basierend auf dem, was in diesen Bewegungen als Symbole und Token bekannt geworden ist. In anderen Kontexten sind sie als „Berührungspunkte“ bekannt, d. h. sie erleichtern die Gemeinschaft zwischen den irdisch-natürlich-menschlichen und den himmlisch-übernatürlich-göttlichen Reichen der Existenz. Die hier zu betrachtenden Symbole und Token werden erstens die Elemente der heiligen Kommunion umfassen, zweitens Salböl, und drittens andere religiöse Substanzen, die für die Zwecke der Beförderung der Kraft des Geistes für verschiedene Zwecke eingesetzt werden. Eastwood Anaba fasst dies wie folgt zusammen: „Gott benutzt unzählige Mittel, um seine Macht und Gnade seinem Volk zukommen zu lassen. Einige dieser Mittel umfassen die Verwendung von physischen Objekten und Handlungen wie Öl, Taschentücher, Atem, das Auflegen von Händen und Gesten. In einigen geistigen Kreisen werden diese Gegenstände und Gesten Symbole und Token genannt.“
Diese zeitgenössische Stimme des Pentekostalismus, Pastor Eastwood Anaba, Gründer der Fountain Gate Chapel International und der Eastwood Anaba Gemeinschaft ist weithin bekannt für seinen Einsatz von religiösen Gegenständen und seine Schriften darüber. Er ist nicht der Urheber dieser Dinge, aber sicherlich eine wichtige Figur, wenn es um die Erneuerung von religiösen Gegenständen im zeitgenössischen Pentekostalismus in Afrika geht. Er residiert in Ghana, aber sein Einfluss, wie bei den meisten zeitgenössischen Pfingstführern in Afrika heute, ist transnational, und er erscheint auch auf verschiedenen Medienplattformen und ist ein äußerst verehrter Sprecher des charismatischen Christentums. Wir werden eine Reihe von Schriften von Eastwood Anaba verwenden, um zu versuchen, die
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sakramentale Natur von Symbolen und Token im zeitgenössischen Pentekostalismus zu verstehen. Besonders relevant ist, dass er trotz der weiten Verbreitung einer der wenigen Führer der Bewegung ist, die über dieses Thema auch geschrieben haben. So erklärt Anaba die Beziehung zwischen dem, was er Symbole, Token und den Heiligen Geist nennt: „Ein Token ist ein Gegenstand, der als eine sichtbare oder fühlbare Darstellung von etwas, das abstrakt ist, dient. Wenn wir mit den Gaben des Heiligen Geistes arbeiten, sind Symbole und Token [Gegenstände], die für unsichtbare, geistige Dinge stehen. Zum Beispiel sind Öl, Wein, Wasser und Regen Symbole des Heiligen Geistes in der Bibel, je nach dem Kontext, in dem sie auftreten.“
Eastwood Anaba benutzt das Wort Sakrament in diesem Kontext nicht, auch kein anderer zeitgenössischer Vertreter würde es benutzen. Er benutzt Symbole und Token synonym. Wenn wir also mit der bereits vorgestellten Definition von Sakrament arbeiten, würde ich die Verwendung von Symbolen oder Token als sakramentalen Zweck zur Vermittlung der Macht des Heiligen Geistes im zeitgenössischen Pentekostalismus interpretieren. Symbole und Token dienen im zeitgenössischen afrikanischen Christentum als sichtbare Gegenstände, die die Kraft des Heiligen Geistes in Leben, Gegenstände und Situationen übermitteln. Für die afrikanischen Initiativen des Christentums, mit denen wir uns hier beschäftigen, gilt, dass der Heilige Geist vor allem Gottes bevollmächtigende Präsenz in seinem Volk ist. Es ist Teil des Glaubens, dass er manchmal physische Gegenstände wie die heilige Kommunion, Salböl und religiöse Gegenstände oder Substanzen nutzt, um seine Gnade den Menschen zu bringen. Meine These ist, dass die religiöse Gegenständlichkeit im afrikanischen Christentum von ihren Verwendungen in den AICs zu ihrer Neuerfindung im zeitgenössischen Pentekostalismus die Bedeutung des liturgischen Wortes „sakramental“ weit über sein offizielles Verständnis hinaus erweitert hat.
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Symbole und Token im afrikanisch erneuerten Christentum
Das afrikanisch erneuerte Christentum der pneumatischen Art begann zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf die verkopfte und formalisierte Natur der historischen Missionskirchen. Die größte Unzufriedenheit mit den westlichen Missionskirchen lag in ihrem Widerstand gegen bestimmte Arten von religiösen Ausdrücken und Praktiken. Dazu zählt beispielsweise die Beziehung zwischen Körper und Geist in der Heilung. Die afrikanischen Traditionen haben Krank-
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heiten und andere Unglücksfälle schon immer mit negativen geistigen Kräften, vor allem mit der Hexerei, erklärt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Afrikaner in einer „absichtlichen Welt“ leben, in der die Dinge nicht zufällig passieren. Ereignisse haben Ursachen und deshalb beginnen – in Fällen von Krankheit – die Ätiologie und die Diagnose zum Beispiel oft mit der folgenden grundlegenden Frage: „Wer ist die Ursache meiner Krankheit?“ Die Suche nach Lösungen für Probleme der Krankheit und anderer Unglücksfälle hat die Menschen oft zu traditionellen Heiligtümern geführt, wo Priester und Wahrsager, die als Verwalter von Informationen aus übernatürlichen Reichen gesehen werden, Götter und Gottheiten in der Diagnose konsultieren und Lösungen für Probleme verschreiben. In einigen nigerianischen Stämmen ist der Wahrsager als der Babalawo bekannt, was „Vater der Geheimnisse“ bedeutet. Seine Hauptaufgaben sind Diagnosen durch den Abruf von Informationen aus spirituellen Quellen und die Verschreibung von geeigneten Heilmitteln, die dem normalen Kräuterkundler oder Heilpraktiker unbekannt sind. Das starke Gefühl, dass der Mensch nicht allein im Universum ist, sondern dass wir inmitten von unsichtbaren Mächten sind – wohlwollend und bösartig – bedeutet, dass die Menschen sich durch wohlwollende Mächte bei der Suche nach Interventionen und Schutz gegen die bösen Mächte, die gegen sie und ihre Anstrengungen im Leben arbeiten, beraten lassen. Dieses Konzept von Religion wurde in den Werken der unabhängigen Kirchenpropheten des frühen 20. Jahrhunderts neu erfunden, und dieser Ansatz ist noch immer im afrikanischen Pentekostalismus zu finden. Es ist bei einheimischen Ärzten und Schreinpriestern üblich, verschiedene Arten von Talismanen zu liefern – religiöse Gegenstände –, die am Körper getragen werden können, in Häusern und in modernen Kontexten genutzt und sogar in Büroräumen zum Schutz vor neidischen Konkurrenten oder vor Familienmitgliedern angebracht werden. Dies ist ein religiöses Phänomen, das ausführlich in dem Buch Worlds of Power von Stephen Ellis und Gerrie ter Haar beschrieben wurde.6 Besonders ihre Definition von Religion hilft, meine Interpretation religiöser Gegenständlichkeit in einen klareren Kontext zu setzen. Ellis und Ter Haar zufolge bezieht sich Religion auf den Glauben an die Existenz einer unsichtbaren Welt, die von der sichtbaren verschieden, aber nicht getrennt und von geistigen Wesen mit wirksamen Mächten über die materielle Welt bewohnt ist.7 Die Autoren schließen daraus, dass „effektive Kommunikation“ zwischen der menschlichen und der geistigen Welt möglich ist.8 Ich begründe meine Thesen mit der Tatsache, dass die Verwendung von greifbaren religiösen oder sakramentalen Objekten dazu dienen soll, eine solche Kom 6 7 8
Stephen Ellis / Gerrie ter Haar, Worlds of Power: Religious Thought and Political Practice in Africa, London 2004. Ellis / ter Haar, Worlds of Power, 14. Ebd.
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munikation zu erleichtern, aber in dem angeführten ethnographischen Ansatz werden sie als Quellen der übernatürlichen Macht verwendet. Rijk A. van Dijk beschreibt im folgenden Zitat die Beziehung zwischen der Verwendung religiöser Gegenstände in afrikanischen traditionellen Religionen und ihrer Neuerfindung innerhalb der AICs, die er als „spirituell-heilende Kirchen“ bezeichnet: „Die spirituell-heilenden Kirchen boten Betroffenen Heilung durch den Gebrauch aller möglichen Gegenstände und Substanzen. Während sie die christliche Doktrin und die christlichen Lehren in ihren Praktiken integrierten, boten Kirchen wie die Nazarene Healing Church und die Musama Disco Christo Church Heilung durch die Verwendung von Objekten, die eindeutig aus den Ritualpraktiken stammen, einschließlich der Verehrung der Abosom (Familien- und Ahnengeister) und der Durchführung dieser Verehrung durch die Akomfoo, die damit verbundenen Fetischpriester. Der Gebrauch von Kräutern, Kerzen, Ölen, Bädern, Gebräu, magischen Ringen und dergleichen ist integraler Bestandteil. Er wurde in die symbolischen Praktiken der spirituellen Kirchen ,übersetzt‘ und […] schien dadurch für ein größeres Publikum sehr ansprechend zu sein.“9
Die historischen Missionskirchen und die klassischen Pfingsttraditionen haben diese Quellen übernatürlicher Hilfen bzw. diese Gegenstände und Substanzen (wie van Dijk sie bezeichnet) oft als dämonisch abgelehnt und von ihrem Gebrauch abgeraten. Die AICs wählten einen anderen Weg, indem sie zuerst mit den traditionellen Weltanschauungen der mystischen Kausalität arbeiteten und dann „christliche Alternativen“ zu den traditionellen Ressourcen des Übernatürlichen zur Verfügung stellten. Gegenstände wie spirituelle Seifen, Sand, Taschentücher und vor allem das Olivenöl, das man von AIC-Propheten beziehen konnte, waren weit verbreitet. Darüber hinaus stellten die AICs den rituellen Kontext zur Verfügung, in dem geistige Heilung stattfindet, und Menschen aus allen Lebensbereichen – ohne die Pfingstler und Traditionalisten auszuschließen – besuchten Propheten, um Lösungen für ihre Probleme im Leben zu finden.
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Quellen der religiösen Gegenständlichkeit
Rijk van Dijk hat ausgeführt, wie „Heillager“ ein besonders wichtiger Kontext für den Einsatz religiöser Gegenstände im ghanaischen Christentum geworden sind. In diesen Heilungs- oder Gebetslagern führen verschiedene Propheten und charismatische Individuen exorzistische Varianten von Heilungs- und Befreiungsritualen für Klienten durch, die sich durch böse übernatürliche Kräfte bedroht
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Rijk A. van Dijk, From Camp to Encompassment: Discourses of Transsubjectivity in the Ghanaian Pentecostal Diaspora, in: Journal of Religion in Africa, 27 (1997) 141f.
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fühlen.10 Hier kommen die Menschen zum Gebet zusammen und erwerben dabei auch religiöse Gegenstände, Symbole und Token zum Schutz vor oder zum Umgang mit bereits bestehenden Problemen. Mit anderen Worten, die AICs haben dazu beigetragen, sakramentale Substanzen im afrikanischen Christentum zu popularisieren. Es gibt mindestens fünf Einflussbereiche, wenn es um religiöse Gegenständlichkeit in Afrika geht: 1. Die Übersetzungen der Bibel in verschiedene Sprachen haben den afrikanischen Christen geholfen, Teile der populären Praktiken anzupassen. Nicht nur wurde die Bibel an sich als ein Buch der heiligen Macht betrachtet und in talismanischer Weise verwendet, sondern sie enthält auch verschiedene Teile, in denen religiöse Gegenstände verwendet werden, einschließlich des Elias-Mantels im Alten Testament und der Verwendung von Salbungsölen im Neuen Testament. Ein weiteres Beispiel ist die Nutzung von Salz zur „Heilung des Wasser“ beim Propheten Elischa, das zuvor untrinkbar war (2 Kön 2,19–22). Die Berührung des Gewandes Jesu durch die Frau mit dem Blutfluss im Neuen Testament wird oft als Begründung für die Verwendung von religiösen Substanzen zur Heilung angeführt (Lk 8,43–44). Bei Paulus wurden Taschentücher und Schürzen von seinem Körper verwendet, um Krankheiten zu heilen (Apg 19,11–12). 2. Es gibt traditionelle religiöse Praktiken, deren Einfluss nicht unterschätzt werden darf, weil sie, wie ich schon ausführte, lange vor der Bibel in den volkssprachlichen Schriften beschrieben wurden, z. B. wie die traditionellen Schreinpriester Substanzen für den Gebrauch durch die Klienten ausgaben. 3. Der Islam ging dem Christentum in den meisten Teilen Westafrikas voraus. Besonders wichtig war die Verbreitung von Talismanen und Amuletten, die vor allem die politischen Führer vor Feinden im Krieg schützen sollten. Besonders populär wurden muslimische Geistliche, da sie alle Arten von Zaubern, die von Liebestränken bis hin zu schützenden Substanzen reichten, verteilten, die die Menschen unverwundbar bei Pistolen- und Messerangriffen machten. 4. Die Attraktivität des römischen Katholizismus – immer noch die verbreitetste Konfession in den meisten afrikanischen Ländern – ist ebenso wichtig. Die Verwendung des Rosenkranzes, das populäre Verständnis der Macht der heiligen Kommunion und die Verfügbarkeit von Kerzen und heiligem Wasser im Katholizismus halfen sehr, die religiöse Gegenständlichkeit im afrikanischen Christentum zu verbreiten. Sie wurden deshalb populär, weil ihre Verwendung stark mit den Arten von Gegenständen, die von traditionellen Heilern erhältlich waren, verwandt schien. Die AICs ah-
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van Dijk, Camp to Encompassment, 143.
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men nicht unbedingt traditionelle Priester nach, aber ihre Praktiken werden, auch wenn sie mit biblischen Quellen begründet sind, mit bereits bestehenden traditionellen Praktiken in Einklang gebracht. Diese Verbindungen können im afrikanischen Kontext sehr leicht hergestellt werden, da die Religion als Überlebensstrategie dient. 5. Heutzutage tragen besonders die modernen Medien zur Verbreitung von Erneuerungen in der Religion bei. Religiöse Kanäle sind nach wie vor einige der populärsten Quellen religiöser Praktiken in Afrika, und es ist nicht ungewöhnlich, dass einige Traditionen sogar Praktiken aus anderen Kontexten, wie dem Fernsehen, dem Internet oder den sozialen Medien, übernehmen. Wir werden diese Einflussbereiche des Gebrauchs religiöser Gegenständlichkeit nicht im Detail besprechen. Der Punkt ist, dass diese in den Formen des Christentums, die wir hier betrachten, sehr populär geworden ist und dass Pastoren, Propheten und andere charismatische Führer oft neue religiöse Gegenstände erfinden, gerade so, wie sie es für richtig erachten. Zum Beispiel ist einer der einflussreichsten religiösen Führer in Afrika heute der Prophet T. B. Joshua der Synagogue Church of All Nations mit Sitz in Nigeria. Digitale Satellitenfernsehkanäle sind mit seiner Präsenz geflutet und Menschen reisen aus der ganzen Welt her, um ihn persönlich zu konsultieren und das besondere heilige Wasser zu holen, das der Prophet Joshua für alle Arten von therapeutischen Zwecken verteilt. Als die Nachricht sich verbreitete, dass der Prophet T. B. Joshua Ghana vor ein paar Jahren besuchen sollte, waren die Menschen enttäuscht, als er doch nicht persönlich auftauchte. Stattdessen schickte er ein Team von Menschen, um ein spezielles Salböl zu verteilen. Es war ein regelrechter Menschenauflauf, und die Leute kletterten übereinander, um das Öl zu ergattern. Die Veranstaltung endete damit, dass einige ihr Leben verloren und andere dauerhaft verstümmelt wurden. An dieser Stelle möchte ich die Verwendung von religiösen Gegenständen in sakramentalen Zusammenhängen im afrikanischen Pentekostalismus anhand von drei Beispielen veranschaulichen: erstens die heilige Kommunion, zweitens die Salbung und drittens andere religiöse Substanzen.
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Die Heilige Kommunion: Pfingstkirchliche Vereinnahmungen
Wir haben bereits festgestellt, dass in der gängigen christlichen Theologie Jesus Christus das ultimative sakramentale Prinzip verkörpert. Für gewöhnlich ist auch den Pfingstkirchen die christologische Bedeutung der Sakramente bekannt. Der Theologe Frank D. Macchia sieht als Pfingstkirchler eine enge Verbindung zwischen der Pneumatologie und der Christologie im Hinblick auf den Tisch des Herrn:
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„In Bezug auf das Abendmahl des Herrn ist es höchst bedeutsam, dass die Anamnese des Rückblickens auf den Tod und die Auferstehung Jesu als die Errichtung des Reiches des Herrn eine Epiklese oder Anrufung des Geistes beinhalten sollte. Die christologische Verbindung zwischen den beiden ist die Tatsache, dass Jesus sein unzerstörbares Leben im Geist am Kreuz ausgegossen und es durch den Geist der Heiligkeit wieder aufgerichtet hat, um der Täufer, der mit dem Geist tauft, zu sein. Ohne Jesus als diesen Täufer gibt es keine klare Verbindung zwischen Anamnese und Epiklese. In der Tat wird die Anamnese zur Epiklese im Licht der Auferstehung Jesu aus dem Tod, um so den Geist zu vermitteln.“11
Im pfingstlichen Denken ist die Anrufung des Geistes das Zentrum des Mahls, und der Geist kommt, um die Elemente mit seiner mächtigen Gegenwart zu durchdringen, damit er in die Angelegenheiten des Lebens eingreifen kann. Betrachten wir zum Beispiel eine Predigt, die von Mensa Otabil vor der International Central Gospel Church aus Ghana gehalten wurde, die wir als eine der größten zeitgenössischen Pfingstkirchen im Land bezeichnen können. Er führt aus, dass die heilige Kommunion eine Zeit der „Gemeinschaft mit Christus“ sei und dass die Gemeinde zusammenkomme, um dem Herrn zu begegnen. Viele Bedürfnisse würden bei diesem Gottesdienst erfüllt werden. Und Pastor Otabil ergänzt, dass der Satan geschlagen sei; dass jede dämonische Belästigung gebrochen ist; und wenn Satan irgendeine Krankheit auf deinen Leib gelegt habe, so sei diese im Namen Jesu gebrochen. Diese Art von „spiritueller Kriegsführung“ ist nicht unbedingt etwas, das wir in der traditionellen Liturgie finden. Sie ist typisch pfingstkirchlich, denn in diesem Zusammenhang ist die heilige Kommunion mehr als die „Gemeinschaft mit Christus“. Vielmehr ist sie eine Gelegenheit, seine Macht so anzuwenden, dass Christus in die Probleme eingreift, denen wir im Leben begegnen. Wenn das Abendmahl in diesem Licht gesehen wird, sehen wir sogar eine enge Verbindung zwischen dem Mahl und der Theologie des Wohlstands, die im zeitgenössischen Pentekostalismus zu finden ist. Das Endergebnis ist die aktive Präsenz des Geistes und ihr Wirken in den Elementen. So kann die Kraft Jesu Christi gesehen werden, im Alltag und um Gesundheit, Reichtum und Schutz vor Feinden zu bringen. Diese Kommunion fand Ende Februar 2017 statt, und Pastor Otabil, sagte der Gemeinde als Teil seiner Ermahnung, „im Monat März werden Sie mit der Macht Gottes gehen.“ Diese Auffassung der heiligen Kommunion wurde durch viele persönliche Erlebnisse in verschiedenen Pfingstkirchen bestätigt. Aus Botschaften, die an den Tagen der heiligen Kommunion gepredigt wurden und voll sind von Zeugnissen von Gottes Intervention durch die Teilnahme an der Heiligen Kommunion. In der Kirche von Bischof David O. Oyedepos, die Living Faith Church Worldwide, auch bekannt als Winners’ Chapel in Nigeria, wurde die heilige Kommunion mit-
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Frank D. Macchia, Baptized in the Spirit: A Global Pentecostal Theology, Grand Rapids 2006, 252.
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ten in der Woche an einem Mittwoch gefeiert. Bei Pastor Mensa Otabils International Central Gospel Church in Ghana findet die Feier am letzten Dienstagabend im Monat statt. Nach und nach haben auch andere neue Pfingstkirchen begonnen, diese Gottesdienste wegen ihrer Beliebtheit und der großen Nachfrage bei der Winners’ Chapel und der ICGC anzubieten. Die Praktiken der Heiligen Kommunion unterscheiden sich in Form und Häufigkeit bei den einzelnen zeitgenössischen Pfingstgemeinden. Doch bei fast allen wird betont, dass das Abendmahl des Herrn eine Quelle der Heilung, des Durchbruchs und der allgemeinen Bevollmächtigung ist. In seinem Buch The Pentecostal Principle macht Nimi Wariboko einen sehr wichtigen Punkt, der genau die Flexibilität umschreibt, mit der Pfingstler traditionelle kirchliche Institutionen und Praktiken angehen. Wariboko unterstreicht das Prinzip der „Offenheit“ für göttliche Interventionen, Kommunikation und Überraschungen. In den Worten von Wariboko: Der Heilige Geist ist eine Form des Seins, die für göttliche Überraschungen radikal offen ist, die immer gegen Hindernisse für die menschliche Entfaltung widersteht und dazu verpflichtet ist, neue Lebensmöglichkeiten zu erschaffen, zu verbreitern und zu vertiefen.12 Zu diesem Zweck haben zeitgenössische Pfingstler versucht, den traditionellen Auffassungen von und Vorgaben bei der heiligen Kommunion zu widerstehen, indem sie z. B. die Interpretationen, den Zugang oder die Anforderungen an die ordnungsgemäße Durchführung und sogar die verwendeten Elemente neu erfinden. An den neuartigen Praktiken können wir sehen, wie die Pfingstkirchen versuchen, neue Möglichkeiten für das Leben in ihrer Interpretation dieses Grundsakraments zu schaffen, zu verbreitern und zu vertiefen. Zum Beispiel ist im zeitgenössischen afrikanischen Pfingstdiskurs die sakramentale Bedeutung der heiligen Kommunion in Bezug auf ihre Wirkung nicht anders als die therapeutische und bevollmächtigenende Wirkung der Salbung von Menschen mit Öl. In den meisten Fällen werden Gottesdienste mit Salbungen sogar häufiger abgehalten als solche mit Gabenbereitung. Im Pentekostalismus dienen die Elemente der heiligen Kommunion und der Salbung als Mittel, um die Kraft Gottes durch sichtbare Substanzen zu erleben, die für den Gebrauch durch das Volk Gottes geweiht sind. Denn durch die heilige Kommunion wird die Kraft des Geistes, die durch das Blut Christi wirkt, angerufen, um das Leben zu wandeln. Die Sprache der Macht, wie Daniel Albrecht hervorhebt, war schon immer Teil der Spiritualität der Pfingstler.13 Die christologische Bedeutung der heiligen Kommunion liegt nicht so sehr darin, am Leiden Christi teilzuhaben und mit ihm und einer kämpferischen Kirche in Nach 12 13
Nimi Wariboko, The Pentecostal Principle: Ethical Methodology in New Spirit, Grand Rapids 2012, 130. Daniel Albrecht, Rites in the Spirit. A Ritual Approach to Pentecostal/Charismatic Spirituality, Sheffield 1999, 247.
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folge zu treten, sondern vielmehr im Potenzial für die Stärkung des Menschen, die durch das Brechen des Leibes und das Darreichen des Blutes Christi entsteht. Unsere Interpretationen der heiligen Kommunion, die in den Gottesdiensten der neuen Pfingstkirchen in den frühen 1970er Jahren praktisch fehlten, sollten sich vor allem wegen ihrer therapeutischen und bevollmächtigenden Wirkungen auf ihre allmähliche Einverleibung in die Anbetung konzentrieren. Der Pentekostalismus hat, wie Wariboko bemerkt, einen „spielerischen Charakter“, der das Heilige entweiht, ohne die Sphäre des Heiligen abzuschaffen.14 Es deaktiviert die Aura, die zu den Riten und Geschichten (Mythen) der heiligen Sphäre gehört.15 Um sich der Religion spielerisch zu nähern, wird im The Pentecost Principle weiter erläutert, dass sie als Ausdruck der Freiheit betrachtet wird, eine positive Gewissheit, dass Gott unsere Verehrung, Gebete und Dienste so gestaltet, wie er sie will.16 So fährt Wariboko fort, dass für die Pfingstkirchen die Bedeutung nicht darin liegt, jedes Ziel zu erreichen oder jeden Zweck angemessen zu feiern. Alles wird durch die Beteiligung des Heiligen Geistes beurteilt, und es ist der Geist allein, der es sinnvoll und fruchtbar machen kann.17 Im Gegensatz zu den historischen Missionskirchen, die von der Erhaltung der Heiligkeit der heiligen Kommunion durch den starren Ausschluss des konfessionell Anderen besessen waren, kann ich bei den Pfingstgemeinden kein Beispiel dafür finden, in dem die Teilnahme an der heiligen Kommunion ein Zeichen der Mitgliedschaft ist. In fast jedem Fall waren die Menschen willkommen, an der heiligen Kommunion teilzunehmen, solange sie an die Erlebnispräsenz Jesu Christi als Herr und Erlöser durch die Kraft des Heiligen Geistes geglaubt, sie akzeptiert und nach ihr gesucht haben. Im heutigen Pentekostalismus ist also der Tisch der Kommunion in erster Linie ein Ort der Erlebnisbegegnung.
6.2
Die Funktion der Salbung: Das Salböl
Das zweite sakramentale Prinzip, das im pfingstlich-charismatischen Christentum praktiziert wird, ist die Salbung. Es muss von Beginn an festgehalten werden, dass die Salbung als die Macht des Heiligen Geistes in Aktion gesehen wird. Im heutigen Pentekostalismus ist die Salbung von Menschen funktional. Eastwood Anaba schreibt: „Das Salböl ist nicht gleichbedeutend mit dem Heiligen Geist. Wenn es aber aus dem profanen Kontext genommen und geistigen Zwecken zugewiesen wird, wird es ein Medium für
14 15 16 17
Wariboko, Pentecostal Principle, 131. Ebd. Ebd., 161. Ebd.
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die Übertragung der spirituellen Macht. Die Gegenwart des Heiligen Geistes an einem Ort und die Entfaltung des Heiligen Geistes im Leben der Person, die das Öl trägt, lassen das Öl zum Instrument der Macht Gottes werden.“18
Es gibt ein dreifaches Verständnis der Salbung im zeitgenössischen afrikanischen Pfingstgedanken: Erstens wird das Salböl während des Gebets zur Heilung der Kranken angewendet; zweitens wird die Salbung für die Bevollächtigung verwendet, und dies schließt die Stärkung gegen das übernatürliche Übel und für ein christliches, vorbildliches Verhalten mit ein; und drittens hat die Salbung die Fähigkeit, die Auswirkungen des Bösen umzukehren. Die Salbung hilft Menschen, Gegenständen und Orten zu funktionieren, damit Erfolg und Wohlstand verwirklicht werden. Die häufigste Verwendung des Ausdrucks Salbung tritt auf, wenn Olivenöl auf die körperlich oder geistig Kranken angewendet wird, begleitet von Gebeten. Diese Anwendung von Olivenöl wird in der Regel mit Berufung auf biblische Präzedenzfälle wie Markus 6,13 getan, wo uns gesagt wird, dass die Jünger Jesu viele Dämonen vertrieben und viele Kranke mit Öl gesalbt und geheilt haben. Ein wichtiger Text für die beispielhafte Praxis der Salbung der Kranken mit Öl kommt von Jakobus (5,14–15). Dieser Text ist besonders wichtig für Pfingstler, wenn es darum geht, Öl als Mittel zur Heilung zu benutzen: „Ist einer von euch krank? Dann rufe er die Ältesten der Gemeinde zu sich; sie sollen Gebete über ihn sprechen und ihn im Namen des Herrn mit Öl salben. Das gläubige Gebet wird den Kranken retten und der Herr wird ihn aufrichten; wenn er Sünden begangen hat, werden sie ihm vergeben.“
In einer sehr nützlichen Exegese dieses Textes hat John Thomas festgestellt, dass von den vielen neutestamentlichen Passagen, die die göttliche Heilung befürworten, dies der einzige Text ist, der ein Verfahren beschreibt, das befolgt werden muss. Thomas fährt mit der Feststellung fort, dass die Beziehung zwischen Sünde und Krankheit wegen der abschließenden Worte besonders ist, die besagen, dass, wenn der Patient, für den gebetet wird, gesündigt hat, dieser Person vergeben werden wird.19 Seine Schlussfolgerung ist, dass in diesem Text Jakobus eine fortwährende Möglichkeit zur Heilung befürwortet. Die Salbung mit Öl soll von den Händen der Ältesten durchgeführt und von inbrünstigem Beten begleitet werden, in der Erwartung, dass eine signifikante Besserung eintreten wird. Harvey Cox stellt für die afrikanischen Pfingstkirchen fest,
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Eastwood Anaba, The Oil of Influence, o. O. 2000, 20. John Christopher Thomas, The Devil, Disease and Deliverance, Sheffield 1998, 17.
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„dass der typische Anhänger zu solch einer Kirche zum ersten Mal kommt, wenn er auf der Suche nach Heilung ist, in der Regel für eine Krankheit, die weder durch traditionelle noch moderne Medizin oder durch die Kombination von beidem geheilt werden konnte.“20
Diese Kirchen sind oft innovativ, da im pfingstlichen Glauben die Anwendung von Öl nicht auf die Ältesten beschränkt ist. Auch normale Mitglieder, wenn sie vom Geist geführt werden, können die Kranken mit Öl salben. Wenn es als Mittel zur Heilung verwendet wird, kann man dem kranken Menschen gelegentlich Öl zu trinken geben; dies ist meiner Erfahrung nach der Fall, wenn die Leiden mit inneren Organen zu tun haben. Unter den afrikanischen Pfingstlern wird in der Regel der Ausdruck „Salbung“ in enger Verbindung zum „Charisma“ verwendet. Die Salbung findet häufig bei Personen anwendung, deren Zustand so charismatisch ist, dass sie greifbare Ergebnisse liefert. Dies war es auch, was ein charismatischer Pastor meinte, als er mir gegenüber eine Person als fähig für die Salbung beschrieb, d. h. er war im Besitz der notwendigen Salbung, die die Demonstration der Kraft des Geistes ermöglichte. Wenn eine Person „die Salbung hat“, sollen Zeichen und Wunder seinen Weg begleiten, weil, wie es oft gesagt wird, „die Salbung Ergebnisse bringt.“ Der Rev. Charles Agyinasare ist Gründer und vorsitzender Bischof der Perez Chapel International in Accra, Ghana. Ihm wird die Salbung in besonderem Maße zugeschrieben, weil sein Dienst mit Wundern verbunden ist und auch seine Kirche ein massives Wachstum gesehen hat, seitdem sie vor dreißig Jahren gegründet wurde. Im Jahr 2011 wurde der Bau einer 14.000 Personen fassenden Kathedrale mit dem Namen Perez Dome in Accra abgeschlossen. Das persöliche Zeugnis von Bischof Agyinasare ermöglicht eine Einschätzung, wie diese persönliche Salbung bei einem charismatischen Führer funktioniert. Bischof Agyinasare erklärt die zunehmende Größe seiner Kirche und die Wunder, die seinen Dienst begleiten, mit Salbung durch den amerikanischen Heilungsevangelisten Morris Cerullo. Laut Bischof Agyinasare gelang es ihm mit seinen ersten Predigtversuchen nicht, sehr viele Menschen zu überzeugen. Er suchte also eine mächtigere oder gesalbte Geistlichkeit, durch die, wie es bei Petrus am Pfingsttag geschah, die Menge auf seine Rufe antwortete. Gott, erklärte er, beantwortete sein Gebet, während 1983 die Morris Cerullo School of Ministry in Accra stattfand. Evangelist Cerullo predigte durch eine Videoschaltung, nach der sein Vertreter, ein Rev. Dr. Alex Ness, diejenigen salbte, die in ihrem geistlichen Leben wiederbelebt werden wollten. Seiner Aussage zufolge hörte Bischof Agyinas nach dieser Salbung den Herrn hörbar zu ihm sprechen und dieser versicherte ihm, dass seine Gebete für eine dynamischere Geistlichkeit gehört worden seien. Von da an sagt er: „Ich wurde eine neue Person“, und Zeichen und Wunder sind seinem Dienst seitdem gefolgt.
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Harvey Cox, Fire from Heaven. The Rise of Pentecostal Spirituality and the Reshaping of Religion in the Twenty-First Century, Boston 1995, 246f.
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Heute redet er über die Salbung mit Leidenschaft als das, was seinen Dienst zum Leben erweckt hat. Eastwood Anaba fasst diesen Gedanken wie folgt zusammen: „Wenn die Salbung auf einen Mann herabkommt oder in ihm aufsteigt, wird er starken Drang verspüren, zu sprechen und Menschen zu berühren. Dies wird dazu führen, dass die Menschen wiedergeboren werden; sie fallen unter seine Macht und werden geheilt, während er sie berührt […] Die Salbung unterscheidet dich von anderen Menschen, indem sie deinem Leben den siebenfachen Charakter des Heiligen Geistes verleiht.“21
Der Ausdruck Salbung wird auch im Zusammenhang mit speziellen Diensten verwendet, um den Menschen die Gegenwart Gottes in der Kraft des Geistes zu vermitteln. „Salbung für Veränderung“ und „Salbung für Durchbruch“ sind nur zwei der verschiedenen Arten der Salbung, die in den Salbungsgottesdiensten vorgenommen werden. Durch die Teilnahme an diesen Gottesdiensten können die Anwesenden erwarten, Erfolg und Wohlstand in ihrem Leben zu verwirklichen. Durch das Auftragen von Olivenöl und Gebet wird das Böse im Leben der Menschen, auch der Nationen und Gemeinschaften, umgekehrt, so dass sie befähigt werden, mit den Schwierigkeiten des Lebens umzugehen. Bischof Oyedepo besuchte Ghana vom 30. Juli bis 2. August 2002, um ein Programm mit dem Titel „Maximum Impact Summit“ zu veranstalten. Das Wesen des Programms war es, die persönliche Produktivität zu fördern; Wertesysteme für ein produktives Leben wiederherzustellen und Grundprinzipien für die sozioökonomische Revolution zu propagieren. Die Verbindung zwischen der übernatürlichen Salbung und dem resultierenden Wohlstand ist hier nicht schwer zu sehen. Die Einladung schloss mit einer Aufforderung an die potenziellen Teilnehmer: „Es ist Zeit, den schlafenden Riesen in dir zu wecken; Du bist geboren, um deine Welt zu beeinflussen.“22 Das Programm schloss mit einem Salbungsgottesdienst, der etwa 10.000 Menschen anzog. Einzelpersonen wurden gebeten, sich an der geeigneten Stelle während des Gottesdienstes zu salben. Der faszinierendste Teil war, als Bischof Oyedepo, der eine typische afrikanische TrankopferGebetsform benutzte, Öl auf den Boden schüttete und erklärte, dass durch diese Handlung das Land von Ghana gesalbt worden sei, um fruchtbar zu sein, und das Volk gesegnet, um in allem, was sie damals taten, zu gedeihen. All dies hebt hervor, dass einer der wichtigsten religiösen Gegenstände oder sakramentalen Substanzen im Christentum das Olivenöl ist. Als ein Symbol des Heiligen Geistes
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Anaba, Oil of Influence, 28. Das Programm fand in einem Gebäude der Living Faith Church Worldwide statt, das auch bekannt ist als Winners’ Chapel. Die Kirche wurde 2007 geteilt und arbeitet nun in zwei verschiedenen Kongregationen, eine unter ihrem Gründer, David O. Oyedepo, und die andere unter Bischof George Agyeman, der ghanaische Pastor, der die Abspaltung herbeiführte.
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betrachtet, wird es verwendet, um die Dinge „heilig“ zu machen und für die „Übertragung“ der übernatürlichen Macht zu sorgen. So wird Olivenöl bei der Salbung verwendet, um Menschen geistige Kraft zu verleihen, aber am häufigsten wird es für die Zwecke der Heilung verwendet.
6.3
Religiöse Substanzen: Symbole und Token
Schließlich wollen wir uns dem Gebrauch anderer religiöser Substanzen im sakramentalen Kontext zuwenden. Der Ausdruck Symbole und Token entstammt dem charismatischen Diskurs über Macht und ihre Übertragung. Eastwood Anaba stellt die folgende Begründung für Symbole und Token zur Verfügung: „Wir wissen aus den Schriften, dass Symbole und Token in den Wirkungsweisen des Heiligen Geistes verwendet werden und Öl ist eines dieser Symbole. Es wird auf Menschen als Zeichen des Heiligen Geistes angewendet, der so auf sie kommt und in ihnen arbeitet. Es kann gerieben oder gegossen werden, um verschiedene Aktivitäten des Heiligen Geistes zu symbolisieren.“23
Pastor Eastwood Anabas grundlegendes Argument ist, dass Gott unzählige Mittel benutzt, um seine Macht und Gnade seinem Volk zu übereignen. Die Auflistung Anabas enthält auch „physische Objekte und Aktivitäten“ wie Öl, Taschentücher, Atem, die Handauflegung und Gestik.24 Wir haben zu Beginn gelernt, dass die Bibel eine wichtige Quelle für den Gebrauch von Symbolen und Token im zeitgenössischen Pentekostalismus ist. In seinem Buch Symbols and Tokens Explained führt Eastwood Anaba die folgenden Beispiele an: den Stab von Moses, den er für Zeichen und Wunder benutzte; Elischa bittet König Joas, Pfeile zu schießen; Elischa heilt das Wasser von Jericho mit Salz; die Verwendung des Gewandes Jesu bei der Heilung einer Frau und seine Verwendung von Speichel, um die Blinden zu heilen; der Schatten des Petrus, der die Menschen heilt und so weiter und so weiter. Es ist Anabas Interpretation des biblischen Materials, die für unsere Zwecke wichtig ist. In diesem Denken benötigen selbst die Propheten des Alten Testaments und Jesus Christus, der Sohn Gottes, sowie die frühen Apostel Symbole und Zeichen im Dienst der Macht Gottes. Deshalb muss es gute Gründe dafür geben, warum Gott seine Diener dazu anhält, Symbole und Token zu benutzen.25 Ein wichtiger Grund, der von Anaba für die Verwendung von Symbolen und Token gegeben wird, ist, dass sie bei der Multiplikation der geistlichen Kraft helfen. Dies ist eine sehr aufschlussreiche Aussage, da die Verwendung von religiösen Gegenständen den 23 24 25
Eastwood Anaba, Symbols and Tokens Explained, Bolgatanga 2012. Ebd., 9. Ebd., 46.
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Einfluss des Nutzenden über seine körperliche Reichweite hinaus ausdehnt. Als Paulus von zu vielen kranken und unterdrückten Leuten umgeben war, um eine einzelne Person zu behandeln, bemerkte er, dass Schürzen und Taschentücher von seinem Körper genommen und auf die Betroffenen gelegt wurden und diese sie heilten. Mit anderen Worten: die „Salbung des Paulus“ wurde durch Taschentücher und Schürzen zu den Kranken getragen.26 Zu diesem Zweck bilden in den zeitgenössischen Pfingstkirchen Symbole und Token oder religiöse Gegenstände und sakramentale Substanzen Speicherorte charismatischer Gnaden, die beim christlichen Anführer vorgefunden werden und dann außerhalb seiner unmittelbaren physischen Umgebung wirken können. Das erklärt auch das Gezeter um das heilige Öl des Propheten T. B. Joshua, das zu den tragischen Todesfällen von Menschen in Ghana führte. Er war damals nicht in Ghana, aber das religiös fühlbare Öl, das von ihm kam, wurde als verzaubert genug angesehen, um allen therapeutischen oder interventionistischen Zwecken zu dienen, für die die Menschen sie brauchten. Eastwood Anaba liefert das folgende Beispiel religiöser Gegenständlichkeit aus seiner eigenen Erfahrung: „Vor einigen Jahren erlebte ich eine großartige Bewegung des Geistes bei einem Lagertreffen der Victory Bible Church in Accra, Ghana. In einem der Gottesdienste fühlte ich eine große Salbung und ich ging durch die Menge von Tausenden, die die Hände für die Übertragung von Gaben, Heilung und Befreiung hochhielten. Die Menge war so überwältigend, dass ich vom Geist zu einem gewissen Punkt geführt wurde, um meine Schuhe auszuziehen und sie in der Gemeinde herumzugeben. Ich schickte einen der Schuhe an den Teil der Gemeinde zu meiner Rechten und den anderen zu meiner Linken. Die, die die Schuhe berührten, erhielten die Salbung, als sie geheilt wurden, und viele erhielten sie, indem sie durch die Wirkung der Salbung auf den Boden fielen. In der Halle vielfachte tatsächlich die Übertragung des Geistes auf die Schuhe die Salbung in mir. Es waren drei ,Geistliche‘ – ein Mensch und zwei Schuhe.“27
Bei einer anderen Gelegenheit erklärt Anaba, wie er vom Heiligen Geist angeleitet wurde, seine Manschettenknöpfe durch eine Gemeinde von etwa 3.000 Menschen wandern zu lassen. „Die Kraft Gottes fiel auf diejenigen, die sie berührten“, bemerkt er, und „sie wurden geheilt.“ In seinen Worten: „Dieses Wunder der Manschettenknöpfe, die die Salbung tragen, vervielfachte mich und reduzierte meinen Aufwand.“28 Symbole und Token machen es auch möglich, dass die Salbung einer charismatischen Person durch andere wirken kann. Pastor Anaba gibt ein Beispiel, in dem ein Kollege dazu geleitet wurde, ein Taschentuch aus seinem Koffer zu nehmen. Er war damals abwesend, aber dieser Pfarrer glaubte an das Taschentuch, das die Salbung Anabas trug, und die Menschen fühlten die Macht Gottes,
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Ebd., 53. Ebd., 56. Ebd., 57.
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als dieser Kollege die Menschen mit dem Taschentuch, das nicht sein eigenes war, berührte.29 Wir haben am Anfang erwähnt, dass John Macquarrie auf die Gefahr der Sakramente aufmerksam macht, die in Aberglauben und Magie entgleiten können. Pastor Eastwood Anaba scheint sich dessen bewusst zu sein, dass diese Vorkommnisse leicht zu Anschuldigungen der Verwendung von Magie im Christentum führen könnten. In den Medien in Afrika, wo religiöse Fragen, vor allem Missbräuche, häufig diskutiert werden, gab es Bedenken, dass die Menschen ihren ganzen Glauben an diese religiösen Handlungen hängen könnten und sie sich in ihrer Phantasie um ihrer selbst willen heiligen. So warnt Eastwood Anaba, dass wir nicht immer Symbole und Token brauchen, um die Vermittlung des Heiligen Geistes und der Heilung zu erhalten. Er stellt fest, dass der Gehorsam gegenüber Gottes Wort die wichtigste Tatsache ist, wenn Wunder und Segen von Gott empfangen werden. Anaba schreibt: „Es ist eine Tatsache, dass Gläubige, die starke Beziehungen zu Gott haben und den Glauben an das Wort Gottes entwickeln, die Kraft Gottes ohne Symbole und Token erhalten. Der Gebrauch von Symbolen und Token ohne Gehorsam gegenüber Gott, Heiligkeit und die Erkenntnis des Wortes Gottes ist gleichbedeutend mit Magie.“30 Wie Macquarrie es sagen würde, ist es nicht menschlicher Glaube, simple Aktivitäten oder Erwartungen oder sogar die Macht der religiösen Funktionäre, die die Begegnung mit Gott hervorbringt. Sakramente, stellt er fest, sind keine menschlichen Erfindungen, um Gott in unserer Bequemlichkeit zu beschwören.31
Fazit: Religiöse Gegenständlichkeit und das Wesen des afrikanischen Pentekostalismus Es gibt mehrere Begriffe und Ausdrücke, die wir in den Ausführungen über die Verwendung von religiösen Gegenständen im afrikanischen Christentum angetroffen haben. Erstens ist klar, dass es keinen akzeptablen Bereich von festgelegten oder spezifizierten Substanzen gibt, die für die Verwendung als religiöse Gegenstände klassifiziert werden können. Das Spektrum der Substanzen, die als sakramental gelten, wurden um solche physischen Elemente wie Seife, Sand, Öl, Schuhe, Manschettenknöpfe und Wasser erweitert, aber sie können auch unkörperliche Gedanken oder der Atem eines gesalbten charismatischen Pfarrers sein. Zweitens ist das Hauptziel bei der Verwendung religiöser Gegenstände durch 29 30 31
Ebd. Ebd., 60. Macquarrie, Sacraments, 6.
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afrikanische Pfingstler die Vermittlung von übernatürlichen Interventionen, insbesondere von Heilung. Drittens könnten religiöse Gegenstände auch für die Übertragung der spirituellen Macht verwendet werden. Das Mindestmaß bei der breiten Verwendung von religiösen Gegenständen oder sakramentalen Objekten im afrikanischen Pentekostalismus ist im Allgemeinen die Verfügbarkeit der spirituellen Macht. Wir können hier an die „Salbung“ denken, die oft von einer charismatischen Persönlichkeit getragen wird und die sehr leicht auf konkrete Gegenstände zur Verwendung durch andere übertragen werden kann. Mit anderen Worten, religiöse Gegenstände werden an sich nicht als wirksam angesehen. Es gibt eine Beziehung zwischen der charismatischen Macht eines Pfarrers und den religiösen Substanzen, die von ihm kommen. Das traditionelle Sakrament der heiligen Kommunion entwickelt im zeitgenössischen Pentekostalismus zunehmend ein ähnliches Verständnis der religiösen Riten. Diese Neuerungen können dazu beitragen, besser zu verstehen, was die Afrikaner bei der Religion für wichtig halten, aber die Gefahr, dass die Nutzung von Gegenständen in den Aberglauben und die Ausbeutung der Empfindlichkeiten und Schwachstellen anderer Menschen degenerieren kann, ist auch sehr real. Übersetzung aus dem Englischen: Torsten Wieschen
Symbole dessen, was wir berufen sind zu werden Sakramente in einer postsäkularen und postchristlichen Gesellschaft
Lieven Boeve
Im letzten Dezember, nur wenige Tage vor Weihnachten, war im niederländischsprachigen Teil Belgiens eine virulente Debatte bezüglich der Frage zu verfolgen, ob es legitim gewesen sei, dass Angestellte der Stadt eine christliche Krippe aus dem Rathaus in Holsbeek entfernen ließen. Einige beklagten, dass die Präsenz eines solchen religiösen Symbols an einem offiziellen und öffentlichen Ort die verfassungsgemäße Trennung von Staat und Kirche missachte, was wiederum als ein Verstoß gegen den zwingend erforderlichen neutralen oder säkularen Charakter, dem eine Stadtregierung verpflichtet ist, empfunden wurde. Unter den Kritikern waren Mitglieder des organisierten Atheismus’ Belgiens. Andere konstatierten, dass der Gebrauch eines solchen christlichen Symbols Angehörige anderen Glaubens, insbesondere Muslime, verletzen könnte und aus diesem Grund beseitigt werden sollte. Wiederum andere ergänzten, dass Menschen auch durch die kirchliche Sicht auf Homosexualität und dergleichen verletzt werden; auch die Missbrauchsopfer könnten ein solches Symbol ablehnen. Diese Diskussion löste unmittelbar eine Gegenreaktion bei Menschen aus, die aussagten, dass das Aufstellen einer Krippe an Weihnachten zu „unserer“ europäisch-kulturellen Identität gehöre, und dass das Entfernen der Krippe „wieder“ die Unterwerfung Europas durch den Islam vorantreibe.1 Für diese Stimmen ist die Krippe in erster Linie ein kulturelles Symbol, das für „die“ europäische Identität wesentlich ist. Andere reagierten, indem sie darauf hinwiesen, dass die Krippe nicht nur ein kulturelles, sondern auch ein religiöses Symbol sei, was einige wieder provozierte, für den Abbau der Krippe an einem öffentlichen Ort zu plädieren,
1
Diese Wendung verweist auf den Titel eines Romans des französischen Autors Michel Houellebecq (Soumission, Paris 2015), der erzählt, wie sich Frankreich problemlos in ein Land verwandelt, das vom islamischen Gesetz beherrscht und von einem muslimischen Präsidenten regiert wird.
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während andere dagegen erneut Einwände vorbrachten. Vor allem in einer Zeit des Aufruhrs, bedingt durch Terror, Flüchtlinge, Ruhelosigkeit, Polarisierung etc., könnte besonders heute die religiöse Bedeutung von großer Wichtigkeit sein, sowohl für Christen, aber auch für die anderen. Weihnachten erinnert uns dann daran, dass uns durch die Macht der Liebe dort Frieden gebracht wird, wo wir es am wenigsten erwarten, in einem Kind, in einer Krippe, kostbar aber auch verwundbar. Diese religiöse Bedeutung lässt sich nicht einfach der kulturellen Bedeutung hinzufügen, sie macht hingegen den Kern der kulturkritischen Dimension deutlich, was wieder diejenigen verletzen könnte, die für eine strikte Trennung von Staat und Kirche plädieren … Das ist nur ein Beispiel für die Diskussionen, die heute innerhalb der europäischen Gesellschaft, oft in den sozialen Medien, geführt werden. Die Frage der Identität, sowohl individuell als auch kollektiv, sowohl kulturell als auch religiös, steht an der Spitze der grundlegenden Werte unserer Zeit. Ist die europäische Identität wegen der zunehmenden Präsenz anderer Religionen, insbesondere des Islams, bedroht? Sollten „wir“ – wieder einmal – den Platz der Religion in „unserer“ Gesellschaft überdenken und sie komplett privatisieren? Oder im Gegenteil: Sollten wir uns um ihre öffentliche Rolle, viel mehr als wir es zuvor taten, kümmern? Wie kann man damit in einer Gesellschaft, in der Polarisation zu einem unlösbarem Extremismus und daher einer vergeblichen Suche nach Nuancen, nach Konsens und nach Beziehung zu führen scheint, umgehen? Wie können wir damit als Christen und christliche Gemeinschaften umgehen, während wir Teil unserer polarisierenden Gesellschaft und gleichzeitig dahingehend gefordert sind, sowohl gemeinschaftlich als auch individuell in unserem Leben Zeugnis für die Frohe Botschaft abzulegen? Worin liegt die kulturelle und religiöse Bedeutung einer Krippe an Weihnachten an einem öffentlichen Ort für einen Christen? Denn es scheint, dass die Krippe ein „Symbol dessen, was wir sind“, ist, genauso wie die Sakramente es sind (um auf den Titel unseres Kongresses Bezug zu nehmen). In diesem Beitrag werde ich vor allem von einer sowohl kulturtheologischen als auch fundamentaltheologischen Perspektive aus die Konsequenzen dieser Situation für eine gegenwärtige Reflexion des Verhältnisses zwischen christlichem Glauben und dem Kontext, insbesondere den Standort der Sakramente innerhalb dieses Kontextes, fokussieren. Zunächst analysiere ich den gegenwärtigen westeuropäischen Kontext, der als Folge von sozialen Prozessen wie Enttraditionalisierung, Individualisierung und Pluralisierung ein postchristlicher und postsäkularer ist. So zeige ich zunächst die veränderte Art und Weise auf, nach der die individuelle und gemeinschaftliche Identität innerhalb dieses Kontextes und hinsichtlich ihres narrativen Charakters aufgebaut ist. In einem zweiten Schritt stelle ich dar, wie diese Analyse uns dabei behilflich sein kann, die Art und Weise zu reflektie-
Symbole dessen, was wir berufen sind zu werden
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ren, nach welcher Sakramente als Identitätsmarker im gegenwärtigen Prozess des Identitätsausbaus – als Symbol dessen, was Menschen sind – funktionieren. Im dritten Teil entfalte ich ein kulturtheologisches Argument dafür, dass es sich bei Sakramenten nicht nur um „Symbole dessen, wer wir sind“, sondern vor allem auch um „Symbole dessen, was wir berufen sind zu werden“, handelt. Im vierten und letzten Teil werde ich mit dem fundamentaltheologischen Hintergrund dieses Argumentes aufzeigen, wie ein Dialog mit zeitgenössischen Philosophien der Differenz nicht nur bedenkenswerte Kritik an unserem theologischen Verständnis von der Liebe Gottes aufweist, sondern uns auch dabei helfen kann, göttliche Liebe in einer nicht-totalitären, sondern erlösenden Art zu überdenken. Sowohl im dritten als auch vierten Abschnitt wird die Kategorie der Unterbrechung, die es ermöglicht, außerhalb des Gegensatzes von Kontinuität und Diskontinuität zu denken, uns in unseren Überlegungen behilflich sein.
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„Wer sind wir?“: Identitätsbildung in einer postsäkularen und postchristlichen Gesellschaft
Wie ich schon verschiedentlich aufgezeigt habe2, kann die religiöse Situation Europas mit den Begriffen postsäkular und postchristlich untersucht werden. Postchristlich: Säkularisierungs- und Enttraditionalisierungsprozesse haben die quasi unhinterfragte Position des Christentums, die eine kollektive und individuelle Identität bot, verändert. Heute ist die Gesellschaft allerdings auch postsäkular: Religiöse Pluralisierung hat unter anderem die Allgegenwart der Säkularisierung als die einzige Erklärung für die heutige religiöse Situation in Frage gestellt.3 Die Tatsache, dass Traditionen, sowohl religiöse als auch andere, ihr selbstverständliches Gegebensein (Enttraditionalisierung) verloren haben, aber auch eine Vielzahl von Ressourcen verfügbar wurden (Pluralisierung), haben die Art, wie Identität heute aufgebaut ist, verändert. Viel mehr als zuvor ist die Identitätsbildung zu einer (strukturell) reflexiven Aufgabe geworden, die Auswahlmöglichkeiten mit einbezieht und in einem Kontext, in dem viele Optionen verfügbar sind, Entscheidungen einfordert. Individualisierung steht demzufolge für den Prozess der
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Vgl. v. a. Lieven Boeve, God Interrupts History: Theology in a Time of Upheaval, New York 2007, Kap. 1; Lieven Boeve, Theology at the Crossroads of University, Church and Society: Dialogue, Difference and Catholic Identity, London / New York 2016, Kap. 2. Zur Sicherheit: „post“ in postchristlich und postsäkular bedeutet nicht wörtlich „nach“, aber verweist auf die Tatsache, dass sich unsere Einstellung gegenüber Christentum und Säkularisierung verändert hat (ähnlich wie postmodern sich nicht auf das Ende der Moderne bezieht, sondern eher die Transformation des Modernen bedeutet).
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Identitätsbildung in einer Zeit, in der Identität nicht nur nicht mehr selbstverständlich, sondern auch wirklich unsicher ist: Sie bezieht immer Entscheidungen mit ein und könnte immer anders sein. Vor allem sind wir uns der Tatsache bewusst geworden, dass viele Entscheidungen, und nicht nur die unwichtigen, von sehr zufälligen Umständen abhängig zu sein scheinen: unsere Berufswahl, unsere Partnerwahl, religiöse Zugehörigkeit … Es gehört zur spezifischen Partikularität unseres Lebens, dass diese Entscheidungen eingebettet sind, und wenn wir sie erklären wollen, können wir dies oft nur, indem wir die Geschichte erzählen, wie und warum wir diese Entscheidungen treffen konnten. Dies hat einige dazu bewogen, daran festzuhalten, dass Identität narrativ strukturiert ist.4 Ein Ergebnis ist, dass auch zunehmend die eher traditionellen Entscheidungen individualisiert sind, da sie der Enttraditionalisierung und Pluralisierung unterzogen werden. Individuen, die traditionelle Entscheidungen treffen, z.B. ihre Kinder taufen zu lassen, regulär in die Kirche zu gehen etc. tun dies auf eine posttraditionelle Art. Sie wissen nur allzu gut, dass diese Entscheidungen nicht selbstverständlich sind, und mehr noch, dass sie diese rechtfertigen müssen – häufiger als Menschen, die solche Entscheidungen nicht treffen. Ein Teil der gegenwärtigen Pluralität in Glaubenshaltung und Glaubenspraxis lässt sich so erklären.5 Wir können sogar noch einen Schritt weitergehen: Auch neotraditionelle oder fundamentalistische Positionen, für die man sich entscheidet, um eine Tradition gegen den Identitätsverlust und die Unsicherheit des aktuellen Kontextes aufrecht zu erhalten, sind als posttraditionelle Entscheidungen zu bewerten. Dies lässt sich vor allem dann aufzeigen, wenn man den Blick auf die oftmals sehr selektive Wiederherstellung traditioneller Elemente, die bei solchen Positionen anzutreffen ist, richtet.6 Wenn man näher hinsieht, ist, was Belgien betrifft, die aktuelle religiöse Situation sehr mannigfaltig geworden. 20117 bezeichnete sich fast die Hälfte der Bevölkerung selbst als katholisch; einige bezeichneten sich als Protestanten, 0,4 % als Juden, 5 % als Muslime, 0,3 % als Buddhisten, 9,2 % als Atheisten und 32,6 % der Menschen gaben an, dass sie keiner religiösen Denomination angehören. Im Ver-
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Vgl. in diesem Zusammenhang das wertvolle Werk von Paul Ricoeur; vgl. für eine theologische Beurteilung und weitere Referenzen meinen Artikel: Naming God in Open Narratives: Theology between Deconstruction and Hermeneutics, in: J. Verheyden / T. L. Hettema u. a. Paul Ricoeur: Poetics and Religion (BETL 240), Leuven 2011, 81–100. Soziologen verweisen auf dieses Phänomen als einen „à-la-carte-Glauben“. In der römisch-katholischen Kirche veranschaulichen v. a. das Wiederbeleben der vorkonziliaren Traditionen dies besonders deutlich. Vgl. Koen Abts / Karel Dobbelaere u. a., Nieuwe tijden, nieuwe mensen. Belgen over arbeid, gezin, ethiek, religie en politiek, Tielt 2011, 143–172. Für weitere Informationen zur „European Values Study“ siehe: http://www.europeanvaluesstudy.eu/.
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gleich zu dem Jahrzehnt zuvor8 muss das eindrucksvolle Wachstum dieser letzten Gruppe beachtet werden9, aber auch der relativ konstante Status des prozentualen Anteils von Atheisten. Dass man zu keiner religiösen Denomination gehört, impliziert nicht zwangsläufig, dass man nicht auch weiterhin religiös ist – ganz im Gegenteil: Eine große Mehrheit der „entkirchlichten“ Menschen behauptet, für das Spirituelle, für erlebte Momente des Gebetes oder der Meditation sensibel zu sein und misst religiösen Übergangsriten Bedeutung zu. Gleichzeitig ist bei denjenigen, die sich als katholisch identifizieren, die regelmäßige kirchliche Beteiligung auf nur einen geringen Prozentsatz in den jüngeren Generationen signifikant gesunken. Diese Zahlen verdeutlichen sehr gut, was den postchristlichen und postsäkularen Charakter unseres aktuellen Kontextes ausmacht. Das selbstverständliche Wesen der katholischen Option und alles, was diese nach sich zieht (d. h. einschließlich der Sakramente) ist verschwunden, sogar für diejenigen, die sich selbst als katholisch identifizieren. Gleichzeitig kann die Enttraditionalisierung nicht einfach mit der Säkularisierung gleichgesetzt werden, und insbesondere nicht mit der Säkularisierungsthese, die besagt, dass der wachsende Einfluss des Modernen zu einer säkularen oder areligiösen Gesellschaft führen wird: Neben dem Islam macht sich eine wachsende Anzahl von Menschen, insbesondere in den jüngeren Generationen, die sich weder mit einer speziellen Denomination noch mit Atheismus identifizieren, in der heutigen religiösen Landschaft breit. Mehr noch werden diejenigen, die sich für eine endgültig säkulare, und damit areligiöse Auswirkung von gesellschaftlichen Prozessen aussprechen, heute als Säkularisten wahrgenommen, die den Säkularisierungsprozess als ein Programm, das zu verwirklichen ist, neu ausrichten. Zusammen mit der Fülle von sowohl institutionellen als auch nicht-institutionellen religiösen Positionen ist auch der Säkularismus zu einem Akteur in der gegenwärtigen religiösen und ideologischen Szene geworden.10 Wegen des nicht mehr selbstverständlichen, unsicheren und individualisierten Wesens der Identität ist Identitätsbildung zu einer (letztlich strukturellen) reflexiven Aufgabe für alle geworden, ohne Rücksicht darauf, ob sich alle Individuen an dieser Reflexivität beteiligen. In der Lage zu sein, das besondere Wesen der Identitätsbildung in einem Kontext von Pluralität, Kontingenz und Differenz bewältigen zu können, ist die Aufgabe aller, sowohl in einem individuellen als auch kol-
8 9
10
Vgl. Karel Dobbelaere / Mark Elchardus u. a.., Verloren zekerheid. De Belgen en hun waarden, overtuigingen en houdingen, Tielt 2000. Es wäre sinnvoll zu untersuchen, ob diese Gruppe im Bereich der „nones“ antwortet, wie u. a. beschrieben bei Linda Woodhead, The Rise of ‘No Religion’ in Britain: The Emergence of a New Cultural Majority, in: Journal of The British Academy 4 (2016), 245–261. Wie „neue Atheisten“ die Evolutionstheorie nutzen, um ein Säkularisierungsprogramm für unsere Gesellschaft zu begünstigen, wäre hierfür eine gute Veranschaulichung.
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lektiven Sinne. Indem Identitäten narrativ strukturiert sind, können sie hinsichtlich der Art und Weise, in der sie diese Reflexivität zulassen oder erleichtern, unterschieden werden. Narrative Identitäten, die sich ihrer unvermeidlichen Teilnehmerperspektive, der am Aufbau von Identität beteiligten Partikularität und Kontingenz, und der Herausforderungen, die sich durch andere bei der Identitätsbildung stellen, bewusst sind, scheinen geeigneter zu sein, in einer Zeit, in der Identität nicht mehr selbstverständlich ist, auf angemessene Weise Identität aufzubauen. Fähig zu sein, konstruktiv mit Alterität und Differenz umgehen zu können, scheint das Kriterium zu sein, um zwischen angemessenen und nicht angemessenen Wegen der Identitätsbildung zu unterscheiden. Letztere erfüllen diese Aufgabe nicht: Sie versuchen, den Herausforderungen zu entkommen, die sich bei der Identitätsbildung durch die strukturelle Unsicherheit, Kontingenz und Partikularität ergeben; und indem man sich so verhält, findet keine Beteiligung am besonderen, reflexiven Charakter der heutigen Identitätsbildung statt. Für die meisten von ihnen ist die kritisch-reflexive Suche nach Identität zwecklos geworden, da sie entweder durch Relativismus, Nihilismus, Individualismus, Konsumdenken aufgelöst oder durch Neotraditionalismus, Extremismus und Fundamentalismus verhärtet ist.11 Bei diesen Positionen wird Alterität entweder herabgesetzt oder dem gegenübergestellt, was Unsicherheit verursacht und die eigene Identität bedroht. Diese unzureichenden Wege der Identitätsbildung, die von vornherein Alterität herabsetzen oder ausschließen, erlauben es der Alterität nicht, einen Unterschied in der Identitätsbildung zu machen. Die narrative Struktur solcher Identitäten riegelt sich selbst von der Herausforderung ab, die die Differenz beim Aufbau der Erzählung erzeugen kann. In Erzählungen, die mit Differenz umgehen können, sog. „offene Erzählungen“, kann Differenz eine Dynamik erzeugen, die durch die Infragestellung konstruierter Identität paradoxerweise Möglichkeiten für eine angemessene Identitätsbildung eröffnet.12
11
12
In dieser Hinsicht sollte man vorsichtig sein, um nicht die Prozesse (wie Individualisierung, Pluralisierung, Säkularisierung …) mit den ideologischen Positionen oder Programmen (Individualismus, Pluralismus, Säkularismus …) zu verwechseln. Diese Positionen können als Reaktionen auf die Prozesse gelten und sind durch diese ermöglicht worden, aber sie sind nicht die einzig möglichen Reaktionen. Das ist der zentrale Punkt aus meinem Werk: Interrupting Tradition. An Essay on Christian Faith in a Postmodern Context (Louvain Theological and Pastoral Monographs 30), Leuven 2003.
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Postchristliche und postsäkulare „Symbole dessen, was wir sind“
Auch für Christen und christliche Gemeinschaften, die mit einer strukturellen Unsicherheit zurechtkommen müssen, ist das zufällige und nicht mehr selbstverständliche Wesen der Identitätsbildung zu einer Aufgabe geworden. Und auch innerhalb ihrer Kreise begegnet man dieser Herausforderung auf verschiedene Arten, angefangen bei den eher konsumorientierten und den verhältnismäßig „soft“-christlichen (oder „soft“-säkularen?) Glaubenseinstellungen und Glaubenspraktiken auf der einen Seite bis hin zu neotraditionalistisch starken Identitäten, die sich einer Welt widersetzen, die von Nihilismus, Relativismus und Konsumdenken geprägt ist. Ausgehend von einer kulturtheologischen Perspektive veranschaulicht die Stellung der Sakramente und der sakramentalen Praxis besonders gut die Art und Weise, in der der christlicher Glaube mit dem gegenwärtigen Kontext zusammenhängt. Zunächst bezeugt die dramatisch zurückgegangene Praxis, wöchentlich eine Messe zu besuchen, den postchristlichen Charakter unseres Kontextes. Gleichzeitig veranschaulicht die verhältnismäßige Beständigkeit der Übergangsriten (Taufe, Erstkommunion, Firmung, Ehe und Begräbnisse) den postsäkularen Charakter: Postchristlich impliziert nicht areligiös. Es stellt sich allerdings die Frage, ob diese Übergangsriten eher in einer „soft“christlichen oder sogar „soft“-säkularen Weise wirken, indem sie in Zeiten von Unsicherheit und Kontingenz Sinn stiften. Wie ich schon an anderer Stelle geschrieben habe13, könnte eine theologische Analyse der Funktionsweise solcher rituellen Praktiken aufzeigen, dass die beteiligte religiöse Sensibilität oftmals eine vage Religiosität vermittelt (manchmal bezugnehmend auf einen „something“ismus: „Ich glaube, dass da noch irgendwas ist“), und eben nicht, dass sie christlich strukturiert sind. Wenn man die Situation ausgehend von einer Säkularisierungsperspektive betrachtet, kommen Fragen auf, warum Menschen immer noch an den Sakramenten teilhaben wollen, da man eigentlich auf Grund des Säkularisierungsprozesses erwarten würde, dass sie nicht mehr teilnehmen. Mit dieser Perspektive verweist postchristlich im wörtlichen Sinn auf ein „Nach“-Christentum. Ausgehend von einer Pluralisierungsperspektive ist es besser, wenn man die verschiedenen Praktiken unterscheidet und untersucht, in welcher Weise das Praktizieren konstitutiv für die Identitätsbildung in einer Zeit der Enttraditionalisierung, der Pluralisierung und der Individualisierung ist. Was aus der Perspektive der Säkularisierung auf einer Skala von christlich bis säkular bzw. von Christ bis Säkularist analysiert wird (wobei die Tendenz zur säkularen Position steigt), erscheint innerhalb einer Pluralisierungsanalyse als die Verschiedenheit von
13
Vgl. Boeve, God Interrupts History, Kap. 5 und 7.
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Praktiken, Zugehörigkeiten, Identifikationen, Erzählungen etc. und dies innerhalb der pluralen religiösen und ideologischen Gegenwart der aktuellen Gesellschaft.14
Christians
Indifferents
Hindus
Wicca
Buddhists Post-Christians
Muslims
Atheists
In dieser Hinsicht sind religiöse Praktiken im Allgemeinen und die Sakramente im Besonderen, und vor allem die Art und Weise, wie sie kulturell funktionieren, Symbole dessen, wer Menschen sind, und fungieren als solche in den narrativen Identitäten. Es handelt sich um Identitätsmarker, die konstitutiv für Identitäten sind. Sie bezeugen nicht mehr länger eine christliche Identität, die langsam aus unserer Gesellschaft verschwindet, sondern sie tun es jetzt, heute, in vielfacher Weise. Sie sind zu Hilfsmitteln geworden, mit denen man Identität sowohl reflektiert als auch unreflektiert in einer „soft“-christlichen, „soft“-säkularistischen, postchristlichen, eklektischen, konsumorientierten, aber auch bewusst konfessionellen Weise (in aller Verschiedenheit), von neotraditionalistischen bis sogar fundamentalistischen Wegen des Umgangs mit sakramentaler Praxis, aufbaut. Kulturell gesprochen, kann man einerseits eine Kontinuität zwischen den Sakramenten und dem anthropologischen Bedürfnis nach Ritualisierung, das in unserem postchristlichen und postsäkularen Kontext offensichtlicher als je zuvor geworden ist, feststellen. Während andererseits immer dann, wenn Sakramente für zu kirchlich, zu christlich etc. gehalten werden, oftmals eine große Diskontinuität erfahrbar wird, da – vor allem von der Säkularisierungsperspektive aus gesehen –
14
Die Darstellungen sind aus: Boeve, God Interrupts History, 27–28.
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Menschen nicht mit dem christlichen Glauben in Verbindung gebracht werden wollen, und insbesondere nicht mit der Kirche, oder – von der Pluralisierungsperspektive aus betrachtet – christliche Sakramente Symbole dessen sind, was Christen sind, und eben keine Identitätsmarker derer, die sich nicht mit dem Christentum identifizieren. Ausgehend von dem Dargelegten lässt sich aus einer kulturtheologischen Perspektive sagen, dass diese Kontinuität (das anthropologische Bedürfnis nach Riten) und die Diskontinuität (die Eigenart der christlichen Sakramente) charakteristisch dafür sind, wie christliche Identität heute, in einem Kontext der Enttraditionalisierung und der Pluralisierung, narrativ geformt ist. Die Konfrontation mit Differenz (z. B. durch alternative Entscheidungen) macht zudem allzu sehr die Eigenheit und Partikularität der eigenen Entscheidungen bewusst. Die Pluralisierung von Identitätsquellen hat die Art und Weise verändert, in der sich christliche Identitätsbildung vollzieht: Wo die Identitätsbildung von einem Kontinuum zwischen „christlich“ und „nicht mehr christlich“ verdeckt war, findet sich christliche Identität (mit ihrer eigenen, internen Verschiedenheit) heute in einem pluralen Feld und neben anderen Optionen. Diese Optionen erinnern Christen nicht nur an die Tatsache, dass ihre Identität strukturell als eine Option (die anders hätte sein können) angesehen wird, sondern auch an ihre nicht reduzierbare Eigenheit (was sie von anderen Optionen unterscheidet). Außerdem ist dieses plurale Feld ein dynamisches Feld des Zusammentreffens, des Konflikts, des Dialogs, der Konfrontation und der Lernprozesse zwischen verschiedenen Optionen, durch die sich Identität heute selbst gestaltet. Die Optionen der anderen fordern die Art und Weise, auf die man seine eigene Entscheidung fällt, heraus. Ein Beispiel kann diesen Punkt verdeutlichen: Obgleich Muslime nur 5 % der belgischen Bevölkerung ausmachen, könnte in Flandern heute die muslimische Praxis, den Ramadan zu begehen, als selbstverständliche und sichtbare rituelle Praxis gesehen werden. Sie wird weitgehend durch die Medien, mitreißende Diskussionen über die Anpassung von Schul- und Arbeitsstunden etc. verdeckt. Diese Beobachtung erinnert uns zunächst sowohl an den postchristlichen als auch postsäkularen Charakter unserer Gesellschaft. Gleichzeitig zeigt dies besonders deutlich die religiöse Alterität, indem nicht nur die religiöse und ideologische Pluralität in unserem Kontext verdeutlicht wird, sondern auch ein Unterschied zu anderen religiösen Positionen, hier zur christlichen, gemacht wird. Tatsächlich vermittelt die Praxis des Ramadans den Christen das besondere Wesen ihrer eigenen Fastenpraxis, einschließlich des Bewusstseins der verschiedenen Arten, wie die Fastenzeit wahrgenommen (oder eher nicht wahrgenommen) wird. Auch heute gehören also Sakramente zur Partikularität des christlichen Glaubens; sie sind Symbole dessen, wer Christen sind. Ihr Aufbau, ihre narrative Gestaltung und unsere Teilhabe an ihnen sind konstitutiv für die Frage, wer Christen sind. Dies gilt sowohl kulturell als auch theologisch. Aber Sakramente sind noch mehr
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als das: Sie sind Symbole dessen, was Christen berufen sind zu werden. Ihre Partikularität und die Dynamiken, in die sie verstrickt sind, erzeugen nicht nur Identität in einem Kontext, in dem Identität strukturell unsicher ist und aufgebaut werden muss, sondern qualifizieren Identität auch theologisch als etwas, das stets erworben werden muss. Diesbezüglich sind Sakramente auf eine tief christliche Weise nicht nur „Symbole dessen, wer wir sind“, sondern vor allem auch „Symbole dessen, was wir berufen sind zu werden.“ Dies könnte eine zeitgemäße Wiedergabe dessen sein, was Augustinus bezüglich der Eucharistie hervorgehoben hat: Empfange, wer du bist, und werde, was du empfängst.15
3
„Symbole dessen, was wir berufen sind zu werden“: Kulturtheologische Unterbrechungen
Bis jetzt haben wir erkundet, wie – kulturell gesprochen – die Art und Weise, in der narrative Identitäten geformt werden, im Prozess der Enttraditionalisierung und Pluralisierung herausgefordert wurde, um zu einer Identitätsbildung zu führen, in der christliche Symbole heute in postchristlicher (oder „soft“-christlicher/ „soft“-säkularer) Weise wirken können, aber auch, wie sie auf Grund ihrer eigenen Partikularität, ihrer narrativen Verkörperung – also ihrem eigenen Ausdruck, zu symbolisieren, was Christen sind – wiederentdeckt werden können. In dieser Hinsicht ist es zunächst wichtig, die Säkularisierungsperspektive als den einzigen Weg, mit dem untersucht werden kann, wie christlicher Glaube dem gegenwärtigen Kontext zuzuordnen ist, hinter sich zu lassen: Zu oft zeigt sich die Tendenz, dass das, was heute geschieht, von der Perspektive der Vergangenheit aus bewertet wird, und damit notwendigerweise mit Begriffen des Verlustes, des Verfalls und des Verwischens von klaren Mustern und der Willkür. Ausgehend von der Perspektive der Enttraditionalisierung, Pluralisierung und Individualisierung muss allerdings die christliche Glaubenspraxis im Rahmen ihrer gegenwärtigen Bedeutung auf die Art und Weise hin betrachtet und untersucht werden, in der sie heute die Identität der Menschen bildet. Das, was erforscht werden sollte, ist die Frage, wie diese Praxis innerhalb des narrativen Aufbaus der Identitäten, die im Hier und Jetzt aufgebaut sind, funktionieren. Ist die christliche Praxis nur eine weitere unter vergleichbaren, bereits bestehenden Weisen, mit denen man wichtige Momente des Lebens ritualisiert, die sich aber in keinerlei Hinsicht von anderen Weisen unterscheidet? Oder handelt es sich um feste Identitätsmarker, die dazu dienen, Identität vor den Gefahren des Nihilismus, Säkularismus oder anderen Religionen
15
Vgl. Augustinus’ Sermones 272.
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ausgehen, zu schützen? Oder verändern sie im Leben der Individuen, in ihren Gemeinschaften und für die Gesellschaft als Ganzes wirklich etwas? Mit anderen Worten: Wirken sie hemmend oder fördernd auf die narrative Identitätsbildung? Ausgehend von einer kulturell-theologischen Perspektive bringe ich vor, dass Sakramente, auf Grund dessen, was sie theologisch sind, nicht mehr vom Gleichen sein können, noch können sie feste Identitätsmarker sein, mit denen man christliche Identität gegen die feindliche Außenwelt absichert. Sowohl kontextuelle als auch theologisch festgelegte Vorstellungen von den Sakramenten sind herausgefordert – unterbrochen – durch die Entwicklungen im gegenwärtigen Kontext. Sie sind weder nur kulturelle Symbole für diejenigen, die sich um ihre Identitätsbildung bemühen, noch selbstverständliche christliche Identitätsmarker, die eine sichere und stabile Identität erzeugen. Im Folgenden werde ich eine sowohl kontextuelle als auch theologische und damit doppelte „Unterbrechung“ entwickeln: (a) Vom Kontext aus gesehen schließt der Enttraditionalisierungs- und Pluralisierungsprozess mit ein, dass die sakramentale Praxis – aus der Dynamik der Individualisierung heraus – auch für Christen posttraditionell funktioniert. Sakramente sind ganz spezielle Zeichen, die im realen und narrativen Aufbau des christlichen Glaubens sowie der christlichen Gemeinschaft und Tradition verankert sind. An ihnen teilzuhaben, bezeugt ein spezifisches Verhältnis zum christlichen Glauben sowie der christlichen Gemeinschaft und Tradition (so kann die Ausrichtung postchristlich, aber auch neotraditionalistisch sein). Die kontextuelle Unterbrechung der Art und Weise, in der Sakramente innerhalb unserer Gesellschaft – auch für Christen – funktionieren, impliziert erstens, dass die Menschen wesentlich bewusster an den Sakramenten teilhaben (auch dann, wenn sich die Gründe nicht auf eine bewusste Option für den christlichen Glauben beziehen). Zweitens impliziert es, dass die Menschen sich ihrer Partikularität und des spezifisch christlichen Charakters viel bewusster geworden sind (auch dann, wenn sie von diesen genervt sind und nach Veränderung streben). Sakramente sind nicht mehr die offenkundige Antwort auf das anthropologische Bedürfnis nach einer Ritualisierung des Lebens, sondern treten vielmehr als eine spezifische Entscheidung in Erscheinung, indem sie zu einer spezifischen Glaubenstradition und Glaubensgemeinschaft gehören. Anders ausgedrückt erfahren die Christen einerseits auf Grund der Prozesse, die den Kontext verändern, das Spezifische ihrer Praktiken und die individualisierte Zustimmung zu den Sakramenten. An den Sakramenten teilzuhaben, um die eigene (christliche) Identität zu pflegen, ist – strukturell gesprochen – eine Entscheidung. Die Tatsache, dass praktizierende Christen beispielsweise mehr als zuvor in anderen Pfarrgemeinden als in ihren eigenen zur Messe gehen und für ihre Entscheidungen individuelle Argumente vorbringen (gregorianischer Gesang oder Gesang der Gemeinde, einfache oder festliche Liturgie, gute und/oder kurze Predigten, ein kinderfreundlicher Gottesdienst, eher meditative oder aktivere Zelebration etc.) bezeugen dies. Andererseits ist, insbesondere in einem religiös und ideologisch
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pluralisierten Kontext, das Bewusstsein für die Partikularität der christlich-sakramentalen Praxis verstärkt. An den Sakramenten teilzuhaben, ist daher nicht nur irgendeine Entscheidung, sondern die Entscheidung für eine spezifische narrative Identität, die sich bewusst der verfügbaren christlichen Quellen in einer pluralen religiösen Szene bedient. Die Sprache, die Partikularitäten und die Eigentümlichkeiten zu kennen, aber auch die narrative und reale Beteiligung etc. sind konstitutiv für die Praxis und daher auch für die Identität. (b) Diese doppelte kontextuelle Unterbrechung lädt Theologen dazu ein, auch theologisch die Sakramente und deren Praxis im Leben von Christen und ihren Gemeinschaften nochmals zu überdenken. Sakramente sind nicht nur kulturelle, sondern auch christliche Identitätsmarker. Zu ihrer Partikularität gehört in der Tat, dass es sich nicht nur um Symbole dessen, was Christen sind, sondern insbesondere um Symbole, dessen, wer Christen berufen sind zu werden, handelt. Das kontextuelle Bedürfnis, die Sakramente als eine Entscheidung für eine besondere Praxis zu überdenken, führt zur Wiederentdeckung ihres theologischen Wesens. Das, was zunächst von einer gesellschaftlichen Perspektive aus als eine strukturell individuelle Entscheidung gewertet wird, erscheint theologisch als die Antwort auf den Ruf Gottes, der am Anfang steht. Gemäß der christlichen Anthropologie geht Gottes Einladung, mit ihm in Beziehung zu treten, dem Glauben bereits voraus. Menschliche Wesen sind schon in ihrer Existenz und einem Netzwerk von Beziehungen berufen. Identität wird nicht in dem Maße autonom durch ein Subjekt, das am Anfang steht, aufgebaut, sondern Identität ist bereits gegeben. Mit anderen Worten: Ein Subjekt ist ins Dasein berufen. Die Freiheit des Subjekts ist daher eine geschenkte Freiheit und beinhaltet somit Verantwortlichkeit. Glaube ist dann die Erkenntnis, dass Gott am Anfang steht und in der Geschichte mit der Menschheit in einen Dialog eintritt. Hinsichtlich ihres theologischen Wesens sind Sakramente Zeichen und Instrumente dieses Dialoges, mit denen Gottes Gegenwart in der Geschichte der Menschheit vermittelt wird. In Sakramenten lässt das „Zuerst“-Sein Gottes Gott selbst als Liebe erkennen, offenkundig durch Gottes Gnade gegenüber der Menschheit in der Geschichte. Weiterhin tritt Gott in einen Dialog im Rahmen der Konkretheit und Materialität menschlicher Geschichte ein. Gott offenbart nicht nur zunächst sein Selbst, sondern tut dies in einer geschichtlich eingebetteten – in einer inkarnierten – Weise. Sakramente sind daher für die Menschheit die besonderen Zeichen und Instrumente für Gottes Gegenwart, die in einen konkreten historischen Kontext und in konkreten Gemeinschaften eingebunden sind. Nur in sehr konkreten Erzählungen, Begegnungen und Praktiken tritt Gott mit der Menschheit in Dialog. Christliche Tradition, Geschichten und Praktiken bezeugen daher sehr konkret Gottes Begegnung mit der Menschheit, und es liegt in ihrer sehr konkreten Darstellung, Teilhabe und Entfaltung, dass sie diesen Gott offenbaren, dass man diesem Gott begegnen kann. Es liegt in der Kontingenz, der Verletzbarkeit und
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der Partikularität, dass Gott auch heute sein Selbst offenbart. Natürlich schließt dies mit ein, dass keine konkreten Erzählungen, Symbole oder Praktiken für sich selbst stehen oder verabsolutiert werden können: All ihre Wahrheit und Authentizität hängen davon ab, ob sie weiterhin Gott bezeugen, ob sie Gottes Gegenwart, die niemals erfasst, eingegrenzt oder kontrolliert werden kann, sondern sich grundsätzlich jeder Vermittlung entzieht, ermöglichen. Dies ist das Paradoxon christlicher Offenbarung: Der Gott, der niemals historisch oder materiell erfasst werden kann, offenbart dennoch sein Selbst im konkreten Hier und Jetzt. (c) Diese beiden Einsichten, die für den christlichen Glauben konstitutiv sind, erzeugen eine niemals endende Hermeneutik, mit der erkannt werden kann, wo sich Gott heute, in unserer konkreten Geschichte, in den Begegnungen, den Praktiken, den Feiern und den Sakramenten selbst offenbart. Um eine solche Hermeneutik von einer kulturtheologischen Perspektive aus zu stärken, kann die Kategorie der Unterbrechung wieder ihr reflexives Potential bereitstellen. Wie wir bereits gesehen haben, dient „Unterbrechung“ dazu, von einem kontextuellen Gesichtspunkt aus die Art und Weise zu untersuchen, in der christliche Sakramente durch die Prozesse, die unseren Kontext verändern, unterbrochen werden (auch Christen bestimmen sie als postchristlich), während sie gleichzeitig auch durch ihre Partikularität den Kontext unterbrechen (sie unterschieden sich vom Kontext und werden so das „Andere des Anderen“). Die Kategorie der Unterbrechung kann aber dem theologischen Überdenken der Sakramente und ihrer Praxis dienlich sein. Sakramente unterbrechen das Leben der Christen insofern, als dass sie in der Lage sind, Gott als den zu offenbaren, der ihre Leben unterbricht, um sie in eine Beziehung mit sich zu rufen. Tatsächlich unterbrechen Sakramente, wie schon die Zeichen und Werkzeuge von Gottes Gegenwart in der Geschichte, das Leben der Christen, die in einem postchristlichen und postsäkularen Kontext leben, insofern, als dass sie das Bewusstsein ausdrücken, dass sie nur dann ein solches Zeichen und Instrument sein können, wenn sie selbst kontinuierlich unterbrochen werden. Nur ein Gott, der nicht durch die Sakramente eingegrenzt und beherrscht werden kann, kann in ihnen am Werk sein; nur ein Gott, der unsere Versuche unterbricht, Gott in der Geschichte zu erkennen, um unsere eigene Identität zu sichern, kann am Ende eine christliche Identität nähren. Wie ich schon an anderer Stelle aufgezeigt habe, bietet ein Gott, der geschlossen Geschichten unterbricht und öffnet, einen zeitgemäßen Schlüssel zum Verständnis, mit dem man Gottes Offenbarung in der Konkretheit der Geschichte bedenken kann.16 Wo auch immer Gott dazu dient, menschliche Identität und Positionen zu stabilisieren und Sicherheiten zu garantieren, ist es Gott selbst, der unterbricht. Es ist im Interesse Gottes, dass Jesus die wirtschaftliche und ritualisierte Reduzierung der religiösen Praktiken kritisiert, wenn er den Tempel reinigt, wenn er wieder den Sabbat als den Tag, der
16
Vgl. Boeve, Interrupting Tradition, Kap. 7.
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für die Menschen da ist (und nicht umgekehrt), einsetzt. Es ist im Auftrag dieses unterbrechenden Gottes, dass Jesus uns immer wieder an das radikale Wesen von Gottes Liebe erinnert, indem er all unsere menschlichen Maßstäbe beseitigt: indem er im Gleichnis vom Samariter die Frage „Und wer ist mein Nächster?“ in die Frage „Und wer ist der Nächste des anderen geworden?“ überführt; oder im Gleichnis vom verlorenen Sohn, in dem die Liebe des Vaters die Erwartungen sowohl des jüngeren als auch des älteren Sohnes bei weitem übersteigt. In gleicher Weise ist es dieser Gott selbst, der die Geschichte Jesu am Kreuz unterbricht, indem er ihn zu neuem Leben erhöht; als eine Verheißung an uns alle – eine Verheißung, dass die Christen berufen sind, sich sakramental zu erinnern und in ihrer Praxis und ihrem Leben zu wiederholen. Mit anderen Worten: Nur ein Gott, der die Differenz darstellt, vergeht nicht indifferent. Dieses kritische Bewusstsein, das theologisch hervorgebracht wird, ist das Herz unserer sakramentalen Praxis. (d) Sakramente und ihre Praxis stabilisieren daher nicht in erster Linie unsere christliche Identität, sondern verunsichern immer unsere Versuche, Identitäten zu sichern. In dieser Hinsicht ist es Gott, der sich selbst in der konkreten Materialität und Historizität der Sakramente offenbart, der sich ihrer anthropologischen Funktionalisierung widersetzt (Gott ist nicht einfach die Antwort auf unser anthropologisches Bedürfnis, unser Leben zu ritualisieren), der sich aber auch ihrer neotraditionalistischen Verhärtung gegen die Unsicherheiten, die unseren Kontext ausmachen, widersetzt. Ausgehend von einer kulturtheologischen Perspektive können Sakramente niemals in einer postchristlichen Weise funktionieren, da sie dann den unterbrechenden Gott vergessen, der sich in ihnen offenbart, der unser Streben nach unmittelbarer Identität unterbricht. Gleichzeitig können sie niemals sichere Identitätsmarker sein, da sie ansonsten vergessen, dass Sakramente nur unterbrechen können, wenn sie sich selbst kontinuierlich unterbrechen lassen. Gott dient weder der anthropologischen noch der theologischen Stabilisierung unserer Identitäten, sondern unterbricht genau da, wo Identitäten zu schnell nach Sicherheit und Stabilität suchen. Unterbrechung erlaubt weder nur eine (postchristliche) anthropologische Kontinuität, noch nur eine (neotraditionalistische) theologische Diskontinuität. Mit anderen Worten: Christen können ihre narrativen Identitäten nicht in verschlossener Weise aufbauen; falls sie es jedoch versuchen, reduzieren sie diese oder schließen etwas aus, mehr noch, sie vergessen die unterbrechende Macht Gottes. Dies hat jedoch nicht nur Konsequenzen für die christlichen Praktiken, sondern auch dafür, wie christlicher Glaube in der Gesellschaft dargestellt wird. Die unterbrechende Macht von Gottes Gegenwart lädt Christen dazu ein, von diesem Zeugnis in der Konkretheit ihres Lebens und in der Beteiligung an der Gesellschaft abzulegen. In dieser Hinsicht ist Letzteres das, was im Fall der Weihnachtskrippe, mit der ich meinen Vortrag begonnen habe, auf dem Spiel steht. Die Präsenz dieser Krippe in unserer pluralen Gesellschaft kann in einer Zeit von
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Gemütlichkeit und Konsum tatsächlich bezeugen, dass es in der Herberge keinen Platz für das neugeborene Kind gab, und dass die Ersten, die Gottes Gegenwart in der Verletzlichkeit dieses Kindes anerkannten, Hirten und Außenseiter waren. Zusammengefasst dient Unterbrechung als eine theologische Kategorie nicht nur dazu, Gottes heilbringende Gegenwart in den Sakramenten und deren Praxis zu reflektieren, sondern auch ihre Wirksamkeit im Leben der Christen zu verstehen, wenn sie in deren Leben und deren Gemeinschaften in Dienst genommen werden, um die unterbrechende Liebe Gottes zu bezeugen.
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Zeichen und Instrumente der unterbrechenden Liebe Gottes: Fundamentaltheologische Überlegungen
Diese kulturtheologischen Überlegungen sind in einer breiteren fundamentaltheologischen Reflexion verankert und rühren von einem intensiven, kritisch-konstruktiven Dialog mit der postmodernen Philosophie her.17 Konkreter ist es meine Beschäftigung mit dem Denken der Differenz durch den französischen Philosophen Jean-François Lyotard, der – in der besten Tradition der philosophia ancilla theologiae – mich dabei unterstützt hat, den intellectus fidei für heute neu zu denken. Diese Beschäftigung führt zu zwei charakteristischen Dimensionen, die mich wiederum zu einer zweifachen theologischen Überlegung (über die Sakramente) in Bezug auf Unterbrechung führen. Erstens betrifft diese die Auseinandersetzung mit Lyotards Kritik am Christentum als einer Meistererzählung der Liebe, die ein „was auch immer passiert“ in totalitäre Strukturen einkapselt und so Opfer hervorbringt. Wenn man sich diese Kritik zu Herzen nimmt, unterbricht sie die zu selbstsichere christlich-theologische Einstellung, alles, was auch passiert, beherrschen zu können, und öffnet Theologie, für das „Ereignis“ – die Alterität, mit dem Begriff Lyotards: „le différend“ – aufmerksam zu sein. Zweitens veranlasst diese Beschäftigung Theologie dazu, ihre eigene Reflexivität zu re-kontextualisieren. Wie er es bereits früher getan hat, im Dialog mit der griechischen Philosophie, modernem Denken usw., kann der Dialog mit dem Anliegen der postmodernen Philosophie für Differenz und Alterität uns helfen, Denkstrukturen zu entwickeln, die uns dabei unterstützen, die Rationalität unseres Glaubens sowohl kontextuell glaubhaft als auch theologisch legitim zu reflektieren.
17
Vgl. u. a. Lieven Boeve, Lyotard and Theology: Beyond the Christian Master Narrative of Love, London 2014.
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(a) Wenn Lyotard die Moderne für ihre hegemonialen Groß- oder Meistererzählungen kritisiert, bezeichnet er auch das Christentum als eine Art protomoderne Meistererzählung: „die christliche Erzählung von der Erlösung von der Erbsünde durch Liebe.“18 Für Lyotard haben moderne Meistererzählungen in einem postmodernen Kontext ihre Glaubwürdigkeit verloren, da sie ihre Versprechen nicht halten konnten. Genauso, wie weder Kapitalismus noch Kommunismus zu einem besseren Leben geführt haben, hat auch die christliche Geschichte nicht zu mehr Liebe geführt. Meistererzählungen führen hingegen genau zum Gegenteil dessen, was sie versprechen und führen am Ende zu vielen Opfern. „Beim Christentum könnte man noch hinzufügen, dass die Meistererzählung der Liebe sich in Strukturen verwandelt hat, die – im Namen der Liebe – das narrative Gegenstück hervorgebracht haben: der Mangel an Liebe, der Missbrauch von Macht, Ideologie und Gleichgültigkeit. Der Missbrauchsskandal ist hierfür ein allzu eindeutiges Beispiel, sowohl hinsichtlich der offiziellen Täter in der römisch-katholischen Kirche als auch hinsichtlich der institutionellen Blindheit, die einen angemessenen Umgang mit der Situation verhinderte.“19
Aus einer analytischen Perspektive ist das Hauptproblem der Meistererzählungen, dass sie nicht mit der Differenz, mit dem Ereignis von Alterität, umgehen wollen oder können. Mit Lyotards Worten verharren sie in der Blindheit für das Differente. Sie haben keinen Raum für das, was sich ihrer Kontrolle entzieht, und sie beziehen entweder alles, was auch passiert, mit ein (Differenz wird zu einem Mehr vom Gleichen) oder sie schließen es aus (als bürgerlich, sündhaft etc.). In beiden Fällen ist die Herausforderung (Unterbrechung) des Ereignisses von Anfang an ausgeschlossen und das Beherrschen von allem ist vollständig. Die Geschichte erzählt, was es zu erzählen gibt, sie summiert und universalisiert und verknüpft Beschreibungen mit Verpflichtungen. Bei näherer Betrachtung argumentiert Lyotard, dass sie von einer Idee beherrscht werde, die als das Ende der Geschichte fungiert und im Namen dessen, was die Erzählung beherrscht, Hegemonie über alles ist. Die Idee, die hegemonial in der christlichen Erzählung am Werk ist, ist die Idee der Liebe. Liebe ist das Ende der Geschichte, sie umfasst alles (Sünde ist das Fehlen von Liebe), sie universalisiert das Göttliche als besondere Instanz der Liebe und sie verknüpft Beschreibungen mit Verpflichtungen: „Weil du geliebt wirst, musst du lieben.“ Das Ereignis von Alterität passiert nicht wirklich: Es wird bereits geliebt. „Von vornherein ist die Ausprägung von Ver-
18 19
Jean-François Lyotard, The Postmodern Explained: Correspondence 1982–1985, übers. von Don Barry, Minneapolis 1993, 25. Lieven Boeve, The Other and the Interruption of Love, in: James M. Mattarazo & Ulrich Schmiedel (Hg.), Dynamics of Difference: Christianity and Alterity, London 2015, 275–283, hier 277.
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schiedenheit in ihrer unterbrechenden Alterität zerlegt. Es wird innerhalb der christlichen Erzählung als barmherziges Geschenk der Liebe wahrgenommen“.20 Liebe sichert also die christliche Erzählung und macht sie allmächtig. Durch die Idee der Liebe ist das Christentum in der Lage sich mit allem zu verbinden, alles auszuwerten, alles zu beherrschen. Liebe ist das höchste Kriterium, mit dem die Erzählung zu richten ist. (b) Die Konfrontation mit Lyotards Kritik unterbricht unsere Theologien der Liebe also zum ersten Mal. Sie macht uns kritisch hinsichtlich „unserer allzu sicheren und oft allzu sich selbst sichernden Vorstellung von Liebe, die uns in symmetrischer oder asymmetrischer Weise stabile Schlüssel in Bezug auf Alterität bietet. Diese Anderen könnten Opfer unserer Liebe sein: diejenigen, die innerhalb des Rahmens unserer Erzählung ungesehen und ungehört bleiben, obwohl – oder gerade weil – wir sie ‚lieben‘. Liebe dient dann dazu, die Erzählung zu verschließen; sie hat weder Augen noch Ohren für die Alterität, die zu einfach in die Erzählung mit einbezogen oder von ihr ausgegrenzt wird.“21
Aber sollte das Christentum zwangsläufig eine Meistererzählung der Liebe sein? Ist Liebe tatsächlich eine verabsolutierte, universalisierte Idee, die die Erzählung von dem abschottet, was sie stören, herausfordern oder unterbrechen könnte? Macht Liebe innerhalb des Christentums Alterität von ihrer Differenz her zunichte? Den Dialog mit Lyotard fortzusetzen, könnte uns helfen, anders zu denken. Abgesehen von einigen Anhaltspunkten bei Lyotard selbst, mit denen er auf eine Liebe hindeutet, die der Erzählung entkommen könnte, eher aber von ihr funktionalisiert wird, ist es vor allem sein eigener positiver Weg, mit den postmodernen Bedingungen umzugehen, was Theologen anregen könnte, das Ereignis von Liebe innerhalb des Christentums anders zu denken. Ein Problem der Meistererzählungen ist, dass sie gegenüber Differenzen unaufmerksam sind; die postmoderne Weise, Geschichten zu erzählen, besteht darin, nach Wegen des Erzählens zu suchen, das zu bezeugen, vor dem die Erzählungen fliehen. Das Differente zu bezeugen meint, ein Bewusstsein dafür zu kultivieren, dass beim Zeugnisgeben immer das Risiko besteht, das Differente zu zähmen und daher werden wir immer wieder nach neuen Wegen suchen müssen, um das Differente beobachten zu können. Kann Liebe nicht auf die christliche Erzählung in gleicher Weise wirken? „Ist Liebe als ein Kriterium den Christen zugewiesen? Ist christliche Liebe Selbstschutz? Vielleicht kann die erste Unterbrechung unserer Theologien der Liebe eine zweite aufzeigen: die Unterbrechung unserer Theologien durch Liebe. Die Unterbrechung (unserer Theologien) der Liebe durch das postmoderne, kritische Bewusstsein macht uns die Versuchung jeder Erzählung (und damit auch der christlichen Erzählung), sich selbst zu si-
20 21
Ebd., hier 279. Ebd., hier 282.
172
Lieven Boeve
chern, um erfasst zu werden, bewusst. Bei näherer Betrachtung scheint es allerdings, dass solch eine erste Unterbrechung der Liebe die Unterbrechung der christlichen Erzählung durch Liebe freisetzt: Es ist die Liebe selbst, die unsere Versuche, die Erzählung zu verschließen, unterbricht. Gott tritt im Namen der Liebe in die Geschichte ein, um verschlossene Erzählungen zu öffnen.“22
Liebe ist dann nicht das, was die christliche Erzählung verschließt, sondern sie wieder und wieder öffnet. Unterbrechende Liebe hilft uns zu verstehen, wie Gott sich mit der Geschichte verbindet, während sie gleichzeitig ein solches Verständnis unterbricht. (c) Wenn man sakramentale Gnade als unterbrechende Liebe denkt, schließt sich der Kreis dieses Beitrags. Um begreifen zu können, was in den Sakramenten passiert (z. B. wie Gott in den Sakramenten Gnade schenkt), haben Theologen nach Denkmustern gesucht, indem sie sich am platonischen Denken, an der Kausalität der aristotelischen Philosophie beteiligen, oder indem sie das moderne utopische Denken antizipieren. Wäre es zu weit hergeholt, so zu argumentieren, dass die heutige Unterbrechung uns die Kategorie bietet, mit der die Gnade, die sich in den Sakramenten vollzieht, gedacht werden kann? Das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz in den Sakramenten wird dann nicht mit der Terminologie der Vormoderne, der neoplatonischen „Anwesenheit“ oder der modernen (hegelianischen) „Identität“ reflektiert. Vielmehr kann es als das Ereignis, das die immanente Verschließung unserer Erzählungen unterbricht, gedacht werden. Es unterbricht die Erzählung, indem es dahin drängt, sich selbst für das zu öffnen, was im Ereignis durchbricht. Die christliche Erzählung23, die sich ihrer eigenen Partikularität und Kontingenz bewusst geworden ist, kann sich nur angemessen auf die Transzendenz beziehen, wenn sie sich selbst öffnet und gewissermaßen kontemplative Offenheit aufbaut, in die die Transzendenz als unterbrechendes Ereignis eintreten kann und in einer nicht hegemonialen Weise die Transzendenz mit Hilfe ihrer eigenen (immer nur fragmentarischen) Wörter, Bilder, Geschichten, Symbole und Rituale bezeugt. Die Sakramentalität des Daseins bietet uns keine Einblicke in eine zu Grunde liegende Ordnung, indem sie die Existenz narrativ legitimiert. Ebenso wenig bietet sie die Erlösung, die offensichtlich in einer unerlösten Welt fehlt. Im Gegenteil: Sie öffnet genau dieses Nicht-Erlöst-Sein, diesen Moment der Unterbrechung, dem keine hegemoniale Erzählung gerecht wird. Diese Sakramentalität deutet weder auf eine ahistorische Tiefe, die menschliche Ähnlichkeit einlädt, noch auf eine Geschichte hin, deren Erfüllung in einem Reifungsprozess gesichert ist, sondern vielmehr auf die Untergrabung einer solch selbstversichernden menschlichen Konstruktion. In dieser Hinsicht reflektiert die postmoderne sakramentale Auffassung von Zeit nicht
22 23
Ebd. Der folgende Text ist aus: Boeve, Lyotard and Theology, 121–123.
Symbole dessen, was wir berufen sind zu werden
173
länger ein prämodernes ewiges Kontinuum, in dem das aktuelle „Jetzt“ zu sein aufhört. Ebensowenig ist sakramentale Zeit eingebettet in eine moderne Fortschrittsperspektive, die das „Jetzt“ in der Funktion der Zukunft aufhebt. Vielmehr ist sakramentale Zeit die Zeit des unterbrechenden, apokalyptischen „Jetzt-Momentes“ („kairos“), das Ereignis, das das Besondere und das Kontingente öffnet und beides in die Perspektive des transzendenten Gottes rückt, aber ohne die Besonderheit und Kontingenz aufzugeben oder zu widerrufen. Das Ereignis der Gnade oder die Gnade des Ereignisses besteht konkret darin, dass die in sich geschlossenen Erzählungen geöffnet werden, und diese Offenheit wird erinnert, erfahren und gefeiert. Indem diese Offenheit gegenüber dem, was passiert, gelebt wird, verlieren Erzählungen ihre hegemonialen Eigenschaften und werden zu wahrhaft offenen Erzählungen. Wenn Sakramentalität in diesem Sinne verstanden wird, d. h. als das Zusammenspiel einer kontinuierlichen Offenheit für das Ereignis von Heterogenität und einem evokativen Zeugnis davon, dann kann Christsein am besten mit der Wendung „sakramentales Leben und Denken“ beschrieben werden, während Christsein theologisch in einem doppelten Sinn als sakramental definiert werden kann: einerseits als eine Reflexion von sakramentalem Leben und Denken und andererseits als ein Ausdruck dieses sakramentalen (Lebens und) Denkens selbst. Auch Theologie baut sich selbst entlang der Linien einer offenen Erzählung auf, die in einer kontinuierlichen Offenheit für das, was geschieht, steht, und dieses unterbrechende Ereignis bezeugt. Genauer gesagt ist sich eine solche Theologie im Nachhinein der „Unterbrechung“ oder der „Störung“ der besonderen Erzählung durch eine Konfrontation mit der offenen, nicht hegemonialen Jesus-Erzählung bewusst. In dieser Hinsicht wird die christliche Praxis als eine imitatio Christi auf eine Option für die Anderen gerichtet, insbesondere für die ausgeschlossenen Anderen als eine konkrete Inkarnation des Anderen. Sakramentale Feiern als Momente, in denen sich das sakramentale Leben und Denken verdichtet, sind rituelle Versammlungen, bei denen die fundamentalen Glaubensüberzeugungen und die Einsichten der christlichen Tradition in Symbolen und symbolischen Handlungen metaphorisch zur Sprache gebracht werden. Diese Grundmetaphern des Christentums, die sowohl Schöpfung als auch Inkarnation, sowohl Kreuzestod als auch Auferstehung Jesu Christi betreffen, werden in einer bezeugenden und narrativen Weise als die Unterbrechung und der Ruf, die von Gott kommen, verwirklicht und rufen uns zu Umkehr, Offenheit und Zeugnisfähigkeit. Aus christlicher Perspektive gesehen, steht die Inkarnation als konkreter Marker der aktiven Beteiligung Gottes an der Menschheitsgeschichte. Das Pascha-Mysterium (Kreuzigung, Tod und Auferstehung) bildet das Fundament der Hoffnung für einen in alles rettend eingreifenden Gott, auch dann, wenn Unerlöst-Sein, die Verborgenheit Gottes und Gottes „anwesende Abwesen-
174
Lieven Boeve
heit“ erfahren werden. In jedem Sakrament wird in einer speziellen Weise dieses „gefährliche Gedächtnis“ gefeiert.
Fazit Unser postsäkularer und postchristlicher Kontext regt sowohl in christlichen als auch nicht-christlichen Kreisen zu Überlegungen über die Zukunft des christlichen Glaubens an. Der französische Atheist und politische Philosoph Marcel Gauchet hat in diesem Zusammenhang behauptet, dass es heute keinen anderen Grund dafür gibt, Christ zu sein, als den Glauben allein. Jemand ist Christ nicht auf Grund der Kultur, des Ansehens, der sozialen Einbindung, des Schutzes vor Unsicherheit, sondern nur wegen des Glaubens daran, dass sich in Jesus Gott in der Welt offenbart hat.24 In seinem Werk Confession d’un cardinal übersetzt Olivier Le Gendre diese Einsicht wie folgt: Die Kirche wird nur relevant sein, wenn sie in der Lage sein wird, die Zärtlichkeit Gottes zu bezeugen, wenn sie eine Kirche wird, die in der Lage ist, ein lebendiges Zeichen und Instrument der „Zärtlichkeit Gottes“ zu sein.25 Sind nicht die Sakramente par excellence Zeichen und Instrumente der Gnade Gottes, die die ersten Symbole dessen sein sollten, wer Gott in seiner Zärtlichkeit ist, und dessen, wer wir berufen sind, zu werden? Übersetzung aus dem Englischen: Andy Theuer
24 25
Vgl. Marcel Gauchet, Le désenchantement du monde: une histoire politique de la religion, Paris 1985. Vgl. Olivier Le Gendre, Confession d’un Cardinal, Paris 2007.
Vorträge in Arbeitsgruppen zu Themenfeldern des Kongresses
ALEXOPOULOS, Stefanos
Exploring Late Byzantine Sacramental Treatises: The De Sacramentis – of St. Symeon of Thessalonike († 1429)
BALDOVIN, John
The Sacramentality of the Word: An Ecumenical Proposal
BARNARD, Marcel BEKEBREDE, Lydia KLOMP, Mirella NASRALLAH, Rima WEPENER, Cas
Messy Church Meals as Sensational Forms; Food and Eucharist in Different Contexts and Cultures; Developing a ‘Casual Sacramentality’ from Food Practices
BECHETOILLE, MarcAntoine
Discerner la sacramentalité de l’existence: l’anthropologie sacramentelle de Marie-Dominique Chenu OP
BEHRENFELD, Maura
Abstract Art: Is A Sacramental (Embodied) Connection Possible?
BELCHER, Kimberley
Ritual Systems and the Laws of Liturgical Reception
BENDIXEN, Jette
Roenkilde Luther’s Sacramentality as Societal Resource? A Practice Theoretical and Phenomenological Re-reading of his Liturgical Writings
BERGER, Teresa
Sacraments in Cyberspace?
BENINI, Marco
Zur Sakramentalität des Wortes Gottes in der Liturgie
176
Vorträge und Arbeitsgruppen zu Themenfeldern des Kongresses
BIEN, Eric
The Constituted Subject and the Reconciled Penitent: The Difference of Sacramentality in Confession
BOSMAN, Jasper
Communion Revisited: Reflecting on Eucharistic Celebrations in Two Reformed Denominations
BRUNDAGE, Martha
The Sacramental Nature of Congregational Singing
BUCHINGER, Harald
Von exegetischen zu liturgischen Mysterien: Zu den Ursprüngen der Sakramententheologie
CHASE, Nathan
Messy Rituals, Ambiguous Meanings: Handlaing and Chrismation from Tertullian to Gregory the Great
COWAN, Nelson
Rhizomatic Sacramentality: Liturgical-Theopoetic Method and Ecumenical Implications
CRAIG, Barry
Mined Meanings in Ground Grains, Crushed Clusters, and Commingled Community
DOUGLAS, Brian
The Disputed Notion of Sacramentality in Anglican Eucharistic Theology: Multiformity of Philosophical Assumptions
DRÖGSLER, Matthias
Here Lives God – Pope Francis’ Encyclical Letter “Laudato sì” as Key to a Sacramental Understanding of the Entire Creation as God’s Original Gift
DROUIN, Gilles
Peut-on parler de sacramentalité de l’espace liturgique? A partir de l’impact sur l’espace de célébration des conciles de Trente et Vatican II
EBENBAUER, Peter
Sakramentale Erfahrung in spätmoderner Zeit. Neue Orte und Potentiale des Liturgischen
ELICH, Tom
Looking at Seven Sacrament Art of the Late Middle Ages
Vorträge und Arbeitsgruppen zu Themenfeldern des Kongresses
177
FERNANDO, Roshan
The Most Ancient Liturgical Prayer for Peace in the Roman Missal: A Liturgico-Theological Commentary
FOSTER, Martin McGinnell, Kevin
Sacraments in Partnership: Liturgy in an Ecumenical Context
GELDHOF, Joris
Fons omnis sanctitatis: Reflections on Sanctification in the Ordo Missae 2002/2008
GERHARDS, Albert
Sakralität und Sakramentalität. Spatiale Mystagogie im Kirchenbau der Moderne
GOYVAERTS, Sam
Incarnation as the Grounding Mystery for Sacramentality in the Catholic Tubingen School
HALDEMAN, Scott
Christian Sacramentality and the Queer Body
HASPELMATH-FINATTI, Dorothea
Singing as Sacrament. An Anthropological Contribution to an Ecumenical Ecclesiology
HULMI, Sini
Created Reality as Mediator of God’s Grace and Presence in Liturgy – Body, Space, Actions, and Artifacts as Incarnated Symbols of Transcendence and Divine Mystery
JACOB, Sebeesh
Iconography as a Unique Embodiment of Christian Sacramentality
JOHNSON, Clare
Sacramental Enactment and the Generation of Ecclesial Social Capital
JOHNSON, Sarah
Initiating Children at a Distance from the Church: Pastoral Realities and Theological Questions
KIMARYO, Colman Fabian
The Eucharist and the Integrity of Creation: Rethinking the Transformative Role of the Eucharist in the Age of Ecological Crisis
DE KLERK,
The Lenses of Cognition and Recognition on People’s
Ben
KRUGER, Ferdi
Experiences of Sacraments as Means of Salvation
178
Vorträge und Arbeitsgruppen zu Themenfeldern des Kongresses
KOCHUPARAMPIL, Jose
A Holistic Approach to Sacraments: Lessons from the Mystagogical Homilies of Theodore of Mopsuestia
KRUEGER, John
Singing the Sacrament: Communion Hymns of Martin Luther
LANDOVA, Tabita
Signs of a Covenant: Sacramental Theology of the Unity of the Brethren
LARSON-MILLER, Lizette
Real Absence as Movement into Real Presence: Sacramentality and Eschatological Reality St. Hildegard of Bingen: The Dynamic Between Cosmology and Liturgy
LASQUETY-REYES, Tina LAZOWSKI, Dom Christopher
«Le Christ accomplit les Ecritures par sa présence dans le rite»: déplacements de perspective en typologie sacramentelle dans l’ancienne euchologie romaine de l’eucharistie.
LEPAGE, Remi
Sacerdoce des baptisés et sacramentalité de l’acte liturgique Liturgy and Sacramentality: First Perspectives from Process Oriented Psychology
LEACHMAN, James
LIU, Gerald
Sacramental Attention to Liturgy of the Masses
MADATHUMMURIYIL, Sebastian
Engaging Ramanuja and Rahner in Dialogue: Reflections on Sacramentality
MADHAVATHU, Maryann
Sanctification through the Paschal Mystery: An Appraisal of the Sacramentality of the Liturgy of the Hours
MAINE, Trevor
Come to (Know) the Feast: Liturgical Knowledge and the Ontology of Signs in the Eucharistic Feast
MARIOLLE, Bénédicte
Un élément inaperçu de la réforme liturgique du Concile Vatican II: la restauration du viatique
MATHEE, Nicholas
Cyber Cemeteries: Searching for the Sacred
Vorträge und Arbeitsgruppen zu Themenfeldern des Kongresses
179
McFarland, Jason
Can We Still Celebrate the Sacraments? Collective Memory, Sacramental Imagination, and the Future of Sacramental Worship
METZGER, Marcel
Reconstituer la doctrine catholique des sacrements à partir de la liturgie
MOROZOWICH, Mark
Sacramental Theology in Cyril of Jerusalem: New Paradigms from a Contextual Approach
MÜLLER, Jörg
Biblisch-liturgische Hermeneutik von Sakramentalität am Beispiel des IV. Eucharistischen Hochgebets
NEIJENHUIS, Jörg
Sakramentstheologie und Liturgie bei Luther unter Berücksichtigung kontroverstheologischer und ökumenischer Aspekte
NICHOLS, Bridget
Last Rights: The Sacramental Surrender of the Penitent Self
OKPALEKE, Ikenna Paschal
Sign and Instrument of Unity: Ecumenical Relevance of the Sacraments in Relation to the Communal Identity of a Church
O’LOUGHLIN, Tom
Perceiving the Sacramental in Liturgy and Defining `Sacrament´ in Theological Discourse
O’MALLEY, Tim
Scriptural Exegesis and Sacramentality: The Case of Marriage
VAN OMMEN,
Rituals of Reconciliation – Sacraments of Peace Making
Léon
PILCHER, Carmel POSTMA, Eward
The Sacramentality of Creation in Christian Liturgy – Learning from First Peoples
DE KORT,
‘The Mobile Altar’/‘Scope:’ An Interdisciplinary Case Study on the Direction of Attention in the Arts and in Liturgical Ritual
Gosse
POULET, Frédérique
Relecture et synthèse d’un séminaire de recherche de Master sur la sacramentalité
Vorträge und Arbeitsgruppen zu Themenfeldern des Kongresses
180
PRETOT, Patrick
Que signifie le fait de parler de « sacramentalité » à propos de la liturgie des Heures?
READ, Charles
Preaching as a Sacramental Activity
REGO, Juan
Re-framing Sacramental Character
QUARTIER, Thomas
Sacramentality and Monastic Spirituality
SABAK, James
“Lost in Translation?” – Is the Sacramentality of Love Misplaced in the Sacramental Practice of Marriage?
SERRA, Dominic
The Epiclesis Re-envisioned: The Holy Spirit and the Eucharistic Offering
SERVAAS, Marianne
Liturgical and Sacramental Life: Transformation of the Homo Perfectus
SCHIRR, Bertram
Sonic Sacramentality and Singing Bodies – Divine Presence in the Material Practice of Congregational Singing
STROUT, Shawn
The Importance of the Ordo in Sacramental Theology: Communion without Baptism as a Case Study
SUTER, Adrian
Die elementare Sakramentalität allen kirchlichen Handelns
TAMMINGA, Koos
A Symbol of What We are Called to Be
TE VELDE,
The New Catholic Rite of Confirmation: Liturgy and/or Sacrament?
Johan
THOMAS, Sajan
Marriage and Sexuality as a Call to Virtuous Life: Exploring the Concept of Justice and Love in the Syro-Malankara Liturgy of Marriage
TROUPEAU, Martin
Les sources liturgiques du Pontifical des Ordinations de 1968 When Is a Sacrament Not a Sacrament? The
TURNER, Paul
Vorträge und Arbeitsgruppen zu Themenfeldern des Kongresses
181
Puzzle of a Catholic Marrying an Unbaptized Person VASUPURATHUKARAN PAVUNNY, Jolly
Effective Symbols for a Better Sacramental Experience: A Liturgical and Pastoral Analysis of the Syro-Malabar Rite of Marriage
VOLLEBREGT, Duco
Nox in qua terrenis caelestia iunguntur: Sacramentality, Salvation and Sanctification in the Easter Vigil of the Missale Gothicum
WHELAN, Tom
Sacrament: Transformative Symbol of Embodied Life in Christ
WIEFEL-JENNER, Katharina
Vielmehr ist das Predigtamt dazu eingerichtet, … zum Sakrament zu locken
WINTER, Stephan
Gemeinsames Märtyrer-Gedenken als Praxis, Ort für die Ausbildung eines ökumenisch tragfähigen Verständnisses von Sakramentalität?!
WITCZAK, Michael:
Carolingian Reflection on Sacramentality: Paschasius and Ratramnus, Amalarius and Florus
WITHERINGTON, Timothy Derrick
The Open Particularity of the Sacraments: A Positive Way Forward for Sacraments in a PostChristian Society
Sakramentalität verstehen. Eine kurze Retrospektive Der Kongress in der Reflexion junger Theologen
Ferenc Herzig
„Bedeutung“ und „Wesen“ der Sakramentalität in der Liturgie erkunden, hat sich dieser Tagungsband laut seinem Vorwort zum Ziel gesetzt – und ausgerechnet ein protestantischer, Theologe wurde gebeten, ein perspektivisches Votum zu formulieren. Ein Theologe diesseits der Alpen zumal, der nicht nur „lutherisch“ sein will, sondern obendrein seit einigen Jahren im Revier der französischen (Post)Strukturalisten wildert und sich anstecken lässt von deren zuweilen sehr aparter Liebe zum Begriff. Verlockend wäre es also schon, zunächst noch einmal in Erinnerung Luthers – das Reformationsjubiläum noch im Nacken – Aspekte einer gegenwärtig reformatorischen Sakramentstheologie in Akkordanz zu Sacrosanctum Concilium zu wagen; oder gleich noch tiefer zu schürfen und in analytischer Manier schlicht die Bedeutung der Begriffe des Tagungsbandes abzuklopfen: Was bedeutet „Symbol“, was eigentlich „Sakramentalität“, was „Wesen“ und überhaupt „Bedeutung“? Aber nicht nur darum soll es jetzt gehen (auch wenn es nicht ganz ohne gehen wird …), und muss es auch nicht, ist ein Nach-Wort doch per genus ein επίλογος, ein schlichtes nachgestelltes Wort und somit recht eigentlich unnötig, un-wesentlich. Es soll vor allem ein etwas grundsätzlicher Rück- und damit implizit auch Ausblick gewagt werden, ausgehend von Fragen, die dem Betrachter der Tagung kamen: Was zeigt die Tatsache an, dass weit über 200 profilierte Liturgiewissenschaftlerinnen und Liturgiewissenschaftler sich dem Phänomen der Sakramentalität über den Austausch von Gedanken nähern und in den Akt der aktiven Partizipation ein Element der Verstandesvermittlung eintragen? Wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler denken, was undenkbar ist: dass Christus wahrhaft anwesend ist in den Sakramenten? Wenn sich die Liturgiewissenschaften also bewusst und konsequent auf die Grenze des eigenen Verstehens wagen? Vielleicht legt die Liturgiekonstitution schon die richtige Spur, wenn es in SC 59 heißt, „dass die Gläubigen die sakramentalen Zeichen leicht verstehen [Hervorhebung F. H.] und immer wieder zu jenen Sakramenten voll Hingabe hinzu-
Sakramentalität verstehen. Eine kurze Retrospektive
183
treten“ sollen. Und vielleicht geht es sogar noch um etwas mehr als um bloßes Verstehen … Evangelische Theologie, so wie ich sie studiert habe (und zeitlebens studieren werde), zeichnet sich aus durch eine sehr grundsätzliche Würdigung klarer und deutlicher Definitionen. Die philosophische schon altertümliche griechische Frage: τί ἐστιν; – „Was ist?“ markiert m. E. am deutlichsten dieses Grunddilemma gegenwärtiger evangelischer Theologie. Schon Pontius Pilatus stellt Jesus in Joh 18,38 diese Frage: „Was ist Wahrheit“ – τί ἐστιν ἀλήθεια� und Jesus antwortet auf diese Frage bekanntlich einfach nicht (jedenfalls wird nichts davon berichtet). Während und im Nachgang der Tagung kam mir auch auf dem Hintergrund meiner Studienzeit und meiner eigenen Forschungsvorliebe – Poststrukturalismus und poststrukturalistische Abneigung gegenüber dieser Art der Grenzziehung und Einengung („Definition)“ – ganz natürlich eine Frage in den Sinn: Was ist das, „Sakrament“ oder „Sakramentalität“? Nun bin ich mir der Definition bewusst, die der Katechismus liefert: „Die Sakramente sind von Christus eingesetzte und der Kirche anvertraute wirksame Zeichen der Gnade, durch die uns das göttliche Leben gespendet wird. Die sichtbaren Riten, unter denen die Sakramente gefeiert werden, bezeichnen und bewirken die Gnaden, die jedem Sakrament zu eigen sind. In Gläubigen, die sie mit der erforderlichen inneren Haltung empfangen, bringen sie Frucht“ [KKK 1131]. Gleichzeitig bin ich gewiss (und mit Rückblick auf die Konferenz nur darin bestärkt), dass es um mehr geht und Sakramentalität etwas anderes bedeutet, als es eine Begriffsdefinition zu leisten vermag. Vielleicht ist die Frage falsch gestellt. Denn jede Frage, die mit dem Ziel der Definition und der eindeutigen Identifizierung aufgeworfen wird, setzt einen Begriff des Verstehens voraus und hypothetisiert eine unbestreitbare transzendentale Bedeutung mit einer einzig und allein als intelligibel vorausgesetzten Wahrheit, die allem zugrunde liegt und von allen verstanden werden kann. Poststrukturalistisch betrachtet wird man sofort einwenden, dass ein solches Konzept des „Verstehens“ inadäquat ist: Mit der Auflösung der engen Verkettung von Signifikant und Signifikat und mit der Isolierung der Signifikate nach Derrida, Foucault, Barthes u.a. gibt es keine „Bedeutung“ mehr, folglich gibt es kein „Verstehen“, und radikal formuliert gibt es noch nicht einmal so etwas wie (die) Wahrheit. Theologisch wird man es sich indes nicht so leicht machen können: Sicher, es gibt nicht einfach die Bedeutung von Bedeutung, über die verfügt werden könnte und deren Horizont schon im Voraus ausgemacht werden könnte. Aber Bedeutungen und sogar Mittel, i. e. Vermittlungen und zeichengestaltete Wirkweisen Gottes gibt es doch, erst recht im Kontext von Sakramentalität. Allein die Frage bleibt: Was bedeutet Sakramentalität und wie ist es möglich, Sakramentalität zu verstehen? Es ist dies eine Frage nach der Wirksamkeit der Sakramente, die sich zweifach stellt und aus zweierlei Richtungen bedacht werden muss, sowohl theologisch als auch anthropo-logisch. Einen ersten Hinweis auf die doppelte Per-
184
Ference Herzig
spektive bietet dem Lutheraner der wohl wesentlich ökumenische Konsens der sog. „Torgauer Formel“, die Martin Luther (eher beiläufig) in seiner Predigt zur Einweihung der Schlosskirche in Torgau prägte. Er verlieh mit diesem Satz im Blick auf das Gotteshaus seiner Überzeugung Ausdruck, „dass nichts anderes darin geschehe, als dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir umgekehrt mit ihm reden durch unser Gebet und Lobgesang“ [WA 49, 588]. Dieses Reden ist für Luther wesentlich Kommunikation im Wirkraum des Wortes Gottes, das seine doppelte Präsenz in Predigt und Vollzug der Eucharistie entfaltet, und eröffnet so ein erstes Spannungsfeld zwischen den Polen „Katabase“ und „Anabase“. Freilich: Zuerst und prioritär wirkt „unser lieber Herr selbst“ ‚durch sein heiliges Wort‘, aber noch das „ex opera operato“ funktioniert nicht ohne das Individuum, das an der Taufe oder der Eucharistie teilhat; die katabatische Perspektive stützt sich auf die anabatische Perspektive und im Wechselspiel der katabatischen und anabatischen Perspektiven allein lässt sich Sakramentalität beginnend verstehen. Hinzu tritt ein zweites Spannungsfeld: Nicht nur die vertikale Sphäre der Wirksamkeit der Sakramente im Akkord von Gott und Mensch, sondern auch die horizontale Ebene der Kommunikation mit denjenigen, die die Bedeutung der Sakramente nicht „vollständig“ verstehen, sind konstitutiv für das μυστήριον sakramentaler Vollzüge. Martin Stuflessers Analogie der Cross-Fit-Box als Gesprächsraum eines Experten und eines Professionslaien über Religion und mit dem Resultat nicht(oder: nicht-nur)-intelligibler Evidenzerfahrungen auf beiden Seiten machte das schon deutlich. Augenfällig wird die mysteriöse Wirklichkeit sakramentaler Vorgänge spätestens mit Blick auf solitäre Verstehensbemühungen: Wer könnte von sich sagen, sie oder er verstünde wirklich, was während und nach der Taufe geschieht? Verstehe ich die Wirksamkeit und Gnade, die mir zuteilwird, während ich an der Eucharistie teilnehme, wirklich? Sakramentale Vollzüge sind auf Gemeinschaft und gemeinschaftliche Kommunikation angewiesen, um verstanden zu werden: Zwei oder drei in Christi Namen, die sich um die Zuordnung von Signifikant und Signifikat nicht weiter Gedanken machen, nicht nach der Bedeutung der Zeichen fragen, sondern die Zeichen für sich nehmen als das, was sie sind: Zeichen und Fingerzeige, die nichts anderes als sich selbst bedeuten und gerade dadurch sind, was sie werden. Vielleicht geht es also nicht nur darum, die Zugbrücke zur Festung der Sakramente von innen her zu öffnen, sondern zu Gott zu beten und sich darauf zu verlassen, dass er die Brücke absenken wird, damit wir – allesamt Nichtverstehende – auf dem Weg zum Eingang fortschreiten können. So höre und lese ich Pater Thomas Pott: Sakramente sind in ihrem Kern und ihrem Wesen nach ein sich selbst enthüllendes und doch immer verschleiertes Geheimnis für alle Beteiligten: Sie bezeichnen „eine per se dynamische Wirklichkeit“ und bedeuten weniger eine absolute Realität, als dass sie Wirklichkeit vergegenwärtigen. Sakramente vermitteln ihre eigene Wirklichkeit in der gläubigen Teilnahme, wobei
Sakramentalität verstehen. Eine kurze Retrospektive
185
zugleich das, was man „Glauben“ nennt, wiederum von Gott in, mit und unter den Sakramenten gewirkt wird und so jeden externen Zuschreibungsprozess vor dem eigentlichen Vollzug unterbindet. Im Nachgang der Tagung verstehe ich besser, dass die Wirksamkeit von Sakramenten ihre Prozessualität ist. Und auf einer Tagung zum Schwerpunkt „Sakramentalität“ ist vielleicht selbst die ökumenische Gemeinschaft von mehr als 200 Liturgikerinnen und Liturgikern im sakramentalen Vollzug täglicher Eucharistiefeiern nicht das unwichtigste Element, auf das ich zurückblicke: Janet Walton und Cláudio Carvalhaes haben nicht nur theoretisch Recht, wenn sie sagen, Sakramente „vermitteln Verbindungen, Beziehungen und Solidarität“, sondern genau das ließ sich in Leuven praktisch erfahren. Und vielleicht geht es vor allem darum, was Lieven Boeve erkannte: Im sakramentalen Vollzug werden „geschlossenen Erzählungen geöffnet“ und Dichotomien verstehen-wollender Verweisstrukturen aufgebrochen. Die Hauptaufgabe, die jeder Verstehensbemühung von Sakramentalität zugrunde liegt, ist dann vielleicht nicht mehr so sehr eine Suche nach Normativität oder einer absoluten Wahrheit, die Menschen als allesamt Nicht-Verstehende hinsichtlich der Wirksamkeit oder dem philosophischen Wesen von Sakramenten – sei es Aristotelisch oder nicht – annehmen und ihr attribuieren (von der Zahl der Sakramente nicht zu sprechen …). Vielleicht geht es bei Sakramentalität weniger um die Frage des „was“ als um die es „wie“; vielleicht geht es bei Sakramentalität um das, was Gilles Deleuze und Félix Guattari „Rhizome“ nennen würden: Sakramentalität ist ein Prozess der dynamischen Interaktion mannigfaltiger und heterogener Menschen, die in einer Verbindung zusammenkommen, die von Natur aus kein Ende hat. Ihr materialer Gehalt wird sich dann schon ereignen, ubi et quando visum est Deo (CA V). Und das so, dass sich immer wieder neu ereignet, was der Katechismus als Ausgangs- und Zielpunkt sakramentaler Vollzüge bestimmt: „Die Kirche feiert die Sakramente als priesterliche Gemeinschaft …“ [KKK 1132].
Predigt der Kongress-Eucharistie Martin Stuflesser
Dear brothers and sisters! “What do you want me to do?” I think this question, uttered sufficiently resigned or desperate, will be known to all of us. I do not want to conceal the fact that this question had an impact on me in 2017, which – as many of you know – was not an easy year for me. When the former German Chancellor Willy Brandt died in 1992, on his tombstone it was written: “One tried.” – “Man hat sich bemüht.” I admit, I had to grow a few years older to understand the deeper meaning of this sentence. And it was precisely when reading the biblical texts for today’s Congress Eucharist, that this inscription again came to my mind. These moments can occur in the life of every Christian, too: You have done this and that. You have tried very hard, have made the right effort, to the best of your knowledge, and yet … Yet … What on earth could have been done more? Perhaps, the most frustrating or liberating answer to this question is, according to the point of view: Nothing! Nothing! Because, let’s take our effort to accomplish something very seriously, only for five seconds, then you have already done all that has to be done. And it would, perhaps, only be made worse, just by accident. In all well-meant ingenuousness, I only move deeper into the swamp, which looks like selfrighteousness, at least from the outside. And thus we would be quite close to what Paul calls “righteousness”. In this wonderful passage from the epistle to his favorite community in Philippi, which we have just heard in the reading, the Apostle refers to his own pivotal experience. As pious Jew, all set in his religion, he had done everything right. He lived by the prayer! He lived by the commandments! He was full of charity! He stood up for the poor! Paul had every reason to be proud of himself. Yet again: He isn’t! To him it is like „skúbala“, the Greek phrase in the original text, especially when looking back. For the experts in Greek among us: The apostle Paul does not really use an edifying word for his earlier moral and religious achievements.
Predigt der Kongress-Eucharistie
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“For his sake”, writes Paul, “I have accepted the loss of all things and I consider them so much rubbish”. “Rubbish” has become the distinguished translation in English. However, “skúbala” is a very specific kind of rubbish, the one that goes down the drain, the removal of which we are very much striving for. Maybe it would have been more impressive to translate Paul’s drastic choice of words more directly. Because it is this rhetorical device that matters to Paul. Only by using these harsh words, Paul is able to describe himself, how hard this break was for him. What he was proud of before, and renowned for among the people, what was undoubtedly his accomplishment, is now only dirt, rubbish, for the drain. For, and this is the antithesis of Paul, something quite decisive was missing. Love. The almost panic fear of willing to do the right thing, and thinking of it constantly, this is what Paul wants to leave behind, to “gain Christ and to be found in him”. This central theorem of Pauline theology is to be considered exspecially in the year of the Rememberance of the Lutheran Reformation by all those who wrote that the only important thing in Christian faith was to do works of charity. You can do works of charity every day, but, says Paul, you might not be able to love. How do you notice? For Paul it is simple, you just not (!) are “in Christ”. Dear brothers and sisters! The choice of biblical texts are prescribed by liturgy. We haven’t chosen them especially for today. With the decision to celebrate the congress Eucharist today, the Biblical readings of the day of St. Clare came upon us. I have to admit that during the preparation of this sermon, a sermon for a feast service for the 50th anniversary of Societas Liturgica, I struggled for a long time with those texts. But the longer I read, meditated and prayed, the more clearly I realized that they might be quite fitting – precisely in an ecumenical context, where we may enter the great thanksgiving of the Church, the celebration of the Eucharist. For what Paul gives us here is a joyous (!) message, it is, nothing more and nothing less, his confession of faith in the sense of a key (!) for a successful life following Christ: How could this message not be fitting for Scietas Liturgica? For Societas Liturgica as a community of baptized Christians, to whom the liturgical celebration of the Christian faith is central to their hearts. For Societas Liturgica as a community of baptized Christians, that has survived stormy times of crisis not only this year. For Societas Liturgica as a community of baptized Christians, which can thankfully look back on 50 years, but can also look, full with hope, at what is ahead in the future. “Not having any righteousness of my own based on the law but that which comes through faith in Christ, the righteousness from God, depending on faith.” This is what Paul makes his own creed, his key (!) to a rewarding way of life, following Christ. His “straining”, which is at the centre of his interest, is not out
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for doing everything right and good. It is his goal to be (!) good. This “being good” is a gift of God, Paul declares. And only with this gift, love is achievable. To be able to love one’s fellow human beings, over all conflicts, all divisions, – tonight, we think of what our different Christian denominations still painfully separates from each other – this faith in God is needed. Without God’s help – or to use the theological expression: without his grace – all this would be hopeless and too much for us. Only with the almost limitless trust in a God who loves and holds and carries me unconditionally, come what may, I am able to leave everything behind, everything that I have achieved through my own effort. Paul gets to the heart of what can hardly be grasped with rational reasoning, and leads us to the core of what we celebrate in every Eucharist: “By being conformed to his death.” The death that God himself dies for us, in Jesus Christ on the cross, is the kenosis in which God becomes a human being and is completely there for us human beings. Of course, we could ponder on this thought with our theological expertise. Yet, we can only realize it to some extent … What we can do is listening, to the words of the Gospel, over and over again. What we can do is engaging us, when it’s getting serious, time and time again. Engaging us, as Paul puts it, to be “in Christ”, entirely. If we have the goal in mind, if in the future, as in the past 50 years, we are able to shape our work and our co-existence in Societas as brothers and sisters, then we will learn: The more we let go of ourselves, the more we will be able to be ourselves in following Jesus. As human beings, conformed by the love of God, that embraces everything. That this is not only just some pious hope, but something that we can experience as a “pre-taste” of everything that is promised to us. That it can already be experienced in the flesh with every celebration of the liturgy, this is what we celebrate in every Eucharist. “Ubi caritas et amor – Deus ibi est!” This is what we will sing together later on! And yes, it is true: We will receive the Eucharistic Bread! A Bread, that will be broken, so that we may live! We will receive the love of God! We will receive our Lord, Jesus Christ, who gives himself fully as a gift to us. That we may live … Truly, this is a reason for joy and gratitude! Amen.
Danksagung Am Ende dieses Bandes gilt es all jenen zu danken, die mitgeholfen haben, dass dieser dreizehnte Band der Reihe „Theologie der Liturgie“ fristgerecht erscheinen konnte: Zunächst den Autoren, die ihre Vorträge für die Druckfassung allesamt noch einmal überarbeitet, teilweise stark gekürzt und sprachlich geglättet haben. Die deutschen Übersetzungen der Hauptvorträge wurden bereits für den Kongress aus dem Französischen und aus dem Englischen erstellt. Hier gilt der Dank den Übersetzern: Florence Berg, Tobias Weyler, Andy Theuer und Torsten Wieschen. Nach dem Kongress hat das Lehrstuhl-Team zunächst in einem ersten Redaktionsschritt zusammen mit den/der Übersetzern/-in und in enger Absprache mit den Autoren die Übersetzungen alle noch einmal durchgesehen und dort, wo dies notwendig war, überarbeitet. Dabei wurde Wert darauf gelegt, dass die Druckfassungen sprachlich in einem wissenschaftlich angemessenen Deutsch verfasst sind, aber immer noch den spezifischen Stil und das sprachliche Kolorit der Ursprungssprache, in welcher der Vortrag gehalten wurde, atmen. Unter der Leitung unseres Mitarbeiters Andy Theuer, der als Kongressmanager maßgeblich zum Gelingen des Kongresses beigetragen hat, wurden schließlich alle Druckfassungen noch einmal in einem eigenen, zweiten Redaktionsschritt vom Team des Lehrstuhls für Liturgiewissenschaft, wiederum in enger Absprache mit den Autoren, Korrektur gelesen. Hier gilt mein Dank neben Herrn Theuer auch Frau Dr. Nicole Stockhoff, Herrn Dr. Simon Schrott, Herrn Tobias Weyler, Frau Inger Klaucke, Herrn Valentin Schmidt, Frau Christine Kluge und Herrn Marco Weis. Die Koordination der Erstellung der Druckfassung und das fertige Layout verantwortet, in vielen Stunden vor dem Computer, unsere Wissenschaftliche Hilfskraft Marco Weis. Ihm sei an dieser Stelle besonders herzlich für sein vorbildliches Engagement und für seine zuverlässige Arbeit gedankt. Herr Dr. Rudolf Zwank hat als Lektor des Pustet-Verlages die schnelle Drucklegung des Bandes ermöglicht und immer wieder ermutigende Rückmeldungen gegeben. Unser Dank gilt ihm, dass dieser Band nun schon so bald nach dem Kongress erscheinen kann. Das Council der Societas Liturgica 2017–2019 hat die mit Band 2 der Reihe „Theologie der Liturgie“ begonnene Tradition fortgeführt, dass die Hauptvorträge des Kongresses zusammen mit dem Kongressthema („Congress Statement“) in den unterschiedlichen Sprachfassungen jeweils in einem Sammelband erscheinen sollen. Neben der traditionellen Publikation der englischsprachigen Fassung der Vorträge in der eigenen Zeitschrift „Studia Liturgica“ werden nun wiederum die fran-
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zösisch- und deutschsprachigen Versionen in einem eigenen Tagungsband publiziert, um so die Dokumentation einer breiteren Leserschaft zugänglich zu machen und die Rezeption der hier vorgelegten Forschungsergebnisse zu erleichtern. Mögen alle Bemühungen, die zur Fertigstellung dieses Bandes geführt haben, auf der Seite der Leserinnen und Leser dieselbe ökumenische Begeisterung und Faszination für das Thema „Sakramentalität“ finden, die auch den 26. Kongress der Societas Liturgica in Leuven im August 2017 ausgezeichnet haben. Würzburg, im Advent 2017 Martin Stuflesser (Herausgeber)
Autorenverzeichnis Johnson Kwabena Asamoah-Gyadu ist Baëta-Grau Professor für “Contemporary African Christianity and Pentecostal/Charismatic Theology” am Trinity Theological Seminary in Legon, Ghana. Lieven Boeve, ist Professor für Fundamentaltheologie an der Fakultät für Theologie und Religionswissenschaft der Katholischen Universität Leuven. Am 1. Oktober 2015 wurde er zum Ehrenprofessor der Australischen Katholischen Universität ernannt. Cláudio Carvalhaes, Dr. unterrichtete in Louisville am Presbyterian Theological Seminary, am Lutheran Theological Seminary in Philadelphia und am McCormick Perbytery in Chicago. Zurzeit ist er Associate Professor für Liturgie am Union Theological Seminary und unterrichtet als Ältester in der Presbyterianischen Kirche in den USA. Elbatrina Clauteaux, Dr. theol., ist Anthropologin, Bildungsphilosophin. Sie doziert Fundamentaltheologie am Theologicum des Katholischen Instituts Paris. Peter Gärdenfors ist Senior-Professor für Kognitive Wissenschaft an der Universität Lund in Schweden. Thomas Pott OSB, Dr. theol., ist Mönch der Benediktinerabtei Chevetogne, lehrt orientalische Liturgie und Byzantinische Sakramententheologie am Päpstlichen Orientalischen Institut und am Päpstlichen Athenäum Santʼ Anselmo in Rom. Josef Quitterer war seit 2001 Associate Professor in der Abteilung Christliche Philosophie der Universität Innsbruck, seit 2017 ist er Dekan der dortigen Fakultät für Katholische Theologie. Er hat Gastprofessuren in Frankfurt, Rom und New Orleans. Martin Stuflesser, ist Professor für Liturgiewissenschaft und Dekan an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Er war Präsident der Societas Liturgica von 2015 bis 2017. Andy Theuer, B. A., ist Referent für Internationalisierung an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Er war Kongress-Manager der Societas Liturgica in Leuven 2017.
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Janet R. Walton ist emeritierte Professorin für Liturgie am Union Theological Seminary in New York. In Forschung und Lehre beschäftigt sie sich auf rituelle Traditionen und Praktiken in religiösen Gemeinschaften, mit einem speziellen Interesse an künstlerischen Dimensionen, feministischen Perspektiven und Engagement für Gerechtigkeit. Tobias Weyler, Mag. Theol., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg
Zum Buch Was sind eigentlich Sakramente, was heißt „Sakramentalität“? Diese Frage kann nicht (mehr) allein von der systematischen Theologie her beantwortet werden. Vielmehr sind die konkreten liturgischen Vollzüge zu berücksichtigen, in denen sich der Gehalt der Sakramente „zeigt“. Grundsätzlicher noch müssen aber auch die Erkenntnisse aus Philosophie und Kulturtheorie, Anthropologie, Religionswissenschaften und Ritual Studies in die theologische Forschung einbezogen werden. Auf einem internationalen Kongress hat sich die Societas Liturgica in ökumenischer Offenheit mit diesen Themen befasst und ein Fundament für die weitere Forschung auf dem Weg zu einer generellen Theologie der Sakramentalität gelegt.
Zu den Herausgebern Joris Geldhof, Dr. theol., geboren 1976, ist Professor für Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie an der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Leuven, Belgien. Martin Stuflesser, Dr. theol., geboren 1970, ist Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Andy Theuer, B. A., geboren 1990, ist Referent für Internationalen Austausch an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.