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German Pages 286 [288] Year 1999
Walther von der Vogelweide
1749
1999
Walther von der Vogelweide Textkritik und Edition Herausgegeben von Thomas Bein
w DE
G_ Walter de Gruyter · Berlin · New York 1999
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek
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CIP-Einheitsaufnahme
Walther von der Vogelweide: Textkritik und Edition / hrsg. von Thomas Bein. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1999 ISBN 3-11-015592-3
© Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin
Inhalt
Vorwort
IX
THOMAS BEIN
Einführung
1
Fachgeschichte SILVIA RANAWAKE
Für Studierende und Laien. Walther-Editionen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
13
FRANZ-JOSEF HOLZNAGEL
Überlieferung und 'Werk*. Zu den Athetesen in Lachmanns erster Auflage der 'Gedichte Walthers von der Vogelweide' (1827)
32
WERNFRIED HOFMEISTER
Schlußbericht zu Alfred Krachers Projekt einer Walther-Ausgabe in Graz
Grundsätzliches,
59
Theoretisches
JENS HAUSTEIN
Walther von der Vogelweide: Autornähe und Überlieferungsvarianz als methodisches Problem
63
THOMAS BEIN
Fassungen - iudicium - editorische Praxis
Töne, Lieder,
72
Fassungen
HARTMUT BLEUMER
Zum 'Niune'-Problem: Walther 90 a/b; L. 117,29/118,12
93
Inhalt
VI
CHRISTIANE HENKES / SILVIA SCHMITZ
Kart min fr owe siieze siurenl (C 240 [248] - C 245 [254]). Zu einem unbeachteten Walther-Lied in der Großen Heidelberger Liederhandschrift
104
PETER GÖHLER
Textabwandlung in der Minnelyrik Walthers von der Vogelweide. Zwei Beispiele
125
ANDREA SEIDEL
Überlegungen zur Strophenfolge: Bi den liuten nieman hat (89, L. 116,33)
140
Überlieferung GISELA KORNRUMPF
Walther von der Vogelweide. Die Überlieferung der *AC-Tradition in der Großen und der Kleinen Heidelberger Liederhandschrift
153
HELMUT TERVOOREN
Die späte Überlieferung als Editionsproblem. Bemerkungen zu Lyrikhandschriften des späten 14. und 15. Jahrhunderts
176
CHRISTIANE HENKES
Beobachtungen zur Überlieferung von Lied 44 (L. 69,1) und Lied 45 (L. 70,1)
195
Wortphilologie PETER KERN
Überlegungen zum Leich Walthers von der Vogelweide
207
EBERHARD NELLMANN
Innozenz ΙΠ. und der »Zauberer Gerbrecht«. Textkritisches zu Walther 33,21f.
221
Inhalt
VII
JOACHIM HEINZLE
Philippe - des riches krone - der weise. Krönung und Krone in Walthers Sprüchen für Philipp von Schwaben
225
Editionspraxis
M A X SCHIENDORFER
Editorischer Zeichensatz und Kritischer Apparat in gestörter Symbiose. Ein nicht ganz ausgegorenes Plädoyer am Beispiel von Walthers 'Elegie' (Cormeau 97; L. 124,1) 241 ULRICH MÜLLER IN ZUSAMMENARBEIT MIT INGRID BENNEWITZ, ELKE HUBER, FRANZ VIKTOR SPECHTLER, MARGARETE SPRINGETH
Brauchen wir eine neue Walther-Ausgabe?
248
* * *
Register
275
Vorwort Vom 9.-11. Oktober 1997 fand am Germanistischen Seminar der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn ein internationales Kolloquium mit dem Titel: 'Walther von der Vogelweide - Textkritik und Edition' statt. Ziel des Kolloquiums war ein erster wissenschaftlicher Austausch über Editionstheorie und -praxis vor dem Hintergrund dreier 'neuer' Walther-Editionen (Christoph Cormeau, Silvia Ranawake, Günther Schweikle). Die Resonanz auf die Einladungen zu diesem Kolloquium war durchweg positiv; leider konnten jedoch nicht alle Eingeladenen kommen. Einige wenige, die in letzter Minute besonderer Umstände wegen absagen mußten, haben aber ihre Beiträge fur den Druck zur Verfügung gestellt. Ich habe zu danken: - der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die großzügige Unterstützung des Kolloquiums; - den Vortragenden für ihre Beiträge; - dem Publikum für engagierte Diskussionen; - dem Germanistischen Seminar fur logistische Unterstützung; - Beate Brandenburg, Iris Brasch-Weber, Andrea Schallenberg, Monika Unzeitig-Herzog und vor allem Antje Bolte für unschätzbare Hilfen bei der Organisation; - dem Verlag de Gruyter für die Übernahme der Drucklegung, besonders Frau Dr. Brigitte Schöning für Hilfen bei konzeptionellen Fragen und Herrn Wolfgang Konwitschny für seine hilfreiche Beratung das Typoskript betreffend.
Den Band gebe ich im Andenken an Christoph Cormeau (1938-1996) heraus.
Bonn, im September 1998
Thomas Bein
THOMAS BEIN
Einführung Verglichen mit anderen Lyrikern des späten 12. und 13. Jhs., so mit den Dichtern der 'Minnesangs Frühling'-Sammlung, weist das GEuvre Walthers von der Vogelweide eine sehr reiche Überlieferung auf1. Von der kleinen Heidelberger Handschrift Α abgesehen, fallen in das späte 13. Jahrhundert noch einige Fragmente bzw. sporadische Aufzeichnungen; sie dokumentieren, daß eine schriftliche Fixierung Waltherscher Lyrik bereits wenige Jahrzehnte nach seinem Tod einsetzt. Die Überlieferung im 14. Jahrhundert, vor allem in den großen Sammelhandschriften B, C und E, hat quantitativ und vielfach auch qualitativ das größte Gewicht. Den Walther-Dokumenten aus dem 15. Jahrhundert, so in der Kolmarer Liederhandschrift t, kommt demgegenüber quantitativ weniger Gewicht zu; sie sind indes als Rezeptionsdokumente von großem Interesse. Wie auch im Falle vieler anderer literarischer Dokumente hat der oberdeutsche Sprachraum (und hier besonders das Alemannische) den größten Anteil an der Überlieferung. Anders jedoch als Texte anderer Minnesänger der Zeit ist Walther auch im mitteldeutschen, rheinfränkischen, ostmitteldeutschen und gar niederdeutschen Raum rezipiert worden. Jede der Sammelhandschriften, die, einmal mit Namenssignatur, einmal ohne, eine größere Sammlung von Walther-Texten überliefern, präsentiert ein je anderes Walther-'Bild'. Nicht nur unterscheiden sich die Codices grundsätzlich im Umfang ihrer Sammlung, sondern häufig genug auch im Wortlaut des Textes (betroffen sind regionalsprachliche, grammatikalische und lexikalisch-semantische Bereiche) und - bezogen auf die einzelnen Töne - in der Strophenanordnung und -anzahl.
Vgl. die kurze Handschriften-Beschreibungen in: Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neu bearbeitete Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner hg. von Christoph Cormeau. Berlin 1996. Vgl. ferner Walther von der Vogelweide. Die gesamte Überlieferung der Texte und Melodien. Abbildungen, Materialien, Melodietranskriptionen. Hg. von Horst Brunner, Ulrich Müller, Franz Viktor Spechtler. Mit Beiträgen von Helmut Lomnitzer und Hans-Dieter Mück. Geleitwort von Hugo Kuhn. Göppingen 1977. - Knappe Überlieferungscharakteristiken in: Walther von der Vogelweide. Epoche - Werk - Wirkung. Von Horst Brunner, Gerhard Hahn, Ulrich Müller, Franz Viktor Spechtler. Unter Mitarbeit von Sigrid NeureiterLackner. München 1996 und in: Thomas Bein: Waither von der Vogelweide. Stuttgart 1997.
2
Thomas Bein
In den Handschriften manifestiert sich 'Varianz', 'Variabilität', mouvance dies Begrifflichkeiten, die gerade in den letzten Jahren wieder verstärkt den im engeren Sinn philologischen Diskurs prägen. Was tun mit einer derart komplexen und komplizierten Überlieferung? Der erste Walther-Editor und gleichzeitig Ur-, manchmal auch Übervater der Editionswissenschaft, Karl Lachmann, leitete seine Ausgabe 1827 wie folgt ein: »Den reichsten und vielseitigsten unter den liederdichtern des dreizehnten Jahrhunderts in würdiger gestalt wieder erscheinen zu lassen hatte ich schon im jähr 1816 mit emsthafter arbeit anstalt gemacht«. Das erklärte Ziel, Walthers Lyrik in »würdiger gestalt« zu edieren, dürfte sich auch heute noch ein jeder Editor zu eigen machen. Darüber aber, wie diese »gestalt« zu konkretisieren, wann sie 'würdig' zu nennen oder als 'unwürdig' in Rezensionen zu zerpflücken sei, gingen und gehen die Meinungen auseinander. Von 'Liebhaber'- und Teileditionen (mit und ohne nhd. Übersetzung oder 'Erneuerung') abgesehen2, stellen im wesentlichen die Editionen von Karl Lachmann3 - in seiner Tradition stehend dann auch von Carl von Kraus4 - , von Wilhelm Wilmanns5 und Victor Michels6, von Hermann Paul7 und von Friedrich Maurer8 die editorischen Grundlagen dar, auf die sich im Laufe von nun fast zwei Jahrhunderten die Walther-Exegeten bezogen haben und beziehen. Berück2
Vgl. die entsprechenden bibliographischen Listen in: Manfred Günter Scholz: Bibliographie zu Waither von der Vogelweide. Berlin 1969. - Darüber hinaus muß jetzt die WaltherTeiledition in: Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters. Edition der Texte und Kommentar von Ingrid Kasten. Übersetzungen von Margherita Kuhn. Frankfurt/M. 1995 erwähnt werden.
3
Vgl. Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Hg. von Karl Lachmann. Berlin 1827 und Die Gedichte Waithers von der Vogelweide. Zweite Ausgabe. Von Karl Lachmann. Berlin 1843. Vgl. vor allem die zehnte Auflage, die heute in der dreizehnten (Hugo Kuhn hat kaum etwas verändert) am besten zugänglich ist: Die Gedichte Waithers von der Vogelweide. Hg. von Karl Lachmann. Dreizehnte, aufgrund der zehnten von Carl von Kraus bearbeiteten Ausgabe neu hg. von Hugo Kuhn. Berlin 1965. Vgl. Walther von der Vogelweide. Hg. und erklärt von Wilhelm Wilmanns. Halle 1869 (Zweite, vollständig umgearbeitete Ausgabe Halle 1883). Vgl. Walther von der Vogelweide. Hg. und erklärt von W. Wilmanns. Vierte, vollständig umgearbeitete Auflage besorgt von Victor Michels. 2 Bde. Halle/S. 1916/1924. Vgl. Die Gedichte Waithers von der Vogelweide. Hg. von Hermann Paul. Halle 1882. Vgl. Die Lieder Walthers von der Vogelweide. Unter Beifügung erhaltener und erschlossener Melodien neu hg. von Friedrich Maurer. 1. Bändchen. Die religiösen und die politischen Lieder. 3., durchgesehene Auflage Tübingen 1967. 2. Bändchen. Die Liebeslieder. 3., verbesserte Auflage. Tübingen 1969 und Friedrich Maurer: Die politischen Lieder Walthers von der Vogelweide. Dritte, durchgesehene Auflage. Tübingen 1972 ['1954, 2 1964].
4
5
6
7 8
Einführung
3
sichtigt man noch die Ausgaben von Friedrich Heinrich von der Hagen9, Franz Pfeiffer und Karl Bartsch10, Wilhelm Wackemagel und Max Rieger11, Joerg Schaefer12 sowie Helmut Protze13, so präsentiert sich uns die Editionsphilologie zu Walther als fast genauso bunt und 'variantenreich' wie die handschriftliche mittelalterliche Überlieferung. Vor allem für Leser dieses Sammelbandes, die bislang nur wenig mit der Walther-Philologie vertraut sind, seien im folgenden einige wichtige editorische Bemühungen knapp skizziert: 1. Karl Lachmann, von der Klassischen Philologie kommend, war grundsätzlich der Meinung, aufgrund genauen Vergleichs aller Überlieferungszeugen zum 'Ursprung' der Texte zurückzufinden, zumindest zu einem Text, der dem 'Original' nahesteht (dem sog. Archetyp). Betrachtet man Lachmanns Editionen im einzelnen, so zeigt sich, daß er, vor allem, was Walther angeht, mit der philologischen Rekonstruktion noch vorsichtig verfuhr. Er orientierte sich zunächst und vornehmlich an der positiven Überlieferung, wenn auch die Beurteilung der einzelnen Zeugen seinem höchst eigenen iudicium unterlag. Lachmann ordnete die Walther-Töne in vier Büchern an, ausgerichtet am Profil der Überlieferung: Die reich in mehreren und alten Handschriften tradierten Texte bilden das erste Buch, mit abnehmender Dichte verteilte er die anderen auf die übrigen Bücher.14 Diese Ordnung ist bis heute umstritten, vor allem scheint das häufige Wechseln zwischen Minneliedern und Sangspruchtönen zu stören. Aber andererseits begegnet mit Lachmanns Edition eine Textfolge, die näher an der handschriftlichen Überlieferung ist als viele andere. Lachmanns Ausgabe war eine ungebrochene Tradition bis in die jüngste Gegenwart beschert: 1853 und 1864 besorgte Moriz Haupt die 3. und 4. Ausgabe; die 5. und 6. Auflage betreute 1875 und 1891 Karl Müllenhoff. Von 1907 bis 1959, d.h. bis zur 12. Ausgabe, lag die Lachmannsche Edition in den Händen des bedeutenden, wenn auch wissenschaftlich umstrittenen Philologen Carl von 9
In: Friedrich Heinrich von der Hagen: Minnesinger. Deutsche Liederdichter des zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts [...]. IV Bde. Leipzig 1838. 10 Vgl. Walther von der Vogelweide. Hg. von Franz Pfeiffer. Sechste Auflage, hg. von Karl Bartsch. Leipzig 1880. 1 ' Vgl. Walther von der Vogelweide nebst Ulrich von Singenberg und Leithold von Seven. Hg. von Wilhelm Wackernagel und Max Rieger. Glessen 1862. 12 Vgl. Joerg Schaefer: Walther von der Vogelweide. Werke. Text und Prosaübersetzung, Erläuterung der Gedichte, Erklärung der wichtigsten Begriffe. Darmstadt 1972. 13 Vgl. Walther von der Vogelweide. Sprüche und Lieder. Gesamtausgabe. Hg. und eingeleitet von Helmut Protze. Leipzig 1983. 14 Vgl. dazu die Ausführungen Cormeaus in der Einleitung zu seiner Ausgabe [Arnn. 1],
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Thomas Bein
Kraus. Die 10. Ausgabe (1936) stellt dabei eine tiefgehende Abkehr von Lachmanns Editionspraxis dar; von Kraus revidierte den Lachmannschen Text grundlegend; er griff vielfach in überlieferten Wortlaut ein, stellte Strophen um, athetierte andere, kurz: er praktizierte extensive Konjekturalkritik. Bis 1996 blieb die Lachmannsche Ausgabe mit von Krausscher Überformung unverändert (1965 noch einmal von Hugo Kuhn betreut).15 Über ein Jahrzehnt währte schließlich die erneute grundlegende Überarbeitung der Ausgabe durch Christoph Cormeau, die er kurz vor seinem Tod, 1996, vollenden konnte. Cormeau behielt von Lachmanns Edition die Bucheinteilung bei, veränderte aber den von Krausschen Text erheblich. Nach neuer Handschriftenkollation und neuem Vergleich aller Textträger wandte er ein modifiziertes Leithandschriftenprinzip an: Konjekturen bzw. Emendationen wurden äußerst sparsam und nur bei augenscheinlichen Überlieferungsdefekten eingesetzt, die sprachliche Normalisierung ging weniger weit als die Lachmanns und seiner Nachfolger, metrisch rigoroses Glätten der Texte wurde vermieden. Echtheitsmutmaßungen wurden - wenn überhaupt - sehr zurückhaltend geäußert. Sog. 'Zusatzstrophen', früher in Anmerkungen bzw. Anhänge verbannt, finden sich nun bei den entsprechenden Tönen im Hauptteil der Edition. Eher zurückhaltend war Cormeaus Umgang mit der Fassungsvarianz sowohl auf der Text- als auch auf der Tonebene (z.B. die Strophenreihenfolge betreffend): nur in wenigen Fällen griff er zum Mittel der Fassungssynopse. 2. Eine andere Editionstradition begründete Hermann Paul: »Dem zwecke der Sammlung entsprechend, die mit diesem bände eröffnet wird [d.h.: die Altdeutsche Textbibliothek, ATB], bin ich lediglich bestrebt gewesen die gedichte Walthers durch eine möglichst billige und handliche ausgabe leicht zugänglich zu machen. Ich mache nicht den anspruch, damit etwas wesentliches fur die kritik und erklärung geleistet zu haben«16. Paul macht mit diesen Worten seine Leistung kleiner, als sie ist. Schon die Tatsache, daß seine Edition nun, über 100 Jahre später, erneut, wenn auch revidiert, von Silvia Ranawake herausgebracht wird (ein erster Band ist bereits erschienen)17, zeigt, daß sie Prinzipien verpflichtet war, denen man heute noch (bzw.: wieder) zustimmen kann. Liest man Pauls knappe editionstheoretische und -praktische Hinweise, so fallen insbesondere seine erfrischend agnostizistischen Bemerkungen auf. Weit
15
Siehe Anm. 4.
16
Paul, 1882 [Anm. 7], S.III. Vgl. Walther von der Vogelweide: Gedichte. 11. Auflage auf der Grundlage der Ausgabe von Hermann Paul hg. von Silvia Ranawake, mit einem Melodieanhang von Horst Brunner. Teil 1: Der Spruchdichter. Tübingen 1997.
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Einführung
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zurückhaltender als andere Zunftgenossen ist er mit Versuchen, vorgebliche Überlieferungsdefekte zu bessern. Die Problematik, Echtes von Unechtem zu scheiden, sieht er deutlicher als andere und gesteht freimütig ein, hier kaum zu wirklichen Ergebnissen kommen zu können. Paul hat seine Ausgabe anders geordnet als Lachmann und »die ganze masse unter zwei hauptabteilungen gebracht«, nämlich Lieder und Sangsprüche; innerhalb dieser beiden Großgruppen sind weitere lose thematische Blöcke zu finden. Pauls Ausgabe wurde 1945 von Albert Leitzmann revidiert, der zum einen Pauls »ruhige, durch keine lieblingsmeinungen voreingenommene klarheit und objectivität« lobend herausstellte, zum anderen aber den Text »völlig mit Lachmanns zehnter, von Kraus gänzlich umgearbeiteter ausgabe von 1936 übereinstimmend gestaltete]«18. Dadurch wurde Pauls editorischer Zugriff erheblich verdeckt. Silvia Ranawake schreibt in ihrem Vorwort zur Revision der Paulschen Ausgabe jetzt: »Die Rückkehr zu dem von Hermann Paul 1911 in vierter Auflage herausgegebenen, von Paul noch selbst überprüften Text haben wir in diesem Band vollzogen. Pauls behutsamer Umgang mit der Überlieferung kommt den heutigen Anforderungen näher als die Ausgabe von Carl von Kraus [...]«". 3. Wilhelm Wilmanns und Victor Michels20 folgen in der Anordnung der Walther-Texte im wesentlichen Lachmann. Die Textkritik im einzelnen indes weicht von der Lachmanns durchaus ab; die Beurteilung einzelner Lesarten unterliegt häufig einem anderen iudicium. Bedeutung hat diese Ausgabe vor allem der wertvollen Erläuterungen und Stellenkommentare wegen. Auch gut 70 Jahre nach der grundlegenden Bearbeitung durch Michels sind diese Kommentare unschätzbare hermeneutische Hilfen, wenn auch über Einzelnes anders geurteilt werden kann. Es gibt bis heute keinen derart umfangreichen Stellenkommentar zu Walther, und jeder Interpret dürfte bei seinen Bemühungen um den Sinn von Walthers Texten hier viel Hilfe finden. Ebenso ertragreich ist der erste Band von Michels Überarbeitung, der vielfach bis heute noch gültige Einsichten in die komplizierte Überlieferung des Waltherschen Werkes gewährt, wenn auch neuerer Erkenntnisse wegen manches zu korrigieren ist.21
18
" 20 21
Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Hg. von Hermann Paul. Sechste Auflage besorgt von Albert Leitzmann. Halle (Saale) 1945, S. V. [Anm. 17], S. X. - Vgl. weiter den Beitrag von Silvia Ranawake in diesem Band. Siehe Anm. 5 und 6. Vgl. dazu auch Franz-Josef Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik. Tübingen und Basel 1995 und den Beitrag von Gisela Komrumpf in diesem Band.
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Thomas Bein
4. Die mit Abstand 'thesenreichste' Walther-Edition legte Friedrich Maurer vor22, der die Paulsche Ausgabe damit aus der ATB-Reihe verdrängte. Bereits die Aufteilung in zwei Bände mit je eigenen Untertiteln (1. »Die religiösen und die politischen Lieder«, 2. »Die Liebeslieder«) macht den Anteil des Philologen an der Ausgabe deutlich: Er ordnete die überlieferten Texte thematisch neu, eliminierte die Mischformen der Handschriften und legte somit eine Ordnungsstruktur ex post an, wenn Maurer die Problematik auch durchaus bewußt war.23 Seine Ordnung der Texte ging jedoch noch weiter. Er war der Meinung, »daß es unmöglich ist, die verschiedenen Spruchtöne zu den gleichen Zeiten nebeneinander anzusetzen; jeder Ton hat seine Zeit«24. In einer anderen Arbeit, Studie und Edition zugleich, hatte Maurer bereits seine These von den 'politischen Liedern' grundgelegt25, die besagte, daß Walthers Töne auch in sich eine heute noch eruierbare Genese hätten, die eine Edition durchsichtig machen und darstellen müßte. Diese These hat bekanntlich viel wissenschaftlichen Disput ausgelöst.26 Editionspraktische Konsequenzen von Maurers These waren weitgehende Eingriffe in die Überlieferung, metrische und lexikalische Korrekturen (Konjekturen), häufige, massive Umstellungen von Strophenreihen sowie das Ausgrenzen vieler Strophen als mutmaßlich nicht authentische, sekundäre Zusatzstrophen. Auf der Ton-Ebene nicht ganz so extrem griff Maurer im Bereich der Liebeslieder ein. Dafür aber verlieh er den Liedern - im Eingeständnis der Problematik seines Tuns - einen je eigenen, relativen chronologischen Status, d.h., er postulierte eine bestimmte Genese der Lieder und wandte sich damit von der Lachmann-Kraus-Cormeauschen und auch Wilmannsschen Orientierung an Codex-Ordnungen ab. Die Ausgabe von Friedrich Maurer prägte vielfach den akademischen Unterricht, z.T. auch dadurch begründet, daß Maurer noch eine, bis in die jüngere Zeit immer wieder aufgelegte Ausgabe mit Übersetzung herausbrachte.27 Wie erwähnt, werden Maurers ATB-Bändchen jetzt nicht mehr aufgelegt; Ranawakes Neubearbeitung der Paulschen Ausgabe stellt nun den ΆΤΒ-Walther' dar. 22 23 24 25 26
27
Siehe Anm. 8. Vgl. Maurer 1969 [1. Bändchen], S. VII. Maurer 1969 [1. Bändchen], S. X. Vgl. Maurer 1972 [Anm. 8]. Vgl. Helmut Tervooren: 'Spruch' und 'Lied'. Ein Forschungsbericht. In: Mittelhochdeutsche Spruchdichtung. Hg. von Hugo Moser. Darmstadt 1972, S. 1-25. Vgl. Walther von der Vogelweide. Sämtliche Lieder. Mittelhochdeutsch und in neuhochdeutscher Prosa. Mit einer Einführung in die Liedkunst Walthers hg. und übertragen von Friedrich Maurer. München 51993.
Einfühlung
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Mit der grundlegenden Revision der durch von Kraus überformten Lachmannschen Edition von Cormeau liegt eine zweite 'neue' Walther-Ausgabe vor. Diese beiden 'aktuellen' Ausgaben stehen also in einer langen Philologie-Tradition. Eine dritte und editionstheoretisch und -praktisch wieder anders konturierte Edition (mit nhd. Übertragung und kleinem Stellenkommentar) erarbeitet z.Zt. Günther Schweikle; ein erster Band ist bereits 1994 erschienen.28 »Diese Ausgabe ist mutmaßlich seit langem die erste, die nicht auf Lachmanns kanonisch gewordener Edition (bzw. den von Carl von Kraus 'verbesserten' Auflagen) aufbaut, sondern unabhängig von dieser die Texte wieder unmittelbar aus den Handschriften gewinnt« (Vorwort Bd. 1). Schweikle wendet sich ganz ab vom Versuch der Rekonstruktion und läßt ein strenges Leithandschriftenprinzip zur Anwendung kommen. Er setzt damit - durch die Überlieferungsverhältnisse notgedrungen modifiziert - fort, was er bereits in den 70er Jahren mit seiner Minnesang-Anthologie29 und 1986 mit seiner Reinmar-Ausgabe30 begonnen hatte. Die Tatsache nun, daß noch in jüngster Zeit drei 'neue' Editionen erschienen sind bzw. im Erscheinen begriffen sind, provoziert geradezu editionstheoretische und -praktische Diskussionen: das konzentrierte Gespräch zwischen Fachvertretem und -Vertreterinnen über Prämissen, fachgeschichtliche Implikationen und Detailfragen, auch vor dem Hintergrund neuer methodischer Vorschläge ('Neue Philologie'). Das Bonner Kolloquium 'Walther von der Vogelweide - Textkritik und Edition' sollte ein Forum für solche Diskussionen sein; die Erträge dokumentieren die in diesem Band vereinten Aufsätze: Fach- und methodengeschichtlicher Art sind die Beiträge von Silvia Ranawake (London), Franz-Josef Holznagel (Köln) und Wernfried Hofmeister (Graz). Ranawake läßt die zahlreichen Walther-Ausgaben der letzten zwei Jahrhunderte Revue passieren, ordnet diejenige Hermann Pauls in die Editionsgeschichte ein und weist ihr eine wissenschaftshistorische Position zu, von der ausgehend die aktuelle Neubearbeitung zu begründen war. Holznagel geht auf die Geschichte der Lachmannschen Walther-Ausgabe ein, wobei er das Problem der Athetesen
28
29
30
Vgl. Walther von der Vogelweide. Werke. Gesamtausgabe. Band 1. Spruchlyrik. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Hg., übersetzt und kommentiert von Günther Schweikle. Stuttgart 1994. Vgl. die jüngste Auflage: Günther Schweikle: Mittelhochdeutsche Minnelyrik. I. Frühe Minnelyrik. Texte und Übertragungen, Einführung und Kommentar. Stuttgart, Weimar 1993. Reinmar. Lieder. Nach der Weingartner Liederhandschrift (B). Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Hg., übersetzt und kommentiert von Günther Schweikle. Stuttgart 1986.
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Thomas Bein
und ihrer 'Verselbständigung' im Laufe der Editionsgeschichte in den Mittelpunkt stellt; nützliche Materialien sind in einem Anhang beigegeben. Hofmeister erinnert in seiner Miszelle an ein Walther-Editionsprojekt von Alfred Kracher. Mehr grundsätzlicher Perspektivierung verpflichtet sind die Beiträge von Jens Haustein (Jena) und Thomas Bein (Bonn). Haustein geht, mit Rückgriff auf jüngere theoretische Überlegungen, auf das Verhältnis von Text- und Überlieferungskritik ein (Verhältnis von Autor und Werk) und problematisiert konkrete editorische Entscheidungen von Christoph Cormeau, hier vor allem Eingriffe in die handschriftlichen Strophenfolgen betreffend. Bein beschäftigt sich mit dem Problem der Text-Fassungen und der Frage, wie ein Editor am besten damit umgehen möge. Er plädiert dafür, sowohl auf der Ebene des Textes als auch auf der Ebene der Strophenfolge und des Strophenbestands eine Typologie der Varianz zu erarbeiten, um besser entscheiden zu können, wann Paralleldrucke in einer Edition das Mittel der Wahl sein können. Das Problem der Varianz auf der Lied- bzw. Tonebene (mit Bezug auf Einzelfalle) gehen Hartmut Bleumer (Hamburg), Christiane Henkes und Silvia Schmitz (Aachen), Peter Göhler (Berlin) und Andrea Seidel (Halle) an. Bleumer stellt das - auch editionsgeschichtlich äußerst kontroverse - 'Niune'-Problem (L. 117,29/118,12) vor und diskutiert Fragen nach dem Liedzusammenhang und der Authentizität. Henkes und Schmitz befassen sich mit den in der großen Heidelberger Liederhandschrift durch Initialfärbung zu einem Ton zusammengefassten Strophen C 240 [248] - C 245 [254], die sie - anders als Editoren und Literarhistoriker bislang - als eigenständiges Lied interpretieren. Göhler beschäftigt sich mit »Problemen des Strophenbestandes, der Strophenfolge und der Textabwandlung« anhand von zwei Beispielen: Die zwivelcere sprechent (L. 58,21) und Die mir in dem winter (L. 73,23). Seidel verdeutlicht anhand von Ausgaben-Vergleichen den editorisch disparaten Umgang mit handschriftlich manifester Strophenfolge; ihr Paradigma ist Bi den liuten nieman hat (L. 116,33). Der komplexen Überlieferung und ihrer editorischen Bewertung widmen sich Gisela Kornrumpf (München), Helmut Tervooren (Duisburg) und Christiane Henkes (Aachen). Kornrumpf befaßt sich mit der Überlieferung der *AC-Tradition und dem schwierigen Geschäft, die positiven Textzeugen mit Blick auf hinter diesen zu vermutende Vorstufen zu interpretieren. Die Relevanz fur die Editionspraxis umschreibt sie so: Es könne kein Zweifel sein, »daß nicht bloß Neufunde sich in einer Edition auswirken, sondern auch ein - und sei's nur im Detail - durch Neuinterpretation des bekannten Befunds verändertes Bild der schriftlichen Tradierung«. Tervooren schlägt vor, die Walther-Handschriften deutlicher nach Typen zu schichten. So hätten vor allem die späten Handschriften des 15. Jhs. einen grundsätzlich anderen (Sammel-) Charakter als die Haupt-
Einfühlung
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handschriften Α, Β, C. Editorische Konsequenz müßte sein, bei der Textherstellung beide Hauptgruppen nicht zu vermischen, auch dann nicht, wenn diese späten Handschriften augenscheinlich 'guten' oder gar 'besseren' Text zu bieten haben. Auf einen Einzelfall bezogen (L. 69,1 und 70,1) diskutiert Henkes die Initialfärbung von Liedstrophen in der Großen Heidelberger Handschrift, die metrische Kohärenz der so als e i n Ton markierten Texte sowie die editorischen Konsequenzen, die Initialfärbungen einfordern. Philologische Details greifen Peter Kern (Bonn), Eberhard Neilmann (Bochum) und Joachim Heinzle (Marburg) auf. Kern nimmt Bezug auf Walthers Leich, diskutiert Cormeaus Entscheidung für die Leithandschrift C und macht eine Reihe von Eingriffen in diese Leithandschrift rückgängig, nicht nur, weil sie nicht nötig seien, sondern weil die entsprechenden C-Lesarten gerade eine adäquate Deutung zuließen. Neilmann setzt sich mit einer Konjektur, ihrer Geschichte und Berechtigung in L. 33,21/22 (alrest) auseinander und macht einen alternativen Vorschlag, der dem Sinn der Stelle eher entspreche. Heinzle bezieht - über die Diskussion des grammatischen Status von Philippe in L. 9,8 (Dativ vs. Vokativ) - neu Stellung zu Datierungsfragen und zur 'Einheit' des Reichstons; darüber hinaus geht er vor dem Hintergrund neuer historischer Forschungen auf die Identität der Krone und des 'Waisen' ein. Editionspraktisch ausgerichtet sind die Beiträge von Max Schiendorfer (Zürich) und Ulrich Müller (Salzburg - in Zusammenarbeit mit Ingrid Bennewitz, Elke Huber, Franz Viktor Spechtler und Margarete Springeth). Schiendorfer stellt editionspraktische Fragen zur 'Elegie' (97; L. 124,1), vor allem das textkritische Zeicheninventar in Cormeaus Ausgabe betreffend. Müller et alii stellen die Grundsatzfrage 'Brauchen wir eine neue Walther-Ausgabe?' und beantworten sie mit einem 'Jein'. Sie schlagen vor, daß neben den nun vorhandenen kritischen Ausgaben eine weitere sinnvoll sei, bei der sich der Editor mit Vorentscheidungen weitestgehend zurückhält. Anhand von Editionsbeispielen demonstrieren sie mögliche Wege. ***
Am Ende dieser Einführung sei vermerkt, daß während des Kolloquiums der Wunsch nach einem die Cormeau-Ausgabe begleitenden 'Beiheft' geäußert wurde, in dem die editorischen Überlegungen Cormeaus, auf Einzelfälle bezogen, erläutert werden könnten. Ich werde in nächster Zeit eruieren, ob so ein Bändchen aus den umfangreichen Akten und Protokollen, die mir zugänglich sind, ex post zusammengestellt werden kann.
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Thomas Bein
Schließlich möchte ich an dieser Stelle auch alle Fachkolleginnen und -kollegen, die Verbesserungsvorschläge zur Cormeau-Ausgabe haben, bitten, mir diese mitzuteilen. Ich werde die Cormeau-Ausgabe weiter betreuen und bin von daher an offenen, sachlichen Gesprächen und wissenschaftlichem Austausch auch jenseits von Publikationsorganen sehr interessiert. (Da sich Privat- und Dienstadressen schnell verändern können, ist es am sinnvollsten, wenn entsprechende schriftliche Hinweise an den Verlag: W. de Gruyter & Co., z.Hd. Frau Dr. Brigitte Schöning, Postfach 30 34 21, 10728 Berlin gehen, verbunden mit dem Hinweis, die Nachrichten an mich weiterzuleiten.) ***
Zum Umgang mit Herausgeber-Siglen in diesem Band: Um in jedem Fall allen Benutzem dieser Aufsatzsammlung eine Identifizierung der angesprochenen Walther-Texte zu ermöglichen, sind neben Zählungen anderer Editoren (vor allem der neuen von Christoph Cormeau) stets die alten Lachmannschen Stellenangaben mitgegeben (Beispiel: L. 69,1 = Lachmann S. 69, Zeile 1; wo nicht eigens vermerkt, ist dabei auf die 2. Auflage von 1843 Bezug genommen: Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Zweite Ausgabe. Von Karl Lachmann. Berlin 1843). Viele Beiträgerinnen und Beiträger haben Walther-Texte nach der Ausgabe von Christoph Cormeau zitiert und folglich auch seine neue Zählung verwendet. Meistens steht die Cormeau-Zählung ohne eine zugesetzte Sigle, z.B.: 90a/b (L. 117,29/ 118,12); einige Autoren haben jedoch eine Sigle (z.B.: C 90a/b) oder gar den vollen Editor-Namen (z.B.: Cormeau 90a/b) hinzugefugt. Ich habe mich als Herausgeber dieses Bandes entschlossen, hier nicht 'normierend' tätig zu werden; durch entsprechende Fußnotenangaben ist immer sichergestellt, worauf sich die Autorinnen und Autoren mit ihren Zählungen beziehen.
FACHGESCHICHTE
SILVIA RANAWAKE
Für Studierende und Laien. Walther-Editionen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts erschienen neben dem von Karl Lachmann herausgegebenen kritischen Text der Gedichte Walthers von der Vogelweide, der 1891 bereits in sechster Ausgabe vorlag, eine Anzahl von alternativen Editionen, die vor allem das Bemühen widerspiegeln, nicht nur »den reichsten und vielseitigsten unter den liederdichtern des dreizehnten jahrhunderts in würdiger gestalt wieder erscheinen zu lassen« (Lachmann 1827), sondern auch »das Verständnis des dichters zu erleichtem« (Wilmanns 1869).1 Während die Betreuer und Bearbeiter der Lachmannschen Ausgabe, erfüllt von dem Bewußtsein, daß es sich um die einzige Ausgabe mit vollständigem kritischen Apparat handle, in ihren begleitenden Ausfuhrungen mehr oder weniger ausschließlich die Relation Überlieferung - edierter Text darlegen, wird in der Diskussion, die die alternative Herausgebertätigkeit begleitet, in Vorreden und Rezensionen, auch die Frage nach den anvisierten Lesern und ihren Bedürfnissen gestellt, nach der Art und Weise, wie der Herausgeber seine Vermittlerfunktion erfüllen kann und welches die letztendlichen Ziele einer solchen Vermittlung sind. Die Antworten auf diese Fragen haben nicht nur die Gestaltung der betreffenden Ausgaben mitbestimmt, sondern auch auf Revisionen der Lachmannschen Ausgabe selbst eingewirkt und die Edition von Walthers Werk bis heute mitgeprägt. Darüber hinaus ist diese Diskussion Ausdruck eines sich wandelnden Selbstverständnisses des Faches Germanistik, und als solche auch für uns noch relevant. Die folgenden Ausführungen zu Aspekten der alternativen Walthereditionen möchten dazu anregen, Probleme der Edition wiederum verstärkt mit Hinblick auf die Benutzer zu diskutieren und die Herausgebertätigkeit in größeren bildungs- und kulturgeschichtlichen Zusammenhängen zu erörtern.
Übersicht der Ausgaben in: Manfred Günter Scholz: Bibliographie zu Walther von der Vogelweide. Berlin 1969, S. 21-28; Barbara Bartels: Bibliographie zu Walther von der Vogelweide. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Emst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, 30, 1981, S. 85-90, hier S. 85; Thomas Bein: Walther von der Vogelweide. Stuttgart 1997, S. 266-267; eine Charakteristik der älteren Ausgaben bietet Victor Michels in: Walther von der Vogelweide. Hg. und erklärt von W. Wilmanns. 4., vollständig umgearbeitete Auflage. Besorgt von V. M. Halle a. S. 1924, Bd. 2, S. 41-55.
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Den Hintergrund für das Interesse an alternativen Editionen von Walthers Gedichten bildet die Situation des sich an den Schulen und Universitäten etablierenden Faches Germanistik, eine Situation, deren Problematik Konrad Burdach 1883 folgendermaßen anspricht: »Die deutsche philologie ist ...eine große Wissenschaft geworden und hat der jünger viele und bedeutende gewonnen, aber hat sie auch im gleichen Verhältnis ihr publicum vermehrt, hat sie noch die lebendige fuhlung mit dem herzen der nation? hat sie im kreise der übrigen Wissenschaften ... den rang und die achtung sich erobert, die ihr gebühren?«2 Zweierlei Aufgaben galt es zu bewältigen, wollte sich die Germanistik behaupten. Zum einen war der Nachweis zu erbringen, daß es sich bei dieser Disziplin um ein streng wissenschaftliches Fach handele, das als solches gleichwertig neben den übrigen Wissenschaften, insbesondere neben der klassischen Philologie, an den Universitäten seinen Platz beanspruchen konnte. Zum anderen mußte gezeigt werden, daß das Studium der Germanistik nicht eine elitäre Beschäftigung für wenige Eingeweihte, eine Wissenschaft von Gelehrten für Gelehrte war, sondern eine Disziplin, die etwas für die »Nation« leistete3, indem sie sich bemühte, allen potentiell Interessierten, vor allem aber auch der Jugend, die deutschen Dichtungen des Mittelalters zu erschließen.4 In beiderlei Hinsicht hatte das Fach auch noch in den siebziger und achtziger Jahren mit beträchtlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Sein Ansehen bei Vertretern der Nachbardisziplin scheint nicht immer ein hohes gewesen zu sein. Burdach berichtet, er habe, als er im Sommer 1877 als junger Student nach Bonn kam, wie natürlich einen ausgezeichneten klassischen Philologen besucht. »Wie er hörte, daß ich den Vorsatz hätte, germanist zu werden und eine Vorlesung über Walther von der Vogelweide sowie die deutsche litteraturgeschichte des 18. jahrhunderts bei Wilmanns zu hören, zog er ein bedenkliches gesicht und redete mir freundschaftlich und eifrig von diesem Studium ab. die germanistik, versicherte er mit dem ihm eigenen pathos, sei gar keine Wissenschaft, sie habe keine zukunft, in 10 jähren würde alles mittelalterliche zeug ediert sein und dann sei es mit der herrlichkeit aus...«5
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Konrad Burdach (Rez.): Leben und Dichten Walthers von der Vogelweide von W. Wilmanns, Bonn 1882. In: AfdA 9 (1883), S. 339-360, hier S. 359. Ursula Burkhardt: Germanistik in Südwestdeutschland. Die Geschichte einer Wissenschaft des 19. Jhs. an den Universitäten Tübingen, Heidelberg und Freiburg. Tübingen 1976, S. 6265. Franz Pfeiffer (Hg.): Walther von der Vogelweide. Deutsche Classiker des Mittelalters 1. Leipzig 1864, S. VII-X. Burdach (Rez.): Leben [Anm. 2], S. 359.
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Auch die Stellung des Faches als Unterrichtsgegenstand an den Schulen, die sein Ansehen in der Öffentlichkeit zu festigen versprach, war durchaus nicht gesichert, wie Burdach an gleicher Stelle bemerkt: »Im vergangenen jähre sind die mittelhochdeutschen classiker aus den preussischen gymnasien vertrieben worden, ein gleiches schicksal dürfte ihnen in Österreich bevorstehen, ist das der anfang vom ende?« 1884 wurde tatsächlich der mittelhochdeutsche Unterricht auch an den österreichischen Gymnasien abgeschafft. Erst 1890/91 wurde er nicht nur dort, sondern auch in Preußen, Württemberg und Bayern, nicht zuletzt unter dem Druck nationaler Bestrebungen, wieder aufgenommen.6 Sowohl was die wissenschaftliche Legitimierung des Fachs anging, als auch was seine gesellschaftliche Leistimg betraf, wurde der systematischen Erschließung der älteren deutschen Literatur durch Editionen eine zentrale Bedeutung zugeschrieben7; und innerhalb der regen Herausgebertätigkeit und der sie begleitenden Untersuchungen nahm wiederum die Edition von Walthers (Euvre zusammen mit der des 'Nibelungenliedes' eine besonders prominente Stellung ein. Die Anwendung der an die theologische Textkritik und die Editionsprinzipien der Altphilologie anknüpfenden textkritischen Methode Lachmanns rechtfertigte den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Damit besaß Lachmanns Waltherausgabe exemplarischen Charakter als »bahnbrechende Arbeit« und als »unverrückte Grundlage« für die Wissenschaft.8 Von Herausgebern einer von der
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Zur Einfuhrung des mittelhochdeutschen Unterrichts siehe: Georg Schübel: Die Geschichte des mittelhochdeutschen Unterrichts. In: Zeitschrift für Deutschkunde (= Jg. 35 der Zeitschrift für den deutschen Unterricht), 1921, S. 319-337; Otfried Ehrismann: Das Nibelungenlied in Deutschland. Studien zur Rezeption des Nibelungenliedes von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. München 1975, S. 224-233. - Ders.: Nibelungenlied 1755-1920: Regesten und Kommentare zu Forschung und Rezeption. Glessen 1986, S. 188208. Nicht zugänglich war mir: Horst Joachim Frank: Geschichte des Deutschunterrichts von den Anfängen bis 1945. München 1973.
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Burkhardt [Anm. 3], S. 108f. Wilhelm Wilmanns: Leben und Dichten Waithers von der Vogelweide. Bonn 1882, S. XV. - Die Vorbildlichkeit der Lachmannschen Methode behielt ihre Gültigkeit, auch wenn Lachmanns eigenes textkritisches Vorgehen im Einzelfall, etwa von Adolf Holtzmann und Friedrich Zamcke im sogenannten »Nibelungenstreit«, dann u. a. auch von Hermann Paul in seinen Untersuchung zum Verhältnis der Handschriften von Hartmanns 'Iwein' (s. u. Anm. 63) kritisch auf Konsequenz und Schlüssigkeit geprüft und für mangelhaft befunden wurde. - Zum Vorgehen Lachmanns: Magdalene Lutz-Hensel: Prinzipien der ersten textkritischen Editionen mittelhochdeutscher Dichtung. Brüder Grimm - Benecke - Lachmann. Berlin 1975; W. Spamaay: Karl Lachmann als Germanist. Bern 1948 (zur Waltherausgabe S. 104107); - P(eter) F. Ganz: Lachmann as an Editor of Middle High German Texts. In: Probleme mittelalterlicher Überlieferung und Textkritik. Oxforder Collloqium 1966. Hg. v. Peter F. Ganz und Werner Schröder. Berlin 1968, S. 12-30. - Zum maßgeblichen Charakter von Lachmanns Editionslehre Karl Stackmann: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. In: Festschrift fur Jost Trier zum 70. Geburtstag. Hg. v. William Foerste und Karl Heinz Borck. Köln, Graz 1964, S. 240-267, hier S. 242f. - Zu den Spannungen zwischen den Lachmannschülern und
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Lachmannschen abweichenden Edition wurde in Fachkreisen demnach ganz besonders erwartet, daß sie ihr Vorgehen sowohl im Prinzipiellen und als auch in den Einzelheiten »wissenschaftlich« rechtfertigten. Walthers Gedichte galten zudem, zusammen mit dem 'Nibelungenlied', als hervorragende Exponenten der deutschen Nationalliteratur, »die dem deutschen Volk der Gegenwart wieder nahegerückt zu werden würdig sind«9, nicht nur aufgrund ihrer künstlerischen Qualität, die »Theilname« erregt und »unmittelbaren Genuss und Befriedigung« für uns selbst verspricht10, sondern auch weil die Beschäftigung mit ihnen - und das erwartete man vor allem von Walthers politischen Gedichten - die nationale Selbstbesinnung zu fordern imstande war, eine Aufgabe, wie sie der Lektüre deutscher Dichtung in zunehmendem Maße im Zuge der seit den dreißiger und vierziger Jahren sich verstärkenden nationalen Strömungen von national ausgerichteten Germanisten zugesprochen wurde.11 Walthergedichte wurden zusammen mit dem 'Nibelungenlied' und der 'Kudrun' als Unterrichtsgegenstand vorgeschrieben, etwa 1874 im Lehrplan fur Gymnasien in Bayern.12 Im universitären Lehrprogramm des 19. Jahrhunderts gehört Walther neben dem 'Nibelungenlied' und Überblicksvorlesungen gleichfalls zu den am meisten interessierenden Gegenständen.13 Aber auch für ein breiteres Lesepublikum war Waithers Werk von Interesse, wie etwa der Erfolg von Karl Simrocks Übersetzung zeigt, die von 1833 bis 1894 achtmal aufgelegt wurde.14 Zwischen den Bereichen: Schule - Universität - literarische Unterhaltung bestehen enge Zusammenhänge. Wachsendes oder abnehmendes Interesse in einem Bereich reflektiert den Stand in den beiden anderen und gibt, wie Burdachs oben zitierte Bemerkungen zeigen, in Fachkreisen je nachdem zu Befürchtungen und
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ihren Gegnern vgl. Rainer Kolk: Wahrheit - Methode - Charakter. Zur wissenschaftlichen Ethik der Germanistik im 19. Jahrhundert. In: IASL 14 (1989), S. 50-73, hier S. 62-73. Pfeiffer (Hg.): Walther von der Vogelweide [Anm. 4], S. VII. Wilhelm Grimm (Rez.): Die Gedichte Waithers von der Vogelweide. Hg. von Karl Lachmann. Berlin 1827. (1827). Wieder in: W. G.: Kleinere Schriften. Hg. v. Gustav Hinrichs. Bd. 2. Berlin 1882, S. 385-395, hier S. 394f. Ehrismann: Das Nibelungenlied in Deutschland [Anm. 6], S. 224-230. - Roland Richter: Wie Walther von der Vogelweide ein »Sänger des Reiches« wurde. Eine sozial- und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung zur Rezeption seiner »Reichsidee« im 19. und 20. Jahrhundert. Göppingen 1988. - Vgl. z. B. Karl Simrock (Hg.): Walther von der Vogelweide. Hg., geordnet und erläutert. Bonn 1870, Vorwort, S. 1. Ehrismann: Nibelungenlied 1755-1920 [Anm. 6], S. 195; Schübel [Anm. 6], S.324: Seit 1895 sollte jeder Kandidat in Bayern das 'Nibelungenlied' oder Walther in der mündlichen Prüfung übersetzen. Burkhardt [Anm. 3], S. 120-123. Karl Simrock: Gedichte Waithers von der Vogelweide. Übersetzt v. K. S. und erläutert von Wilhelm Wackernagel. Berlin 1833.
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Hoffnungen, was das Gedeihen des Faches angeht, Anlaß. Die Höhe der Frequenz in germanistischen Lehrveranstaltungen und damit der Ausbau der neugegründeten germanistischen Seminare hing z. B. stark davon ab, ob Lehramtskandidaten die Möglichkeit hatten, an einer Universität das Staatsexamen in Deutscher Philologie abzulegen, und ob sie mit Hinblick auf den Lehrplan der Schulen auch dazu verpflichtet waren oder zumindest dazu ermuntert wurden. So berichtet Wilhelm Grimm in einem Brief an Karl Lachmann vom 27.5.1832, er habe zweiundzwanzig Hörer in seiner 'Nibelungen'-Vorlesung, weil jetzt auch die Gymnasiallehrer in altdeutscher Sprache geprüft werden sollten. (Im vorangehenden Jahr hatte man in Preußen das Fach Deutsch als Prüfungsfach in das Staatsexamen einbezogen; zugleich hatte die ostpreußische Lehrerkonferenz ein einstimmiges Votum für den mittelhochdeutschen Unterricht abgegeben.)15 Umgekehrt klagte Ernst Martin, der von 1868 bis 1874 den Lehrstuhl an der Universität Freiburg innehatte, daß zwischen 1867 und 1872 erst ein halbes Dutzend Kandidaten die Zusatzprüfung in deutscher Philologie, die für Lehrer an den Badischen Höheren Schulen fakultativ war, abgelegt hätten.16 In dieser Zeit des Aufbaus mußte es ein Anliegen des Faches sein, nicht nur den Bedürfnissen einer wachsenden Zahl von Studenten und künftigen Lehrern, sondern auch dem Interesse weiterer Kreise, auf deren Unterstützung man angewiesen war, durch benutzerfreundliche Ausgaben Rechnung zu tragen, insbesondere da man sich darüber im klaren war, daß Grimms und Lachmanns »Meisterwerke ... durchaus esoterisch gehalten [seien]«, so daß Studenten, ganz zu schweigen von Laien, der Anleitung bedurften, wie sie zu erschließen seien.17 Das Folgende mag zeigen, wie unterschiedlich diese Aufgabe angegangen wurde, wie fruchtbar aber gerade auch das Zusammen- und Gegenspiel der verschiedenen Ansätze wirkte. Es war vor allem Lachmanns Anordnung nach der handschriftlichen Überlieferung, die als »ganz zufällige Reihenfolge« empfunden wurde, welche Wilhelm Wackernagel und Max Rieger an eine neue Ausgabe, die 1862 erschien, denken ließ, denn »der Gebrauch des Buches [= Lachmanns Ausgabe] in Vorlesungen wie der Verkehr mit Freunden unserer alten Dichtung hatte die Bearbeiter der vorliegenden Ausgabe gelehrt, wie beschwerlich und abschreckend sie wirkt. Nirgend ist eine Übersicht des Zusammengehörigen möglich, nirgend ein Fort-
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Ehrismann: Nibelungenlied 1755-1920 [Anm. 6], S. 188. Burkhardt [Anm. 3], S. 195 u. Anm. 25; auch Martins Nachfolger, Hermann Paul, klagt über die niedrige Frequenz: Hermann Paul: Mein Leben. In: PBB 46 (1922), S. 496. So Julius Zacher in seinem Entwurf der Verfassung für das Seminar für deutsche Philologie zu Halle; nach Uwe Meves: Die Gründung germanistischer Seminare an den preußischen Universitäten (1875-1895). In: DVjs Sonderheft, 1987, S. 69M22*, hier S. 84*.
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gang, der das Interesse des Einzelnen wie des Ganzen erhöht, ersichtlich.«18 Das Bemühen um eine Anordnung, die den Zugang erleichtert, stellt in der Tat ein Charakteristikum der alternativen Ausgaben dar. Bevorzugt werden hierfür generische und chronologische Gesichtspunkte, aber daneben können auch der Zusammenhang der Spruchstrophen eines Tones und die Beziehung der Töne untereinander berücksichtigt werden. Die Art der Kombination dieser Anordnungsprinzipien und ihre Verwirklichung ist in hohem Grade von der Interpretation des Gesamtwerkes abhängig und wirkt wieder auf diese zurück, ein Grund, warum immer neue Reihenfolgen erprobt wurden und warum grundsätzlich mit einer definitiven Reihung nicht zu rechnen ist. Fast dreißig Jahre vor dem Erscheinen der Ausgabe Wackernagels und Riegers hatte Karl Simrock bereits in seiner Übersetzung der Gedichte Walthers (1933), die unter der Beihilfe Wackernagels entstand, eine neue Anordnung vorgestellt, und zwar mit Rücksicht auf das größere Publikum einer Übersetzung19, für das auch die Erläuterungen zu Walthers Leben, zur Metrik und Thematik gedacht waren. Simrock hatte die politischen Lieder von den Minneliedern geschieden und erstere chronologisch, letztere nach dem Inhalt geordnet. Die chronologische Einteilung der politischen Lieder, die sich an den Daten der Reichsgeschichte orientiert, wurde von Wackernagel (der sie mit Simrock erarbeitet hatte) und Rieger für ihre Ausgabe aufgegriffen und hat sich bis heute gehalten. Simrocks streng chronologische Folge, die ihn dazu zwang, die Einzelstrophe als weitgehend selbständigen Spruch zu behandeln, gaben Wackemagel/Rieger allerdings zugunsten einer Anordnung nach Tönen auf, eine Entscheidung, die Simrock später für seine eigene Ausgabe übernahm. Das Problem der partiellen Unvereinbarkeit der beiden Ordnungsprinzipien, von Simrock zunächst richtig erkannt, war damit jedoch nicht für immer zu den Akten gelegt, sondern beschäftigte noch spätere Herausgeber, vor allem Hermann Paul und Friedrich Maurer (s. u.). Unter den heute erhältlichen Gesamtausgaben greift die Helmut Protzes (mit Hinweis auf Simrocks Übersetzung) die Reihung nach »inhaltlichen und chronologischen Gesichtspunkten« ohne Berücksichtigung der Toneinheit auf.20 Abgesehen von der neuen Anordnung machte Wackernagels und Riegers Ausgabe an die Bedürfnisse der Uneingeweihten - vielleicht auch im Hinblick auf Riegers 'Leben Walthers von der Vogelweide' (erschienen Gießen 1863) -
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Wilhelm Wackemagel und Max Rieger (Hg.): Walther von der Vogelweide nebst Ulrich von Singenberg und Leutold von Seven. Glessen 1862, S. Vf.
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Simrock (Übers.): Gedichte [Anm. 14], S. 177.
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Simrock ebd. S. 113. - Helmut Protze (Hg.): Walther von der Vogelweide. Sprüche und Lieder. Gesamtausgabe. Leipzig 2 1989, S. 31 und 33.
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keine Konzessionen; »außer einer sehr gelehrten Einleitung, nicht ein Wort der Erläuterung«, war Franz Pfeiffers abwertendes Urteil.21 Sie verstand sich primär als Weiterfuhrung von Lachmanns kritischer Arbeit, mit dem Ziel, »einen Theil dessen zu erledigen, was er [Lachmann] zu thun übriggelassen hat, und so manchen Mißgriff, der bei seiner Arbeit untergelaufen ist, gut zu machen.«22 In der Ausscheidung unechter Lieder und Strophen gingen Wackernagel und Rieger weiter als Lachmann, ebenso in der Änderung des Überlieferten aufgrund metrischer Überlegungen (Auftaktregelung bei den Minneliedern). Der Begründung dieses Vorgehens galt dann auch die »gelehrte« Einleitung, die ergänzt wird durch einen kritischen Apparat, der auch Abweichungen von Lachmann gewissenhaft vermerkt. So steht trotz der Bemühungen, mittels der Anordnung dem Interesse des Benutzers zu dienen und mit Hilfe der auf den Text folgenden Anmerkungen »alle Hindernisse des poetischen Genusses [wegzuräumen]«, der wissenschaftliche Anspruch stark im Vordergrund. Auf die Zielleserschaft »Freunde unserer alten Dichtung« und Studenten (»Gebrauch in Vorlesungen«) - wird nicht genauer eingegangen. Zwei Jahre nach dem Erscheinen von Wackemagels und Riegers Ausgabe machte sich der Wiener Lehrstuhlinhaber Franz Pfeiffer daran, Walther im Originaltext dem deutschen Bildungsbürgertum vorzustellen. Pfeiffer hatte sich mehr oder weniger als Autodidakt seine editorischen Kenntnisse in entbehrungsreichen Jahren als Kopist von mittelhochdeutschen Handschriften für die »Bibliothek der gesammten National-Literatur«, die der Quedlinburger Buchhändler Basse herausgab, erworben. Mit den Gedichten Walthers als erstem Band lancierte der Wiener Gelehrte die Reihe der 'Deutschen Classiker des Mittelalters', eine von mehreren, durch technologische Fortschritte in der Buchproduktion ermöglichten preiswerten Editionsreihen mit z.T. stark national gefärbten Editionsprogrammen, wie sie seit den sechziger Jahren zum System der Textedition gehören.23 Die Reihe stellte sich die Aufgabe, »zu billigen Preisen und in ansprechender Ausstattung der deutschen Lesewelt eine Auswahl der schönsten mittelhochdeutschen Dichtungen in commentierten, mit allen zum Verständnis dienenden Mitteln versehenen Ausgaben darzubieten.«24 Mit solchen Zielen befand sich die Ausgabe in Konkurrenz mit der erfolgreichen, auch auf 21 22 23
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Pfeiffer (Hg.): Walther von der Vogelweide [Anm. 4], S. XI. Wackemagel/Rieger (Hg.): Waither von der Vogelweide [Anm. 18], S. V. Burkhardt [Anm. 3], S. 109 A. 152; Pfeiffers Ausgabe erschien im Verlag F. A. Brockhaus, der seit 1826 Dampfdruckmaschinen in Gebrauch hatte; S. H. Steinberg: Five Hundred Years of Printing. Neu hg. und bearb. v. John Trevitt. London, New York 1996, S. 139f. Zu Franz Pfeiffer siehe Franz Pfeiffer/ Karl Bartsch: Briefwechsel. Hg. v. Hans-Joachim Koppitz. Köln 1969, S. 7-8. Pfeiffer (Hg.): Walther von der Vogelweide [Anm. 4], S. X.
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Popularisierung angelegten Übersetzung Simrocks, die Pfeiffer abzutun versuchte, indem er erklärte, derartige Übersetzungen mittelhochdeutscher Gedichte seien höchstens »ein mattes Abbild des ursprünglichen Werkes«. Zu diesem müsse man die Gebildeten fuhren, um ihnen den rechten Begriff von altdeutscher Sprache, Kunst und Poesie zu geben.25 Ein zweiter Seitenhieb Pfeiffers galt den Ausgaben von Lachmann und von Wackemagel und Rieger, wie der als elitär gezeichneten Lachmannschule insgesamt, die zu ihrem Nachteil mit den um die Jahrhundertwende wirkenden Begründern der Germanistik - die Grimms und Friedrich Heinrich von der Hagen und sein Kreis sind vor allem gemeint - verglichen werden. Seit den dreißiger Jahren seien Ausgaben mit erklärenden Beigaben ersetzt worden durch »glänzende kritische Ausgaben, die in Abwesenheit aller und jeder Erklärung ihren Stolz setzen und dafür im Schwall von ungenießbaren Lesarten ihr seliges Genügen finden...« Die Folge dieser neuen Weise, »die man im Gegensatz zu jener früheren sogenannten dilettantischen, die wissenschaftliche, die methodische zu nennen liebt«, sei eine Reduktion der Leser altdeutscher Literatur auf ein »winziges Häuflein von Lehrern und Schülern.« Nun sollte wieder auf Benutzer Rücksicht genommen werden, »die vom Altdeutschen gar nichts verstehen«, um »die Theilnahme der Gebildeten fur die mittelhochdeutsche Literatur zu gewinnen.«26 Alle ungewöhnlichen Wortformen sollten zu diesem Zweck erklärt, schwierige Satzbildungen umschrieben, Inhaltsangaben den einzelnen Minneliedern und sachliche Bemerkungen zum historischen Kontext den Sprüchen vorausgeschickt werden. Neben einer Einfuhrung zu Walthers Leben, in der der Wahlwiener Pfeiffer Walther als schlichten Sohn der (Tiroler) Berge auszuweisen versuchte, bot die Ausgabe Anleitungen zur Aussprache und zum »richtigen Lesen«, d.h. zum Skandieren. Nach Simrocks Vorbild erhielten die Gedichte Titel; auch die Anordnung baut mit gewissen Abweichungen auf den kritisierten Arbeiten der Vorgänger auf. Pfeiffers abfällige Bemerkungen über die Herausgebertätigkeit der Lachmannschule provozierte eine scharfe Replik des streitbaren Lachmannianers Julius Zacher. Er bezichtigte Pfeiffer, »dem toten Löwen [= Lachmann]« einen Fußtritt versetzt zu haben, und bezeichnete die Bevorzugung des Trivialen und die oft gänzliche Vernachlässigung des wirklich Schwierigen als Grundcharakter von Pfeiffers Ausgabe. Von einem Buch, das der Oberflächlichkeit des großen Publikums so gefällig entgegenkomme, sei zwar ein buchhändlerischer Erfolg zu erwarten, für den Universitäts- und Schulgebrauch sei das Buch jedoch ent-
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Ebd. VII-VIII.
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schieden zu verwerfen, da es »den ganz unschätzbaren sittlichen Wert der Arbeit völlig verkennt und mißachtet, indem es unter jene gemeinschädlichen Eselsbrücken gehört, welche nur die Trägheit und Denkfaulheit der Schüler stärken.«27 Obgleich in der Reihe der 'Classiker' sehr wohl Texte nach dem neuesten Stand der Forschimg, aber ohne gelehrten Apparat erscheinen sollten28, fehlte es auch sonst nicht an kritischen Stimmen, die Pfeiffer Unwissenschaftlichkeit vorwarfen.29 Dennoch war dem Pfeifferschen Unternehmen ein ungewöhnlicher Erfolg beschieden. Bereits im Juli des Folgejahres (1865) war eine zweite Auflage nötig geworden.30 Der Anklang, den die Ausgabe fand, lenkte den Blick darauf, daß Interesse für Literatur im mittelhochdeutschen Sprachgewand weiter verbreitet war, als man in Fachkreisen angenommen hatte, und so wirkte sie durchaus befruchtend und anregend.31 Ihr Erfolg mag Simrock dazu bewogen haben, noch spät und für die Fachwelt überraschend 1870 seine eigene Ausgabe vorzulegen, mit erläuternden Einleitungen zu einzelnen Liedern und Sprüchen nach Pfeiffers Vorbild. Simrock hatte dafür unter dem Einfluß von Wackernagels und Riegers Ausgabe seine Anschauungen zur Chronologie und Anordnung der Sprüche und Lieder weiterentwickelt; vor allem bei den Sprüchen war er nun darauf bedacht, die Prinzipien der Toneinheit und der chronologischen Folge in Deckung zu bringen, ein Versuch, der sich niederschlug in den teilweise auch noch heute gebräuchlichen Benennungen der Töne nach den Herrschern, in deren Regierungszeit und in deren Dienst er die Spruchtöne entstanden glaubte. Simrocks Einleitung spiegelt den Chauvinismus der dem deutsch-franösischen Krieg vorangehenden Zeit wider und zeigt, wie den Gedichten Waithers von den germanophilen Tendenzen der Germanistik eine zentrale Rolle in der Erziehung der Jugend zum Deutschtum zugewiesen wurde: »Wie hoch man die deutsche Literatur des Mittelalters
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Julius Zacher (Rez.): Waither von der Vogelweide. Hg. v. Franz Pfeiffer. Leipzig 1864. In: Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik. 2. Abt., 11. Jg., 1865, S. 449-465; hier besonders S. 451 und 463-464. - Zu Zacher als Parteigänger der Lachmannschule vgl. Kolk [Anm. 8], S. 66f. Vgl. den Brief von Bartsch and Pfeiffer vom 27. Nov. 1865, in: Koppitz [Anm. 23], S. 198. Vgl. die Rezension der Pfeifferschen Ausgabe von Wilhelm Wilmanns in der Zeitschrift für das Gymnasialwesen, 19. Jg (1865), S. 316-321; siehe auch die anonyme Besprechung von: Waither von der Vogelweide. Hg. und erklärt von W. Wilmanns. Halle 1869. In: Literarisches Centralblatt Nr. 23 (1869), Sp. 677. - Bartsch riet dann auch Pfeiffer in seinem Brief vom 27. Nov. 1865 [Anm. 28] mit Rücksicht auf das Urteil der klassischen Philologen, die sich an der geringschätzigen Art, wie über Lesarten gesprochen wird, stoßen könnten, etwas auf Zachers Rezension zu erwidern. Brief Pfeiffers an Bartsch vom 9. Juli 1865; Koppitz, S. 192. Seit der dritten Auflage (von Bartsch besorgt) erlebte die Ausgabe bis 1880 sechs Auflagen. Literarisches Centralblatt [Anm. 29], Sp. 677.
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auch halte, ihre Gipfelpunkte sind und bleiben doch immer die Nibelungen und Walther von der Vogelweide; diese können der Jugend nicht früh genug bekannt werden: nichts ist geeigneter, unser erstorbenes Vaterlandsgefuhl wieder ins Leben zu rufen, als diese beiden ... Das ist Feld- und Zeltpoesie, damit kann man Armeen aus der Erde stampfen, wenn es den Verwüstern des Reichs, den gallischen Mordbrennern, der römischen Anmaßung zu wehren gilt, und wenn seine Lieder damals dem Reiche nicht den Sieg errangen, wie schweres Gewicht sie in die Wagschale warfen, so mögen sie ihm noch künftig zum Siege verhelfen, denn jene Kämpfe sind noch nicht für alle Zeit ausgefochten, sie können sich täglich wieder erneuern und werden es allem Anschein nach bald.«32 Gleichfalls angeregt durch Pfeiffers Unternehmen, startete Julius Zacher im Frühjahr 1866 die Reihe 'Germanistische Handbibliothek', welche »den zweck hatte, durch handbücher und commentierte ausgaben mittelhochdeutscher dichter das Studium unserer älteren literatur zu erleichtern.«33 Mitgewirkt hatte sicher die Tatsache, daß Zacher der Lehre, vor allem der Heranbildung von Lehrern, besonderes Interesse entgegenbrachte.34 Bereits 1865, ein Jahr nach dem Erscheinen von Pfeiffers Ausgabe, forderte Zacher, vielleicht aufmerksam gemacht durch Wilhelm Wilmanns' negative Besprechung des Pfeifferschen Bandes,35 diesen dazu auf, als Band 1 seiner Reihe eine Ausgabe von Walthers Gesamtwerk beizutragen, die 1869 erschien. Wilmanns, der ebenso wie Zacher auch später als Lehrstuhlinhaber besonderen Wert auf die wissenschaftliche Ausbildung von Deutschlehrern legte36, grenzte seine Ausgabe dezidiert von der Pfeiffers ab. Jedem Dilettantismus abgeneigt,37 setzte er nicht wie Pfeiffer »Leser, die vom Altdeutschen gar nichts verstehen« voraus, vielmehr solche, die einige Kenntnisse des Mittelhochdeutschen mitbrächten.38 Wolle Pfeiffer den Genuß der älteren Literatur ermöglichen, 32 33
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Karl Simrock (Hg.): Walther von der Vogelweide [Anm. 11], S. 3-4. Wilhelm Wilmanns (Hg.): Walther von der Vogelweide, hg. und erklärt (Germanistische Handbibliothek I). Halle 1869, S. V. Nach Zachers Überzeugung mußte der Deutschunterricht auf den wissenschaftlichen Grundlagen der deutschen Philologie aufbauen; Meves [Anm. 17], S. 84. Zeitschrift für das Gymnasialwesen 19 (1865), S. 316-321. Meves [Anm. 17], S. 89. Wilmanns war etwa gegen einen national begründeten Unterricht im Mittelhochdeutschen, der aus Zeitgründen nicht ertragreich gestaltet werden könne: Wilhelm Wilmanns: Der Unterricht im Mittelhochdeutschen. In: Zeitschrift für das Gymnasialwesen 23 (1869), S. 813-827. Als bequemes Hilfsmittel verweist Wilmanns auf Ernst Martins Mittelhochdeutsche Grammatik, in ihrer dritten erweiterten Auflage von 1867, die, als Hilfsbuch für den mittelhochdeutschen Unterricht auf Gymnasien konzipiert, insbesondere die eingehende Kenntnis der 'Nibelungen' und der Lieder Waithers fordern sollte, Dichtungen, die sich nach
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so wolle er das Verständnis des Dichters erleichtern, da »wahrer genuss nur die folge richtigen und gründlichen Verständnisses sein kann ...« Allerdings blieb nicht nur in der Konzeption der Reihe und des Bandes, sondern auch in der Ausführung im Einzelnen, so etwa in den benutzerfreundlichen Titeln und Einleitungen zu den Liedern und in den erklärenden Anmerkungen unter dem Text, der Einfluß von Pfeiffers Ausgabe unverkennbar. Doch bemühte Wilmanns sich, nicht nur Studierenden die notwendigen Informationen zu bieten, sondern dabei die Wissenschaftlichkeit des Unternehmens zu wahren. Als Schüler Karl Möllenhoffs,39 dem Betreuer der Lachmannschen Ausgabe, blieb Wilmanns dem Vorbild Lachmanns, dessen Text er zugrunde legte, verpflichtet; so nimmt er es ernst mit seiner Aufgabe, als Herausgeber die Überlieferung zu prüfen und das Ursprüngliche in möglichster Reinheit darzustellen. Bezeichnenderweise nimmt er auch die Begründung seiner textkritischen Entscheidungen in den Band auf, obgleich sie nach seinem Konzept - Erleichterung des Studiums - , wie er selbst bemerkt, streng genommen nicht hineingehören. Die Fülle der dargebotenen Informationen - Leben Walthers mit entsprechender chronologischer Anordnung der Töne, eingehende Behandlung der Metrik im Anschluß an Lachmann, kritische Bemerkungen zu den Handschriften und weiterführende Anmerkungen, sucht ihresgleichen. Seinen Erläuterungen ist vor allem das Bestreben zugute gekommen, Walthers Dichtung in ihrem historisch-kulturellen und literarischen Kontext zu erhellen und das Bewußtsein zu wecken, daß die einzelnen Gedichte Teile größerer Vorträge seien. Die vielen Verweise auf Parallelstellen in Walthers Werk und in mittelhochdeutscher und lateinischer Literatur, die in den folgenden Auflagen noch vermehrt wurden, haben ihren Wert bis heute behalten. Selbst das Organ des Lachmannkritikers Zarncke bescheinigte Wilmanns, daß der Versuch, eine Ausgabe für »ernster lernen wollende« zu schaffen, gelungen sei und daß er zugleich den Text mit gründlicher Kritik und Selbständigkeit konstituiert habe.40 Wilmanns Ausgabe entsprach zwar den Bedürfnissen der Lernenden, aber bei einem Preis von 10 Mark nicht den materiellen Resourcen zahlreicher Studierender.41 Diesem Notstand versuchte Hermann Paul abzuhelfen, als er mit seiner Waltherausgabe zu einem Preis von 1.80 Mark 1882 die Altdeutsche Textbiblio-
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Martin aufgrund ihres »nationalen Charakters« besonders für eine Lektüre eigneten: Ernst Martin: Mittelhochdeutsche Grammatik nebst Wörterbuch zu der Nibelungen Not, zu den Gedichten Walthers von der Vogelweide und zu Laurin. Berlin '1880, S. 3. Wilmanns (Hg.): Walther von der Vogelweide, 1869 [Anm. 33], S. VIII. Literarisches Centraiblatt [Anm. 29], Sp. 677. Auf die Not der Studenten, von denen ein Großteil wegen ihrer Armut auf zeitraubende Nebenverdienste angewiesen war, weist Zacher hin; Meves [Anm. 17], S. 84.
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thek und damit den Typ der billigen Studienausgabe begründete. Das billige und handliche Bändchen entsprach dem Zweck der Sammlung, Werke, »die z. T. nur in kostspieligen kritischen oder kommentierten Ausgabe vorliegen [hier der Bezug auf die Lachmannsche Ausgabe einerseits und die Ausgabe Wilmanns andererseits] für jedermann, der ein Interesse daran hat, zugänglich zu machen.«42 Mit der anti-elitären Beschreibung des angesprochenen Leserkreises erweist sich Paul als Angehöriger der Gruppe von Gelehrten, die wie Pfeiffer Stellung gegen die Lachmannschule bezogen hatte. Er war Schüler Friedrich Zarnckes, der Zeit seines Lebens im Namen der Freiheit der Wissenschaft gegen die Lachmannschule angekämpft hatte, und Pauls Habilitationsschrift war 1874 in Band 17 der von Franz Pfeiffer 1856 gegründeten Zeitschrift 'Germania' erschienen, ein Organ, das seine Unabhängigkeit von jeder »Schulmeinung«, d. h. insbesondere der Meinung der Lachmannschule, proklamierte. Im Gegensatz zu Wilmanns und auf den Spuren Pfeiffers spricht Paul mit seiner Ausgabe betont Anfänger an, denen zuliebe er »in der beseitigung orthographischer und dialektischer eigenheiten« weiter gegangen sei als Lachmann. Ein Glossar dient dem gleichen Zweck. Man könnte an eine Art Proseminartext denken43, doch bieten die, wohl im Verlaß auf das Glossar und die Einfuhrung (Walthers Leben und seine Stellung, Überlieferung und kritische Behandlung der Texte) aufs knappste beschränkten Anmerkungen kaum Verständnishilfen, sondern hauptsächlich Bemerkungen zur Überlieferung und Echtheit sowie Literaturhinweise. Eine große Leistung verbirgt sich in der bescheidenen Bemerkung Pauls, seine Arbeit habe hauptsächlich darin bestanden, »aus der masse der aufgestellten Vermutungen, das wenige sichere oder wenigstens plausible herauszusuchen.« In gedrängter Form zieht er die Summe aus der ihm vorliegenden Forschung, und die Unbestechlichkeit seines Urteils läßt sich daran ermessen, daß Hugo Kuhn ihm noch im Vorwort der 10. Auflage 1965 bescheinigen konnte, der erste Teil der Einleitung sei »in seiner Vorsicht unüberholt.«44 Auch die Reihimg der Gedichte blieb - so Kuhn - »als eine, unter allen Verfeinerungen der höheren kritik gültige, nüchterne rechenschaft des möglichen« mit höchstem Recht in den von Kuhn besorgten Auflagen erhalten.45 Einleitung und Anordnung lassen
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Anton Schönbach (Rez): Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Hg. v. Hermann Paul. Halle 1882. In: Deutsche Literaturzeitung Nr. 41, 14. Octbr 1882, Sp. 1457. Anfang der siebziger Jahre teilte Zacher in Halle die Durchführung seiner Übungen in zwei Abteilungen - vorbereitende Stufe und eigentliches Seminar - ein; Meves [Anm. 17], S. 85. Walther von der Vogelweide. Gedichte. Hg. v. Hermann Paul. In 10. Auflage besorgt v. Hugo Kuhn. Tübingen 1965, S. XI. Ebd. S. IX (Vorwort zur 9. Auflage von 1959).
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erkennen, daß die Vorstellungen vom Wesen der Lyrik seit den sechziger Jahren in Fluß geraten waren. Unter dem Eindruck, Walthers Werk sei eine unmittelbare Umsetzung von realen Erlebnissen in Poesie, hatten Wackernagel und Rieger dessen Gedichte nach dem Vorschlag G. A. Weiskes unter zwei Liebesverhältnissen verteilt, »das eine zu einer Jungfrau niederen Ranges, das andere zu einem verheiratheten Weibe hohen Standes.«46 Schon Pfeiffer hatte derartigen Versuchen gegenüber Zweifel angemeldet, und Paul hob nun den fiktionalen Aspekt der Dichtung mit Hinweis auf Walthers Tätigkeit als Berufssänger hervor: »Da Walther den minnesang berufsmäßig und bis in seine späten lebensjahre hinein betrieb, so ist es überhaupt zweifelhaft, ob allen seinen Hedem reale Verhältnisse zu gründe liegen.«47 Für den Versuch einer chronologischen Reihung der Liebeslieder ist nicht mehr die Entwicklung des Menschen Walther, sondern die des Künstlers maßgeblich. Im Anschluß an Konrad Burdach, der wahrscheinlich machen konnte, daß die Abhängigkeit Walthers von Reimar in Walthers frühester Periode am stärksten gewesen sei, setzt Paul nicht wie frühere Herausgeber die Lieder der sogenannten niederen Minne, sondern die Lieder Reinmarscher Prägung an den Anfang der Sammlung.48 Ausgehend vom Textmaterial kam Paul zu Einsichten über Entstehung und Chronologie der Sprüche, die sich deutlich von den Ansichten unterschieden, die Simrock im Anschluß an Lachmann entwickelt und in seiner Ausgabe von 1870 verwirklicht hatte. Insbesondere richtete Paul sich gegen die Tendenz, gleichtönige Spruchstrophen zeitlich möglichst nahe aneinander zu rücken49, eine Tendenz, die sich, ungeachtet seiner berechtigten Einwände, siebzig Jahre später in der Liedertheorie Friedrich Maurers zum Dogma verfestigen sollte. Als ebenso unhaltbar und für die Datierung unbrauchbar erklärte Paul Lachmanns Satz, daß sich Sprüche des gleichen Tones nicht auf verschiedene Könige beziehen könnten, und die darauf aufbauende Behauptung Simrocks, mehrere Töne seien zu
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G. A. Weiske: Die Minneverhältnisse Walthers von der Vogelweide. In: Weimarisches Jahrbuch 1, 1854, S. 357-371, hier S. 359. - Simrock setzt an: 5 Jahre niedere Minne, 20 Jahre hohe Minne, 5 Jahre gemäße Minne - jeweils geschätzt nach Anzahl der erhaltenen Lieder; Simrock (Hg.): Walther von der Vogelweide [Anm. 11], S. 10f. Hermann Paul (Hg.): Walther von der Vogelweide. Gedichte. Halle a. S. 1882, zitiert nach der 4. Auflage, 1911: S. 18-19; Zweifel äußerte bereits Pfeiffer (Hg.): Walther von der Vogelweide [Anm. 4], S. XIV. Paul ebd. S. 19-20. Paul weist darauf hin, daß sich Spruchstrophen mehrerer Töne auf dieselben Ereignisse beziehen, daß also Waither mehrere Töne nebeneinander gebraucht habe und daß sich eine Frist, innerhalb derer ein Zurückgreifen auf einen älteren Ton allein möglich sein solle, nicht festlegen lasse; Hermann Paul: Zu Waither von der Vogelweide. In: PBB 8 (1882), S. 161209; hier S. 161-162.
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Ehren deutscher Könige erfunden.50 Selbstverständlich nahm er dementsprechend auch Simrocks Bezeichnungen der Töne, die ihm unter diesen Umständen nur irreführend erschienen, nicht in seine Ausgabe auf.51 Trotz der von ihm betonten Unsicherheit der Datierung gab Paul eine chronologische Anordnung nicht auf, einmal, weil er nicht grundsätzlich an einem wie auch immer gestalteten Bezug von Realität und Dichtung zweifelte52, vor allem aber, weil er seine Ausgabe für den Benutzer einsichtig, »nach sachlichen gesichtspunkten« geordnet, darbieten wollte.53 Damit entschied er sich anders als Wilmanns, der in seiner Ausgabe von 1869 zunächst den Versuch einer streng chronologischen Reihung ohne Sonderung in Lieder und Sprüche unternommen hatte, mit dem Ziel, die Werke desselben Künstlers als eine höhere Einheit, d.h., als Ausdruck »desselben sich in der Zeit entwickelnden Geistes« zu begreifen.54 In der zweiten, vollständig umgearbeiteten Ausgabe von 1883 ließ Wilmanns jedoch in einer demonstrativen Abkehr von der Vorstellung, es handele sich bei Walthers Werk um »Gelegenheitsgedichte«, »ein fortlaufendes Bekenntnis der eigenen Herzenserfahrung«, die chronologische Reihung wieder fallen und kehrte zu Lachmanns handschriftlicher Anordnung zurück. Wie für Paul rückte das Verhältnis des Künstlers zur Gesellschaft auch für Wilmanns in den Vordergrund, als »ein festerer und ergiebigerer Boden für die wissenschaftliche Betrachtung.«55 Bezeichnenderweise hielt Wilmanns jedoch für seine preiswerte Textausgabe, die er, vielleicht angeregt durch Pauls Unternehmen, in der 'Sammlung germanistischer Hilfsmittel für den praktischen Studienzweck' herausgab, an einer zeitlichen Reihung der Töne fest.56 Eine Darstellung der Dichterlaufbahn und der gesellschaftlichen und historischen Umstände, vor deren Hintergrund Walthers Dichtung gesehen werden muß, nahm Wilmanns für die Neubearbeitung aus der Einleitung der Ausgabe heraus und widmete ihr eine eigenständige Monographie zum 'Leben und Dich-
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So schon Pfeiffer zu Nr. 137 (L 26, 3fi) »Mit weit mehr Recht könnte man ihn [= den König Friedrichston] Kaiser Otto's Rügeton heißen«; Paul, ebd. S. 165.
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Gegen Lachmann hält Paul Walthers Ankunft im Heiligen Land, wie sie im Palästinalied dargestellt wird, nicht fur fingiert, auch wenn er eine solche Fiktion nicht für undenkbar hält; Paul, Waither41911 [Anm. 47], S. 15.
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Ebd. S. 27f.
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Wilmanns (Hg.): Walther von der Vogelweide, 1869 [Anm. 33], S. Vif.
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Wilhelm Wilmanns: Walther von der Vogelweide. 2., vollständig umgearb. Ausg. Halle a. S. 1883, S. VIII. Wihelm Wilmanns: Walther von der Vogelweide. Textausgabe. Halle 1886. - Im Gegensatz zur ersten Ausgabe trennt Wilmanns hier Sprüche und Lieder. Die Ausgabe enthält wie die Paulsche ein Wörterverzeichnis.
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ten Walthers von der Vogelweide' (Bonn 1882), die 1924, in der Bearbeitung von Victor Michels, als Band 1 der Gesamtausgabe erschien. Die einleitenden Teile der alternativen Ausgaben enthalten normalerweise eine Einfuhrung in die Metrik. Selbst in Simrocks Einleitung zu seiner Übersetzung findet sich bereits ein Kapitel über das »Kunstgesetz« (d.h. den Kanzonenbau).57 Pfeiffer bot detaillierte, auf Uneingeweihte zugeschnittene Angaben zur 'Verskunst'.58 Er soll nach Zachers Ausfuhrungen die von Lachmann erarbeiteten, aber nicht veröffentlichten Regeln zugrunde gelegt haben und zog sich deswegen von Zacher den Vorwurf des Plagiats zu.59 Wilmanns schickte seiner Ausgabe von 1869 ebenfalls eine eingehende Behandlung der Metrik, die auf Lachmanns Anschauungen aufbaute, voran,60 welche er für die zweite Auflage wesentlich änderte und bereicherte. Ihre Rechtfertigung lag für Wilmanns »in der bedeutung, welche die form ... für die lyrik des mittelalters hat«. Eine entsprechende Stellung nahm die Metrik in universitären und schulischen Einfuhrungen ins Mittelhochdeutsche bis in die jüngste Vergangenheit ein.61 Unter diesen Umständen mag es zunächst wundernehmen, daß Paul in seiner Einleitung auf metrische Anleitungen verzichtete. Wie jedoch Pauls Bemerkungen zur Textherstellung im Vorwort erkennen lassen, standen hinter diesem Verzicht grundsätzliche Zweifel an den von Lachmann erstellten Regeln und an der Bedeutung, die diesen von Lachmann und seinen Scjiülern für die Textkritik zugewiesen worden war. Er habe sich - so Paul - enger an die handschriftliche Überlieferung angeschlossen als alle früheren Herausgeber: »...ich meine, dass wir immer auf einem festeren boden bleiben, wenn wir eine überlieferte lesart, die uns einiges bedenken erregt, stehen lassen, als wenn wir sie durch eine conjectur ersetzen...«. Vor allem habe er da, wo der Sinn keinen Anstoß erregt, »nicht unerwiesenen metrischen Voraussetzungen zu liebe ändern mögen.«62 In dem gleichzeitig erschienenen Beitrag, der sein Vorgehen rechtfertigt, setzt er sich eingehend mit Lachmanns metrischen Auffassungen auseinander. Als Sprachwissenschaftler strebte er eine größtmögliche Annäherung an die methodische Strenge der Naturwissenschaften an und beanstandete die geringe Anzahl
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Simrock (Übers.): Gedichte [Anm. 14], S. 167-169; ders. Walther von der Vogelweide. Bonn 1870, S. 14-17. Pfeiffer (Hg.): Walther von der Vogelweide [Anm. 4], S. XXXVI-LII. Zacher (Rez.) [Anm. 27], S. 453-455. Wilmanns (Hg.): Walther von der Vogelweide, 1869 [Anm. 33], S. 28-58. Wilmanns, ebd., S. VII. Schon Karl Müllenhoff sieht die »richtige, vollkommenen Einsicht in die deutsche Verskunst« als Lehrziel; K.M.: Die deutsche Philologie, die Schule und die klassische Philologie. In: Zeitschrift für das Gymnasialwesen 8 (1854), S. 177-199, hier S. 184. Paul (Hg.): Walther von der Vogelweide. "1911 [Anm. 47], S. III.
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der Texte und deren willkürliche Auswahl, aufgrund derer Lachmann seine Regeln entwickelt und diese, ohne sie zuerst unter allseitiger Benutzung des vorhandenen Materials zu erweisen, als Handhabe für die Kritik verwendet habe. Aufgrund solcher Vorstellungen habe Lachmann teils Athetesen vorgenommen, teils Konjekturen gemacht, auch wo die Überlieferung gut beglaubigt sei, teils willkürlich die Lesarten einzelner Handschriften bevorzugt.63 Eigene Beobachtungen am Material ließen Paul auf eine weit flexiblere Handhabe der Versfullung und der Auftaktbehandlung durch Walther schließen und führten zu seiner überlieferungsnahen Textherstellung. Gleichzeitig blieb aber die Lesbarkeit für den Benutzer, die durch einen geregelten Rhythmus erleichtert wird, ein Anliegen. Paul schöpfte wie andere Herausgeber die Möglichkeiten sprachlicher Kürzung und Verschmelzung zu diesem Zweck aus und setzte wie vor ihm Pfeiffer diakritische Zeichen (Akzente, Elisionspunkte) als Lesehilfen ein. Trotz solcher Bemühungen Pauls trugen ihm die Fälle, wo er zugunsten des Überlieferten auf metrische Glätte verzichtete, eine abwertende Kritik Wilmanns' ein, der trocken bemerkte: »Der Text zeigt ziemlich bedeutende Abweichungen; er zeichnet sich, wenn ich seine wesentlichste Eigenschaft mit einem Wort charakterisieren soll, durch holperige Verse aus... Die blosse Beobachtung des Gebrauches, welchen Walther von drei- und mehrsilbige Wörtern macht, genügt, um ihn vor so monströsen Versen zu schützen, wie Paul sie ihm in nicht geringer Zahl zutraut .,.«64 Unbeeindruckt von diesem Tadel richtete sich Fridrich Pfaff trotzdem nicht nur nach Pauls Anordnung, sondern auch »größtenteils« nach seinem Text, als er 1894 den Text von Walthers »echten« Gedichten in die Reihe der 'Deutschen National-Literatur' aufnahm.65 Doch obgleich Pauls überlieferungsgetreuer Text als Teil der erfolgreichen Reihe der Altdeutschen Textbibliothek, bis 1921 noch von ihm selbst betreut, weitergetragen wurde, setzte sich zunächst die bereits mit Wackemagel und
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Hermann Paul: Zu Walther von der Vogelweide. [Anm. 49], S. 161-209, hier 181-199. Ähnliche Überlegung finden sich bereits in seiner umfassenden Kritik an Lachmanns bis dahin als mustergültig angesehenen 'Iwein'-Ausgabe; Hermann Paul: Ueber das gegenseitige Verhältnis der Handschriften von Hartmanns Iwein, In: PBB 1 (1874), S. 288-401, hier 289290; siehe auch ders.: Deutsche Metrik. In: Grundriß der germanischen Philologie. 2. Aufl., Bd.II, Abt. 2. Straßburg 1905, S. 66-83. W. Wilmanns (Rez.): Paul, H., Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Halle 1882. In: Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 3 (1882), Sp. 297-299, hier 298f. - Wilmanns' Kritik kam nicht unerwartet, nachdem Paul Wilmanns vorgeworfen hatte, daß dieser einen sonst unanstößigen überlieferten Text geändert oder verdorben habe; Paul, Zu Walther von der Vogelweide [Anm. 49], S. 192. Fridrich Pfaff: Der Minnesang des 12. bis 14. Jahrhunderts. Bearb. v. F. P. Abt. 2. Waither von der Vogelweide. Stuttgart 1894 (= Deutsche National-Literatur. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Joseph Kürschner 8,2).
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Rieger hervortretende gegenläufige konjizierfreudigere Tendenz durch. Wie Wackernagel und Rieger, so unternahmen nicht nur Wilmanns, sondern, unbeschadet ihrer Gegnerschaft zur Lachmannschule, auch Bartsch und Pfeiffer es, mit Hilfe von erschlossenen sprachlichen, formalen und ästhetischen Regeln Walthers Werk in seiner Ursprünglichkeit aus einer zerrütteten Überlieferung wiederherzustellen, wobei sie zum Teil stärker in den überlieferten Text eingriffen als Lachmann selbst.66 Ihren Höhepunkt erlebte diese Richtung in der zehnten von Carl von Kraus überarbeiteten Ausgabe des Lachmanntextes von 1936, aber auch noch in Friedrich Maurers Ausgaben der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts trieb sie späte Blüten.67 Es entbehrt deswegen nicht einer gewissen Ironie, daß Albert Leitzmann für die sechste Auflage des ATB-Bändchens von 1945 Pauls Text völlig mit der von Kraus umgearbeiteten Lachmannausgabe übereinstimmend gestaltete.68 In noch stärkerem Maße gilt dies fur Friedrich Maurers Waltherausgabe, die als Band 43 und 47 der Altdeutschen Textbibliothek veröffentlich wurde und dazu bestimmt schien, die Paulsche Ausgabe zu ersetzen. Maurers Ansicht, die formale Gestaltung gebe Hinweise fur die Textkritik, ist den Prinzipien der Textherstellung, wie sie Paul vertritt, durchaus entgegengesetzt.69 Ebenso ist Maurers 'Liedertheorie', die Überzeugung, es sei unmöglich, die verschiedenen Spruchtöne zu den gleichen Zeiten nebeneinander anzusetzen, jeder Ton habe seine Zeit70, eine Ansicht, die Paul vehement in seiner gegen Lachmann und Simrock gerichteten Kritik bekämpft hatte.71 Wie zu erwarten, erregte Maurers Liederhypothese ähnliche
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Paul, Zu Walther von der Vogelweide [Anm. 49], S. 192; vgl. Wackemagel/Rieger [wie Ahm. 18], S. XXX, und Franz Pfeiffer: Über Walther von der Vogelweide. In: Germania 5 (1860), S. 1-44, hier S. 27ff. (zur Auftaktbehandlung). Friedrich Maurer (Hg.): Die Lieder Walthers von der Vogelweide unter Beifügung erhaltener und erschlossener Melodien, neu hg. 1. Bändchen. Die religiösen und die politischen Lieder. Tübingen 1955. 2. Bändchen. Die Liebeslieder. Tübingen 1956. Vgl. die Vorrede von Albert Leitzmann, S. Vf., der allerdings einige »aus metrischen Gründen« neu eingeführte Eigenheiten der Wortgestaltung nicht übernimmt. Maurer im Vorwort zur 2. Auflage. In: Maurer: Die Lieder [Anm. 67], 3. Aufl. 1967, S. X f.: »Aber ebenso sicher ist es ... daß in bestimmten gefugten «Ketten», die als geschlossene musikalische Glieder zu erkennen sind, die Auftaktverhältnisse fest geregelt sein müssen ... dann ergeben sich wertvolle und eindeutige Hinweise für die Entscheidung von Echtheitsfragen, wie auch für die Textgestaltung und Beurteilung der Überlieferung«. Vgl. Paul über Lachmann in: Geschichte der germanischen Philologie, Bd 1, Straßburg 1901, S. 9-158, hier S. 92: »Ganz besonders ist bei L die Unbefangenheit der Kritik gestört durch seine metrischen Theorieen.« Ebd. Siehe oben Anm. 49 und das ebd. gefällte Urteil Pauls, Simrock sei »mit der fertigen theorie an die tatsachen herangetreten, um diese mit gewalt in die theorie einzuzwängen.«
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Bedenken wie die, welche schon Paul gegen Simrocks entsprechende Anschauungen erhoben hatte.72 Erst mit der Neubearbeitung von 'Minnesangs Frühling' durch Hugo Moser und Helmut Tervooren bekannte man sich wieder zu Pauls Grundsatz, nicht metrischen Voraussetzungen zuliebe zu ändern.73 Die entsprechende Neubearbeitung von Karl Lachmanns kritischer Ausgabe durch Christoph Cormeau, hergestellt nach einem modifizierten Leithandschriftprinzip, greift gleichfalls nur sehr begrenzt zugunsten der metrischen Form in die Überlieferung ein, habe doch »für die Auffuhrungpraxis ... ein geschriebener Text immer nur Hilfscharakter gehabt«.74 Die Ausgabe will ohnehin das »Abbild des (Euvres in der Rezeption« bieten. Das authentische Werk Walthers erstehen zu lassen, ein Ziel, dem sich frühere Herausgeber, und dazu gehört auch Paul, zumindest zu nähern versuchten, erscheint der gegenwärtigen Kritik nicht mehr erreichbar.75 Trotz dieser veränderten Sicht begreift sich Cormeaus Ausgabe durchaus als »Fortentwicklung« der Lachmannschen, als deren Aktualisierung auf der Grundlage des gegenwärtigen Forschungsstandes. Die Gründe, warum neben dieser kritischen Ausgabe auch weiterhin Editionen notwendig sind, die versuchen, durch Einführung, Erläuterung, Lesehilfen und durchsichtige Anordnung dem Leser entgegenzukommen, bleiben bestehen. Diesen Zielen dient etwa die zweisprachige Ausgabe der Spruchdichtung Walthers durch Günther Schweikle, die in manchen Zügen an die Ausgabe in den 'Deutschen Klassikern des Mittelalters' erinnert, und die von mir unternommene Neubearbeitung der Paulschen Ausgaben in der Altdeutschen Textbibliothek.76 Bemühungen dieser Art werden die alternativen Ausgaben des vorigen Jahrhunderts und die sie begleitenden
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Franz Rolf Schröder (Rez.): Neuere Minnesang-Arbeiten. In: GRM 37 (1956), S. 404-410, hier S. 405: Ein politischer Spruch ist aktuell und muß »sobald wie möglich 'publiziert' werden.« Vgl. auch die kritische Stimme von Rainer Gruenter (Rez.) in Anz. 69 (1956/57), S. 60-69, hier S. 63. Hugo Moser und Helmut Tervooren (Hgg.): Des Minnesangs Frühling. 36. neugestaltete u. erw. Aufl. Stuttgart 1977, Bd 2., S. 20f. Christoph Cormeau (Hg.): Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 14. völlig neubearb. Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner. Berlin, New York 1996, S. XLIX. Cormeau, ebd. S. XIX. - Zum Wandel der editorischen Ziele allgemein: Hans Fromm: Zur Geschichte der Textkritik und Edition mittelhochdeutscher Texte. In: Beiträge zur Methodengeschichte der neueren Philologien. Zum 125-jährigen Bestehen des Max Niemeyer Verlages. Hg. v. Robert Harsch-Niemeyer. Tübingen 1995, S. 63-90. (S. 79-81 zu 'Minnesangs Frühling'). Günther Schweikle (Hg.): Walther von der Vogelweide. Werke. Gesamtausgabe. Bd 1: Spruchlyrik, Mhd./Nhd. Stuttgart 1994. - Silvia Ranawake (Hg.): Waither von der Vogelweide. Gedichte. 11. Aufl. auf der Grundlage der Ausg. von Hermann Paul hg. v. S. R. mit einem Melodieanh. von Horst Brunner. Tl. 1: Der Spruchdichter. Tübingen 1977.
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Untersuchungen, die Wesentliches zur Editionspraxis und zur Erforschung von Walthers CEuvre beigetragen haben, weiterhin zu Rate ziehen, bieten sich doch nicht nur zahlreiche Bemerkungen zur Überlieferung und Textherstellung, sondern auch eine Fülle von Lese- und Übersetzungsvorschlägen, von grammatikalischen, metrischen und stilistischen Anmerkungen sowie Überlegungen zur Reihung, zur Chronologie und zum historischen Kontext. Allen voran ist der bis heute nicht ersetzte Kommentar von Wilmanns und seine einschlägige Monographie als Ertrag dieser Herausgebertätigkeit zu nennen. Im Einzelnen wie in der prinzipiellen Fragestellung nach dem Sinn der Edition als Vermittlung sind die Anschauungen ihrer Editoren immer noch anregend und bedenkenswert. Zu ihrem vollen Verständnis muß dabei aber auch ihre historische Position, die ich im Vorigen ansatzweise zu erhellen versucht habe, miteinbezogen werden. Als Teil der Fachgeschichte dient deren Kenntnisnahme zudem der Bestimmung des eigenen Standorts und ermöglicht eine relativierende Sicht der editorischen und hermeneutischen Arbeiten unserer Zeit als Glieder in der Kette der Bemühungen, das Verständnis von Walthers Werk zu fördern und die Freude daran lebendig zu erhalten.
FRANZ-JOSEF HOLZNAGEL
Überlieferung und 'Werk'. Zu den Athetesen in Lachmanns erster Auflage der 'Gedichte Walthers von der Vogelweide' (1827) Landkarten und Editionen haben gemeinsam, daß sie ihren Gegenstand durch eine hochgradig schematisierte Übertragung in ein anderes Medium interpretieren, wobei das, was durch die Schematisierung herausgearbeitet, und das, was durch sie ausgeblendet wird, zum einen von der Exaktheit der Abbildung, zum anderen von den konzeptionellen Vorstellungen und den Gebrauchsinteressen ihrer Produzenten abhängt. Auch die Ausgaben der mittelhochdeutschen Lyrik präsentieren mehr oder minder schematisierte Bilder von den textuellen Welten, auf die sie sich beziehen, und um sie in ihrer Qualität beurteilen zu können, muß man beachten, auf welcher materialen Grundlage sie zustandegekommen sind und durch welche Vorannahmen die Wahrnehmung des Gegenstandes gesteuert worden ist. Wie schon ein oberflächlicher Vergleich mit anderen Lyrik-Editionen zeigt, ist auch (und gerade) die Anlage von Lachmanns Walther-Ausgabe von 18271 keineswegs selbstverständlich, sondern stellt das Resultat einer ganzen Reihe von philologischen Einzelentscheidungen dar, die in der Geschichte der WaltherForschung teils unbefragt übernommen, teils heftig diskutiert worden sind. Lachmann selbst hat sich zum editorischen Konzept der Walther-Ausgabe kaum
Lachmann, Karl (Hg.): Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Berlin 1827. - Die Lachmannschen Ausgaben werden im folgenden mit der Sigle L zitiert; hochgestellte Ziffern verweisen auf die entsprechende Auflage: L2: Lachmann, Karl (Hg.): Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Zweite Ausgabe. Berlin 1843; L3: Lachmann, Karl (Hg.): Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Dritte Ausgabe besorgt von Moriz Haupt. Berlin 1843; L7: Lachmann, Karl (Hg.): Die Gedichte Waithers von der Vogelweide. Siebente Ausgabe von Carl Lachmann besorgt von Carl von Kraus. Berlin 1907; L8: Lachmann, Karl (Hg.): Die Gedichte Waithers von der Vogelweide. Achte Ausgabe von Carl Lachmann besorgt von Carl von Kraus. Berlin, Leipzig 1923; L10: Lachmann, Karl / von Kraus, Carl (Hg.): Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Zehnte Ausgabe. Mit Bezeichnung der Abweichungen von Lachmann und mit seinen Anmerkungen neu hg. von Carl von Kraus. Berlin. Leipzig 1936; L13: Lachmann, Karl / von Kraus, Carl / Kuhn, Hugo (Hg.): Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Hg. von Karl Lachmann. Dreizehnte, aufgrund der zehnten von Carl von Kraus bearbeiteten Ausgabe neu hg. von Hugo Kuhn. Berlin 1965; L14: Lachmann, Karl / Cormeau, Christoph (Hg.): Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearbeitete Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner hg. v. Christoph Cormeau. Berlin, New York 1996.
Überlieferung und 'Werk'
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zusammenhängend geäußert2, so daß es nur indirekt, also über eine Analyse der ersten beiden, noch von ihm selbst betreuten Auflagen zu erschließen ist. Trotz der enormen forschungsprägenden Effekte, die von dieser Edition ausgegangen sind, liegt aber weder eine genaue Analyse der Arbeitsweise Lachmanns vor noch eine Untersuchung, in der die Veränderungen, denen die Walther-Ausgabe durch spätere Bearbeiter unterlag, nachgezeichnet würden.3 Die nachfolgenden Ausführungen sollen dazu einen Beitrag leisten; ich möchte mich allerdings an dieser Stelle auf Lachmanns Echtheitsentscheidungen konzentrieren, die (bis in die Aufteilung des Textes in vier Bücher hinein) das Profil der 1. und 2. Auflage maßgeblich geprägt haben und an denen besonders gut spätere Entwicklungen der Walther-Philologie verdeutlicht werden können. Der Beitrag gliedert sich dabei in drei Abschnitte. Der erste Teil zeichnet nach, welche Handschriften Lachmann für seine Edition von 1827 benutzt und welche Strophen er aus dem ihm zugänglichen Corpus von Walther-Texten als 'unecht' ausgegrenzt hat. Auf diese Weise soll die materiale Basis von Lachmanns Edition skizziert werden. Der zweite Teil beschäftigt sich dann mit einer zirkulären Denkbewegung, auf der ein erheblicher Teil von Lachmanns Athetesen beruht. Es läßt sich nämlich zeigen, daß einerseits Lachmanns Umgang mit der Überlieferung durch eine von den medialen Bedingungen des frühen 19.
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Die einzigen substantiellen Aussagen von Lachmann über die Prinzipien seiner WaitherEdition finden sich in den Vorreden und den Anmerkungen von L' (S. III-XII; S. 127-214) und L2 (S. V-XIV; S. 127-222). Das wissenschaftliche Werk von Karl Lachmann ist zwar durch die Arbeiten von Sparnaay, Timpanaro, Ganz, Lutz-Hensel und Weigel gewürdigt worden; die von Lachmann betreuten Walther-Ausgaben werden jedoch nur am Rande berücksichtigt. Vgl. Hfendricus] Sparnaay: Karl Lachmann als Germanist. Bern 1948, S. 94-107; Sebastiano Timpanaro: La genesi del metodo del Lachmann. Florenz 1963. Erw. und überarbeit, deutsche Übersetzung von Dieter Irmer unter dem Titel: Die Entstehung der Lachmannschen Methode. 2., erw. und Überarb. Auflage Hamburg 1971; Peter F. Ganz: Lachmann as an Editor of Middle High German Texts. In: Peter F. Ganz / Werner Schröder (Hgg.): Probleme mittelalterlicher Überlieferung und Textkritik. Oxforder Kolloquium 1966. Berlin 1968. S. 12-30, bes. S. 25f. Wieder in: Thomas Bein (Hg.): Altgermanistische Editionswissenschaft. Frankfurt a. M. [u.a.] 1995 (= Dokumentation germanistischer Forschung. 1). S. 106-125, bes. S. 120f.; Magdalena Lutz-Hensel: Prinzipien der ersten textkritischen Editionen mittelhochdeutscher Dichtung. Brüder Grimm - Benecke - Lachmann. Eine methodenkritische Analyse. Berlin 1975 (= Philologische Studien und Quellen. 77); Harald Weigel: »Nur was du nie gesehn wird ewig dauern«. Carl Lachmann und die Entstehung der wissenschaftlichen Edition. Freiburg 1989 (= Rombach Wissenschaft. Reihe Litterae). - Wichtige Hinweise auf die Geschichte der Walther-Edition finden sich in den Einleitungen zur 13. und 14. Auflage: Vgl. Hugo Kuhn: Einleitung. In: L13, S. XVI-XLVII; Christoph Cormeau: Einleitung. In: L14, S. XIII-LIV. Auf grundlegende Prämissen von Lachmanns Lyrik-Ausgaben wies Günther Schweikle hin. Vgl. bes. Günther Schweikle: Zur Edition mittelhochdeutscher Lyrik. Grundlagen und Perspektiven. In: ZfdPh 104 (1985), Sonderheft, S. 2-18. Wieder in: ders.: Minnesang in neuer Sicht. Stuttgart, Weimar 1994. S. 114-134.
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Jahrhunderts geprägte und emphatisch aufgeladene Autor-Werk-Vorstellung geprägt ist, daß jedoch andererseits die Bestimmung dessen, was als 'CEuvre' Walthers zu gelten habe, nicht allein auf sein subjektives 'iudicium' gestützt ist, sondern sich einer interpretierenden Auswertung von Überlieferungskonstellationen verdankt. Damit soll eine der Vorannahmen, mit denen Lachmann an seinen Gegenstand herangetreten ist, etwas klarer als bislang herausgestellt und die Wechselwirkung zwischen seinen vor aller Edition liegenden hermeneutischen Grundannahmen und seiner Analyse der Überlieferungsverhältnisse beschrieben werden. In einem dritten Teil werden Materialien zu den Echtheitsentscheidungen Lachmanns und zum Aufbau der Erstausgabe zusammengestellt.
I. Am Schluß der Vorrede zur 1. Auflage vermerkt Lachmann, es würde ihn sehr freuen, »wenn die gegenwärtige ausgabe für die echt kritische gelten könne, die docen schon 1809 [...] von der folgezeit hoffte« (L1, S. Xlf.). Mit dieser Anspielung auf Docens Versuch einer vollständigen Literatur der älteren Deutschen Poesie4 distanziert sich Lachmann erneut5 von der namentlich in der Frühphase der Germanistik üblichen Praxis, mittelhochdeutsche Texte in Form von mehr oder minder gewissenhaften Handschriftenabdrucken zu präsentieren, und erhebt den Anspruch, eine Ausgabe vorzulegen, die auf der Sichtung mehrerer, im Idealfall aller Überlieferungsträger beruht.6
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Vgl. B[ernhard] J[oseph] Docen: Versuch einer vollständigen Literatur der älteren Deutschen Poesie, von den frühesten Zeiten bis zu Anfange des XVI. Jahrhunderts. Erste Abtheilung (Das Verzeichnis sämmtlicher Dichter von 800 bis 1500 enthaltend). In: Museum für altdeutsche Literatur und Kunst 1 (1809), S. 126-234; hier: S. 216. Die Forderung nach einer kritischen Ausgabe hat Docen wenige Jahre später an anderer Stelle erneuert. Vgl. ders.: Ausfuhr liehe Beurtheilung der Sammlung deutscher Gedichte des Mittelalters, hg. durch von der Hagen u. Büsching. In: Anzeiger von Deutschen für Deutsche, 1813, Bd. 1. H. 2 und 3. S. 196-264, 334-422; vgl. bes. S. 201.
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Stellvertretend für andere Äußerungen sei etwa auf Lachmanns programmatische Stellungnahme in der 'Auswahl aus den Hochdeutschen Dichtem' hingewiesen. Vgl. Karl Lachmann (Hg.): Auswahl aus den Hochdeutschen Dichtem des dreizehnten Jahrhunderts. Für Vorlesungen und zum Schulgebrauch. Berlin 1820, bes. S. Xf. Auf weitere Äußerungen Lachmanns zur Notwendigkeit kritischer Ausgaben hat Lutz-Hensel, Prinzipien [Anm. 3], S. 326337, hingewiesen. Lachmann treibt damit eine methodologische Umorientierung des jungen Faches voran, die in den Wissenschaftsgeschichten der Germanistik unter dem Stichwort 'Philologisierung' ausführlich beschrieben wurde. Vgl. außer den in Anm. 3 genannten Arbeiten u.a. Johannes Janota: Eine Wissenschaft etabliert sich. 1810-1870. Tübingen 1980 (= Deutsche Texte. 53) (= Texte zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik. 3); Jürgen Fohrmann/ Wilhelm Voßkamp (Hgg.): Von der gelehrten zur disziplinaren Gemeinschaft. Stuttgart 1987 (= DvjS, Sonderheft); Ursula Rautenberg: Germanistik als Wissenschaft. Aspekte zur Geschichte des
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Überlieferung und 'Werk'
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Welche Textzeugen Lachmann für seine 1. Auflage benutzte, hat er in seiner Vorrede (L1, S. ΙΠ-Vm) vermerkt: Es sind insgesamt 13 Handschriften sowie die Tradierung von Walther-Strophen im Kontext der Möringer-Ballade.7 Von den Handschriften sind allerdings zwei nur kurz in der Vorrede erwähnt worden; für die Textherstellung konnten sie nicht mehr herangezogen werden: Die Mitteilung Finslers über eine Walther zugeschriebene Strophe in einem SchwabenspiegelCodex kam zu spät, um sie fur die 1. Auflage nutzen zu können8, und auf den Kalocsaer Codex (k2) hatte Lachmann offenbar keinen Zugriff.9 Von den verbliebenen 11 Handschriften hat Lachmann, wie er in der Vorrede zur 2. Auflage vermerkt, lediglich vier »in händen gehabt und verglichen« (L2, S. VI, Anm.). Es handelt sich in erster Linie um die beiden Heidelberger Codices 357 (A) und 350 (D/H), die er schon 1821 eingesehen hatte10 und die er vielleicht 1824, im Zusammenhang mit seiner Wolfram-Reise, ein zweites Mal konsultierte. Des weiteren hat Lachmann eine Spruchstrophe (L 30,12) aus dem in unmittelbarer Nähe zu seinem Arbeitsplatz aufbewahrten Codex ο abgeschrieben",
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Fachs im 19. Jahrhundert. In: Volker Mertens (Hg.): Die Grimms, die Germanistik und die Gegenwart. Wien 1988 (= Philologica Germanica. 9) S. 25-48, bes. S. 30-36; Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989; Jürgen Fohrmann/ Wilhelm Voßkamp (Hgg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar 1994. Vgl. weiter unten Teil III. 1. Vgl. L', S. VII, Anm. In der 2. Auflage wird dieser Textzeuge unter der Sigle r geführt; die betreffende Strophe (L 148,1) wird von Lachmann jedoch als unecht eingeschätzt und nur im Anmerkungsteil abgedruckt. Daß die Schwesterhandschrift von k auch den Leich tradiert, konnte Lachmann dem Teilabdruck von Mailath und Köffinger entnehmen, in dem das alte Inhaltsverzeichnis der Handschrift mitgeteilt worden war. Vgl. Graf Johann Nep[omuk] Mailath/ Johann Paul Köffinger (Hgg.): Koloczaer Codex altdeutscher Gedichte. Pesth 1817. S. XI-XVI. Die Lesarten von k2 sind jedoch erst ab der 3. Auflage berücksichtigt worden (aufgrund einer Abschrift von Franz Pfeiffer). Vgl. L3, S. IX. In der 10.-13. Auflage wurden sie wieder gestrichen, weil sie Kraus als überflüssig erschienen, da er k2, den Ergebnissen von Zwierzina (Konrad Zwierzma: Die Kalocsaer Handschrift. In: Festschrift Max H. Jellinek. Zum 29. Mai dargebracht. Wien, Leipzig 1928. S. 209-232, bes. S. 221f., 224f.) folgend, als eine unmittelbare (und damit in seinen Augen textkritisch wertlose) Kopie von k einschätzte. Vgl. L10, S. IX. Erst in L14 ist k2 im Apparat angemessen berücksichtigt worden. Vgl. Karl Lachmann (Hg.): Ulrich von Lichtenstein. Mit Anmerkungen von Theodor von Karajan. Berlin 1841. Unverändert. Nachdruck Hildesheim 1974. S. 681. Zur Autopsie von Α vgl. auch L1, S. 186, Anm. zu L 69,18, sowie Lachmanns Abschrift des cpg 357, die als mgf 702 in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz aufbewahrt wird. Vgl. Hermann Degering: Kurzes Verzeichnis der germanischen Handschriften der Preußischen Staatsbibliothek. Bd. I-III. Leipzig 1925-1932 ( = Mitteilungen aus der Preußischen Staatsbibliothek. 79); hier Bd. I, S. 77f. Vgl. L1, S. 151.
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der sich seit 1815 in der Berliner Bibliothek befand. Schließlich hat er die Würzburger Liederhandschrift Ε im Original eingesehen.12 Für die Hauptmasse der Handschriften nutzte Lachmann frühere Editionen sowie die Abschriften von Freunden oder Gewährsleuten. Seine Kenntnis des Walther-Corpus' in der Großen Heidelberger Liederhandschrift C stützt sich vor allem auf die Abdrucke von Bodmer und Breitinger13 (samt der Korrekturen und Nachträge von Benecke14) und auf die Auszüge, die Goldast in seiner IsidorAusgabe und in der Sammlung der Paränetiker15 publiziert hatte. Ferner zog Lachmann unpublizierte Notizen zu Rate, die sich Benecke anläßlich seiner Beschäftigung mit Goldasts Abschrift aus dem Codex Manesse16 angelegt hatte, während er die seinerzeit beste gedruckte Quelle für die C-Lesarten, nämlich Raßmanns Berichtigungen des Bodmerschen Abdrucks, die immerhin auf einer Autopsie der Handschrift beruhten, weitgehend ignorierte.17 Für die Handschrif-
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Lachmarms Exzerpte aus Ε werden als mgf 838 in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz aufbewahrt. Vgl. Degering [Anm. 10], Bd. I, S. 117. [Johann Jacob Bodmer/ Johann Jacob Breitinger (Hgg.):] Proben der schwaebischen Poesie des Dreyzehnten Jahrhunderts. Aus der Maneßischen Sammlung. Zürich 1748; [Diess. (Hgg.):] Sammlung von Minnesingern aus dem Schwaebischen Zeitpuncte, CXL Dichter enthaltend; durch Ruediger Manessen, weiland des Rathes der uralten Zyrich. Aus der Handschrift der Königlich-Französischen Bibliotheck herausgegeben. Bd. 1. Zyrich 1758. Bd. 2. Zyrich 1759. George Friederich Benecke (Hg.): Minnelieder. Ergänzung der Sammlung von Minnesingern. In: Beyträge zur Kenntniss der altdeutschen Sprache und Literatur. 1. 1810. S. 1-267; ders.: Abweichende Lesarten der Bremischen Handschrift. In: ebd. S. 269-286. S. Valeriani Cimeliensis episcopi De Bono Disciplinae Sermo. S. Isidori Hisp. ep. De Praelatis Fragmentum. Melior Hamenvelto Goldastus dedit cum collectaneis, Excudebat Petrus de la Rouiere. o. O. 1601; Manfred Zimmermann (Hg.): Melchior Goldast von Haiminsfeld, Paraeneticorum veterum pars I (1604). Im Nachdruck hg. Göppingen 1980 (= Litterae. 64). Zu Beneckes Ausweitung der Goldastschen Kopie vgl. Benecke, Beyträge. Bd. 1. S. III-X. Die Abschrift liegt in der Universitätsbibliothek Bremen unter der Signatur Ms a 29. Vgl. G[eorg] W[ilhelm]Raßmann: Berichtigungen und Nachträge zu Bodmers Ausgabe der Manessischen Sammlung von Minnesingern, nach der Urschrift in der Kaiserlichen Bibliothek zu Paris. Mit einem Vorwort von Friedrich Heinrich von der Hagen. In: Museum für Altdeutsche Literatur und Kunst 1, 1809, S. 313-444. - Lachmann erwähnt Raßmann zwar in seinem Vorwort; wie seine Quellenangabe (»in der jenaischen litteraturzeitung (1810) VII, 4, 159«) zeigt (vgl. L1, S. V), hat er dessen Verbesserungen allerdings nicht direkt benutzt, sondern lediglich einige wenige Lesarten berücksichtigt, die sein Erzfeind von der Hagen in einer kritischen Besprechung von Beneckes Beiträgen zitiert. Vgl. Friedrich Heinrich von der Hagen: Rezension zu: Benecke (Hg.): Beyträge zur Kenntniss der altdeutschen Sprache und Literatur. Bd. 1. [Anm. 14]: In: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, 7 (1810), Sp. 145160. Von der Hagen greift auf die Kollationierung Raßmanns zurück, um die Unzulänglichkeit der Korrekturen aufzudecken, die Benecke zu Bodmers Abdruck des Codex' Manesse angemerkt hatte, und in der Tat war Beneckes Ergänzung der Sammlung von Minnesingern schon zum Zeitpunkt ihres Erscheinens durch die zuvor erschienenen Raßmannschen Berich-
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ten Β, F, k, η besorgte er sich Kopien von Jacob und Wilhelm Grimm, Uhland und Mone, fur den Text aus den Münchener Codices cgm 44 (1; in der 2. Auflage: L) und clm 4660 (m; in der 2. Auflage: M) benutzte er Tiecks Bearbeitung des Frauendienstes18 und den frühen Abdruck der Strophen aus dem Codex Buranus, der in Docens Miscellaneen19 erschienen war. Für dieses überlieferungsferne Vorgehen sind zum einen Verkehrs- und kommunikationstechnische Schwierigkeiten verantwortlich. In der 2. Auflage von 1843 vermerkt Lachmann, daß die von ihm projektierte Edition »aller lieder des zwölften jahrhunderts« unmöglich sei, »so lange uns die benutzung der Weingarter handschrift nicht gegönnt wird« (L2, S. XIV), und bereits zwei Jahre zuvor, in seiner Liechtenstein-Ausgabe, klagt er, daß die bayerischen Behörden mit »eifersucht« die »mittheilung der handschrift [cgm 44] verweigert«20 hätten. Zum anderen ist bei Lachmann ein ausgeprägtes Desinteresse an der Materialität der Überlieferung festzustellen. Dies ergibt sich schon aus seiner Bemerkung über die Tonmarkierungen in Α und C, die als »unwichtig« bezeichnet werden (L1, S. IV), oder aus seiner Aussage, daß er sich wegen der geringen Qualität des Textes in C »gern mit dem gedruckten begnüge« (L1, S. V). Entsprechend ungenau sind seine Angaben zu Datierung, Lokalisierung, Aufbau und Einrichtung der Textzeugen, die von einer angemessenen Dokumentation codicologischer, paläographischer sowie dialektgeographischer Befunde weit entfernt sind. Das Ziel von Lachmanns Sichtung der Überlieferungszeugen besteht darin, den »reichsten und vielseitigsten unter den liederdichtern des dreizehnten jahrhunderts in würdiger gestalt wieder erscheinen zu lassen« (L1, S. III). Die Adjektive »reich« und »vielseitig«, die Lachmann zur positiven Kennzeichnung von Autor und Werk verwendet, entsprechen in auffälliger Weise der Charakterisierung Walthers von der Vogelweide durch Bouterwerk und Uhland, die forschungsgeschichtlich deshalb so bedeutsam war, weil dieser Sicht auf Walther das allzu verengte, auf das Thema der unerfüllten Liebe und das sprachliche Register der Klage reduzierte Reinmar-Bild entgegengesetzt wurde, um auf diese
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tigungen überholt. Lachmann spielt die Kritik an Benecke herunter, wenn er schreibt: »aber die Verschiedenheiten [zwischen Beneckes und Raßmanns Angaben] anzumerken wäre meistentheils unnütz gewesen«. Vgl. L1, S. V. Ludwig Tieck: Frauendienst, oder: Geschichte und Liebe des Ritters und Sängers Ulrich von Lichtenstein, von ihm selbst beschrieben. Nach einer alten Handschrift bearbeitet und herausgegeben. Stuttgart, Tübingen 1812.
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Bernhard Joseph Docen (Hg.): Spicilegien zu den Sammlungen der Minnesinger aus dem schwäbischen Zeitpunkt. In: Miscellaneen zur Geschichte der teutschen Literatur, neuaufgefundene Denkmäler der Sprache, Poesie u[nd] Philosophie unserer Vorfahren enthaltend. Bd. 2. München 1807. S. 189-208; hier S. 200, 202, 207.
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Lachmann (Hg.): Ulrich von Lichtenstein [Anm. 10], S. 680f.
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Weise die poetische Individualität beider Autoren durch Kontrast herauszuarbeiten.21 Die schon von Uhland beschworene 'Vielseitigkeit' Walthers von der Vogelweide22 fuhrt jedoch nicht dazu, daß alles, was unter diesem Namen tradiert worden ist, in die Ausgabe übernommen wurde: »unkritische Vermehrungen«, so notiert Lachmann lakonisch, »könnten der Sammlung nur einen zweifelhaften werth geben.« (L1, S. VIII). Der Umfang von Lachmanns Athetesen wird daran erkennbar, daß er 1827 einen Bestand von insgesamt 532 teils unikal, teils mehrfach bezeugten Strophen kannte und aus diesem Corpus 92 Strophen, das sind etwa 17,3 %, als 'unecht' ausgrenzte.23 Diese nicht unbeträchtliche Anzahl von Texten setzt sich aus zwei Hauptgruppen zusammen: - Die erste Gruppe besteht aus komplett athetierten Tönen. Diese stehen entweder in den mit einem Autornamen versehenen Walther-Corpora der Haupthandschriften ACE oder sie sind in den Handschriften a und F im Kontext von Strophenkomplexen ohne Verfassemamen aufgezeichnet worden, die Lachmann vermutlich als anonymisierte Autorcorpora24 einschätzte.25 Diese 'unechten' 21
Zum Kontrast Waither - Reinmar vor Lachmann vgl. Manfred Stange: Reinmars Lyrik. Forschungskritik und Überlegungen zu einem neuen Verständnis Reinmars des Alten. Amsterdam 1977 (= Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur. 32) S. 13,15-17. Stange hat die Konsequenzen dieser frühen Autoren-Bilder für die nachfolgende Forschung ausführlich beschrieben. Vgl. hierzu Stange, Reinmars Lyrik, bes. S. 37, 39f., 44, 49, 51 f., 99, 103, 107, 123, 132. Generell zur Verengimg des Reinmar-Bildes in der Forschung vgl. die Arbeiten von Günther Schweikle und Helmut Tervooren: Günther Schweikle: Reinmar der Alte. Grenzen und Möglichkeiten einer Minnesangphilologie. I. Handschriftliche und überlieferungsgeschichtliche Grundlagen. Habil. masch. Tübingen 1965; ders.: Die Fehde zwischen Walther von der Vogelweide und Reinmar dem Alten. Ein Beispiel germanistischer Legendenbildung. In: ZfdA 115 (1986), S. 235-253. Wieder in: ders.: Minnesang in neuer Sicht [Anm. 3], S. 364-389; Helmut Tervooren: Brauchen wir ein neues Reinmar-Bild? In: GRM. N.F. 36 (1986), S. 255-266; ders.: Reinmar und Walther. Überlegungen zu einem autonomen Reinmar-Bild. In: Hans-Dieter Mück (Hg.): Waither von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk. Günther Schweikle zum 60. Geburtstag. Stuttgart 1989 (= Kulturwissenschaftliche Bibliothek. 1) S. 89-105; ders.: Reinmar-Studien. Ein Kommentar zu den »unechten« Liedern Reinmars des Alten. Stuttgart 1991, bes. S. 21-35.
22
Ludwig Uhland: Walther von der Vogelweide, ein altdeutscher Dichter. In: A[dalbert] von Keller (Hg.): Uhlands Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage. Bd. 5. Stuttgart 1870. S. 1-109, bes. S. 77f. Vgl. weiter unten Teil III.3. Daß Lachmann hinter der Handschrift F ein Autorcorpus vermutete, ergibt sich aus der Logik seiner Siglenvergabe, die zwischen den »alten Sammlungen« (L1, S. IV) und der anonymen Überlieferung unterscheiden sollte, die lediglich »hier und da zerstreute Strophen« (L1, S. VI) umfaßt. Diese strenge Grenzziehung zwischen alten, autorbezogenen Sammlungen und anonymer Streuüberlieferung mußte jedoch schon für die 2. Auflage eingeschränkt werden (vgl. L2, S. VIII); auf der Grundlage der heutigen Kenntnis der Überlieferung ist sie kaum noch zu rechtfertigen. Vgl. Kuhn, Einleitung [Anm. 1], S. XVI. Vgl. weiter unten Teil III.3.1 und III.2.
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Lieder werden mit Ausnahme zweier Strophen (A 42 und Ε 50), die in der Vorrede abgedruckt worden sind, nicht in die erste Auflage übernommen; in der zweiten Auflage sind dann einige von ihnen hinter der Vorrede und vor dem eigentlichen Text der Ausgabe abgedruckt worden, und zwar unter der wertenden Überschrift 'Unechte Lieder'. - Bei der zweiten Gruppe handelt es sich um einzelne als 'unecht' abqualifizierte Strophen, die in von Lachmann als 'echt' eingeschätzten Tönen gedichtet sind.26 Auch diese werden nicht in den Haupttext der Ausgabe aufgenommen, finden sich aber großteils in den sog. Anmerkungen, also in dem Anhang am Ende des Bandes, der u.a. die Angaben zur handschriftlichen Überlieferung, die Lesarten sowie Wort- und Sacherklärungen und kurze Hinweise auf Editionsprobleme enthält. Für die Athetesen der ersten Gruppe gibt Lachmann in der Vorrede einige Argumente an: - Einige Töne sind ihm wegen Schwierigkeiten mit den Autorzuschreibungen verdächtig. Dies betrifft vor allem acht unter dem Namen Walthers tradierte Töne der Handschriften ACE (A 144-146, C 344-347, C 445-447, Ε 20-23, Ε 3337, Ε 138-142, Ε 143-147, Ε 187-191), die in anderen Überlieferungszusammenhängen mit Rubin, Rumelant, Heinrich Teschler, Heinrich von Morungen, Rudolf von Rotenburg, Neidhart, Walther von Metze oder Rudolf von Fenis verbunden werden. In diesen Fällen entscheidet sich Lachmann gegen die Verfasserschaft Walthers, weil diese Lieder und Sprüche sprachliche und metrische »Unregelmäßigkeiten in den versschlüssen« (L1, S. IX) aufweisen sollen oder »nicht Walthers eigenthiimlichen charakter« (L1, S. IX) hätten. Athetiert wird überdies das Lied F 40-44. Dieses ist in F (und in dem 1827 noch unbekannten Berner Hausbuch p) anonym überliefert; in C wird es Friedrich von Hausen zugeschrieben. Daß Lachmann die Echtheit dieses Tons überhaupt diskutiert, beruht darauf, daß er die in F zusammengetragenen Strophen (wie bereits erwähnt) wie ein Autorcorpus behandelt. Auch für dieses Lied werden sprachliche und metrische Eigentümlichkeiten vermerkt, die aus der Sicht Lachmanns gegen eine Verfasserschaft Waithers sprechen (L1, S. IX). - Ausgegrenzt werden aber auch einige Liedtöne, die in den Handschriften ausschließlich unter dem Namen Walthers von der Vogelweide firmieren. Für die meisten von ihnen (E 16-19, Ε 72-77, Ε 88-92, Ε 106-109) liegt der Grund für ihre Athetese in dem Umstand, daß sie nur in Ε (bzw. in Ε und F) tradiert worden sind. Die Skepsis gegen EF wird gelegentlich mit Hilfsargumenten untermauert. So wird wiederum auf »metrische freiheiten« am Versende verwiesen
26
Vgl. weiter unten Teil III.3.3.
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(L1, S. X); bei Texten, deren sprachliche Gestaltung und Endreime unanstößig sind, reicht aber schon die mutmaßlich geringe literarische Qualität als Beweis für die 'Unechtheit' aus: So seien die Strophen Ε 72-77 »theils gewöhnlich, theils albern« (L1, S. XI), und die Strophe Ε 50 wird als 'artig' (L1, S. XI) bezeichnet, was wohl eine euphemistische Umschreibung für 'belanglos' darstellen soll. Zusammen mit Ε 50 und aufgrund eines ähnlichen Geschmacksurteils wird auch die nur in der Kleinen Heidelberger Liederhandschrift aufgezeichnete Strophe A 42 als 'unecht' etikettiert.27 In bezug auf die Athetesen der zweiten Gruppe äußert Lachmann ganz vergleichbare Vorbehalte; zu einem Teil werden die 'verdächtigen' Einzelstrophen aus 'echten' Walther-Tönen sogar im Zusammenhang mit den 'unechten' Liedern in der Vorrede erwähnt. Das gilt für die Strophen A 24.26 (im Ton L 71,19), Β 31 (im Ton L 26,3) und Ε 121-124 (im Ton L 120,16), die Divergenzen in der Autorzuschreibung aufweisen und überdies nach Lachmanns Einschätzung 'Walthers eigenthümlichen Charakter' vermissen lassen (L1, S. IXf.). Ebenfalls in der Vorrede angesprochen wird die Strophe F 10, die der Gruppe der Texte zugerechnet wird, die nur in EF aufgezeichnet worden sind und die überdies »freiheiten am ende der verse« aufweisen sollen (L1, S. X). Metrische Unregelmäßigkeiten weist diese Strophe nun nicht auf; sie war Lachmann aber schon deswegen verdächtig, weil ihre Überlieferung in F nicht durch oberdeutsche Handschriften gestützt wird28. Den Umstand, daß manche Strophen nur in Ε (und/oder F) bezeugt sind, führt Lachmann u.a. darauf zurück, daß der Sammler
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Vgl. hierzu Thomas Bein: »damit sie nicht umkommen«. Texte in Lachmanns Vorrede zu seiner Ausgabe der Lieder Walthers von der Vogelweide (1827). In: Schwöb, Anton (Hg.): Editionsberichte zur mittelalterlichen deutschen Literatur. Beiträge der Bamberger Tagung »Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte« 26.-29. Juli 1991. Göppingen 1994 (= Litterae. 117). S. 115-121. Ein weiterer Grund für die Athetese dürfte ein inhaltlicher sein: F 10 greift zwar den Ton L 14,38 auf; mit der Bitte des sprechenden Ich an die vrowe, über seine clage nicht zu zürnen, weicht F 10 eindeutig von der Thematik der anderen Strophen dieses Tons ab. Es handelt sich um eine Art Kontrafaktur, bei der die Melodie von L 14,38 aufgegriffen, der Inhalt aber verändert wurde. Ob dies in polemisch-parodistischer Absicht geschah oder ob hier lediglich eine metrische (keineswegs zwingend: musikalische !) Form zwei Mal verwendet worden ist, läßt sich aufgrund der Tatsache, daß sich von der Kontrafaktur nur diese wenigen Zeilen erhalten haben, nicht sicher entscheiden. Unklar ist überdies, auf wen F 10 zurückgeht; gegen Lachmanns Athetese ist es sehr wohl möglich, daß Waither von der Vogelweide, wie dies für Oswald von Wolkenstein bezeugt ist, einen Liedton mehrfach verwendet hat. Daß Lachmann selbst solche Übernahmen des Tons für möglich hielt, geht schon daraus hervor, daß er in seiner Ausgabe 13 liedhafte Toneinheiten auf verschiedene Strophengruppen verteilte. Vgl. L 13,5; 41,13; 42,15; 44,35; 47,36; 56,13 [L2 56,14]; 58,21; 60,34; 63,32; 66,21; 74,20; 118,24; 119,17. - Lachmann hat ferner in einem Brief an Benekke die Möglichkeit von Doppelfassungen erwogen. Vgl. R. Baier (Hg.): Briefe aus der Frühzeit der deutschen Philologie an Georg Friedrich Benecke. Leipzig 1901. S. 74f.
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der Handschrift C diese mutmaßlich »unbedeutenden zusätze«, die als »zum theil sicher unecht, zum theil verderbt« bezeichnet werden, »verschmähte oder noch nicht vorfand« (L1, S. VIII). Auf diese Weise wird Lachmanns negatives Urteil über die Strophen, die keine Parallele in den Handschriften Α, Β und C finden, im Rekurs auf das unterstellte ästhetische Urteil der Zürcher Redaktoren und Schreiber und den Quellenfundus des Codex' Manesse abgesichert: Sie erscheinen entweder als minderwertige Texte, die der Sammler bewußt ausgegrenzt habe29, oder aber als spätere Nachdichtungen, die in den Vorlagen von C noch nicht dokumentiert waren. Deshalb ist für die Einzelstrophen die Tradierung außerhalb der Haupthandschriften als Ausgrenzungskriterium noch wichtiger als bei den mutmaßlich 'unechten' Liedern; für Lachmann war es so evident, daß er in den Anmerkungen, wo die meisten der 22 athetierten Einzelstrophen abgedruckt worden sind, die Behauptung der 'Unechtheit' gar nicht mehr ausspricht, sondern lediglich den Überlieferungsbefund konstatiert und nur gelegentlich einzelne Überlegungen zur Metrik30 und zum Inhalt der Strophen31 hinzufügt. Lachmanns Echtheitsentscheidungen basieren demnach vor allem auf: 1. Divergenzen in der Autorzuschreibung, 2. Überlegungen zur Qualität der literarischen oder sprachlichen Gestaltung, und 3. unikaler Überlieferung in EF. Lachmann verfolgt damit schon einige der prominentesten argumentativen Strategien, mit denen bis in die jüngste Zeit hinein versucht wird, Athetesen
25
Vgl. demgegenüber die anders gelagerte Erklärung von Gisela Komrumpf, die zwar auch davon ausgeht, daß der Schreiber E s , der die *EC-Quelle abgeschrieben hat, Plusstrophen der E-Überlieferung nicht übernommen habe, diesen Auswahlvorgang aber nicht mit dem Mißtrauen gegen die Echtheit, sondern mit buchtechnischen Zwängen erklärt. Aus Rücksichtnahme auf die Ästhetik der Seitengestaltung seien die neuen Strophen nicht auf dem Rand eingetragen worden, und auch auf das bei den Nachträgen aus *AC2 angewendete Verfahren, die Plusstrophen in den Textblock zu integrieren und ihre Tongleichheit mit weiter vorne eingetragenen Strophen durch Verweiszeichen anzuzeigen, habe er nicht zurückgegriffen, um den »Verweisungswirrwar« nicht noch zu vergrößern. Vgl. Gisela Komrumpf: Walthers 'Elegie'. Strophenbau und Überlieferungskontext. In: Jan-Dirk Müller/ Franz Josef Worstbrock (Hgg.): Walther von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988 zum 65. Geburtstag von Karl-Heinz Borck. Stuttgart 1989. S. 147-158, bes. S. 153.
30
Vgl. die Anmerkung zu den Strophen Ε 149.150, in der die Verwendung des Reimes tete ich: mich gerügt wird. Vgl. L', S. 166. Ε 66 wird als unnötige Amplifikation gekennzeichnet. Vgl. L1, S. 170. Ε 149-150 werden u.a. deshalb aus dem Corpus ausgegrenzt, weil sie auf eine andere, ebenfalls als 'unecht' aufgefaßte Strophe (E 124) Bezug nehmen. Vgl. L1, S. 166. Bezeichnend für Lachmanns Umgang mit der Überlieferung ist dabei, daß schon der Umstand, daß ihm einige Stellen unverständlich erscheinen, ausreicht, um die Athetesen zu begründen. Vgl. L1, S. 171 (zu Ε 48. 49) oder L1, S. 180 (zu Ε 178-181).
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plausibel zu machen. Sie sind für den Bereich der Walther-Forschung bereits ausführlicher beschrieben worden32, so daß sich ein Referat erübrigt. Ich kann an dieser Stelle auch nicht zu der Frage Stellung beziehen, ob aus heutiger Sicht die Athetesen Lachmanns noch überzeugen, weil dies das Thema eines eigenen Beitrages wäre. Statt dessen soll im folgenden eine Denkfigur vorgestellt werden, die für die Einschätzung von Lachmanns Echtheitsentscheidungen von zentraler Bedeutung ist und die sich vorläufig so charakterisieren läßt: Einerseits dient eine normative Vorstellung von Autor und Werk als Vorgabe für die Interpretation der Überlieferung; andererseits wird aber eine bestimmte Konstellation in der geographischen und zeitlichen Verteilung der Handschriften als heuristische Grundlage für die Bestimmung der Werkgrenzen herangezogen.
II. Michel Foucault hat anhand einer berühmten Stelle aus Hieronymus' De Viris illustribus herausgestellt, daß der Autor vor allem die Funktion übernimmt, ein konstantes stilistisches, inhaltliches und formales Niveau zu garantieren und einen bestimmten begrifflichen Zusammenhang zu präsentieren, um auf diese Weise den mit seinem Namen markierten Diskurs als nicht-alltäglich und kulturell bedeutsam auszuweisen.33 In dem Begriff des Autors wird also wesentlich mehr als nur die Vorstellung des Texterzeugers mitgedacht; der Hinweis auf die Autorschaft ist vielmehr in der Regel mit Fragen der Geltung und Wertung ver-
32
Vgl. bes. Thomas Bein: »Mit fremden Pegasusen pflügen«. Untersuchungen zu Authentizitätsproblemen in mittelhochdeutscher Lyrik und Lyrikphilologie. Berlin 1998 (= Philologische Studien und Quellen 150), bes. S. 317-352; ders.: Über die sogenannten 'unechten' Strophen und Lieder in der 13. Auflage von Karl Lachmanns Walther-Edition. In: Mittelalterforschung und Edition. Actes du Colloque Oberhinrichshagen bei Greifswald. 29 et 30 octobre 1990. Amiens 1991 (= Wodan. Serie. 4. 6) (= Jahrbücher der Reineke-Gesellschaft. 1), S. 7-26; ders.: »damit sie nicht umkommen« [Anm. 27]; Ingrid Bennewitz: »Eine Sammlung von Gemeinplätzen« ? Die Walther-Überlieferung der Handschrift E. In: Rüdiger Krohn (Hg.): »Da hoeret ouch geloube zuo«. Überlieferungs- und Echtheitsfragen zum Minnesang. Beiträge zum Festcolloquium für Günther Schweikle anläßlich seines 65. Geburtstages. Hg. v. Rüdiger Krohn in Zusammenarbeit mit Wulf-Otto Dreeßen. Stuttgart, Leipzig 1995, S. 2735; Ursula Kocher: »Unechte« Strophen in der Waltherüberlieferung und das Problem der »Zusatzstrophen« in der Würzburger Handschrift. In: Stephan Füssel/ Gerd Hübner/ Joachim Knape (Hgg.): Artibus. Kulturwissenschaft und deutsche Philologie des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Festschrift fur Dieter Wuttke zum 65. Geburtstag. Wiesbaden 1994. S. 4762; Wayne Bums Kraft: Attribution and athetization in literature with special reference to Walther von der Vogelweide and Albrecht von Johansdorf. Diss, masch. University of Illinois 1978; Manfred Günther Scholz: Kriterien der Unechtheit in der Walther-Forschung nach Carl von Kraus. In: Krohn (Hg.): »Dä hoeret ouch geloube zuo« [s.o.], S. 177-194.
33
Vgl. Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: ders.: Schriften zur Literatur. Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1979 (= Ullstein Materialien). S. 7-31, bes. S. 20f.
Überlieferung und 'Werk'
43
bunden.34 Exakt in dieser Weise verwendet Lachmann den Namen 'Walther von der Vogelweide'. Hinzu kommt, daß er die Relation zwischen Autor und Werk auf eine besondere Weise emphatisch auflädt. Das Werk ist seiner Einschätzung nach das Medium, in dem sich ein Autor offenbart, so daß er in den hinterlassenen Texten selbst präsent ist und die historische Distanz zum Rezipienten überbrückt. Wie eng Lachmann dieses Verhältnis von Autor und (Euvre faßt, zeigt sich mit wünschenswerter Klarheit in den bereits eben erwähnten ersten Worten seiner Ausgabe. Dort heißt es, daß er bereits 1816 geplant habe, den »reichsten und vielseitigsten unter den liederdichtern des dreizehnten J ahrhunderts in würdiger gestalt wieder erscheinen zu lassen.« (L1, S. III). Hier verwendet Lachmann nicht nur die gebräuchliche Metonymie, in der ein Urheber für das von ihm Verursachte steht; vielmehr spricht er in einer Weise über den 'liederdichter', daß nicht mehr exakt zwischen der historischen Person Walthers und seiner literarischen Hinterlassenschaft unterschieden wird: 'reich' und 'vielfaltig' stehen vielmehr für Autor und Werk, und auch das Verbum 'erscheinen' ist zumindest zweideutig. Je nach Akzentuierung läßt sich die Aussage so verstehen, daß entweder das Werk Walthers in 'würdiger gestalt' präsentiert werden soll (was dann sowohl auf den wissenschaftlichen als auch auf den zweifellos ästhetischen Anspruch der Ausgabe abzielen würde) oder aber daß die Person des 'liederdichters' selbst in den abgedruckten Texten 'wieder' erscheint.35 Unter dieser Voraussetzung, daß der Name 'Walther von der Vogelweide' für den hohen Rang der mit ihnen verknüpften Texte einsteht und umgekehrt das (Euvre nicht einfach eine beliebige Textmenge darstellt, sondern die literarische Hinterlassenschaft einer bewunderten historischen Individualität, muß folgerichtig geschieden werden, was 'echt' ist und was 'unecht', weil nur so gewährleistet ist, daß die literarische Qualität der Dichtungen und der 'eigenthümliche character' des Autors erkennbar werden.
34
35
Vgl. hierzu zusammenfassend Erich Kleinschmidt: Autor. In: Klaus Weimar/ Harald Fricke/ Klaus Grubmüller (Hgg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. Berlin, New York 1997. S. 176180 [mit weiterführender Literatur] sowie Bein, »Mit fremden Pegasusen pflügen« [Anm. 32], bes. 70-120. Der Akt der Rezeption von Texten wird demnach zu einem Nachvollzug einer Persönlichkeit. Vgl. etwa die Vorrede zur 2. Auflage von Hartmanns von Aue Iwein, in der Lachmann ausführt, daß das philologische Verständnis »mit folgsamer hingebung die gedanken absichten und empfindungen des dichters, wie sie in ihm waren und wie sie den Zeitgenossen erscheinen musten, rein und voll zu widerholen sucht.« Vgl. Lachmann, Karl: Vorrede. In: Georg F[riedrich] Benecke/ Karl Lachmann (Hgg.): Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue. Mit Anmerkungen von G.F. Benecke und K. Lachmann. Zweite Ausgabe. Berlin 1843. S. III-X; hier: S. III.
44
Franz-Josef Holznagel
Lachmanns Walther-Edition beruht nun auf dem Versuch, die emphatische Autor-Werk-Relation auf die Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik anzuwenden. Dieser Vorgang wirkt auf den ersten Blick wenig problematisch, weil die Einrichtungsgepflogenheiten der Haupthandschriften Lachmanns Editionsprinzipien entgegenzukommen scheinen. Bei näherer Betrachtung der Überlieferungsverhältnisse ergeben sich jedoch sowohl in bezug auf die Autor- als auch auf die Werkvorstellung Lachmanns Schwierigkeiten: - So weist die deutschsprachige Lyriküberlieferung trotz des dominierenden Autor- und Corpusprinzips keine konsequente Bindung eines Textes an einen Verfasser auf 36 , sondern ist durch Zuschreibungsdivergenzen3? durch das Nebeneinander von autorbezogenen und nicht-autorbezogenen Tradierungsformen38 sowie durch ein partielles Auseinandertreten von Tonerfinder und Textdichter39 gekennzeichnet. Hinzu kommt, daß die Autornamen in der jüngeren Überlieferung die Funktion von Gattungstermini übernehmen können.40
36
Vgl. hierzu Franz-Josef Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik. Tübingen, Basel 1995 (= Bibliotheca Germanica. 32) S. 49-66 [mit weiterführender Literatur]; Helmut Tervooren: Die Fragen nach dem Autor. Authentizitätsprobleme in mittelhochdeutscher Lyrik. In: Rrohn (Hg.): »Di hoeret ouch geloube zuo« [Anm. 32], S. 195-204, sowie ders.: Die späte Überlieferung als Editionsproblem [in diesem Band], Vgl. jetzt auch Bein, »Mit fremden Pegasusen pflügen« [Anm. 32], S. 32-35, 193-233.
37
Vgl. außer den o.a. Fällen von Zuschreibungsdivergenz die von Lachmann als 'echt' eingeschätzten Töne, die in Α unter den Namen Reinmars, Ulrichs von Singenberg, Niunes oder Leutholds von Seven eingetragen worden sind. Vgl. hierzu die Konkordanz in Horst Brunner/ Ulrich Müller/ Franz Viktor Spechtler (Hgg.): Walther von der Vogelweide. Die gesamte Überlieferung der Texte und Melodien. Abbildungen, Materialien, Melodietranskriptionen. Mit Beiträgen von Helmut Lomnitzer und Hans Dieter Mück. Geleitwort von Hugo Kuhn. Göppingen 1977 (= Litterae. 7). S. 14*f. Lachmann trägt diesem Unterschied in der Überlieferung insoweit Rechnung, als daß er die von ihm als autorbezogen eingeschätzten Tradierungsformen bei der Vergabe der Siglen mit Großbuchstaben und die nicht-autorbezogene Überlieferung mit Kleinbuchstaben versieht. Vgl. hierzu die Anm. 24. Dieses Phänomen, das vor allem fur die späte Überlieferung von Sangspruchtönen charakteristisch ist, tritt in dem Corpus, das Lachmann 1827 bekannt war, lediglich in der Form auf, daß im Walther-Corpus der Weingartner Liederhandschrift als Β 31 eine Strophe des Truchsessen von Singenberg (L2 153,1 / L14 10, XXI) steht, die in Walthers König-Friedrichston gedichtet worden ist. Vgl. hierzu den Kommentar von Lachmann (L1, S. 149f.; L2, S. 153f.). Allgemein zu den frühen Beispielen von Tonübernahmen vgl. Gisela Kornrumpf Burghart Wachinger: Alment. Formentlehnung und Tönegebrauch in der mittelhochdeutschen Spruchdichtung. In: Christoph Cormeau (Hg.): Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Stuttgart 1979. S. 356-411.
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39
40
Der auffälligste und bekannteste Fall ist die Verwendung des Namens 'Nithart' als Gattungsnamen. Vgl. zusammenfassend Holznagel, Wege [Anm. 36], S. 384-386. Auf einen ähnlichen Funktionswandel des Namens 'Neifen' weist jetzt Tervooren, Die späte Überlieferung als Editionsproblem [in diesem Band], hin.
Überlieferung und 'Werk'
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- Selbst in der streng autorbezogenen Überlieferung weicht das literarische Profil der unter dem gleichen Autornamen tradierten Textcorpora deutlich voneinander ab, weil in ihnen 1. die Anzahl und die Abfolge der Texte so stark voneinander abweichen, daß die verschiedenen Genres und Subgenres der mittelhochdeutschen Lyrik mit merklich verlagerten Schwerpunkten vertreten sind41, und 2. die gemeinsam in mehreren Handschriften tradierten Töne oftmals durch gravierende Varianzerscheinungen gekennzeichnet sind, die vom schlichten Austausch schmückender Beiwörter bis hin zu regelrechter Fassungsdivergenz reichen.42 Im Vergleich zu der Tradierung von Neidharts Liedern ist das Ausmaß der Fassungsvarianz in den Liedtönen Walthers merklich geringer. Das liegt vor allem an dem stabilisierenden Einfluß der gemeinsamen Quellen von Α und C, Β und C sowie Ε und C; dennoch hätte auf der Grundlage des 1827 zugänglichen Corpus ein Parallelabdruck für weit über 20 Töne43, also für fast ein Drittel der Lieder, die im allerweitesten Sinne zur Walther-Überlieferung zählen, erwogen werden können.
Schließlich lassen die einzelnen Handschriften den Rückschluß auf sehr unterschiedliche literarische Interessen zu. So sei nur noch einmal darauf hingewiesen, daß die Handschriften Β und C die Minnesänger und Spruchdichter als hierarchisch abgestufte Repräsentanten einer höfischen Elite präsentieren, während
41
Erinnert sei an die unterschiedlichen literarischen Profile der Reinmar-Sammlungen in A, B, C und Ε oder der großen Neidhart-Corpora in R, C und c. Vgl. hierzu u.a. Hans Eduard Kohnle: Studien zu den Ordnungsgrundsätzen mittelhochdeutscher Liederhandschriften (Die Folge der Lieder in Α und E). Mit einem Anhang: Der Verfasser der sogenannten jungen Spervogelstrophen A 27-30. Stuttgart, Berlin 1934 (= Tübinger germanistische Arbeiten. 20), bes. S. 47-60 und 107-125; Gisela Komrumpf (Hg.): Die Lieder Reinmars und Walthers von der Vogelweide aus der Würzburger Handschrift 2 ° Cod. ms. 731 der Universitätsbibliothek München. Bd. 1: Faksimile. Mit einer Einfuhrung. Wiesbaden 1972. S. 16; Tervooren, Reinmar-Studien [Anm. 21], bes. S. 245-247; Holznagel, Wege [Anm. 36], S. 181-184, 300309, 347-355, 435.
42
Auf das Phänomen variierender Überlieferung nachdrücklich hingewiesen zu haben, ist vor allem das Verdienst von Günther Schweikle und Helmut Tervooren. Schweikies wichtigste Aufsätze zu diesem Thema sind in dem Band 'Minnesang in neuer Sicht' zusammengefaßt worden [Anm. 3], Von Tervoorens Arbeiten sei v.a. auf den frühen Aufsatz zu Spervogel hingewiesen: Doppelfassungen bei Spervogel (Zugleich ein Beitrag zur Kenntnis der Handschrift J). In: ZfdA 99 (1970), S. 163-178. Vgl. ferner die in Anm. 21 genannten Titel. Für das (freilich extreme) Beispiel der Neidhart-Überlieferung sei v.a. auf die Arbeiten im Umkreis der Salzburger Neidhart-Edition verwiesen, unter denen der programmatische Aufsatz von Ingrid Bennewitz und Ulrich Müller besonders hervorzuheben ist: Ingrid Bennewitz-Behr/ Ulrich Müller: Grundsätzliches zur Überlieferung, Interpretation und Edition von Neidhart-Liedern. Beobachtungen, Überlegungen und Fragen, exemplifiziert an Neidharts Lied von der »Werltsüeze« (Hpt. 82,3 = WL 28). In: ZfdPh 104 (1985), Sonderheft, S. 5279. Vgl. ferner Holznagel, Wege [Anm. 36], S. 405-426 [mit weiteren Literaturangaben].
43
Vgl. L 13,5; 14,38; 39,1; 40,19; 41,13; 44,11; 44,35; 47,36; 50,19; 51,13; 52,23; 54,37; 56,14; 57,23; 58,21; 59,37; 63,32; 65,33; 69,1; 70,1; 71,19; 72,31; 73,23; 74,20; 85,34; 113,31; 117,29; KLD 62,IV.
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Franz-Josef Holznagel
die Autoren des Würzburger 'Hausbuchs' als lokale Berühmtheiten vorgeführt werden. Entsprechend ändert sich die Wahrnehmung der mit den Verfassernamen verbundenen Texte: In Β und in C wird Adelskunst dargeboten, in Ε stehen Texte, die über ihre Autoren eine Anbindung an den Entstehungsort der Handschrift besitzen.44 Die Praxis der Athetese läßt sich als Versuch bezeichnen, die Probleme beizulegen, die sich aus der Rückprojektion von Autorvorstellungen des frühen 19. Jahrhunderts auf die anders gelagerten Verhältnisse des 13./14. Jahrhunderts ergeben: Die Echtheitskritik stabilisiert die unfesten Beziehungen zwischen Autorname und Text; ferner beseitigt sie die sprachlichen, stilistischen, metrischen und inhaltlichen Differenzen, die zwischen den mit einem Verfassernamen verbundenen 'Dichtungen' auftreten können, indem sie die Strophen von mutmaßlich geringerer Qualität aus dem Werk ausgrenzt und die in den Handschriften bezeugten Liedfassungen durch einen einzigen Text ersetzt. Der Autor als Garant für Qualität und das Werk als Ausdruck einer historischen Individualität - erst die Kombination aus diesen beiden Vorannahmen macht also plausibel, warum mutmaßliche Schwankungen in der literarischen Gestaltung zu Athetesen führen und warum im Falle divergierender Autorzuschreibungen geklärt werden muß, zu welchem Verfasser der strittige Text denn gehört. Solche Echtheitsentscheidungen beruhen, wie Lachmann in der Vorrede zu seiner 'Auswahl aus den hochdeutschen Dichtem' freimütig bekennt, auf einer zirkulären Denkbewegung, derzufolge bei der Durchmusterung des handschriftlich Überlieferten das Endresultat der Kritik, nämlich die 'eigenthümliche art' von Autor und Werk, bereits als bekannt vorausgesetzt werden muß, um das nicht zum Werk Gehörende auszugrenzen.45 Diese im
44 45
Vgl. Holznagel, Wege [Anm. 36], S. 56-61. »...; ganz offenbar ist, daß aus einer hinlänglichen Anzahl von Handschriften, deren Verwandtschaft und Eigentümlichkeiten der Kritiker genau erforscht hat, ein Text sich ergeben muß, der im Kleinen und Großen dem ursprünglichen des Dichters selbst oder seines Schreibers sehr nah kommen wird. Füge ich noch hinzu, daß der Herausgeber mit allen Rede- und Versgebräuchen seines Dichters sich erst vollkommen vertraut machen soll, so sieht man zwar, daß die Arbeit in einen Kreis geht: aber in diesem Kreise sich geschickt zu bewegen, das ist des Kritikers Aufgabe und erhebt sein Geschäft über Handarbeit.« Vgl. Lachmann (Hg.): Auswahl [Anm. 5], S. Xf. - Lachmanns Formulierungen weisen an dieser Stelle Übereinstimmungen mit der Hermeneutik Schleiermachers auf, der zu seinem engsten Bekanntenkreis gehörte. Zum Verhältnis zwischen der Philologie Lachmanns und Schleiermachers Hermeneutik vgl. Lutz-Hensel, Prinzipien [Anm. 3], S. 44-50 (und pass.), Weigel, »Nur was du nie gesehn wird ewig dauern« [Anm. 3], S. 192-229, sowie Nikolaus Wegmann: Was heißt einen 'klassischen Text' lesen? Philologische Selbstreflexion zwischen Wissenschaft und Bildung. In: Fohrmann / Voßkamp (Hgg.): Wissenschaftsgeschichte [Anm. 6], S. 334-450, hier S. 399-419. Wegmann stellt zu Recht heraus, daß diese Berührung mit der Hermeneutik eher punktuell bleibt.
Überlieferung und 'Werk'
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Zirkel argumentierende Bestimmung der Werkgrenzen läuft, wie die spätere Geschichte der Athetesen zeigt, allzu schnell Gefahr, von subjektiven Vorannahmen gesteuert zu werden. Kennzeichnend für Lachmann ist dagegen, daß er sich nicht allein auf sein persönliches Urteil verläßt, sondern ein nachvollziehbares System entwickelt, um seine Echtheitsentscheidungen im Rückgriff auf Tradierungsfakten zu objektivieren. Sein entscheidender methodischer Schritt besteht darin, sich innerhalb der autorbezogenen Überlieferung einen Ausgangspunkt zu suchen, von dem aus festgelegt werden kann, was gewissermaßen als 'Zentrum' und was als 'Peripherie' des Walterschen Werkes zu gelten hat. Das, was Lachmann als 'Zentrum' definierte, ist unschwer aus der Anordnung der Töne in Lachmanns Erstedition abzulesen. Hendricus Sparnaay, Hugo Kuhn und Christoph Cormeau46 haben sie präzise beschrieben, so daß an dieser Stelle auf eine ausführliche Erörterung verzichtet werden kann. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß die Reihenfolge, in der die Töne in Lachmanns Ausgabe erscheinen, nach zwei sich ergänzenden Hauptgesichtspunkten gestaltet worden ist. Zum einen lehnt sich die Abfolge der Töne im großen und ganzen an das Walther-Corpus der Großen Heidelberger Liederhandschrift an und reproduziert dabei in groben Zügen die Quellenhierarchie dieser Sammlung (Leich; 1. *BCReihe; 2. *BC-Reihe; die beiden *AC-Reihen; *EC).47 Zum anderen spiegelt sich in der von Lachmann hergestellten Reihung der Lieder und Sprüche aber auch ihre relative Tradierungshäufigkeit, was natürlich indirekt mit den Quellenverhältnissen der Handschrift C zusammenhängt: Der Tendenz nach wurden am Anfang der Edition, in den Büchern I und II, Töne plaziert, die breiter überliefert sind als die, die am Ende der Ausgabe, in Buch IV, stehen. In Kategorien der Echtheitskritik formuliert, schreitet die Ausgabe damit vom Gesicherten zum weniger Gesicherten voran.48 Ein Blick auf den Inhalt der ersten beiden Bücher zeigt nun deutlich, wie Lachmanns Echtheitsentscheidungen mit den zentralen Handschriftenkonstellationen der Walther-Überlieferung zusammenhängen. Für die Lieder gewährleistet in erster Linie die oftmals durch Parallelüberlieferung gestützte Tradierung in Β ihre Zugehörigkeit zum Werk Walthers. Für die Sprüche dient eben-
46
Sparnaay, Karl Lachmann [Anm. 3], S. 98; Kuhn, Einleitung [Anm. 3], S. XLIII - XLVII (und Tabelle); Cormeau, Einleitung [Anm. 3], S. XXI-XXIII. Vgl. überdies weiter unten die Tabelle in Teil III.5, welche die Überlieferungsverhältnisse, die bei Lachmanns Aufteilung der Bücher eine Rolle gespielt haben, etwas besser herausstellt, als dies bei Kuhn oder Cormeau geschehen ist.
47
Vgl. Holznagel, Wege [Anm. 36], bes. S. 217-231.
48
Als ein weiteres (freilich nicht konsequent gehandhabtes) Prinzip kommt noch die Tendenz hinzu, die verschiedenen literarischen Genres nach Möglichkeit nicht auf mehrere Bücher zu verteilen.
48
Franz-Josef Holznagel
falls das Corpus der Weingartner Handschrift als Ausgangsbasis; da in Β diese Textgattung nur am Rande des ansonsten dominierenden Minnesangs aufgezeichnet worden ist, erweitert Lachmann diese Grundlage aber um Sprüche der Handschrift C, die zwar aus keiner identifizierbaren Texttradition herrühren, von denen aber immerhin einige auch noch in anderen Handschriften stehen. Als das 'Zentrum' des von Lachmann konstruierten Corpus' der WaltherTexte muß demnach der Strophenbestand der Handschrift Β gelten. Dies ergibt sich nicht nur aus dem Textensemble der ersten beiden Bücher, sondern indirekt schon aus Lachmanns Praxis der Athetese: Während alle anderen Haupthandschriften in mehr oder minder großem Umfang 'Unechtes' enthalten, sind mit einer erklärlichen Ausnahme (nämlich Singenbergs spöttischer Strophe über die Armutsklage Walthers von der Vogelweide) alle Strophen des B-Corpus' in den Haupttext der Edition aufgenommen worden. Hinzu kommt, daß Lachmann (offenbar in Anlehnung an die Überlegungen von Uhland und Laßberg)49 den Weingartner Codex früher datiert als C, so daß dieser in seiner Sicht den Vorteil einer relativen Autornähe besitzt.50 Demgegenüber wird der Zeugniswert der Α-Strophen von Lachmann niedriger eingeschätzt. Sofern sie nicht auch in Β aufgezeichnet worden sind, stehen sie erst im dritten Buch der Lachmannschen Edition, werden den *BC-Strophen also deutlich nachgeordnet. Der cpg 357 galt Lachmann zwar für die Herstellung des Textes als früheste und beste51 Handschrift, in der Frage der Werkbegrenzung aber erschien er ihm vermutlich wegen der partiellen Störungen des Autorund Corpusprinzips und wegen der gehäuften Divergenzen mit den Zuschreibungen in Β und C als unzuverlässig. Entsprechend oft werden Strophen aus der Walther-Sammlung von A athetiert, während umgekehrt Strophen, die in der Kleinen Heidelberger Liederhandschrift anderen Autoren zugeschrieben werden (Reinmar, Ulrich von Singenberg, Leuthold von Seven, Niune), in Lachmanns Edition aufgenommen worden sind. Am unsichersten ist für Lachmann der Status der Strophen, die nur in C bzw. in Ε und C tradiert worden sind. Das Walther-Corpus der Großen Heidelberger Liederhandschrift dient ihm zwar insoweit als Leitgröße für die Bestimmung des
49
30
51
Ludwig Uhland: Der Minnesang. In: Keller (Hg.): Uhlands Schriften [Anm. 22], S. 111-282; hier S. 272f.; Joseph Freiherr von Laßberg (Hg.): Lieder Saal. Das ist: Sammelung altteutscher Gedichte, aus ungedruckten Quellen. Bd. 1-3. [Eppishausen] 1820-1825. Nachdruck Darmstadt 1968; hier: Bd. 2. S. XLIIIf. Dafür, daß Lachmann die Handschrift Β früher als den Codex Manesse datierte, spricht schon die Logik seiner Siglenvergabe. Außerdem zählt er Β in seiner Einleitung zum Buch IV (L1, S. 206) dezidiert zu den »alten Sammlungen« Α, B, D. Vgl. ferner die Bemerkung in der Vorrede von L2, daß die Handschrift C jünger als ABD einzuschätzen sei (L2, S. Vif.). Vgl. lediglich die Anmerkung zu L 11,18 (L1, S. 133).
Überlieferung und 'Werk'
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Werkganzen, als daß er keine C-Strophe athetiert, solange keine Zuschreibungsprobleme auftreten; die 'Echtheit' der nur in C aufgezeichneten Strophen und der Lieder aus *EC ist aber seiner Einschätzung nach nur eine schwach verbürgte, so daß ihm fraglich bleibt, ob die im 4. Buch zusammengestellten Texte tatsächlich zum (Euvre Waithers gezählt werden dürfen: »Dass nur Eine strophe dieses buches von Walther sei, ist wenigstens äusserlich nicht zu beweisen, die alten Sammlungen AB(D) haben nichts davon, kein anderer dichter erwähnt irgend eine stelle daraus.« (L1, S. 206). Der Umstand, daß die *EC-Strophen, sofern sie keine parallele Überlieferung in Α oder Β aufweisen, im 4. Buch abgedruckt wurden und daß von den 92 der in der 1. Auflage als 'unecht' ausgegrenzten Strophen immerhin 76 aus Ε und/oder Fvstammen, zeigt, wo nach Lachmanns Einschätzung die 'Peripherie' des Waltherschen (Euvre anzusetzen ist. Was Lachmann zu dieser Abwertung von EF bewog, hat er nicht klar formuliert. Es ist aber anzunehmen, daß verschiedene Faktoren eine Rolle gespielt haben: - Zum ersten sind die Handschriften Ε und F nach Lachmanns Einschätzung deutlich jünger als die alemannischen Haupthandschriften, so daß sich aus seiner Sicht eine im Vergleich zu ABC vergrößerte Distanz zur Entstehungszeit der Lieder ergab. - Zum zweiten hatte Lachmann offensichtliche Schwierigkeiten mit der Schreibsprache der EF-Strophen. Diese entspricht nicht nur noch weniger als die Überlieferung in ABC den Standards der von Lachmann angenommenen mittelhochdeutschen Dichtersprache; Lachmann bekennt überdies mehrfach, daß ihm einige Strophen in EF unverständlich geblieben sind.52 - Zum dritten weicht das in den Handschriften Ε und F tradierte literarische Profil merklich von dem der anderen Haupthandschriften ab53; offenbar war diese
32 53
Vgl. die Anm. zu Ε 48. 49 (L1, S. 171) oder zu Ε 178-181 (L1, S. 180). Zu den Besonderheiten des Walther-Corpus' in Ε vgl. Kohnle [Anm. 41], S. 85-107; Kornrumpf, Einführung [Anm. 41], S. 16; Jeffrey Ashcroft: Ungefüege dcene: Apocrypha in Manuscript Ε and the Reception of Walther's Minnesang. In: Oxford German Studies 13 (1982), S. 57-85, deren Wahrnehmung allerdings sehr stark von den Echtheitsentscheidungen Lachmanns und Carl von Kraus' geprägt ist. Statt die Eigentümlichkeiten von Ε vorschnell als Rezeptionsphänomene zu erklären, wäre es m.E. notwendig, das literarische Profil dieses Corpus' im Rückgriff auf eine beschreibende Typologie aller Lieder, die im allerweitesten Sinne Walther zugeschrieben werden können, erst einmal exakt zu bestimmen. Femer wäre es sinnvoll, den. im Vergleich zu Α, Β oder C größeren Umfang mancher Liedfassungen von Ε nicht ständig unter der Perspektive mutmaßlich 'unechter' Zusätze zu analysieren. In diesem Zusammenhang ist die Beobachtung von Gisela Kornrumpf wichtig, die den geringeren Strophenbestand der C-Fassungen z.T. mit der Abschreibepraxis des Schreibers E s erklärt. Vgl. Kornrumpf, Waithers 'Elegie' [Anm. 29], S. 153. Vgl. hierzu auch die ausfuhrliche Forschungskritik bei Kocher, »Unechte« Strophen [Anm. 32], bes. S. 56-60.
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Differenz mit der angenommenen literarischen Einheitlichkeit von Walthers CEuvre nicht mehr vereinbar. Lachmanns Versuch, wenigstens einen Teil der Athetesen im Rückgriff auf überlieferungshistorische Befunde zu objektivieren, unterscheidet sich deutlich von der mehr subjektiv gefärbten Echtheitskritik, die spätere Walther-Editoren (und insbesondere Carl von Kraus54) geübt haben. Seine Privilegierung des oberdeutsch-alemannischen Walther-Corpus' fuhrt jedoch gleichzeitig zu der Konsequenz, daß die mitteldeutsche und mittelniederdeutsche Walther-Tradition so weit in der Erstedition ausgeklammert wird, daß eine kritische Überprüfung seiner Echtheitsentscheidungen ohne Autopsie der Handschriften nicht möglich ist. Präsentiert wird lediglich die 'würdige gestalt' Walthers, ein purifiziertes CEuvre, dessen 'anstößige' Seiten entweder überhaupt nicht in den Druck gelangen oder so weit in die Anmerkungen verbannt werden, daß der Lesegenuß davon nicht beeinträchtigt wird. Dem entspricht, daß mit der Anlage und der Seitengestaltung der Ausgabe eine klare Hierarchisierung der Informationen vorgenommen wird. Während das Ergebnis von Lachmanns Rekonstruktion unter die Überschrift »Her Walther von der Vogelweide« gestellt und damit als 'reines Dichterwort'35 ausgewiesen wird, werden die handschriftlich bezeugten Texte gleich auf mehrfache Weise marginalisiert: Sie sind im Apparat so weit atomisiert, daß ihnen ohne eine Referenz auf Lachmanns Rekonstruktionen keinerlei Sinn mehr abgewonnen werden kann; überdies stehen die Lesarten nicht einmal als Fußnoten unter dem kritischen Text, sondern werden hinten in einen Appendix integriert, der sich als ein wenig durchschaubares Nebeneinander von Überlieferungsangaben, grammatischem, metrischem und historischem Kommentar sowie Echtheitserwägungen und Textabdrucken darstellt.
Aus heutiger Sicht ist schließlich auch Lachmanns Beurteilung der Handschriftenverhältnisse revisionsbedürftig. Das gilt in besonderem Maße für seine Skepsis gegenüber der Überlieferung in E. So ist durch einige nach 1843
54
Bei den Athetesen von Carl von Kraus spielen überlieferungshistorische Überlegungen kaum eine Rolle. Statt dessen operiert er mit Urteilen über die allgemeine literarische Qualität der Texte und die Besonderheiten ihrer sprachlichen, stilistischen und metrischen Merkmale sowie mit Überlegungen zu der Stellung der Lieder und Sprüche in der mutmaßlichen Werkchronologie und in einem hochgradig konstruierten Geflecht literarischer Beziehungen zu anderen Autoren. Ein weiteres Charakteristikum seines Vorgehens ist, das von Lachmann als 'echt' akzeptierte Corpus immer weiter einzuengen. Zur Echtheitsdiskussion bei Carl von Kraus vgl. die Anm. 32 genannten Titel.
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Vgl. hierzu die Bemerkung Lachmanns zum Text der 2. Auflage des Iwein: »Die worte des dichters habe ich so genau und ursprünglich zu geben gesucht als es mir möglich schien; so daß ein etwas vorbereiteter leser nur lesen darf was gedruckt steht, um den eindruck rein zu empfangen.« Lachmann, Vorrede [Anm. 35], S. V-VI.
Überlieferung und 'Werk'
51
aufgefundene Bruchstücke und Handschriften (O, U, w56, Ζ und s) die Existenz eines zweiten, über gemeinsame Vorstufen mit Ε zusammenhängenden Überlieferungszweiges außerhalb der oberdeutschen Codices auf eindrucksvolle Weise bestätigt worden.57 Überdies zeigt die Datierung von w, Ο und U, daß diese Tradition weit in das 13. Jahrhundert zurückreicht. Da die Entstehungszeit von B, dem Kronzeugen von Lachmanns Echtheitsentscheidungen, heute auf das 1. Viertel des 14. Jahrhunderts angesetzt wird58, rückt der Weingartner Codex wesentlich näher an Ε heran, als die chronologische Logik von Lachmanns Siglenvergabe suggeriert. Nimmt man hinzu, daß die Beurteilung der geographischen Verteilung von Handschriften stärker von den Wirkungsstätten der Autoren ausgehen sollte als von ihrer vermutlichen Herkunft, ist die Aufzeichnung von Walthers Liedern im 'Hausbuch' des Michael de Leone keinesfalls autorferner als die Überlieferung in den alemannischen Handschriften Β oder C.59 Die Fragmente O, U, Ζ und w und die Haager Liederhandschrift waren bereits Carl von Kraus bekannt. Dies führte jedoch nicht zu einer grundsätzlichen Neubeurteilung der mitteldeutsch-mittelniederdeutschen Überlieferung; statt dessen hat von Kraus die Strophen aus U, Ζ und w, die seit der 8. Auflage unter der Überschrift 'Neue Lieder und Sprüche' abgedruckt worden sind, mit einer einzigen Ausnahme als 'unecht' athetiert60 und somit die Provokation, die von den späteren Handschriftenfunden ausging, abgewehrt. Die 14. Auflage bringt insofern eine verbesserte Präsentation dieses Überlieferungszweiges, als daß alle EF-Strophen aus den von Lachmann als 'echt' eingeschätzten Tönen in den Haupttext aufgenommen worden sind; gleichwohl wird auch hier noch die streng autor- und corpusbezogene Überlieferung der Würzburger Handschrift in Teilen marginalisiert: So stehen die Töne L14 Nr. 110-115, die ohne Zuschreibungsdivergenzen in der Walther-Sammlung von Ε aufgezeichnet worden, in dem von Thomas Bein herausgegebenen Anhang der Ausgabe, der nicht zum Haupttext
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58 59
60
Ich benutze die Siglen U und w einfachheitshalber als Sammelabkürzung fur die Fragmente U*. IT* (L H , S. XXXIXf.) bzw. w \ w", w*™ (L14, S. XL). Vgl. hierzu besonders Thomas Klein: Zur Verbreitung mittelhochdeutscher Lyrik in Norddeutschland (Walther, Neidhart, Frauenlob). In: ZfdPh 106 (1987), S. 72-112; Komrumpf: Einführung [Anm. 41]; dies.: Konturen der Frauenlob-Überlieferung. In: Werner Schröder (Hg.): Cambridger 'Frauenlob'-Kolloquium. S. 26-50. Berlin 1989. (= Wolfram-Studien. 10) S. 26-50; dies.: Waithers 'Elegie'[Anm. 29]. Holznagel, Wege [Anm. 36], S. 124-126. Anders liegen die Verhältnisse in F und der Lachmann noch nicht bekannten Haager Liederhandschrift s. Vgl. dazu den Beitrag von Tervooren, Die späte Überlieferung als Editionsproblem [in diesem Band]. Vgl. Carl von Kraus: Waither von der Vogelweide. Untersuchungen. Berlin 1935. Unverändert. Nachdruck Berlin 1966. S. 480-487.
52
Franz-Josef Holznagel
der Ausgabe gehört, sondern nach dem Willen der Herausgeber Materialien bereitstellt, um die Aussagekraft handschriftlicher Zuschreibungen zu diskutieren.61 *
Was unsere arbeit an dem vorliegenden gedickte [Hartmanns Iwein] betrifft, so hoffen wir dem bedürfnis und dem urtheil unserer Zeitgenossen ziemlich zu genügen, die nachweit, die unser mühselig gewonnenes schon fertig überliefert empfängt, wird, weil sie unsere dürftigkeit nicht begreift, unseren fleiß und unsere geistige anstren^ung nicht genug ehren: dafür haben wir die herzliche lust des ersten erwerbes voraus gehabt.
Lachmanns frühe Vermessimg der Walther-Überlieferung führte zu einem Ergebnis, das auch aus der Tradierung von Neidharts Liedern bekannt ist: Offenbar können zwei jeweils mit Namen versehene Überlieferungszweige divergierende Autorbilder präsentieren. Lachmann hat die Differenz zwischen Walther ABC und Walther E(F) zum Anlaß genommen, Teile der mutmaßlich späteren Überlieferung, die ihm mit dem Corpus des früh Tradierten nicht kompatibel erschienen, als 'unecht' auszugrenzen. Dies war kein Akt der Willkür, sondern die Konsequenz seines Autorschaftskonzeptes, mit dessen Hilfe er die Überlieferungsfakten interpretierte. Dank einer intensiven Beschäftigung mit den Handschriften treten heute die Konturen der Überlieferung mittelhochdeutscher Lyrik deutlicher hervor als zu Lachmanns Zeiten, und die zunehmende Bereitschaft, im 'Werk' eines kanonischen Autors Züge zu akzeptieren, die der unterstellten Klassizität seiner Texte zu widersprechen scheinen, oder sogar im Gefolge der Diskussion über die 'New Philology' ganz auf die Ordnungsfunktionen von Autor und (Euvre zu verzichten, wird zu einem ganz anderen Umgang mit der Überlieferung fuhren. Angesichts der Dominanz von Lyrik-Editionen, die in der Tradition Lachmanns stehen, ist solch eine Kartographie neuer Landschaften und anderer Wege zweifelsohne sinnvoll; aus Gründen der historischen Gerechtigkeit sollte man freilich bemerken, daß weder die stärkere Beachtung der empirischen Fakten noch die Relativierung von Lachmanns Autorschaftsvorstellung zu einer gewissermaßen 'objektiven' Edition führen, sondern lediglich zu einer anderen Interpretation handschriftlicher Befunde, und was das Resultat ihrer Bemühungen um die Überlieferung betrifft, so werden auch die neuen Kartographen nur hoffen können, »dem bedürfnis und dem urtheil unserer Zeitgenossen ziemlich zu genügen«.
61 62
Vgl. L14, S. 268. Vgl. Lachmann, Vorrede [Anm. 35], S. V.
Überlieferung und 'Werk'
53
III. Materialien zu Lachmaims Walther-Editionen 1.
Das der ersten Auflage von Lachmanns Walther-Edition zugrunde gelegte Corpus 1.1.1 Haupthandschriften A, B, C, D, E, F 1.1.2 Streuüberlieferung a, b, e, k, 1 [ab der 2. Auflage: L], m [ab der 2. Auflage: Μ], η, ο sowie die Überlieferung von Walther-Strophen im Kontext der Möringer-Ballade [L1 x.y] 1.2 Umfang: - C: 443 Strophen [unter Vernachlässigung der Dubletten; einschließlich der Teschler-Strophen] - Strophen aus AB, die im Walther-Coipus von C fehlen: 17 Strophen [8 Strophen unter Rudolf von Rotenburg, Rubin und Singenberg] - Strophen aus a, die in ABC fehlen: 2 Strophen - Strophen in Ε (zusätzlich zu ABC): 63 Strophen - Strophen in F (zusätzlich zu ABCE): 7 Strophen Gesamtsumme der Lachmann für die 1. Auflage zugänglichen Strophen: 532 Strophen 2. 2.1 2.2
Das der zweiten Auflage von Lachmanns Walther-Edition zugrunde gelegte Corpus Zusätzlich berücksichtigte Handschriften H, i, 1, p, q, r, s Umfang der in der 1. Auflage noch nicht berücksichtigten Strophen: 7 Strophen H: L 2 149,16 / L 7 158,16 / L1410,I*-V* [= 5 Strophen]; im Ton L 26,3 / L14 10 (Wiener-Hofton) q: L2 38,10 / L14 14 (Spruch ohne Tonbezeichnung) r: L2 148,1; im Ton L 26,3 / L 14 10 (Wiener-Hofton) Gesamtumfang: 539 Strophen
3. 3.1
Ausgrenzungen in der 1. Auflage Vollständige Töne aus den Walther-Corpora der Haupthandschriften ABCE [Großsammlungen mit namentlicher Zuschreibimg] 3.1.1 aus dem Walther-Corpus der Handschrift A: _ A 144-146: L14 102 / Rubin KLD 47,XIV [= 3 Strophen] - A 42: L7 XIII,1 (L14103) [= 1 Strophe]
54
3.1.2
Franz-Josef Holznagel
aus dem Walther-Corpus der Handschrift C - C 344-347: L 14 104 / Rumelant Ton I [= 4 Strophen] _ c 445-447: L 14 105 / Heinrich Teschler BSM2 21,13 [= 3 Strophen] 3.1.3 aus dem Walther-Corpus der Handschrift Ε - Ε 16-19: L7 XV,1 (L14111) [= 4 Strophen] - Ε 20-23: L14109 / Heinrich von Morungen MF 146,11 (MF36 XXXIII2) [= 4 Strophen] - Ε 33-37: L 14 101 / Rotenburg KLD 49,XII [= 5 Strophen] - Ε 50: L7 XIII, 11 (L14 112) [= 1 Strophe] - Ε 72-77: L7 XVI, 1 (L14113) [= 6 Strophen] - Ε 88-92: V XVII,1 (L14 114) [= 5 Strophen] - Ε 106-109: L7 XVII,31 (L14110) [= 4 Strophen] - Ε 138-142: L 14 106 / Walther von Metze KLD 62,IV [= 5 Strophen] - Ε 143-147: L 14 107 / Walther von Metze KLD 62,VII [= 5 Strophen] - Ε 187-191: L14108 und 108a/ Rudolf von Fenis MF 84,37 (MF36 VIII) [= 5 Strophen] 3.2 Vollständige Töne aus Strophenkomplexen ohne Autorzuweisung (F, a), bei denen es sich nach Einschätzung von Lachmann um anonymisierte Corpora mit den Texten Walthers von der Vogelweide handelt 3.2.1 Handschrift F (Bl. 101r-106v + 109rv) - (Anonym) F 40-44: L14 124 / Friedrich von Hausen MF 54,1 (MF36 XVIIa/b) [= 5 Strophen] 3.2.2 Anhang der Handschrift Α (Bl. 41r-42r; a 21-30) - (Anonym) a 28-29: L 2 166,21 / L 14 121 [= 2 Strophen] 3.3 Strophen aus Tönen, die Lachmann Walther zuspricht 3.3.1 Handschrift A - A 24. 26 (L14 47,1.111 / MF 152,25. 152,34); im Ton L 71,19 (L14 47) / Reinmar MF 152,25 (MF36 IV) [= 2 Strophen] 3.3.2 Handschrift Β - Β 31; im Ton L 26,3 / L14 11 (König-Friedrichston): L 153,1 (L14 11,ΧΧΙ) / Ulrich von Singenberg BSM 2 12,29 [= 1 Strophe] 3.3.3 Handschrift Ε und F - Ε 24 (L1 175; L7181,1); im Ton L 57,23 (L14 33) [= 1 Strophe] - Ε 31 (L1 162 / L7168,1); im Ton L 40,19 (L 14 17) [= 1 Strophe] - Ε 48. 49 (L1 171f. / L7177,1.9); im Ton L 52,23 (L14 29) [= 2 Strophen] - Ε 66 (L1 170 / L7176,1); im Ton L 50,19 (L14 27) [= 1 Strophe] - Ε 119. 120 (L1 177 / L7 182,1.8); im Ton L 59,37 (L14 35) [= 2 Strophen]
Überlieferung und 'Werk'
55
- Ε 121-124 (MF 214,34; MF 215,5; L7 217,1 / MF 219,1; L 7 217,10 / MF 219,10); im Ton L 120,16 (L14 93) / Hartmann von Aue MF 214,34 (MF36 XII) [= 4 Strophen] - Ε 149. 150 (L1 165f. / L7 171,1.13); im Ton L 44,11 (L 1 4 21) [= 2 Strophen] - Ε 160 / F 48 (L1 186 / L 7 190,1); im Ton L 69,1 (L14 44) [= 1 Strophe] - Ε 175-177 / F 31. 30. 32 (L1 178f. / L7 183,1.13.25); im Ton L 60,34 (L14 36. 36a) [= 3 Strophen] - E 178-181 (L1 179f. / L7 184,1.11.21 + 185,31); im Ton L 61,32 (L14 37) [= 4 Strophen] - Ε 192. 193. 196 (L1 161 / L7 167,1.6.11); im Ton L 39,1 (L l 4 15) [=3 Strophen] - Ε 202 (L1 137 / L 7 138,1); im Ton L 14,38 (L14 7) [= 1 Strophe] - F 10 (L7 139,1); im Ton L 14,38 (L14 7) [= 1 Strophe] - F 20 (L1 183 / L7 187,1); im Ton L 65,33 (L14 42) [= 1 Strophe] Aus dem Corpus von 532 Strophen werden 92 Strophen als 'unecht' ausgegrenzt (= 17,3 %); davon stammen allein 69 aus Ε (das ist ca. ein Drittel des in Ε überlieferten Bestandes). 4.
Ausgrenzungen in der zweiten Auflage (zusätzlich zu den Athetesen der 1. Auflage) Die Angaben beziehen sich auf Strophen aus den gegenüber der 1. Auflage neu hinzugekommenen Überlieferungszeugen.
Η 74-78: L2 149,16 / L7 158,16 / L14 10, I*-V*; im Ton 26,3 / L 14 10 (Wiener-Hofton) [= 5 Strophen] r: L2 148,1; im Ton L 26,3 / L14 10 (Wiener-Hofton) [= 1 Strophe] Aus dem Corpus von 539 Strophen werden 98 als 'unecht' ausgegrenzt (ca. 18,2 %).
Franz-Josef Holznagel
56 5.
Aufbau der Lachmannschen
Ausgabe
Vorbemerkung zur Dokumentation der Überlieferungslage: Nachgewiesen werden zunächst die Textzeugen, die Lachmann 1827 bekannt waren; die in späteren Editionen benutzten Handschriften und Fragmente werden in geschweifte Klammem gesetzt. Der Gebrauch der Siglen richtet sich nach L' 4 .
Buchl
L2 3,1 8,4-14,38
L14 1 2-7
16,36-18,15
8
18,29-37,34
9-13
{38,10 fehlt L1 14
Gattung Überlieferungszusammenhänge Leich C+kl {k2} Sprüche [und Lieder] C 1-29. 360-362 = *BC-Reihe [Teil I] + A, E, F, Μ {Ζ, ρ} Sprüche C 124. 125. 125a = 104.363-364 + Α, Β {Ζ} Sprüche C 291-343. 359 + A(Singenberg), B, D, η, ο {Η, Ma, Ζ, r, s, t, y, w} Spruch fehlt in C; q}
Buch II
L2 39,1-66,21
L14 Gattung 15-43 Lieder
Überlieferungszusammenhänge C 126-239. 378. 442-444 + C 112116 = *BC-Reihe [Teil II] + A, A(Reinmar), A(Leuthold von Seven), D, E, E(Reinmar), F, L, M, a, η {G, N, O, U, s, w}
Buch III
L2 69,1-76,22
L14 Gattung 44-53 Lieder
Überlieferungszusammenhänge C 240-273. 355-358. 369-373. 401-403 = 1. *AC-Reihe mit den Zusatzstrophen aus der 2. *ACReihe (C 355-378) + B(Reinmar b), E, E(Reinmar), F, MöringerBallade [x,y] {O, U, s}
Überlieferung und 'Werk'
78,24
54
Spruch
82,11 -
104,23
3. 5574 Sprüche und Lieder
104,33105,13
75-76 Sprüche
106, Π Ι 08,6
S. 329332 Sprüche
57
C 274-290 [ohne Parallelüberlieferung] C 30-123 [ohne C 104. 112-116] + A, A(Leuthold von Seven), Ε, a {G, i, i2, s, U, w, α} C 365-368 = Töne aus der 2. *ACReihe C 355-378 [ohne die Zusatzstrophen der in der 1. *ACReihe plazierten Lieder und ohne 360-364] A (Singenberg)
Buch IV 1}
L14
109,1110,13
77-78 Lieder
C 348-354 [ohne Parallelüberlieferung]
110,27111,12
79-80 Lieder
C 374-377 = Töne aus einer *ACQuelle A (Leuthold von Seven; Niune)
111,22112,35
81-84 Lieder
C 379-389 [ohne Parallelüberlieferung]
113,31124,1
85-97 Lieder
C 390-441 [ohne C 401-403] = *EC-Reihe + F {O, U, s}
C 1-29 C 30-103 C 104= 125a C 105-111
Gattung
Buch I Buch III Buchl Buch III
Überlieferungszusammenhänge
58 C 112-116 C117-123 C 124-125a C 126-239 C 240-273 C 274-290 C 291-343 C 344-347 C 348-354 C 355-358 C 359-364 C 365-368 C 369-373 C 374-377 C 378 C 379-389 C 390-400 C 401-403 C 404-441 C 442-444
Franz-Josef Holznagel
Buch II Buch III Buch I Buch II Buch III Buch III Buch I
Buch IV Buch III Buch I Buch III Buch III Buch IV Buch II Buch IV Buch IV Buch III Buch IV Buch II
WERNFRIED HOFMEISTER
Schlußbericht zu Alfred Krachers Projekt einer Walther-Ausgabe in Graz1 Die folgende Notiz versteht sich als eine knappe, wertneutrale Mitteilung über die an der Universität in Graz geleisteten und in wissenschaftlichen Kreisen allmählich in Vergessenheit geratenen Arbeiten Alfred Krachers zur Erstellung einer neuen Walther-Ausgabe. In dem Bestreben, die nie zur Publikation gelangten Ergebnisse trotz ihrer Bruchstückhaftigkeit wenigstens zu vermerken, wähne ich mich eins mit dem Emeritus (der aus gesundheitlichen Gründen am Wissenschaftsbetrieb nicht mehr teilhaben kann) und mit allen, die an dessen Projekt mitgearbeitet haben. Im Jahr 1952 trat Alfred Kracher mit dem Plan für eine neue Walther-Ausgabe an die wissenschaftliche Öffentlichkeit.2 Als Hauptziele galten ihm eine »Ausgabe, die Text, Anordnung und Bezeichnung der Gedichte dem neuesten Stand der Forschung anpaßt.«3 Speziell als Ausgabe für Studierende des Faches sollten - wie Kracher einige Jahre später präzisierte - Text und Kommentar (in getrennten Bänden) vom Ballast des forschungsgeschichtlich Obsoleten befreit werden, denn »findet schon der Studierende durch das Gestrüpp der Erklärungen, Lesarten, Konjekturen, Anmerkungen der verschiedenen Herausgeber und Kritiker kaum mehr hindurch, so wird eine solche Ausgabe für den Nichtfachmann schlechthin unlesbar.«4 Als Ordnungsprinzip für die Spruchdichtung komme diesem Publikum nach Abwägen aller Für und Wider am ehesten »die Zusammenfassung gleicher Sachgebiete«5 entgegen. »Wenn man aber gar wieder den begrüßenswerten Versuch unternehmen wollte, unsere 'Klassiker des Mittel1
2
3 4 5
Mein Dank gilt an dieser Stelle der Gattin, die alle noch verfügbaren Manu- und Typoskripte bereitwillig dem Institut zur Verfügung gestellt hat, damit diese im Rahmen eines soeben im Aufbau begriffenen Institutsarchivs neben vielen anderen Beständen (u.a. der renommierten Amtsvorgänger von Herrn Kracher, Anton Emanuel Schönbach und Konrad Zwierzina) ihren Platz und dort ihre künftigen Interessenten finden mögen. Gedankt sei aber auch dem Herausgeber dieses Sammelbandes, der spontan die Einschaltung dieser Mitteilung angeregt hat. Vgl. Alfred Rracher: Zur Gestaltung einer neuen Walther-Ausgabe. In: Anzeiger der phil.hist. Kl. der Österr. Akad. der Wiss. 22 (1952), S. 350-365. Ebd., S. 350. Alfred Kracher: Beiträge zur Walther-Kritik. In: PBB (West) 78 (1965), S. 206. Ebd.
60
Wemfhed Hofmeister
alters' einem weiteren Kreis zugänglich zu machen, so wenig aussichtsreich dies auch in unserer Zeit zunächst scheinen mag, dann m ü ß t e man sich m.E. zu diesem Schritt entschließen.«6 Krachers Entwurf fand seinen positiven Niederschlag7. Die Walther-Ausgabe sollte in der Reihe 'Deutsche Classiker des Mittelalters' aus der Verlagsanstalt Brockhaus, in der Franz Pfeiffers bekannte Walther-Edition vormals mehrere Auflagen erreicht hatte, erscheinen. Aus verschiedenen Gründen gelang Alfred Kracher jedoch die Fertigstellung seiner Walther-Ausgabe nicht. Was vorliegt, sind 104 bündige Charakteristiken sowie sprachlich-textkritische Kommentare zu sämtlichen Spruchstrophen in neuer Zählung auf Basis des Lachmanntexts (in dessen 13. Ausgabe von 1965).8 Literaturlisten und ein Glossar ergänzen den Bestand; die Lieder Walthers sind nur ansatzweise erfaßt. Erwähnenswert ist noch, daß eine Mitarbeiterin und ein Mitarbeiter am Walther-Projekt mit Dissertationen zu den Themenkreisen Rhetorik9 und Parodie10 hervortreten konnten.
6 7
' ' 10
Ebd. Vgl. Kurt Herbert Halbach: Walther von der Vogelweide. Stuttgart 1965, S. XII, 6, 42, 44, 50, 60, 79. Dieses Material war bereits bis zum Druckfahnenstadium gediehen. Gabriela Präsent: Rhetorik, Poetik und Topik bei Walther von der Vogelweide. Studien zur rhetorischen Textanalyse mittelhochdeutscher Dichtung. Phil. Diss. Graz 1980. Josef Weissensteiner: Walthers parodistische Gedichte. Phil. Diss. Graz 1985.
GRUNDSÄTZLICHES THEORETISCHES
JENS HAUSTEIN
Walther von der Vogelweide: Autornähe und Überlieferungsvarianz als methodisches Problem »Sprache, Diskurs und Text, Subjekt, Autor und Erzählung sind tragende Begriffe eines Denkgebäudes 'Postmoderne' bzw. 'Poststruktualismus', dessen architektonische Eigentümlichkeit darin besteht, alles sein zu wollen, nur kein Gebäude«, so die Historikerin Ute Daniel in einem Beitrag zu den aktuellen Debatten der Geschichtswissenschaft. 'Clio unter Kulturschock' lautet der bezeichnende Titel.1 Daß den Historikern unter einem gewissermaßen dauernd zusammenbrechenden methodischen Überbau - theoretisch - die Lust am Erzählen großer Geschichten von Subjekt, Tradition und Entwicklung vergangen ist, wird man gut verstehen können. Wenn in der Praxis der Historiker nun freilich immer noch und immer wieder große Geschichte erzählt wird, dürfte dies wohl damit zusammenhängen, daß sich keineswegs alle Historiker oder auch nur die meisten der fortdauernden Gefahr auszusetzen bereit sind, in einem Gebäude zu arbeiten, das keines ist. Weniger bildhaft gesagt: »In der Praxis ist [...] die wissenschaftliche Auseinandersetzung über Grundsatzfragen der Geschichtsforschung - so weit sie überhaupt stattfindet - nach wie vor die Domäne einiger weniger [...]« (S. 278). - Dasselbe wird man wohl auch mit Blick auf die Philologien sagen dürfen. Und es hängt vom jeweiligen Standpunkt ab, ob man meint, dies gereiche ihnen zum Vor- oder zum Nachteil. Ute Daniel hat für die Philologien, insoweit sie poststrukturalistisch beeinflußt sind und die hermeneutische Grundannahme, der Text habe Bedeutung(en), dadurch dekonstruieren wollen, daß sie das Moment der difference herausheben, ebenfalls eine höchst eindrückliche metaphorische Wendung parat: »[...] das poststrukturalistische Denken ist gewissermaßen ein immer wiederholter Akt des semantischen Autokannibalismus« (S. 263). - Genau besehen überlappen sich in den aktuellen Debatten der Literaturwissenschaft zwei Problemzusammenhänge, die selbstredend aufeinander zu beziehen, aber nicht miteinander identisch sind: die Radikalisierung eines vor allem von der französischen Philosophie initiierten und getragenen dezentrierenden Subjektdiskurses und die Zweifel an der Möglichkeit einer intersubjektiven Vermittlung von Bedeutung und Sinn des Textes. Das erste Problem ist, wenn man es nicht für eines der Psychologie oder Neurologie hält,
1
In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48, 5/6 (1997), S. 259-278, Zitat S. 260; Teil I ebd., S. 195-219.
64
Jens Haustein
eines der Philosophie und allzu oft und leichtfertig in die Literaturwissenschaft übertragen worden. Hier mag ein Hinweis auf einen Beitrag Manfred Franks genügen, der den Titel »Die Wiederkehr des Subjekts in der heutigen deutschen Philosophie«2 trägt. Für die Literaturwissenschaft scheint vor allem die Franksche Auseinandersetzung mit solchen Theorien Bedeutung zu haben, die Subjektivität und Selbstbewußtsein ausschließlich als Ergebnisse kommunikativen Handelns erklären wollen. »Wie nun« - so Frank - , »wenn sich zeigen läßt, daß Subjektivität auf diese Weise gar nicht zu fassen ist? Dann würde der Anspruch, sie als Epiphänomen der InterSubjektivität erklärt zu haben, gegenstandslos« (S. 110). Soweit dieser Hinweis. Für den zweiten Problemkomplex und damit für die Literaturwissenschaft einschlägig ist Franks Kritik der Kritik am sogenannten Logozentrismus. Ich übergehe dabei seine Hinweise auf die Herkunft dieser Kritik aus dem Irrationalismus der 20er und 30er Jahre, die ihm die Freundschaft Derridas gekostet haben3, sondern hebe nur den beileibe nicht neuen, aber wichtigen Gedanken hervor, auf den Frank mit einem Zitat Wilhelm von Humboldts hinweist: »Keiner denkt bei dem Wort gerade das, was der andere [denkt], und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie der Kreis im Wasser, durch die Sprache fort. Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen« (S. 160). Und weiter: »Aus dieser Sachlage folgert Schleiermacher, 'daß das Nicht-Verstehen sich niemals gänzlich auflösen lasse.' Objektivität und vollkommene intersubjektive Durchsichtigkeit würde die Verständigungsbewegimg ja nur unter der Bedingung erreichen, daß man ihre Sinnproduktion von einem archimedischen Ort außerhalb der Sprache - und das heißt: außerhalb unseres Miteinander-Sprechens - kontrollieren könnte. Aber wir sind einmal ins Dialoggeschehen verstrickt. Und das bringt mit sich, daß wir die Art und Weise, wie andere mit 'unserem' Sinn [und wir mit 'Text-Sinn', JH] umgehen, weder determinieren noch absehen können« (S. 160f.). Aus diesem Umstand ist nun aber nicht zu schließen, daß das Original der Rede schon eine Art mis-reading seiner selbst ist (S. 164), sonder eher, daß »die Unendlichkeit der Deutung [...] der Sinnfülle ihres Gegenstandes« entspricht (S. 166).4 Zugespitzt: das Herausarbeiten der difference ist eine Grundvoraussetzung auch und gerade der hermeneutischen Analyse. Die Tatsache, daß der Sinn des Textes mehrsinnig zu sein scheint, ist kein Beweis gegen die Existenz dieses Sinns oder die Inten-
2 3 4
In: Ders: Conditio modema. Essays, Reden, Programm. Leipzig 1993, S. 103-117. Frank [Anm. 2], v.a. S. 119ff. (»Politische Aspekte des neufranzösischen Denkens«). Die Zitate stammen aus dem Aufsatz »'Zerschwatzte Dichtung' vor 'Realer Gegenwart'« (S. 156-171).
Autornähe und Überlieferungsvarianz
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tionalität des Textes. Es sollte dies vielmehr Anreiz sein, beide im Gespräch mit dem Text zu differenzieren. Ich bin in so verhältnismäßig allgemeiner Weise auf die aktuellen Debatten um Autor und Text, Subjekt und Deutung eingegangen, weil sich offenbar die Paradigmen in den Kulturwissenschaften zu verschieben beginnen und weil dies erhebliche Implikationen für Editions- und Textwissenschaft haben dürfte: »Die 'verlorenen geglaubten', gesellschaftlich handelnden Subjekte kehren [...] zurück«, so Otto Gerhard Oexle5 und - so kann man ergänzen - damit auch die Autoren als handelnde, dichtende Subjekte und in ihrem Gefolge die Literaturwissenschaft als eine Deutungsinstanz. Man kann dies begrüßen oder beklagen, aber wohl nicht aufhalten. Der Tatsache, daß in dichter zeitlicher Folge drei Walther-Ausgaben erschienen sind, kommt aus dieser Perspektive schon fast eine Form von höherer Bedeutung zu.6 Die Frage, die sich in dieser Situation stellt, ist die, wie in einem veränderten Paradigma das Verhältnis von Textkritik als Versuch, sich mit traditionellen philologischen Mitteln einem autornahen Text zu nähern (und so ja auch dessen Sinn in gewisser Weise festzulegen), und Überlieferungsgeschichte als Analyse der Lebenssituationen eines Textes in Zeit und Raum (die damit auch verschiedene Möglichkeiten der Sinnsetzung offenhält), aussehen könnte. Aus dekonstruktivistischer Sicht haben sich ja die Überlieferungsdifferenzen e i n e s Textes (aus der Perspektive poststrukturalistischer Theorie eine unhaltbare Aussage) als difference und mouvance fast schon zu gut in eine dezentrierende Lektüre eingefügt. Der Autor ist an den Varianten seines Textes quasi erstickt. Da es nun aber abzusehen ist, daß er in allernächster Zeit - im Kontext des anfangs skizzierten Paradigmenwechsels - wieder auferstehen wird (in welcher gewandelten Gestalt auch immer) oder bereits wieder zurückgekehrt ist, und man nicht ausschließen kann, daß die kommende Entwicklung der vergangenen an Radikalität kaum nachstehen wird, scheint es mir nützlich zu sein, gerade jetzt die produktive Spannung, die zwischen Autorschaftskonzepten (und deren Bedeutung für die editorische Praxis) sowie Überlieferungsanalyse herrscht, in der Weise zu betonen, daß die beiden Pole Autor
5
6
Auf dem Wege zu einer historischen Kulturwissenschaft. In: Mediävistische Komparatistik. FS fur F. J. Worstbrock zum 60. Geburtstag. Hg. von W. Harms und J.-D. Müller, Stuttgart/ Leipzig 1997, S. 241-262, hier S. 246. Walther von der Vogelweide: Werke. Gesamtausgabe. Bd. 1: Spruchlyrik. Mhd./Nhd. Hg., übersetzt und kommentiert von G. Schweikle. Stuttgart 1994 (RUB 819); Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearb. Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Th. Bein und H. Brunner, hg. von Chr. Cormeau. Berlin/New York 1996; Walther von der Vogelweide: Gedichte. 11. Aufl. auf der Grundlage der Ausgabe von H. Paul, hg. von Silvia Ranawake mit einem Melodieanhang von H. Brunner. Tübingen 1997 (ATB 1).
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und Text einerseits, Überlieferung und Text anderseits methodisch wieder deutlicher voneinander abgerückt werden. Wenn man beide vorschnell und sehr undifferenziert aufeinander bezieht, besteht die Gefahr (und das haben weniger die Praxis der letzten Jahre als die theoretisch-methodischen Analysen gezeigt), daß unsere Sicht auf die 'textuellen Lebensformen' im Kräftefeld von Autor und Autorschaft sowie Rezeption und schriftlicher Tradierung zunehmend einseitig werden. Cerquiglinis inzwischen berühmt-berüchtigter Satz: »L'ecriture medievale [...] est variance«7 ist ja nicht deshalb falsch, weil er aller Grundlage entbehrt, sondern deshalb, weil er in dieser Form nur zur Hälfte richtig ist. Es gibt zweifellos Texte, die durch ihren Variantenreichtum die Frage nach d e m Text und d e m Sinn sinnlos machen, aber es gibt eben auch die Gegenbeispiele, Texte, die gerade auf Grund ihrer erstaunlich homogenen Überlieferung dazu auffordern, 'konstruiert' zu werden, den Kontext mittelalterlicher Medialität eingerechnet. I. Fünf Beispiele Die im folgenden vorgestellten, gut bekannten und ganz unterschiedliche Überlieferungsprobleme illustrierenden Beispiele werden anschließend systematisierend auf die beiden unterschiedlichen Aufgaben Textkonstitution und Überlieferungsanalyse hin befragt. Probleme der 'Situation' und kommunikativen Praxis bleiben hier mit Blick auf das Kolloquiumsthema völlig außen vor. 1. Der Leich. Er ist in der in den Ausgaben edierten Form mit Anfangsteil, Abschnitt A/B, Mittelteil, formaler Repetition von A/B und Schlußteil nur in C überliefert. In k (Cpg 341) bzw. in k2 (Bibl. Bodmeriana Cod. 72) und 1 (Österr. Nationalbibl. Cod. 2677) beginnt er mit dem Mittelteil, der Verkündigung und Geburt gewidmet ist. Dadurch, daß der erste Teil, in dem die Trinitätsthematik in einen Marienteil ausläuft, an den - ursprünglichen - Schluß angehängt ist, endet der Leich hier, deutlicher noch als in C, in einem Marienlob. 2. L. 42,31 (C. Nr. 19): Wil aber ieman wesen vrö. Das Lied, aus vier Strophen bestehend, ist viermal überliefert, die Reihenfolge bei Kraus/Kuhn wie bei Cormeau begegnet in keiner der vier Handschriften. Lachmann hat zwei zweistrophige Lieder angesetzt. - Es gibt offenkundig zwei Fassungen, die durch B/C einerseits, E/Ux anderseits repräsentiert werden. In B/C hebt der Gedanke mit einer Reflexion über Hohe Minne (C., Str. 3) an, es folgt eine Klage über die 7
Bernard Cerquiglini: Eloge de la Variante. Histoire critique de la philologie. Paris 1989, S. 111.
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Nichtübereinstimmung von Freude und Wohlhabenheit (C., Str. 1) und ein zurückgreifendes Bekenntnis zur vrouwe (C., Str. 4), um in die abschließende Klage darüber einzumünden, daß die Saelde unschön 'kleidet', wenn sie Reichtum und ungemüete zusammenfugt. In E/Ux sind die beiden Klagestrophen an den Anfang, die beiden die Minne thematisierenden Strophen an den Schluß gestellt und zwar so, daß die persönlicher gehaltene Strophe der eher allgemein getönten vorangeht. Bei Kraus/Kuhn und Cormeau ist die Reihenfolge dieser beiden letzten Strophen vertauscht. Das Lied geht so im Bekenntnis aus, daß über alle Unbill und Ungerechtigkeiten dieser Welt der Gedanke an die e i n e hinwegretten werde: »Die Perspektive« verschiebt sich also in dieser Anordnung der Strophen »von außen nach innen«. »Das ist eine aus nachromantischer Literatur wohlbekannte Verlaufsform«, so Jan-Dirk Müller.8 3. L. 74,20 (C. Nr. 51): Nement, frowe, disen cranz. Über die Berechtigung der Strophenfolge I, II, III muß wohl nicht mehr diskutiert werden.9 Auch bei Cormeau werden aber noch die Strophen IV und V gegen Α und C, bzw. *AC, vertauscht. 4. Über die Reihenfolge der Strophen des Unmutstones ist viel gehandelt.10 In C, der Handschrift mit den meisten (16) Strophen, findet sich der Ton folgendermaßen geordnet: 2 Strophen über guot im allgemeinen und im speziellen, als Besitz eines Hauses; 2 Strophen über den sanc\ 2 an den Kerndenasre; 3 Strophen gegen den Papst; 2 Strophen über bzw. an Leopold; wieder 2 Strophen gegen den Papst (mit den beiden Leopold-Strophen über das Thema des Kreuzzuges verbunden); wieder 2 Lobstrophen (Leopold und Hermann); eine abschließende allgemeiner gehaltene Strophe über das Loben. 5. In L. 53,25 Si wunderwol gemachet wip (C. Nr. 30) wird in der vierten Strophe mit der Homonymie von mhd. küssen, nhd. 'Küssen' bzw. 'Kissen' gespielt. Und zwar in der Weise, daß zwar die 'harmlosere' Bedeutung, nämlich 'Kissen', im Vordergrund steht, die 'gewagtere' aber immer zugleich mitklingt. Das Ich wäre gern dort, wo die Dame das kleine rote Kissen an ihre eigene Wange 8
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Diefrouwe und die anderen. Beobachtungen zur Überlieferung einiger Lieder Walthers. In: Walther von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988 zum 65. Geburtstag von K.-H. Borck. Hg. von J.-D. Müller und F. J. Worstbrock. Stuttgart 1989, S. 127-146, hier S. 144. Vgl. G. Hahn: Waither von der Vogelweide Nemt,frowe, disen kränz (74,20). In: Interpretationen mittelhochdeutscher Lyrik. Hg. von G. Jungbluth. Bad Homburg 1969, S. 205-226. Zuletzt von H.-J. Behr: Waithers Sprüche im 'Unmutston'. Überlegungen zu ihrer Kohärenz. In: Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk. Hg. von H.-D. Mück. Stuttgart 1989 (Kulturwiss. Bibl. 1), S. 391-401.
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drückt, also mit auf ihrem Kissen: swä si daz an ir wengel leget, dä wser ich gerne nähe bi. In Α lautet der entsprechende Vers anders: dem si daz an sin wengel leget, der wonet dä gerne nähe bi. Wenn man nicht davon ausgehen will, daß die Dame ihr rotes Kissen irgendeinem Herren auf die Wange drückt, kann der Vers nur heißen: 'deijenige, den sie auf die Wange küßt, der ist gern dort, wo dies geschieht'; d. h. er wird gern geküßt. Das daz in 54,11 kann sich nur auf 'Küssen', nicht auf 'Kissen' beziehen. Damit wirkt nicht nur der erste Vers der Strophe (Si hat ein küssen, daz ist rot) unklar und der Diminutiv wengel kurios, sondern ist auch die Homonymie gewissermaßen 'verspielt'. Fünf zwar nicht wahllos ausgewählte Beispiele, aber fünf Beispiele, die sich erheblich vermehren ließen. Sie stehen fur ganz verschiedene Probleme der Walther-Philologie: fur philologische Probleme im engeren Sinn und für Fragen der Strophenfolge innerhalb eines Tones bzw. eines Liedes bzw. der Versikelfolge des Leichs. Ich versuche nun, die Fälle zuerst mit Blick auf die Textkonstituierung und dann mit Blick auf eine Analyse der überlieferungshistorischen Bedeutung ihrer Varianz kurz zu behandeln. II. Der Walther-Text Zunächst zum letzten Beispiel: Die Entscheidung, wie der zu edierende Text auszusehen hat, der demjenigen, den Waither verfaßt haben wird, möglichst nahekommt, ist hier relativ einfach: Α hat mit seiner Simplifizierung den schlechteren Text. Die Annahme, Α repräsentiere eher als C, D und Ν einen walthernahen Text, entbehrt jeder Wahrscheinlichkeit." Nähme man dies an, müßte man plausibel machen können, daß die Redaktoren aus einem simplen Text einen doppelbödigen, aus einer einsinnigen Verwendung eines Wortes eine doppelsinnige gemacht haben, und dies wohl zudem unabhängig voneinander. Das erste Beispiel, der Leich, ist mit Blick auf die Probleme der Textkonstituierung ähnlich einfach gelagert. Man wird mit sowohl inhaltlichen wie auch formalen Argumenten zeigen können, daß C den walthernahen Text bewahrt. Der Text in der Anordnung von k/k2/l ist sicher sekundär. Schwieriger zu beurteilen sind die Beispiele 2, 3 und 4. Im Fall von L. 42,31 (C. Nr. 19) könnte man zunächst - mit Lachmann - überlegen, ob es sich, wie in Ε unterstellt, um zwei Lieder handelt. Als Gegenargument wird man die Tatsa-
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Anders O. Ehrismann: Ich het ungerne 'dicke bloz!' geruefet. Walther von der Vogelweide, die Erotik und die Kunst. In: Th. Schneider (Hg.): Das Erotische in der Literatur. Frankfurt a. M. [usw.] 1993, S. 9-28, hier S. 18-20. Auch Ehrismanns Versuch, die im Titel zitierte ALesart der fünften Strophe zu verteidigen, erscheint mir nicht überzeugend.
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che heranziehen können, daß die vier Strophen in Β und C gewissermaßen miteinander verschränkt sind (III, I, IV, II). Problematisch ist die Frage, ob der Strophenfolge von BC oder der von EUX der Vorzug zu geben ist. Es gibt m.E. zwei grundsätzlich unterschiedliche und auch nicht miteinander harmonisierbare Antworten. Die eine lautet: Wir haben zwei Autorfassungen bzw. zwei Fassungen, bei denen nicht zu entscheiden ist, welche Walthers Text am nächsten kommt. Hielte man diese Auffassung für die richtige, müßte man konsequenterweise den Text in zwei Fassungen drucken. Die andere geht von der irritierenden Tatsache aus, daß die beiden Themen Gesellschaftsklage und Minne, in EUX geschieden, in BC zwar im Wechsel miteinander stehen, ohne daß aber doch ein Bezug beider Themen untereinander, der diese Verschränkung plausibel machte, erkennbar wäre. Je nach Anlage und Anspruch der Ausgabe wäre also einmal diese, einmal jene Lösung vorzuziehen. Cormeau hat sich vermutlich aus solchen auf die Liedkohärenz zielenden Überlegungen für die zweite Lösung entschieden. Für eine Umstellung von Strophe III und IV gegen die Überlieferung besteht m.E. aber keine Veranlassung. Im Gegenteil: der wirkungsvoll an den Schluß plazierte Naturausgang gerät so ins Innere des Liedes. Eine vergleichbar ketzerische Auffassung möchte ich mit Blick auf L. 74,20 (C. Nr. 51) vertreten: Mit welcher Berechtigung werden gegen die Überlieferung Strophe IV und V vertauscht? Der Bezug von L. 74,28 auf 75,17, mit dem die Umstellung traditionell begründet wird, ist ja ohne Zweifel wirkungsvoll, ebenso die ununterbrochene Fortsetzung der amönen Szenerie von Strophe II bis IV (in den Ausgaben). Aber ist nicht auch die handschriftliche Reihenfolge I, II, III, V, IV denkbar? Str. III und V beschrieben so gemeinsam das Gefühl der Nähe und Feme, des Höffens, des Suchens. In der abschließenden Traum-Strophe erwiese sich dann die Hoffnung auf Erfüllung als wän. Cormeau schreibt (S. 167): »IV oder/und V ermöglichen einen variablen Abschluß des Kernteils I-III«. Das erscheint mir, auch unter Berücksichtigung der Tatsache, daß in Ε die TraumStrophe fehlt, eine sachgerechte Beschreibung. Ich würde nur andere Konsequenzen als Cormeau ziehen: Entweder die handschriftliche Reihenfolge beibehalten oder Strophe IV und V als IVa und IVb nebeneinander drucken. Zuletzt zur Strophenfolge im Rahmen eines Tones. Mir scheint, und ich vereinfache jetzt sehr, daß die lange anhaltende und kontroverse Diskussion zur Strophenfolge innerhalb umfangreicher und über längere Zeit hin gebrauchter Töne bei Walther (und auch bei anderen Autoren) gezeigt hat, daß jenseits des Überlieferten kein fester Boden zu gewinnen ist. Was sich hingegen immer wieder zeigt, ist, daß es innerhalb der Töne kleine, zwei-, seltener dreistrophige Einheiten gibt, die so angeordnet sind, als ob ein rascher Themenwechsel beabsichtigt ist. Aus dieser Beobachtung würde ich im Fall des Unmutstones dieselbe Konsequenz wie Cormeau ziehen: Die Reihenfolge wäre die der Hand-
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schrift C, die zusätzlichen B-Strophen stünden am Ende. Eine Anordnung der Strophen, die zum einen die überlieferte Folge berücksichtigt, zum andern aber auch thematisch und chronologisch bedingte Umstellungen vornimmt, wie bei Schweikle, scheint mir keine glückliche Lösung zu sein.12 III. Die Walther-Überlieferung Im Kontext einer Analyse der Überlieferung, die die Überlieferungsbefunde als Beiträge produktiven Umgangs mit Texten begreift, ist die Versikelfolge des Leichs nicht verderbt, sondern höchst sinnvoll. Der Walther-Text ist seiner Umgebung, unmittelbar nach Konrads 'Goldener Schmiede', geschickt dadurch angepaßt, daß die Marienthematik durch die Umstellung hervorgehoben wurde. Der Text, der mit Blick auf die Frage nach einem Autortext als sekundär angesehen werden muß, erweist sich mit Blick auf die Überlieferung als eine seiner produktiven Möglichkeiten. Für L. 42,31 hat Jan-Dirk Müller gezeigt, inwieweit die Aussagen bei unterschiedlicher Strophenfolge differieren. Man könnte dies für zahlreiche andere Lieder ebenfalls tun, die bei Cormeau mit dem Satz »Sinnvoll auch die Reihung ...« oder »Sinnvoll auch die umgekehrte Folge« o. ä.13 kommentiert sind14, aber auch für die divergierende Reihenfolge der Strophen in den Sangspruchtönen. Die 'verspielte' Homonymie in 53,25 ist mit Blick auf die produktiven Möglichkeiten der Überlieferung kein 'Fehler', sondern stellt den Versuch dar, den Text zu vereindeutigen, ihn gewissermaßen den allseits bekannten Konstituenten seiner Gattung anzupassen. IV. Fazit Die Überlieferung mittelhochdeutscher Lyrik hält für unterschiedliche Fragen, unterschiedliche Antworten parat. Die Gefahr, die besteht, ist die, daß e i n e
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Dasselbe gilt für eine Reihe weiterer Töne (König Friedrichs-Ton, Wiener Hofton, Bognerton). Vor allem Nr. 21, 25, 34,40, 44, (59), (84), (86), 92. Da es mir in diesem Beitrag nur um ein sehr allgemeines Problem geht und nicht um die ausführliche Diskussion von Beispielen, verzichte ich auch auf eine Auflistung der Literatur und verweise nur auf zwei einschlägige Analysen: Chr. Cormeau: Das höfische Lied - Text zwischen Genese, Gebrauch und Überlieferung. Am Beispiel von Walther von der Vogelweide L. 63,32. In: Die Genese literarischer Texte. Modelle und Analysen. Hg. von A. Gellhaus. Würzburg 1994, S. 25-42. - J.-D. Müller: Walther von der Vogelweide. Ir reinen wip, ir werden man. In: ZfdA 124 (1995), S. 1-25.
Autornähe und Überlieferungsvarianz
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Antwort auf e i n e spezielle Frage als generelle Antwort auf mehrere Fragen angesehen wird. Weniger allgemein gesagt: Die Frage, wie Walthers Leich ausgesehen hat, verlangt eine andere Antwort, als die, wie Walthers Leich im 13. und 14. Jahrhundert rezeptionsgeschichtlich gesehen 'gelebt' hat. Auch wenn die Antworten auf unterschiedliche Fragen oft genug in der Praxis ineinander spielen15, dispensiert dies nicht davon, die Fragen methodisch auseinander zu halten. Beide, auf Autor und Überlieferung gerichtete Fragen sind legitim und notwendigerweise zu beantworten. Die Frage nach einem autornahen Text ist weder unverantwortlich noch die Suche nach einer Antwort hypertroph. Sie ist schon deshalb zu stellen, weil sie bei allen Divergenzen der Überlieferung gerade auf Grund der partiellen Stabilität der Überlieferung auch zu beantworten ist. Mit 'autornah' ist selbstredend nur ein Text gemeint, der durch die Überlieferungsbedingungen des 13. Jahrhunderts geprägt ist - also kein Autortext. Dies kann er schon deshalb nicht sein, weil er an die Materialität seiner Überlieferung auch editionstechnisch gebunden bleiben muß. Das heißt, die einzig verantwortbare Form der Edition folgt dem Leithandschriftenprinzip. Und das heißt, daß jede Abweichung von der Leithandschrift nicht nur graphisch markiert sein muß, sondern auch, daß sie, wenn sie sich nicht von selbst erklärt, erläutert werden muß. - Die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten der Überlieferung ist von der nach einem autornahen Text methodisch gesehen abzusetzen, weil sie auf andere Einsichten zielt. Ganz konkret gesprochen: Uns fehlt ein Kommentar der Walther-Überlieferung, in dem die Walther-Corpora der Handschriften analysiert, der Bau der Töne kommentiert, die Lieder in ihrer unterschiedlichen Strophenfolge interpretiert und der Wortbestand sowie die Syntax in ihren Differenzen und Wandlungen dargestellt sind. Wenn die Frage nach dem autornahen Text die divergente Überlieferung gewissermaßen auf e i n e n Text fokussiert, dann hält die Frage nach der Überlieferung den Blick auf die Differenzen als historisch belegte Möglichkeiten der Entfaltung eines Textes offen. Beide Fragen müssen im Blick des Faches bleiben, auch wenn sich die Paradigmen verschieben, denn beide Fragen sind, wie gesagt, nicht miteinander zu verrechnen. Das schließt freilich nicht aus, daß in einer zukünftigen WaltherAusgabe Antworten auf beide Fragen gegeben werden.
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Ich möchte nur auf ein Beispiel dafür aufmerksam machen. Im Fall von L. 58,21 (C. Nr. 34) kann man die von Cormeau (gegen Kraus u. a.) favorisierte Strophenfolge der Hs. A, C und Ε a u c h mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte des Liedes durch den Mamer verteidigen (vgl. dazu Jens Haustein: Marner-Studien. Tübingen 1995 [MTU 109], S. 194f.; s. auch ebd. S. 221, Anm. 180).
THOMAS BEIN
Fassungen - iudicium - editorische Praxis i.
Der folgende Beitrag ist Teil eines größeren 'work in progress'. Von daher stehen am Ende noch keine konzisen Ergebnisse. Statt dessen möchte ich einige editionstheoretische und -praktische Gedanken zur Diskussion stellen. Ich nehme Bezug auf die Walther-Ausgabe von Christoph Cormeau, grundsätzlich aber sind meine Überlegungen übergeordneter Art. Sie betreffen ein Problem, das sich in den letzten Jahren - nicht zuletzt, aber natürlich nicht zuerst - durch die 'New Philology-Debatte' erneuter und verstärkter Aufmerksamkeit erfreut: das Problem handschriftlicher Fassungen. Damit verbunden sind editionspraktische Probleme, die für einen jeden Editor eine Herausforderung darstellen.1
Vgl. Jürgen Kühnel: Der »offene Text«. Beitrag zur Überlieferungsgeschichte volkssprachiger Texte des Mittelalters (Kurzfassung). In: Akten des V. Internationalen Germanisten-Kongresses Cambridge 1975. Heft 2. Hg. von Leonard Förster und Hans-Gert Roloff. Bern, Frankfurt/M. 1976, S. 311-321. - Bernard Cerquiglini: Eloge de la Variante. Histoire critique de la philologie. Paris 1989. - Karl Stackmann: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. In: Festschrift für Jost Trier zum 70. Geburtstag. Hg. von William Foerste und Karl Heinz Borck. Köln, Graz 1964, S. 240-267. - Ders.: Die Edition - Königsweg der Philologie? In: Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte. Bamberger Fachtagung 26.-29. Juni 1991. Hg. von Rolf Bergmann und Kurt Gärtner unter Mitwirkung von Volker Mertens, Ulrich Müller und Anton Schwöb. Tübingen 1993, S. 1-18. - Ders.: Neue Philologie? In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hg. von Joachim Heinzle. Frankfurt/M. 1994, S. 398-427. - Joachim Bumke: Der unfeste Text. Überlegungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. In: 'Auffuhrung' und 'Schrift' in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Jan-Dirk Müller. Stuttgart, Weimar 1996, S. 118-129. - Ders.: Die vier Fassungen der 'Nibelungenklage'. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Berlin, New York 1996. - Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. Hg. von Helmut Tervooren und Horst Wenzel (= ZfdPh 116, 1997, Sonderheft). - Thomas Bein: Der 'offene' Text: Überlegungen zu Theorie und Praxis. In: Quelle - Text Edition. Ergebnisse der österreichisch-deutschen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Graz vom 28. Februar bis 3. März 1996. Hg. von Anton Schwöb und Erwin Streitfeld unter Mitarbeit von Karin Kranich-Hofbauer. Tübingen 1997, S. 21-35. - Rüdiger Schnell: Was ist neu an der 'New Philology'? Zum Diskussionsstand in der germanistischen Mediävistik. In: Alte und neue Philologie. Hg. von Martin-Dietrich Gleßgen und Franz Lebesanft. Tübingen 1997, S. 61-95 (= editio-beiheft 8).
Fassungen - iudicium - editorische Praxis
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II. Das überlieferte (Euvre Walthers birgt bekanntlich nahezu alle textkritischen und editorischen Probleme, die einem Herausgeber mittelalterlicher Lyrik begegnen können. Von der mehr oder weniger guten Einfachüberlieferung von Texten bis zur hochkomplexen, vielfach variierenden Mehrfachüberlieferung sind alle Abstufungen zu finden. Es stellt sich einem jeden Walther-Editor die Frage, wie man ein derart disparat und heterogen überliefertes 'Werk' heutzutage herausgeben soll. Diese Frage stellte sich auch Christoph Cormeau. In einigen kleineren Beiträgen noch während der laufenden Editionsarbeit hat er Antworten angedeutet und (seine) Wege beschrieben.2 Am Ende demonstriert die gedruckte '14., völlig neubearbeitete Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns', was Cormeau getan, wie er sein editorisches iudicium umgesetzt hat.3 Zusammen mit anderen Mitarbeitern4 habe ich über viele Jahre mitdiskutiert. Es waren lebhafte, engagierte und anstrengende Diskussionen, die in den Teamsitzungen geführt wurden. Und immer wieder war es das Problem von Textvarianz, das Thema solcher Diskussionen war. Welche überlieferte Textfassung ist 'wirklich' eine Fassung? Welche ist 'würdig', ediert zu werden? Welche Varianten sind nur etwas fur den Apparat? Es wurden viele Vorschläge
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Vgl. Christoph Cormeau: Zur textkritischen Revision von Lachmanns Ausgabe der Lieder Waithers von der Vogelweide. Überlegungen zur Neubearbeitung am Beispiel von MF 214,34/L. 120,16. In: Textkritik und Interpretation. Festschrift für Karl Konrad Polheim zum 60. Geburtstag. Hg. von Heimo Reinitzer. Bern, Frankfurt/M., New York, Paris 1987, S. 5368 (Wiederabdruck in: Altgermanistische Editionswissenschafit. Hg. von Thomas Bein. Frankfurt/M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1995, S. 241-253). - Ders.: Versuch über typische Formen des Liedeingangs bei Walther. In: Waither von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988 zum 65. Geburtstag von Karl-Heinz Borck. Hg. von Jan-Dirk Müller und Franz Josef Worstbrock. Stuttgart 1989, S. 115-126. - Ders.: Überlegungen zur Revision von Lachmanns Walther-Ausgabe. In: Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte. Bamberger Fachtagung 26.-29. Juni 1991. Plenumsreferate. Hg. von Rolf Bergmann und Kurt Gärtner unter Mitwirkung von Volker Mertens, Ulrich Müller und Anton Schwöb. Tübingen 1993 (Beihefte zu Editio 4), S. 32-39. - Ders.: Das höfische Lied - Text zwischen Genese, Gebrauch und Überlieferung. Am Beispiel von Walther von der Vogelweide L. 63,32. In: Die Genese literarischer Texte. Modelle und Analysen. Hg. von Axel Gellhaus zusammen mit Winfried Eckel, Diethelm Kaiser, Andreas Lohr-Jasperneite und Nikolaus Lohse. Würzburg 1994, S. 25-42.
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Vgl. Waither von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearbeitete Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns. Mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner hg. von Christoph Cormeau. Berlin, New York 1996. Siehe die von Cormeau im Vorwort zur Ausgabe namentlich erwähnten Personen.
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gemacht - der Chef traf schließlich Entscheidungen. Über seine Entscheidungen wird zu diskutieren sein.5 III. 'Textvarianz' ist in den letzten Jahren fast schon zu einem Schlagwort geworden, damit verbunden die Rede vom 'offenen Text'. Ich denke, daß wir uns nun, nachdem die Varianz (wieder) zum Mittelpunkt theoretischer und praktischer Überlegungen geworden ist, daran machen müssen, eine Typologie der Varianz zu erarbeiten, damit wir besser unterscheiden können, wo Varianz Ergebnis kulturtechnischer Gegebenheiten ist bzw. wo Varianz einer spezifischen Textkultur verpflichtet ist und wir also der Varianz poetologischen Status zuschreiben müssen oder können. Und weiter sollte neben aller Beachtimg der - zweifellos vorhandenen - Varianz auch der gar nicht so selten anzutreffenden Text-Konstanz Beachtung geschenkt werden. Cerquiglinis apodiktisches Urteil: »L'oeuvre litteraire, au Moyen Age, est une variable«6 halte ich für unzulänglich, da zu undifferenziert.7 Vor vielen Jahren hatte Karl Stackmann in seinem Grundlagen-Beitrag 'Mittelalterliche Texte als Aufgabe'8 bereits damit begonnen, Varianten zu systematisieren, und schließlich den Begriff der 'iterierenden Varianten' eingeführt, damit solche Varianten meinend, die sich zwar in lexikalischer Gestalt unterscheiden, semantisch jedoch so gut wie keine Differenz aufweisen und auch historisch kaum zu schichten sind. Leider gab es keine weiteren, umfassenden Bemühungen im Bereich der Lyrik, das Varianzphänomen näher zu klassifizieren. Und was die (höfische) Epik angeht, so tat sich ja lange Zeit so gut wie überhaupt nichts. Im Grunde ist 5
Neben einigen 'inoffiziellen', brieflichen Stellungnahmen zu Cormeaus Ausgabe sind bislang (Stand: August 1998) folgende Rezensionen bzw. Kurzanzeigen in gedruckter Form erschienen: B. D. Haage, in: Leuvense Bijdragen 85 (1996), S. 517f.; Günther Schweikle, in: Germanistik 37 (1996), S. 882; Ulrich Montag, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 53, 1 (1997), S. 29f.; Lambertus Okken, in: ABäG 48 (1997), S. 231-241. - Die Beiträge in diesem Band stellen im einen und anderen Fall, besonders auf Details bezogen, gleichfalls eine kritische Auseinandersetzung mit Cormeaus Ausgabe dar. - Ich plane, in ein, zwei Jahren, wenn noch weitere zu erwartende Rezensionen erschienen sein werden, einen größeren Aufsatz, in dem die Stellungnahmen systematisch zusammengesichtet werden, ggfl. in Kombination mit solchen, die sich auf die Ausgaben von Günther Schweikle und Silvia Ranawake beziehen.
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Cerquiglini [Anm. 1], S. 57. Vgl. dazu auch Thomas Bein: »Mit fremden Pegasusen pflügen«. Untersuchungen zu Authentizitätsproblemen in mittelhochdeutscher Lyrik und Lyrikphilologie. Berlin 1998, bes. S. 124-192. Vgl. Karl Stackmann: Mittelalterliche Texte als Aufgabe [Anm. 1],
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es erst Joachim Bumke, der in den letzten Jahren verstärkt Überlieferung und Varianz höfischer Epen untersucht und einen ersten großen Entwurf zu Epenfassungen (hier zur 'Nibelungenklage') vorgelegt hat.9 Des weiteren hat er sich bemüht, die schillernde Begrifflichkeit um 'Fassung', 'Variante', 'Version' definitorisch in den Griff zu bekommen, wobei er u.a. von einem »unterschiedliche[n] Formulierungs- und Gestaltungswille[n]« spricht, der einer 'Fassung', wenn sie denn eine sein soll, zugrunde liegen müsse.10 Die Varianz in der Epik hat zweifellos ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten. Mir geht es hier um die Lyrik, paradigmatisch um Walthers Lyrik. Die Grundfrage aber, was eine 'Fassung' eigentlich sei, stellt sich auch hier. Und eine weitere Grundfrage stellt sich, nämlich die Frage nach dem Zweck einer Edition. Konsens dürfte darüber herzustellen sein, daß eine Edition das Werk eines Dichters vergangener Zeit konserviert und für Interpretationen möglichst vielfältiger Art aufbereitet, ohne selbst schon allzu stark Interpretation zu sein. Natürlich - jede Edition, die nicht bloß den Status eines Faksimiles hat, ist bereits geprägt von interpretatorischen Entscheidungen. Karl Stackmann hat die Wechselbeziehungen zwischen Editor und Literarhistoriker in einem einschlägigen Beitrag treffend beschrieben.11 Die literarhistorische Vorentscheidung des Editors, altehrwürdig iudicium genannt, prägt eine jede Edition. Im indicium verbirgt sich des Editors Kompetenz, sein literarhistorisches Credo, seine Deutung der Varianz und damit seine Verantwortung dem Gegenstand gegenüber. Hatte zu Lachmanns Zeiten das iudicium einen elitär-kryptischen Status (nur selten kann man nachvollziehen, wie Lachmann zu bestimmten Entscheidungen gelangte - dies bereits vom Zunftgenossen und Freund Jacob Grimm beklagt12), 9
Vgl. Joachim Bumke: Untersuchungen zu den Epenhandschriften des 13. Jahrhunderts. Die Berliner Herbortfragmente. In: ZfdA 119 (1990), S. 404-434. - Ders.: Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Die Herbortfragmente aus Skokloster. Mit einem Exkurs zur Textkritik der höfischen Romane. In: ZfdA 120 (1991), S. 257-304. - Ders.: Der unfeste Text. Überlegungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. In: 'Aufführung' und 'Schrift' in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Jan-Dirk Müller. Stuttgart, Weimar 1996, S. 118-129. Ders.: Die vier Fassungen der 'Nibelungenklage'. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Berlin, New York 1996.
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Bumke, Nibelungenklage [Anm. 9], S. 32. Vgl. Karl Stackmann: Über die wechselseitige Abhängigkeit von Editor und Literarhistoriker. Anmerkungen nach Erscheinen der Göttinger Frauenlob-Ausgabe. In: ZfdA 112 (1983), S. 37-54. So schrieb J. Grimm am 21. Juli 1827 an Lachmann: »Ich wollte, Sie hätten bei gelegenheit dieses buchs [sc. Lachmanns Walther-Ausgabe] sich über das metrische näher herausgelassen, doch weiß ich nicht, was Sie damit vorhaben; aber den lesem wirds schwer werden, Sie zu errathen und zu begreifen.« (Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Karl
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so bemühen sich moderne Editoren um mehr Luzidität und Transparenz. Es bleiben jedoch stets auch Elemente des 'Nicht-Erklärten', vielleicht, weil nicht alles (literatur-)wissenschaftlich erklärbar ist. Und jeder Editor weiß, daß es immer wieder Momente gibt, wo dezisionistisch, quasi ex cathedra, entschieden wird, wo Inkonsequenzen in Kauf genommen werden, wo dem Diskutieren ein Ende gemacht wird. Vielleicht sind es aber genau jene editorischen Momente - wo des Diskutierens augenscheinlich kein Ende i s t - , die ein iudicium alten Stils, also eine Entscheidung für die eine und gegen die andere Sache, suspekt erscheinen lassen. Vor allem dürften Textfassungen, Manifestationen von Varianz, hierher gehören. IV. Im folgenden will ich versuchen, Wege aufzuzeigen, handschriftlich dokumentierte Textvarianz besser handhabbar zu machen. Die Grundfragen sind: 1) Wie sieht - bezogen auf das (Euvre Walthers - das Verhältnis von Textvarianz zu Textkonstanz aus? 2) Was variiert? 3) Welche hermeneutischen Konsequenzen bringen die Varianten mit sich? Die dritte Frage ist für das Ziel meiner Untersuchung die wichtigste. Was im Apparat einer kritischen Ausgabe steht (so auch in der von Cormeau), sind ja sogenannte 'textkritisch relevante Abweichungen' vom hergestellten Text. 'Textkritische Relevanz' wird aber vielen Phänomenen zugesprochen: Verschreibungen, metrischen lapsus, grammatikalischen Aberrationen, Wortumstellungen, -auslassungen, -zufugungen, lexikalischen Alternativen usw. Daß solche Varianten im Apparat stehen, hat seine gute Berechtigung. Für die Interpretation der Texte durch einen Literarhistoriker sind aber längst nicht alle relevant. Umfangreiche Apparate sind nicht eo ipso Zeugen für Textfassungen. Varianz, um die es mir hier geht, ist Sinn-Varianz. Sie kann erst durch eine Typisierung der einzelnen Varianten herausgearbeitet und dann in ihrer Relation zum Autor(Euvre bestimmt werden. IV. 1. Für die Beurteilung dieser Relation müssen zunächst ohne Vorentscheidung sämtliche Varianten einer Sichtung unterzogen werden, für das Beispiel 'Walther' hieße das: sein gesamtes Werk (mit allen Randzonen des weniger für den
Lachmann. [...] Hg. von Albert Leitzmann [...]. 2 Bde. Bd. II. Jena 1927, S. 517.)
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Dichter Gesicherten). Das ist ein sehr zeitaufwendiges, mühsames Unterfangen. Hier kann ich nur anhand von wenigen ausgewählten B e i s p i e l e n zu zeigen versuchen, in welche Richtung meine Überlegungen gehen. Grundsätzlich scheint es mir sinnvoll zu sein, Varianz auf zwei verschiedenen Ebenen zu untersuchen13, d.h., zwischen Textvariation auf der einen und Strophenbestands- bzw. -folgevariation auf der anderen Seite zu differenzieren14, wenn auch im Einzelfall beides miteinander zu tun haben kann. Bevor ich aber beispielhaft auf die Textvarianz zu sprechen kommen kann, muß noch auf einige Sonderfälle hingewiesen werden, auch wenn diese Hinweise banal zu sein scheinen: 1. Varianz kann erst dann - zumindest fur uns - manifest werden, wenn ein Text oder ein Teil eines Textes mindestens zweimal überliefert ist. In all den Fällen, in denen uns Walther-Texte nur unikal bekannt sind, ist eine Diskussion des Varianzphänomens weder auf der Strophennoch auf der Textebene möglich. Immerhin 32 Töne (in der Reihenfolge der Cormeau-Edition) fallen unter diese Kategorie. In den meisten Fällen handelt es sich um singuläre C- und um die traditionell suspekten E-Töne: Unika ohne Varianzmanifestation: 12a (L. 36,1 Iff.; Fürstenspiegelton): C (fünf Strophen); 13 (L. 37,34): C (eine Strophe); 14 (L. 38,10): q (eine Strophe); 49a (L. 72,3 Iff.): b (drei Strophen unter Reinmar); 54 (L. 78,24): C (siebzehn Strophen); 3 (L. 84,14ff.; Kaiser Friedrich- und Engelbrechtston, Fortsetzung): C (sechs Strophen); 56 (L. 85,25): C (eine Strophe); 61 (L. 91,17ff.): C (fünf Strophen); 63 (L. 93,19ff.): C (drei Strophen); 66 (L. 96,29ff.): C (vier Strophen); 67 (L. 97,34ff.): C (fünf Strophen); 68 (L. 99,6ff.): C (fünf Strophen); 69 (L. 100,3): C (drei Strophen); 72 (L. 192,29ff.): C (drei Strophen); 73 (L. 103,13ff.): C (drei Strophen); 74 (L. 104,23): C (eine Strophe); 77 (L. 109,Iff.): C (fünf Strophen); 78 (L. 110,13ff.): C (zwei Strophen); 81 (L. lll,22ff.): C (zwei Strophen); 82 (L. 112,3ff.): C (zwei Strophen); 83 (L. 112,17ff.): C (drei Strophen); 84 (L. 112,35ff.): C (vier Strophen); 103 (Kr. XIII,1): A (eine Strophe); 108a (MF XIII.VIII): Ε (eine Strophe); 111 (XIV,Iff.): Ε (vier Strophen); 112 (XIII, 11): Ε (eine Strophe); 113 (XV,22ff.): Ε (sechs Strophen); 114 (XVI,25ff.): Ε (fünf Strophen); 115 (XXVIII,Iff.): Ζ (drei Strophen); 121 (L. 166,21ff.): a (zwei Strophen); 123 (L. XXVI,Iff.): Uxx (vier Strophen). Noch mit in diese Kategorie möchte ich 58 (L. 87,Iff.; das 'Palindrom') nehmen: C (sechs Strophen); zwar liegt mit Hs. α noch ein weiterer Zeuge vor, doch werden dort nur die ersten vier Verse der ersten Strophe, gleichsam wie ein Sprichwort, zitiert.
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Für das folgende habe ich sämtliche Waithertöne, d.h. den 'Kernbestand' der vier Bücher in der Cormeau-Ausgabe nebst dem von mir betreuten 'Anhang' mit Ausnahme des Abschnitts 3 (namen- und kontextlose Strophen), im Blick. Da der Leich keine Strophen-, sondern Versikelgliederung aufweist, habe ich ihn nur bei der Bestandsaufnahme der Textvarianz berücksichtigt. Es ist aber darauf hinzuweisen, daß der Leich in C und k je anders strukturiert ist: C: I-IV; kk2l: III I P IV I II.
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2. Nur auf der Textebene, nicht aber auf der Strophenebene von Varianz betroffen sind 5 einstrophige, aber mehrfach überlieferte Töne: 24 (L. 47,16ff.): BC, A (Reinmar); 12b (L. 37,24): BC; 42a (L. 66,5): BC; 75 (L. 104,33): AC; 122 (MF XXI.LXVII,5): U*e. 3.a. Grundsätzlich vergleichbar, im einzelnen aber gesonderte Probleme bergend, sind folgende Fälle: Ton 80 (L. 111,12) ist in C und Α überliefert, in Α jedoch unter Niune; orientiert man sich streng an der Namenssignatur, würde für Walther nur singulare Überlieferung in Betracht kommen. Das Varianzproblem wäre dann jedoch allzu leicht 'vom Tisch gewischt'; man wird bei der Analyse der Varianz die Zuschreibung mit berücksichtigen müssen. 3.b. Anders gelagert sind die Probleme im Fall der Töne 36 (L. 60,34ff.) und 90a/b (L. 117,29ff./ 118,12ff.): Es handelt sich hier eigentlich nicht um einstrophige Töne, jedoch ist der thematische (Lied-) Zusammenhang der Strophen unklar, so daß man überlegen kann, ob hier nicht tongleiche Einzelstrophen begegnen. Im Falle von 36 (BC: I;II, Ε: I, F: I;II) spricht die Uberlieferung in BC und F, die die Strophen nicht im Verband tradieren, dafiir, und auch die Ε-Überlieferung weist mit nur einer Strophe in diese Richtung". Wohl nicht ganz vergleichbar, da teilweise dreistrophig angelegt, grundsätzlich aber doch ähnlich, präsentiert sich 90a/b: (a) CEUXX: II 1-4, III 5-6; Α (Niune): I-III; (b) CE: I-III, Uxx: II III, Α (Niune): II 1-4; II 5-616. Die Editionsgeschichte zeigt, daß man nicht recht wußte, wie man mit dem Fall umgehen sollte, vor allem die erste Strophe von 90a (Nu singe ich, als ich e sanc) ruht ganz in sich und scheint mit den folgenden nichts zu tun zu haben. Isolierter noch geben sich alle drei Strophen von 90b.17
IV.2. Nach diesen Sonderfallen betrachte ich nun zunächst - exemplarisch (!) - das Phänomen der Textvarianz. Sie muß - mit Blick auf hermeneutisch Relevantes gesondert werden. Ich habe die im Apparat der Cormeauschen Ausgabe aufgeführten Varianten auf folgende Kategorien verteilt, um Aufschluß über das Ausmaß von Sinn-Varianten zu bekommen: 1. SCHREIBERFEHLER, augenscheinliche SINNENTSTELLUNG, MECHANISCHER TEXTVERLUST (Fragmente): Typen: gouch vs. gfeA (3 1,7; L. 10,7) * Flüchtigkeit/Verlesungen: pruoften vs. priüeten (76 1,8; L. 105,20) * her otte vs. ich hotte (11 11,8; L. 26,30)
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16
,7
Dazu Cormeau [Anm. 3 ]: »Die Zusammengehörigkeit der beiden tongleichen Strophen bleibt fraglich« (S. 128). Dazu Cormeau [Anm. 3]: »Die tongleichen Strophen geben zu wenig Anhaltspunkte, um daraus ein Lied zu rekonstruieren« (S. 249). Vgl. dazu auch den Beitrag von Hartmut Bleumer in diesem Band.
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2. GRAMMATIKALISCHE VARIANZ auf der WORTEBENE (nur in seltenen Fällen ist die Semantik betroffen): Typen: Modus: betage vs. betaget (3 1,7; L. 10,7) * starke/schwache Flektion: seiden vs. selde (75,13; L. 105, 10) * Präfigierung: machet vs. gemachet (4 V,2; L. 12,19) * Kontraktion: gibet vs. git (4 VI,1; L. 12,30) * Kasus: im vs. in (104 111,19), die waren minne vs. der waren minne (111,4; L. 26,6) * Numerus: bi der schände vs. bi den schänden (10 X,14; L. 24,16) * Negation: nun hab ich weder vs. nu hab ich weder (10 XII,14; L. 25,9) 3. SATZKONSTRUKTIONSVARIANZ (ohne größere semantische Konsequenz): Typ: wes wir dem keiser vs. wie wir des keisess (4 1,4; L. 11,9) * der si gesegenet vs. de der gesegentsi (4 1,8/9; L. 11,13/14) * iht werde vs. werde iht (10 VIII,14; L. 23,24) 4.a. WORTAUSLASSUNGEN bzw. -ZUFÜGUNGEN (ohne semantische Relevanz, ggfls. mit metrischen Konsequenzen): Typen: Einsparung von Wiederholungen: und bist vs. und (3 1,1; L. 10,1) * sprachliche Verdeutlichung (für den Sinn aber nicht unbedingt notwendig): si meinent beide vs. sie meinent (3 11,4) * lege vs. unde lege (10 VII,13; L. 23,8) 4.b. WORTAUSLASSUNGEN bzw. -ZUFÜGUNGEN (mit semantischer Relevanz) Typen: sam des baesen bceser barn vs. als des böser barn (10 VIII, 12; L. 23,22) * so holt enwart ich ir dekeinem nie so mir vs. so holt enwart ich ir dekeinem nie (111, 6; L. 26,8) 5.a. LEXIKALISCHE VARIANZ (ohne größere semantische Relevanz): Typen: die menschen vs. diu menscheit (104 111,20) * witzen vs. sinnen (10 VI,15; L. 32) * uf daz mer vs. über se( 11 IV,3; L. 27,9) 5.b. LEXIKALISCHE VARIANZ (mit größerer semantischer Relevanz): Typen: fröide vs. ere (10 VII,9; L. 23,4) * schoen vs. guot (10 1,4; L. 20,20) * götelich vs. volliclich (10 XI, 15; L. 24,32) 6. KOMPLEXE VARIANZ AUF VERS-/ SATZEBENE (Syntax, Lexikon; mit semantischer Varianz): Typ: wan si eht guotes hie gewert vs. er si des guotes hie gewert (10 1,15; L. 20,30) * diu milte lonetsam diu sat vs. der mitten Ion ist so diu sat (8 1,7; L. 17,3) * ich entuon diu rehten werk, ich enhan die waren minne vs. Ich halt hrre nit din gebot nach diner waren mynne (11 1,4; L. 26,6). 7. REIMSTÖRUNGEN: Typ: gründe: munde (4 VI,9:12.; L. 13,1:4) * bermde: armen (104 1,17:19) PROBLEMFÄLLE: z.B.: erre vs. irre (3 V,2; L. 10,34: lexikalische Variante oder Schreiberfehler (e > i)?)
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IV.3. Ich stelle nun eine Beispielstatistik18 vor, die gewonnen ist aus z.T. reich überlieferten Spruchtönen wie dem Wiener Hofton und dem König Friedrichston (Graphik 1): Von insgesamt ca. 350 Varianten entfallen auf: Schreiberfehler 40, Grammatik (Wortebene) 92, Syntax 38, Auslassungen/ Zufügungen ohne semantische Relevanz 33, Auslassungen/ Zufugungen mit semantischer Relevanz 9, lexikalische Varianten ohne semantische Dimension 53, lexikalische Varianten mit semantischer Dimension 60, komplexe Variationen auf Vers-/Satzebene 20, Reimstörungen 6.
Graphik 1: Textvarianz Sangspruchdichtung
Gaaamtmanga Varianten
mm/mmmmm^ itWiiWIiir : i Huh at Μ " '
(7) RaknatOiungan (β) Komplax· Varianz (Sb) Lexik. Var. m. M m . Rai. (5a) Lex». Var. o. (am. Rai. (4b) AusL/Zuffig. m. (am. Rai. (4a) Autl./ZufOg. o. aam. Rai. (3) Syntax (2) Grammatik (1) Schrebarfehler
Ί
18
1 Γ
Grundsätzlich ist hier und für alle folgenden statistischen Erhebungen anzumerken: Es kommt weniger auf die absoluten Zahlen-/ Mengenangaben an; hier wird man kaum zu objektiven Feststellungen gelangen, denn es gibt immer wieder Einzelfälle, die sich einer eindeutigen Kategorisierung widersetzen (siehe auch oben das Beispiel in der Rubrik 'Problemfälle'). Mir wesentlicher sind die Relationen.
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Der Anteil der Sinnvariation liegt hier also bei etwas mehr als 11% (Graphik 2). Das ist an sich schon wenig. Zu bedenken ist aber weiter, daß freilich bei lexikalischen Varianten wie etwa stolze vs. edele (8b, 2; L. 18,16) oder si setzent herren unde kneht vs. und schaffent herren unde kneht (2 11,16; L. 9,7), die hier als sinnrelevant eingestuft worden sind, längst nicht das Sinnpotential der ganzen Strophe oder einer Strophenreihe, im Minnesang eines Liedes, betroffen ist. Fassungsvarianz schrumpft also noch weiter zusammen. Und wenn schließlich noch die chronologische Dimension der die Varianz dokumentierenden Handschriften beachtet wird (was zweifellos zu tun nötig wäre), dann dünnt sich das Material noch weiter aus: Quantitativ große Variantenmengen treten nämlich häufig dort auf, wo Texte neben den Handschriften des 14. Jhs. auch in solchen des 15. Jhs. (F und t) tradiert sind. Die lexikalischen und syntaktischen Varianten dort sind häufig sprachhistorischen Prozessen verpflichtet. Wenn man als Editor an einer Autorinstanz - so problematisch zu umschreiben sie im einzelnen auch sein mag - festhält, dann sind Varianten der zuletzt genannten Art für die Bestimmung von Autor- und/oder autornahen Auffuhrungsfassungen kaum bedeutend. Wir haben hier deutlich den Bereich der Walther-Rezeption betreten - fur sich ein eigenes, interessantes Untersuchungsobjekt, das aber, editionspraktisch betrachtet, einen Sonderstatus innehat.19
Graphik 2: Anteil Sinnvarianz
Sinnvarlanten
Gesamtmenge Varianten
" Vgl. dazu den Beitrag von Helmut Tervooren in diesem Band.
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Was ist mit den statistischen Erhebungen und den letzten Überlegungen erreicht? Ich denke, zweierlei: Zum einen werden die Relationen der Textvarianz deutlich; die weitaus meisten Varianten erklären sich durch die Kulturtechnik, nurmehr wenige weisen auf spezifische Sinnvariationen, die poetologischen Status haben können. Zum anderen dürfte deutlich werden, daß die Alternative zu einer 'kritischen' Edition keineswegs diplomatische Wiedergaben oder ausufernde, drucktechnisch kaum realisierbare Parallelabdrucke sein müssen. Die meisten Varianten haben einen guten Platz im Apparat; nur bei der A k k um u l i e r u n g weniger anderer auf Strophen- oder Lied-/Tonebene wird der Editor vor die Frage nach der besten und angemessensten Darstellungsform gestellt. Cormeau hat nur in recht wenigen Fällen Strophen in Doppelfassungen präsentiert. Unterschieden werden muß dabei zwischen Doppelfassungen, die kritisch ediert sind, und solchen, bei denen nur e i n e Fassung kritisch ediert ist, die andere diplomatisch im Apparat erscheint: KRITISCH EDIERTE, TEXTBEDINGTE DOPPELFASSUNGEN: 8a (L. 18,1; nach C bzw. A), 23a (L. 47,5; Str. II nach Α und II' nach BCE), 31 (L. 55,35; Str. V nach Α mit C, Str. V' nach B), 41 (L. 65,25; Str. V nach C und V' nach B), 62 (L. 93,7; Str. IV nach C und IV' nach i). Sonderfall: 49/49a (L. 72,3 Iff.): Doppelfassung eines gesamten Liedes, Text- und Strophenebene sind betroffen; Zuschreibungsproblem: b-Fassung für Reinmar gebucht; Rezeption im Erzähllied vom edlen Möringer. IM APPARAT DIPLOMATISCH WIEDERGEGEBENE DOPPELFASSUNGEN: 11 XII (L. 30,9; o-Fassung im Apparat); 11 XVI (L. 30,19; t-Fassung im Apparat), 11 XXI (L. 153,1; C-Fassung im Apparat), 110 I (XVII,13; F-Fassung im Apparat).
Alle Doppelfassungen sind zweifellos berechtigt, denn in ihnen manifestiert sich eine Akkumulierung von sinnhafter Einzelvarianz, die von interpretatorischer Relevanz ist. Die Frage freilich, wann eine Fassung 'würdig' ist, gleichberechtigt im oberen, kritischen Teil der Edition zu stehen und wann nicht, wird strittig bleiben. Mit Bezug auf die genannten Fälle würde ich dafür plädieren, die o- und C-Fassung von Ton 11 kritisch zu edieren und gleichberechtigt neben die je andere Fassung zu stellen. Denn ο - und C sowieso - fügen sich vom Überlieferungsprofil her in die B a s i s ü b e r l i e f e r u n g Walthers. Und es ist eines zu bedenken, was unmittelbar die Editionspraxis mit Blick auf die Editionsbenutzer angeht: Der gedruckte, kritische Text hat eine starke Suggestivkraft; es mögen noch so lückenlos alle relevanten Varianten im Apparat aufgeführt sein, bei der Lektüre des Werks und bei der Interpretation eines Einzeltextes gehen sie schnell verloren. Die einzige Möglichkeit, uns von der Fixierung auf e i n e n Text zu befreien, ist die, eben nicht nur e i n e n Text zu
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edieren, sondern dadurch Irritation zu verursachen, daß zwei, in Extremfällen noch mehr Fassungen eines Textes in gleichberechtigter Weise im sog. 'kritischen Teil' einer Edition stehen. Ich glaube, die oft geäußerte Angst vor unüberschaubaren Mehrfachfassungen ist nicht berechtigt, wenn man - im Einzelfall immer auch durchlässige - Grenzen zieht, die Deutungsrelevantes in komplexer Intensität zum Grenzwächter hat. Anders steht es mit den Handschriften t und wohl auch mit F: diese Überlieferungszeugen repräsentieren bereits eine andere Stufe der Textkultur (t ist eine Meistersingerhandschrift; F ist gleichfalls spät und weist in vielen Fällen unverständlichen Text auf, was womöglich mit bereits arg gestörten Vorlagen zu tun hat). Diese andere Stufe auf der Treppe der Überlieferungsgeschichte20 kann gut dadurch zum Ausdruck gebracht werden, daß die Varianz zwar strophenweise geschlossen, aber doch diplomatisch im Apparat erscheint. IV.4. Ich breche diesen Komplex nun ab und komme zur Varianz auf der Strophenebene (Strophenreihenfolgen und Strophenanzahlen betreffend). Hier ist zunächst zwischen Sangspruchdichtung, religiöser Dichtung und Minnesang zu unterscheiden. a) SANGSPRUCHDICHTUNG (Graphik 3): Von insgesamt 14 Tönen entfallen auf: konstante Mehrfachüberlieferung vier: 3 (L. 10,Iff.; Kaiser Friedrich- und Engelbrechtston): BC (fünf Strophen); 5a (L. 13,19fr.): BC (zwei Strophen); 76 (L. 105,13ff.) (Meißnerton): AC (drei Strophen); 104: CJ (vier Strophen, in J jedoch unter Rumzlant, dem der Text wohl eher als Walther gehört)21.
Variationen nur in der Strophenfolge zeigt e i η Ton: 2 (L. 8,4ff.; Reichston): A: I-III, BC: I III II)
Variationen nur im Strophenbestand weisen drei Töne auf: 5 (L. 13,5ff.): Β I, C I II; 8 (L. 16,36ff.; Zweiter Philippston): AC I-III, Β I; 71 (L. 101,23; König Heinrichston, Rügeton): C I-III, a II.
Strophenfolge- und Strophenbestandsvariation zeigen sechs Töne: 4 (L. ll,6ff.; Ottenton): Α III IV V VI II, Β I-III, C I-III;IV-VI; 9 (L. 18,29ff.; Erster Philippston): Β II I III IV V, C I-III; 10 (L. 20,16ff.; Wiener Hofton): Β VI IV, CI-XIV, D Vm-X in-V I VI Vn XIXII II; 11 (L. 26,3ff.; König-Friedrichston) A: I II VII; VIIIIX, B:
20 21
Ich verweise erneut auf den Beitrag von Helmut Tervooren in diesem Band. Die Konstanz der Überlieferung ist in diesen Fällen zweifellos durch die handschriftliche Verwandtschaft von Β und C zu begründen.
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Thomas Bein IΧΙΠ Vn XXI; XIV XV XII XVI, C: II III IV V VI IX Χ; X I X I I I V I I X I X ; VIII, ο: XII, t: I; XII XVI, w": VII II I, Ζ: IXV XIVIX XVIIXIIVIIIV; XVIII, A: XIX XX (Truchseß), C: XXI (Truchseß); 12 (L. 31,13ff.; Unmutston, Zweiter Ottenton): A: III IV I V VI XII VIII XIII XIV XV Χ XVI; II, Β: I; II; XVII VII XVIII; III VI, C: I-IX; Χ XI; XII-XVI; 55 (L. 82,1 Iff.; Leopoldston, Erster Thüringerton, Zweiter Atzeton): a II III, C I III IV V VI, w " VII.
Mit Ausnahme von Ton 9 zeigt sich in dieser letzten Kategorie vor allem die bekannte Tendenz von B, Sangspruchtöne 'gekürzt' aufgezeichnet zu haben.22 Graphik 3: Varianz auf Strophenebene (Sangspruchdichtung)
b) RELIGIÖSE LIEDER (Graphik 4): Bei den religiösen Liedern, zu denen ich hier die Töne 7 (L. 14,38ff.; 'Palästinalied'), 43 (L. 66,2Iff.; Ir reiniu wtp, ir werden man), 70 (L. 100,24ff.; Fro Welt, ir suit dem wirte sagen) und 97 (L. 124,Iff.; Owe, war sint verswunden alliu miniu jär) zähle, gibt es keine konstante Überlieferung, sondern nur: Variation in Strophenfolge: 43 (L. 66,21fr.): A IV V I II III, BCI-V bzw.
Variation im Strophenbestand: 70 (L. 100,24ff.): A I, C I-IV, w" I; 97 (L. 124,Iff.): C I-III, Ε 1-9, w" III.
Die komplexeste und verworrenste Überlieferung zeigt das 'Palästinalied' mit Variation in Strophenfolge und -bestand: 7 (L. 14,38ff.):A: I II IV VI VIIIX XII; Β: I XIIV VI IX X; C: I II IV V VI VIIIX Χ XII, XI VIE; Ε: I III ΠIV VI Vn ΧΠIX Χ XIVIII; F: XIII; Μ: I; Ζ: I II XII III IV V VI VII VIII X I X XI.
22
Vgl. auch Franz-Josef Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik. Tübingen, Basel 1995, bes. S. 128ff.
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Graphik 4: Varianz auf Strophenebene (Religiose Lieder)
Gesamtmenge Töne
Variation Strophenfolge u. -bestand
Variation Strophenbestand
Variation Strophenfolge
Konstante Überlieferung
7
c) MINNESANG (Graphik 5): Von den insgesamt 68 Tönen, die hierher gehören, sind 20 mehrfach und konstant überliefert, das sind immerhin fast 30% (zu berücksichtigen ist hier natürlich, daß diese Töne vielfach von den verwandten Hss. ABC überliefert werden). Variation nur in der Strophenfolge weisen lediglich 4 Töne auf, Variation nur im Strophenbestand 16; den größten Anteil macht die Mischgruppe mit Variation in Strophenbestand und -folge aus (28 Töne). Mehrfache, konstante Überlieferung: 16 (L. 39,1 Iff.): BC I-IV; 20 (L. 43,9ff.): BCEFOas I-IV23; 38 (L. 62,6ff): BC MV; 39 (L. 63,8ff.): BC I-IV; 45 (L. 70,lff.): CEUX: I-III24; 46 (L. 70,22ff.): AC: I-IV; 47 (L. 71,19ff.): AC: I-IV25; 48 (L. 71,35ff.): AC I-III; 52 (L. 75,25ff.): AC I-V; 53 (L.
23
24
25
Nicht ganz ins Bild paßt Hs. D, die nur Strophe I, V. 1-9 überliefert und dann abbricht; aufgrund des mechanisch bedingten Textverlusts ist aber zunächst nicht von möglicher anderer Komplettüberlieferung auszugehen. C überliefert im hinteren Teil den Ton noch einmal zweistrophig, nur I und III, durchaus auch mit Textvarianten; von daher gehört dieser Fall nur bedingt in diese Kategorie; allerdings dürfte die Doppelüberlieferung in C einen Sonderstatus begründen. Wie 45 stellt auch dieser Ton eine gewisse Ausnahme dar: Während die vierstrophige Fassung in C im hinteren Bereich tradiert wird, findet sich in C weiter vorn eine zweistrophige Version, II und IV, mit ganz leichter Textvarianz. Hinzu kommt, daß einzelne Strophen und Strophengruppen in B, C und Ε unter Reinmar geführt werden: Β III, C I;III, Ε I III IV.
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Thomas Bein 76,22ff.): AC I-IV; 57 (L. 85,34ff.): CEI-V 26 ; 59 (L. 88,9ff.; Tagelied): AC I II III IV VI V VII27; 64 (L. 94,1 Iff.): ACU": I-V; 79 (L. 110,27ff.): CA I II III,.528; 87 (L. 115,6ff.): CE I-III; 88 (L. 115,30ff.): CEO: I-V 2 '; 89 (L. 116,33ff.): CE I-V; 92 (L. 119,17ff.): CE I III II IV30; 95 (L. 121,33ff.): CE I-III; 96 (L. 122,24ff.): CE I-IV31.
Variationen nur in der Strophenfolge: 19 (L. 42,3Iff.): BC III IIV Π, EU" I Π I V ΠΙ; 26 (L. 49,25ff.): AEG I-V, C: I II IV III V, Ο I IV II III V32; 30 (L. 53,25ff): A I III IV V II, C I II V III IV, DN I-V; 49 (L. 72,3Iff.): AC I-V, Ε I II V IV III
Variationen nur im Strophenbestand: 23 (L. 45,37ff.): AB I-III, CE I II;III, F II III, Ν I II 1-3; 37 (L.185,lff.): Ε I-IV, Ο I, BC V; 60 (L. 90,15 ff.): C I-V, G II-IV; 62 (L. 92,9ff.): C I-IV, ii2 IV, s IV ,.12;IV; 65 (L. 95,17ff.): C I-V, a II; 85 (L. 113,31ff.): CEU* I-V, F II-V, Ο I II IV V; 86 (L. 114,23ff.): CE I-III, U" I-V; 91 (L. 118,24ff.): CE I-V, F I Π III IV; 106: EO I-V, s IV V, Α (Truchseß) I-IV, C (Walther v. Mezze) I-V; 107: Ε I-V, s I, C (Walther v. Mezze) I-III; 108: Ε I-IV, F I-II, C (Rudolf v. Rotbg.) II-IV; 109: Ε I-IV, C C (Morungen) III; 110 (XVII,13ff.): Ε I-IV, FI; 116: m Π m, C (Reinmar) I HIV, Ε (Reinmar) I-V; 117: m IV, bCE (Reinmar) I-III; 118: m II III V, Ε (Reinmar) I-V.
Variationen in Strophenfolge und -bestand aus: 6 (L. 13,33ff.): C I-V, ρ V II IV; 15 (L. 39,Iff): BC I II, Ε III IV II I V ; 17 (L. 40,19ff): Α I-IV, Β I-III, C I-III;IV, Ε I-III VIV; 18 (L. 41,13ff.): Β I II IV, C I-V, Ε II I III IV; 21 (L. 44,23ff.): BC IVI, Ε I III II IV, Ο II-IV; 22 (L. 44,35ff.): Α II-IV, Β I-III, C I-IV; 25 (L. 48,12ff.): Α I-IV, Β I III, C I III IV V II, η IV, e I V III IV II (Reinmar); 27 (L. 50,19ff.): Β IV I, C I-IV, Ε IIV II V, s III II IV; 28 (L. 51,13ff.): C I-VI, Μ III;IV, s V, Α ΠI III VI (Luthold); 29 (L. 52,23ff.): C I-V, Ε I III II VI VII, Ο III II VI VII, U" I 111 1-5; 31 (L. 54,37ff): Α I-VI, Β V, C IV II III V VI;I, Ε I-V, F I V;II IV; 32 (L. 56,14ff.): Α I-V, C I II V III IV VI, Ε I II IV V ΙΠ, L I 1-7, LT I II IV V 1; 33 (L. 57,23ff.): C I-IV, Ε V III IVI; 34 (L. 58,2Iff.): A I II IV III, Β II V VI;IV, C I-VI, Ε
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In Α werden die Strophen Ι-ΙΠ unter Lutold gefuhrt. Für die Walther-Überlieferung ziehe ich sie hier nicht ins Kalkül. Cormeau hat - dem Gros der Forschung folgend - die hs. Strophenreihung geändert (IV V VI). Wie im Falle von Ton 57, so begegnet auch hier eine Zuschreibungsvariante: in Α werden die Strophen mit gleichem fragmentarischen Schluß in III unter Luthold verbucht. III und IV sind in Ο nur fragmentarisch erhalten; es handelt sich aber um mechanisch bedingte Verluste, die poetologisch nicht zu Buche schlagen. Wie beim Tagelied (59), so weicht die Edition auch hier von der hs. Reihenfolge der Strophen ab; Cormeau [Anm. 3]: »Einheit und Reihenfolge sind problematisch; durch Umstellung ergibt sich eine mögliche thematische Folge« (S. 253). Nicht mehr in dieser Kategorie, aber doch in jedem Fall zu erwähnen, ist Ton 105: Die drei Strophen sind in C zweimal überliefert, einmal unter Heinrich Teschler, ein weiteres Mal am Ende der Walther-Sammlung - nach 444 [467] - , dort aber nachträglich von anderer Hand mit dem Namen 'Meister Heinrich Teschler' überschrieben. Die Positionierung im Walther-Teil dürfte also schon bald nach Fertigstellung der Handschrift als Fehler bemerkt worden sein. Ich klammere hier die kryptische s-Überlieferung aus (IV, Verse 5-6, in unmittelbarem Anschluß an 28 V).
Fassungen - indicium - editorische Praxis
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I Π VI ΠΙ IV, FI; 35 (L. 59,37ff.): Α III II I, BCI-V, Ε I II III V VI VII, Ο I II III V VI; 36a (L. 61,8ff.): BC I, ΕII-IV, F ΠΙ II IV; 40 (L. 64,13ff): Β IV;III II I, C IV;I-IV, Ε IV I Π, G I V Ι Π Π I V , a ΙΠIV; 42 (L. 65,33ff.): CI-III, FO I V I I I ; 44 (L. 69,Iff.): Α III V II I, C V I I I Ι Π , EF I-V, Ο II-V, s I; 50 (L. 74,23ff): A I-V, C III IV;I II V, Ε I II V 1-6; 51 (L. 74,20ff.): A I Π ΙΠ V I V , C I-HI;V IV, Ε I I I ΠΙ V; 93 (L. 120,16 + MF 214,34ff.): C V, Ε I-IV;V, s IV, AC (unter Hartmann) I-III; 94 (L. 120,25ff.): CE I-V, F II IV V, Ο III; 101: A II III IVI, EU* I-V, C (Rudolf v. Rotbg.) I II V III IV, c (Neidhart) II III I; 102: A I-III, F I III II, C (Rubin) I III II; 119: m ΠΙ IV II, BC (Hartmann) I-V, Ε (Reinmar) I III IV II; 120: m IV V, A (Reinmar) I II III VI V, b (Reinmar) I II III VI IV, C (Reinmar) I-VI, Ε (Reinmar) I VI II III IV; 124: F I-V, ρ I, C (Hausen) I III II.
Graphik 5: Varianz auf Strophenebene (Minnesang)
Betrachtet man die beiden quantitativ größten Gruppen - Minnesang und Sangspruchdichtung - im Vergleich, so zeigt sich (was mich zunächst etwas erstaunt hat), daß die Varianzrelationen fast gleich sind. Während ja im Bereich der Sangspruchdichtung aufgrund der eigenen Ton-Text-Beziehung eine Variabilität in der Strophenfolge und auch des Strophenbestandes nicht verwundert, hätte man für den Minnesang, der doch ein anderes poetologisches Profil hat, vielleicht größere Konstanz erwartet. Dem ist aber nicht so. Besonders hier steht ein Editor also - was die editorische Praxis angeht - vor größeren Problemen, als sie die Dokumentation von Sinn-Varianz auf der T e x t e b e n e darstellen. Will der Editor den in diesem Bereich der Überlieferung augenscheinlich wirklich 'offenen' Status von Texten adäquat editorisch umsetzen? Und wenn er
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Thomas Bein
es tun will, welche Möglichkeiten bieten sich? Wo kann und soll das iudicium ansetzen, um Entscheidungen zu fällen? Ich skizziere zunächst den Weg, den Cormeau gegangen ist: 1. Durch die jedem Ton vorangesetzte Überlieferungsübersicht werden alle Varianzen auf der Strophenebene offengelegt. 2. Darauf folgt - mit der einzigen Ausnahme von Ton 49/49a (L. 72,31) e i η kritischer Text, der sich in der Abfolge an je einer Leithandschrift bzw. einer Leithandschriftengruppe orientiert. 3. In relativ wenigen Fällen hat Cormeau im Apparat gleichfalls 'sinnvolle' Lesarten anderer Strophenreihen knapp kommentiert; Beispiele: 25 (L. 48,12ff.): »Ce setzen - ebenfalls sinnvoll - II an den Schluß und reihen V unterschiedlich ein«. 29 (L. 52,23ff.): »VI und VII sind nur im Strophenverband EO und anstelle von IV und V sinnvoll lesbar«. 40 (L. 64,13ff.): »Sinnvoll auch die umgekehrte Folge IV-I nach BG«. 44 (L.69,lff.): »Sinnvoll auch die Reihung V I II III nach C«.
4. In gleichfalls wenigen Fällen ist die Reihenfolge in der Ausgabe gegen alle Überlieferungszeugen konjektural verändert worden, so im Falle des berühmten Tons 51 (L. 74,20ff.; Nementfrowe, disen cranz), dazu Cormeau: »IV oder/und V ermöglichen einen variablen Abschluß des Kernteils I-III«, und des Tons 92 (L. 119,17ff.): »Einheit und Reihenfolge sind problematisch; durch Umstellung ergibt sich eine mögliche thematische Folge«. Edierte Mehrfachfassungen gibt es - wie gesagt, mit Ausnahme des noch durch Zuschreibungsvarianten verkomplizierten Falles 49/49a - nicht. Vielleicht hat Cormeaus iudicium in diesem Bereich die Edition mit am stärksten geprägt. In den Teamsitzungen ist viel darüber diskutiert worden, ob man Parallelfassungen edieren soll. Cormeau stand dem aber grundsätzlich skeptisch gegenüber. Genau das Gegenteil zeigt bekanntlich die Edition 'Mutabilität im Minnesang'.33 Sieht man von drucktechnischen Problemen ab, die vielfache Fassungsvarianten mit sich bringen, läßt sich vor allem in einer Hinsicht mit Heinens Edition gut arbeiten: Die Fassungen sind sowohl auf der Strophenebene als auch auf der Textebene immer auf je eine Handschrift bezogen. Und das ist wesentlich, denn Strophenfolgevariationen können - an sich unscheinbaren - Textvarianten verpflichtet sein und vice versa. Insofern ist eine Ausgabe, die, ausgehend von e i n e r kritischen Fassung, Strophenfolgevariationen anderer Hand33
Vgl. Mutabilität im Minnesang. Mehrfach überlieferte Lieder des 12. und frühen 13. Jahrhunderts. Hg. von Hubert Heinen. Göppingen 1989.
Fassungen - iudicium - editorische Praxis
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Schriften bloß n e n n t , defizitär; zumindest ist es für den Benutzer der Ausgabe äußerst mühsam, sich sowohl Reihenfolge- als auch Textvarianten aus dem Apparat zusammenzustellen. Was indes in Heinens Ausgabe ganz fehlt, ist die Reflexion über den Status 'Fassung'. Bei ihm steht eine dreistrophige Liedfassung gleichberechtigt neben einer einstrophigen (in solchen Fällen von Fassungen zu reden, ist problematisch, vor allem dann, wenn etwa die Einstrophigkeit aller Wahrscheinlichkeit nach nur mechanischem Textverlust verpflichtet ist). Mir scheint, daß - ähnlich wie im Falle der Textvarianz - die Strophenfolge und -bestandsvarianz näher typisiert werden müßte, um eine Handhabe für ein editorisches iudicium zu gewinnen - dies immer unter der Prämisse gesagt, daß man nicht die Überlieferung quasi diplomatisch reproduzieren will. Hier ist noch wenig getan. In letzter Zeit hat sich Thomas Cramer im Sonderheft der ZfdPh mit solchen Fragen beschäftigt.34 Ich selbst habe in eben diesem Sonderheft exemplarisch den Fall 29 (L. 52,23ff.) untersucht35, der mir eines der aussagekräftigsten Beispiele für das Gebot einer Doppelfassungsedition zu sein scheint, denn die je unterschiedlich tradierenden Handschriften (C vs. Ε Ο U*) haben im einen wie im anderen Fall ein je anderes Sinnpotential. In Cormeaus Edition werden zwar alle Überlieferungsgegebenheiten durchsichtig, und sein Hinweis im Apparat: »VI und VII sind nur im Strophenverband EO und anstelle von IV und V sinnvoll lesbar« zielt genau auf das Grundsatzproblem. Dennoch - furchte ich - wird die weitreichende Varianz dieses Falles den meisten Benutzern nicht deutlich werden. Hier hätte ich zum Mittel des Paralleldrucks gegriffen. Cormeaus iudicium, es grundsätzlich bei e i n e r Fassung zu belassen, gründet in - in der Ausgabe freilich nicht immer mehr 'präsenten' - Überlegungen poetologischer und, damit verbunden, ästhetischer Art, immer mit Blick auf eine Autorpersönlichkeit, die er hinter der Überlieferung - bei aller Problematik - zu fassen suchte. Dieses Credo wird man respektieren müssen. Eine andere Frage ist die, wie wir angesichts der stark divergierenden Überlieferung auf der Strophenebene Lieder i n t e r p r e t i e r e n wollen. Editionen haben suggestive Wirkung auf Interpreten, das zeigt die Forschungsgeschichte zu Walther, aber nicht nur zu ihm. Nicht in allen Fällen, aber doch in einigen müßte
54 35
[Anm. 1], [Anm. 1],
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Thomas Bein
man sich von einer eindimensionalen, nur auf den kritischen Text bezogenen Interpretation verabschieden. Es wäre m.E. das Experiment (und die damit verbundene Mühe) wert, eine 'synoptische' Werkinterpretation, ausgerichtet an Sinnvarianz auf Text- und Strophenebene, zu erproben, um zu schauen, wie sehr sich unsere Dichterbilder, die ja meist auf kritischen Editionen gründen, verändern. Und es wäre weiter zu prüfen, wie revisionsbedürftig literarhistorische Vorstellungen z.B. von d e m Minnesang oder von d e r politischen Dichtung (Walthers, aber auch anderer Dichter, ja ganzer Perioden der Literaturgeschichte) sind. Damit verbunden und dadurch begründet müßte ein Überdenken der Zielrichtung literarhistorischer Darstellung einsetzen bzw. man müßte darüber nachdenken, neben der autor-, gattungs- und gesellschaftsorientierten Deskription weitere Parameter einzurichten, z.B. einen codex- und rezeptionsorientierten Zugriff, über den man gerade die interpretatorisch relevante Varianz zwischen den Überlieferungszeugen im Blick halten und zu deuten versuchen könnte.
TÖNE, LIEDER, FASSUNGEN
HARTMUT BLEUMER
Zum 'Niune'-Problem: Walther 90a/b; L. 117,29/118,12 1 i. Es ist die Frage nach der Autorzuweisung, die das unter dem N a m e n Niune oder Niuniu überlieferte Textcorpus zum Problem werden läßt. Geht man v o n diesem N a m e n aus, so läßt sich der Überlieferungsbefund folgendermaßen rekapitulieren: In Α sind ein Leich und 60 Liedstrophen unter der Rubrik Niune versammelt. Diese Texte finden sich zum überwiegenden Teil in C wieder, sie sind dort aber durchweg auch verschiedenen anderen Autoren zugeordnet. Den Leich und die eisten sieben Strophen aus Α fuhrt C zwar unter Her Niuniu, jedoch handelt es sich dabei bereits um Doppelzuweisungen. Für weitere 36 Strophen steht in C die Autorbezeichnung aus Α nicht zur Disposition. Diese Texte verteilen sich hier gänzlich auf andere Dichternamen, wobei es wiederum zu Doppelzuweisungen kommt.2 Das Zuschreibungsproblem ist auffällig. Es hat im wesentlichen zu zwei Erklärungsansätzen gefuhrt. Erstens: Das Niune-Corpus in Α geht auf eine ältere Sammlung zurück, die Texte unterschiedlicher Autoren enthielt, vielleicht auf das Liederheft eines Fahrenden, dessen Repertoire sich auch aus den Strophen anderer Dichter zusammensetzte. 3 Zweitens: Der Überlieferungsbefund in Α ist eine Folge redaktioneller Tätigkeit und beruht auf der fehlerhaften Zuweisung bei der Zusammenstellung von Autorcorpora aus einer »nicht primär am CEuvreBegriff orientierte(n), nicht streng nach Autoren geordnete(n) und z.T. wohl namenlose(n) Sammlung« 4 .
1
2
3
4
Das Thema des Referats geht auf eine Anregung Nikolaus Henkels und seines Hamburger Oberseminars zur Walther-Edition im Wintersemester 1996/97 zurück, was hier mit Dank verzeichnet sei. Im Unterschied zur Übersicht in KLD (= Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. Hg. von Carl von Kraus. Band I Text. Band Π Kommentar. Besorgt von Hugo Kuhn. 2. Auflage, durchgesehen von Gisela Kornrumpf. Tübingen 1978), hier Bd. II, S. 352f., gibt nun die Konkordanz bei Franz-Josef Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik. Tübingen, Basel 1995, S. 530533, die unterschiedlichen Zuweisungen an die insgesamt 15 Autoren vollständig wieder (in der Aufzählung ebd. S. 443, Anm. 24 fehlt versehentlich Ulrich von Singenberg). Vgl. besonders Walter Blank: Die Kleine Heidelberger Liederhandschrift Cod. Pal. Germ. 357 der Universitätsbibliothek Heidelberg. Bd. 2. Einfuhrung. Wiesbaden 1972, S. 73, sowie zusammenfassend Günther Schweikle: Art. Niune. In: 2VL 6, 1987, Sp. 1169f. Gisela Kornrumpf: Art. 'Heidelberger Liederhandschrift A \ In: 2VL 3, 1981, Sp. 577-584, hierSp. 581.
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Was diese beiden Erklärungen recht grundsätzlich unterscheidbar macht, ist die jeweilige Lokalisierung des abstrakten Autors. Die Liederheftthese situiert ihn im Vortrag, d.h. im Gebrauch einer Sammlung verschiedener bekannter Verfasser durch einen Interpreten. Dürfte sich der abstrakte Autor in der Vortragssituation noch für jeden Text neu besetzen lassen, so ändert sich die Art seiner Realisation, wenn das Liederheft in den Kontext einer Sammlung wie A gerät: Der Name des Interpreten Niune wird dabei zum Autornamen umgedeutet und geht daher nun der schriftlichen Überlieferung voran, während die bisherigen, performativ realisierten Vorstellungen verschiedener Dichter verschwinden. Die Redaktionshypothese geht von der entgegengesetzten Perspektive aus. Sie benötigt den abstrakten Autor als Fluchtpunkt der Interpretation des schriftlich tradierten Materials durch einen historischen Redaktor. Über die Frage nach dem Autor entsteht demnach ein Textcorpus, das den abstrakten Autor erst vollends konstituiert. Idealtypisch formuliert, liegt hier die Vorstellung von Autorschaft in der Konsequenz der Texte und nicht umgekehrt. Ganz gleich jedoch, ob man den Autor als Auffiihrungshintergrund des jeweiligen Liedvortrags oder als Zielvorstellung eines historischen Redaktors ansetzen möchte, für beide Ansätze ist der Autor zunächst eine imaginäre Größe. Darin besteht eine wesentliche Differenz gegenüber der Zugriffsweise der früheren Herausgeber mittelhochdeutscher Lyrik, namentlich zu Carl von Kraus, der Autorschaft konkret gefaßt hat. In der gegenwärtigen Editionsphilologie entspricht dem die Verschiebung vom Kriterium der Echtheit zur Frage nach der Authentizität literarischer Praxis. Ein willkommenes Beispiel dafür bietet die Präsentation der Niune-Strophen in der Walther-Ausgabe von Christoph Cormeau.5 Α überliefert drei Strophen unter dem Namen Niune (39-41), denen in C (414 [437J-416 [439]) und Ε (98100) drei gleichtonige Strophen unter dem Namen Walthers gegenüberstehen. Zu CE stellen sich zwei namenlos überlieferte Strophenteile der Wolfenbütteler Fragmente U x \ Nim stimmen aber nur sechs Verse der beiden dreistrophigen Gebilde überein: Der Aufgesang der zweiten Strophe in ΟΕ(υ Μ ) bildet zwar mit gewissen Abweichungen auch den Anfang der zweiten Strophe der A-Fassung, aber der in CE(UXX) dazugehörige Abgesang dient in Α als Ende der letzten Strophe. Das Problem der früheren Walther-Ausgaben bestand durch die Frage nach der Echtheit darin, daß Α den vordergründig besseren, jedenfalls stringenteren Text überliefert, die Strophen in CE aber dem Namen Waithers zugeordnet sind. 5
Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearbeitete Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner. Hg. von Christoph Cormeau. Berlin, New York 1996.
Zum 'Niune'-Problem: Walther 90a/b; L. 117,29/118,12
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Die editorische Zuweisung an Walther wurde, wie fur das Niune-Corpus durchaus üblich, über den Autornamen in C vorgenommen, die zweite Strophe des CE(UXX)-Textes aber als verderbt eingestuft und ausgeschieden, die beiden restlichen CE(Uxx)-Strophen dem Α-Text als eigenes Liedfragment nachgestellt.6 Die beiden so entstandenen Gebilde hatte von Kraus vermeintlich als erster zu einem Lied zusammengefügt. Für dessen Strophenanordnung gab L. 42,31 Wil aber ieman wesen vrö (19,1, 1) das Muster ab, weil schon seit Karl Lachmann davon ausgegangen wurde, daß auf jenes Lied in den Eingangsversen der AFassung angespielt wird: Nu singe ich, als ich e sang, wil aber ieman wesen vrö (90a, I, If./ L. 117,29f.).7 Damit war nach von Kraus ein innerlich stimmiges Lied konstruiert. Faktisch wurden die beiden als intakt angesehenen CE(UXX)Strophen in den Α-Text integriert: Carl von Kraus fugte sie nach der Anfangsstrophe von Α ein.8 Den fast schon beliebigen Umgang mit der Überlieferung zeigt ein Blick auf die Strophenfolge, mit der bereits Friedrich Heinrich von der Hagen ein Lied zusammengestellt hatte. Von der Hagen verfolgte eine genau umgekehrte Strategie, indem er den Α-Text in die C-Überlieferung integrierte, nämlich anstelle der in C mutmaßlich defekten zweiten Strophe.9 Daß die späteren Herausgeber der Anordnung durch von Kraus gefolgt sind, gründet demnach nicht im Überlieferungsbefund, sondern allein in der Überzeugungskraft einer L. 42,31 analogen Komposition.10
6
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Vgl. Die Gedichte Waithers von der Vogelweide. Hg. von Karl Lachmann. 2. Auflage. Berlin 1843, S. 117f.; Waither von der Vogelweide nebst Ulrich von Singenberg und Leutold von Seven. Hg. von Wilhelm Wackemagel und Max Rieger. Gießen 1862, S. 151f. u. 181f.; Waither von der Vogelweide. Hg. von Franz Pfeiffer. Zweite Auflage. Leipzig 1864, Nr. 58 u. 64; Die Gedichte Waithers von der Vogelweide. Hg. von Hermann Paul. Halle 1882, Nr. 43 u. 59; Waither von der Vogelweide. Hg. und erklärt von Wilhelm Wilmanns. Halle 1869, Nr. 65 u. 66; Walther von der Vogelweide. Hg. und erklärt von Wilhelm Wilmanns. Vierte, vollständig umgearbeitete Auflage besorgt von Victor Michels. Halle 1924, Nr. 95 u. 96. Lachmann [Anm. 6], Anm. zu 117, 29. Vgl. dazu Carl von Kraus: Walther von der Vogelweide. Untersuchungen. 2., unveränderte Auflage. Berlin 1966, S. 425-430. Minnesinger. Deutsche Liederdichter des zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts, aus allen bekannten Handschriften und früheren Drucken gesammelt und berichtigt, mit den Lesarten derselben, Geschichte des Lebens der Dichter und ihrer Werke, Sangweisen und Lieder, Reimverzeichnis der Anfänge, und Abbildungen sämtlicher Handschriften, von Friedrich Heinrich von der Hagen. Erster Theil. Manessische Sammlung aus der Pariser Urschrift, nach G.W. Raßmanns Vergleichung, ergänzt und hergestellt. Erster Band. Leipzig 1838 (Neudruck Aalen 1963), S. 275f., Nr. XCII. Die Strophenfolge wird akzeptiert in den Ausgaben: Die Lieder Waithers von der Vogelweide. Unter Beifügung erhaltener und erschlossener Melodien neu hg. von Friedrich Maurer. 2. Bändchen. Die Liebeslieder. 3., verb. Auflage. Tübingen 1969, Nr.45; Waither
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Die Ausgabe Cormeaus bietet dagegen die Texte in einer Gestalt, die der Überlieferung gerecht wird, ohne die Echtheitsfrage schon beantworten zu wollen." Wie bei den Herausgebern vor von Kraus geht die Α-Fassung (90a) den CE(U™)-Strophen (90b) voran, letztere werden aber sämtlich wiedergegeben. Die Frage nach dem abstrakten Autor und seiner Funktion läßt sich also auf der vorliegenden Textgrundlage stellen. Ich beginne mit der CE(UXX)-Fassung, dem unter dem Namen Walthers überlieferten, d.h. auf diesen Namen hin perspektivierten Text.
II. Das Lied beginnt mit zwei rhetorischen Fragen, die den ersten Stollen ausfüllen und dadurch zu einer geschlossenen, dichterischen Phrase zusammentreten: »Wer sah jemals ein besseres Jahr, wer je schönere Frauen?« - Auf diese beiden betont froh gestimmten Verse eines fingierten Sängers, der auf das gute Jahr zurückblickt, dessen Sprechzeitpunkt mithin im Herbst oder Winter liegt, bezieht sich der zweite Stollen: Einen Unseligen tröstet das soeben Gesagte nicht im mindesten; für einen solchen fingierten Zuhörer in seiner implizierten winterlichen Gegenwart ist das Sängerwort des Anfangs nutzlos.12 Mit der Wendung an
von der Vogelweide, Sprüche und Lieder. Gesamtausgabe. Hg. und eingeleitet von Helmut Protze. Halle 1963, Nr. 107; Joerg Schaefer: Walther von der Vogelweide. Werke. Text und Prosaübersetzung. Erläuterung der Gedichte. Erklärung der wichtigsten Begriffe. Darmstadt 1972, Nr. 14. Dagegen hat Brinkmann (Liebeslyrik der deutschen Frühe. In zeitlicher Folge. Hg. von H. B. Düsseldorf 1952, Nr. 42 u. 45) wiederum zwei Lieder hergestellt, ohne damit jedoch näher zur Überlieferung zurückzukehren. "
Als Paralleldruck die fraglichen Texte zuvor lediglich bei Hubert Heinen (Hg.): Mutabilität im Minnesang. Mehrfach überlieferte Lieder des 12. und frühen 13. Jahrhunderts. Göppingen 1989, S. 228. Zu den Editionsgrundsätzen der neuen Walther-Ausgabe: Cormeau [Anm. 5], S. XVII-XX; vgl. ders.: Überlegungen zur Revision von Lachmanns Walther-Ausgabe. In: Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte. Bamberger Fachtagung 26.-29. Juni 1991. Plenumsreferate. Hg. von Rolf Bergmann und Kurt Gärtner. Tübingen 1993, S. 32-39. Vgl. auch die exemplarischen Überlegungen Cormeaus zum Zuschreibungsproblem: Zur textkritischen Revision von Lachmanns Ausgabe der Lieder Walthers von der Vogelweide. Überlegungen zur Neubearbeitung am Beispiel von MF 214, 34/ L. 120,16. In: Altgermanistische Editionswissenschaft. Hg. von Thomas Bein. Frankfurt a.M. [u.a.] 1995, S. 241-253, hier S. 25 lf.; zuerst in: Textkritik und Interpretation. Festschrift für Karl Konrad Polheim zum 60. Geburtstag. Hg. von Heimo Reinitzer. Bern u.a. 1987, S. 53-
12
Bei Wilmanns/Michels [Anm. 6], S. 396, findet sich die Bezeichung als »Winterlied«, während Kurt Halbach: Walther von der Vogelweide und die Dichter des Minnesangs Frühling. Stuttgart 1927, S. 95f. von einem »Lenz- oder Sommerlied« ausgeht. Ähnlich jetzt Ralf-Henning Steinmetz: Autoren - Redaktoren - Editoren: Über den Umgang mit Lachmanns Walther-Liedern 117,29 und 118,12 und die Konsequenzen. In: ZfdPh 116 (1997), S. 352-369, hier S. 357, der eine Anspielung auf dauerhaft schönes Wetter sieht.
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das Publikum wizzet (90b, I, 5/ L. 118,16) macht dann der vortragende Sänger auf die Folgen des soeben konstruierten Konfliktes aus Sängerwort und negativer Rezeptionshaltung aufmerksam. Dabei wirkt die Verwendung des Verbs anegengen ungewöhnlich, was auf eine Doppeldeutigkeit zu zielen scheint: Wenn einem der Träger der freudlosen Stimmung am Anfang des Tages anegenget (1,5/ L. 118,16), zeichnet sich darin bevorstehendes Unheil ab, und dies ist eben ein anderer Anfang als der dieser Strophe, der in der Wendung zur Vergangenheit auf eine Hochstimmung zielt.13 Davon ausgehend wird die zweite Strophe konkreter. Sie formuliert eine Aufgabe für das Publikum: Die Frage des zweiten Stollens lautet, ob sich die im ersten Stollen entworfene Situation ungetrübter Liebeserfüllung mit der Winterzeit verbinden läßt. Das Publikum hat so über die rechte Art des dichterischen Ausdrucks zu befinden; die Antwort, daß der Sommer die angemessene Zeit sei, steht schon im Räume, doch im Abgesang zieht sich der Sänger unvermittelt zurück und wird vom Betrachter einer Situation selbst zu einem Betroffenen, der noch auf Liebeserfüllung hofft, für den somit ein durch den Sommer zu markierender Idealzustand in Wirklichkeit noch nicht existiert. Daraufhin spielt die dritte Strophe diesen Aspekt der konkreten Betroffenheit weiter aus und kehrt zum Anfang des Liedes zurück. Sie nutzt den argumentativen Freiraum, der durch die Wendung im vorherigen Abgesang entstanden ist, und macht eine Ausnahme vom postulierten, tatsächlich aber fernstehenden Sommermotiv. Wäre dessen Verwendung auch dichterisch nötig und wünschenswert, so befindet man sich doch real in valschen tagen (III, 3/ L. 118,20), in der Schönheit ihren Vorzug zu verlieren droht, Freude zu stiften. Darüber ist Klage möglich. Das Verhältnis von Sommer und Winter, von dichterischer und realer Zeit und ihren verschiedenen Bedeutungen, über die im Lied gehandelt wird, kehrt sich so am Ende doch noch um, weil die tatsächlichen Verhältnisse nicht mehr mit der lyrischen Idealvorstellung zu vermitteln sind.
13
Das zuerst von Georg Friedrich Benecke im Brief an Lachmann vom 2. April 1827 beobachtete Wortspiel in der letzten Zeile - »denn sie kann eben so gut heißen: 'dem widerfährt unglück' als 'dem kommt unglück in leibhafter Gestalt entgegen'« (Briefe an Karl Lachmann aus den Jahren 1814-50. Hg. und erklärt von Albert Leitzmann. Berlin 1915, S. 36) - wird also schon durch die gleichfalls ambivalente Verwendung von anegengen im Sinne von 'begegnen' und 'anfangen' vorbereitet. Vgl. zu aneganc, anegenge und anegengen auch Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuche von Benecke-MüllerZarncke. Mit einer neuen Einleitung sowie einer zusammengefaßten und wesentlich erweiterten Konigendaliste von Kurt Gärtner. Bd. I. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1869. Stuttgart 1992, Sp. 66f.
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III. Betrachtet man die Fassungen in Α in Kenntnis dieses Liedes in CE(UXX), dann scheint sich der Anfang in Α direkt auf das Ende in CE(U*X) zu beziehen: Wollte der Sänger in CE(UXX) seine Sangesweise ändern und einer helfen clagen (90b, III, 1/ L. 118,18), weil die freudige Hochstimmung ausbleibt, hebt der Gesang nun ausdrücklich abermals an und zielt auf die Freude. Dabei klingt das Fazit des Α-Sängers, wenn er nur wüßte, woran die Freudlosen leiden, so hulfich ir schaden clagen (90a, I, 6/ L. 117,35), ganz nach dem Anfang der letzten CE(UXX)Strophe. Zugleich deutet sich im fehlenden Verständnis dieses Sängers für die allgemeine Klagestimmung bereits an, daß eine Bewältigung des Problems folgen wird. Entsprechend löst die nächste Strophe in Α prompt die Aufgabenstellung der zweiten Strophe in CEiU1™). Den Zusammenhang zu ΟΕ(ΙΓχ) sichert in Α der übereinstimmende erste Stollen, die Beurteilung der Situation wird hier aber sofort und direkt vorgenommen: Der Sommer ist die zur gegenseitigen Liebeserfullung passende Zeit. Daß der Abgesang nach dieser eindeutigen Festlegung auf den Sommer nun aber auch den Winter ins Spiel bringt, läuft ohne den Hintergrund der CE(UXX)-Fassung auf einen Widerspruch hinaus, denn das Wintermotiv ist in Α selbst gar nicht angelegt. CEfU"1) wird also mitzudenken sein, wenn der Abgesang Sommer und Winter gleichermaßen lobt. Die Begründung dafür liefert dann die letzte Strophe: Lange Wintemächte bieten die vorzügliche Möglichkeit praktischer Liebeserfullung: Hat der winter kurzen tac, /so hat er die langen naht, /daz sich liep bi liebe mac /wol erholn, daz e dä vaht (III, 1-4/ L. 118,5-8). Diese Wendung ist an sich nicht originell;14 sie gewinnt ihren Reiz aber auch erst als Anspielung auf die CE(Lrx)-Version. Die Pointe beruht darauf, daß Α den in CE(UXX) thematischen Gegensatz zwischen realer und dichterischer Zeit um seine Zeichenqualität verkürzt und der Winter auf diese Weise nicht auf seinen motivischen sondern einfach auf seinen praktischen Wert hin betrachtet wird. Die Aufgabe aus CE(UXX) ist also durch eine List gelöst, und das Lied endet entsprechend mit dem Abgesang der
M
Vor allem auf Dietmar von Eist, MF 39,25 (Des Minnesangs Frühling. 36., neugestaltete und erweiterte Auflage. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren. Bd. 1: Texte. 38., erneut revidierte Auflage. Mit einem Anhang: Das Budapester und Kremsmünsterer Fragment. Stuttgart 1988. Bd. 2: Editionsprinzipien, Melodien, Handschriften, Erläuterungen. Stuttgart 1977) ist immer wieder hingewiesen worden, gelegentlich auch auf Reinmar MF 156,10. Deutlich ist die Parallele zu zwei Strophen bei Markgraf Otto von Brandenburg (KLD I, 1; III), die Wilmanns/Michels [Anm. 6], S. 395, gesehen haben. Vgl. außerdem auch unter dem Namen Dietmars MF 35,16, sowie Hartmanns Strophe MF 216,1.
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Aufgaben-Strophe aus dem Lied in CE(UXX), das durch eine dichterische Finte, durch das Spiel auf sprachlicher Ebene, überboten worden ist. Dieser Interpretationsskizze zufolge wäre das Verhältnis der Fassungen zusammenfassend so zu charakterisieren: Es handelt sich um zwei eigenständige Lieder, wobei der Gedankengang der Α-Fassung vor dem Hintergrund von CE(UXX) eine weitere, wohl seine entscheidende Sinndimension gewinnt. Rein formal stellen die Übereinstimmungen in Ton und Versmaterial eine Beziehung zwischen den Liedern her. Inhaltlich kehrt Α zudem den Gedankengang von CE(UXX) durch seine gegenläufige Sprachverwendung um. In CE(UXX) versucht sich der Sommer gegen den Winter als dichterisches Motiv zu behaupten; in A kann dafür der Winter ganz konkret eintreten, weil er praktisch ermöglicht, was der Sommer in CE(U*X) als bloßes Zeichen nur vergeblich aufruft: die Liebeserfüllung. Nimmt man so das formale Verhältnis und die deutlich gegenläufigen Tendenzen der Texte zusammen, dann läßt dies die These zu, daß die A-Fassung auf die pointierende Überbietimg des Liedes in CEiLF") zielt. Wenn das so ist, dann kann aber der abstrakte Autor in Α nicht mit dem des Liedes in CE(UXX) identifiziert werden. Für das Niune-Problem bedeutet dies vorläufig, daß die Zuweisung der Α-Fassung an Niune an Plausibilität gewinnt. Das Problem liegt demnach auf einer anderen Ebene, als eingangs dargelegt: Nicht die Autorzuweisungen widersprechen sich, sondern die unterschiedlichen Namen stehen widerstreitenden Liedern vor, die intertextuell aufeinander bezogen sind. IV. Freilich ist mit solchen punktuellen Überlegungen für die umfangreiche AÜberlieferung unter dem Namen Niune noch nicht viel gewonnen. Zu fragen wäre nach Parallelfallen. Interessant scheint immerhin, daß sich hier auch ein Lied Neidharts findet, das zumindest seinem Umfang nach einen Eigenwert beanspruchen kann (H/W 73, 24)15, und daß ein in Β und C unter Albrecht von Johansdorf überliefertes Lied (MF 87,29; 88,5.19) in Α in einer auch inhaltlich abweichenden Version vorliegt, die die Herausgeber von 'Des Minnesangs Frühling' für eine Vortragsfassung neben der BC-Überlieferung halten.16 Vor allem wäre aber wohl ein Otto von Botenlouben in C zugeschriebenes Wächtertagelied zu untersuchen, das ähnlich wie im hier diskutierten Fall des Walther-
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Ausgabe: Neidharts Lieder. Hg. von Moriz Haupt. 2. Auflage. Neu bearbeitet von Edmund Wiessner. Leipzig 1923. Den Eigenwert des Liedes in Α betont Holznagel [Anm. 2], S. 333. »Die Überlieferung zeigt, daß die Strr. zumindest zur Zeit ihrer Niederschrift in zwei verschiedenen Vortragsfolgen vorlagen.« (MF, Bd. 2, S. 88)
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Liedes über die Variation von Versmaterial eine eigene Tendenz zeigt (KLD XIII).17 Darauf nur ein kurzer Blick. Während sich der Wächter in der C-Fassung dieses Liedes dazu entschließt, durch seinen Gesang die Liebenden zu trennen (ich ensinge eht anders niht wan: es ist zit, vgl. KLD XIII, 1, 10), und dieser Gesang im letzten Vers des Liedes von der Frau vollends für die Trauer der Liebenden verantwortlich gemacht wird (uns nimet die froide gar des wahters liet, vgl. KLD XIII, 2, 10), kommt eine solche selbstreferentielle Thematisierung des Singens in Α nicht vor. Formal fungiert dort der Abgesang der zweiten C-Strophe als Abgesang der Eingangsstrophe, der Abgesang der letzten Strophe weicht von dem in C ab, und ein Kehrreim bildet jeweils das Strophenende. Inhaltlich klagt damit nun auch der Wächter über den Tagesanbruch; nicht er, sondern das Tageslicht ist für die Trennung verantwortlich. Der Wächter fordert als bloße Konsequenz des beginnenden Morgens im Refrain auf: stänt üf ritter. Weil auch die Frau am Ende nur die Trennung beklagt, wird keine Beziehung zwischen Sang und dem Verlust der Freude assoziiert, der Trennungsschmerz wird vielmehr im Klagegestus aller Sprecher gleichmäßig besungen. Es mag also durchaus lohnend sein zu fragen, ob sich bei den unter dem Namen Niune überlieferten Texten Hinweise auf Textvariationen der literarischen Praxis ergeben, ob sich hier etwa in der Varianz Spuren sängerischer Interaktion finden lassen.18 Nur ist damit die Frage nach dem Status des Namens und seiner möglichen Autorfunktion immer noch nicht hinreichend geklärt. V. In einem jüngst veröffentlichten, indes bereits vor dem Erscheinen der WaltherAusgabe Cormeaus abgeschlossenen Beitrag hat Ralf-Henning Steinmetz die früheren editorischen Lösungen zum Walther-Niune-Problem einer Revision unterzogen. Dazu rekurriert er nachdrücklich auf die Überlieferung, zugleich arbeitet er aber weiterhin mit den Mitteln der traditionellen Echtheitskritik: Die Frage nach der ursprünglichen Fassung wird so nochmals zur Ausgabenkritik verwandt. Das Ergebnis ist von dankenswerter Deutlichkeit. Einerseits zeigt sich, daß die früheren Ausgaben der Überlieferung nicht gerecht werden; andererseits läßt sich die Frage nach der Echtheit auf der Grundlage einer traditionellen Frageweise nicht klären. »Auch die herkömmliche Echtheitsfrage erweist sich
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Vgl. den Abdruck der Fassungen bei Heinen [Anm. 11], S. 260f. Vgl. dazu die Anregungen von Max Schiendorfer: Handschriftliche Mehrfachzuweisungen: Zeugnis sängerischer Interaktion im Mittelalter? Zu einigen Tönen namentlich aus der Hohenburg-, Rotenburg- und Walther-Überlieferung. In: Euphorion 79 (1985), S. 66-94.
Zum 'Niune'-Problem: Walther 90a/b; L. 117,29/ 118,12
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für Texte wie Lachmanns Walther-Lied 118,12 als falsch gestellt, weil sie an ihrer Eigenart vorbeigeht.«19 Dieser Befund ist auch deshalb erwähnenswert, weil er auf ein Dilemma der Echtheitskritik verweist. Diese scheint nur fur zwei Möglichkeiten offen zu sein: Die Autorfrage geht entweder auf Urheberschaft oder sie läßt sich überhaupt nicht mehr stellen. Der scheinbare Verlust des Autors wäre damit nichts anderes als eine Implikation der traditionellen Fragestellung und ihrer Prämissen, die das Material strukturieren oder bei der Strukturierung scheitern. Es kann also nicht darum gehen, die Autorfrage zu verwerfen20, sondern lediglich darum, sie anders zu stellen. Zur Illustration des Dilemmas sei auf die metrische Analyse als Mittel der Textkritik eingegangen. Für die Strophenform beider Lieder ist der fünfte Vers als auftaktloser Langvers mit sieben realisierten Hebungen und männlicher Kadenz beschreibbar. Doch während die Verse der CE(UXX)-Fassung gleichmäßig alternierend gebaut sind, läßt sich für die Fassung in Α eine Zäsur zwischen dritter und vierter Hebung ansetzen.21 Darum ist es bei der Niune-Überlieferung ebensogut möglich, statt von einer Langzeile von zwei Versen auszugehen: von einer dreihebigen Waise und einem Vierheber. Diese Beobachtungen hatten diefrüherenHerausgeber dazu bewogen, die Töne der Lieder zu trennen.22
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Steinmetz [Arnn. 12], S. 366. Vgl. das differenzierte Plädoyer durch Helmut Tervooren: Die Frage nach dem Autor. Authentizitätsprobleme in mittelhochdeutscher Lyrik. In: »Da haeret ouch geloube zuo«. Überlieferungs- und Echtheitsfragen zum Minnesang. Beiträge zum Festcolloquium fur Günther Schweikle anläßlich seines 65. Geburtstages. Hg. von Rüdiger Krohn in Zusammenarbeit mit Wulf-Otto Dreeßen. Stuttgart, Leipzig 1995, S. 195-204, besonders S. 199 u. S. 203f. - Zum ganzen Komplex des Autorproblems vgl. zuletzt die ausführlichen Abwägungen von Thomas Bein: »Mit fremden Pegasusen pflügen«. Untersuchungen zu Authentizitätsproblemen in mittelhochdeutscher Lyrik und Lyrikphilologie. Berlin 1998, bes. S. 189192 und S. 447f.
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Vgl. das Strophenschema bei Heinen [Anm. 11]. Diese Auffassung des fünften Verses wird im übrigen auch durch den Gebrauch des Reimpunktes in den Handschriften beglaubigt: Der Schreiber in A, 23T-24r, markiert den Anvers durch Reimpunkt (die Auslassung des Reimpunktes im fünften Vers der zweiten Strophe erklärt sich aus dem offensichtlichen Schreibfehler wint der statt winter der), die Verwendung des Reimpunktes in C, 143vb-144nl, weist dagegen immer einen zäsurlosen Langvers aus. Ähnlich E, 173v""vb, wo jedoch Reimpunkt in der zweiten Strophe nach der vierten Hebung erscheint. Vgl. dazu die Abbildungen in: Waither von der Vogelweide. Die gesamte Überlieferung der Texte und Melodien. Abbildungen, Materialien, Melodietranskriptionen. Hg. von Horst Brunner, Ulrich Müller, Franz Viktor Spechtler. Göppingen 1977.
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Von der üblichen Auffassung - Zäsur in Α und zäsurloser Siebenheber in C - weichen zuerst Wilmanns/Michels [Anm. 6] ab, die eine Waise in Α und C als zäsurierten Langvers lesen, während von Kraus [Anm. 8], S. 430, unter Berufung auf Hermann Paul: Zu Walther von der Vogelweide. In: Beiträge 8 (1882), S. 161-209, hier S. 208f., einheitlich von zäsurlosen Langversen ausgeht.
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Nun geht Steinmetz von der Α-Fassung aus und setzt dort »der Einfachheit halber«23 zwei Verse an. Doch der Versuch, das an Α gewonnene Schema auf die Strophen in CEiU"*) zu übertragen, führt dort zu unterschiedlichen Ergebnissen, weil die fraglichen Langzeilen in CE(UXX) selbst keinerlei Ansatz zur Zäsur zeigen. Daß schon hier eine textgeschichtliche Differenz zwischen Α und CECU**) sichtbar wird, liegt auf der Hand, aber durch die Frage nach der ursprünglichen Fassung wird aus dieser Abweichung der Lieder voneinander ein Argument gegen die überlieferungsgeschichtliche Einheit des Liedes in CECU"*). Versucht man gemäß der Α-Fassung auch in CECU") eine Zweiteilung der Verse durchzuführen, so ist für die Strophen 1 und 3 eine Teilung in zwei Verse erst nach der vierten Hebung möglich, und selbst dies ist keine überzeugende Konstruktion, da die so gewonnene Waise durch gleichzeitige Fugung und Enjambement unmittelbar wieder aufgehoben wird. Die entsprechende Stelle in der zweiten Strophe läßt sich aus syntaktischen Gründen nicht in dieser Weise gliedern. Der Vers Waz hätt ich gesprochen? we dä solt ich hän geswigen (90b, II, 5/ L. 118,9), der problemlos in ein gemeinsames alternierendes Versschema von CE(U") passen würde, weicht von den beiden anderen Strophen des Liedes ab, sobald man nach Α eine Zäsur nach der dritten Hebung unterstellt. Und weil die zweite Strophe zugleich interpretatorische Schwierigkeiten bereitet hatte, führt dies schließlich dazu, sie als spätere Interpolation einzustufen.24 Für Varianzen gibt es also schon auf der rein formalen Ebene der metrischen Analyse keinen Spielraum. Diese werden durch die Frage nach dem Autor ausgeschieden und drohen damit für die Interpretation auf ein Autorbild hin verloren zu gehen. Die Frage nach dem einen Autor kann zumindest im vorliegenden Fall nicht weiter kommen, als den Niune-Text als unecht, den nurmehr zweistrophigen CE(UXX)-Text als zweifelhaft, aber vielleicht auf einer Walther-Fassung basierend erscheinen zu lassen. Dazu ein Gegenvorschlag. Er beruht weiterhin auf der Frage nach dem Autor, differenziert lediglich zwischen Urheber, Autorrolle und Sänger. Ist man bereit, den Α-Text als Variation des CE(U*X)-Textes aufzufassen, so spielt es keine Rolle, wie der Autor oder der Interpret heißen. Für den Text ist entscheidend, daß er auf der Basis einer Autorrolle 'Walther' funktioniert. Diese wird im Liedeingang insbesondere durch den Ton und den deutlichen Bezug auf das Walther-Lied L. 42,31/19 aufgerufen. Doch was als Walther-Text beginnt, konterkariert in der Variation das tongleiche Gegenstück und zeigt so schlagartig die bloße Rollenhaftigkeit des inszenierten Waltherbildes.
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Steinmetz [Anm. 12], S. 359. Vgl. ebd. S. 357f. u. S. 361.
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Der Niune-Text dürfte demnach nicht von Walther stammen, aber er muß dies zunächst einmal behaupten, um seiner Pointe zum Erfolg zu verhelfen. Aber auch sein Gegenstück, der in CE überlieferte Text im Walther-Corpus, braucht natürlich nicht von Walther zu sein. Doch fur die Niune-Fassung muß er als Walther-Text gelten, ebenso wie er den Handschriften C und Ε als Walther-Text gilt. Nicht die Echtheit, sondern die Authentizität des Walther-Textes kommt damit in den Blick, wenn die Frage nach dem Autor für die Möglichkeit der Autorfiktion offenbleibt.25 Die Ausgabe von Cormeau läßt die Erprobung einer solchen Fragestellung zu.
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Daß gerade in der Autorfiktion eine Begründung des referentiellen Bezugs auf die Realität liegen kann, unterstreicht Jan-Dirk Müller: Ir suit sprechen willekomen. Sänger, Sprecherrolle und die Anfänge volkssprachlicher Lyrik. In: IASL 19 (1994), S. 1-21, besonders S. 5f. u. S. 21.
CHRISTIANE HENKES SILVIA SCHMITZ
Kan minfrowe süeze siurenl (C 240 [248] - C 245 [254]). Zu einem unbeachteten Walther-Lied in der Großen Heidelberger Liederhandschrift Die Große Heidelberger Liederhandschrift überliefert im Walther-Korpus sechs Strophen, C 240 [248] - C 245 [254], die durch Initialfärbung als Strophen eines Tones ausgewiesen sind1. Vier dieser sechs Strophen gehören zu Saget mir ieman, waz ist minne? (Cormeau 44; L. 69,1), das in der Kleinen Heidelberger Liederhandschrift (A), der Würzburger (E) und der Weimarer Liederhandschrift (F) und den Berliner Bruchstücken Ο als selbständiges Lied begegnet. Die letzten beiden Strophen des Komplexes finden sich im Walther-Korpus von C ein zweites Mal und bilden dann zusammen mit einer weiteren Strophe das Lied Daz ich dich sö selten griieze (Cormeau 45; L. 70,1), das auch in Ε und dem Wolfenbütteler Fragment Ux überliefert ist. Deshalb wurden Lied 44 und 45 zu Recht als je eigene Lieder ediert und interpretatorisch erschlossen. Unberücksichtigt blieb dabei, daß die sechs Strophen in C ebenso eine Einheit bilden könnten. Dafür spricht nicht nur, daß sie in C1 formal als zusammengehörig gekennzeichnet sind, vielmehr stellen sie auch ein Deutungspotential bereit, durch das sie sich sinnfällig zu einem Liedganzen fugen. Kan min frowe süeze siurenl läßt sich deswegen als eigenständiges Lied erschließen. Die ersten vier Strophen des Liedes wurden bisher als eine der überlieferten Fassungen von Saget mir ieman, waz ist minne? (Lied 44) betrachtet, dessen Überlieferung erheblich variiert.2 Angesichts der verschiedenen Strophenfolgen und des unterschiedlichen Strophenbestandes von Lied 44 hatte sich Lachmann mit seiner Erstausgabe der Lieder Walthers von der Vogelweide fur die Fassung nach EF3 entschieden, allerdings die Zusatzstrophe Ε 160 bzw. F 48 athetiert und lediglich im Anhang der Ausgabe vermerkt.4 Diesen Entscheidungen schlossen 1 2
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Vgl. den Beitrag von Christiane Henkes in diesem Band. Zu den Überlieferungsverhältnissen bei Lied 44 vgl. ebd. Vgl. auch Thomas Cramer: Waz hilfet äne sinne kunst? Lyrik im 13. Jahrhundert. Studien zu ihrer Ästhetik. Berlin 1998, S. 94f. Die Berliner Fragmente Ο waren Lachmann nicht bekannt. Vgl. Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Hg. von Karl Lachmann. Berlin 1827, S. 185f.
Kan min frowe süeze siuren? (C 240 [248] - C 245 [254])
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sich alle nachfolgenden Herausgeber mit Ausnahme Wackernagels und Riegers an, die - abgesehen von einer Umstellung der letzten beiden Strophen - der Überlieferung in Α folgten.5 Noch Cormeau gibt in der jüngsten Neubearbeitung der Lachmannschen Walther-Ausgabe das Lied nach EFO wieder6, jedoch mit allen überlieferten Strophen.7 So verwundert es nicht, daß auch die meisten Interpretationen zu Lied 44 auf der von Lachmann vorgezogenen Liedgestalt basieren, unter anderem die Deutungen Bachofers8, Borcks9, Ranawakes10, Wenskes" und Hahns12. Ihnen ist außerdem gemein, daß die von Lachmann athetierte Strophe Ε 160, F 48 (O 15) unberücksichtigt bleibt.13 Die Fassungen in Α und C hatten wegen Lachmanns Entscheidung lange Zeit kaum eine Chance, ernst genommen zu werden, dies nicht zuletzt, weil auch von Kraus »die Minderwertigkeit der Gruppe AC« feststellt, die sich unter anderem
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Vgl. Walther von der Vogelweide nebst Ulrich von Singenberg und Leutold von Seven hg. von Wilhelm Wackernagel und Max Rieger. Gießen 1862, S. 126f. In Ο fehlt zwar die erste Strophe, allerdings scheint sie durch Beschnitt verloren gegangen zu sein. Vgl. die durch von Kraus geleistete Transkription von Ο in: Walther von der Vogelweide. Die gesamte Überlieferung der Texte und Melodien. Abbildungen, Materialien, Melodietranskriptionen. Hg. von Horst Brunner, Ulrich Müller und Franz Viktor Spechtler. Mit Beiträgen von Helmut Lomnitzer und Hans-Dieter Miick. Geleitwort von Hugo Kuhn. Göppingen 1977, S. 269-271, bes. S. 270, Anm. 1. Vgl. auch Cramer: Waz hilfet äne sinne kunst? [Anm. 2], S. 96, Anm. 37, sowie Manfred Günther Scholz: Probleme der Strophenfolge in Walthers Dichtung. In: Walther von der Vogelweide: Beiträge zu Leben und Werk hg. von Hans-Dieter Mück. Stuttgart 1989, S. 207-220, hier S. 216. Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 14. völlig neu bearb. Aufl. der Ausg. Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner hg. von Christoph Cormeau. Berlin 1996, S. 15lf. Vgl. Wolfgang Bachofer: Zur Wandlung des Minne-Begriffs bei Walther. In: Festgabe für Ulrich Pretzel zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern. Hg. v. Werner Simon, Wolfgang Bachofer und Wolfgang Dittmann. Berlin 1963, S. 139-149, bes. S. 146. Vgl. Karl Heinz Borck: Den diu minne blendet, wie mac der gesehen? Zu Walthers Lied 69,1. In: Gedenkschrift für Jost Trier hg. von Hartmut Beckers und Hans Schwarz. Köln, Wien 1975, S. 309-320. Vgl. Silvia Ranawake: Gab es eine Reinmar-Fehde? Zu der These von Walthers Wendung gegen die Konventionen der hohen Minne. In: Oxford German Studies 13 (1982), S. 7-35, bes. S. 13-16. Vgl. Martin Wenske: »Schwellentexte« im Minnesang Walthers von der Vogelweide. Exemplarische Interpretationen ausgewählter Lieder. Frankfurt/Main 1994, S. 51-81. Vgl. Horst Brunner, Gerhard Hahn, Ulrich Müller, Franz Viktor Spechtler: Walther von der Vogelweide. Epoche -Werk -Wirkung. München 1996, S. 91f. Ausführlicher geht allein Scholz auf die Strophe ein (vgl. Scholz: Probleme der Strophenfolge [Anm. 6], S. 217f.). Wenske und Cramer behandeln sie beiläufig (vgl. Wenske: »Schwellentexte« [Anm. 11], S. 103, Anm. 84, und Cramer: Waz hilfet äne sinne kunst? [Anm. 2], S. 97). Bein druckt gemäß seiner Orientierung an der Cormeauschen WaltherAusgabe alle fünf Strophen ab, bietet allerdings keine Detailanalyse zu den einzelnen Strophen. Vgl. Thomas Bein: Waither von der Vogelweide. Stuttgart 1997, S. 100-105.
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in der »Verwirrung der Strophenfolge«14 zeige. Indes finden Α und C inzwischen auch Fürsprecher. So interpretiert Ehlert gemäß ihrer Orientierung an der jeweils ältesten Handschrift die Strophenfolge nach Α und gelangt zu dem Schluß, daß es angesichts der inhaltlichen Kohärenz dieser Strophenfolge unnötig sei, die Abfolge der Strophen nach EF zu verändern.15 Auch Ranawake erscheint die Reihung in A - wie ebenso die in C - plausibel.16 Dagegen können Scholz und Cramer der Strophenfolge in Α keinen Sinn abgewinnen.17 Die Anordnung der Strophen in C wird weniger kontrovers diskutiert. Während Cormeau bei dieser Reihung die Strophen C 241 [249] und C 242 [250] als »schwer integrierbar«18 einschätzt, betrachten sowohl Scholz19 als auch Nolte20 sie als eigene Fassung, deren Strophen sinnvoll aufeinander folgten. Knape widmet der C-Version einen ganzen Aufsatz und gelangt zu dem Ergebnis, sie sei als »hoch kohärent[ ]«21 zu werten. Zuletzt interpretiert Cramer, der für eine »Gesamtheit« als »Idee des Gedichtes« eintritt, die C-Fassung als sinnvollen Teilaspekt des Liedes.22 Der Zusammenhang der Strophen C 240 [248] bis 245 [254] wird jedoch auch von den C-Befürwortern nicht berücksichtigt. Lediglich Scholz wirft aufgrund der metrischen Verwandtschaft der Strophen - nicht aber der Initialfarbung in
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Carl von Kraus: Berliner Bruchstücke einer Waltherhandschrift. In: ZfdA 70 (1933), S. 81120, hier S. 102. Trade Ehlert: Konvention -Variation - Innovation. Ein struktureller Vergleich von Liedern aus »Des Minnesangs Frühling« und von Waither von der Vogelweide. Berlin 1980, S. 168. Ehlerts Untersuchung der Fassung erweist sich jedoch als problematisch, da sie die sinnverändemden Varianten von A konjiziert und damit lediglich die Strophenanordnung, nicht aber die spezifische inhaltliche Dimension des Liedes in Α erfaßt. (Vgl. Ehlerts Abdruck der Strophen, ebd., S. 151f.) Ranawake: Gab es eine Reinmar-Fehde? [Anm. 10], S. 14. Vgl. Scholz: Probleme der Strophenfolge [Anm. 6], S. 217, und Cramer: Waz hilfet äne sinne kunst? [Anm. 2], S. 98, Anm. 41. Vgl. Christoph Cormeau: Versuch über typische Formen des Liedeingangs bei Waither. In: Walther von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium zum 64. Geburtstag von Karl-Heinz Borck, hg. von Jan-Dirk Müller und Franz Josef Worstbrock. Stuttgart 1989, S. 115-126, hier S. 122. In seiner Walther-Ausgabe hingegen hält er die Strophenordnung in C für sinnvoll. Vgl. Cormeau (Hg.): Walther [Anm. 7], S. 151. Scholz: Probleme der Strophenfolge [Anm. 6], S. 219. Vgl. Theodor Nolte: Walther von der Vogelweide. Höfische Idealität und konkrete Erfahrung. Stuttgart 1991, S. 175-182, bes. S. 178. Joachim Knape: Zur Liedkohärenz von Walthers »Was ist minne?« (L. 69,1). In: Artibvs. Kulturwissenschaft und deutsche Philologie des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Festschrift für Dieter Wuttke zum 65. Geburtstag. Hg. von Stephan Füssel, Gert Hübner u. Joachim Knape. Wiesbaden 1994, S. 33-46, hier S. 44. Cramer: Waz hilfet äne sinne kunst? [Anm. 2], S. 86, 93 und 97f.
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C!23 - die Frage auf, ob es sich hierbei um eine »größere[ ] Liedeinheit«24 handeln könne, und Knape folgt ihm in einer Anmerkung, ohne freilich den Gedanken auszufuhren.25 C überliefert die folgenden sechs Strophen26 als zusammengehörig: C 240 [248] Kan min frowe süeze siuren. waenet si daz ich gebe lieb umbe leit · sol ich si dar umbe tiuren · daz si ez wider kere gar an min unwerdekeit · sö künde ich unrehte spehen · we waz sprich ich örenlöser ougen äne den diu minne blendet wie mac der gesehen. C 241 [249] Saget mir ieman waz ist minne · sö west ich gerne ouch darumbe me · swer sich rehte nü versinne . der berihte rehte mich wie tuot si we · minne ist minne tuot si wol · tuot si we so ne heizet si niht minne sus enweiz ich wie si danne heizen sol · C 242 [250] Ob ich rehte raten kunne · waz diu minne si so sprechent ja · minne ist zweier herzen wunne · teilent si geliche sö ist diu minne dä · sol aber ungeteilet sin · sö enkan si ein herze aleine niht enthalden owe woldest du mir helfen frowe min ·
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Vgl. Anm. 1 dieses Beitrages. Scholz: Probleme der Strophenfolge [Anm. 6], S. 219. Knape konstatiert, daß der Schluß der Strophe C 243 [251] »ohne weiteres [...] einen Übergang zu den in C folgenden Strophen L. 70,1 und somit zu einer größeren Liedeinheit« gestatte (Knape: Liedkohärenz [Anm. 21], S. 42, Anm. 33). Die Textherstellung erfolgt nach Mutabilität im Minnesang. Mehrfach überlieferte Lieder des 12. und 13. Jahrhunderts. Hg. von Hubert Heinen. Göppingen 1989, S. 215f., allerdings mit geringen Abweichungen und im Verzicht auf Interpunktion, um die Deutung des Lesers nicht zu beeinflussen. Die in C gesetzten Reimpunkte bleiben erhalten.
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C 243 [251] Frowe ich eine trage ein teil ze swaere · wellest dü mir helfen so hilf an der zit · si aber ich dir gar unmaere · daz sprich endellche so läze ich den strit. und wirde ein ledic man . dü solt aber eines wissen daz dich rehte lützel ieman bas danne ich geloben kan . C 244 [253] Daz ich dich so selten grüeze · daz ist an allen argen missetat. ich wil wol das zürnen müeze · lieb mit liebe swä'z vonfriundesherzen gät · trüren und wesen fro · sanfte zürnen sere süenen das der minne reht diu herzeliebe wil also · C 245 [254] Dü solt eine rede vermiden . frowe des getrüwe ich dinen zühten wol · taetest dü'z ich wolde'z niden · als die argen sprechent da man lönen sol · haete er saelde ich taete im guot · er ist selbe unsaelic swer daz sprichet noch der werke niht entuot · Die Kohärenz der ersten vier Strophen in C haben bereits Scholz und vor allem Knape aufgezeigt27, doch erweisen sich unter anderem interpretatorischen Gesichtspunkt auch alle sechs Strophen als textliche Einheit. Kan min frowe süeze siurenl läßt sich als Absage an den Minnediskurs verstehen, als kunstvolle Rede darüber, daß die Rede über Liebe an ihr Ende gelangt ist. Mit C 240 [248], die in E, F und Ο die Schlußstrophe von Saget mir ieman, waz ist minne? (Cormeau 44) bildet und deshalb häufig für die These vereinnahmt wurde, Walther widerrufe hier seine im Verlauf des Liedes geäußerte radikale Kritik am hohen Sang28, liegt eine Strophe vor, in der das lyrische Ich29 in der Tat kritische Fragen stellt, um sie dann in Zweifel zu ziehen. Doch geschieht dies in C zu Beginn des Liedes und nicht als Zurücknahme einer bereits artikulierten Position. Statt dessen werden mit dieser Eingangsstrophe die folgenden Äußerungen des lyrischen Ichs problematisch. Sie stellt in zwei Schritten die Fragwür-
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Vgl. S. 106 dieses Beitrags. Vgl. u.a. Walther von der Vogelweide: Gedichte. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. Ausgewählt, übersetzt und mit einem Kommentar versehen von Peter Wapnewski. 4. Aufl. Frankfurt am Main, Hamburg 1966, S. 241, sowie Gerhard Hahn: Walther von der Vogelweide. Eine Einführung. 2., durchgesehene Aufl. München, Zürich 1989, S. 87. Zum Begriff vgl. Joachim Knape: Rolle und lyrisches Ich bei Walther. In: Mück (Hg.): Waither von der Vogelweide [Anm. 6], S. 171-190, hier S. 186-190.
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digkeit des Sprechens über Liebe heraus und gibt damit die Richtung von Kart min vrowe süeze siuren? vor. Die Fragen des Aufgesangs suchen die Zustimmung des indirekt angesprochenen Publikums, indem sie auf Bekanntes rekurrieren, auf den traditionellen Sang30, und bereiten die typische Drohung mit Absage vor, die im ersten Vers des Abgesangs evoziert wird: der Konjunktiv in so künde ich unrehte spehen legt die Erwartung nahe, das lyrische Ich erwäge, der Dame, die Freude mit Leid und Wertschätzung mit Geringschätzung quittiert, den Dienst aufzukündigen. Bis hierhin werden Zweifel an der Konvention geäußert, die ihrerseits bereits konventionell sind, es wird eine Fragwürdigkeit zitiert, die mit der Lohnforderung immer schon artikulierbar war.31 Aus dieser Sicht spricht die erste Strophe jene Kenner von Minnesang an, die das Spiel, ihn in Frage zu stellen, bereits beherrschen.32 Mithin steigt das Lied direkt in die Kunstdebatte ein. Im zweiten Schritt wird die Debatte einem vorläufigen Ende zugeführt. Hat sich das lyrische Ich bisher dem Publikum als souverän beobachtender Sänger vorgestellt, indem es mit gängiger Kritik davon überzeugte, 'rehte' spehen zu können, die Ungleichheit des Minneverhältnisses zu erkennen und sie nicht länger akzeptieren zu wollen, so wird die Erwartung, es werde nun der Typus des Dienstaufsageliedes variiert, (vorerst) enttäuscht. Es folgt die Revocatio33, mit der das lyrische Ich im letzten Vers die zuvor nahegelegte Möglichkeit der Absage zurückdrängt. Doch ist dies weder ein Rückfall in die Konvention, noch wird ihr dadurch nur zum Schein Reverenz erwiesen34, denn die Revocatio greift weiter aus. Sie richtet sich allererst gegen das Argument, aus dem sich die potentielle Drohung der Dienstaufkündigung speiste: das Wahmehmungs- und Urteilsvermögen des lyrischen Ichs. Mit dem Ausruf: we waz sprich ich örenlö30 31
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Vgl. Knape: Liedkohärenz [Anm. 21], S. 38. Vgl. Ranawake: Gab es eine Reinmar-Fehde? [Anm. 10], S. 15, sowie die Hinweise auf Bernhard von Ventadorn und Friedrich von Hausen (MF 64,29 und 47,33) ebd., S. 34, Anm. 35 und 37. Anders Knape, der den Hörern lediglich die Kenntnis des traditionellen Sangs unterstellt. Vgl. Knape: Liedkohärenz [Anm. 21], S. 38f. Wiederum anders Rnape, der meint, für die in C überlieferten Strophen von Lied 44 eine Revocatio überhaupt ausschließen zu können: »Was hätte das Ich in der C-Version nach 5 Versen schon außer drei Fragen zu revozieren?« (Knape: Liedkohärenz [Anm. 21], S. 46). Eikelmann schlägt statt dessen fur C vor, bei der Revocatio von einer »vorangestelltefn] Absicherung gegen Widerspruch« auszugehen. Manfred Eikelmann: Denkformen im Minnesang. Untersuchungen zu Aufbau, Erkenntnisleistung und Anwendungsgeschichte konditionaler Strukturmuster des Minnesangs bis um 1300. Tübingen 1988, S. 289. Vgl. Wapnewski (Hg.): Walther von der Vogelweide [Anm. 28], S. 241, Hahn: Walther von der Vogelweide [Anm. 28], S. 87, Ehlert: Konvention - Variation - Innovation [Anm. 15], S. 165, Bachofer: Wandlung des Minnebegriffs [Anm. 8], S. 146, sowie Borck: Den diu minne blendet [Anm. 9], S. 317.
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ser ougen äne wird die im Vers so künde ich unrehte spehen evozierte souveräne Wahrnehmungsfähigkeit prinzipiell in Frage gestellt. Das Ich distanziert sich von seiner Rede35 und bezeichnet sich als orientierungslos. Steht die formelhafte Verbindung von Ohren und Augen gewöhnlich für die Teilhabe am höfischen Verständigungsprozeß36, so wird die Einbindung in diese Verständigung hier ähnlich wie in der vierten Strophe des Walther-Liedes 18, IV (L. 41,37) verweigert. Dort heißt es: Als ich mit gedanken irre var, so wil mir meniger sprechen zuo. so swige ich und läze in reden dar. waz wil er anders daz ich tuo? Hete ich ougen oder ören danne da, so künde ich die rede verstän. swenne ich ir beider niht enhän, sone kan ich nein, sone kann ich ja. Wie das wahrnehmungs- und teilnahmslose Ich dieser Strophe weder »nein« noch »ja« zu sagen vermag, so ist auch das δrenlose[ ] ougen äne Ich in C 240 [248] der Verständigung über das Pro und Contra des Minnesangs nicht mehr zugänglich und entscheidungsunfahig. Das heißt, es kann weder der zitierten Minnekonvention noch der zitierten Kritik Folge leisten. Damit büßt es seine Souveränität im Spiel mit dem Minnesang ein. Die nachgeschobene Frage: den diu minne blendet wie mac der gesehen fuhrt zu einem neuen Aspekt.37 Das lyrische Ich tauscht hier die Rolle des problema33
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Der we-Ruf muß nicht notwendig als Lamento gelten, wie Knape: Liedkohärenz [Anm. 21], S. 39 annimmt. Er kann auch Ausdruck der Verwunderung sein. Vgl. die Revocatio in der Schlußstrophe zu Morungens Lied MF XXII (138,17), die ebenfalls mit einem eher erstaunten we, was rede ich? beginnt. Tervooren läßt die Entscheidung offen und übersetzt mit »ach, was rede ich?«. Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren. Bd. 1: Texte. 38., erneut revidierte Aufl., mit einem Anhang: Das Budapester und Kremsmttnsterer Fragment. Stuttgart 1988. Vgl. Heinrich von Morungen: Lieder. Mittelhochdeutsch und neuhochdeutsch. Text, Ubersetzung, Kommentar von Helmut Tervooren, verb. u. bibliogr. erneuerte Ausg. Stuttgart 1992, S.107. Vgl. auch BMZ III, S. 540. Vgl. Horst Wenzel: Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995, S. 58. Die Forschung versteht die beiden Aussagen meist als Einheit. So übersetzt Bachofer die Revocatio mit »Was sage ich, der ich durch die Liebe taub und blind bin?«. Bachofer: Wandlung des Minnebegriffs [Anm. 8], S. 146. Dagegen hebt Borck zu Recht hervor, »daß die einzelnen Aussagen der revocatio sich nicht bruchlos zu jenem Ganzen fügen, das sie auf den ersten Blick zu bilden scheinen« (Borck: Den diu minne blendet [Anm. 9], S. 317; vgl. auch Wenske: »Schwellentexte« [Anm. 11], S. 77). Die von Borck damit eingeleitete These vom »Widerruf des Widerrufs« vermag allerdings wenig zu überzeugen. Zur Kritik der
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tisch gewordenen Sängers mit der des Liebenden38, der freilich nicht minder fragwürdig erscheint. Bindeglied ist die mangelnde Einsicht beider. Der assoziierbare ovidische Verlust der Sinne39 wird zum Topos »Liebe macht blind« spezifiziert40, der bereits in der antiken Literatur begegnet und wie dort auch in der mittelalterlichen Dichtung negativ konnotiert ist.41 Dies trifft nicht nur auf die didaktische Literatur zum Beispiel des etwas späteren Thomasin zu42, sondern auch auf die gleichzeitige Epik und Minnelyrik, etwa Ottes 'Eraclius'43 und Morungens Lied MF ΧΧΠΙ (139,19)44. Wenske verweist auf Gottfrieds 'Tristan', in dem Marke vom Erzähler seiner Blindheit wegen gescholten wird, die ihn verkennen lasse, daß Isolde ihn nicht liebt: diz was diu alwaere, diu herzelose blintheit, von der ein Sprichwort da seit: »diu blintheit der minne diu blendet üze und inne, si blendet ougen unde sin;
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These vgl. Wenske: »Schwellentexte« [Anm. 11], S. 54. Zur Auffacherung des lyrischen Ichs in verschiedene Rollen vgl. Knape: Liedkohärenz [Anm. 21], S. 40. Knape plädiert allerdings dafür, das lyrische Ich in C 240 [248] stets als den Liebenden aufzufassen. Vgl. ebd., S. 46. Vgl. z.B. Am I, 2, 31 u. 35 (Ovid: Liebesgedichte. Amores. Lateinisch und deutsch von Walter Marg und Richard Harder. 6. Aufl. München, Zürich 1984) oder Met IX, 583 u. 635640 (Ovid: Metamorphosen. In deutsche Hexameter übertragen und mit dem Text hg. von Erich Rösch. 10. Aufl. München, Zürich 1983). Vgl. Ehlert: Konvention - Variation - Innovation [Anm. 15], S. 165. Vgl. Piaton: Nomoi V, St. 731 e. Auf die Stelle verweist Erwin Panofsky: Studien zur Ikonologie. Humanistische Themen in der Kunst der Renaissance. Köln 1980, Kap. IV »Der blinde Amor«, S. 153-185, hier S. 153 u. 172, Anm. 1. Vgl. auch die Hinweise auf die römische Tradition ebd., Anm. 2. Thomasin kritisiert die minne u.a. im Rekurs auf diesen Topos: si blendet wises manne mht. Thomasin von Zerclaere: Der welsche gast. Hg. von F.W. von Kries. Bd. 1: Einleitung, Überlieferung, Text, die Varianten des Prosavorworts. Göppingen 1984, V. 1809. Focas wird vom Erzähler der Vernachlässigung seiner Herrscherpflichten beschuldigt mit der Begründung: Diu liebe chan wol blenden / Einen man daz er niht gesiehte / Und nimt im doch der äugen nihte (Hs. A). Otte: Eraclius. Hg. von Winfried Frey. Göppingen 1983, W . 2559 ff. Das lyrische Ich kommentiert die Möglichkeit der körperlichen Vereinigung mit einem Bild der Zerstörung, das es als Verblendung der Sinne durch die Liebe interpretiert: Do wände ich diu lant hä 'n verbränt sä' zehant, / wan daz mich ir siiezen minne bant / an den sinnen hät erblant. Heinrich von Morungen, in: Des Minnesangs Frühling [Anm. 35], XXIII, Str. 3, 5-8. Vgl. Otto Ludwig: Komposition und Bildstruktur. Zur poetischen Form der Lieder Heinrichs von Morungen. In: ZfdPh 87 (1968), Sonderheft, S. 48-71, hier S. 65f., sowie Emst von Reusner: Hebt die Vollendung der Minnesangkunst die Möglichkeit von Minnesang auf? Zu Morungen Ich hörte üf der heide (MF XXIII; 139,19) und Mir ist geschehen als einem kindeline (MF XXXII; 145,1). In: DVjs 59 (1985), S. 572-586, hier S. 578 ff.
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daz st wol sehent under in, des enwellent si niht sehen.«45 Der Erzähler fuhrt Markes Blindheit auf seine körperliche Begierde zurück, auf gelüste unde gelange (V. 17771)46, und auch in Morungens Lied XXIII wird die Blendung der Sinne mit der Liebesglut des Ichs und der Möglichkeit des Liebesvollzugs in Verbindung gebracht.47 Vor solchem Hintergrund scheint das lyrische Ich ebenso als Liebender eine Grenze erreicht zu haben. Die Orientierungslosigkeit des zwischen Konvention und Absage an die Konvention stehenden Sängers wird verschärft durch die fehlende Urteilskraft eines Liebenden, der sich von Begierde leiten läßt. Verständige Rede ist damit unmöglich geworden. Das Ich, das hier spricht, ist desavouiert: als Sänger ratlos und als Liebender ein Tor. Damit ist die Rede über Liebe an ein Ende gelangt, noch bevor sie begonnen hat. Das Ich müßte verstummen48 und spielt deshalb das Problem dem Publikum zu. Die zweite Strophe, C 241 [249], knüpft an das Stichwort mitine an49, das nun abstrakter gefaßt wird. Es geht um die Definition des Begriffs. Spitzt sich der erste Vers: saget mir ieman waz ist minne in E, F und s50 auf eine Frage zu, und formuliert der nächste Vers dort im Konditional: weiz ich des ein teil, so west ich es gerne me5\ so stellt sich dies in C anders dar. Hier umgreift der Konditionalsatz die ersten beiden Verse, denn der Anschlußvers lautet: so west ich gerne ouch darumbe me. Dies legt folgende Übersetzung nahe: wenn mir jemand sagt, was Minne ist (sei), so wüßte ich gerne dennoch mehr darüber.52 Was andere, die so allgemein bleiben wie diu weit in Hausens Frage nach der Minne53, bisher als
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Gottfried von StraBburg: Tristan. Hg. von Karl Marold. Unveränd. 4. Abdr. nach dem 3. mit einem auf Grand von F. Rankes Kollationen verb. App. besorgt von Werner Schröder. Berlin, New York 1977, W . 17742-49. Vgl. Wenske: »Schwellentexte« [Anm. 11], S.77f. Vgl. Anm. 44 dieses Beitrages. Vgl. Knape: Liedkohärenz [Anm. 21], S. 39. Vgl. Scholz: Probleme der Strophenfolge [Anm. 6], S. 219. Die Haager Liederhandschrift überliefert nur diese Strophe des Liedes. Cormeau 44,1, 2. Knape hält auch für die C-Version an der Frageform fest und übersetzt: »Sag mir doch von Euch jemand, was ist Minne?«, muß aber deshalb bei der Wiedergabe des Anschlußverses zu einer Konstruktion greifen, die nicht recht zu überzeugen vermag: »Genauso [wie Ihr] wüßte auch ich gem mehr darüber«. Vgl. Knape: Liedkohärenz [Anm. 21], S. 39. Vgl. dagegen die Textherstellungen Heinens (Mutabilität [Anm. 26], S. 215) und Cramers (Waz hilfet äne sinne kunst? [Anm. 2], S. 94), die waz ist minne durch Kommata abtrennen. Waz mac daz sin daz diu weit heizet minne? Friedrich von Hausen, XV, 3, 1 (53,15), in: Des Minnesangs Frühling [Anm. 35]. Vgl. Wilmanns in: Walther von der Vogelweide. Hg. u. erklärt von W. Wilmanns. Vierte, vollständig umgearbeitete Aufl., besorgt von Victor
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Begriffserläuterungen boten, genügt dem Ich offenkundig nicht. Nun (nü) bedarf es jemandes, der sich rehte versinne, der in angemessener Weise sich auf die Sache versteht. Die richtige Unterweisung, so heißt es weiter, bestehe in der Begründung, weshalb Minne Schmerz bereite. Damit ist das Publikum gefordert und zwar erst jetzt, wenn auch das unbestimmte ieman bereits auf frühere Hörer verweisen mag. Die »drängende Hinwendung zu den Hörem«54 erfolgt in Kan min frowe siieze siuren? erst mit der Bitte, das Ich endlich umfassend zu unterrichten. Will man den Appell nicht als »bloße Rhetorik«55 übergehen, hat dies Konsequenzen für die Verse des Abgesangs. Sie wurden bisher als Vorbereitung eines neuen Minneprogramms gelesen, das Walther in seinem Lied Saget mir ieman, waz ist minne? vorstelle: Minne als gegenseitige, erwiderte Liebe, die als Beglückung und nicht als Leid erfahren werde.56 In A, F und s57 heißt es, schmerzliche Liebe trage den Namen Minne nicht zu Recht (niht rehte), es wird also eine Begriffsdiskussion geführt, die sich aus der Perspektive eines leidenden Ichs erklärt. Mithin plädiert das Ich dort für eine Minne, die Glückserfahrung bedeutet: minne ist minne tuot si wol. In Ε zeigt sich dieses Plädoyer noch deutlicher, denn hier gibt das Ich seine subjektive Einschätzung wieder: tuot si we, so heizze i c h sie nit minne.5* In diesen Versionen nimmt das Ich also die minnetheoretische Gegenposition ein, aufgrund derer sich Saget mir ieman, waz ist minne? als Programmlied verstehen läßt. Der Abgesang in C gibt dagegen keinerlei Hinweise darauf, daß das Ich zum Minnebegriff Stellung bezöge. Die Begriffsreflexion erfolgt weder in der IchRede wie in E, noch gibt es andere Signale für die Annahme, das Ich nehme dabei eine eigene Haltung ein wie in A, F und s. Die C-Strophe legt damit eine Deutung nahe, die ohne die Idee einer neuen Minnekonzeption auskommt.59 Wie im Aufgesang bezieht sich das lyrische Ich auf das, was andere über Minne zu
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Michels. Halle 1924, S. 263. Knape: Liedkohärenz [Anm. 21], S. 39. Bein: Walther von der Vogelweide [Anm. 13], S. 103. Vgl. u.a. Bachofer: Wandlung des Minnebegriffs [Anm. 8], S. 146, Borck: Den diu minne blendet [Anm. 9], S. 314 ff., Hahn in Brunner: Walther von der Vogelweide [Anm. 12], S. 74 ff. u. S. 91 f., und Bein: Waither von der Vogelweide [Anm. 13], S. 100-105. Vgl. den Lesartenapparat der Cormeauschen Waltherausgabe [Anm. 7], S. 151, sowie die Paralleldrucke in Cramer: Waz hilfet äne sinne kunst? [Anm. 2], S. 94f. Z.n. Cramer: Waz hilfet äne sinne kunst? [Anm. 2], S. 94. Hervorhebung von uns. Vgl. ebd., S. 96. Scholz (Probleme der Strophenfolge [Anm. 6], S. 219) und Knape (Liedkohärenz [Anm. 21], S. 40) bleiben bei ihrer Interpretation von C 241 und C 242 bei der 'kanonischen' Auffassung, es gehe hier um ein neues Minnekonzept. Cramers Deutung bestätigt dagegen die von uns vorgeschlagene Sichtweise (vgl. Cramer: Waz hilfet äne sinne kunst? [Anm. 2], S. 97).
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sagen haben.60 Wandte es sich zuvor mit der dringenden Bitte um Belehrung an die Hörer, referiert es nun eine Meinung aus dem Publikum.61 Angesichts seiner Frage, warum Minne Leid verursache, erscheint die Erklärung: minne ist minne tuot si wol banal, sie kann das Ich ebensowenig zufriedenstellen wie die nachfolgende Umkehrung, füge Minne Schmerz zu, werde sie mit dem Wort Minne nicht bezeichnet. Das Ich zitiert hier konventionellen Sprachgebrauch, der fur den Minnebegriff den Aspekt des Leides nicht vorsieht.62 Wird in anderen Liedern die positive Konnotation des Begriffs als die vorherrschende von eigener Leiderfahrung getrennt und der herkömmliche Begriff kritisch befragt wie etwa in Walthers Tagelied: daz si dä heizent minne, / daz ist niwan sende leita, so ist das Ich dieser Strophe zu solcher Verdeutlichung außerstande. Es bleibt auf seiner Suche nach einer angemessenen Begriffsbestimmung ratlos zurück: sus enweiz ich wie si danne heizen sol. Während in der ersten Strophe das Ich als Sänger wie als Liebender vor der Aufgabe, über Liebe zu sprechen, versagt, weist die zweite Strophe das Publikum als unfähig aus, die zur Situation des Sängers und Liebenden passenden Worte zu sprechen und zu erklären, weshalb die Dame süeze siuren kann, warum Minne we tut. In begrifflicher Konvention verhaftet, vermag es auf die dem Minnesang eigenen Fragen keine Antworten zu geben. Damit ist die Rede über Liebe ein zweites Mal an eine Grenze gestoßen. Um so fragwürdiger erscheinen die Eingangsverse der nächsten Strophe, C 242 [250]. Hier versichert sich ein in Sachen Minne desavouiertes Ich, richtig ihr Wesen erraten oder darüber Auskunft geben zu können64, kraft der Bestätigung eines minnetheoretisch unfähigen Publikums. Die folgenden Bestimmungen von Minne sind damit dem Verdacht inkompetenten Sprechens ausgesetzt. Ob das Ich in dieser Strophe weiterhin die Meinung anderer wiedergibt65 oder sich nun selbst am Definitionsprozeß beteiligt, ist dabei unerheblich.
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Vgl. ebd. Setzte man bei weiter eingreifender Textherstellung Anfuhrungszeichen für eine wörtliche Rede, so ließe sich verdeutlichen, daß es sich um die Äußerung eines Sprechers aus dem Publikum handelt. Doch spricht das zweite Kolon des Schlußverses mit seiner Ich-Aussage dafür, daß auch der Sprecher im ersten Kolon mit dem lyrischen Ich identisch ist und es die Rede anderer selbst wiedergibt. Vgl. Christoph Huber: Wort sint der dinge zeichen. Untersuchungen zum Sprachdenken der mittelhochdeutschen Spruchdichtung bis Frauenlob. München 1977, S. 95. Cormeau 59,1, 1 If. (L. 88, 19f.). Vgl. die weiteren Belege aus dem Minnesang bei Huber: Wort sint der dinge zeichen [Anm. 62], S. 94. Vgl. Wapnewski (Hg.): Walther von der Vogelweide [Anm. 28], S. 241. So Cramer: Waz hilfet äne sinne kunst? [Anm. 2], S. 97.
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Minne wird dezidiert ausgewiesen als zweier herzen wunne. Die sich hierin ankündigende Gegenseitigkeitsidee, aufgrund derer Lied 44 als programmatisch gewertet wird, baut in Kan min frowe süeze siuren? auf dem konventionellen Begriffsverständnis der zweiten Strophe auf, das mit Minne angenehme Vorstellungen verbindet, denn mit dem Ausdruck wunne wird die Begriffserklärung der zweiten Strophe und damit die Meinung anderer aufgegriffen, Minne sei das, was wol tut.66 Die Spezifizierung der Minne als gegenseitige, geteilte Minne (teilent si geliche so ist diu minne da) entwickelt sich in C also aus dem vorherrschenden, positiv konnotierten Begriff und nicht als Gegenposition des lyrischen Ichs zu einer Minnekonzeption etwa Reinmarscher Provenienz, die das süeze siuren der ersten Strophe bejahen würde.67 Dies beraubt die Gegenseitigkeitsidee des Provokanten, das sie in den übrigen Versionen der Strophe besitzt. Dennoch ist die Spezifizierung des Minnebegriffs auch für Kan min frowe süeze siuren? nicht unbedeutend, treibt sie doch das mit den ersten beiden Strophen problematisch gewordene Sprechen über Minne noch einmal voran. Spätestens mit dem Abgesang macht sich das lyrische Ich die besondere Füllung des herrschenden Begriffs zu eigen: wenn nicht geteilt wird, kann Minne in einem Herzen allein nicht beherbergt werden, ist Minne der Definition nach nicht da. Nur wenn zwei Herzen sie in sich tragen, wird sie »ihrem eigenen Begriff gerecht«.68 Damit erhält die in der zweiten Strophe gestellte Frage nach der Leidkomponente eine indirekte Antwort: Leid entsteht aus Einseitigkeit69, wohingegen die als gegenseitig nuancierte Minne Glückserfahrung {wunne) verspricht. Wenngleich die gewonnene Erkenntnis bezweifelbar bleibt, weil Leid lediglich via Definition und von fragwürdigen Sprechern eliminiert wird, ermöglicht sie es doch, die Rede über Liebe zunächst fortzusetzen. Der neue Akzent einer beidseitigen Minne versetzt das lyrische Ich in die Lage zu hoffen, freilich einer Hoffnung Ausdruck zu verleihen, die sich nicht als spes contra spem versteht70, sondern konkret ausgerichtet ist auf eine Minne, die Erfüllung
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Vgl. Scholz: Probleme der Strophenfolge [Anm. 6], S. 219. In der Regel verbindet die Forschung diese Konzeption mit Reinmars Minnesang (vgl. zuletzt Bein: Walther von der Vogelweide [Anm. 13], S. 103). Anders Ranawake: Gab es eine Reinmar-Fehde? [Anm. 10], S. 13f. Eikelmann: Denkformen im Minnesang [Anm. 33], S. 291. Vgl. Bachofer: Wandlung des Minne-Begriffs [Anm. 8], S. 146. Cramer übergeht diese Deutungsmöglichkeit, da er das lyrische Ich nur als Referenten der einmal gegebenen »Informationen« versteht, ohne der Bedeutungsverschiebung des Minnebegriffs Wert zu zollen, so daß für ihn die Frage des lyrischen Ichs nach der »Integration oder Definition des Leides in der Minne« offen bleibt (Cramer: Waz hilfet äne sinne kunst? [Anm. 2], S. 97). Vgl. Wapnewski (Hg.): Waither von der Vogelweide [Anm. 28], S. 241.
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nicht ausschließt. An die Leidthematik anknüpfend, kann sich das Ich jetzt an die nächste Instanz wenden: owe woldest dü mir helfen frowe min. Die vierte Strophe, C 243 [251], nimmt die Hinwendung zur frowe in wörtlichen Anklängen wieder auf.71 Dabei wird die zuvor im traditionellen Klagegestus geäußerte Bitte um Hilfe als Druckmittel entlarvt.72 Das Ich lehnt Einseitigkeit (ich eine), die das Leid des Liebenden bewirkt, als zu schwere Last ab und drängt die frowe ultimativ, im Sinne der vorgetragenen Minnedefinition Stellung zu beziehen: wenn es ihr zuwider sei, Gegenseitigkeit und damit Minne also nicht gegeben seien, solle sie dies endlich sagen. Auf diese Weise für das vorab herausgestellte BegrifFsverständnis vereinnahmt, hat die frowe nur innerhalb dieses Spielraums eine Alternative, das heißt, in der alten Rolle der Minnedame, wie sie mit dem Aufgesang der ersten Strophe zitiert wurde, kann sie nicht weiter verharren. Lieb umbe leit kann sie nicht länger erwarten, da das Ich als Liebender mit der Gegenseitigkeitsidee bereits der Leidensbereitschaft abgeschworen hat.73 Die in der ersten Strophe nur evozierte Möglichkeit einer Dienstaufsage erscheint diesmal wie eine »Selbstverständlichkeit«74, weil sie unbemerkt schon stattgefunden hat, im Prozeß der Minnedefinition bereits vollzogen wurde. Deshalb bezeichnet das Ich seinen Dienst nun als strit. Wenn die frowe weiterhin gelobt und umworben werden möchte, muß sie die Gegenseitigkeitsidee als »Werbeargument«75 akzeptieren. Damit ist sie in doppelter Weise abhängig: vom Ich in der Sängerrolle, das seinen Sang aufgeben kann, wenn es nicht Minne erfahrt, und ebenso vom Ich in der Rolle des Liebenden, das wie das Publikum besser als sie und alle dem traditionellen Sang Verbundenen weiß, was Minne ist, und sich deshalb als bester Minnesänger gerieren kann.76 Ist der traditionelle Sang längst verabschiedet, hängt nun (scheinbar) alles von der Dame ab. Geht sie auf die Werbung nicht rechtzeitig (an der zit)77 ein, erfüllt sie die Forderung nach Gegenseitigkeit nicht, wird das Ich, das bereits am Ende
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Vgl. Nolte: Walther von der Vogelweide [Anm. 20], S. 179. Vgl. Wenske: »Schwellentexte« [Anm. 11], S. 66. Dies scheint um so plausibler, als Leid nur abstrakt verhandelt wurde. Es finden sich keine direkten Ich-Aussagen, die dem Leid des lyrischen Ichs Ausdruck verschafften: in der zweiten Strophe fragt es allgemein, warum Minne weh tue, das owe am Ende der dritten Strophe bezieht sich auf das vorher dargestellte Problem einer Einseitigkeit, die Leid zwar impliziert, doch ohne daß es als Leiderfahrung des Ichs zur Sprache käme, und die Aussage, das Ich trage zu schwer, impliziert einen Schmerz, den das Ich nicht zu erdulden bereit ist. Knape: Liedkohärenz [Anm. 21], S. 42. Ranawake: Gab es eine Reinmar-Fehde? [Anm. 10], S. 14. Vgl. Wenske: »Schwellentexte« [Anm. 11], S. 68f. Die Formulierung ist topisch. Vgl. Knape: Liedkohärenz [Anm. 21], S. 43, Anm. 34.
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der ersten Strophe dem Verstummen nahe war, endgültig schweigen und die Sangeskunst ihr Ende finden. Mit der fünften Strophe, C 244 [253], wird dies noch einmal verhindert, denn sie läßt sich als Frauenstrophe auffassen78, ähnlich den einzelnen Frauenstrophen etwa im Walther-Lied Got gebe ir iemer guoten tac (Cormeau 92, L. 119,17) oder in Reinmars So ez iener nähet deme tage (MF VI a; 154,32), bei denen es sich gleichfalls weder um Wechsel79 noch um Gesprächslieder handelt.80 Für eine Frauenstrophe spricht vor allem, daß in C 244 eine Anrede der Dame unterbleibt. Dagegen setzt C2, wo die Strophe das Lied Daz ich dich so selten grüeze (45, L. 70,1) anfuhrt, unmißverständliche Signale, die von allen überlieferten Fassungen des Liedes 45 bestätigt werden81: hier wird die »frottwe« direkt angesprochen82, das sprechende Ich muß demnach ein Mann sein. Da C 244 auf eine solche Vereindeutigung verzichtet83, bietet diese Strophe die Möglichkeit an, sie
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Heinen setzt sie dementsprechend in Anführungszeichen. Vgl. den Abdruck des Liedes in Heinen (Hg.): Mutabilität [Anm. 26], S. 216. Brunner faßt das Lied Cormeau 92 (L. 119,17) allerdings als Wechsel auf. Vgl. Horst Brunner: Waithers Wechsel L. 119,17. In: Mück (Hg.): Waither von der Vogelweide [Anm. 6], S. 269-279. Frauenstrophen, die sich nicht aus Gattungszwängen ergeben, begegnen im hohen Minnesang selten, doch lassen sich weitere Belege für solche Frauenstrophen bei Walther und anderen Minnedichtern anführen: etwa Cormeau 36 a, III (L. 184,13), 47, II (L. 71,19) und 48, II (L.71,35) oder aus MF z.B. Dietmar von Eist XV, 3 (40,35), Heinrich von Rugge VI, 4 (103,27) und der in Minnesangs Frühling Rugge zugeschriebenen Strophe VII, 11 (106,15). Vgl. C 401 [418], Ε 42 und U" 28, sowie den Überlieferungsapparat bei Cormeau (Hg.): Waither [Anm. 7], S. 153. Dem korrespondieren weitere sinnverändernde Unterschiede zwischen der fünften Strophe von Kart min frowe süeze siuren? und der Eingangsstrophe von Daz ich dich so selten grüeze, wie beispielsweise die Aufforderung an die Dame im fünften Vers von 45: »Niene trure dü, wis vro!« (Cormeau 45,1, 5), die ebenfalls in C 244 unterbleibt (zum entsprechenden Vers in Kan min frowe süeze siurenf vgl. weiter unten). Zur Deutung von Lied 45 vgl. Carl von Kraus: Waither von der Vogelweide. Untersuchungen. Berlin 1935, S. 272-277, Ehlert: Konvention - Variation - Innovation [Anm. 15], S. 8197, Hans Günther Meyer: Die Strophenfolge und ihre Gesetzmäßigkeiten im Minnelied Walthers von der Vogelweide. Ein Beitrag zur »inneren Form« hochmittelalterlicher Lyrik. Königstein/Ts. 1981, S. 121-125, sowie Nolte: Waither von der Vogelweide [Anm. 20], S. 171-174. Die Reinmar-Überlieferung hält ein Beispiel bereit für die Offenheit mancher Strophen, die mal als Männer-, mal als Frauenstrophen ausgewiesen werden: die fünfte Strophe des Reinmar-Liedes MF VI a (155,38) wird in Α und C als Frauenstrophe gestaltet, in Ε hingegen (MF VI b, 2) als Männerstrophe (vgl. auch Reinmar: Lieder. Nach der Weingartner Liederhandschrift (B). Mhd./Nhd. Hg., übersetzt und kommentiert von Günther Schweikle. Stuttgart 1986, S. 98-105. Wenn C 244 als Frauenstrophe, die Eingangsstrophe von Lied 45 dagegen als Männerstrophe verstanden werden konnte, wäre dies also nicht singulär.
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als Frauenstrophe zu verstehen, was im Strophenkontext nur konsequent erscheint, fordert doch das lyrische Ich der vorangehenden Strophe die frowe zu einer Stellungnahme heraus.84 So gelesen, reagiert die Dame auf die Drohung der Dienstabsage augenblicklich, wie vom lyrischen Ich in der vorausgehenden Strophe verlangt: an der zit. Sie ruft zunächst die traditionelle Minnesituation, den unterlassenen85 oder seltenen Gruß86, ab, doch ist dies nicht affirmativ auf die Tradition bezogen, sondern rhetorisches Mittel, die Werbung des Sänger-Ichs als Redegegenstand zu akzeptieren. Als »Metonymie jedes Verhaltens, das Reziprozität einführt«87, kann erst der Gruß der Minnedame die Werbung des Sängers sich entfalten lassen, wie umgekehrt der verweigerte Gruß die Werbung blockieren kann.88 Indem sie das Stichwort grüezen wählt, bezieht sich die frowe daher exakt auf die zuvor vom Publikum und dem lyrischen Ich aufgestellte Gegenseitigkeitsforderung. Damit ist die Basis bereitet, auf das Werbeargument einzugehen. Die frowe versichert, wenn sie Gegenseitigkeit bisher verhindert habe, so sei dies frei von aller bösen Absicht (än allen argen missetätf9 geschehen. Statt dessen resultiere ihr abweisendes Verhalten aus ihrer festen Überzeugung (ich wil wotf°, daß Liebende (liep mit liebe) einander zürnen sollten, sofern sich dies freundschaftlicher Zuneigung verdanke91: swä ζ von friundes herzen gät. Bleibt diese Aussage auch erklärungsbedürftig, so setzt die frowe immerhin zwei wichtige Signalworte ein: liep und friunt. Wegen des vorangeschickten ich wil, das die eigene Haltung der frowe herausstellt, erwecken sie die Hoffnung, die
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Vielleicht läßt sich auch der in der vorangehenden Strophe verwendete Ausdruck strit als Signal verstehen, daß ab jetzt ein Wortgefecht mit der frowe erwartet werden kann. Vgl. Ingrid Kasten: Das Dialoglied bei Waither von der Vogelweide. In: Müller/Worstbrock (Hgg.): Walther von der Vogelweide [Anm. 18], S. 81-93, hier S. 90, insbes. ebd., Anm. 38. Selten kann wie auch sonst im Minnesang Litotes sein. Vgl. z.B. Morungens Wendung Ich hän sorgen vil gepflegen / und den vrouwen selten bi gelegen. (MF VII, 4, 5f.; 128,29f.). Auch daß in C 244 der Gruß der Dame angesprochen wird, kann als weiteres Argument dafür gelten, daß die Strophe als Frauenstrophe verstanden werden konnte, denn der Gruß der Dame ist im Minnesang gängiges Motiv. Dagegen ist der Gruß des männlichen Ichs im Minnesang eher ungewöhnlich (vgl. Ehlert: Konvention - Variation - Innovation [Anm. 15], S. 94). Daß in Lied 45 das männliche Ich die Worte daz ich dich so selten griieze spricht, erscheint deshalb recht befremdlich. Harald Haferland: Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200. München 1988, S. 143. Daß der Sänger, der um den Gruß der Dame wirbt, seine Werbung (sein Lob) erst fortsetzen kann, wenn der Gruß gewährt wird, zeigt sich deutlich in der zweiten Strophe von Walthers Lied Cormeau 25 (L. 49,12). Vgl. Wilmanns/Michels (Hgg.): Walther von der Vogelweide [Anm. 53], S. 266. Vgl. ebd. Vgl. Ehlert: Konvention - Variation - Innovation [Anm. 15], S. 92.
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frowe könnte sich indirekt selbst als Liebende bezeichnen, was nicht nur ihre Beteuerung, sie hege keine böse Absicht, bestätigte, sondern für das Ich der vorausgehenden Strophe vor allem heißen könnte, sie wolle seine Werbung annehmen. Der Abgesang verdeutlicht, wie das Zürnen gemeint ist. Der erste Vers erinnert mit trüren und wesen fro an das dulce malum92 ovidisch geprägter Liebesdarstellungen der mittelalterlichen Literatur, wie sie in Gottfrieds Tristanprolog ihr wohl prominentestes Beispiel hat: ein ander werlt die meine ich diu sament in eime herzen treit ir süeze sür, ir liebez leit, ir herzeliep, ir senede not93 Der Vers trüren und wesen frö spielt auf solche Aufhebungen von Gegensätzlichem in Oxymora an und akzentuiert so das süeze siuren der ersten Strophe um: es wird nun beinahe eine süeze sür, denn es ist nicht mehr wie aus der Perspektive des Ichs dieser Strophe die Wandlung von Angenehmem in Bitteres gemeint, ein Nacheinander von Affekten, sondern die Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Gefühlsregungen und die Aufhebung beider Komponenten in Ungesagtem.®4 Das anschließende »fast einem Oxymoron gleichkommende«95 sanfte zürnen sere süenen des letzten Verses verstärkt diese Tendenz und bemüht wiederum Ovid, denn der 'Ars amatoria' zufolge bewirkt ein nicht zu lange andauernder Zorn um
92
Vgl. Am II, 9 b, 2 (Publius Ovidius Naso: Liebesgedichte. Amores. Lateinisch und deutsch von Walter Marg und Richard Harder. 6. Aufl. München, Zürich 1984) und Rem 138 (Publius Ovidius Naso: Liebeskunst. Ars amatoria. Heilmittel gegen die Liebe. Remedia Amoris. Lateinisch-deutsch. Hg. u. übers, von Niklas Holzberg. 3., durchges. u. erw. Aufl. München, Zürich 1991). Vgl. für die mittelhochdeutsche Literatur z.B. die entsprechende Formulierung Veldekes im Eneasroman, V. 263,13: ir vngimach ist süze (Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Die Berliner Bilderhandschrift mit Übersetzung und Kommentar. Hg. von Hans Fromm. Mit den Miniaturen der Handschrift und einem Aufsatz von Dorothea und Peter Diemer. Frankfurt am Main 1992).
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Gottfried von Straßburg: Tristan [Anm. 45], W . 58-61. Vgl. Wiebke Freytag: Das Oxymoron bei Wolfram, Gottfried und anderen Dichtern des Mittelalters. München 1972, S. 9-12. Nolte: Waither von der Vogelweide [Anm. 20], S. 172.
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so beglückendere Freuden der Liebe (Veneris gaudia)96, ein Gedanke, der der hochmittelalterlichen Literatur nicht fremd ist.97 Die frowe wendet sich somit an einen Ovid-Kenner, der ihre Zurückhaltung als Ars versteht, als ein Mittel, das den Regeln der Liebeskunst verpflichtet ist. Das Praeceptum: 'milde zürnen, sich heftig versöhnen' gehöre zur Minne (das der minne reht), die herzeliebe, eine tief empfundene Liebesfreude, bewirken wolle.98 Mit herzeliebe stellt sie einen Bezug zur Minnedefinition der dritten Strophe her: minne ist zweier herzen wunne. Wurde zuvor Minne als Glück definiert, so spricht die frowe nun über Freude, liebe, die von Herzen kommt, doch bleibt unklar, ob auch für sie Gegenseitigkeit die Voraussetzung fur liebe ist99, denn von der Freude zweier Herzen ist nicht die Rede. Wie in den Dialogliedern Walthers beherrscht die frowe auch in dieser Strophe die »Kunst des indirekten Sprechens«.100 Sie geht auf das Werbeargument ein, benützt Worte wie liep,friunt und herzeliebe, verteidigt ihre Zurückhaltung außerdem als Liebeskunst und läßt im Rekurs auf die 'Ars amatoria' vielleicht sogar die Vorstellung einer Liebeserfullung zu, doch macht ihre Rede nicht deutlich, ob sie deshalb auch die Gegenseitigkeitsforderung tatsächlich beherzigen und die Werbung annehmen wird. Entsprechend reagiert das lyrische Ich in der letzten Strophe, C 245 [254], Es ist offenkundig mit der Rede der frowe unzufrieden, da der Aufgesang mit der Aufforderung beginnt: du solt eine rede vermiden frowe. Daß sie dies tue, traue das Ich der Wohlgesittetheit (zühten) der frowe zu. Welche Rede aber ist gemeint? Die nächsten Verse beschreiben sie als eine Rede, die das Ich so hassen
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Vgl. Ars Amatoria II, 437-460 [Anm. 92]. Vgl. die Ausführungen Kerns zur Stelle (Peter Kern: Aller werdekeit einfliegerinne'(L. 46,32) und herzeliebe bei Walther von der Vogelweide. In: bickelwort und wildiu msere. Fs. Nellmarm. Hg. von Dorothee Lindemann u.a. Göppingen 1995, S. 260-271, hier S. 270f.). Kern verweist auf Gottfrieds 'Tristan' (vgl. ebd., S. 270). Vgl. allgemein zum Einfluß der Ovid-Rezeption auf den Minnesang Herbert Kolb: Der Begriff der Minne und das Entstehen der höfischen Lyrik. Tübingen 1958, S. 290-305. Wir verstehen mit Wilmanns/Michels und Kem den Satz diu herzeliebe will also als Relativsatz. Vgl. Wilmanns/Michels (Hgg.): Walther von der Vogelweide [Anm. 53], S. 266, und Kern: 'Aller werdekeit ein föegerinne' [Anm. 96], S. 269. Zu herzeliebe vgl. ebd., S. 271, sowie Ingrid Kasten: Der Begriff der 'herzeliebe' in den Liedern Walthers. In: Mück (Hg.): Walther von der Vogelweide [Anm. 6], S. 253-267, bes. S. 263. Zur Kritik der Forschung, die herzeliebe mit der Gegenseitigkeitsforderung in Verbindung bringt, vgl. zuletzt Kern: 'Aller werdekeit ein föegerinne' [Anm. 96], bes. S. 266f. Kasten: Dialoglied [Anm. 84], S. 83.
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würde wie die schlechter, böser Damen (als die argen sprechent)m, die, wo es um Lohn geht, sagten: 'besäße er die Voraussetzungen zum Erfolg (sadde), täte ich ihm wohl', anders gewendet: 'da er keine ssdde hat, wäre mein Lohn nutzlos'.102 Wer so etwas sage und Taten (werke) vermeide, sei selbst unsaslic, nicht im Besitz der Qualitäten, Erfolg und Glück in der Minne zu spenden.103 Die Rede solcher Minnedamen wird als verlogen gebrandmarkt, da sie mit (falschen) Unterstellungen ausbleibendes Handeln rechtfertige. Eine Äußerung dieser Art möge die frowe unterlassen. Auf ihre vorangegangenen Ausfuhrungen bezogen, kann dies nur heißen, daß das lyrische Ich sie als zu vage begreift und die Möglichkeit erwägt, sie könnten so gemeint sein wie die Worte der argen. Gemeinsam ist der vorherigen Rede der frowe und der gescholtenen Rede der Bösen, daß sie Taten vermissen lassen, ein Vorwurf, dem sich auch die frowe aussetzt, denn sie hat allgemein über Minne gesprochen, ovidische Liebestheorie abgerufen, ohne daß deutlich erkennbar geworden wäre, sie werde die von der Ars verheißene Freude auch gewähren. Die Demonstration gelehrter Kennerschaft in Sachen Minne genügt offensichtlich nicht. Die am Ende aufgestellte Opposition von Sprechen und Handeln erinnert an jene von wort und werken im Walther-Lied 6, II (L. 14,6): Minne ist ein gemeinez wort und doch ungemeine mit den werken, dest alsö. Diese Verse korrespondieren mit dem Anfang der nächsten Strophe dieses Liedes: Min gedinge ist, der ich bin holt mir rehten triuwen, daz si ouch mir dasselbe st. Moniert das lyrische Ich in diesem Lied, daß Minne von allen im Munde gefuhrt, aber nicht verwirklicht werde, und erhofft es sich von der Dame, sie verhalte sich
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Das nur in C 245 [254] überlieferte die argen weist zurück auf das ebenfalls nur dort auftretende Epitheton argen in der Rede der frowe, in der es heißt, sie verhalte sich än allen argen missetät, ohne böse Absicht. Deshalb erscheint es auch für diese Stelle sinnvoll, die argen nicht wie Maurer mit »die Geizigen« wiederzugeben (vgl. Waither von der Vogelweide: Sämtliche Lieder. Mhd. und in nhd. Prosa. Mit einer Einführung in die Liedkunst Walthers hg. u. übertr. von Friedrich Maurer. 6. unveränderte Aufl. München 1995, S. 91), sondern sie als böse Damen zu verstehen, die nun gerügt werden wie etwa auch die mala dompna in den provenzalischen Schmähliedem gescholten wird (vgl. Kasten: Dialoglied [Anm. 84], S. 88). Vgl. auch die Unterscheidung zwischen guoten und bcesen Frauen, die nicht gleichermaßen gelobt werden könnten, in Walthers Lied 34, IV (L. 58,35-38), sowie dazu Hahn in Brunner: Walther von der Vogelweide [Anm. 12], S. 76f.
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Vgl. Heinrich Götz: Leitwörter des Minnesangs. Berlin 1957, S. 41, sowie Ehlert: Konvention - Variation - Innovation [Anm. 15], S. 94. Vgl. Götz: Leitwörter [Anm. 102], S. 50f.
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anders und löse Minne ein, indem sie sie erwidere, so stellt auch das Ich in Kart min frowe süeze siurenl allgemeines Reden über Minne in Frage. Solange die frowe theoretisiert, bleibt zweifelhaft, ob sie sich schließlich nicht genauso verhalten wird wie die, die mit vorgeschobenen Begründungen Lohn verweigern. So wird das indirekte Sprechen der frowe im nachhinein problematisch, da es zu etwas vereindeutigt werden könnte, das ihren zühten dem Ich zufolge nicht ansteht, nämlich Gegenseitigkeit und damit Minne zu versagen. Das letzte Stichwort des lyrischen Ichs lautet werke. Es bleibt am Schluß einem Anspruch treu, der schon am Ende der ersten Strophe aufschien, seinem Begehren. Mit Worten ist solchem Aspekt von Minne nicht genüge getan. Daher steht die Rede über Minne am Schluß des Liedes in Opposition zu Taten und findet mit dieser Option ihr Ende. Κ an min frowe süeze siurenl läßt sich als »Abschiedslied«104 verstehen, doch nicht nur als Distanzierung vom »klassischen Minnesang«105, sondern vom Sang überhaupt. Es führt vor, wie alle am Spiel Beteiligten vor dem Anspruch einer angemessenen Rede über Liebe versagen: das lyrische Ich, das gleich zu Anfang als unfähig zu urteilen ausgewiesen wird und sich im Verlauf des Liedes der Meinung anderer anschließt; das Publikum, das auf die Frage nach dem Leid eines Liebenden keine Antwort weiß und dem Ich schließlich die (neue) Idee einer Gegenseitigkeit eingibt, die freilich von der frowe mitgetragen werden muß; und die frowe, die die Forderung lediglich als Redegegenstand aufgreift und gelehrt pariert, so daß sie am Ende dem Verdacht der Unaufrichtigkeit ausgesetzt ist. Wenn alle Instanzen, die etwas zum Minnesang zu sagen hätten, als unfähig oder zumindest fragwürdig vorgeführt werden, erweist sich der Sang als zweifelhaftes Unternehmen. Dies erfährt eine Verstärkung dadurch, daß auf einer zweiten Ebene das Singen selbst als Gegenstand des Liedes erscheint.106 Dabei wird der kunstvolle Diskurs über Minne immer wieder als zugleich weit vorangekommen und dennoch begrenzt ausgewiesen. So stellt das Lied bereits zu Beginn eine Verständigung darüber her, daß die traditionelle Minnesituation allenfalls noch ein Dienstaufsagelied erlaubt. Wie andere Walther-Lieder schließt es an Hartmanns 'Unmutslied' (MF XV; 216,29) an107 und gibt sich auf diese Weise von Anfang an als Teil eines literarischen Kontextes zu erkennen. Auf seine eigene Literarizi-
104
Wenske: »Schwellentexte« [Anm. 11], S. 84.
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Vgl. ebd. Darauf macht schon Bein für Lied 44 aufmerksam. Vgl. Bein: Walther von der Vogelweide [Anm. 13], S. 104f.
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Vgl. u.a. Kasten: Dialoglied [Anm. 84], S. 93.
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tät verweist es auch durch die gleich eingangs gewählte Form der Revocatio, denn sie deutet darauf, das lyrische Ich und seine Rede als fiktiv zu verstehen, weil sie klar macht, daß die Aussage des Ichs dichterisch hervorgebracht wurde, um widerrufen zu werden.108 Ebenso wird die Minnediskussion der zweiten Strophe in ihrer Literarizität kenntlich gemacht. Sie läßt an positive Konnotationen von Minne denken, wie sie etwa in Veldekes blideschaft-Liedern gegeben sind109, und berührt gleichzeitig die im Minnesang geführte Debatte über den Begriff Minne. Damit baut sie nicht nur auf früheren Problemstellungen wie Hausens Frage Waz mac daz sin daz diu weit heizet minnel (MF XV, 3; 53,15)110 auf, vielmehr ruft das Stichwort heizen auch weitere Strophen aus 'Minnesangs Frühling' in Erinnerung, in denen Minne überdies als Sprachproblem behandelt wird, allen voran Morungens Sit siu herzeliebe heizent minne (MF 132,19).'11 Hinzu kommt, daß die in dieser Strophe angesprochene Leidthematik allgemein gehalten, nicht aber als Leiderfahrung des lyrischen Ichs ausgestaltet wird112, so daß sie als Konstituens eines Sangs erscheint, der nicht mehr zur Ausfuhrung gelangt. Die dritte und vierte Strophe enthalten vornehmlich Anklänge an Walther-Texte, etwa an die vierte Strophe von Bin ich dir unmsere (Cormeau 25, L. 50,19), in der die Gegenseitigkeitsidee variiert wird, oder an das SumerlatenLied (49, L. 72,13), das die Dame als abhängig vom Lob des Sängers erweist. Verhält es sich so, daß damit solche Lieder als bereits bekannt vorausgesetzt werden"3, dann erweist sich Walthers Kunst ähnlich wie zum Beispiel auch die Morungens114 als bereits zitierfähig und spielerischer Verwendung zugänglich. Aber selbst wenn hier nicht zitiert werden sollte, wird immerhin ein Sang evoziert, der so weit geht, Gegenseitigkeit zu fordern und die Dame als Produkt des Sängers zu entlarven. Mitgedacht werden soll eine so sehr fortgeschrittene Liedkunst jedoch nur einer größeren Fallhöhe wegen, denn auch diese Kunst bleibt ohne Erfolg. Das zeigt sich in den letzten beiden Strophen, wenn die Dame ihre traditionelle Zurückhaltung wiederum in Literatur, diesmal in die amatorischen Schriften Ovids, einbettet und auf diese Weise statt einer eigenen Position
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Vgl. Heinrich Siekhaus: Revocatio. Studie zu einer Gattungsform des Minnesangs. In: DVjs 45 (1971), S. 237-251, hier S. 238 und 241. Vgl. z.B. Heinrich von Veldeke, MF V (59,23), VI (60,13) oder XXXIII (68,6). Vgl. Anm. 53 dieses Beitrags. Vgl. Huber: Wort sint der dinge zeichen [Anm. 62], S. 94. Vgl. Anm. 73 dieses Beitrags. Da nicht ausgeschlossen werden kann, daß das lyrische Ich die Gegenseitigkeitsidee als Auffassung anderer weitergibt, ist die Annahme, hier werde mit bereits Bekanntem gespielt, nicht unwahrscheinlich, wenn auch prinzipiell nicht entschieden werden kann, welches Lied dem anderen jeweils vorausging. Vgl. Morungens Lied MF XI b, 2,6f. (132,8f.), bzw. VI a, 3, lf. (127,23f.).
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eine Theorie vorbringt, so daß das Ich befürchten muß, sie könne es mit ihren Worten ähnlich hinhalten wie die gescholtenen Damen den Minnesänger, der Lohn fordert. So kunstvoll Worte über Minne auch gestaltet werden, laufen sie doch sämtlich ins Leere, gelingt es der Kunst nicht, das herbeizuführen, worüber sie spricht: Minne. Wenn das Lied mit dem Stichwort werke ausklingt, dann bleibt eine Forderung im Raum, die schon an seinem Beginn im Wort von der Liebe, die blind macht, mitschwang, ein Wort, durch das das Ich wie ein Begehrender erschien. Als Torheit nicht nur durch die Tradition, sondern auch im Minnesang ausgewiesen115, ist der Eros doch seit jeher eine Komponente des Sangs, die allerdings, je feiner der Diskurs gestaltet wird, immer mehr zu entschwinden droht. In Kan min frowe süeze siurenl wird er noch einmal eingeklagt als etwas, vor dem das Sprechen über Liebe versagt. Da sich alle sechs Strophen zumindest dieser Interpretation nach ohne Widersprüche zu einer sinnvollen Gesamtaussage fügen, erfahrt der Überlieferungsbefund, daß C mit Kan min frowe süeze siuren? ein eigenes Lied präsentiert, Bestätigung. Zwar werden, wie eingangs erwähnt, die einzelnen Strophen des Liedes von mehreren Handschriften auch anderen Liedkontexten, Saget mir ieman, waz ist minnel (Lied 44) und Daz ich dich so selten grüeze (Lied 45), zugeordnet, doch stellt dies die Eigenständigkeit des Strophenkomplexes nicht in Frage. Vielmehr erscheint es nunmehr wenig überzeugend, die ersten vier Strophen des Liedes zu separieren und als eine der Fassungen von Saget mir ieman, waz ist minnel anzusehen. Offen bleiben muß dagegen, wie es dazu gekommen ist, daß die Strophen in C als ein Ganzes wiedergegeben werden. Ob sie den Ausgangspunkt für die beiden anderen Lieder bildeten oder ob in 44 und 45 bereits die entsprechenden Strophen vorhanden waren, so daß sie miteinander zu einem neuen Lied verknüpft werden konnten, ist nicht zu entscheiden. Noch weniger läßt sich die Frage klären, wer als Verfasser des Liedes gelten könne. Es kann auf Walther zurückgehen, auf die Kombinationskunst eines an der Überlieferung beteiligten Anonymus oder auf den C-Redaktor.
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So z.B. in Veldekes Lied MF I (56,1), den Veldeke-Strophen MF II a, 3 und 5 (57,26 u. 58,3), und MF IIb, 3 (58,3).
PETER GÖHLER
Textabwandlung in der Minnelyrik Walthers von der Vogelweide. Zwei Beispiele Die überlieferungsgeschichtlich orientierten Forschungen zur Lyrik und zur Epik des hohen Mittelalters haben erwiesen, daß der handschriftlichen Überlieferung ein hoher Erkenntniswert hinsichtlich der Prozesse des literarischen Lebens zukommt. Unsere Vorstellungen von den literaturgeschichtlichen Vorgängen haben sich dank dieser Ergebnisse erheblich differenziert. Das berührt u.a. die Fragen nach dem Autor und nach dem Begriff des literarischen Werks sowie nach der Bedeutung der sich im literarischen Leben herausbildenden Fassungen. Das will ich nicht rekapitulieren; ich will auch nicht die theoretischen Probleme entwickeln, sondern lediglich zwei Walther-Gedichte1 besprechen, die in diesen Zusammenhängen mit ihren Problemen des Strophenbestandes, der Strophenfolge und der Textabwandlung interessant sein können und vielleicht auch weitere Aufschlüsse geben. Eine möglichst breite Materialbasis zu gewinnen scheint mir notwendig, um die übergreifenden theoretischen Fragen (etwa die nach der Individualität des Autors oder die nach dem Werk, seinem Wesen, seiner Offenheit für Abwandlung und Einfunktionierung, für Anpassung an Publikumsinteressen und Hörererwartungen) zuverlässig und mit Gewinn für den Umgang mit den tatsächlich überlieferten Texten abwägen zu können. Die Dichte und Verbindlichkeit der Strophenbindung ist in den Minneliedern2 Walthers von sehr unterschiedlicher Art und Intensität. Sie differenzierend zu erfassen und auf ihre Wirkungsmechanismen hin zu befragen, das ist für die Erfassung des ästhetischen Wesens und für das richtige Verständnis der Wirkungsmöglichkeiten der Minnelyrik Walthers von Belang.3 So zeichnen sich u.a. die Gedichte Ir reinen wip, ir werden man (Nr. 43, L. 66,21), Min frowe ist ein ungencedic wip (Nr. 29, L. 52,23) oder Hie vor, do man so rehte minneclichen
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Die Gedichte Walthers werden zitiert nach: Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche, 14., völlig neu bearbeitete Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner hg. von Christoph Cormeau. Berlin/New York 1996. Verweise auf Texte Waithers erfolgen unter Angabe der üblichen Lachmann-Ziffem. In der Sangspruchdichtung liegen die Dinge m.E. grundsätzlich anders: Hier ist die innere Geschlossenheit und Selbständigkeit des einzelnen Gedichts (der einzelnen »Strophe«) eines Tons das Primäre. Das berührt sich mit Thomas Beins Bemühungen um die Ermittlung von Varianztypen. Vgl. seinen Beitrag in diesem Band.
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Peter Göhler
warp (Nr. 25, L. 47,36) durch große innere Beweglichkeit aus, die sich in der Vielfalt der möglichen Strophenverbindungen und Strophenfolgen äußert (und zum Teil in der Überlieferung niederschlägt).4 Demgegenüber ist etwa das 'Lindenlied' (Nr. 16, L. 39,11) durch Eindeutigkeit der Strophenbindung und -abfolge und Stabilität des Textes im Detail gekennzeichnet - sicherlich auch auf Grund des epischen Elements dieses Gedichts, das die Abfolge der Erinnerung des redenden Ich fixiert. I Die mir in dem winter... (Nr. 50) L. 73,23 Nimmt man das Gedicht, wie es fünfstrophig in den Ausgaben (und in Hs. A) steht, so halten sich die Probleme augenscheinlich in Grenzen. Wilmanns nannte es »ein allerliebstes, durch und durch humoristisches Lied, mit dem der Sänger der Gesellschaft den ersten Willkommen im Frühling bietet.«5 Von besonderem Interesse ist der Schluß des Gedichts. Die Namensforderung, der sich der Dichter in L. 63,32f. und in L. 98,26f. konfrontiert sieht, erfüllt er solchermaßen gedrängt - scheinbar in unserem Gedicht. Wilmanns meinte, daß Walther hier die Sitte der Troubadours, für die gepriesene Herrin Verstecknamen zu gebrauchen, originell anwendet.6 Mir scheint die Art, in der Walther die ungewöhnliche Pointe inszeniert, bemerkenswert zu sein. Es wäre vorstellbar, daß der Abgesang der letzten Strophe sofort mit Mines herzen tiefe wunde, diu muoz iemer offen sten, sine werde heil von Hiltegunde (L. 74,18f.) schlösse. Warum nicht? Metrik und Reim stimmten, das Gedicht hätte einen pointierten Schluß, der effektvoll aus dem Konventionellen ausbräche. Walther scheint aber zunächst ganz traditionell zu schließen:
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Vgl. Jan-Dirk Müller: Walther von der Vogelweide: Ir reinen wip, ir werden man. In: ZfdA 124 (1995), S. 1-25; ders.: Die frouwe und die anderen. Beobachtungen zur Überlieferung einiger Lieder Waithers. In: Walther von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988 zum 65. Geb. von Karl-Heinz Borck. Hg. von Jan-Dirk Müller und Franz Josef Worstbrock. Stuttgart 1989, S. 127-146; Thomas Bein: Vier Handschriften, ein Ton, sieben Strophen, zwei Lieder: Beobachtungen zu Waither 29 (L. 52,23). In: ZfdPh 116 (1997, Sonderheft), S. 182-190. Waither von der Vogelweide. Hg. und erklärt von W. Wilmanns, zweite vollst, umgearbeitete Ausgabe. Halle 1883, S. 290. Wilmanns, 1883 [Anm. 5], S. 292.
Textabwandlung in der Minnelyrik
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Mines herzen tiefe wunde, diu muoz iemer offen sten, si enküsse mich mit friundes munde (L. 74,14f.), um dann jedoch in einer Wiederholung des Abgesangs mit einer leichten Abwandlung des Textes (nicht des Gedankens) fortzufahren: mines herzen tiefe wunde, diu muoz iemer offen sten, si enheiles uf und uz von gründe (L. 74,16f.). Das spannungsvolle Verhältnis zwischen dem wunden und dem heilen findet sich auch in der Strophe L. 98,26, die auch das fragende Drängen des Publikums enthält, um wen Walther denn diene. Damit sprengt Walther die geschlossene und über mehrere Strophen hinweg memorierte Strophenform und weckt auf diese Weise die Aufmerksamkeit der Hörer: - da kommt noch etwas! Das kann auch durch Gestik des Vortragenden7 wirkungsvoll unterstrichen worden sein. Auch eine leichte Abwandlung der Melodiefuhrung am Ende des ersten Durchlaufs des Abgesangs kann zu gespannterer Aufmerksamkeit beigetragen haben. Diese erste Wiederholung des Abgesangs enthält nun allerdings noch nichts sonderlich Überraschendes eigentlich nur eine geringfügig modulierte Bekräftigung des schon Gesagten.8 Aber allein die Tatsache der Wiederholung des Abgesangs, die vielleicht durch Gestik und Melodiefuhrung akzentuiert worden ist, könnte als Andeutung verstanden worden sein, daß der eigentliche Abschluß noch aussteht, dürfte den Hörer auf etwas Ungewöhnliches eingestellt haben. Und indem der Sänger zur zweiten Wiederholung ansetzt, wird nun auch klar: Aha, das war's noch nicht, jetzt kommt's erst. Die Aufmerksamkeit ist aufs höchste gespannt. Die überraschende Namensnennung, die nun, solcherart effektvoll vorbereitet, am Ende der zweiten Wiederholung des Abgesangs steht, bricht scheinbar das Tabu, den Namen der verehrten Frau preiszugeben. Aber nur scheinbar. Denn indem Walther von einer Hiltegunde singt, wird klar, daß er tatsächlich nur mit dem eigenen Namen spielt und seine Hörer bezüglich des Namens der Geliebten täuscht - i h n weiterhin verschweigt. (Vielleicht, daß ein Vortrag von Nr. 67,
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Vgl. zu dieser Problematik: Helmut Tervooren: Die Aufführung als Interpretament mittelhochdeutscher Lyrik. In: 'Auffuhrung' und 'Schrift' in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Jan-Dirk Müller. Stuttgart 1996, S. 48-66. Mit der leichten Abwandlung des Textes, die diese erste Wiederholung des Abgesangs bringt, schafft Waither zugleich eine Modulation, die zum Text des definitiven Schlusses überleitet: si enheiles (74,17) - sine werde heil (74,19).
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L. 97,34 oder Nr. 40, L. 63,329 vorausgegangen war, so daß die scheinbare Offenlegung des Verhältnisses ihren Bezugspunkt im Vortragsprogramm erhielt.) Die Pointe ist also eine doppelte: Tabubruch durch Namensnennung und doch zugleich Verhüllung derselben. Aber nicht nur das. Wir verstehen Minnesang als ein Spiel, in dem der Vortragende sich als Werbender und von seiner Werbung Singender darstellt. Die Fiktion der Identität des ich wirbe und des ich singe, d.h. die Unterstellung, daß der Sänger auch der Werbende ist (die in L. 66,21 deutlich verabschiedet wird10), wird in L. 73,23ff. durch die (vorgetäuschte) Namensnennung spielerisch bekräftigt - bei gleichzeitiger, unausgesprochener, aber dem mit der Konvention des Minnesangs Vertrauten erkennbarer Demaskierung des Spiels, indem einerseits durch die Namensnennung unterstellt wird, daß Walther von eigener Partnerbeziehung singt, indem aber zugleich durch den Namen Hiltegunde der Spielcharakter des Ganzen in origineller Weise offenbart wird. Diese Pointe setzt voraus, daß die Sage von Walther und Hiltegunde bekannt war. Das ist an sich eine interessante Tatsache und für die Geschichtsschreibung der deutschen Heldendichtung bedeutsam. Ich verweise auf die Anspielungen im 'Nibelungenlied' (1756,2344)11 und die Fragmente eines Walther-Epos. Die Pointe setzt aber auch voraus, daß der Vortragende selbst Walther heißt oder daß das Publikum doch mit dem klaren Bewußtsein folgt, ein Lied von Walther von der Vogelweide zu hören.12 Das bedeutet übrigens, daß eine autorbezogene Rezeptionshaltung wirkt. Diesen Umstand sollten wir (vor dem Hintergrund der Diskussion über den Autor in mittelalterlicher Dichtung) nicht übersehen. Diese beiden Bedingungen müssen gegeben sein, sonst wirkt die Pointe nicht, ja sonst kann sie gar nicht verstanden werden. Sind diese Bedingungen nicht 9
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Es handelt sich um ein Gedicht, das auch sonst Berührungen mit 73,23 aufweist. Vgl. den Angriff Waithers gegen die schamelosen (64,4), mit denen sich Waither auch in 73,23 schlägt. Vgl. Müller, Ir reinen wip [Anm. 4], Für den Erzähler des 'Nibelungenliedes' lag es natürlich auf der Hand, an Hagens frühen Aufenthalt am Etzelhof zu erinnern, wenn er beim Publikum Kenntnis der Walthersage voraussetzen konnte. Zumal jedenfalls die zweite Erinnerung (2344) etwas Brisanz ins Verhältnis zwischen Hildebrand und Hagen bringen konnte. Ein anderes, aber vergleichbares Spiel mit dem Namen des Dichters wirkt im Durchbrechen der Reimbindung in dem 'Divan'-Gedicht Goethes 'Locken haltet mich gefangen' aus dem Buch 'Suleika': Nachdem zwei Strophen den Kreuzreim a-b-a-b eingeübt haben, heißt es: Du beschämst wie Morgenröte Jener Gipfel ernste Wand, Und noch einmal fiihlet Hatem Frühlingshauch und Sommerbrand. (Goethe, Poetische Werke, Berliner Ausgabe, Bd. III. Berlin 1973, S. 99.)
Textabwandlung in der Minnelyrik
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gegeben, kann der schließende Text nur als wirkliche Enthüllung des Namens der Geliebten verstanden werden. In dem Moment, da sich der Vortrag deutlich von der Person Walthers löst, ist das Gedicht eigentlich nur mit dem einfachen Abgesang möglich, wenn nicht jener völlig andere Sinn entstehen soll. Wenn das Gedicht ohne die zweifache Wiederholung des Abgesangs in der Handschrift Ε erscheint, so ist eben dieser Abstand von Walthers Person eingetreten.13 Insofern gibt es zwischen Ε 55-57 und C 369-371 einen bedeutenden Unterschied. Das muß bei den Überlegungen zum Verhältnis der Handschriften bedacht werden. Thomas Bein merkt zu Handschrift Ε an14, daß das Sammlerinteresse eine Tendenz zum Komischen, Parodistischen zeige. Dann ist es natürlich besonders auffallend, daß die Pointe in Ε fehlt. Das heißt: Auf dem Überlieferungsweg bis zu Ε muß sich die von mir besprochene Ablösung des Gedichts von der Person Walthers (oder der Verlust der Sagenkenntnis) vollzogen haben, und zwar endgültig. Denn sonst wäre die Pointe sicher in Ε bewahrt worden. Die Pointe war dem Sammler von Ε nicht mehr bekannt. Denn diese Sammlung ist sich doch dessen bewußt, daß Walther-Texte zusammengetragen werden, d.h., es hätte aus der Entstehungssituation der Sammlung heraus keinen Grund gegeben, die Pointe fallen zu lassen. Sie muß daher bereits der Vorlage von Ε gefehlt haben. Man kann evtl. noch einen Schritt weiter gehen und für möglich halten, daß die in Ε vorliegende Version der Schlußstrophe (letztlich) auf einen Gedichtsv ο r t r a g ohne jene Pointe zurückgeht und nicht in der Weise entstanden ist, daß die Pointe im Prozeß des A b schreibens fallen gelassen wurde. Denn was sollte einen Kopisten zu einem solchen Eingriff veranlaßt haben? Korrekturbedürfiiis angesichts der aus den Fugen geratenen Strophenform, Wissen um die Anonymitätsregel oder Hilflosigkeit gegenüber dem Text, den er wegen fehlender Kenntnis der Sage nicht mehr nachvollziehen konnte? Ich würde vermuten, daß diese dreistrophige pointenlose Fassung des Gedichts (vielleicht relativ früh) aufs Pergament geraten ist, als ein Sänger auf die Pointe verzichtete, da er (ihren Mechanismus evtl. durchaus erfassend) erkannte, daß sie vom Publikum wegen des Fehlens wenigstens einer der oben genannten Bedingungen ihres Funktionierens nicht würde nachvollzogen werden können. Mit Blick auf dieses Gedicht scheidet m.E. eine gemeinsame schriftliche (direkte oder mittelbare) Vorlage für beide Handschriften aus.
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Der Wegfall der Pointe kann sich dort vollzogen haben, wo sie nicht mehr verständlich war - sei es, weil kein Walther vortrug, oder sei es (was ja auch möglich ist), weil dem Vortragenden die Walther-Hildegunde-Sage nicht mehr bekannt war. Vgl. Bein, [Anm. 4] S. 187.
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Demgegenüber bewahrt C (wie auch A) also entweder mit Bewußtheit (autorbezogen) die Walther-Hildegunde-Pointe oder versteht das Gedicht einschichtig und falsch als wirkliche Enthüllung des Namens der Geliebten. Jedenfalls ist das Verständnis der Namensnennung (wirkliche Enthüllung oder gespielte, aber verweigerte Enthüllung) abhängig von der Aufführungssituation (singt Walther oder e i η Walther bzw. ein Sänger, der deutlich autorbezogen ein W a 11 h e r - Gedicht vorträgt) und den spezifischen Rezeptionsvoraussetzungen seitens des Publikums (Sagenkenntnis, Orientierung auf Texte eines bestimmten Dichters). Die Überlieferung wirft zusätzlich zu den bereits besprochenen Fragen weitere Probleme auf. Dieses funfstrophige Gedicht ist in drei Hss. (ACE) mit unterschiedlichem Strophenbestand überliefert. Handschrift Α hat alle fünf Strophen (mit der Hildegunde-Pointe). In C finden sich zwar auch alle fünf Strophen, aber an zwei verschiedenen Stellen: C 260/261 (Str. III und IV) und C 369-371 (Str. I, Π und V, mit der Hildegunde-Pointe), während Handschrift Ε nur diese Dreiergruppe (Strophe I, II und V) - ohne die Hildegunde-Pointe - enthält. Kann man hinsichtlich der Überlieferung in C davon sprechen, daß C diese fünf Strophen als zwei selbständige Gedichte auffaßte? Die Frage scheint sich zu erübrigen, da sich neben C 260 und C 370 Verweiszeichen finden, in C also durchaus der Zusammenhang der fünf Strophen (wenn auch erst im Nachhinein nach der Aufzeichnung) signalisiert wird.15 Die Frage nach der möglichen Selbständigkeit der drei bzw. zwei Strophen bleibt jedoch insofern bestehen, ja sie wird bekräftigt, als Ε nur die zweite Strophengruppe von C kennt. Das heißt: Die dreistrophige Form (mit oder ohne Pointe) weist also eine gewisse Stabilität auf. Ist sie in sich schlüssig? Ist der Überlieferung C 369-371 also eine gewisse Selbständigkeit zuzubilligen? Die funfstrophige Fassung ist die thematisch umfassendste und in sich durchaus schlüssig: Nach allgemeinerer Auseinandersetzung des Sängers mit seiner Umgebung (die sich mit manchen anderen Texten berührt, z.B. auch mit L. 58,30) leitet er zu seinem Verhältnis zur Geliebten (L. 74,2) über, die allen Ärger zu tilgen vermag. Und bei diesem Thema bleibt der Sänger nun, wobei der Schluß der dritten wie auch der vierten Strophe bereits den wesentlichen Inhalt der fünften Strophe antizipiert. Das ist durchaus ein Ganzes, wenn auch vorstellbar ist, daß dies oder jenes entbehrlich ist und wenn auch festzustellen bleibt, daß
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Bleibt natürlich die Frage, warum es zu der geteilten Überlieferung des Gedichts kommt. Schreibermißgeschick oder Reflex variierender Vortragspraxis? Das letztere scheint mir wahrscheinlicher zu sein.
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die Verbindungen zwischen den Strophen (außer zwischen I und II16) nicht unabdingbar und zwingend sind. Auch die dreistrophige Version (wie in C 369ff. und in E) ist sinnvoll und nachvollziehbar, wenn auch der Übergang zur Minnethematik in der letzten (nun dritten) Strophe etwas abrupt kommt. Aber das ist nicht unbedingt etwas Ungewöhnliches. Die zweistrophige Fassung, die C 260f. bietet, ist zwar notfalls auch selbständig denkbar, scheint aber zumindest mit ihrer ersten Strophe (Watt sol sin gedultic ...) etwas in der Luft zu hängen. Ihr Verständnis und ihre Rezeptionsmöglichkeit hängt natürlich immer sehr vom Vortragszusammenhang ab. Wir haben also strenggenommen vier verschiedene Texte (die obendrein verschiedene Verständnismöglichkeiten des Schlusses von A 120 und C 371 einschließen). Da diese jeweils von gewisser Selbständigkeit (bei grundsätzlicher Ähnlichkeit in Inhalt, Anlage und Art der Durchführung) sind, ist von Fassungen zu sprechen. Und wenn ich zunächst einfach von 'dem' Gedicht gesprochen habe, so ist das demzufolge eine Vereinfachung. Bezüglich des genetischen Zusammenhangs der Fassungen und insbesondere über das Verhältnis der Fassungen in C und in Ε wird man über Vermutungen wohl nicht hinauskommen.17 II Die zwivelcere sprechent... (Nr. 34) L. 58,21 Das Gedicht Die zwivelcere sprechent, ez si allez tot ist durch eine verwirrende Überlieferungslage gekennzeichnet:
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Sie sind in allen Handschriften und in dieser Abfolge vorhanden. Leider kenne ich die Arbeit von Ingrid Bennewitz über die Würzburger Liederhandschrift noch nicht.
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Β
C
Ε
F
58,21: Die zwivelasre sprechent....
14
L ./ Cormeau 58,21: Die zwivelasre sprechent ....
Blattverlust?
58,21: Die zwivelasre sprechent....
58,21 .Die zwivelasre sprechent....
59,19: Ich wände daz si wsere...
59,19: Ich wände daz si wsere...
59,19: Ich wände daz si wsere...
59,19: Ich wände daz si wsere...
58,30: Die losen scheltent ...
59,1: Ich bin iu eines dinges...
59,10: Der also guotes wibes...
59,28: Ich han iu geseit
59,10: Der also guotes wibes...
59,28: Ich han iu geseit
58,30: Die losen scheltent ...
59,10: Der also guotes wibes...
59,\ : Ich bin iu eines dinges...
58,30: Die losen scheltent ...
59,28: Ich han iu geseit 58,30: Die losen scheltent... Die Ausgaben bieten folgendes Bild. Lachmann urteilte über das Gedicht: »Die Anordnung der ... Strophen in den Handschriften ist unerträglich.«18 Und er stellte dann die folgende Strophenreihung her, die sich in den auf Lachmann zurückgehenden Ausgaben bis zur 13. Aufl. erhalten hat: Die zwivelasre sprechent, L. 58,21 Die losen scheltent, L. 58,30 18
Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Hg. von Karl Lachmann, 13., aufgrund der 10. von Carl von Kraus bearbeiteten Ausgabe neu hg. von Hugo Kuhn. Berlin 1965, S. 219.
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Ich bin iu eines dinges holt, L. 59,1 Der also guotes wibes gert, L. 59,10 Ich wände daz si waere, L. 59,19 Ich han iu geseit, L. 59,28 Dabei setzte Lachmann (gefolgt von 3Haupt, 5MüllenhofF, 7Kraus) die letzten drei Strophen leicht von den ersten drei Strophen ab.19 Diese Strophenfolge behielt Kraus auch in der 10. Auflage bei, nur daß er darauf verzichtete, zwei Dreiergruppen voneinander abzuheben.20 Friedrich Maurer schloß sich ihm in seiner Ausgabe an.21 Pfeiffer22 schied die sechs Strophen in zwei Gedichte (also ähnlich Lachmann, aber mit noch deutlicherer Trennung der beiden Strophengruppen): Nr. 40: Der also guotes wibes gert..., Ich wände daz si wcere ..., Ich han iu geseit... Nr. 59: Die zwivelcere sprechent..., Die losen scheltent..., Ich bin iu eines dinges holt... Wackernagel/Rieger23 gaben: Der also guotes wibes gert...
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Dieser Anordnung folgte auch Hermann Paul (Hg.): Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Halle 1882. C. von Kraus räumt ein: »Die eigenartige Verbindung von Polemik und Liebeslyrik, die Walther von der Pflege des Spruches her in manchen Liedern angebahnt hat, macht die Entscheidung« (der Anordnung und Zusammengehörigkeit der sechs Strophen) »für unser Empfinden schwierig.« Er meint aber: »Auf alle Fälle ist Lachmanns Anordnung ... die einzig mögliche.« Carl von Kraus: Walther von der Vogelweide. Untersuchungen. Berlin 1935, S. 231. Und Kraus glaubt, einen überzeugenden Zusammenhang aller sechs Strophen ermitteln zu können, so daß er die Absonderung der ersten drei Strophen von den folgenden, die seit Lachmann in allen Editionen vorgenommen worden war, für unbegründet hält. (Michels war ihm 1924 mit dem Verzicht auf diesen Einschnitt vorausgegangen: Walther von der Vogelweide, hg. und erklärt von W. Wilmanns, vierte, vollständig umgearbeitete Auflage, besorgt von Victor Michels. Halle 1924, S. 236ff.) Kraus bespricht in den 'Untersuchungen' ausfuhrlich den Gedankengang in der Lachmannschen Strophenfolge. Er verzichtet aber darauf zu begründen, warum er die Strophenfolge Die zwivelcere sprechent... - Ich wände daz si wcere ... verwirft, obwohl sie gut dokumentiert ist, da sie sich in allen Handschriften findet, die diese beiden Strophen haben (also in ACE). Die Lieder Walthers von der Vogelweide. 2. Bändchen: Die Liebeslieder. Tübingen 1956. Waither von der Vogelweide. Hg. von Franz Pfeiffer. Leipzig 1864. Walther von der Vogelweide nebst Ulrich von Singenberg und Leutold von Seven. Hg. von Wilhelm Wackernagel und Max Rieger. Gießen 1862, S. 16Iff.
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Ich wände daz si waere ... Ich han iu geseit... und setzen davon ab: Die zwivelasre sprechent... Die losen scheltent... und (erneut abgesetzt): Ich bin iu eines dinges holt... Wilmanns urteilte zunächst: »Die Strophen dieses Tones stehen in keinem engern Zusammenhang.«24 Er druckte die Strophen jeweils mit eigener Überschrift in dieser Reihenfolge: Die zwivelasre sprechent ... Ich wände daz si waere ... Ich han iu geseit... Der also guotes wibes gert ... Ich bin iu eines dinges holt... Die losen scheltent... In der zweiten Auflage korrigierte Wilmanns dann sein Urteil: »Die Strophen dieses Tones stehen in etwas losem, aber doch unverkennbarem Zusammenhang. Sie bilden wie die Töne L. 42,31, 44,35 die Einleitung zu einem Vortrage.«25 Und Wilmanns folgte dann unter Verzicht gesonderter Überschriften fur die einzelnen Strophen der Anordnung der Lachmann-Ausgaben (mit der Kennzeichnung eines Einschnitts nach der dritten Strophe). Michels26 übernahm Urteil und Anordnung von Wilmanns, verzichtete aber darauf, vor L. 59,10 einen Einschnitt zu markieren.27
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Walther von der Vogelweide. Hg. und erklärt von W. Wilmanns. Halle 1869, S. 163. Wilmanns nimmt auch unterschiedliche Entstehungszeit der Strophen an. Walther von der Vogelweide. Hg. und erklärt von W. Wilmanns. Halle 1883, S. 252. Michels [Anm. 20], S. 236ff. Michels erwog auch die Abfolge Die losen scheltent.., Der also guotes wibes .., Ich bin iu eines dinges .., Ich wände daz si wcere .., da die Strophe L. 59,10 an die Strophe L. 58,30 anknüpft [Anm. 20, S. 237]. Tatsächlich stehen die beiden letztgenannten Strophen in drei Handschriften in einem Überlieferungszusammenhang, wenn auch in verschiedener Folge (A gegen CE).
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Wapnewski verzichtete in seiner Auswahl überhaupt auf das Gedicht.28 Man folgte also fast durchweg Lachmanns Anordnung (Pfeiffer, Paul, Maurer), bzw. wich nur geringfügig ab (Wackernagel/Rieger). Am selbständigsten war Wilmanns in der ersten Auflage von 1869; von der zweiten Auflage an näherte er sich Lachmann. Eine grundsätzliche Abkehr von der Konstruktion einer von den Hss. abgelösten Strophenfolge ist nun durch die vierzehnte, von Christoph Cormeau besorgte Auflage der Lachmann-Ausgabe mit dem Rückgriff auf die in der Handschrift C vorliegende Strophenfolge vorgenommen worden. Der Umfang des Gedichts ist in der Überlieferung starken Schwankungen unterworfen: Neben 6 Strophen (C) stehen 5 (E), 4 (A), 3 + 1 (B) und 1 Strophe (F). Und auch die Abfolge der Strophen variiert von Handschrift zu Handschrift z.T. beträchtlich. Das ist verständlich, wenn man bedenkt, daß die Bindungen zwischen den Strophen von sehr unterschiedlicher Intensität und Deutlichkeit sind. Der einzige engere und eindeutige Zusammenhang zweier Strophen ist eigentlich der zwischen den Strophen Ich wände daz si wcere ... und Ich hart iu geseit..., wobei sich die zweite der beiden Strophen auf die Aussage der ersten bezieht. Das heißt, daß die Strophe Ich han iu geseit... sinnvoll nur nach der Strophe Ich wände daz si wcere... stehen kann. Damit ist aber keinesfalls gesagt, daß diese Strophe unmittelbar nach jener stehen muß (das ist nur in der Handschrift Ε der Fall). Es ist auch denkbar, daß sich andere Strophen zwischen diese beiden schieben und der Sänger erst später auf die angeschlagene Thematik (das Wesen seiner vrouwe) zurückkommt.29 (Das ist z.B. in der Handschrift C der Fall.) Man muß also keinesfalls diese beiden Strophen an den Schluß des Gedichts rücken, wie das die meisten Ausgaben nach dem Beispiel Lachmanns (ohne Stütze in der Überlieferung) tun.30
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Walther von der Vogelweide, Gedichte. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung, ausgewählt, übersetzt und mit einem Kommentar versehen von Peter Wapnewski. Frankfurt/M. 1962. Das perfektivische Ich han .. geseit klingt übrigens ganz danach. Und auch der Schluß der Strophe hie ist (wol) gelobt, lobe anderswo klingt sehr nach Gedichtsschluß. Ich würde die Ergänzung des wol (das durch Β und Ε belegt ist) in der Schlußzeile mit Blick auf L. 58,38 für begründet halten und also der traditionellen Lesart der Zeile den Vorzug geben. Wilmanns benannte 1869 [Anm. 24, S. 164] den Zusammenhang zwischen den beiden Strophen, meinte aber, ihr Gegensatz sei zu groß, als daß sie in einem Liede gesungen worden sein konnten.
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Alle Handschriften lassen die Ich warafe-Strophe vielmehr unmittelbar auf die zwivelcere-Strophe31 folgen. Zwischen diesen beiden Strophen gibt es jedoch keine d i r e k t e n Verbindungen. Diese Abfolge ist also nicht zwingend; sie ist aber erstens durch die Überlieferung gut belegt (und man sollte sich von ihr nicht ohne triftigen Grund entfernen, weshalb Cormeaus Entscheidung zu begrüßen ist), und sie gibt zweitens durchaus einen überzeugenden Sinn, indem sich der Sänger nach der Reflexion über den Wandel der Zeit32 (hin zum Überhandnehmen der gemeinen not) der Frage nach der Wandlungsmöglichkeit der frouwe zuwendet. Das ist ein nachvollziehbarer Gedankengang. Die aufeinanderfolgende Überlieferung der beiden Strophen Die zwivelcere sprechent... und Ich wände daz sie wcere... ist also stabil (wenn man von der besonderen Situation in Handschrift F absieht), obwohl sie thematisch nicht offenkundig verbunden sind. Eine Berührung liegt allenfalls im Thema des Wandels vor, wobei der Sänger in der Ich wande-Strophe dann aber gerade bezweifelt, daß die vrouwe wandelbcere sei, was sich aber wieder gut zum Optimismus des kumt sanges tac, man gehoeret singen unde sagen (L. 58,25) fügt. Der thematische Abstand der beiden Strophen ist also so groß nicht, wenn man für möglich hält, daß Minnesang nicht nur Äußerung zum Problem der Partnerbeziehung, sondern auch grundsätzlicher ein Ausdruck von Lebenshaltung und Gesellschaftsbeziehung im weitesten Sinne ist. Es ist dies ein Zusammenhang, der auch bereits i n n e r h a l b der zvvive/aere-Strophe im Nebeneinander von gemeiner not und der Unmöglichkeit zu singen thematisiert wird. Berücksichtigt man dies, so ist die Fortsetzung mit der Ich wa«mfdMme r I "but, fv! tmr Slfum eefdwhett.irt» tjatt tint owe woktft-w lwtiKlfaife;wttm> ·» »rawwe ich erne nagt cm tal τίΛναί· i hb Mt? fa« « f w jtefWw^gcwagtF / tvfttttfttoTr bvcfori?• no taa »fr altyffi i;-f\\>aiöViv!iitcii«f«n fofnif MV niTT mir ew-gwnjd^Ml- vftevn» 1sm-fi ibtrtd) tov j»r vnmctr-fir fpmn eüSäithefelalfie »rti «n fltw^n w A j ^frfqtarbcfciv-laritfVneno^tne ein Icäic maii-ίη· Wr>!b«i'«nce /•««nie ΛΙ& ötu tfliimtac -»Λίφιοϋ kt> öci«ii whrel«!?«! tttnati Twe wneKh \ uKn'VtftiimrTMr&riivvnfhafbot'iio oDenfteit» mtti.vfiluinti«c • sae lciiTnd» Γο fcltigtSiffe- Cnitrtnül 'S®©«. fdc »w%vei3rv«tSii· «fj nw w 'Inj Mg?ratflfetHC'tcfe\s*iWDl'fcaß ' c tn«ueelib-jmttart> »fcvirtetdjtxJt vntertmc^ lw 1rinmcninvifcltcb mit!icOcJwwiu*wn \w