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German Pages 366 Year 1992
FLORIAN EDINGER
Wahl und Besetzung parlamentarischer Gremien - Präsidium, Ältestenrat, Ausschüsse -
Beiträge zum Parlamentsrecht Herausgegeben von Werner Kaltefleiter, Ulrich Karpen, Wolfgang Zeh in Verbindung mit Peter Badura, Wolfgang Heyde, Joachim Linck Georg-Berndt Oschatz, Hans-Peter Schneider Uwe Thaysen
Band 24
Wahl und Besetzung parlamentarischer Gremien Präsidium, Ältestenrat, Ausschüsse
Von
Dr. Florian Edinger
Duncker & Humblot * Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Edinger, Florian: Wahl und Besetzung parlamentarischer Gremien : Präsidium, Ältestenrat, Ausschüsse / von Florian Edinger. — Berlin : Duncker und Humblot, 1992 (Beiträge zum Parlamentsrecht ; Bd. 24) Zugl.: Frankfurt (Main), Univ., Diss., 1991 ISBN 3-428-07593-5 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0720-6674 ISBN 3-428-07593-5
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde 1991 vom Fachbereich Rechtswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main als Dissertation angenommen. Mein Dank gilt meinem akademischen Lehrer, Herrn Prof. Dr. Hans Meyer, und Herrn Prof. Dr. Manfred Stolleis, der das Zweitgutachten anfertigte. Frau Dr. Monika Böhm verdanke ich wertvolle Anregungen. Ohne das Stipendium nach dem Hessischen Gesetz zur Förderung von Nachwuchswissenschaftlern wäre die Untersuchung nicht möglich gewesen. Den Herausgebern der "Beiträge zum Parlaments recht" danke ich für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe. Die Arbeit widme ich meinen Eltern.
Hofheim am Taunus, im April 1992 Florian Edinger
Inhaltsverzeichnis Erster Teil Die Entwicklung der Regeln zur Besetzung parlamentarischer Gremien seit dem Beginn des Parlamentarismus in Deutschland A. Friihkonstitutionalismus I.
Vorgeschichte
17 17
II. Funktion der Landtage
18
III. Geschäftsordnung der Landtage
20
1. Mangelnde Geschäftsordnungsautonomie
21
2. Fehlen von Fraktionen
22
IV. Die Geschäftsordnungsregeln für die parlamentarischen Gremien und Ämter.. 1. Ausschußorganisation
25 25
a) Baden
26
b) Bayern
27
c) Württemberg
28
2. Präsident und sonstige Ämter
29
3. Verfahren bei Wahlen
30
V. Ansätze eines Fraktionsparlaments
33
VI. Fazit
34
B. Die Frankfurter Nationalversammlung I.
Vorgeschichte
35 35
1. Die gesellschaftliche Entwicklung bis zur Revolution 1848
35
2. Die Entwicklung der antifeudalen Opposition im Vormärz
36
a) Der gemäßigte Liberalismus
37
b) Der demokratische Radikalismus
38
3. Die demokratische Revolution bis zur Wahl der Nationalversammlung a) Die "Märzministerien" in den Ländern
40 40
b) Die Auseinandersetzungen innerhalb der Opposition
41
c) Das Wahlrecht zur Nationalversammlung
42
II. Die Nationalversammlung und ihr Geschäftsverfahren 1. Entstehungsgeschichte der Geschäftsordnung a) Theoretische Grundlagen vor der Revolution
43 43 43
b) Erste Vorarbeiten zu einer Geschäftsordnung der Nationalversammlung 44 c) Die Vorschläge Robert Mohls
44
8
Inhaltsverzeichnis aa) Ausschußbesetzung
45
bb) Aufgaben der Abteilungen und Ausschüsse
48
cc) Ausschußorganisation
48
dd) Besetzung des Präsidiums
50
ee) Aufgaben des Präsidiums
51
ff) Die Plenardebatte
52
d) Die Ausarbeitung der endgültigen Geschäftsordnung 2. Die Geschäftsordnung der Nationalversammlung vom 29. Mai 1848 a) Aufgaben der Ausschüsse
55
b) Ausschußorganisation
56
c) Ausschußbesetzung
57
d) Präsidium
58
e) Plenardebatte
59
f)
59
Fazit
3. Das Geschäftsverfahren in der Praxis der Nationalversammlung a) Bildung von Fraktionen
60 60
aa) Notwendigkeit der Verfahrensstraffung
61
bb) Politische Faktoren
62
b) Bewährung und Fortentwicklung des Geschäftsverfahrens
65
aa) Einschränkung der Antrags- und Redefreiheit
65
bb) Abteilungen
67
cc) Ausschußorganisation
68
dd) Ausschußbesetzung
70
ee) Präsidium
72
4. Abschließende Bewertung
73
C. Die Parlamente in der Zeit des Konstitutionalismus I.
54 55
76
Das preußische Abgeordnetenhaus bis 1867
76
1. Verfassungsrechtliche und politische Rahmenbedingungen
76
2. Die Geschäftsordnung des preußischen Abgeordnetenhauses
79
a) Der Ablauf der Beratungen
79
b) Organisation und Besetzung der Gremien
80
3. Das Geschäftsverfahren in der Praxis
81
a) Fraktionen
81
b) Der Gang der Beratungen
82
c) Die Reform der Geschäftsordnung 4. Vom Konflikt zur Zusammenarbeit II. Der Reichstag 1. Verfassungsrechtliche und politische Rahmenbedingungen
84 85 86 86
Inhaltsverzeichnis 2. Die Geschäftsordnung des Reichstags a) Die Plenardebatte b) Organisation und Besetzung der Gremien 3. Das Geschäftsverfahren in der Praxis
91 93
a) Fraktionen
93
b) Der Seniorenkonvent
93
aa) Entstehung des Seniorenkonvents
93
bb) Aufgaben des Seniorenkonvents
96
cc) Die Besetzung des Seniorenkonvents
96
dd) Die Arbeitsweise des Seniorenkonvents
98
c) Die Kommissionen aa) Die Bedeutung der Kommissionen
98 98
bb) Die Besetzung der Kommissionen
101
cc) Die Bestellung der Kommissionsvorsitzenden
106
d) Präsidium aa) Bedeutung bb) Besetzung III. Abschließende Bewertung D. Der Reichstag in der Weimarer Republik I.
90 90
Verfassungsrechtliche und politische Rahmenbedingungen
II. Die Geschäftsordnung des Reichstags 1. Geschäftsordnungsregeln der Verfassung 2. Die vom Reichstag erlassene Geschäftsordnung
107 107 107 108 111 111 116 116 117
a) Plenardebatte
117
b) Fraktionen
118
c) Ältestenrat
119
d) Präsidium
119
e) Ausschüsse
120
f)
123
Untersuchungsausschüsse
III. Das Geschäftsverfahren in der Praxis
123
1. Fraktionen
124
2. Ältestenrat
125
3. Präsidium
125
4. Ausschüsse
126
a) Bedeutung
126
b) Besetzung
127
5. Untersuchungsausschüsse IV. Abschließende Bewertung
128 130
10
Inhaltsverzeichnis
E. Ergebnis der historischen Untersuchung I.
Gremienbesetzung nach Kompetenz
II. Gremienbesetzung und Minderheitenschutz
133 133 133
1. Integration statt Obstruktion
134
2. Sicherung des argumentativen Diskurses
134
3. Fähigkeit zum Kompromiß
135
III. Widerspiegelung der Mehrheitsverhältnisse
135
IV. Minderheitenschutz und Fraktionen
136
V. Techniken der Gremienbesetzung
138
VI. Ausblick
140 Zweiter Teil Die Gremienbesetzung im Bundestag
A. Stellung und Aufgaben des Bundestages in der parlamentarischen Demokratie I.
Das Parlament in der Staatsorganisation - Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Grundgesetz und Weimarer Reichsverfassung
II. Die Aufgaben des Bundestages in der parlamentarischen Demokratie
141 141 144
1. Kreationsfunktion
144
2. Gesetzgebung und Budget
145
3. Kontrolle
146
4. Öffentlichkeit
148
5. Vertretung des Volkes
149
III. Wahlrecht
149
IV. Parteien
151
1. Rechtliche Anerkennung und Regelung der Parteien
151
2. Das Parteiensystem in der Bundesrepublik Deutschland
152
B. Die Regeln über das Geschäftsverfahren des Bundestages I.
Verfahrensregeln des Grundgesetzes
II. Die Bundestagsgeschäftsordnung 1. Plenardebatte 2. Fraktionen
154 154 155 156 157
a) Fraktionsbildung
157
b) Geschäftsordnungsrechte der Fraktionen
159
c) Finanzierung
160
3. Gruppen
161
4. Einzelne Abgeordnete
162
Inhaltsverzeichnis C. Die Gremien des Bundestages - Aufgaben und Besetzung nach der Geschäftsordnung und in der Praxis I.
Präsident und Präsidium
163 164
1. Aufgaben
164
2. Besetzung
165
a) Nominierung und Wahl des Präsidenten
165
b) Zahl der Vizepräsidenten
167
c) Wahl der Vizepräsidenten
168
d) Abwahl des Präsidenten oder eines Stellvertreters
170
e) Besetzung nach Fraktionsproporz
172
f)
174
Vorstand
II. Schriftführer
175
1. Aufgaben
175
2. Besetzung
175
III. Ältestenrat
178
1. Aufgaben
178
2. Besetzung
180
3. Weitere Teilnehmer an den Sitzungen des Ältestenrats
184
4. Besetzung der Kommissionen
185
IV. Die Ausschüsse nach § 54 GOBT
185
1. Aufgaben und Verfahren
185
2. Öffentlichkeit
189
a) Parlamentsöffentlichkeit
189
b) Außerparlamentarische Öffentlichkeit
189
3. Besetzung a) Regeln der Geschäftsordnung b) Die Ausschußbesetzung in der Praxis
190 190 191
aa) Die Einführung des Systems d'Hondt
191
bb) Berliner Abgeordnete
195
cc) Die Geschäftsordnung von 1951
196
dd) Die Entwicklung bis zur 6. Wahlperiode
198
ee) Die Umstellung von d'Hondt auf Hare-Niemeyer
201
ff) Das System St. Lague-Schepers
203
gg) Die Ausschußbesetzung nach dem Einzug der GRÜNEN in den Bundestag hh) Die Ausschußbesetzung nach der Wiedervereinigung
204 207
4. Wechsel der Ausschußmitglieder
207
5. Weitere Mitglieder und Teilnehmer an den Ausschußsitzungen
208
6. Ausschüsse und Fraktionen
210
12
Inhaltsverzeichnis 7. Verbandseinfluß in den Ausschüssen
211
8. Die Ausschußvorsitzenden
212
a) Aufgaben b) Die Bestimmung der Ausschußvorsitzenden V. Gremien mit besonders geregelter Besetzung
212 213 216
1. Unterausschüsse
216
a) Aufgaben
216
b) Besetzung
217
2. Enquetekommissionen
218
a) Aufgaben
218
b) Besetzung
219
c) Abberufung der Mitglieder
220
3. Wahlprüfungsausschuß
221
a) Aufgaben
221
b) Besetzung
221
4. Wahlmännerausschuß zur Wahl der Richter am Bundesverfassungsgericht
224
a) Aufgaben
224
b) Die Besetzung des Wahlmännerausschusses
225
5. Gemeinsamer Ausschuß
227
a) Aufgaben
227
b) Besetzung
228
6. Vermittlungsausschuß
231
a) Aufgaben
231
b) Besetzung
231
7. Richterwahlausschuß
234
a) Aufgaben
234
b) Besetzung
235
8. Die Entstehung besonderer Gremien zur Kontrolle der Nachrichtendienste
238
a) Notwendigkeit parlamentarischer Kontrolle
238
b) Parlamentarische Kontrolle in den Ausschüssen
239
c) Das Parlamentarische Vertrauensmännergremium
240
d) Die Zusammensetzung des Parlamentarischen Vertrauensmännergremiums 9. Das G 10-Gremium
241 244
a) Aufgaben
244
b) Besetzung
245
10. Die parlamentarische Kontrollkommission
249
a) Aufgaben
249
b) Besetzung
251
Inhaltsverzeichnis 11. Das Vertrauensgremium nach der Bundeshaushaltsordnung und seine Vorläufer
255
a) Entstehungsgeschichte und Aufgaben der Kontrollgremien für die Haushalte der Nachrichtendienste
255
b) Besetzung des Gremiums nach § 4 IX HaushaltsG 84 und 85 c) Das Vertrauensgremium
257 *
VI. Untersuchungsausschüsse
260
1. Aufgabe
260
2. Besetzung
261
D. Zwischenergebnis und offene Fragen I.
259
Bedeutung der Gremien für das parlamentarische Verfahren
263 263
II. Fraktionen und Gremien
263
III. Besetzung der Gremien
265
1. Benennung der Mitglieder durch die Fraktionen
265
2. Fraktionsproporz
266
3. Parlamentarisches Regierungssystem und Gremienbesetzung
267
4. Beteiligung aller Fraktionen
267
a) Praxis bis zur 9. Wahlperiode
267
b) Praxis nach dem Einzug der GRÜNEN in den Bundestag
269
5. Das Berechnungssystem für die Sitzverteilung
270
6. Wahlsysteme
271
E. (Verfassungs-)Rechtliche Anforderungen an die Besetzung parlamentarischer Gremien I.
272
Anspruch jeder Fraktion auf Vertretung in jedem Gremium (Grundmandat)
272
1. Anspruch aus der Geschäftsordnung
272
a) Die geschriebene Geschäftsordnung
272
b) Geschäftsordnungs-Gewohnheitsrecht
274
c) Ergebnis
275
2. Anspruch aus der Verfassung
275
a) Art. 53 a GG
275
b) Art. 45 a GG
276
c) Art. 211 GG
276
aa) Fraktion und Partei
277
bb) Chancengleichheit der Parteien
278
cc) Übertragbarkeit auf Fraktionen
280
d) Art. 38 11 GG: Wahlgleichheit und Fraktionen
282
e) Art. 38 11, 2 GG: Gleichheit der Abgeordneten
284
14
Inhaltsverzeichnis f)
Fraktionsmitgliedschaft als Voraussetzung zur Wahrnehmung der Abgeordnetenfunktionen
g) Minderheitenschutz und Recht auf Bildung und Ausübung der Opposition
285 287
aa) Minderheitenschutz
287
bb) Opposition
288
h) Öffentlichkeit (Art. 42 I GG)
292
i)
293
Demokratische Repräsentation
II. Grenzen des Anspruchs jeder Fraktion auf Vertretung in jedem Gremium 1. Art. 95 II GG, Richterwahlausschuß
298 298
a) Begrenzte Mitgliederzahl
298
b) Fraktionsproporz kontra Grundmandat
298
c) Grundmandat mit beratender Stimme 2. Art. 77 II GG, Vermittlungsausschuß
301 302
3. Art. 40 I GG, Präsident und Stellvertreter
304
a) Grundmandat in Leitungsgremien
304
b) Ausnahme Präsidium?
304
4. Verfassungswidrigkeit des Gremiums kontra Grundnrandatsanspruch?
307
5. Effektivität parlamentarischer Arbeit
308
6. Geheimschutz a) Stellenwert des Geheimschutzes
309 309
b) Geheimschutz im Bundestag
311
c) Geheimschutz durch Minimierung der Zahl der Gremienmitglieder
311
d) Geheimschutz durch Ausschluß einer Fraktion
313
e) Geheimschutz durch Ausschluß einzelner Abgeordneter
314
f)
314
Ergebnis
III. Besetzungsverfahren 1. Anforderungen aus der Sicht der Fraktionen 2. Proporz-Besetzungsverfahren
314 315 315
a) Verteilung nach Proporz und Benennung durch die Fraktionen
315
b) Verhältniswahl
315
3. Mehrheitswahl
317
4. Mischformen
318
5. Vermittlung demokratischer Legitimation IV. Berechnungssysteme
320 323
1. Zeitlich abgestufte Gremienmandate
323
2. Gremienmandate mit unterschiedlicher Stimmkraft
323
3. Anforderungen an die Berechnungssysteme
325
4. Unterschiede zwischen d'Hondt, Hare-Niemeyer und St. Lague-Schepers .. 326
Inhaltsverzeichnis V. Die Rechte fraktionsloser Abgeordneter bei der Gremienbesetzung 1. Das Recht zur Bildung einer Fraktion 2. Gruppenrechte bei der Gremienbesetzung
329 330 332
a) Besetzung von Ausschüssen und Leitungsgremien
332
b) Beteiligung am Gemeinsamen Ausschuß
334
3. Fraktionsproporz und Rechte einzelner franktionsloser Abgeordneter
335
4. Aktives Wahlrecht
336
5. Passives Wahlrecht
337
6. Das Recht einzelner fraktionsloser Abgeordneter auf Mitgliedschaft in einem Gremium
338
VI. Ausschußrückruf
340
VII. Regelung der Gremienbesetzung durch Gesetz
342
1. Verfassungsrechtliche Ermächtigungen zu gesetzlichen Verfahrensregeln
342
2. Regelung von Außenbeziehungen des Parlaments
343
3. Bedeutungswandel der Geschäftsordnungsautonomie
344
4. Die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts
345
5. Sinn und Zweck der Geschäftsordnungsautonomie unter dem Grundgesetz
347
a) Gewaltenteilung
347
b) Minderheitenschutz
348
Literaturverzeichnis
353
Erster Teil Die Entwicklung der Regeln zur Besetzung parlamentarischer Gremien seit dem Beginn des Parlamentarismus in Deutschland A. Frühkonstitutionalismus I. Vorgeschichte Die Geschichte des modernen Parlamentarismus beginnt in Deutschland i m Vergleich zu den damals fortgeschrittensten Staaten wie England, den USA und Frankreich mit einiger Verspätung erst im 19. Jahrhundert. Grund dafür war die Rückständigkeit in der sozialen Entwicklung. Deutschland war nach dem dreißigjährigen Krieg verarmt, entvölkert und in Kleinstaaten zersplittert. Die meisten dieser Kleinstaaten waren von dem damals wichtigsten Verkehrsweg, dem Meer, abgeschnitten. Ein ökonomisch starkes und zur politischen Macht strebendes Bürgertum, die soziale Basis der parlamentarisch-demokratischen Umwälzung, konnte sich deshalb nicht in gleichem Maße wie in den ökonomisch und gesellschaftlich fortgeschritteneren Staaten herausbilden 1. Erst der Beginn des Eisenbahnbaus und die Griindung des deutschen Zollvereins zu Beginn der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts schufen die Voraussetzungen, unter denen dieser Rückstand rasch aufgeholt wurde 2 . Allerdings war immerhin bereits am 17. März 1793, nach dem Vorstoß revolutionärer französischer Truppen bis Frankfurt am Main, in Mainz ein rheinisch-deutscher Nationalkonvent für das Gebiet zwischen Mainz, Bingen und dem pfälzischen Landau zusammengetreten, der aus einer nach bürger1 Vgl. dazu Ritter, Entwicklungsprobleme des dt. Parlamentarismus, S. 19 ff., insb. 24 ff. und Vierhaus, von der altständischen zur Repräsentatiwerfassung, S. 189. 2 Vgl. zur sozialen Lage und zum Beginn der Industrialisierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts Kröger, Verfassungsgeschichte, S. 18 ff. und 49 ff. 2 Edinger
18
1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
lich-demokratischen Grundsätzen durchgeführten Wahl hervorgegangen war 3 . Dieses erste demokratische Parlament in Deutschland, das die Abschaffung der Vorrechte für Adel und Klerus beschloß und den Anschluß an die französische Republik proklamierte, blieb aber eine kurze Episode. Ihr Ende kam schon i m Juli 1793 mit dem Rückzug der französischen Truppen hinter den Rhein 4 . Erst nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon begann in Deutschland die Zeit der Verfassungen (Konstitutionen). Der deutsche Frühkonstitutionalismus brachte ab dem zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts erstmals bedeutendere gewählte Repräsentativorgane hervor, zunächst in den größeren süddeutschen Staaten (Bayern, Baden und Württemberg) 5. Mit ihrer Errichtung begann in Deutschland die Entwicklung zur parlamentarischen Demokratie. Die Landtage dieser Zeit bilden die Vorstufe der modernen parlamentarischen Volksvertretungen. In ihrer Funktion und ihrer Arbeitsweise unterscheiden sie sich von heutigen Volksvertretungen noch deutlich. Dennoch enthielten die Geschäftsordnungen bereits viele wesentliche, nach 1848 übernommene und teilweise bis heute gültige Regelungen, da man auf den Erfahrungen der französischen und angelsächsischen Parlamente aufbauen konnte.
I I . Funktion der Landtage Nicht der Druck einer demokratischen Volksbewegung zwang die Fürsten zur Einrichtung repräsentativer Versammlungen. Die Gründe lagen zum einen i m enormen Finanzbedarf der einzelnen Staaten als Folge der Befreiungskriege. Um die Steuerlast entsprechend zu erhöhen und den Kreditrahmen zu erweitern, erschien die Einschaltung der Landstände als vorteilhaft 6 . 3
An denen sich die Bevölkerung allerdings nur spärlich beteiligt hatte, s. Kimminich, Verfassungsgeschichte, S. 277. 4 S. Streisand, Dt. Geschichte, S. 118 ff. 5 Sowie in einer Reihe unbedeutender Kleinstaaten, s. Huber Bd. 1 S. 317 f. und 656 f. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf die Kammern Bayerns, Württembergs und Badens, weil diese für die Zeit des Frühkostitutionalismus sowohl in der Ähnlichkeit der politischen Verhältnisse als auch in der Verschiedenheit etwa der Ausschußorganisation typisch waren, und weil ihre Geschichte von den Quellen her sowie durch z.T. erst in jüngster Zeit erschienene Einzeluntersuchungen recht gut erschlossen ist. 6 Etwa Bayern § 11 Verf.: "Die gesammte Staatsschuld wird unter die Gewährleistung der Stände gestellt." S. Obenaus, Finanzkrise und Verfassungsgebung, S. 66 ff. Zu den drückenden Staatsschulden Württembergs zu Beginn der konstitutionellen Periode vgl. Grube, Der Stuttgarter Landtag, S. 510 f. Preußen konnte zunächst auf andere Finanzquellen zurückgreifen, s. Obenaus,S. 73 f. Aber just dann, als Privatkapital zur Finanzierung des Eisenbahnbaus nicht mehr ausreichte und der Staat einspringen mußte, wurde 1847 der Vereinigte Landtag einberufen (s. Vierhaus, Von der altständischen zur Repräsentatiwerfassung, S. 181), in dessen Beratungen
A. Frühkonstitutionalismus
19
Zum anderen waren die Regierungen bestrebt, die enormen Gebietszuwächse ihrer Länder seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts - Baden hatte sich um das 4-fache, Württemberg um das doppelte und Bayern um 1/3 vergrößert 7 - zu staatlichen Einheiten zu integrieren 8 und damit die Herrschaft der feudalen Dynastien zu stärken 9. Dementsprechend wurden die meisten dieser Verfassungen von den fürstlichen Regierungen formuliert und auch einseitig in Kraft gesetzt10. Aber auch wenn sie (wie in Württemberg) vor Inkrafttreten mit den Ständen ausgehandelt oder nachträglich von den Kammern gebilligt wurden, änderte sich ihr Charakter nicht. In Württemberg wollten die Stände vor allem, daß ihre alten Rechtspositionen nach der überkommenen ständischen Verfassung wiederhergestellt werden 11 . Durch die nachträgliche Billigung in Baden 12 wurde die Verfassung nicht geändert 13. Das Zwei-Kammer-System 14 und die Besetzung der beiden Kammern zeigen die Verwurzelung der neuen Landtage in der altständischen Tradition 15 . Die erste Kammer bestand aus Mitgliedern des Hochadels, die kraft Geburt dieser Körperschaft angehörten, daneben teilweise aus Vertretern des Klerus, des niedrigen Grundadels, der Universitäten sowie aus von den Fürsten ernannten Mitgliedern 16 . Die zweite Kammer war nur in Baden vollständig aus gewählten Abgeordneten städtischer und ländlicher Wahlkreise zusammengesetzt 17 , in den übrigen Staaten waren auch dort bis zu einem Viertel der Abgeordneten Vertreter der übrigen Stände, vor allem des Adels und des Klerus 18 . Die städtischen und ländlichen Repräsentanten wurden in indirekter Wahl gewählt, wobei die Wahl der Wahlmänner teilweise erheblich einge-
Finanzfragen den größten Raum einnahmen (Einführung neuer Steuern, Eisenbahn-Anleihe, Kosten der Ablösung der bäuerlichen Reallasten), s. Der Erste Vereinigte LT (Plenarprotokolle), Bd. 2, Inhaltsverzeichnis der Beratungen. 7 S. Kröger, Verfassungsgeschichte, S. 31. 8 So der württ. König: "...eine Staatsverfassung, welche die bis jetzt nur faktisch vereinigten Lande (...) nunmehr auch staatsrechtlich zu einem Ganzen verbinden sollR, zit. nach Grube, Der Stuttgarter LT, S. 497. 9 S. Huber Bd. 1 S. 317, 319, 323, 326, 335. 10 Vgl. Huber Bd. IS. 318. 11 Dazu Gruber, Der Stuttgarter LT, S. 489 ff.; Huber Bd. 1 S. 331 f. 12 Vgl. Huber Bd. IS. 318. 13 S. Huber, Dok. Bd. 1 Nr. 54. 14 Tit. VI § 1 Bay .Verf., § 26 Bad.Verf., § 128. Verf. von Württemberg. Die Verfassungen sind abgedruckt bei Huber, Dok Bd. 1 Nr. 53 - 55. 15 Zu diesen Traditionen s. Vierhaus, Von der altständischen zur Repräsentatiwerfassung, S. 181 ff. und Scheuner, Volkssouveränität und parlamentarische Vertretung, S. 303 ff., 320 f. 16 Tit. VI § 2 Bay .Verf., § 27 Bad.Verf., § 129 Verf. v. Württemberg. 17 § 33 Bad.Verf. 18 Tit. VI § 7 Bay .Verf., § 133 Verf. v. Württemberg.
20
1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
schränkt war 19 . So wurden in Württemberg beispielsweise 2/3 der Wahlmänner vor der Wahl nach der Höhe ihrer Steuern bestimmt, nur das letzte Drittel konnte von den Bürgern tatsächlich gewählt werden 20 . Da das aktive und passive Wahlrecht von einem bestimmten Vermögen abhängig war, stand es nur einer kleinen Minderheit der Bevölkerung zu 21 . In Württemberg durften "Staats- und Kirchendiener· 1 ihr Abgeordnetenmandat zudem nur mit Genehmigung ihrer Dienstvorgesetzten annehmen22. In der Konzeption des Frühkonstitutionalismus gab es keine Gewaltenteilung. Die Wiener Schlußakte von 1820 bestimmte, daß "die gesamte Staatsgewalt in dem Oberhaupte des Staats vereinigt bleiben (muß), und der Souverain (...) durch eine landständische Verfassung nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden werden (kann)" 23 . So beschränkten sich die Mitwirkungsrechte der Vertretungen im wesentlichen auf das Budgetrecht 24 und die Mitwirkung an der Gesetzgebung, soweit die Gesetze in das Eigentum und die Freiheit der Bürger eingriffen 25 . Das Recht, selbst ein Gesetzgebungsverfahren einzuleiten, bestand nicht 26 . Auch auf die Regierungsbildung hatten die Landtage keinen Einfluß.
Ι Π . Geschäftsordnung der Landtage Bestimmend für die interne Arbeitsweise der Kammern waren zwei Faktoren: Die Geschäftsordnung wurde erstens weitgehend von den Regierungen vorgegeben und es gab zweitens noch keine Parteien oder Fraktionen, vor
19
S. § 34 Bad.Verf., Bayern: "Edict über die Stände-Versammlung", Beilage X zur Verfassungs-Urkunde vom 26.5.1818 (abgedr. bei Binding, Dt. Saatsgrundgesetze, Heft V, S. 173 ff.); Huber Bd. 1 S. 345. 20 § 139 f. Verf. v. Württemberg. 21 § 37 Ziff. 3 Bad.Verf., § 137 Verf. v. Württemberg, vgl. Huber Bd. 1 S. 345, sowie im einzelnen Ehrle, Volksvertretungen im Vormärz, S. 674 ff., und für Württemberg die Aufstellung bei Brandt, Parlamentarismus in Württemberg, S. 52 (aktiv wahlberechtigt waren 13-15% der Bevölkerung). 22 § 146 Verf. 23 Art. 57 der Wiener Schlußakte vom 15.5.1820, zit nach Dürig/Rudolf, Texte zur dt. Verfassungsgeschichte, Nr. 3. Inhaltgleiche Vorschriften finden sich auch in den damaligen Länderverfassungen: Bayern Tit. II § 1, Baden § 5, Württemberg § 4. Vgl. dazu Scheuner, Volkssouveränität und parlamentarische Vertretung, S. 326. 24 Wobei der Etat jeweils für mehrere Jahre zu bewilligen war, Tit. VII §§ 3, 5 Bay .Verf., § 53 Bad.Verf., §§ 109,124,112 Verf. v. Württemberg. 25 So der Wortlaut Tit. VII § 2 Bay. Verf. und § 65 Bad. Verf., vgl. Zippelius JuS 87, 687, 690. S. in Württemberg §§ 85, 88, 90 Verf. 26 § 67 Bad. Verf., § 172 Verf. v. Württemberg, im einzelnen Huber Bd. 1 S. 347.
. Frühkonstitutionalismus
21
allem fehlte es in- und außerhalb der Landtage an einer organisierten Opposition. 1. Mangelnde Geschäftsordnungsautonomie Keine Verfassung aus dieser Zeit enthält eine Garantie, daß die Kammern ihren Geschäftsgang selbst regeln können 27 . Gegenstände der Geschäftsordnung wurden teilweise in den Verfassungen selbst28, teilweise in Gesetzen 29 ausführlich geregelt. Soweit diese Bestimmungen reichten - und in Hessen-Darmstadt beispielsweise wurde die Geschäftsordnung bis ins 20. Jahrhundert abschließend gesetzlich geregelt 30 - , konnten die Landtage von sich aus keine Änderungen erzwingen, da sie kein Gesetzesinitiativrecht hatten. I m übrigen behielten sich die Regierungen die Überprüfung und Genehmigung von den Kammern selbst geschaffener Verfahrensregeln vor 3 1 . A m weitestgehenden in Baden, in geringem Maße auch in Württemberg und Bayern konnten die Vertretungen im Laufe der Zeit gewisse Freiräume in der Gestaltung ihres Geschäftsgangs durchsetzen, begrenzt jeweils durch die (verfassungs-)gesetzlichen Festlegungen32. Von einer freien und unabhängigen Bestimmung über den eigenen Geschäftsgang der Parlamente kann aber bis 1848 nicht die Rede sein. Die oktroyierten Geschäftsordnungsbestimmungen setzten die Versammlungen starken Einflüssen von Seiten der Regierungen aus. Den Kammern stand kein Selbstversammlungsrecht zu. Sie waren auf die Einberufung durch den Fürsten angewiesen. Dieser hatte außerdem das Recht, die Landtage vorübergehend zu schließen oder ganz aufzulösen 33. Beide Möglichkeiten wurden bis 1848 mehrmals mit mehr oder weniger großem Erfolg zur Niederhaltung der liberalen Opposition genutzt 34 . In einigen Landtagen 27 Die Paulskirchenverfassung garantierte als erste die Geschäftsordnungsautonomie des Parlaments (§ 116 S.l). In Württemberg wurde eine entsprechende Bestimmung erst 1874 in die Verfassung aufgenommen (8. Verfassungsänderung vom 23. Juni 1874, Reg.Bl. Nr. 16, S. 177-180), in Bayern 1872 (16. Gesetz, den Geschäftsgang des Landtags betr., vom 19. Januar 1872, Gesetz-Bl. Nr. 5, Sp. 173 ff.). 28 Am weitestgehenden in Württemberg: §§ 124 ff., insb. §§ 162 bis 194 der Verfassung. 29 S. das bayr. "Edict über die Stände-Versammlung" von 1818. Auch die GO von 1825 wurde als königliches Edict erlassen. 30 S. K.F. Arndt, S. 26 f. 31 s. K.F. Arndt, S. 24 f. 32 Dazu K.F. Arndt, S. 23-26. 33 Tit. VII § 22 f. Bay .Verf., §§ 42, 52 Bad.Verf., § 127, 186 Verf. v. Württemberg. Vgl. Huber Bd. 1 S. 343. 34 So wurde der württembergische Landtag nach den Ereignissen in Frankreich von der regulären Auflösung im Frühjahr 1830 und trotz Neuwahl Ende 1981 erst Anfang 1833 einberufen.
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
wurde die Sitzordnung der Abgeordneten durch Los 3 5 oder nach Klasse und Alter 3 6 festgelegt. Damit wurde bewußt die Bildung von Gruppen gleichgesinnter Abgeordneten erschwert 37 und ihre Absprache während der Sitzung praktisch unmöglich gemacht. Auch die Redeordnung war stark reglementiert, teilweise folgte sie der Sitzordnung 38. Dies begünstigte schwerfällige und weitschweifige Debatten 39 , gemeinsame und gegensätzliche Auffassungen konnten auf diese Weise kaum "auf den Punkt gebracht" werden 40 . Die Kammerpräsidenten ernannte der Fürst. Die zweite Kammer durfte immerhin drei Kandidaten vorschlagen, aus denen der Landesherr nach Belieben einen auswählen konnte. Der ersten Kammer stand kein solches Vorschlagsrecht zu 4 1 . 2. Fehlen von Fraktionen In die 2. Kammern wurden von Anfang an Abgeordnete gewählt, die meist schon ihrer bürgerlichen Herkunft wegen in Opposition zu den feudalen Regierungen standen. Die meisten davon waren Liberale, die u.a. die Ausweitung parlamentarischer und die Einschränkung fürstlicher Macht anstrebten. Kennzeichnend für diese Epoche der Parlamentsgeschichte war aber, daß - bis auf kurze Ausnahmen - weder innerhalb noch außerhalb der Parlamente festgefügte Gruppen i.S. heutiger Fraktionen und Parteien existierten. Eine Reihe von Faktoren behinderte die Bildung solcher Gruppen. Die Regierungen waren von den Kammern weitgehend unabhängig und deshalb nicht auf eine stabile, berechenbare Mehrheitsgruppe angewiesen. Außerdem hatten sie in der ersten aufgrund des Besetzungsmodus und oft auch in der zweiten Kammer eine Mehrheit 42 .
Petitionen der Abgeordnenten um frühere Einberufung blieben unbeachtet, s. Kramer S. 30, Huber Bd. 2 S. 36 f. Zu weiteren Landtagsauflösungen Kramer S. 32 und 48, Huber Bd. 2 S. 38 f. 35 In Bayern gemäß Tit. I § 67 des Edicts über die Stände-Versammlung. 36 Württemberg § 162 Verf. 37 S. Botzenhart, Dt. Parlamentarismus in der Revolutionszeit, S. 315. 38 In Bayern Tit. II § 19 des Edicts über die Stände-Versammlung. 39 Anschaulich ist die ironisierende Beschreibung von Blum, Hdb. der Staatswissenschaft und Politik, S. 405 f. (Stichwort Geschäftsordnung). 40 Vgl. KramerS. 19. 41 Bayern Tit. I § 53 S. 1 und § 63 des Edicts über die Stände-Versammlung, Baden § 45 Verf., Württemberg § 164 Verf.; s. K.F. Arndt S. 29 mit Fn. 44 und S. 28. 42 Zu den Mehrheiten in der 2. Kammer Württembergs vgl. die Aufstellung bei Brandt, Parlamentarismus in Württemberg, S. 807 (wobei dort "Parteien" nicht i.S. festgefügter Gruppen, sondern i.S. von Meinungen zu verstehen sind).
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Für eine Opposition gab es innerhalb der Kammern kaum ein lohnendes Ziel, da die Kammern formell keinen Einfluß auf die Regierungsbildung und kein Recht zur Einbringung von Gesetzentwürfen hatten. "An die Regierung 11 konnte sie auch dann nicht kommen, wenn sie über die Landtags-Mehrheit verfügt hätte, jedenfalls nicht, solange sie sich innerhalb der Verfassung bewegte, die ja wiederum nur auf Initiative der Regierung hätte geändert werden können. Die liberale staatsrechtliche Lehre selbst lehnte die Bildung von unterschiedlichen Parteien/Fraktionen fast einhellig ab 43 . Grundlage der liberalen Theorien war die Vorstellung eines allgemeinen Volkswillens, den zu repräsentieren Aufgabe des einzelnen Abgeordneten war. Dies Schloß eine einseitige Parteinahme aus 44 . Den Liberalen erschien der Landtag als institutionalisierte Opposition, weil er in ihrer Vorstellung die Rechte des Volkes gegenüber der Regierung wahrnahm. Diese Auffassung fußte einmal auf dem Bestreben der liberalen Opposition, nach außen als Repräsentant des ganzen Volkes zu erscheinen, zum anderen auf dem Versuch, alle Abgeordneten auf die Oppositionsrolle festzulegen und dadurch die Regierung zu hindern, mit einer ihr ergebenen Mehrheit die alten Zustände aufrechtzuerhalten. Konflikte traten auf, als in den dreißiger Jahren einige Liberale in Regierungsämter gelangten oder wenigstens zur Unterstützung bestimmter Regierungsmaßnahmen bereit waren 43 . Gerade sie forderten die Bildung fester, berechenbarer Gruppen innerhalb der Parlamente, während die Mehrheit der Liberalen dieses Ansinnen zu Recht als Schwächung der Opposition zurückwies, solange die Staatsmacht weiterhin allein in der Hand der fürstlichen Regierungen lag 46 .
43 Die "Assoziationsfreiheit" (auch die politische) wurde allerdings vehement verteidigt, s. Welcker, Association, Verein, Gesellschaft, Volksversammlung, Associationsrecht, in: Staats-Lexikon, Bd. II, 1835, S. 21 f. und 31 ff. Welcker äußerte sich 1836 im Art. "Centrum der DeputiertenKammern, insb. der französischen", in: Staats-Lexikon, Bd. III, S. 389 ff., vorsichtig positiv zu Parteien und Franktionen. Uneingeschränkt bejahend Zachariä, Vierzig Bücher vom Staate, Bd. III, 2. Aufl. 1839, S. 230 ff. (alle Quellen abgedruckt in: Restauration und Frühliberalismus, S. 329 ff.). Zu den damaligen Lehrmeinungen im einzelnen Gall, Das Problem der parlamentarischen Opposition im dt. Frühliberalismus, S. 155 ff. und Schieder, Die Theorie der Partei im älteren deutschen Liberalismus, S. 111 ff., jeweils m.w.N. 44 S. z.B. Rottecks Nachtrag zum Artikel "Faction" (Verf.: Schulz), in: Staats-Lexikon, Bd. V, 1837, S. 362 ff. (abgedruckt in: Restauration und Frühliberalismus, S. 335 ff.). S. a. Gall, S. 155 f. 45 So führte in Baden die Ersetzung des reaktionären Ministers Blittersdorf durch den von den Liberalen geschätzten Bekk zu heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der Opposition, s. Kramer, Fraktionsbindungen, S. 53 f. 46 Vgl. Gall, S. 161 ff.
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Den Konservativen war an der Bildung einer organisierten und damit politisch wirksamen Opposition weder theoretisch noch praktisch gelegen. Die einzelnen Reglementierungen des Geschäftsgangs der Kammern, die die Bildung von Gruppen behinderten, wurden bereits beschrieben. Dazu kam die persönliche Einflußnahme auf einzelne Abgeordnete, die von der Verweigerung von Urlaub für die Dauer der Sitzungen, auf den beamtete Vertreter angewiesen waren 47 , bis zur Bestechung48 reichte. Außerdem dauerten die einzelnen Sitzungsperioden bei dem vergleichsweise kleinen Arbeitsprogramm der Kammern nur wenige Wochen oder Monate. Dazwischen lagen lange Zeiträume, in denen sich die Abgeordneten allenfalls privat begegneten. Die Abgeordneten verstanden sich oft auch dann zuerst als Vertreter ihres Wahlkreises, wenn sie mit einer politischen Richtung sympatisierten 49. I m übrigen bewirkten auch das Zensuswahlrecht auf der einen Seite und die Zugehörigkeit eines Teils der Abgeordneten auch der zweiten Kammern zu Adel und Klerus auf der anderen Seite, daß die meisten Mandatsträger sich von vornherein als Vertreter bestimmter Interessen fühlten, so daß für eine parteipolitische Bindung wenig Raum blieb 30 . Auch jede politische Organisierung außerhalb der Landtage wurde massiv behindert. Mittel dazu war außer dem Verbot von Vereinen und Versammlungen die Zensur, die auch dann vor der Berichterstattung über die parlamentarischen Verhandlungen nicht halt machte, wenn die Verfassung Öffentlichkeit garantierte 51. Das schwerfällige Wahlsystem mit der Zwischenschaltung von Wahlmännern erschwerte die organisierte Einflußnahme der Opposition auf die Wahl. Parteien i m heutigen Sinne konnten sich unter diesen Voraussetzungen noch nicht bilden. Die politischen Grundströmungen zeichneten sich allerdings be-
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Vgl. dazu Huber Bd. 1 S. 368 f. und Bd. 2 S. 446. S. Kramer S. 23. In der frühen Phase der Parlamente war der Abgeordnetenkauf ein gängiges Mittel der Regierungen, um die gewählten Versammlungen zu neutralisieren. In England sollen sich die Minister durch Stimmenkauf und Überwachung des entsprechenden Verhaltens "ihrer" Abgeordneten durch den "whip" ihre Mehrheiten gesichert und so zur Herausbildung einer disziplinierten Regierungsfraktion beigetragen haben, s. Duverger, Parteien, S. 4 f. 49 S. Fenske, Wahlrecht und Parteiensystem, S. 49 f. 50 So zu Recht Kramer S. 17, s.a. Kimminich S. 339. 51 S. den Bundesbeschluß über Maßregeln zur Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ordnung und Ruhe in Deutschland vom 28. Juni 1832 ("Die Sechs Artikel"), Art 5, und den zweiten Bundesbeschluß vom 5. Juli 1832 ("Die Zehn Artikel"), Art. 1 - 3, Huber, Dokumente Bd. 1 Nr. 44 und 45. 48
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reits im Vormärz ab 52 . Es bildeten sich politische Vereine, die aber noch nicht die Gewinnung von Abgeordnetenmandaten zum Ziel hatten 53 . Einen organisierten Einfluß auf die Kandidatenaufstellung und -auswahl gab es jedenfalls bis 1848 selbst im in der Parlamentsentwicklung am weitesten fortgeschrittenen Baden nicht 54 . Insgesamt blieben die Abgeordneten in der Zeit des Frühkonstitutionalismus weitgehend politisch unabhängig agierende Einzelgänger. Ausdruck dieser Tatsache war ihr wechselndes, nicht vorausberechenbares Abstimmungsverhalten 55 . Erst in den Jahren nach 1830 begannen sich vor allem in Baden Gruppen von liberal eingestellten Abgeordneten zu bilden, die anfingen, ihr Vorgehen im Parlament miteinander abzustimmen. Zu mit Fraktionen vergleichbaren festen Bindungen innerhalb dieser Gruppen kam es aber bis 1848 nicht 56 . I V . Die Geschäftsordnungsregeln für die parlamentarischen Gremien und Amter Beschrieben werden im folgenden nur die Reglements der zweiten Kammern, da nur dort von den Bürgern gewählte Abgeordnete vertreten waren. 1. Ausschußorganisation Bei der Aufstellung der Regeln über den Geschäftsgang in den Kammern mußte nicht beim Punkt Null begonnen werden. Als Vorbild standen die Regeln des französischen und englischen Parlaments des Parlaments der USA zur Verfügung. Bis zum Beginn der zwanziger Jahre waren die deutschen Übersetzungen und Bearbeitungen der Werke Benthams über den Geschäftsgang im englischen Unterhaus 57, Jeffersons über den des Kongresses der 52
Huber, Bd. 2, S. 318 bezeichnet dies schon als Entstehung des Parteiwesens. Was Duverger, S. 10 f. zu Recht als ein Wesensmerkmal politischer Parteien ansieht. Deshalb kann der 1832 gegründete und im selben Jahr bereits verbotene "Press- und Vaterlandsverein" nicht als erste echte politische Partei Deutschlands bezeichnet werden, so aber Kimminich, S. 340, 352. Von Regierungsseite wurde gerade die Verbindung außer- und innerparlamentarischer Organisation als besonders gefährlich angesehen. In Württemberg wurde der Innenminister Kapff 1832 u.a. deshalb entlassen, weil er gegen Wahlvereine und die Bildung von Komitees, die die Verbindung zwischen dem Abgeordneten und den Wählern des Wahlkreises aufrechterhalten sollten, nicht energisch genug eingeschritten war, s. Brandt, Parlamentarismus in Württemberg, S. 504. 54 S. KramerS. 71. 55 S. Kramer, S. 21 ff. 56 S. im einzelnen Kramer S. 21 ff. 57 Jeremias Bentham, Tactik oder Theorie des Geschäftsganges in deliberierenden Volksständeversammlungen. Nach dessen hinterlassenen Papieren bearbeitet von St. Dumont, Erlangen 1817 (Originaltitel: Essay on Political Tactics). Bentham hatte die ungeschriebenen GO-Regeln des 53
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USA 5 8 und Hamiltons über die parlamentarische Debatte 59 veröffentlicht worden. Eine einheitliche Auffassung über das Ausschußwesen und, allgemeiner, über die zweckmäßigste Form der (Vor-)Beratung hatte sich noch nicht herausgebildet60. a) Baden Die 63 Abgeordneten starke 61 zweite Kammer in Baden teilte sich zur Vorberatung nach französischem Vorbild in fünf möglichst gleichstarke Sektionen (Abteilungen) auf, deren Zusammensetzung durch das Los bestimmt wurde. Da alle Sektionen alle Kammervorlagen behandelten, waren sämtliche Abgeordneten an allen Vorberatungen beteiligt. Zur weiteren Vorbereitung der Erörterung und Beschlußfassung im Plenum wurden für einzelne Vorhaben, die auch mehrere sachlich zusammenhängende Anträge oder Gesetze umfassen konnten 62 , Kommissionen gebildet, in die jede Sektion ein Mitglied entsandte. Das Plenum konnte zusätzliche Mitglieder bestimmen, meist Abgeordnete mit entsprechendem Fachwissen. Die Beratung von Regierungsanträgen in Kommissionen war von der Verfassung vorgeschrieben 63. Die Kommissionen fertigten die Berichte und Vorlagen an die Kammer an. Ihre Mitglieder waren hierbei nicht an die Auffassungen der sie entsendenden Sektionen gebunden64. Darüber hinaus gab es eine ständige
englischen Unterhauses zusammengetragen und und kritisch kommentiert, um der französischen Nationalversammlung ein brauchbares Vorbild zu liefern (s. Vorrede des Übersetzers, S. VII und XIV). St. Dumont fügte im Anhang die von ihm maßgeblich gestaltete GO des Rats der Stadt Genf bei (S. 205 ff.). 58 Thomas Jefferson, Handbuch des Parlamentsrechts oder Darstellung der Verhandlungsweise und des Geschäftsganges beim englischen Parlament und beim Kongreß der Vereinigten Staaten von Nordamerika, von Thomas Jefferson, vormaligem Präsidenten der Vereinigten Staaten. Übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Leopold v. Henning, Berlin 1819. 59 W. G. Hamiltons parlamentarische Logik, Taktik und Rethorik. Aus dem Englischen übersetzt und nach Materien geordnet. Tübingen 1828. Bei dem in der Veröffentlichung nicht genannten Übersetzer handelte es sich um Robert v. Mohl. 60 Zu den bis 1848 spärlichen Äußerungen der Literatur s. Botzenhart, Dt. Parlamentarismus, S. 478 ff. Zur Praxis der vormärzlichen Landtage s. a. Blum, Hdb. der Staatswissenschaften, S. 406 (Stichwort Geschäftsordnung). 61 §33 Verf. 62 S. Bad. LT-Zeitung 1846, 10. Sitzung vom 20. Mai, S. 97: Kommissionen für provisorische Gesetze, für Eisenbahnbau für den Zolltarif. 63 § 70. 64 S. zu den Sektionen und Kommissionen §§ 57 ff. GO, Blum, Hdb. der Staatswissenschaften, Bd. 1, S. 406, Botzenhart, Dt. Parlamentarismus, S. 468.
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Kommission, die für die Petitionen zuständig war 65 , später auch eine Budgetkommission 66 , die auf dieselbe Weise besetzt wurden wie die übrigen Kommissionen. Die Abteilungen der badischen 2. Kammer, zwei mal zwölf und drei mal dreizehn Mitglieder stark, wählten je ein Mitglied zum Vorstand und zum Sekretär 67 . Sowohl die Kommissionen als auch die Ministerien konnten gemeinsame Beratungen verlangen 68 . Die Anzahl der Ausschußsitze ergab sich in Baden regelmäßig aus der Zahl der Sektionen, sie lag also regelmäßig bei 5, nur in die Budgetkommission wurden aus jeder Abteilung 2 Abgeordnete entsandt69.
b) Bayern In Bayern waren von Anfang an fünf ständige Fachausschüsse vorgeschrieben, und zwar für Gesetzgebung, für Steuern, für die sonstige innere Landesverwaltung, für die Schuldentilgung des Staates sowie für die Untersuchung von Beschwerden über Verfassungsverletzungen. Die Ausschüsse hatten aus ihrer Mitte je ein Mitglied für einen weiteren Ausschuß zu bestimmen, welches die Anträge der Abgeordneten daraufhin zu prüfen hatte, ob die Kammer nach der Verfassung für sie zuständig war 70 . Die Ausschüsse in der 2. Kammer Bayerns bestanden aus 7 bis 9 Abgeordneten 71 . Falls das Plenum eine Sache an den Ausschuß zurückverwies, konnte es ihn um 2 weitere Mitglieder verstärken 72. Der Ausschuß-Voisitz stand dem ältesten Mitlied zu, außerdem wählte der Ausschuß einen Referenten und einen Sekretär 73. Bei der Beratung hatte sich der Ausschuß mit den zuständigen Ministerien w ins Benehmen zu setzen1174. Zu diesem Zweck hatten deren Vertreter das Recht, an den Ausschußsitzun-
65 66 67 68 69 70 71 72 73 74
§54 GO. S. Bad. LT-Zeitung 1846, 9. Sitzung v. 18. Mai, S. 92. S. Bad. LT-Zeitung 1846,8. Sitzung vom 15. Mai, S. 72 und 9. Sitzung vom 18. Mai, S. 92. § 71 Verf. S. Bad. LT-Zeitung 1846,9. Sitzung v. 18. Mai, S. 92. Tit. II §§ 25,36 Edict über die Stände-Versammlung. Tit. II § 27 Edict über die Stände-Versammlung. Tit. II § 32 Edict über die Stände-Versammlung. Tit. II § 28 Edict über die Stände-Versammlung. Tit. II § 29 Edict über die Stände-Versammlung.
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
gen teilzunehmen 73 . Die Ausschüsse tagten nicht öffentlich, auch anderen Abgeordneten mit Ausnahme des Präsidenten war die Teilnahme an Sitzungen nicht gestattet76. Die Ausschußberatungen wurden protokolliert 77 .
c) Württemberg In Württemberg enthielt die Verfassung die Vorschrift, daß alle königlichen (d.h. Regierungs-)Anträge in Kommissionen vorzuberaten seien, die dem Plenum darüber "Vortrag zu halten1* hatten78. Die Geschäftsordnung sah dasselbe vor für Anträge aus dem Plenum, das sich aber die Möglichkeit vorbehielt, durch Mehrheitsbeschluß die Beratung an sich zu ziehen 79 . Die Kommissionen wurden anfangs, wie die englischen select committees, nur zur Bearbeitung einzelner Gegenstände, meist Gesetzesinitiativen, eingesetzt 80 . I m Laufe der Zeit erkannte man mehr und mehr den Wert ständiger Fachausschüsse, die über eine Sitzungsperiode hinweg für bestimmte Sachgebiete zuständig waren 81 . Rechtlich festgelegt war weder die eine noch die andere Form. Die Größe der Kommissionen lag bei 7 Sitzen, soweit die Kammer nicht etwas andere beschloß82. Daneben sah die Verfassung zwei besondere Gremien vor, deren Bezeichnung ihren altständischen Ursprung verrät, eine sogenannte ständische Kommission zur jährlichen Kontrolle der Landtagskasse83 und einen ständischen Ausschuß, dessen Aufgabe die Fortführung der laufenden Landtagsgeschäfte in der Zeit war, in der die Kammern nicht versammelt waren. Ihm gehörten die Präsidenten beider Kammern kraft Amtes an sowie zwei Abgeordnete der ersten und acht der zweiten Kammer, die gemeinsam von beiden Kammern gewählt wurden 84 . 75
Art 45 GO. Tit. II § 30 Edict über die Stände-Versammlung. 77 Art. 47 GO. 78 §173 II Verf. 79 § 25 GO. 80 S. Botzenhart, Dt. Parlamentarismus, S. 469. 81 Erstmals wurden 1830 ständige Fachkommissionen gebildet, s. Brandt, Parlamentarismus in Württemberg, S. 233. 82 § 31 GO. 83 § 194 Verf. 84 §§ 187 - 192 Verf. Dieses Gremium war eine überkommene ständische Einrichtung, die auf Druck der Ständevertreter übernommen worden war, s. Grube S. 493 ff., 499 und 505. 76
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Die Kommissionen tagten nicht öffentlich. Auch Parlamentarier mit Ausnahme des Präsidenten hatten keinen Zutritt 85 . Der Vorsitzende wurde vom Ausschuß gewählt. Die Minister konnten an den Beratungen nur auf Einladung des Ausschusses teilnehmen 86 .
2. Präsident und sonstige Ämter Jeder Kammer stand ein Präsident vor, der im wesentlichen stets folgende Aufgaben hatte: Er "sorgt für die Aufrechterhaltung der Ordnung bestimmt die Sitzungstage, eröffnet und schließt die Sitzungen, ordnet den Gang der Verhandlungen und leitet die Beratungen und Abstimmungen" 87 . Darüber hinaus hatte der Präsident bei Stimmengleichheit die entscheidende Stimme 88 , die in der Praxis hin und wieder auch bei bedeutenderen Vorhaben den Ausschlag gab 89 . War der Präsident verhindert, wurde er durch den Vizepräsidenten vertreten. In Württemberg und Bayern wurden die Vizepräsidenten, ebenso wie die Präsidenten, vom König aus drei von der Kammer vorgeschlagenen Kandidaten ernannt 90 . Außerdem wurden aus den Reihen der Abgeordneten mehrere Sekretäre gewählt 91 , die den Präsidenten bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben unterstützten 92. Eine kollegiale Leitung der Landtagsgeschäfte durch ein Präsidium gab es nicht. Eine Ausnahme gab es in Bayern, wo das "Directorium" aus den Präsidenten und Sekretären beider Kammern gemeinsam über die Einstellung und den Einsatz der Kanzlei-Angestellten befand 93. Ein Ältestenrat oder eine vergleichbare Einrichtung wie der Seniorenkonvent im Reichstag existierte nicht 94 . Es bestanden noch keine festgefügten Fraktionen, zwischen denen Gegenstand und Ablauf der Beratungen und die anteilmäßige Besetzung der Gremien hätte abgesprochen werden müssen.
85
§§ 31 - 43 GO. §169 S. 3 Verf. 87 § 165 Verf. von Württemberg. Ähnlich Bayern: Tit. II §§ 1, 6, 8, 10 Edict über die StändeVersammlung. 88 Württemberg § 176 Verf., Bayern Tit II § 44 Edict über die Stände-Versammlung, Baden §74 Verf. 89 S. für Württemberg Brandt, Parlamentarismus in Württemberg, S. 185. 90 Bayern Tit. I § 63 Edict über die Stände-Versammlung, Württemberg § 164 Verf. 91 Bayern Tit. I § 64 Edict über die Stände-Versammlung, Württemberg § 164 Abs. 5 Verf. 92 Bayern Tit. II § 2 Edict über die Stände-Versammlung, Württemberg §§ 50, 61,63 GO. 93 Tit. II § 4 Edict über die Stände-Versammlung. In Württemberg wurde das Personal von den Kammern gewählt, § 193 Verf. 94 Vgl. Botzenhart, Dt. Parlamentarismus, S. 467. 86
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3. Verfahren
bei Wahlen
Das Wahlverfahren zur Besetzung der Ämter und Kommissionen war in dieser Zeit einfach - es gab nur die Wahl mit relativer oder absoluter Mehrheit. Die Wahlen waren im Gegensatz zu sonstigen Abstimmungen i.d.R. geheim 95 . Enthaltungen waren nicht gestattet96, obwohl schon Bentham 1817 eine solche Regelung mit guten Argumenten gefordert hatte 97 . In Württemberg waren die in ein Amt gewählten Abgeordneten verpflichtet, es anzunehmen98. Die Wahl mit relativer Mehrheit war in Baden für alle Wahlen vorgesehen (Präsidenten und Mitglieder der Ausschüsse und Kommissionen 99 ), in Württemberg nur für die Mitglieder der Ausschüsse100, während die Kandidaten für das Amt des Präsidenten und des Vizepräsidenten dort mit absoluter Mehrheit gewählt wurden 101 . In Bayern war die absolute Mehrheit für alle Wahlen vorgesehen 102. Die (geheime) Stimmabgabe wurde mitunter noch nach der aus England und Frankreich übernommenen Methode der Kugelwahl (scrutin, balotte) durchgeführt. Jeder Abgeordnete hatte für seine Stimme zwei verschiedenfarbige Kugeln für n j a n und "nein", die in Urnen gesammelt und ausgezählt wurden. Im übrigen wurde mittels schriftlicher Wahlzettel gewählt 103 . Die Wahl mit einfacher (relativer) Mehrheit bot in der Praxis die wenigsten Schwierigkeiten: Über die Vorschläge wurde regelmäßig einzeln abgestimmt, und die Abgeordneten mit den meisten Stimmen erhielten die Ämter oder
95 S. Baden § 74 Verf., Bayern Tit. I § 65 Edict über die Stände-Versammlung; Botzenhart, Dt Parlamentarismus, S. 474. 96 Bayern Tit II § 45 Edict über die Stände-Versammlung, Württemberg § 52 GO, Baden § 74 Verf., s.a. Botzenhart, Dt. Parlamentarismus, S. 474. 97 Tactik oder Theorie des Geschäftsganges, S. 161. Über die Auseinandersetzungen zu dieser Frage in der württembergischen 2. Kammer vgl. Brandt, Parlamentarismus in Württemberg, S. 211 f. 98 S. Brandt, Parlamentarismus in Württemberg, S. 194,232. 99 § 74 und für den ständischen Ausschuß § 51 Verf. 100 § 32 GO und für den ständischen Ausschuß § 190 Verf. 101 §164 Verf. 102 Tit. I § 65 und Tit. II § 26 Edict über die Stände-Versammlung. 103 S. Württemberg § 55 GO. Beide Verfahren sind vorgesehen im bayr. Edict über die StändeVersammlung, Tit. I § 65.
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Ausschußsitze 104 . Dabei hatte jeder Abgeordnete soviele Stimmen, wie es Vorschläge gab. Schwierigkeiten mußte die Wahl mit absoluter Mehrheit bereiten, wenn mehr als zwei Kandidaten pro Amt vorgeschlagen wurden oder wenn ein mehrköpfiges Gremium zu besetzen war. Dieses Problem hatte schon Bentham gesehen: "Das Votum ist zusammengesetzt, wenn (...) eine Person unter mehreren zu wählen oder zu verschiedenen Stellen zu ernennen ist. (...) Bei Wahlen ist die zusammengesetzte Weise öfters notwendig. Es soll z.B. aus einer Versammlung von 1200 Personen ein Ausschuß von 24 Personen gewählt werden, so sind 1200 Personen für jede Stelle wählbar, und 24 Stellen für deren jede aus 1200 zu wählen ist." 1 0 5 Ein praktikables Verfahren war damit aber nicht beschrieben. Sein Übersetzer St. Dumont machte einen ebensowenig durchdachten Vorschlag: "Die Commissionen werden auf zweierlei Arten gewählt: 1. nach einer bloßen Bestimmung der Anzahl (der Glieder) durch den Präsidenten, wovon die Liste der Genehmigung durch Sitzen oder Stehen unterworfen wird; 2. durch Kugelwahl und bei dem ersten Umlauf nach der absoluten Mehrheit, bei dem zweiten nach der relativen Mehrheit einer Kandidaten-Liste, die dreimal so zahlreich ist, als die zu besetzenden Stellen." 106 Abgesehen davon, daß die strikte Festlegung der Kandidatenzahl Schwierigkeiten bereiten konnte, stellte sich in der Praxis der süddeutschen Landtage bald heraus, daß bei der 2. Variante die umgekehrte Vorgehensweise sinnvoller und bei vorgeschriebener Mehrheitswahl auch die einzig mögliche war 1 0 7 . So wurden im ersten Wahlgang die beiden Kandidaten mit den relativ meisten Stimmen ermittelt. In der Stichwahl erhielt einer von beiden die absolute
104 Vgl. Württemberg § 190 Verf.: Für aus dem ständischen Ausschuß ausscheidende Mitglieder rückten die Kandidaten mit den nächstmeisten Stimmen nach. 105 Tactik oder Theorie des Geschäftsganges, S. 144 f. 106 Art 58 der von St. Dumont entworfenen GO des Rats der Stadt Genf, in: Bentham, Tactik oder Theorie des Geschäftsganges, S. 216. 107 Allerdings werden die Abgeordneten der französichen Nationalversammlung gegenwärtig nach diesem Verfahren gewählt.
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Mehrheit. Die unterlegenen konnten sich im nächsten Wahlgang für den nächsten Platz erneut bewerben 108 . Bei der Wahl der Präsidenten-Kandidaten ergab sich so eine n Wunschliste n der Kammer, die erwartete, daß ihr erster Vorschlag berücksichtigt wurde. Dem wurde entsprochen, wenn der Spitzenkandidat der Regierung genehm war. I m Konfliktfall scheute sich der Fürst nicht, diese Erwartung durch Ernennung eines ihm passender erscheinenden Präsidenten zu enttäuschen109. Das System der Mehrheitswahl war nicht in der Lage, Minderheiten in den Gremien eine anteilmäßige Vertretung zu sichern. Allerdings schuf diese Schwäche in der Praxis kaum Probleme. Wurden die Ausschüsse nur für einen Gegenstand gebildet, so war es natürlich fraglich, ob Befürworter und Gegner des Projekts gleichermaßen in ihm vertreten waren. Aber da die Mehrheiten von Fall zu Fall wechselten, konnte keine "Richtung" und kein Abgeordneter (der sowieso in erster Linie für sich, nicht für eine Gruppe auftrat) sich ganz aus der Beratung ausgeschlossen fühlen. In ständigen Ausschüssen spiegelten sich wiederum auch die ständig wechselnden Mehrheiten wieder. In Baden, wo die Ansätze zur Fraktionsbildung am weitesten fortgeschritten waren, wurde das Problem durch die zufällige Zusammenstellung der Abteilungen entschärft. Dort war immer eine Mehrheit möglich, die der im Plenum nicht entsprach, und sie konnte einen der ihren in die Kommissionen entsenden110. I m übrigen dominierten sowieso weitgehend einzelne Abgeordnete kraft ihres Ansehens und/oder ihres Sachverstandes die Versammlungen. In Württemberg z.B. hatte lange Zeit eine kleine Anzahl führender Parlamentarier eine Fülle (im Einzelfall bis zu 22) von Ämtern und Kommissionssitzen inne, während fast die Hälfte der Mandatsträger überhaupt keinem Ausschuß angehörte 111 . Hecker, einer der Führer der etwa 10 Abgeordneten starken Gruppe der radikalen Demokraten in der badischen 2. Kammer 112 , wurde noch 1846 mit den meisten und über 2/3 der Stimmen als zusätzliches Mitglied 108
So die Praxis in der 2. Kammer Württ., vgl. die Schilderung der Wahl der Präsidentenkandidaten bei Brandt, Parlamentarismus in Württemberg, S. 189 f. Später ausdrücklich jeweils § 7 der GO des Norddt. Bundes und des preußischen Abgeordnetenhauses von 1868 bzw. 1867 für die Wahl des Präsidenten mit absoluter Mehrheit. 109 wie im konfliktreichen 1. württembergischen LT von 1833, vgl. Brandt, Parlamentarismus in Württemberg, S. 190. 110 Zu diesem Vorteil der Abteilungen schon Mittermaier, Art "Geschäftsordnung", in: StaatsLexikon, Bd. V, 1837, S. 649 ff. 111 S. Brandt, Parlamentarismus in Württemberg, S. 235. 112 S. KramerS. 54.
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vom Plenum in die wichtige Budgetkommission gewählt. Als PräsidentenKandidat erhielt er dagegen gerade eine Stimme, obwohl er aus seiner Gruppe keinen Gegenkandidaten hatte 113 .
V· Ansätze eines Fraktionsparlaments Aber auch unter den Bedingungen des Frühkonstitutionalismus gab es Phasen zugespitzter politischer Verhältnisse, in denen politisch bewußte und diszipliniert handelnde Gruppierungen in den Kammern auftraten. In der Aufbruchstimmung nach der französischen Juli-Revolution 1830 wurden in Württemberg zahlreiche lokale Wahlvereine und sonstige politische Organisationen gegründet 114 . Eine große Zahl liberaler Abgeordneter wurde in die württembergische 2. Kammer gewählt. Die eindeutig regierungstreuen Mitglieder waren leicht in der Minderheit, etwa ein Viertel der Abgeordneten ließ sich keiner dieser Richtungen zurechnen. In dieser Situation rief die Regierung den bereits Ende 1831 gewählten Landtag erst Anfang 1833, am Ende der zulässigen Frist, zusammen. In der Zwischenzeit hatten sich die oppositionellen Abgeordneten bereits mehrfach getroffen und dabei öffentlich die rasche Einberufung des Landtags und bestimmte politische Zugeständnisse gefordert 115 . Die günstige politische Stimmung - 1832 hatte das Hambacher Fest stattgefunden - und die zahlenmäßige Stärke ließ jedenfalls den Kern dieser Gruppe im Landtag geschlossen und offensiv vorgehen. Als Antwort darauf mußten sich auch die Regierungstreuen "als Partei1* zusammentun. Damals wich der König erstmals von dem Brauch ab, den ersten der von der Kammer vorgeschlagenen Kandidaten zum Präsidenten zu ernennen 116. Die Auseinandersetzungen spitzten sich bei den Wahlen der Kommissionen zu. Hier ging es hauptsächlich um die Vorberatung des Haushalts und - in den Debatten im Vordergrund stehend - der "Motion Pfitzer", die die Verurteilung der gerade einsetzenden reaktionären Maßnahmen des Deutschen Bundes (u.a. das Verbot politischer Vereine) und die Verhinderung ihrer Durchführung in Württemberg forderte.
113
Vgl. Bad. LT-Zeitung 1846, 7. Sitzung vom 13. Mai, S. 56 und 9. Sitzung vom 18. Mai,
S. 92.
114 115 116
S. Grube S. 515. Dazu und zum folgenden Brandt, Parlamentarismus in Württemberg, S. 503 ff. S. Brandt, Parlamentarismus in Württemberg, S. 190.
3 Edinger
34
1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
Interessant ist, daß sich beide konkurrierende Gruppen sofort nach ihrer Herausbildung um eine Absprache über die Besetzung der Ausschüsse bemühten, da keine über eine sichere Mehrheit verfügte und bei der Wahl ein "Alles oder Nichts" für beide möglich war. Nachdem sie einvernehmlich zunächst die Wahlen verschoben hatten, trafen sich ihre Unterhändler mindestens zweimal, und zwar beim Präsidenten, um den Besetzungsproporz abzustimmen. Es kam zu keiner Einigung, weil die Opposition nicht bereit war, bestimmte Vorschläge der anderen Seite mitzuwählen 117 . Daraufhin begann das Tauziehen um die Stimmen der ungebundenen Abgeordneten. Obwohl die Regierungsseite ihnen einige Ausschußplätze in Aussicht stellte, waren die Liberalen letztlich erfolgreicher. Die Wahlen fielen deutlich zu ihren Gunsten aus. Als Antwort auf ihre Niederlage machte die Regierung wenige Tage später von ihrem Recht auf Auflösung des Landtags Gebrauch. Der Landtag ging als der "vergebliche" in die Geschichte Württembergs ein 1 1 8 . Die Opposition erreichte bis 1848 nicht noch einmal eine solche zahlenmäßige und vor allem politische Stärke 119 . Aus dem Frühjahr 1848 sind allerdings wiederum Absprachen verschiedener Parlamentsgruppen für die Ausschußbesetzung überliefert. Diesmal funktionierten sie 120 .
V I . Fazit Anschaulich zeigt diese Episode Möglichkeiten und Grenzen der Landtage i m Vormärz. Trotz aller Einschränkungen im Geschäftsgang wären schon in dieser Zeit parlamentarische Verhältnisse, die von dem Gegensatz und der Konkurrenz von Fraktionen/Parteien geprägt sind, möglich gewesen. Die Gespräche der Gruppierungen gerade beim Landtags-Präsidenten um den Besetzungsproporz machen deutlich, wie rasch solche Gruppenbildung auf das "offizielle" Parlamentsleben Einfluß gewinnen. Diese Verhandlungen waren eine Vorstufe zum späteren Seniorenkonvent. A u f der anderen Seite waren die fürstlichen Regierungen noch stark genug, die Versuche der bürgerlichen Opposition in und außerhalb der Landtage, 117 118 119 120
S. Brandt, Parlamentarismus in Württemberg, S. 547 ff. S. Grube S. 517. S. Grube S. 518 f. S. Brandt, Parlamentarismus in Württemberg, S. 533.
Β. Die Frankfurter Nationalversammlung
35
Schritte in Richtung einer parlamentarischen Demokratie durchzusetzen, zu verhindern. Dazu konnten sie sich der Mittel bedienen, die ihnen in den von ihnen selbst geschaffenen Verfassungen zur Verfügung standen. Alles in allem standen die für die Gremienbesetzung in demokratischen Parlamenten typischen Probleme des Proporzes oder des Minderheitenschutzes in den Repräsentationsorganen des Frühkonstitutionalismus mangels Geschäftsordnungsautonomie und mangels organisierter politischer Abgeordnetengruppen noch nicht auf der Tagesordnung. Die Rahmenbedingungen für die "Parteiendemokratie" und das "Fraktionsparlament 11 waren noch nicht vorhanden. Aber die Abgeordneten dieser Zeit erprobten das parlamentarische Verfahren. Sie lernten Stärken und Schwächen bestimmter Regelungen, insbesondere hinsichtlich der Ausschußorganisation kennen, und vor allem die Grenzen, die der Frühkonstitutionalismus ihren Parlamenten setzte.
B. Die Frankfurter Nationalversammlung I· Vorgeschichte 1. Die gesellschaftliche Entwicklung bis zur Revolution 1848 In den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts veränderte sich das Wirtschafts- und Sozialgefüge Deutschlands schnell. Die Gründung des Zollvereins 1834 und der Beginn des Eisenbahnbaus 18351 markierten den Anfang einer stürmischen Industrialisierung 2 und eines dadurch ausgelösten Wandels der Sozialstruktur 3 in Deutschland. In einigen Staaten Deutschlands hatte seit dem Ende der napoleonischen Befreiungskriege auf dem Lande die Ablösung der feudalen Lasten durch Freikauf begonnen4, was zur Verschuldung und Verarmung vieler Bauern führte 5. Armut und Bevölkerungswachstum trieb die Menschen in die Städte, deren Bevölkerung in kurzer Zeit um das Vielfache anwuchs.
1 2 3 4 5
Strecke Nürnberg-Fürth. Vgl. dazu und zum folgenden Deutsche Demokraten S. 10 f. Vgl. Huber Bd. 2 S. 416 ff. S. dazu im einzelnen Huber Bd. 1 S. 184. S. Huber Bd. 1 S. 189 und 196.
36
1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
I m Gefolge der Industrialisierung entstand ein Industrieproletariat, das sich aus der verarmten Landbevölkerung und städtischen Handwerksgesellen rekrutierte. Auf der anderen Seite kamen viele Bürger als Industrielle, Bankiers, Grundbesitzer etc. zu neuen Reichtum. Viele Handwerker und sonstige Kleinproduzenten in Stadt und Land konnten der zunehmenden Konkurrenz industriell gefertigter Produkte auf Dauer nicht standhalten. Den wenigsten gelang es, selbst zu industriellen Produzenten aufzusteigen. Obwohl Armut und Elend beileibe keine neuen Erscheinungen in Deutschland waren, so resultierten doch aus den geschilderten Umbrüchen neue soziale Spannungen6. Sie entluden sich zuerst im Aufstand der schlesischen Weber 1844, der großes Aufsehen erregte. Noch im selben Jahr fanden die ersten Streiks des Industrieproletariats statt, z.B. der Eisenbahnarbeiter in Preußen, Österreich und Sachsen. Daneben gab es bis 1848 wiederholt Hungerrevolten unter der Landbevölkerung 7. Die feudalstaatliche Ordnung hatte sich angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung zunehmend überlebt.
2. Die Entwicklung der antifeudalen Opposition im Vormärz Die letzte bedeutende Volksbewegung für Verfassung und nationale Einheit zu Beginn der dreißiger Jahre war dem Druck der vom deutschen Bund forcierten Reaktion erlegen 8. Ihre Forderungen hatten sich noch weitgehend i m Rahmen einer konstitutionellen Monarchie bewegt9. Immerhin gab sie den Anstoß dafür, daß die meisten Länder des deutschen Bundes, die dem Gebot der Bundesakte zu landständischen Verfassungen bis 1830 nicht gefolgt waren, derartige Verfassungen erhielten, mit Ausnahme allerdings der beiden Staaten, Österreich und Preußen 10. Die gesellschaftliche und politische Entwicklung führte dann im Laufe des Vormärz zu einer Differenzierung innerhalb der Opposition. Es bildeten sich 6
S. Huber Bd. 2 S. 416 f. S. Deutsche Demokraten, S. 15 f. 8 S. dazu Huber Bd. 2 S. 151 ff. und 173 ff. 9 S. Deutsche Demokraten, S. 5. Immerhin wurde bereits vereinzelt die Forderung nach der Republik erhoben, s. aaO. S. 7. 10 S. Bergsträsser, Die Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland, S. 139, und im einzelnen die Übersicht bei Huber Bd. 1 S. 656 f. 7
Β. Die Frankfurter Nationalversammlung
37
die zwei Hauptrichtungen heraus, die sich in der Revolution 1848 als Gegner gegenüberstanden: der gemäßigte Liberalismus und der demokratische Radikalismus 11 . a) Der gemäßigte Liberalismus Die Mehrheit der bürgerlichen Oppositionellen nahm die Position eines gemäßigten Liberalismus ein, dessen Hauptforderungen sich nach wie vor auf nationale Einheit und eine rechtsstaatliche, konstitutionelle Staatsverfassung beschränkten. I m Mittelpunkt des politischen Interesses stand die Gewährleistung der Freiheit des privaten Wirtschaftens. Feudale Beschränkungen und Kleinstaaterei waren zu beseitigen. Aber mehr und mehr mußten auch die Ansprüche der "Verlierer 11 der Industrialisierung zurückgewiesen werden: Teile der handwerklichen Produzenten sehnten sich nach der alten Zunftordnung zurück 12 . Von Seiten des Proletariats erklang der Ruf nach gerechter Verteilung des neuen Reichtums. Deshalb wurde ein Rechtsstaat angestrebt, der die Privatsphäre der Bürger achtete und durch die "Gewährung des Privatrechts" 13 schützte, wobei das Privateigentum im Vordergrund stand14. Forderungen nach staatlicher Sorge für die "Wohlfahrt - für das körperliche und geistige Wohl und für den Wohlstand - seiner Untertanen" 15 wurden zurückgewiesen, da dies unerwünschte Eingriffe des Staates in die Freiheit und das Eigentum seiner Bürger zur Folge hätte 16 . Führende Liberale wie Rotteck und Welcker warnten früh vor "Angriffe^) gegen das Eigentum von Seiten der Besitzlosen und ihrer Anwälte", durch "Kommunismus und Sozialismus" 17 .
11
Auf die vielfaltigen Varianten innerhalb der beiden Richtungen braucht hier nicht eingegangen zu werden, s. dazu Botzenhart, Die Parlamentarismusmodelle der deutschen Parteien 1848/89, S. 137 ff. und Brandt, Landständische Repräsentation im Vormärz. 12 Vgl. Huber Bd. 2 S. 684 f. 13 Dahlmann, Der Staat und die Menschheit, zit.n.: Der europäische Liberalismus, Bd. 1, S. 313 f. 14 S. Dahlmann S. 313. Zum Privateigentum als Ausgangspunkt bürgerlicher politischer Theorie s. Ballestrem, Klassische Demokratietheorie, S. 40. 15 Zachariae, Vom Zweck des Staates (veröffentlicht 1839), zit. n.: Der europäische Liberalismus, Bd. 1 S. 320. 16 S. Zachariae, S. 319. 17 Welcker, Art "Eigentum" im Staats-Lexikon (1846), zit n.: Der europäische Liberalismus, Bd. 4 S. 51. Rotteck sprach in derl835 veröffentlichten Auflage unter demselben Stichwort vom drohenden "Krieg der Eigentumslosen gegen die Eigentümer", zit n.: Der europäische Liberalismus, Bd. 4 S. 47.
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
Das Bürgertum sah, daß es der feudale Staat war, der die Angriffe des "Pöbels" 18 auf sein Eigentum zurückwies, notfalls unter Einsatz von Militär, wie bei dem Aufstand der schlesischen Weber. Die widersprüchliche Interessenlage gegenüber feudalen Regierungen einerseits und den Ansprüchen des niederen Volkes andererseits fand Ausdruck in der angestrebten Konstruktion des Staates. Nicht die als Pöbelherrschaft denunzierte Republik war das Ideal, sondern der Kompromiß zwischen einem starken Monarchen, verstanden als eine vom Volkseinfluß abgeschirmten Exekutive, und einer Nationalrepräsentation, in der sich das Bürgertum durch ein Zensuswahlrecht den beherrschenden Einfluß zu verschaffen gedachte19. Rotteck ging soweit, eine solche Konzeption als Verwirklichung des "demokratischen Prinzips" auszugeben20. Den Liberalen verbot sich die Revolution als Mittel zur Durchsetzung ihrer Forderungen von selbst. Revolution hätte Gefahr für die eigenen Interessen durch die Mobilisierung des "Pöbels" bedeutet21. Die scheinbare Stärke des Feudalsystems, das auf die Volksbewegung anfangs der dreißiger Jahre mit der Rücknahme politischer Freiheiten reagiert hatte, das Nachgeben der Regierungen in einigen wichtigen wirtschaftspolitischen Fragen und die Berufung einzelner Liberaler in Ministerämter waren weitere Gründe für eine auf Reform und Zusammenarbeit orientierte Haltung, die sich zum Ziel setzte, sowohl "für die Throne wie für die Völker (...) das Heil" zu sichern 22 .
b) Der demokratische Radikalismus Die unnachgiebige Haltung der Fürsten gegenüber der Volksbewegung Anfang der dreißiger Jahre, die einherging mit der offenen Mißachtung der bestehenden Verfassungen, erschütterte bei Teilen der Opposition das Vertrauen in die Reformfahigkeit des konstitutionellen Systems, auf das die große Mehrheit der Liberalen immer noch setzte. Beeinflußt von der ausländischen
18
Den das Bürgertum schon im 18. Jahrhundert verachtete, s. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 92 f. 19 Vorbild war das politische System Englands. 20 Das demokratische Prinzip, zit. n.: Der europäische Liberalismus, Bd. 2 S. 147 f., 152 f. Zur Reduktion des Demokratiebegriffs durch die Liberalen s. Ballestrem, S. 40 m.w.N. 21 Vgl. die Einschätzungen Botzenharts, Die Parlamentarismusmodelle der deutschen Parteien 1848/89, S. 142, und Ziebura, Anfänge des deutschen Parlamentarismus, S. 235 f. 22 Rotteck, Das demokratische Prinzip, zit. n.: Der europäische Liberalismus, Bd. 2 S. 156.
Β. Die Frankfurter Nationalversammlung
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Entwicklung, der erfolgreichen Juli-Revolution in Frankreich und dem Beginn der Wahlrechtsreform in England ab 1832, wurden wieder demokratische Forderungen in der Öffentlichkeit laut. Erstmals sprach sich der zur Vorbereitung des Hambacher Festes 1832 gegründete (und kurz darauf verbotene) "Press- und Vaterlandsverein 11 offen für eine nationale Republik aus 23 . Das war auch das Ziel der vielleicht SO Personen starken Gruppe von radikalen Demokraten, die im April 1833 mit dem Frankfurter Wachensturm ein Signal zum Volksaufstand setzen wollten 24 . Genauere Vorstellungen von einem demokratischen Staatsaufbau konnten in Deutschland kaum entwickelt und angesichts der staatlichen Repression nicht öffentlich propagiert werden. Dies war allenfalls im Exil möglich. Dort entstanden republikanische Organisationen deutscher Flüchtlinge, die in vielfaltiger Weise auf die Entwicklung in der Heimat Einfluß zu nehmen versuchten 25 . Von den Liberalen unterschieden sich die Demokraten vor allem in drei Punkten: Sie wollten nicht den Kompromiß mit dem Adel, sondern seine Entmachtung. Das ganze Volk sollte an der politischen und staatlichen Willensbildung beteiligt werden (Stichworte: Volkssouveränität und allgemeines und gleiches Wahlrecht). Dabei sollte auch die Regierung vom Volkswillen abhängig sein 26 . Anklang fanden demokratische Ideen vor allem unter Kleinbürgern, Handwerkern und Intellektuellen. Die Barriere zu den unteren Volksschichten wurde überwunden. So forderte man nicht nur deren politische Gleichberechtigung, sondern darüber hinaus auch soziale Maßnahmen zur "Ausgleichung des Mißverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit" 27 . A m linken Rand dieses Spektrums gab es Übergänge von Sozialrevolutionären Positionen zu denen der entstehenden sozialistischen Arbeiteibewegung 28 . Diese spielte zwar in den Parlamenten noch keine Rolle. Ihre betont antibürgerliche Haltung nährte aber zusätzlich die ablehnende Haltung der Liberalen gegenüber der Demokratie. 23
S. Huber Bd. 2 S. 135 ff. S. dazu Huber Bd. 2 S. 164 ff. 25 Z.B. die Gruppe "Junges Deutschland", der Heine und Börne angehörten, und der 1833 in Paris gegründete "Deutsche Volksverein", vgl. Huber Bd. 2 S. 126 ff. 26 Vgl. die Nachweise oben Fn. 11. 27 So im Offenburger Programm, Text s. Huber, Dok. Bd. 1 Nr. 71. 28 Vgl. dazu Huber Bd. 2 S. 414 ff. 24
40
1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
Für die Dauer des Vormärz wurde in den Landtagen die beginnende Differenzierung innerhalb der liberalen Opposition allerdings nur selten sichtbar 29 . Zwar begannen sich auch hier die "Halben1*, die den Kompromiß mit der Regierung suchten, von den "Ganzen", den konsequenten Regierungsgegnern, zu scheiden. Auslöser dafür war z.B. die Berufung einzelner Oppositionspolitiker in Regierungsämter. Doch erst 1847 traten programmatische Unterschiede i m radikaleren Offenburger und dem gemäßigteren Heppenheimer Programm zutage 30 . "Die Scheidung der Parteien erfolgte deutlich erst nach dem Siege" 31 über den gemeinsamen feudalen Gegner.
3. Die demokratische Revolution bis zur Wahl der Nationalversammlung Die Nachricht vom Sturz der Julimonarchie und der Errichtung der Republik in Frankreich löste Ende Februar 1848 die demokratische Revolution in Deutschland aus.
a) Die "Märzministerien" in den Ländern Alle Landesfürsten wichen früher oder später vor dem Druck des Volkes zurück. Die Landesregierungen wurden mit Vertretern der Mehrheitsliberalen (den "Märzministern") besetzt. Republikaner waren in den Märzministerien regelmäßig nicht vertreten. Die Bevölkerung erkämpfte sich jedoch überall die lange verweigerten politischen Grundrechte auf Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit, oft sogar das Recht auf Volksbewaffnung 32 . Zu Reformen der frühkonstitutionellen Systeme auf Länderebene kam es zu Beginn der Revolution nicht. Ausschlaggebend dafür waren vier Gründe: Die Regierungen befanden sich in der Hand der Opposition. I m übrigen wollte man die Vorgaben der Nationalveisammlung abwarten, um dann die nötigen Anpassungen an die nationale Verfassung vorzunehmen. Die liberalen Mehrheiten in den meisten Landtagen hatte es auch nicht eilig, ihre durch das überkommene ständische Zensuswahlrecht nunmehr vor dem radikalisierten
29
S. Bergsträßer, Die parteipolitische Lage beim Zusammentritt des Vorparlaments, S. 594. S. Huber Bd. 2 S. 449. 31 Hansemann, zit n.: Bergsträßer, Die parteipolitische Lage beim Zusammentritt des Vorparlaments, S. 594. 32 Vgl. im einzelnen Valentin, Geschichte der deutschen Revolution 1848-1849, Bd. 1 S. 338 ff. 30
Β. Die Frankfurter Nationalversammlung
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Volk geschützte Machtposition aufs Spiel zu setzen33. Schließlich steuerten die Märzminister den bereits vor der Revolution angekündigten Kurs der strikten Legalität und der Zusammenarbeit mit den Fürsten. Schon im Sommer 1848 waren sie es, die mit Hilfe des feudalen Militärs und der Reichszentralgewalt und gestützt auf die Legalität der überkommenen Verfassung des deutschen Bundes republikanische Volksaufstände niederschlugen und sich rühmten, Ruhe und Ordnung wiederhergestellt zu haben34.
b) Die Auseinandersetzungen innerhalb der Opposition Bereits der Weg zur Nationalversammlung war gekennzeichnet durch den Kampf um die künftige Staatsform, der zwischen Liberalen und Demokraten ausgetragen wurde. Erstere sahen ihr Ziel bereits weitgehend erreicht. Nach der Übernahme der Regierungsgeschäfte in den Ländern war der Kompromiß mit den Fürsten greifbar nahe und sollte nur noch in einer nationalen und konstitutionellen Verfassung niedergelegt werden. Da die Fortführung der Revolution die Gefahr der Radikalisierung der Bevölkerung in sich barg, war sie zu beenden. Gerade dagegen wandten sich die Demokraten. Weder war das Feudalsystem beseitigt und die Macht der Fürsten wirklich gebrochen noch ein demokratischer Nationalstaat errichtet. Bereits beim ersten Treffen der Oppositionellen, der "Heidelberger Versammlung" Anfang März 1848, kam es zu heftigen Auseinandersetzung zwischen den Demokraten um Hecker und Struwe und den Konstitutionellen um Gagern 35. Man einigte sich auf die Forderung nach Wahlen zu einem Nationalparlament sowie auf die Einberufung des sogenannten Vorparlaments, zu dem Vertreter aller deutschen Länder eingeladen wurden 36 . Weitergehende Forderungen waren gegen die liberale Mehrheit in der Versammlung nicht durchsetzbar.
33
S. Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit, S. 193 f. Gestützt auf die Vorschriften über die Reichsintervention. Außer den beiden ersten badischen Aufständen - beim dritten brauchten die bereits vom Reichsverweser aufgestellten Truppen dank der vom späteren 1. deutschen Kaiser (der damals seinen Beinamen "Kartätschenprinz" erhielt) geführten preußischen Armee nicht mehr einzuschreiten - z.B. im Sommer 1848 in Nassau (s. Huber Bd. 2 S. 519) , Sachsen-Meinigen- Hildburghausen (s. Huber Bd. 2, S. 533), Septemberaufstand in Frankfurt und andernorts (s. Huber Bd. 2 S. 696 ff.). 35 S. Huber Bd. 2 S. 594 f. 36 S. Huber Bd. 2 S. 594. 34
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
Der für die Einladung zum Vorparlament eingesetzte "Siebenerausschuß" war ebenfalls fest in konstitutioneller Hand 37 . Er lud alle aktuellen und ehemaligen Mitglieder landständischer und sonstiger gesetzgebender Versammlungen sowie weitere bekannte Oppositionspolitiker ein 38 . Die Mehrheitsverhältnisse der Heidelberger Versammlung setzten sich dadurch auch im Vorparlament fort, welches vom 31. März bis zum 4. April 1848 in der Frankfurter Paulskirche tagte. Die Mehrheit lehnte Anträge auf Permanenzerklärung und Einsetzung einer provisorischen Nationalregierung ab, mit denen die Linken die Sicherung und Fortführung der Revolution in Richtung Demokratie erreichen wollten 39 . Die Entscheidung über die künftige Staatsform mußte der Nationalversammlung überlassen werden. Bis zu deren Zusammentritt sollte ein Fünfziger-Ausschuß die Rechte des Volkes wahren. Die radikalen Linken um Hecker und Struwe waren darin nicht mehr vertreten 40. Vom parlamentarischen Weg enttäuscht gaben sie wenig später das Signal zum (erfolglosen) ersten badischen Aufstand.
c) Das Wahlrecht zur Nationalversammlung I m Vorparlament kam es zu einem Kompromiß zwischen beiden Lagern über das Wahlrecht für die Nationalversammlung. Die einzelnen Landesregierungen wurden mit der Durchführung der Wahlen beauftragt. Folgende Grundsätze für die Wahlen wurden vorgegeben: - Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen mit 50.000 Einwohnern, - Unmittelbarkeit der Wahl (die Länder konnten jedoch auch indirekte Wahlen anordnen), - gleiches Wahlrecht (jeder Wahlberechtigte besaß eine Stimme). Geheime Wahl wurde nicht vorgeschrieben. Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl wurde durchbrochen durch den Ausschluß der Unselbständigen 41 . Von den Länderregierungen wurden meist neben den Empfangern von 37 38 39 40 41
S. Huber Bd. 2 S. 594. S. Huber Bd. 2 S. 599. S. Huber Bd. 2 S. 601. S. Huber Bd. 2 S. 604. Sowie, damals weitgehend selbstverständlich, der Frauen.
Β. Die Frankfurter Nationalversammlung
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Armenfürsorge auch Gesinde und Handwerksgesellen als unselbständig definiert. Fast alle Märzregierungen ordneten außerdem entgegen der Empfehlung des Vorparlaments indirekte Wahlen an 42 . Daß dieses Wahlrecht auch nach damaligen Maßstäben noch nicht allen demokratischen Ansprüchen genügen konnte, zeigt der Vergleich mit dem ein Jahr später von der Paulskirche verabschiedeten Wahlgesetz, das gleiche, direkte, geheime und weitgehend allgemeine Wahlen vorsah 43 . Aber es gab der Bevölkerung in bisher nicht gekanntem Ausmaß die Möglichkeit zur Teilnahme am politischen Prozeß in Form der aktiven Einflußnahme auf die Willensbildung des Staates.
I I · Die Nationalversammlung und ihr Geschäflsverfahren 1. Entstehungsgeschichte der Geschäftsordnung a) Theoretische Grundlagen vor der Revolution Über die vom Ausland übernommenen 44 hinaus gab es eigenständige deutsche Beiträge zur Theorie der parlamentarischen Geschäftsordnung bis 1848 nicht. Über vereinzelte kursorische Darstellungen der Geschäftsordnungen der Landtage 45 war die Staatsrechtslehre nicht hinausgekommen. Die frühkonstitutionellen Kammern mit ihrem eingeschränkten Wirkungskreis boten allerdings auch wenig Anreiz zu einer vertieften wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den dort bestehenden Verfahrensregeln. Daneben fehlte die theoretische Anregung in Gestalt einer Theorie der parlamentarischen Regierung, nach der das Parlament über die Mitwirkung bei der Gesetzgebung hinaus die Aufgabe der Regierungsbildung übernehmen sollte. Ein Beispiel für diese Beschränkung ist Robert Mohls Arbeit über die Ministerverantwortlichkeit aus dem Jahr 1837 46 , in der der Autor ausschließlich die Möglichkeit der juristischen Verantwortlichkeit untersucht, ohne eine politi-
42
S. zum Wahlrecht Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit, S. 141 ff. und zusammengefaßt S. 156 f. 43 S. Reichswahlgesetz vom 12. April 1849, Text: Huber Dok. 1 Nr. 108 a. 44 S.o. B.III.1. 45 Vgl. dazu oben B.III.1. 46 Mohl, Robert v., Die Verantwortlichkeit der Minister in Einherrschaften mit Volksvertretretung, rechtlich, politisch und geschichtlich entwickelt, Tübingen 1837.
44
1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
sehe Rechenschaftspflicht gegenüber dem Parlament auch nur in Erwägung zu ziehen 47 . Die Opposition war sich aber nach den demütigenden Erfahrungen in den Ständeversammlungen über einige zentrale Forderungen zur Geschäftsordnung der Landtage und der künftigen Nationalversammlung einig. Das betraf an erster Stelle die Geschäftsordnungsautonomie. I m einzelnen sollten die Versammlungen allein ihre Präsidenten bestimmen und über die Immunität sowie die Legitimation ihrer Abgeordneten entscheiden. Vorrechte der Regierungen bei den Kammerberatungen sollten beseitigt werden. Die Versammlungen sollten ein eigenes Enqueterecht erhalten. Ihre Kompetenzen sollten auf das Recht zur Gesetzesinitiative, der jährlichen Budget- und der wiederkehrenden Steuerbewilligung ausgedehnt werden 48 .
b) Erste Vorarbeiten zu einer Geschäftsordnung der Nationalversammlung Es war der immer noch bestehende Bundestag, der sich mit dem Vorschlag hervortat, eine Geschäftsordnung für die künftige Nationalversammlung auszuarbeiten 49, um so seinen politischen Einfluß zu wahren. Der Fünfzigerausschuß wies dieses Ansinnen zurück und unterstützte stattdessen Robert Mohl, der - ohne offiziellen Auftrag - begonnen hatte, die "Vorschläge zu einer Geschäftsordnung des verfassungsgebenden Reichstags"50 zu verfassen. Diese Arbeit wurde noch vor dem Zusammentritt der Nationalversammlung veröffentlicht 51 . Sie ist die erste, eigenständige und ausführliche Auseinandersetzung mit den Problemen der parlamentarischen Geschäftsordnung in Deutschland, von der Konzeption her am ehesten vergleichbar mit Benthams "Essay on political tactics". Sie bildete die Grundlage der Geschäftsordnung der Paulskirche.
c) Die Vorschläge Robert Mohls Mohl hatte nach wie vor kein parlamentarisches Regierungssystem im Auge. Er ging von einem lediglich (verfassungs-)gesetzgebenden Reichstag 47
S. Ziebura, Anfänge des dt Parlamentarismus, S. 191. Mohl selbst sah dies im Rückblick als größte Schwäche der Schrift an, s. Angermann, Robert von Mohl, S. 45. 48 S. Botzenhart, Die Parlamentarismusmodelle der deutschen Parteien, S. 135. 49 S. Schauer, Der Einzelne und die Gemeinschaft, S. 15. 50 Heidelberg 1848. 51 Nach der Datierung des Vorworts wurde sie am 30. April 1848 abgeschlossen.
Β. Die Frankfurter Nationalversammlung
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aus 52 . Einen für den Geschäftsgang erheblichen Unterschied zu den bestehenden Ständeversammlungen sah er ausschließlich in der um ein Vielfaches höheren Mitgliederzahl 53 . Dennoch vermochte er eine wichtige Folge vorauszusehen, die die von den vormärzlichen Fesseln befreite politische Entwicklung haben sollte, nämlich "daß sich scharf geschiedene und leidenschaftlich gegeneinander kämpfende Parteien in der verfassungsgebenden Versammlung bilden werden 1*54.
aa) Ausschußbesetzung Dieser Erkenntnis versuchte er vor allem bei der Ausschußbesetzung Rechnung zu tragen. Er schlug vor, i.d.R. das Präsidium (Gesamtvorstand) über die Zusammensetzung der Ausschüsse entscheiden zu lassen, "und zwar so, daß die voraussichtlich vorhandenen wesentlichen Meinungen in demselben vertreten sind" 55 . Das Plenum sollte, wenn es dies wünschte, auch selbst über die Ausschußbesetzung entscheiden können 56 . Dazu teilte es sich in 15 gleichgroße Abteilungen auf, die nach badischem Muster ausgelost wurden. Diese wählten in schriftlicher und geheimer Wahl das oder die Ausschußmitglieder aus ihrer Mitte. Dadurch ergab sich die Zahl von 15 Ausschußsitzen57 oder ein Vielfaches davon. In der Begründung verwarf Mohl für die Nationalversammlung die in England damals praktizierte Methode, den Antragsteller selbst die Ausschußmitglieder vorschlagen zu lassen, weil dies in Deutschland "bloße Parteizusammensetzungen geben" würde 58 . Bereits ein Jahr zuvor hatte Dahlmann die
52 In der Einleitung hebt er das englische Unterhaus als "großartigste gesetzgebende Versammlung" hervor, ohne auf dessen regierungsbildende Funktion einzugehen, S. VI. 53 S. Einleitung S. IV f. 54 S. 24. Mohl konnte diese Entwicklung bereits im Vorparlament studieren, dessen Mitglied er war, s. Huber Bd. 2 S. 400. 55 S. 31, Ziff. IV.3. Die Bestimmung der Ausschußmitglieder durch den Parlamentspräsidenten hatte in Deutschland zuerst St. Dumont in seiner Obersetzung Benthams Theorie und Tactik, S. 216, Art. LVIII vorgeschlagen. 56 S. S. 31 Ziff IV. 1. Ausgenommen war der Wahlausschuß, S. 16 Ziff. III.l. und S. 21. 57 Dazu S. 35 f. 58 S. S. 34.
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
Übernahme der englischen Art der Ausschußbesetzung abgelehnt, weil er fürchtete, sie werde von der Mehrheit zum Ausschluß der Minderheit mißbraucht werden 59 . Die Wahl mittels ausgeloster Abteilungen rechtfertigte Mohl zum einen mit der Zeitersparnis gegenüber einer Wahl im Plenum. Zum anderen sollte eine Minderheit die Chance erhalten, über eine zufallige Mehrheit in einer Abteilung ebenfalls Vertreter in den Ausschuß entsenden zu können. Die Gründe für eine Vertretung von Minderheiten in den Ausschüssen sind einmal die Befürchtung, einseitige Wahlen könnten "Mißvergnügen und bittere Verhandlungen" und "vielleicht ernste Nachteile zur Folge haben" 60 . Hier ging es Mohl um die Legitimation und Akzeptanz der Mehrheitsentscheidung im Plenum und in der Öffentlichkeit durch die Möglichkeit, Mindermeinungen frühzeitig in den Entscheidungsprozeß einzubringen. Die Akzeptanz war wiederum Voraussetzung für den reibungslosen Ablauf der Verhandlungen. Ferner argumentierte Mohl, die Ergebnisse der Ausschußarbeit würden durch Einseitigkeit materiell schlechter 61. Hier wird das Parlamentsmodell einer nur dem Gemeinwohl verpflichteten Versammlung sichtbar, die i m rationalen Diskurs zur einzig richtigen Entscheidung findet. Auch wenn Mohls' Parlamentsvorstellung nicht der Realität entsprechen mochte, ist sein Argument nicht von der Hand zu weisen. Die Konfrontation mit abweichenden Meinungen zwingt zum Überdenken, Präzisieren oder auch Modifizieren des eigenen Standpunkts und gewährleistet dadurch im Idealfall eine zumindest bessere Lösung. Das eben genannte Motiv wurde auch in der Befugnis der Ausschüsse sichtbar, solche sachverständige Abgeordnete mit beratender Stimme beiziehen zu können 62 , welche durch die "Ungunst des Zufalls oder die Unbilligkeit einer Partei" nicht gewählt wurden 63 . Hintergrund für diese Regelung war, daß die Abteilungen bei der Wahl auf ihre Mitglieder beschränkt waren, unter denen sich im Einzelfall kein oder mehr als ein geeigneter Kandidat befinden mochte.
59
S. Dahlmann, Die Politik, auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt, S. 153 ff. 60 S. 21, ähnlich S. 35. 61 S. S. 35. 62 S. S. 32 Ziff. IV.5. 63 S. 37.
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Ferner schlug Mohl vor, die Abteilungen monatlich neu auszulosen64. Dadurch sollten zufallige Ungleichgewichte zwischen den Parteien ausgeglichen werden 65 . Weil sich über mehrere Auslosungen hinweg die Zufälligkeiten bei den Mehrheitsverhältnissen in den Abteilungen, bezogen auf ihre Gesamtzahl, mehr und mehr ausgeglichen hätten, hätte sich früher oder später und bezogen auf die Gesamtheit der Ausschüsse sogar eine annähernd verhältnismäßige Beteiligung der verschiedenen Gruppen herausgebildet. Mohl hatte damit ein Verfahren der Ausschußbesetzung entworfen, das in einer für die Zeit vor der Entwicklung des Verhältniswahlrechts wohl optimalen Form eine Beteiligung der verschiedenen Gruppen im Parlament an der Ausschußarbeit sicherstellen konnte, ohne daß es, wie bei der Bestimmung der Ausschußmitglieder durch das Präsidium, auf dessen subjektive Unparteilichkeit ankam. I m übrigen hätte dieses System wegen der Unwägbarkeiten durch die zufallsbedingte Zusammensetzung der Abteilungen auf die Fraktionen einen heilsamen Druck zur Verständigung über eine anteilsgerechte Ausschußbesetzung ausgeübt. Das oben beschriebene Beispiel der Ausschußwahlen im "vergeblichen Landtag" von Württemberg 66 zeigt, wie schnell angesichts einer für jede Seite unberechenbaren Situation die Bereitschaft zu Absprachen hätte entstehen können. Aus diesem Grund kann der Auffassung Botzenharts, die angemessene Vertretung der Minderheit in den Ausschüssen hätte durch keine (in dieser Zeit bekannte) Art der Wahl gewährleistet werden können 67 , so nicht gefolgt werden. Auch die Ansicht Kramers, das von Mohl entworfene System der Ausschußbesetzung habe den Einfluß von Parteien auf die Ausschußarbeit verhindern sollen 68 , trifft Mohls Absicht nicht genau. Dieser mochte zwar Parteien und Fraktionen ablehnend gegenüberstehen69. Er sah aber angesichts der Aus64
S.S.31 unterIV.2. S.S.35. 66 S. o. S. 19. 67 S. Parlamentarismus in der Revolutionszeit, S. 488. 68 S. Fraktionsbindungen, S. 195. 69 Mohl hielt noch 1872 die Fraktionsbildung für einen "Beweis unfertiger staatlicher Erziehung", zit nach Triepel, Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, S. 17. Seine negative Haltung gegenüber Parteien hielt Mohl nicht aufrecht; vgl. Angermann, Robert von Mohl, S. 430 ff. 65
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
einandersetzungen innerhalb der Opposition bereits in der Frühphase der Revolution die Bildung sich politisch bekämpfender Gruppen im Parlament voraus. Angesichts dessen wollte er die Minderheit vor dem Machtmißbrauch seitens der Mehrheit schützen und ihr die Möglichkeit zur Mitarbeit in den Ausschüssen gewährleisten.
bb) Aufgaben der Abteilungen und Ausschüsse Eine Vorberatung in den Abteilungen, wie in der badischen 2. Kammer, lehnte Mohl mit der Begründung ab, jede Abteilung müsse dann über jeden Gegenstand beraten, was nur Zeitverlust bedeuten würde 70 . Mit dieser Aufgabe sollten ausschließlich die Ausschüsse betraut werden, die, anders als die zufällig zusammengesetzten Abteilungen, mit fachlich geeigneten Mitgliedern besetzt werden konnten. Die Ausschußkompetenzen waren strikt auf die Vorberatung der ihnen von der Versammlung zugewiesenen Geschäfte beschränkt 71. Eine Verselbständigung zu Exekutivorganen wie in der Französischen Revolution sollte dadurch verhindert werden. Mohl trat allerdings nachdrücklich dafür ein, daß die Versammlung Ausschüsse mit der Durchführung von Enqueten beauftragen konnte 72 . Zweck der Enqueten war einmal die Nutzung außerparlamentarischen Sachverstands für die Gesetzgebung73, außerdem die Aufklärung von Mißständen - eine Aufgabe, die die Landtage bislang auch dann den Regierungen überlassen hatten, wenn sich die Vorwürfe gerade gegen jene selbst richteten74.
cc) Ausschußorganisation Vorgesehen war ein Nebeneinander von neun ständigen Fachausschüssen und ad hoc zu konstituierenden Ausschüssen für besondere Angelegenheiten 75. Der Vorteil ständiger sachkundiger Spezialausschüsse hatte sich bereits in der Praxis der Ständeversammlungen herausgestellt. 70
S. S. 35. S.S. 32 unter IV.8. 72 Mittels Anhörung von Zeugen und Sachverständigen sowie der Einholung behördlicher Auskünfte, s. S. 32 unter IV.8. und für den Wahlausschuß S. 19 unter III.ll. 73 S.S.38. 74 S. S. 29. 75 S.S.32unterIV.6. 71
Β. Die Frankfurter Nationalversammlung
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Dem Plenum stand das Recht zu, Gegenstände aus dem Geschäftskreis eines Ausschusses einem besonderen Ausschuß zuzuweisen, es konnte auch die Neubesetzung eines Ausschusses beschließen76. Damit sollte die Plenumsmehrheit die Möglichkeit erhalten, jederzeit einen Ausschuß mit der Vorberatung zu beauftragen, der ihr Vertrauen besaß77. Auf diese Weise konnten Reibungsverluste oder gar eine Obstruktion durch einen nicht entsprechend den Mehrheitsverhältnissen im Plenum zusammengesetzten Ausschuß verhindert werden. Die Ausschußsitzungen waren nicht öffentlich, auch nicht für andere Abgeordnete, es sei denn, sie waren besonders eingeladen78. Auch an eine Veröffentlichung von Sitzungsprotokollen war nur in Ausnahmefallen gedacht 79 . Mohl wollte bewußt die Öffentlichkeit von den Ausschußberatungen fernhalten, mit dem Ziel, dort eine "ruhige, umsichtige und möglichst unparteiische Erörterung im kleinen Kreise" zu ermöglichen 80 . Dem Verfasser war klar, daß eine solche Beratung im Plenum des künftigen Parlaments nicht nur wegen dessen Größe nicht möglich war. Dort würden sich die Parteien erbittert bekämpfen, allein schon um die Öffentlichkeit für sich zu gewinnen. I m übrigen waren schon die Debatten in den Ständeversammlungen wegen der Taubheit der Regierungen gegenüber ihren Argumenten in erster Linie an das Publikum gerichtet, für das die weitgehend unzensierten Verhandlungsprotokolle die einzige nicht regierungsamtliche Informationsquelle darstellten. I m freien Kampf um die Gunst der Wähler mußte diese Öffentlichkeitsfunktion der Plenardebatte noch zunehmen. Dabei mußte das Plenum der Ort werden, die Gegensätze zu betonen und sich gegenüber dem politischen Gegner nach außen zu profilieren. Die eigentliche sachliche Kleinarbeit, die auf die Nationalversammlung zukam, sollte deshalb in den nichtöffentlichen Fachgremien geleistet werden 81 . Dort konnte man sich unbefangen mit der Ansicht der Gegenseite auseinandersetzen, die eigene oder die parteioffizielle Meinung, auch ohne Druck aus
76 77 78 79 80 81
S.S. 31 f. unter IV.5. S. S. 37. S.S. 33 unterIV.13. S.S.39f. S. S. 39. Vgl. dazu auch S. 44 unter b.
4 Edinger
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
den eigenen Reihen, in Frage stellen und gegebenenfalls Kompromisse aushandeln. Dafür stand einer Minderheit ab drei Abgeordneten im Ausschuß das Recht auf Erstattung eines eigenen Berichts im Plenum zu 82 . Mohl begründet dies damit, daß auch einmal die Ausschußminderheit recht haben könne und ihre Argumente deshalb dem Plenum vortragen können müsse. Außerdem erkannte Mohl, daß die kontroversen Ausschußberichte die gegensätzlichen Standpunkte bereits auf den Punkt bringen können, wodurch die Plenardebatte inhaltlich strukturiert und abgekürzt wird 8 3 . Wenn man der Minderheit die Vertretung in den Ausschüssen sicherte, war es konsequent, daß sie ihre dort vertretene Auffassung gleichberechtigt als Ausschußbericht im Plenum artikulieren konnte. Denn allein die Anwesenheit i m Ausschuß und die Beschränkung auf die Gegenrede aus dem Plenum hätte nicht denselben politischen Druck zur Auseinandersetzung mit den Argumenten der Minderheit bereits im Ausschuß erzeugt und noch weniger die Debatte in der Versammlung zu strukturieren vermocht. Mohls Entwurf sah weiterhin die Pflicht der gewählten Abgeordneten vor, ihren Ausschußsitz wahrzunehmen. Ablehnen durfte nur, wer bereits Mitglied in zwei anderen Ausschüssen war. Eine Abwahl konnte nur auf Ersuchen des Ausschußmitgliedes erfolgen, und auch nur dann, wenn dringende Gründe für seine Ablösung vorlagen 84 . Angesichts des Wahlsystems kam ein Nachrücken der Kandidaten mit der nächsthöchsten Stimmenzahl nicht in Frage, so das der freiwerdende Platz durch Neuwahl zu besetzen war 85 .
dd) Besetzung des Präsidiums Die Amtszeit des Präsidenten und seiner vier Stellvertreter sollte auf vier Wochen begrenzt werden 86 , vor allem um der jungen Versammlung die Korrektur einer falschen Wahlentscheidung zu ermöglichen, eine Machtkonzentration bei dem Amtsinhaber zu verhindern und um das Amt für mehr als einen entsprechend ambitionierten Abgeordneten offenzuhalten 87. Wiederwahl war zulässig. 82 83 84 85 86 87
S.S.33unterIV.10. S. S. 39. S.S.32unterIV.7. S. S. 37. S. S. 10 unter II.1 und 2. S.S.II.
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Die Wahl des Präsidenten und der Stellvertreter erfolgte mit Stimmzetteln, war also geheim. Relative Stimmenmehrheit sollte ausreichen. Gewählt wurde in zwei Wahlgängen 88 . Damit sollten bei der Bewerbung um das Präsidentenamt gescheitelte Bewerber sich als Stellvertreter erneut zur Wahl stellen können 89 . Einfacher wäre es sicher gewesen, es bei einem Wahlgang zu belassen und den Kandidaten mit den meisten Stimmen zum Präsidenten, die nachfolgenden vier zu Stellvertretern zu ernennen. Der eigene Wahlgang unterstrich die herausgehobene Stellung des Vorsitzenden. Die Wahl der Stellvertreter mit relativer Mehrheit in einem Wahlgang war das am wenigsten aufwendige und zeitraubende Wahlverfahren. Es hätte einer genügend zahlreichen Minderheit bei geschlossener Abstimmung immerhin die Vertretung im Vorstand ermöglicht, da die von Mohl vorgeschlagene Regelung so verstanden werden muß, daß jeder Abgeordnete nur eine Stimme haben sollte (und nicht für jeden Stellvertreter eine). Als weitere Präsidiumsmitglieder kamen acht Schriftführer dazu. Ihre Amtszeit dauerte bis zum Ende der Versammlung. Dafür wurde ihnen ausdrücklich ein einmaliges Rücktrittsrecht nach vierwöchiger Amtszeit zugestanden, ein Recht, das für Präsident und Vizepräsidenten wegen der kurzen Amtszeit überflüssig war. Besondere Regelungen über die Wahl sah Mohl hier nicht vor 9 0 . Es ist davon auszugehen, daß er auch hier an einen Wahlgang mit relativer Mehrheit dachte, denn er würde wohl in diesem Fall nicht ein aufwendigeres und zeitraubenderes Verfahren als bei den Vizepräsidenten vorgezogen haben.
ee) Aufgaben des Präsidiums Die Aufgaben eines Parlamentspräsidenten setzte Mohl als bekannt voraus 91 und zählte sie deshalb nicht auf. Dem Gesamtvorstand als Kollegialorgan, bestehend aus Präsident, Stellvertretern und Schriftführern, wurde, wie schon erwähnt, die Aufgabe übertragen, die Ausschußmitglieder auszuwählen, soweit das Plenum dies nicht ausdrück-
88 89 90 91
S.S. 10unterII.2. S. S. 12. S. 10 unter II.3. S.Vorwort S.II.
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lieh selbst vornehmen wollte, und zwar unter Berücksichtigung aller wesentlichen Meinungen in der Versammlung 92 . Mohl war also bereits auf der Suche nach einer unparteiischen Instanz innerhalb des Parlaments, die eine anteilsgerechte Beteilung aller Gruppen und Meinungen garantieren konnte, eine Aufgabe, die in den nachfolgenden Parlamenten der Seniorenkonvent übernahm. Da das Präsidium auch i m übrigen die Parlamentsarbeit unvoreingenommen leiten sollte, war sein Ansatz keinesfalls abwegig. Das oben beschriebene Wahlsystem war im Vergleich dazu zeitaufwendiger und, was die Anteilsgerechtigkeit angeht, erst über einen längeren Zeitraum und nur auf die Gesamtheit der Gremien bezogen effektiv. Allerdings hätte die Wahrnehmung dieser Aufgabe das Präsidium womöglich zu sehr in den Parteienkampf verwickelt und seine Unabhängigkeit damit in Frage gestellt. Welche Abgeordneten welcher Meinung anhingen, konnte außerdem zu Beginn der Nationalversammlung noch nicht zuverlässig festgestellt werden. Darüber war hingegen in den kleinen Abteilungen rasch Klarheit zu schaffen. Das mag den Ausschlag dafür gegeben haben, daß die Geschäftsordnung der Nationalversammlung den Vorschlag der Ausschußbesetzung durch das Präsidium schließlich nicht übernahm. Dem Gesamtvorstand oblag schließlich noch die Anstellung und Leitung des gesamten Hilfspersonals des Reichstags93.
ff) Die Plenardebatte Der Gang der Plenarverhandlungen war vergleichsweise kurz geregelt. Wenn man davon absieht, daß nach Möglichkeit abwechselnd ein Redner pro und contra sprechen sollte 94 , fanden sich keine Bestimmungen, die explizit dem Parteieinfluß Rechnung trugen. Dies war auch nicht notwendig, denn die Plenardebatte war kaum beschränkt 95 . Die Redezeit der angemeldeten Redner betrug eine halbe Stunde. Danach war die Debatte frei. Das Antragsrecht war an kein Unterstützungsquorum ge-
92 93 94 95
S. S. 31 Ziff. IV.3. S.S. 10 unter I I A S.S.42unterV.B.2. S. S. 42 f. unter V.A und B.
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bunden. Damit hatte die kleinste denkbare Minderheit, jeder einzelne Abgeordnete nämlich, von Rechts wegen weitgehende Möglichkeiten, seine Vorstellungen einzubringen. Allerdings konnte mit Mehrheitsbeschluß die Debatte jederzeit beendet werden sowie die Dringlichkeit eines Antrags oder die Befassung damit überhaupt abgelehnt werden. Die Versammlung sollte sich nicht mit abwegigen Dingen belasten müssen. Um dies zu verhindern, wäre aber ein Unterstützungsquorum sinnvoller gewesen. Die von Mohl vorgeschlagenen Mittel konnten von der Mehrheit mißbräuchlich gegen Minderheiten eingesetzt werden. Abgestimmt wurde in der Regel durch Aufstehen und Sitzenbleiben, i m Zweifelsfall durch Kugelung 96 . Wahlen erfolgten, wie bereits beschrieben, geheim mittels Stimmzetteln 97 . Die Sitzordnung war frei 98 . Mohl war sich darüber im klaren, daß sich damit die Abgeordneten nach Parteien gruppieren würden. Trotz gewisser Skepsis überwogen nach Mohls Ansicht die Vorteile einer solchen Sitzordnung. Die Mehrheitsverhältnisse waren (bei Abstimmungen z.B.) deutlicher sichtbar. Eine rasche Absprache während der Verhandlung war möglich 99 . Hier werden Ansätze für die Erkenntnis sichtbar, daß eine klare, nach politischem Standpunkt geordnete Strukturierung des Plenums dessen Arbeit vereinfacht und beschleunigt. Mohl ging wie selbstverständlich von der Öffentlichkeit der Debatten aus. Ihr Verlauf sollte durch die freie Berichterstattung der Presse sowie kurze, auf Anträge und Beschlüsse beschränkte Protokolle in der Bevölkerung verbreitet werden. Daneben war die Herausgabe eines vollständigen Protokolls geplant, vor allem um die genauen gesetzgeberischen Motive zugänglich zu machen 100 . Mohls Entwurf zielte auf eine effiziente, daß heißt möglichst rasche Beratung, die dabei zu möglichst richtigen Lösungen führen sollte. Aus diesem eher "technischen" 101 Grund sollte die Minderheit ihre Position in den Aus96
S.S.51 unterVI.3-5. S.S. 10unterII.l. und2. 98 S.S. 51 unter VI. 1. " S . S . 52 f. 100 S. S. 13 ff. 101 Dies erinnert stark an Mohls Vorbild Bentham, der die Öffentlichkeit der Debatte ebenfalls mit Argumenten begründet hatte, die vorwiegend auf Rationalisierung der Herrschaft abzielten, s. Tactik oder Theorie des Geschäftsgangs in deliberieienden Volksständeversammlungen, S. 10 ff. 97
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
schüssen artikulieren können. Mohl war kein Demokrat, sein Minderheitsbegriff ging von einem Diskurs zwischen Abgeordneten mit grundsätzlich gleichen Interessen aus - ein solches Parlament wäre vielleicht bei dem von den Liberalen angestrebten Zensuswahlrecht möglich gewesen102. Deshalb billigte Mohl dem einzelnen Abgeordneten so weitgehende Beteiligungsrechte zu, daß er auf Gruppenrechte im Plenum verzichten konnte. Organisierte Interessenverbände innerhalb desselben paßten im Grunde nicht zu diesem Modell. Sein Verdienst ist aber sein von den Erfahrungen in den frühkonstitutionellen Landtagen geprägtes Gespür für parlamentarische Fairness. Er erkannte die Unvermeidlichkeit der Parteibildung (die er bei seiner Parlamentsvorstellung nicht billigen konnte. Er versuchte, trotz dieser Entwicklung sein Konzept einer Rationalität der Parlamentsarbeit beizubehalten, das auf dem Austausch von Argumenten beruhte. Eine Mitarbeit jedes Abgeordneten bei einer arbeitsteiligen Vorberatung in Ausschüssen kam von vornherein nicht in Frage. Sein System der Ausschußbesetzung ging von bestimmten "Meinungs"gruppen aus, und er versuchte sie an dem Diskurs effektiv zu beteiligen. Hier trafen sich die Anforderungen nach effektiver und alle Argumente berücksichtigender Vorberatung mit dem Minderheitenschutz. Um all das zu erreichen, knüpfte Robert Mohl an bewährte Rechtsinstrumente wie dem Minderheitsgutachten und den auszulosenden Abteilungen an und entwickelte sie so weiter, daß sie den neuen Anforderungen gerecht werden konnten.
d) Die Ausarbeitung der endgültigen Geschäftsordnung Robert Mohl erwarb sich mit seinen Vorschlägen das Verdienst, der neuen Nationalversammlung die Grundlage ihres Geschäftsverfahrens gegeben zu haben. Mohl wurde selbst als Abgeordneter in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt. Nach seiner Ankunft erhielt er am 4. Mai 1848 den Auftrag, noch vor Zusammentritt der Versammlung gemeinsam mit den Abgeordneten Murschel und Schwarzenberg auf der Grundlage seiner Vorschläge eine Geschäftsordnung zu entwerfen 103 . Die bereits am 10. Mai fertig formulierte "vorläufige Geschäftsordnung" kehrte das von Mohl vorgesehene Verhältnis der Wahlverfahren für die AusDazu Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 123 ff. und Ballestrem, Klassische Demokratietheorie, S. 53. 102 Vgl. dazu Habermas, S. 107 f. 103 S. Schauer, S. 16.
Β. Die Frankfurter Nationalversammlung
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schüsse um und sah als Regel die Wahl durch die Abteilungen, i m Ausnahmefall durch den Vorstand vor. Außerdem übertrug sie den Abteilungen zusätzlich die Aufgabe der Wahlprüfung 104 , die Mohl einem Ausschuß zugedacht hatte. Der Entwurf der drei Abgeordneten wurde am 18. Mai, dem ersten, chaotisch verlaufenden Sitzungstag der Nationalversammlung angenommen 105 . Ein kurzfristig eingesetzter Geschäftsordnungsausschuß wurde mit der Ausarbeitung einer endgültigen Fassung beauftragt. Diese wurde am 29. Mai 1848 der Versammlung vorgelegt 106 . Der Berichterstatter Mohl verzichtete aus Zeitgründen auf eine Begründung 107 . Die anschließende Debatte war kurz. Die im wesentlichen nur an Einzelpunkten geübte K r i t i k 1 0 8 wurde zurückgestellt aus der Einsicht, daß überhaupt erst einmal eine endgültige Verfahrensregelung nötig war. Damit konnte der Entwurf als ganzes ohne Änderungen angenommen werden. Die Wiederaufnahme der Beratung über die Geschäftsordnung sollte nur auf Antrag von mindestens fünfzig Abgeordneten erfolgen 109 . Mit diesem Beschluß wurde erstmals die Antragsfreiheit der Abgeordneten eingeschränkt.
2. Die Geschäftsordnung der Nationalversammlung
vom 29. Mai 1848
Die endgültige Geschäftsordnung lehnte sich noch immer stark an die Vorschläge Mohls an. Gleichwohl wurden die bereits in der vorläufigen Geschäftsordnung enthaltenen Änderungen beibehalten, weitere Neuerungen kamen hinzu. a) Aufgaben der Ausschüsse Die Ausschüsse hatten die ihnen zugewiesenen Gegenstände vorzuberaten und dem Plenum einen Bericht vorzulegen 110 . Das Recht einer Gruppe von mindestens drei Mitgliedern zur Erstattung eines Minderheitsgutachtens
104
S. Schauer, S. 17. S. St.B.IS.9. 106 S. St.B. I S. 163-165. Die zuletzt gültige Fassung ist abgedruckt in: Die Geschäftsordnungen deutscher Parlamente seit 1848, S. 631 ff. 107 S. St.B. IS. 165 f. 108 Mit Ausnahme des Einzelgängers Jacob Grimm, der in blumigen Worten das Ausschußwesen kritisierte, s. St.B. IS. 166 f. 109 S. St.B. IS. 173 f., später § 55 GO. 110 §21 GO. 105
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
wurde beibehalten 111 . Die Ausschüsse durften sich, wie bei Mohl vorgesehen, nur mit den ihnen vom Plenum zugewiesenen Geschäften befassen. Zu ihren Aufgaben zählte auch die Ausübung des von der Nationalversammlung beanspruchten Enqueterechts durch Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen und durch Einholung behördlicher Auskünfte. Eigenmächtige Untersuchungen waren ihnen jedoch untersagt 112.
b) Ausschußorganisation Die endgültige Geschäftsordnung enthielt, anders als die Vorschläge Mohls, keine Vorschrift über die Einrichtung besonderer, ständiger Fachausschüsse, mit Ausnahme des bereits zuvor konstituierten 113 Zentralwahlausschusses zur weiteren Begutachtung der von den Abteilungen nicht akzeptierten Legitimationen 114 . Die Nationalversammlung hatte aber vor Verabschiedung der endgültigen Geschäftsordnung schon eine Reihe von der Sache nach ständigen Ausschüssen gebildet: den Geschäftsordnung*- 115 und den Verfassungsausschuß 116, beide waren in der provisorischen Geschäftsordnung noch ausdrücklich vorgesehen 117 , den Ausschuß für die Priorität der Anträge und Petitionen 118 , den Volkswirtschafts- 119 und den Marineausschuß 120. Der Präsident hatte selbständige Anträge ohne weiteres an einen bereits bestehenden Ausschuß zu verweisen, sofern er in dessen Geschäftskreis fiel 1 2 1 . Zusatzanträge konnten vom Plenum ebenfalls an einen bereits bestehenden Ausschuß verwiesen werden 122 . 111
§25 GO. §24 GO. 113 S. St.B. I S. 54. 114 §5 GO. 115 S. St.B. I S. 24. 116 S. St.B. I S. 71. 117 S. Moldenhauer, Aktenbestand und Geschäftsverfahren der Nationalversammlung, S. 66. 118 S. StB. IS. 74 ff. 119 S. St.B. IS. 71. 120 S.StB.IS.92f. 121 §29 GO. 122 § 33 GO. An dieser Stelle stimmt der Text in "Die Geschäftsordnungen deutscher Länder", S. 633 ("Verweisung zur Begutachtung an einen Ausschuß") mit dem der St.B. IS. 165 ("Verweisung in die Vorbereitung", also u.U. auch an die Abteilungen) nicht überein, ohne daß ein förmlicher Änderungsbeschluß nachzuweisen ist. Möglicherweise beruht die Fassung der St.B. auf einem Schreibfehler ("Vorbereitung" statt der sonst benutzten Vokabel "Vorberatung") und wurde später stillschweigend korrigiert und klargestellt. 112
Β. Die Frankfurter Nationalversammlung
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Die Ausschüsse wählten einen Vorsitzenden ("Vorstand"), einen Stellvertreter sowie einen Berichterstatter mit absoluter Mehrheit 123 . Die Sitzungen waren nichtöffentlich. Auch Parlamentarier hatten nur auf besondere Einladung Zutritt. Nur der Präsident hatte das Recht, allen Ausschußberatungen beizuwohnen 124 .
c) Ausschußbesetzung Eine Besetzung des Ausschusses durch das Präsidium war nicht mehr vorgesehen. Die Regel war die Wahl durch 15 Abteilungen, welche dem Vorschlag Mohls folgend alle vier Wochen neu auszulosen waren. Das Plenum konnte auch einen anderen Zeitpunkt beschließen125. Neu war, daß die Vollversammlung im Zusammenhang mit Ausschußwahlen auch die Abteilungen mit Vorberatungen betrauen konnte 126 . Die Sachdebatte im kleinen Kreis sollte gerade zu Beginn der Versammlung die Ansicht eines jeden Abgeordneten offenbaren und dadurch eine Wahl nach politischen Kriterien ermöglichen. Nach der Beratung stellte jede Abteilung zunächst durch Abstimmung über den behandelten Antrag ein Meinungsbild her und wählte erst danach mit absoluter Mehrheit einen oder mehrere Ausschußvertreter. Da die Abteilungsmeinung für deren Vertreter im Ausschuß nicht bindend war und es im übrigen den Ausschüssen überlassen bleiben mußte, die Fülle der Anträge endgültig zu Beschlußempfehlungen umzuarbeiten, wurde ihre zentrale Rolle für die Arbeit des neuen Parlaments durch die Beratungen in den Abteilungen nicht angetastet. Als Ausschußmitglieder waren grundsätzlich nur Angehörige der jeweiligen Abteilung wählbar. Um sich bei einer ungleichmäßigen Verteilung sachkundiger Abgeordneter behelfen zu können, konnte die Versammlung beschließen, daß auch andere Abgeordnete wählbar waren 127 . Diese Lösung stellte ge123 124 125 126 127
§ 21 GO. § 28 GO. § 1 GO. §§ 19 und 30 GO. § 22 S. 1 GO.
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genüber der ursprünglichen Konzeption Mohls (Kooptierung geeigneter Abgeordneter durch das Gremium selbst) eine Beschneidung der Ausschußrechte dar. Bereits vor der Entscheidung über die endgültige Geschäftsordnung war der Vorschlag abgelehnt worden, die Ausschüsse je zur Hälfte von den Abteilungen und von der Vollversammlung wählen zu lassen128. Statt dessen konnte nun über die Ausschußsitze auf Beschluß der Nationalversammlung auch durch Wahl im Plenum mit relativer Mehrheit entschieden werden. Dabei hatte jeder Abgeordnete die Möglichkeit, 15 beliebige Abgeordnete aufzulisten 129 . Eine geschlossen abstimmende Mehrheit hätte auf diese Weise alle Ausschußsitze für sich gewinnen können 130 . Eine Besonderheit galt für den Zentralwahlausschuß. Er setzte sich aus den Abteilungsvorständen zusammen 131 , die ebenfalls mit absoluter Mehrheit gewählt wurden 132 . Die gewählten Ausschußmitglieder waren gehalten, ihr Mandat wahrzunehmen, sofern sie nicht bereits Mitglied zweier anderer Ausschüsse waren oder die Abteilung andere dringende Gründe gelten ließ 133 .
d) Präsidium Die Aufgaben des Präsidenten bestanden im wesentlichen aus der Festlegung der Tagesordnung 134 und der Leitung der Verhandlungen, der Aufrechterhaltung der Ordnung sowie der Vertretung der Nationalversammlung nach außen 135 . Um seine Neutralität zu unterstreichen, besaß er bei Wahlen und Abstimmungen kein Stimmrecht 136 .
128
S. St.B. IS. 71.
129 § 22, die Stimmen wurden zunächst abteilungsweise ausgezählt, das Sekretariat stellte dann das Gesamtergebnis zusammen. 130
Dies verkennt Schauer, S. 48, wenn er die Wahl durch das Plenum als die gegenüber der durch Abteilungen gerechtere Methode bezeichnet. 131 § 5 GO. 132 §2 GO. 133 §23 GO. 134 §34 GO. 135 § 15 GO. 136 § 43 S. 2 GO.
Β. Die Frankfurter Nationalversammlung
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Der Gesamtvorstand als Kollegialorgan stellte nach Entscheidung mit absoluter Mehrheit das nötige Hilfspersonal der Versammlung ein 1 3 7 . Das Präsidium bestand aus dem Präsidenten und zwei Stellvertretern, die alle vier Wochen in geheimer Wahl mittels Stimmzetteln und in getrennten Wahlgängen mit absoluter Mehrheit gewählt wurden 138 . Dazu kamen acht mit relativer Mehrheit gewählte Schriftführer 139 .
e) Plenardebatte Die Verhandlungsregeln ließen dem einzelnen Abgeordneten großen Spielraum. Nur die unselbständigen Anträge bedurften der Unterstützung eines Quorums von 20 Abgeordneten 140 . Die Redezeit war nicht beschränkt. Es gab, entgegen den Darstellungen bei Ziebura 141 und Schauer 142 , keine geschlossene Rednerliste 143 . Allerdings konnte auf Antrag von 20 Abgeordneten jederzeit mit einfacher Mehrheit die Debatte beendet werden 144 .
f) Fazit Die Geschäftsordnung der Nationalversammlung vom 29. Mai 1848 gab dem einzelnen Abgeordneten weitgehende Mitwirkungsrechte. Möglichst viele Aufgaben sollten durch das Plenum bzw. mittels der Abteilungen durch die Gesamtheit der Mitglieder erledigt werden. Die Kompetenzen der Ausschüsse waren auf das wesentliche beschränkt: Die Vorbereitung der Abstimmungen und Debatten durch die Vorlage von Gutachten. Die Ausschußbesetzung war ebenfalls Sache der Gesamtheit der Abgeordneten, nicht mehr des Präsidium.
137
§14 GO. §§ 10,11 GO. 139 § 12 GO. 140 § 29 GO. 141 Anfänge des deutschen Parlamentarismus, S. 197. 142 Der Einzelne und die Gemeinschaft, S. 19. 143 § 36 GO. Der Irrtum der o.g. Autoren beruht auf einem Druckfehler, den Mohl bei der Vorlage der Geschäftsordnung korrigierte, s. StB. I S. 166. Vgl. auch Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit, S. 486 Fn. 12. 144 § 38 GO. 138
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
Minderheitspositionen konnten im Plenum wegen der weitgehend unbeschränkten Debatte jederzeit zu Gehör gebracht werden, auch wenn die Minderheit nur aus einem einzelnen Abgeordneten bestand. In den Ausschüssen war die Vertretung von Minderheiten durch die Übernahme des Mohlschen Systems der Wahl durch ausgeloste Abteilungen als Regelfall abgesichert. Da aber Ausschüsse als Mittel der Arbeitsteilung ihrem Wesen nach nicht die Meinung jedes einzelnen Abgeordneten zu jedem Punkt berücksichtigen konnten, bezog sich dieser Minderheitenschutz nur auf Gruppen bzw. Meinungen einer größeren Zahl von Abgeordneten. Die fakultative Vorberatung in den Abteilungen bot allerdings doch wieder die Möglichkeit der Beteiligung aller Abgeordneten. Das Recht, ihre Position in der Form eines Minderheitsgutachtens auch über den Ausschuß in die Debatte einzubringen, wurde wiederum nur eine Gruppe von 3 Abgeordneten zugestanden, hinter der eine gewisse Zahl von Abgeordneten (mindestens die Mehrheit dreier Abteilungen) stand. Neben der Einschränkung der Möglichkeiten einzelner Abgeordneter bei der Vorberatung, die aus der Natur des Ausschußwesens folgte, wurden mit der Einführung von Unterstützungsquoren für bestimmte Anträge bereits die Rechte der einzelnen Abgeordneten im Plenum beschränkt. Mohls Vorschläge hatten noch keine Quoren für Antrags- und Mitwirkungsrechte vorgesehen.
3. Das Geschäftsverfahren
in der Praxis der Nationalversammlung
a) Bildung von Fraktionen Als ganz entscheidend für die Entwicklung der Arbeitsweise der Paulskirche erwies sich die Herausbildung von Fraktionen. Vom Zusammentritt der Nationalversammlung am 18. Mai bis Anfang Juli 1848, also innerhalb von nur eineinhalb Monaten, entstand ein System festgefügter Fraktionen, Klubs genannt. Dies waren Vereinigungen gleichgesinnter Abgeordneter mit festem Mitgliederbestand 145 , die sich zusammengeschlossen hatten, um im gemeinsamen Vorgehen im, aber auch außerhalb des Parlaments ihre politischen Ziele durchzusetzen.
145
S. Kramer, S. 80, zur Entwicklungsphase im einzelnen S. 75 ff.
Β. Die Frankfurter Nationalversammlung
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Ihre Organisation und politische Ziele waren in Statuten niedergelegt 146 . Sie hielten regelmäßige Sitzungen ab, in denen sie sich über ihr Vorgehen i m parlamentarischen Alltag einigten, Anträge formulierten, Antragsteller und Redner festlegten 147 . Sie wählten Vorstände und erhoben Mitgliedsbeiträge. Die Teilnahme an den Klubberatungen war Pflicht. Es herrschte mehr oder minder ausgeprägter Fraktionszwang. Der mehrheitlich beschlossene Kurs durfte i m Plenum zumindest nicht sabotiert werden. Mittel zur Durchsetzung der Fraktionsdisziplin war die Drohung mit dem Ausschluß aus dem Klub. Die freie Sitzordnung ermöglichte die Gruppierung nach Klubzugehörigkeit 1 4 8 . Die Aufteilung des Plenums in Fraktionen wurde auf diese Weise öffentlich dokumentiert. Damit besaßen die Klubs der Paulskirche alle wesentlichen Merkmale, wie einheitliche politische Grundauffassung, Organisation und Disziplin, die auch heute noch eine parlamentarische Fraktion kennzeichnen149. Zu Anfang entstanden die fünf Klubs: "Steinernes Haus" (Konservative, später "Milani"), "Kasino" (Rechtsliberale), "Württemberger Hof" (Linksliberale), "Deutscher Hof 1 (gemäßigte Demokraten) und "Donnersberg" (radikale Demokraten), die sich im Laufe der Zeit jedoch noch mehrfach umformieren und umbenennen sollten 150 .
aa) Notwendigkeit der Verfahrensstraffüng Ein Grund für diese erstaunlich schnelle Entwicklung war der Zwang zur Verfahrensstraffüng. Die Nationalversammlung stand vor einer enormen Arbeitslast. Wichtige und äußerst umstrittene Entscheidungen über das Aussehen des neuen Staates mußten getroffen und in einer Verfassung niedergelegt werden. Die Bevölkerung trug ihre Hoffnungen und Wünsche in insgesamt über 8.000 Petitionen an die Paulskirche heran 151 . 146
Dokumentiert bei Kramer, S. 271 ff. S. dazu und zum folgenden Kramer, S. 80-86. 14 « S. Kramer, S. 78. 149 vgl. Hauenschild, Wesen und Rechtsnatur der Fraktionen, S. 44 ff. und Kretschmer, Fraktionen, S. 76 ff. (Fraktionszwang), S. 82 (Pflichten der Mitglieder) und S. 84 ff. (Fraktionsorganisation). 147
150 151
S. Huber Bd. 2 S. 613 f. S. Moldenhauer, S. 58.
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
Dabei geriet die Nationalversammlung zunehmend unter Zeitdruck. Nicht nur die demokratische Linke, auch die liberale Mitte konnte nur solange auf die Realisierung ihrer Ziele hoffen, als die feudale Reaktion noch nicht wieder zu Kräften gekommen war. In dieser Hinsicht zeigte sich weder die Geschäftsordnung noch die Mehrzahl der Abgeordneten 152 den Anforderungen gewachsen. Die Abgeordneten nutzten die Freiheiten, die die Geschäftsordnung ihnen gab, in einem Maße aus, das den Fortgang der Verhandlungen blockierte. Als i m Juni 1848 mit der Debatte um die vorläufige Zentralgewalt die erste politische Vorentscheidung anstand, hatten sich allein 189 Redner in die Rednerliste eintragen lassen. Gerade 45 von ihnen hatten am Ende des 4. Verhandlungstages gesprochen 153. Tagtäglich gingen bis zu 40 Anträge aller Art ein. Oit unterschieden sie sich nur durch die Formulierung 154 . Bei der nächsten großen Debatte um die Grundrechte im Sommer 1848 wurden gleich zu Beginn so viele Änderungsanträge eingebracht, daß man mit über 1.000 Anträgen allein zu diesem Abschnitt der Verfassung rechnete, was den Abschluß der Beratungen bis in das Jahr 1850 hinausgezögert hätte 155 . Angesichts dessen wurde mehrfach vom Podium der Nationalversammlung dazu aufgefordert, die Anhänger der verschiedenen Hauptströmungen sollten sich in Parteien organisieren, um die Debatte auf die wesentlichen Streitpunkte konzentrieren zu können 156 .
bb) Politische Faktoren Die Notwendigkeit der Vorklärung allein kann nicht erklären, warum gerade politische Klubs diese Funktion übernahmen und nicht z.B. die Abteilungen. Hierfür gibt es mehrere in der Eigenart der parlamentarischen Demokratie liegende Ursachen. 152 Von den Mitgliedern der Paulskirche hatte allenfalls ein Drittel zuvor parlamentarische Erfahrungen in den Landtagen sammeln können (s. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 571), und diese waren angesichts der neuen Situation wenig wert. 153 S. Schauer, S. 25. 154 S. Schauer, S. 31, Ziebura, S. 198. 155 S. St.B. IS. 771 f. 156 S. Kramer, S. 199
Β. Die Frankfurter Nationalversammlung
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Das demokratische Parlament ist ein mächtiges, hier sogar das mächtigste Staatsorgan, denn die Nationalversammlung der Paulskirche hatte, ganz i m Gegensatz zu den frühkonstitutionellen Kammern, sogar die Souveränität über die Verfassung des künftigen Staates. I m demokratischen Parlament finden sich die unterschiedlichen, ja bisweilen gegensätzlichen Meinungen und Interessen aller Bevölkerungsschichten im wesentlichen wieder. Die Macht des Parlaments bietet ihnen die Chance, staatliche Entscheidungen in ihrem Interesse zu beeinflussen. Der Kampf um parlamentarischen Einfluß ist also lohnend. Beides traf auf die Paulskirche zu, wiederum im Gegensatz zum Frühkonstitutionalismus, in dem die Kammern gegenüber dem allein herrschenden Feudaladel machtlos waren. Interessengegensätze zwischen Adel und anderen sozialen Gruppen mußten so regelmäßig als Auseinandersetzungen zwischen Staat und Volk ausgetragen werden. Unter den Bedingungen gleicher politischer Rechte für jeden entscheidet die Mehrheit, die Masse, die Zahl der Stimmen. Der einzelne ist ohne Gewicht, wenn er nicht von einer Vielzahl Gleichgesinnter unterstützt wird. Dabei kann eine politische Organisation auch dann Einfluß besitzen, wenn sie die Mehrheit (noch) nicht besitzt. Diese Prinzipien der Demokratie gelten sowohl für den einzelnen Bürger wie für den einzelnen Abgeordneten, im Parlament und in der Gesellschaft. Demokratie erforderte also grundsätzlich "kollektive Formen politischen Verhaltens" 157 , innerhalb und außerhalb des Parlaments. Die Vertretung der verschiedenen Interessen und Meinungen beruht auf dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht, das den Bürgern die gleichberechtigte Möglichkeit zur Mitwirkung an der staatlichen Willensbildung bietet. Bei der Nationalversammlung bewirkte allein schon die Tatsache, daß überhaupt eine derartig freie Wahl möglich war, daß die antifeudale Opposition die Paulskirche beherrschte. Für deren Trennung in Klubs war die Wahl selbst aber nicht entscheidend, da sich die Parteibildung noch am Anfang befand
157
Boldt, Die Anfange des deutschen Parteiwesens, S. 23. Nach einer Formulierung von Abendroth wurden "die politischen Parteien geboren, als die Volksmassen begonnen hatten, wirklich am politischen Leben teilzunehmen", in: Das Problem der innerparteilichen Demokratie, S. 62.
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
und auf die Wahlen nur vereinzelt und regional begrenzt Einfluß hatte 158 . Sie folgte auch nicht aus einer unterschiedlichen sozialen Stellung der Abgeordneten. Die allermeisten gehörten nach Eigentum und/oder Bildung dem gehobenen Bürgertum an, waren Honoratioren in ihren Wahlkreisen 159 . Finanzielle Unabhängigkeit war die Bedingung für die Kandidatur, weil sich die Abgeordneten weitgehend selbst unterhalten mußten. Parteien, die ihre Kandidaten finanzierten, gab es nicht. Damit gab es aber auch keine Abgeordneten, die von einer Partei finanziell abhängig waren 160 . Die Klubbildung ergab sich also aus der demokratischen Natur der Nationalversammlung. Sie erfolgte entlang der zentralen politischen Streitpunkte, zunächst der Frage Konstitutionalismus oder Demokratie, später nach dem Standpunkt zur Einbeziehung Österreichs in den deutschen Staat 161 . Dazu kam, daß die Nationalversammlung sich nicht auf die geruhsame Beratung der neuen Verfassung beschränken konnte. Sie mußte eine provisorische nationale Regierungsgewalt schaffen. Obwohl diese Regierung nach dem Willen der konstitutionellen Mehrheit der Paulskirche vom Parlament unabhängig war 1 6 2 , war die Nationalversammlung, und dort die Mehrheit, doch ihre einzige Machtbasis 163 . Auch dies erforderte, daß die Mehrheit stark und berechenbar genug war, die Regierung zu stützen, was nur über die Vorbereitung der lang- und kurzfristigen politischen Schritte in Fraktionen zu erreichen war. Tatsächlich wurden die Kabinette der provisorischen Zentralgewalt bis gegen Ende der Nationalversammlung durch Koalitionen mehrerer Fraktionen gebildet. Das Regierungsbündnis aus "Augsburger Hof" (Abspaltung des "Württemberger Hofs" 164 ), "Landsberg" (im September 1848 neu entstanden aus Mitgliedern des "Württemberger Hofs" und des "Kasinos") und "Kasino"
158
Bei den Landtagswahlen 1848/49 war der Unterschied zwischen Demokraten und Liberalen bereits für die Wähler entscheidend. Nach deren Ausgang hätten die Demokraten eine Reichstagswahl unter demokratischem Wahlrecht für sich entschieden, s. Botzenhart, Parlamentarismusmodelle der deutschen Parteien, S. 133 f. 159 S. Huber Bd. 2 S. 609 f., Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit, S. 160 ff. 16 S. Kramer, S. 225. 161 Zu dieser Fraktionsumbildung Ende 1848 s. Kramer, S. 141 ff. 162 S. Ziff. 7 des Gesetzes über die Einführung einer provisorischen Zentralgewalt, abgedr. bei Huber Dok. Bd. 1 Nr. 85. 16 3 SorichtigHuber, Bd. 2 S. 628 f. 164 Kramer datiert die Gründung des "Augsburger Hofs" unter Berufung auf das Datum der Klubsatzung (6.10.48) auf Anfang Oktober 48, S. 97 mit FN. 30; Huber fälschlich erst auf Dezember 1848, Bd. 2 S. 617.
Β. Die Frankfurter Nationalversammlung
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schuf sich im Oktober 1848 mit der drittelparitätisch besetzten "NeunerKommission" einen interfraktionellen Ausschuß, in dem die Fraktionsspitzen ihr gemeinsames Vorgehen planten 165 . Jeder Mehrheitswechsel i m Parlament hatte eine Regierungsumbildung zur Folge 166 . Es ist interessant zu beobachten, wie sich die objektiven Erfordernisse einer parlamentarischen Demokratie und einer parlamentarischen Regierungsweise in der Paulskirche durchsetzten, obwohl die große Mehrheit ihrer Abgeordneten diese Staatsform offen ablehnten.
b) Bewährung und Fortentwicklung des Geschäftsverfahrens Die Nationalversammlung reagierte mit verschiedenen Maßnahmen zur Straffüng ihres Verfahrens, die teilweise die Fraktionsbildung begünstigten und sie teilweise voraussetzten. Nicht alle fanden ihren Niederschlag in der geschriebenen Geschäftsordnung. Zu einer förmlichen Anerkennung der neuen demokratischen Organisationsform konnte sich die konstitutionelle Mehrheit nicht durchringen 167 .
aa) Einschränkung der Antrags- und Redefreiheit In mehreren Etappen wurde die Antragsfreiheit durch die Einführung zusätzlicher und höherer Unterstützungsquoren eingeschränkt 168. Nach dem eigenmächtigen Abschluß des Malmöer Vertrags durch Preußen im August 1848 169 herrschte unter den Parlamentariern Einigkeit darüber, die Verfassungsberatungen schnell abzuschließen. Die liberale Mitte versuchte in dieser Situation eine die demokratische Minderheit beschränkende Variante der Verfahrensbeschleunigung einzuführen. Das Plenum sollte nach dem Vorschlag Bassermanns bei jedem Verfassungsartikel mit Mehrheit entscheiden,
165
S. Kramer, S. 98 f. und 215 ff. S. Huber, Bd. 2 S. 629 ff. 167 Vgl. Kramer, S. 198 ff. 168 Zunächst vorübergehend nur für die Debatte über die Zentralgewalt, endgültig dann zu Beginn der Grundrechtsberatung, wurde die Zulassung selbständiger Anträge von der Unterstützung durch mindestens 10 Abgeordnete abhängig gemacht, s. Schauer, S. 25 und 35. Für die Dauer der Verfassungsberatungen wurden Änderungsanträge an ein Quorum von zwanzig und die Eröffnung der Debatte an ein Quorum von hundert Abgeordneten gebunden (Antrag Schneer, s. St.B. IIIS. 1800). 169 S. dazu Huber, Bd. 2 S. 673 ff. 166
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
ob es eine Beratung wünsche, andernfalls sollte sofort über die Vorschläge abgestimmt werden, die von der Mehrheit und gegebenenfalls von der Minderheit des Verfassungsausschusses eingebracht worden waren 170 . Der Linken wäre dadurch die Möglichkeit zur eingehenden öffentlichen Kritik und der Darstellung ihrer Alternativen im Plenum genommen worden 171 . Es spricht für die innerhalb der Paulskirche trotz der heftigen politischen Kämpfe vorherrschende Fairness, daß der Antrag Bassermanns keine Mehrheit fand. Die Versammlung teilte sich in den folgenden Wochen in die beiden in dieser Phase politisch entscheidenden Lager, in Konstitutionelle und Demokraten. Dazu schlossen sich die Fraktionen der Mitte und der Rechten zu einer Mehrheitskoalition, auf die sich das Kabinett Schmerling stützte, und die Linksfraktionen zum Zentralmärzverein zusammen. Die Debatte wurde durch dieses "durchaus funktionierende Zweiparteiensystem" 172 auf die wesentliche Auseinandersetzung begrenzt. Ausdruck fand diese Zweiteilung in dem hohen Quorum von 100 Abgeordneten, welches nunmehr zur Eröffnung der Debatte erforderlich war. Nur die beiden Bündnisse konnten faktisch diese Zahl erreichen. I m Gegensatz zum Antrag Bassermann blieben die Rechte der demokratischen Minderheit im Plenum hierbei gewahrt. I m Verfassungsausschuß reichte ihre Zahl ebenfalls zur Erstattung eines Minderheitsgutachtens aus. Die Klubs der Linken und der Mitte kamen dann gegen Ende des Jahres 1848, auf dem Hintergrund des Siegs der Konterrevolution in Österreich 173 , doch überein, auf eine ausführliche Erörterung der Verfassung im Plenum zu verzichten. Oft kamen nur noch die Berichterstatter des Verfassungsausschusses zu Wort. Die Redefreiheit wurde formell nie eingeschränkt 174. In der Praxis bevorzugte der Präsident jedoch mehr und mehr die Fraktionsredner und ließ i m gleichen Ausmaß Einzelgänger unter dem Vorwand, die Reihenfolge der Redner gemäß § 37 GO nach pro und contra zu ordnen, unberücksichtigt. Die Fraktionen ließen ihrerseits sich möglichst viele ihrer Mitglieder in die Rednerliste eintragen, die dann zugunsten ihrer Hauptredner aufs Wort verzichteten. Falls erforderlich, wurde im Einvernehmen der Fraktionen die Debatte geschlossen, nachdem ihre Abgeordneten gesprochen hatten. Versehentlich, in
170
S. St.B. III S. 1970 f. Im Verfassungsausschuß besaßen die Liberalen eine sichere Mehrheit. S. Ziebura, S. 201 f., Schauer, S. 45. 172 Ziebura, S. 418. 17 3 S. dazu Huber Bd. 2 S. 710 ff. 174 Abgelehnt wurden Vorschläge zur Redezeitbegrenzung, s. Schauer S. 25 f., und zur Bestimmung der Redner durch die Klubs, St.B. II 989, 993. 171
Β. Die Frankfurter Nationalversammlung
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der Sache aber durchaus korrekt, bezeichnete der Präsident mitunter die Rednerliste als Parteiliste 175 . Die Beschleunigung wurde also durch Beschneidung der Möglichkeiten der einzelnen Abgeordneten erreicht. Die Fraktionen hatten damit allein entscheidenden Einfluß auf den Gang der Beratungen. Nur sie waren praktisch in der Lage, die Quoren zu erfüllen. Kehrseite davon war die Lage der fraktionslosen Abgeordneten, deren Zahl um etwa 100 schwankte. Rechtlich bzw. faktisch ihrer Rede- und Antragsmöglichkeiten beraubt, verloren sie jede politische Bedeutung. Viele von ihnen legten resigniert ihr Mandat nieder, manche verzichteten auf jegliche weitere politische Tätigkeit, in der Erkenntnis, daß künftig nur noch organisiertes politisches Handeln erfolgveisprechend sei 176 .
bb) Abteilungen Die Einschränkung der zeitraubenden Plenardebatte und die Fülle der in kurzer Zeit zu bewältigenden Aufgaben mußte eine Verlagerung der Arbeit in kleinere und effektivere Gremien zur Folge haben. In den Abteilungen fanden Vorberatungen allerdings nur zu Beginn der Nationalversammlung statt 177 . Nach der raschen Aufteilung in Fraktionen war der politische Standpunkt des einzelnen Abgeordneten aus der Fraktionszugehörigkeit ersichtlich, so daß sich der Austausch der sowieso bekannten Meinungen in den Abteilungen erübrigte. Den Abteilungen blieb die Aufgabe der Wahlprüfüng, da im Laufe der Zeit immer wieder in einzelnen Wahlkreisen Nachwahlen stattfanden 178. Hauptsächlich dienten sie aber zur Wahl der Ausschußmitglieder, so daß mitunter als "Wahlabteilungen" bezeichnet wurden 179 . Angesichts der schwindenden Aufgaben wurden die Abteilungen nicht regelmäßig und insgesamt auch nur dreimal ausgelost180. I m August 1848 wurde
175 176 177 178 179 180
S. Kramer, S. 192 ff. S. Kramer, S. 203 f. S. Kramer, S. 195. S. Moldenhauer, S. 57 Fn. 43. S. St.B. II S. 912. S. St.B. I S. 622, II S. 1318 und 1377.
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
§ 1 der Geschäftsordnung dahingehend ergänzt, daß eine Neuverlosung nur noch auf Antrag von SO Abgeordneten stattfinden sollte.
cc) Ausschußorganisation Die sachliche Arbeit der Nationalversammlung wurde in immer größerem Maße von den Ausschüssen übernommen. Hier wurde die eigentliche Gesetzgebungsarbeit geleistet. Hier fand auch die sachliche politische Auseinandersetzung statt, die im Kompromiß oder in zwei unterschiedlichen Ausschußberichten mündete 181 . Die Plenumsdebatten waren dagegen nur noch ans Publikum gerichtet. Unter zunehmenden Zeitdruck wurde sogar wiederholt auf die Debatte verzichtet 182 . Die Paulskirche entwickelte sich also rasch zu einem Arbeitsparlament modernen Stils 183 . Insgesamt wurden 26 Ausschüsse eingesetzt184. Da die Geschäftsordnung keine Festlegung traf, ergab es sich allein aus ihrer Aufgabe, ob es sich um ständige Ausschüsse handelte 185 . Die Zahl der Mitglieder betrug bei den wichtigsten Ausschüssen 30 1 8 6 , ansonsten 15 Abgeordnete. Die Arbeit der Mehrzahl der Ausschüsse war effektiv und von hoher Qualität, so daß das Plenum deren Vorschläge in zunehmenden Maße annahm 187 . Meist waren sie mit entsprechenden Fachleuten besetzt 188 , intern wurden je nach Bedarf Referenten für bestimmte Sachgebiete bestimmt 189 oder Unterausschüsse gebildet 190 . Es begann sich eine gewisse Parallelität zwischen den Ministerien der Zentralgewalt 191 und entsprechenden Fachausschüssen herauszubilden. Dem Außenministerium stand der völkerrechtliche Ausschuß gegenüber, dem Handelsministerium der volkswirtschaftliche sowie der Marineausschuß, dem
181
Vgl. dazu Schauer S. 51 ff. 182 vgl. d a z u Schauer S. 60. 183 Vgl. z u m modernen Arbeitsparlament Borgs-Maciejeski, Parlamentsorganisation, S. 9 und 64. 184 Einzelheiten bei Moldenhauer, S. 61 ff. 185 S. dazu die Übersicht bei Schauer, S. 49 f., der darin den Verfassungsausschuß vergißt. 186 Das waren der Verfassungs-, der Volkswirtschafts-, der Prioritäts- und der Ausschuß für die Durchführung der Verfassung. 187 vg]. Schauer S. 51 ff. Falsch ist also die Behauptung Dechamps (der die Arbeit Schauers nicht verwertete), S. 93, in den Ausschüssen der Paulskirche sei keine wirksame Vorberatung möglich gewesen. 188 189 190 191
Vgl. Ziebura, S. 219. Z.B. im Marineausschuß, s. Moldenhauer, S. 73. So im volkswirtschaftlichen und im Prioritätsausschuß, s. Moldenhauer, S. 64 und 70. Zu den Ministerien s. Huber Bd. 2 S. 629.
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Kriegsministerium der Wehrausschuß, dem Justizministerium der Ausschuß für Gesetzgebung und Rechtspflege und dem Finanzministerium der Finanzausschuß. Nur einen dem Innenressort direkt entsprechenden Ausschuß gab es nicht. Die Ausschüsse arbeiteten eng mit den Fachressorts zusammen. Vielfach wurden Abgeordnete, die sich in den Ausschüssen ausgezeichnet hatten, in die Ministerien berufen 192 . Überwiegend hatten die Parlamentskommissionen bereits vor den Ministerien ihre Arbeit aufgenommen, so daß sie anfangs den stärkeren Part bildeten. M i t der Zeit änderte sich dieses Verhältnis zugunsten der Exekutive. Besonders anschaulich wird dies am Beispiel des volkswirtschaftlichen Ausschusses, der eine besonders starke Stellung innehatte. Er ließ sich mit einem eigenen wissenschaftlichen Mitarbeiter und später sogar mit einem statistischen Büro ausstatten193. Er zitierte Regierungsvertreter zu sich, führte Anhörungen verschiedener Interessenverbände und eine umfangreiche Untersuchung über die Meinung der Gewerbetreibenden zur Gestaltung des Zolltarifs durch 194 . Das Handelsministerium behandelte er mehr als sein ausführendes Organ und pochte ihm gegenüber eifersüchtig auf seinem alleinigen Recht zur Gesetzesinitiative. Ob die Regierung Gesetze einbringen durfte, war allerdings nicht geregelt. A n diesem Punkt setzte sich schließlich das erstarkende Ministerium durch 195 . Andere Ausschüsse hatten den Fachressorts rascher die zeitraubenden Vorarbeiten für die Gesetzgebung überlassen und sich freiwillig auf generelle Vorgaben und Regierungskontrolle beschränkt 196. So begann sich die Aufgabe der Nationalversammlung von der Gesetzesausarbeitung hin zur Gesetzesverabschiedung zu verschieben, wobei die Kontrolle der Regierung hinsichtlich der von ihr eingebrachten Gesetzentwürfe in den Vordergrund rückte. Der Graben verlief an dieser Stelle (noch) zwischen Regierung und Parlament, nicht zwischen Regierung und Regierungsmehrheit und Minderheit.
192
Beispiele bei Ziebura, S. 224. S. Ziebura, S. 221. 194 S. Ziebura, S. 222. 195 S. Ziebura, S. 221. 196 Der Marineausschuß hatte sogar auf die Einrichtung eines entsprechenden Ressorts gedrängt, um sich nicht mehr mit allen Einzelheiten befassen zu müssen, s. Ziebura S. 223. 193
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Es wurden auch mehrere reine Untersuchungsausschüsse gebildet 197 . Da das Untersuchungsrecht auch bereits bestehenden Ausschüssen nachträglich übertragen werden konnte, gab es keinen Anlaß für eine unterschiedliche Behandlung der Untersuchungsausschüsse, etwa bei der Besetzung. Der Vorbehalt in § 24 GO, daß eine Enquete eines Ausschusses der Genehmigung der Versammlung bedurfte, wurde im November 1848 gestrichen 198 . Dies belegt den Bedeutungszuwachs der Ausschüsse gegenüber dem Plenum.
dd) Ausschußbesetzung Von der Möglichkeit der Besetzung eines Ausschusses durch das Plenum nach § 22 GO wurde nie Gebrauch gemacht 199 . Es blieb in der Praxis bei der Wahl durch die Abteilungen. Nur in einem Punkt wurden die Regeln der Geschäftsordnung zur Ausschußwahl ergänzt. War eine Nachwahl zum Ausschuß notwendig und bestand die Abteilung, aus dem das ausscheidende Mitglied stammte, in ihrer alten Zusammensetzung nicht mehr, wählte nunmehr das Plenum den Nachrücker mit relativer Mehrheit aus 3 vom Ausschuß selbst mit absoluter Mehrheit ausgewählten Vorschlägen aus (§ 22a GO). Die Parteien der Nationalversammlung nahmen auch auf die Ausschußbesetzung Einfluß, wie Mohl es vorausgesehen hatte. Allerdings war die Mehrzahl der Ausschüsse bereits konstituiert, bevor sich die Fraktionen gebildet hatten, und diese brauchten noch eine gewisse Zeit, um ihre parlamentarischen Möglichkeiten auszuloten. Es war nicht zu erwarten, daß die Ausschüsse genau entsprechend dem Stärkeverhältnis der im nachhinein entstandenen Klubs besetzt waren 200 . Daß die Mitglieder vorwiegend nach fachlicher Befähigung ausgewählt worden waren, war aber kein Nachteil. Im übrigen konnte das System der Wahl mittels ausgeloster Abteilungen allein auch nach Entstehung der Fraktionen deren anteilsgerechte Beteiligung an jedem einzelnen Ausschuß nicht leisten.
197
Ausschuß für die Mainzer Ereignisse, für die Untersuchung gegen Abgeordnete der Linken nach der Septemberrevolution, und für die Wahlen in Thiengen und Konstanz (Wahlkreis Heckers, ihm verweigerte die Mehrheit die Legitimation), s. Moldenhauer, S. 89 f. 198 StB. IV S. 3138 f. 199 S. Schauer, S. 48. 200 Vgl. Schauers. 63 f.
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Es hatte aber in den zu Anfang gebildeten Ausschüssen dafür gesorgt, daß sich die beiden Hauptlinien Konstitutionalismus und Demokratie jeweils ihrem Charakter als Mehrheit und Minderheit entsprechend wiederfanden. Hierfür mögen die entsprechenden Neigungen der einzelnen Abgeordneten, die ja bereits vor der Klubbildung bestanden, und die glückliche Auslosung der Abteilungen ursächlich gewesen sein. Es war also dafür gesorgt, daß die Ausschüsse, allen voran der Verfassungsausschuß, eine der Plenumsmehrheit entsprechende Linie verfolgten, während die Minderheit stets zumindest in der für ein eigenes Gutachten notwendigen Stärke vertreten war 2 0 1 . Erst als Nachwahlen stattfanden, konnte der Fraktionseinfluß wirksam werden. Es war selbstverständlich, daß die einzelnen Klubs sich intern über ihre Kandidaten einigten. Darüber hinaus wurde im September 1848 erstmals eine geheime Abrede zwischen dem konservativen "Cafe Milani" und dem rechtsliberalen "Kasino" offenbar, die sich intern auf gemeinsame Kandidaten für die in Abteilungen stattfindenden Nachwahlen zum Verfassungsausschuß geeinigt hatten und sie fast vollständig durchbrachten 202. Komplizierter wurde die Situation, als sich die Fraktionen im Herbst und Winter 1848 mehrfach umgruppierten und neue Mehrheiten entstanden. Als die Mehrheitsverhältnisse in einigen Ausschüssen nicht mehr denen des Plenums entsprachen, wurden die Mehrheitsanträge an eigens dafür geschaffene Ausschüsse überwiesen 203 . Eine Neuauslosung der Abteilungen war dazu nicht einmal notwendig. Die Zusammensetzung der neuen Ausschüsse entsprechend den neuen Verhältnissen wurde durch Absprachen zwischen den benachbarten Fraktionen gewährleistet 204 . I m Eifer der immer erbitterter geführten Auseinandersetzungen ließ nun auch ein Teil der Linken den Sinn für den Minderheitenschutz in dem Augenblick vermissen, als er selbst zur Mehrheit gehörte. I m April 1849 kam es zu 201
S. Schauer S. 63 f., allerdings mit negativer Bewertung. S. Kramer, S. 196. 203 So wurde ein brisanter Antrag Biedermanns, der sich mit aller Schärfe gegen das von Sachsens 2. Kammer beanspruchte Mitentscheidungsrecht über die gesamtdeutsche Verfassung wandte, nicht im eigentlich zuständigen Verfassungsausschuß beraten, sondern dem zu diesem Zweck neu geschaffenen Ausschuß über dasVerhältnis der Zentralgewalt überwiesen, in dem die neue Plenumsmehrheit eine Mehrheit von 13 der 15 Sitze innehatte, s. Kramer, S. 121 f. und 197. Ausdrücklich wegen geänderter Parteiverhältnisse wurde der Ausschuß zur Prüfung des Gagernschen Regierungsprogramms eingesetzt, anstatt mit dieser Prüfung den eigentlich zuständigen sog. Österreich-Ausschuß zu beauftragen, s. Kramer, S. 197, Moldenhauer, S. 80 f. 204 S. Kramer, S. 197. 202
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einer gezielten Absprache innerhalb der kleindeutschen Koalition aus Liberalen und Linken mit dem Ziel, die großdeutsche Minderheit völlig von dem Ausschuß zur Durchführung der Reichsverfassung (sog. Dreißiger-Ausschuß) fernzuhalten. Dies gelang nicht, weil mehrere Liberale sich nicht an die Vereinbarung hielten 205 . Aus diesen Absprachen zu schließen, die Nationalversammlung habe sich direkt auf dem Weg zu einer Besetzung entsprechend den Fraktionsstärken befunden 206 , ist zumindest voreilig. Die genannte Absprache diente gerade nicht der anteilsgerechten Ausschußbesetzung, sondern der Überrumpelung des politischen Gegners. Vielmehr bewährte sich in diesem Fall das Mohlsche Besetzungssystem. Denn eine mißbräuchliche Ausschaltung einer genügend großen Minderheit erforderte bei der ungleichen Zusammensetzung der Abteilungen und wegen des Bestehens von 5 und mehr Fraktionen, von denen stets mindestens 3 zur Mehrheitsbildung notwendig waren 207 , eine breite Absprache über unterschiedliche Fraktionen hinweg, die - sei es aus parlamentarischer Fairness, sei es aus Mißgunst gegenüber dem ungeliebten Verbündeten - selten von allen beteiligten Abgeordneten eingehalten wurde.
ee) Präsidium Die wichtigste Änderung für die Arbeit des Präsidiums stellte die Einsetzung des Prioritätsausschusses dar. Schon zu Beginn der Beratungen zeigte sich, daß der Vorstand der Fülle der Anträge und Petitionen nicht Herr wurde. Daraufhin beschloß die Nationalversammlung schon am 24. Mai 1848 die Einsetzung eines Ausschusses für die Anträge und Petitionen 208 . Zunächst sollte er nur die Petitionen inhaltlich vorberaten und Empfehlungen zur Reihenfolge der Behandlung von Petitionen und Anträgen i m Plenum abgeben. Die Aufstellung der eigentlichen Tagesordnung blieb, entsprechend § 34 GO, alleinige Aufgabe des Präsidenten. Später übertrug man dem Ausschuß die definitive Entscheidung über die Reihenfolge 209 , ohne die Geschäftsordnung deshalb zu ändern. I m Laufe der Zeit überließ man es dem Ausschuß auch, ohne Mitwirkung des nach § 29 GO formell dafür zuständigen Präsidenten, Anträge an die zuständigen Aus205 206 207 208 209
Allerdings wurden nur 2 Angehörige der Minderheit gewählt, s. Kramer, S. 198. So Kramer ebda., ihm folgend Franke, Vom Seniorenkonvent zum Ältestenrat, S. 38. Zu den Fraktionen und ihrer Mitgliederzahl vgl. die Übersicht bei Kramer, S. 284. S. St.B. IS. 67,74 ff. S. Moldenhauer, S. 63 f., und Ziebura, S. 219.
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schiisse zu verweisen, solange das Plenum darüber nicht selbst Beschluß faßte 210 . Angesichts seiner praktischen Bedeutung und Arbeitslast wurde der Ausschuß bald von ursprünglich 15 auf 30 Mitglieder erweitert 211 . I m Verlauf der Nationalversammlung wurden nur zwei verschiedene Präsidenten gewählt, Heinrich von Gagern und nach dessen Übernahme des Amts des Ministerpräsidenten am 18.12.1848 Eduard Simson 212 . Eine ständige Wiederholung der Wahl erübrigte sich, da die Versammlung in beiden Abgeordneten Kandidaten gefunden hatten, die ihrem Amt in jeder Hinsicht gewachsen waren und entsprechendes Ansehen unter den Parlamentariern genossen 213 . Da die erste Wahl des insgesamt elfköpfigen Gesamtvorstands noch vor der Klubbildung stattfand und nur eine Nachwahl für den ausscheidenden Präsidenten Gagern und den nachrückenden Vizepräsidenten Simson folgte, können keine Schlußfolgerungen über eine Praxis der Fraktionsbeteiligung an diesem Gremium gezogen werden. Die beiden Präsidenten zählten zur liberalen Mitte, Gagern verzichtete aber während seiner Amtszeit auf eine förmliche Mitgliedschaft in einem Klub, um seine unparteiische Amtsführung zu unterstreichen. Festzuhalten bleibt, daß der Vorstand der Herrschaft der Klubs über die Nationalversammlung Rechnung trug und angesichts seiner Unparteilichkeit von ihnen stets akzeptiert wurde.
4. Abschließende Bewertung Die Nationalversammlung der Paulskirche wies erstmals in Deutschland und gegen den erklärten Willen der Mehrheit seiner konstitutionell gesinnten Abgeordneten alle Merkmale eines demokratischen Parlaments auf. Die Nationalversammlung besaß die volle Souveränität über die (Verfassungs-) Gesetzgebung. Sie stellte die (faktisch, nicht rechtlich) von ihr abhängige Reichsregierung. Sie ging aus gleichen und weitgehend allgemeinen Wahlen
210
S. Moldenhauer, S. 64 mit Fn. 98. S. St.B. IS. 218. 212 S. Huber Bd. 2 S. 630. 213 Gagern wurde gelegentlich mangelnde Unvoreingenommenheit vorgeworfen, Simson hingegen allseits gelobt, s. Ziebura, S. 197 f. mit Fn. 197. 211
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hervor. Dadurch konnte es das deutsche Volk nicht nur in seinen Ländern, sondern auch in seinen verschiedenen Interessen und Meinungen repräsentieren, die sich im Kampf um die Mehrheit im Parlament und unter den Wählern als Fraktionen und Parteien organisierten. A u f dieser Repräsentationsleistung beruht die Anziehungskraft der Nationalversammlung. Diese ging so weit, daß die große Mehrheit der Demokraten sich stets an der Arbeit in der Paulskirche, die von den konstitutionellen Gegnern dominiert wurde, orientierten, und später sogar allein für die Durchführung der von der konstitutionellen Mehrheit beschlossenen Verfassung kämpften^. Bedingung dieser erfolgreichen Repräsentation war die Integration der in der Paulskirche vertretenen demokratischen Minderheit. Nur solange diese Gruppe ihre Standpunkte in die Arbeit der Nationalversammlung einbringen und von dort an die Öffentlichkeit tragen konnte, nur so lange ihr die faire Chance zur Gewinnung der Versammlungsmehrheit eröffnet blieb, konnte die liberale Mehrheit erwarten, daß sie sich der Versammlungsmehrheit unterwerfen und auf außerparlamentarische Aktionen verzichten würde. Diese Integration war Aufgabe des Geschäftsverfahrens, welche die Nationalversammlung als erstes deutsches Parlament völlig frei gestalten konnte. Daß sich die Abgeordneten der Bedeutung der Geschäftsordnungsautonomie bewußt waren, zeigt ihre Bestätigung in Art. 116 der Verfassung. Die Geschäftsordnung hatte zunächst ein Verfahren zur Bewältigung der Fülle von Aufgaben bereitzustellen, die dem Umfang der Macht der Paulskirche entsprach. Dazu wurden die zu Anfang gewährten Rechte der einzelnen Abgeordneten eingeschränkt und die Arbeit vom Plenum in die Ausschüsse verlagert. Diese Maßnahmen stärkten die Fraktionen und gingen mit ihrer Herausbildung Hand in Hand. Die Fraktionen wiederum trugen mit der Vorklärung innerhalb ihrer Mitglieder, ihrer relativen Stabilität und Berechenbarkeit zur Rationalisierung des Verfahrens bei. Die Bildung fester Gruppen war die Bedingung, daß bei aller notwendigen Rationalisierung und Einschränkung der Abgeordnetenrechte die in den Klubs organisierten Parlamentarier angemessen berücksichtigt werden konnten: Die Fraktion war bereits beteiligt, wenn eines ihrer Mitglieder in ihrem Auftrag im Plenum sprach. Die angemessene Beteiligung der in Fraktionen organisierten Interessen gelang der Paulskirche erstaunlich gut. Garant dafür war einmal das Präsidium. 214 S. dazu Huber, Bd. 2 S. 687 ff.,705 ff., 860 ff., Deutsche Demokraten, S. 27 ff.
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Die Wahl dieses Gremiums (mit absoluter bzw. relativer Mehrheit durch das Plenum) fand zu Beginn der Nationalversammlung statt und stand noch nicht unter dem Einfluß der Fraktionen. Zum ersten Mal konnte ein deutsches Parlament frei und ohne die Einmischung von Seiten anderer Staatsorgane über seinen Vorstand entscheiden. Dieses Recht wurde später in § 110 der Paulskirchenverfassung bekräftigt. Daß die Präsidiumsmitglieder erstmals nur ihrer Versammlung verpflichtet waren, mag zu ihrer Unparteilichkeit beigetragen haben. Diese Unparteilichkeit galt aber nur hinsichtlich der Fraktionen, welche einzelnen Abgeordneten gegenüber bevorzugt wurden, zuweilen, wie bei der Redeordnung, an der geschriebenen Geschäftsordnung vorbei. Bei der Besetzung der für die sachliche Parlamentsarbeit so wichtigen Ausschüsse war es hingegen gerade die geschriebene Geschäftsordnung, die sich bewährte. Der geistige Urheber der Geschäftsordnung, Robert Mohl, hatte die Bildung sich heftig streitender Parteien in der Nationalversammlung vorausgesehen. Zufallsmehrheiten konnte es dort kaum noch geben. Er schlug das in der Paulskirche praktizierte System der Ausschußbesetzung über die Wahl der Mitglieder in 15 ausgelosten Abteilungen vor. Dieses Verfahren sollte bewirken, daß die jeweilige Minderheit, ohne vom guten Willen der Mehrheit abhängig zu sein, in den Ausschüssen vertreten war, und daß gleichzeitig die Versammlungsmehrheit auch die Ausschußmehrheit stellte. Der Minderheitenschutz diente bei Mohl der Rationalität und Akzeptanz der Parlamentsherrschaft. In den nichtöffentlichen Ausschußsitzungen sollten alle Ansichten, auch die der Minderheit, sachlich gegeneinander abgewogen werden, um zu dem richtigen Ergebnis zu kommen. Die Minderheit hatte das Recht, ihre abweichenden Vorstellungen als Ausschußbericht dem Plenum vorzulegen. Damit wurden der Versammlung und der Öffentlichkeit die Argumente beider Seiten vor Augen geführt und eine eigene Entscheidung ermöglicht. Gleichzeitig wurde die Debatte strukturiert. Der unterlegene Minderheit konnte die Mehrheitsentscheidung akzeptieren, weil sie vom Anfang des parlamentarischen Verfahrens bis zur Entscheidung ihre Auffassungen einbringen konnte. A n diesem Punkt trafen sich die auf die "einzig richtige" Entscheidung orientierte Rationalität des Liberalen mit den Anforderungen an einen offenen, demokratischen Willensbildungsprozeß im Parlament, in dem sich unterschiedliche Interessen als Fraktionen organisiert gegenüberstanden und um Macht und Mehrheit stritten.
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Voraussetzung fur den Erfolg des von Mohl konzipierten Systems der Ausschußbesetzung war, daß sich in der Nationalversammlung meist zwei Koalitionen mehrerer Fraktionen gegenüberstanden, denn der Wahlmodus konnte zwar Mehrheit und Minderheit abbilden, aber keine genauere Abbildung der Stärkeverhältnisse der einzelnen Fraktionen leisten. Das System von Mohl hätte aber langfristig zu entsprechenden Absprachen zwischen allen Fraktionen über eine anteilsgerechte Besetzung geführt. Derartige Vereinbarungen zur Wahrung der parlamentarischen Fairness deuteten sich bei der Verteilung der Redezeiten oder in der Praxis des "Pairings" 2"» bereits an. Die Rechte der Mehrheit und der Schutz der Minderheit standen bei der Ausschußbesetzung in einem für ein demokratisches Parlament vorbildlichen Verhältnis zueinander. Angesichts der inneren Zerissenheit der Nationalversammlung kann diese Leistung der Geschäftsordnung nicht hoch genug bewertet werden.
C. Die Parlamente in der Zeit des Konstitutionalismus M i t der Niederlage der Revolution 1849 war der Versuch endgültig gescheitert, einen demokratischen, parlamentarischen Nationalstaat von unten, durch die Initiative des Volkes, zu errichten. Der Handlungsspielraum der Parlamente der nachfolgenden konstitutionellen Epoche wurde wieder, wie vor der gescheiterten Revolution, durch das "monarchische Prinzip" des Art. 57 der Wiener Schlußakte1 begrenzt. Dieser Rückschlag wirkte sich nachhaltig auf das Geschäftsverfahren des preußischen Abgeordnetenhauses, der bedeutendsten Volksvertretung in den Jahren nach der Revolution, aus. Erst im Reichstag kam es zu entscheidenden Neuerungen im Verfahren, vor allem in der Art und Weise der Gremienbesetzung.
I· Das preußische Abgeordnetenhaus bis 1867 1. Verfassungsrechtliche
und politische Rahmenbedingungen
I m preußischen Staat lag die Vorherrschaft nach der Verfassung beim Monarchen. Sie kam vor allem in seiner unbeschränkten Exekutivgewalt und seinem Oberbefehl über das Heer 2 zum Ausdruck. In seiner Souveränität war er
216 s. Kramer, S. 183. 1 Vgl. dazu oben Α. II. bei Fn. 23. 2 Art 45 und 46 Verfassungsurkunde.
C. Konstitutionalismus
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nur soweit beschränkt, wie die Verfassung den Kammern ausdrücklich Mitwirkungsmöglichkeiten zuwies3. Die wichtigste Kompetenz der Kammern bestand in der Gesetzgebung, die sie gemeinschaftlich mit dem König ausübten. Ein Gesetz bedurfte der Zustimmung beider Kammern und des Königs 4 . Auf die Regierungsbildung hatten die Kammern keinen Einfluß, sie war allein Sache des Monarchen 5. Die Verantwortlichkeit der Minister, von der die Verfassung sprach 6, war, jedenfalls was die Kammern betraf, rechtlich nicht durchsetzbar. Die schärfste Sanktion zu ihrer Durchsetzung wäre nach der Verfassung die Ministeranklage wegen des Verbrechens der "Verfassungsverletzung, der Bestechung und des Verrats" 7 gewesen. Da das entsprechende Ausführungsgesetz 8 nie erlassen wurde 9 , blieb diese Waffe stumpf. Als Mittel der politischen Kontrolle räumte die Verfassung den Kammern das Recht ein, die Minister zu ihren Sitzungen zu zitieren 10 , sowie die Befugnis zu eigenen Untersuchungen 11. Beide Möglichkeiten wurden von den Kammern so gut wie nicht genutzt 12 . Der ersten Kammer gehörten nach frühkonstitutionellem Vorbild i m wesentlichen Vertreter des Adels kraft Geburt oder königlicher Ernennung an 13 . Die etwa 450 Mitglieder 14 der zweiten Kammer, des Abgeordnetenhauses, wurden nach dem Dreiklassenwahlrecht gewählt, das selbst Bismarck als "widersinnig" und "elend" bezeichnete15. Das Wahlrecht war zwar allgemein, aber ungleich, indirekt und öffentlich 16 . Die etwa 84 % der Urwähler,
3
S. Kröger, Verfassungsgeschichte, S. 38. S.Art.62VU. 5 S. Art. 45 S. 2 VU. 6 S. Art. 44 S. 2, Art. 61 II VU. 7 Art. 61 VU. 8 Nach Art. 61 II VU. 9 S. Huber, Bd. 3, S. 66. 10 Art. 60 II VU. 11 Art. 82 VU, allerdings ohne eigene Beweiserhebungsrechte. 12 Es wurden insgesamt nur 4 Untersuchungsausschüsse eingesetzt, der letzte bereits 1864. Die Regierung kam dann dem Parlament stets zuvor, indem sie Untersuchungskommissionen aus Angehörigen beider Häuser sowie Beamten einsetzte, S. Hätschelt, Deutsches und preußisches Staatsrecht, S. 688; vgl. auch Plate, GO, § 26, Anm. 21 und Grünthal, Parlamentarismus in Preußen 1848/49 -1857/58, S. 359 und 362. 13 Zur Zusammensetzung der 1. Kammer im einzelnen Huber Bd. 3 S. 83. 14 Zunächst 350 (Art. 69 Verf.), später bis 443 Abgeordnete, s. Huber Bd. 3 S. 85. 15 Vgl. Huber Bd. 3 S. 94. 16 Vgl. Art. 70 f. VU. 4
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
die wegen ihres geringen Steueraufkommens der 3. Klasse angehörten 17, wählten genauso viele Wahlmänner wie die gerade 4 % der Wähler der 1. Klasse. Außerdem waren die Wähler der 3. Klasse gezwungen, ihre Stimme in Anwesenheit der Wähler der 1. und 2. Klasse zu Protokoll 18 abzugeben. Sie waren damit nicht nur der Kontrolle der Wahlbeamten, sondern auch ihrer Arbeitgeber, Prinzipale und Vorgesetzten ausgesetzt19. Nach den Worten des Abgeordneten Ernst Ludwig von Gerlach sollte damit sichergestellt werden, daß die Wähler den "richtigen" Einflüssen der "natürlichen Autoritäten" 20 unterlagen. Dazu kam eine Wahlkreiseinteilung, die ländlichen Bezirke deutlich (und i m Zuge der Bevölkerungsexplosion in den Städten zunehmend) bevorzugte 21 . Daß dieses Wahlrecht die politische Aktivität der Bürger nicht eben begünstigte, liegt auf der Hand. Um die Jahrhundertwende näherte sich die Wahlbeteiligung der 20 %-Marke, während sie gleichzeitig bei den Wahlen zum Reichstag über 75 % betrug 22 . Ohnedies war das politische Leben im Zuge des Sieges der Reaktion weitgehend zum Erliegen gekommen 23 . Unter Führung des wiederbelebten deutschen Bundes wurden Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit beschränkt. Regierungsgegner wurden von der Polizei bespitzelt und verfolgt 24 . Parteien konnten unter diesen Bedingungen nicht gedeihen. Die wenigen vereinzelt noch verbliebenen Vertreter der demokratischen Richtung riefen sogar resigniert zum Wahlboykott auf 25 . A l l diese Faktoren bewirkten zusammen mit einer massiven Wahlbeeinflussung 26 durch die Administration, daß die Regierung bis zum Beginn der 60er Jahre eine sichere Mehrheit in der Kammer besaß. Weder die Regierung noch ihre konservative Kammermehrheit brauchten ein eigenständiges Parlament,
17
Vgl. Huber Bd. 3 S. 11. § 21 VO betr. die Ausführung der Wahl der Abgeordneten der 2. Kammer, Text: Huber Dok. Bd. 1 Nr. 193. Das in Art. 72 VU vorgesehene Wahlgesetz wurde nie verabschiedet 19 S. Grünthal, S. 91. 20 Zitiert nach Huber Bd. 3 S. 88. 21 S. Huber Bd. 3 S. 89 f. 22 S. Huber Bd. 3 S. 92. 23 Die meisten der revolutionären Politiker waren in Haft oder hingerichtet worden, sofern sie nicht ins Exil geflohen waren. Vgl. die "Übersicht über die Schicksale verfolgter Parlamentarier" aus dem Jahre 1857, in: Die Deutsche Revolution 1848/49 in Augenzeugenberichten, S. 369 ff. 24 S. Huber Bd. 3 S. 134 ff., 169 ff. 25 S. Dt. Demokraten, S. 46; Grünthal, S. 433 ff. 26 S. die detaillierte Darstellung der Wahlen von 1855 bei Grünthal, S. 415 ff. 18
C. Konstitutionalismus
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um ihre Politik durchzusetzen. Ein mächtiges Parlament konnte ihnen nur gefahrlich werden. Aus diesem Grund wollten sie nichts weniger als die Ausnutzung oder gar Vergrößerung seiner verfassungsmäßigen Rechte 27 .
2. Die Geschäftsordnung des preußischen Abgeordnetenhauses Der größte Fortschritt gegenüber dem Frühkonstitutionalismus war die Garantie der Geschäftsordnungsautonomie in der Verfassung 28. Dieses Zugeständnis war der Regierung angesichts der sicheren Kammermehrheit allerdings nicht schwergefallen 29. Das von dieser erarbeitet Reglement unterschied sich in den meisten Punkten kaum von der Geschäftsordnung der Paulskirche. Es enthielt jedoch keinen effektiven Minderheitsschutz und verhinderte im Ergebnis eine offene, lebendige Auseinandersetzung im Parlament 30. a) Der Ablauf der Beratungen Nach der Geschäftsordnung von 1849 wurden alle Anträge sofort an die Kommissionen bzw. Abteilungen verwiesen, ohne daß das Plenum sich mit ihnen zuvor befassen konnte. Die Kommissionsberatungen waren nicht öffentlich. Andere Abgeordnete hatten nur auf besondere Einladung Zutritt 31 . Der Präsident konnte allerdings jederzeit mit beratender Stimme teilnehmen 32 . Dieses Recht gewährte die Geschäftsordnung auch den Ministern und ihren Beauftragten. Sie verpflichtete die Kommissionen, das Kabinett über Gegenstand und Zeitpunkt ihrer Beratungen zu unterrichten 33 .
27
S. Bergsträsser, Die Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland, S. 145. Art. 78 VU. Die Autonomie der Kammern war dennoch begrenzt: sie besaßen z.B. kein Selbstversammlungsrecht, Art. 51 VU. Dem Präsidenten wurde die Polizeigewalt und die Personalhoheit hinsichtlich der Hilfskräfte bestritten, s. K.F. Arndt, S. 34. 29 S. Grünthal, S. 354. 30 Vgl. auch die negative Einschätzung Grünthals, S. 355. Die endgültige Geschäftsordnung war gegenüber dem 1. Entwurf sogar deutlich entschärft, s. Botzenhart, Dt. Parlamentarismus, S. 499 f. 31 S. Plate, GO, § 28, Anm. 45f; entgegen dem Wortlaut des § 28 V GO, der die "Ausschließung der Öffentlichkeit der Kommissionsberatungen für die Nichtmitglieder" nur durch Beschluß des Plenums vorsah. 32 § 1112 GO. 33 §30 GO. 28
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
Das Plenum beriet erstmals auf der Grundlage der Kommissionsberichterstattung über den Gegenstand. Die Berichterstattung erfolgte ausschließlich schriftlich. Die Geschäftsordnung sah nur eine einzige Debatte vor, in der zunächst die Grundsätze, dann die Einzelheiten der Vorlage erörtert wurden. Bei der Erörterung der Grundsätze hatte jeder Abgeordnete nur einmaliges Rederecht 34. Die Reihenfolge der Redner bestimmte sich nach einer vorher festgelegten Rednerliste 35. Minister hatten nach Art. 60 der Verfassungsurkunde das Recht, das Wort ungeachtet der Rednerliste zu ergreifen. Jederzeit konnte die Mehrheit den Schluß der Debatte beschließen. b) Organisation und Besetzung der Gremien Beibehalten wurde die Institution der Abteilungen. Zu Beginn jeder Sitzungsperiode 36 wurden die Abgeordneten durch Los auf 7 möglichst gleichgroße Abteilungen verteilt. Eine Neuauslosung während der Sitzungsperiode geschah nur auf Antrag von SO Abgeordneten auf Beschluß des Hauses37. Die Aufgaben der Abteilungen bestanden in der Wahlprüfung, in der Wahl der Kommissionsmitglieder und in der Vorbereitung dessen, was nicht zum Geschäftsbereich der Kommissionen gehörte 38. Sie wählten mit absoluter Mehrheit einen Vorsitzenden und einen Schriftführer sowie je einen Stellvertreter. Die Geschäftsordnung sah 8, später 9 ständige Kommissionen vor. Daneben konnten weitere Sonderkommissionen eingesetzt werden 39 . Die Mitgliederzahl wurde vom Hause von Fall zu Fall festgelegt. Sie betrug stets ein Vielfaches der Anzahl der Abteilungen. Die Regel waren 14 Mitglieder 40 , es gab aber auch Gremien mit bis zu 28 Sitzen 41 . Die Kommissionsmitglieder wurden in den Abteilungen mit verdeckten Stimmzetteln und mit absoluter Mehrheit gewählt. Wählbar waren nur Abgeordnete der jeweiligen Abteilung 42 . Soweit Vorberatungen in den Abteilungen stattfanden, entsandte jede von ihnen einen Berichterstatter in den sogenannten Central-Ausschuß. Kommissionen und Centraiausschuß wählten mit absoluter Mehrheit einen Vorsitzenden und einen Schriftführer und je einen Stellvertreter, sowie nach Abschluß 34 35 36 37 38 39 40 41 42
S. Plate, GO, §§ 16-18, Anm. 1; Grünthal, S. 359 f. S. Grünthal, S. 372. S. Plate, Anm. 9 zu § 2 GO. § 2 GO. S. Grünthal, S. 357. S. § 261, II GO; Plate, GO, S. 5. §26 III GO. Vgl. Plate, GO, § 26, Anm. 23; Grünthal, S. 358 Fn. 21. § 26IV 2 GO; Grünthal, S. 360, Plate, GO, § 26 Anm. 2.
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der Verhandlungen einen Berichterstatter für das Plenum 43 . Das in der Paulskirche so bewährte Minderheitsgutachten sah die Geschäftsordnung nicht vor. Das Präsidium bestand aus dem Präsidenten, 2 Vizepräsidenten und 8 Schriftführern 44 . Dem Präsidenten oblag die Leitung der Verhandlungen, die Wahrung der Ordnung im Hause und dessen Vertretung nach außen. Kollegiale Kompetenzen des Präsidiums gab es nicht. Insbesondere wurde das Kammerpersonal vom Präsidenten allein bestellt 45 . Die Wahl des Präsidenten und seiner Stellvertreter erfolgte verdeckt mittels Stimmzetteln und mit absoluter Mehrheit. Erstmals wurde eine sinnvolle Regelung für den Fall festgelegt, daß kein Kandidat diese Mehrheit erreichte 46. Die 5 Kandidaten mit den meisten Stimmen unterzogen sich einer 1. Stichwahl. Sollte auch dabei das erforderliche Quorum nicht erreicht werden, stellten sich nochmals die beiden Erstplazierten Bewerber einer zweiten Stichwahl. Bei Stimmengleichheit entschied das Los 47 . Die Schriftführer wurden geschlossen in einem Wahlgang mit relativer Mehrheit gewählt 48 . Die Wahl erfolgte mittels Stimmzetteln oder auch durch Zuruf 49 . Die Präsidenten wurden zunächst zweimal je für einen Monat "auf Probe" und erst in einer 3. Wahl endgültig gewählt. Bereits 1851 wurde die 2. Probewahl gestrichen 50. Die Amtsdauer aller Präsidiumsmitglieder erstreckte sich auf eine Sitzungsperiode 51 , auch die übrigen Gremien bestanden nur für die Dauer einer Session. 3. Das Geschäftsverfahren
in der Praxis
a) Fraktionen I m Gegensatz zur Paulskirche dauerte es im preußischen Abgeordnetenhaus Jahre, bis sich wirkliche Fraktionen herausgebildet hatten. Die untergeordnete Stellung des Parlaments, das Fehlen der politischen Freiheiten, ein Wahlrecht, das die verschiedenen gesellschaftlichen Interessen im Parlament nicht annähernd abbilden konnte und nicht zuletzt das innerparlamentarische Verfahren ließen politische Auseinandersetzungen, die die Abgeordneten zur Organisie43 44 45 46 47 48 49 50 51
S. Plate, GO, § 28, Anm. 1; Grünthal, S. 357. §§7,8 GO. §§11,12 GO. Vgl. oben S. 16 f. mit FN 107. § 7 GO. § 8 GO. S. Plate, GO, § 8, Anm. 6. Die GO traf insofern keine Regelung. S. Plate, GO, § 9, Anm. 1; Grünthal, S. 373. § 9 GO.
6 Edinger
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
rung veranlassen konnten, nicht zu 52 . Daß sich dennoch bereits in der ersten Legislaturperiode so etwas wie politische Gruppierungen bildeten, war in der Hauptsache den Vorteilen der Vorbesprechung mit Gleichgesinnten gegenüber der in den zufallig zusammengesetzten Abteilungen geschuldet. Für den Anschluß an eine Gruppe war neben der politischen Haltung noch vielfach die persönliche Sympathie oder landsmannschaftliche Verbundenheit ausschlaggebend 53 . In dieser Zeit erfolgte die "Absonderung in kleinere, gesellige Kreise, um sich vertraulich gegenseitig zu belehren und zu beraten, ohne alle Parteiverpflichtung" 54 . Die Zahl der parlamentarischen Gruppen war relativ hoch, meist lag sie zwischen 9 und 11. Ein fester Zusammenhalt entwickelte sich noch am ehesten bei entschiedenen Liberalen, bei den reaktionären Verfassungsgegnern um Gerlach und bei den Fraktionen der Katholiken (soweit es um Fragen der Religionsfreiheit ging), also zuerst dort, wo ein klares politisches Ziel vorhanden war. Kristallisationspunkte der Fraktionsbildung waren im übrigen einige herausragende politische Führungspersönlichkeiten, die den Gruppen auch ihre Namen gaben 55 . Stets blieben etwa 1/5 der Abgeordneten fraktionslos. Man bezeichnete sie als "Wilde" 5 6 . Eine strenge Fraktionsdisziplin scheiterte nicht zuletzt an dem Druck, den die Regierung auf die große Zahl der Beamten in der Kammer ausübte (bis 61 % der Abgeordneten 57). Ihnen drohte im Falle einer "feindlichen Parteinahme gegen die Regierung", sei es in oder bei den Wahlen zur Kammer, strengste disziplinarische Bestrafung 58, ungeachtet der Garantie des freien Mandats in der Verfassung 59. Folge war, daß die Zugehörigkeit der Beamtenabgeordneten zu regierungskritischen Gruppen meist nur in ihren Redebeiträgen, aber nicht in ihrem Verhalten bei den öffentlichen Abstimmungen in Erscheinung trat.
b) Der Gang der Beratungen Schon weil die Beratung im Plenum erst nach dem Kommissionsbericht einsetzte und ihr dort enge Grenzen gesetzt waren, war die Möglichkeit zur Än-
52 53 54 55 56 57 58 59
Vgl. zu dieser wohl für alle Parlamente geltenden Abhängigkeit Grünthal, S. 391 f. m.w.N. S. das Preußische Wochenblatt vom 13.12.1851, zit. nach Grünthal, S. 393, Fn. 9. So der Abgeordnete Kruse 1849, zit. nach Grünthal, S. 393. S. Grünthal, S. 405,408,447. S. Grünthal, S. 392. S. Grünthal, S. 446. Nach § 20 II VO betr. die Dienstvergehen, vgl. Grünthal, S. 347. Art. 83 VU.
C. Konstitutionalismus
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derung der Kommissionsergebnisse im Plenum gering. Bei der Besetzung der Kommissionen wurden Oppositionelle in aller Regel nicht berücksichtigt 60 . Das Regierungslager verfügte über eine derart große Mehrheit, daß es der Opposition trotz des Abteilungssystems aus eigener Kraft nicht gelang, Vertreter in die Kommissionen zu entsenden. Bei nur 7 Abteilungen (gegenüber 15 in der Paulskirche) mit bis zu 70 Mitgliedern war eine Sitzverteilung entgegen der eindeutigen Plenumsmehrheit praktisch ausgeschlossen. In den Kommissionen wurden unter Ausschluß der Öffentlichkeit die Vorlagen an das Haus nach den Vorstellungen der mitberatenden Regierungsvertreter erstellt 61 . Die Debatte über die Anträge im Plenum war von vornherein eingeschränkt und konnte auf Mehrheitsbeschluß jederzeit beendet werden. Die schriftliche Berichterstattung bewirkte, daß die sich darauf beziehenden Redebeiträge für Außenstehende oft unverständlich blieben 62 . Die Arbeitsweise der Kammer hatte in dieser Zeit nach den Worten eines Kritikers "noch in jeder Beziehung das Gepräge der Bureaukratie, nämlich eines geheimen und schriftlichen Vorhabens, während doch Öffentlichkeit und Mündlichkeit das ihnen eigentümliche und belebende Element" 63 sein sollten. Das Interesse des Publikums an den Debatten der Kammer erlahmte nach kurzer Zeit. Das Parlament war somit als Störfaktor für die Regierung ausgeschaltet. Die von ihr für nötig gehaltenen Gesetzesvorhaben, und nur diese, wurden reibungslos und ohne große öffentliche Aufmerksamkeit verabschiedet. Für die Opposition war die Arbeitsweise der Kammer unerträglich. In den Kommissionen konnte sie weder die Regierungsvorlagen noch ihre eigenen Anträge mitberaten, weil sie in ihnen nicht vertreten war. Wäre sie dort vertreten gewesen, hätte sie kein Recht zur Erstattung eines eigenen Gutachtens gehabt. Auch im Plenum und damit vor der Öffentlichkeit konnte sie ihre Position nicht wirksam darstellen. Einfluß auf die Entscheidungen hatte sie schon gar nicht. Die Opposition suchte den Ausweg in der Bildung interfraktioneller Gremien außerhalb der Geschäftsordnung, die als "freie Kommissionen" parallel zu den amtlichen Ausschüssen bestimmte wichtige Gesetzesvorlagen berieten. Dabei wurde die Öffentlichkeit, ihr einziger mächtiger Verbündeter, soweit wie möglich einbezogen. Die Ergebnisse der freien Kommissionen wurden in offener Auseinandersetzung mit den Regierungspositionen erarbeitet, wobei 60 61 62 63
S. Grünthal, S. 365 f. S. Grünthal, S. 360. S. Grünthal, S. 356. Abg. von Kries, zit. n. Grünthal, S. 356.
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es mitunter sogar gelang, regierungsnahe Abgeordnete einzubeziehen. Die Resultate waren fachlich besser und lagen schneller vor als die der offiziellen Kommissionen. Das Regierungslager konnte es sich dennoch leisten, diese Gremien zu ignorieren und über die von ihnen ausgearbeiteten Anträge zur Tagesordnung überzugehen. Angesichts des Mißerfolgs wurden die freien Kommissionen nicht zu Dauereinrichtungen 64. A u f dem Präsidentensitz konnte sich allerdings bis 1855 jeweils mit äußerst knapper Mehrheit ein prominenter Liberaler behaupten65. Das war nur möglich, weil er in der geheimen Wahl von Abweichlern aus dem Regierungslager unterstützt wurde. Die Opposition beantragte in dieser Zeit mehrmals, dem Präsidenten die Besetzung der Kommissionen zu übertragen, was die Mehrheit verständlicherweise ablehnte66.
c) Die Reform der Geschäftsordnung M i t dem Beginn der "Neuen Ära" in Preußen Ende der 50er Jahre lockerte sich allenthalben der Druck der Reaktion 67 . Die liberale und auch die demokratische Richtung gewannen an Einfluß, die Parteibildung ging nun rasch vonstatten68 , ebenso wie die Festigung der Fraktionen im Parlament. Dort errangen die liberalen Regierungsgegner 1861 die Mehrheit. Sie reformierten die Geschäftsordnung so, daß sie ihrem Bedürfnis nach Unterstützung durch die Öffentlichkeit Rechnung trug. Dazu führten sie eine freiere Form der Vorberatung im Plenum ein, die sich an die des englischen "Committees of the Whole House" 69 anlehnte, und gestatteten auch eine mündliche Kommissionsberichtserstattung. Die in der Praxis bedeutungslose Vorberatung in den Abteilungen wurde aus der Geschäftsordnung gestrichen 70. Was die Liberalen nicht änderten, waren die Besetzungsregeln für die Gremien. Einzig eine Regelstärke für die Kommissionen von 14 Mitgliedern wurde in die Geschäftsordnung aufgenommen. Ansonsten schaltete die neue Mehrheit nun mit Hilfe derselben Bestimmungen, deren Änderung sie vorher
64
S. Grünthal, S. 367 ff.; Plate, GO, § 26, Anm. 22. Graf v. Schwerin, s. Grünthal, S. 374 f. 66 S. Plate, GO, S. 8,9,13 und § 26, Anm. 2. 67 Dazu Huber, Bd. 3, S. 269 ff. 68 Dt. Nationalverein 1859, Dt. Fortschrittspartei 1861, Peußischer Volksverein 1862, Allg. Dt. Arbeiterverein 1863, Nationalliberale Partei 1866; s. Hauenschild, Fraktionen, S. 26 f.; Dt. Demokraten, S. 49; Huber Bd. 3 S. 93. 69 Dazu Dechamps, Ausschüsse, S. 6 f., 11. 70 Die sog. Simson-Forckenbecksche GO, dazu im einzelnen Plate, GO, S. 10 f. 65
C. Konstitutionalismus
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so vehement gefordert hatte, die Regierungsanhänger genauso rigoros von der Teilnahme an den Gremien aus wie diese es vorher mit ihnen getan hatten 71 .
4. Vom Konflikt zur Zusammenarbeit Obwohl mit der politischen Öffnung in Preußen auch die Ersetzung des reaktionären Kabinetts durch liberale Minister einherging, versuchte die Kammer in ihrer neuen Besetzung, direkten Einfluß auf die Regierungsbildung zu erhalten. Dazu benutzte sie die jährliche Budgetbewilligung 72 als Druckmittel, die sie solange verweigern wollte, bis ihren Forderungen Rechnung getragen wurde. Der König antwortete mit der Ernennung von Bismarck zum Regierungschef. Dieser gebrauchte die tatsächliche Macht der Exekutive, um mehrere Jahre ohne gesetzlich festgestellten Etat zu regieren. Der als "Preußischer Verfassungskonflikt" 73 bekannt gewordene Machtkampf zwischen Regierung und Volksvertretung endete also wiederum in einer Ausschaltung des Parlaments als selbständigen Faktor in der staatlichen Willensbildung. Erst als Bismarck für seine Einigungspolitik von oben ab 1866 die Unterstützung der Liberalen suchte, kam es zur Verständigung. Das Abgeordnetenhaus billigte nachträglich die Haushalte, enthielt sich aber einer Verurteilung der eigenmächtigen Handlungsweise der Regierung 74. Bismarcks Wende zu einer Politik der nationalen Einigung unter Preußens Führung führte im übrigen zu Umbrüchen im Parteienspektrum 75 und wiederum zu einer neuen Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses. Nachdem sich die Konfliktstrategie der Liberalen abgenutzt hatte und Bismarck aus der Position der Stärke heraus sich ihre Forderung nach nationaler Einigung zu eigen machte, gingen viele Liberale zu den Konservativen über oder unterstützten zumindest Bismarcks Politik. Das Ergebnis war, daß sich nach den Wahlen 1866 auf der linken und auf der rechten Seite des politischen Spektrums zwei annähernd gleichstarke Lager gegenüberstanden76. Das Abgeordnetenhaus ging daran, seine Rolle neu zu bestimmen. Auf der einen Seite hatte die Einigung im Verfassungskonflikt die Bereitschaft Bis-
71
S. Grünthal, S. 371; Franke, Vom Seniorenkonvent zum Ältestenrat, S. 41 f. m.w.N. Durch Haushaltsgesetz, Art. 99 VU. 73 Dazu im einzelnen Huber Bd. 3 S. 290 ff., 305 ff. Aus der zeitgenössischen Literatur vgl. z.B. Rönne, StaatsR., Bd. 2, m.w.N. Rönne forderte als Lösung den Rücktritt der Regierung und Neuwahlen. 74 Im IndemnitätsG, s. Engelberg, Bismarck, S. 621 ff. 75 S. Dt. Demokraten, S. 54. 76 S. Franke, S. 42; Huber Bd. 3 S. 93 Fn. 35. 72
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marcks gezeigt, das Parlament als Partner ernst zu nehmen. Auf der anderen Seite hatte die Konfliktstrategie den Einfluß der Kammer nicht zu erweitern vermocht. Die Abgeordneten versuchten nun, im Rahmen ihrer verfassungsmäßigen Rechte bei der Bestimmung der Politik, namentlich der bevorstehenden staatlichen Einigung mitzuwirken. Daran mußten nicht nur die Liberalen, sondern auch die Konservativen ein Interesse haben, nachdem Bismarck dem Parlament eine eigenständige Bedeutung einzuräumen bereit war. Erst in dieser Situation konnte der Gedanke des Minderheitenschutzes bei der Besetzung der Gremien Zustimmung auf beiden Seiten finden. Beide Seiten hatten selbst die ungeschützte Stellung als Minderheit erfahren. Beide Seiten hatten erfahren, daß Mehrheiten nicht auf Dauer bestanden, daß die Mehrheit unversehens zur Minderheit werden konnte. Für beide Seiten war der Ausgang einer jeden Kommissionswahl völlig ungewiß. Ein funktionsfähiges Parlament wollten ebenfalls beide. Weil dies eine Ausgrenzung des politischen Gegners im Parlament verbot, war eine Zusammenarbeit zumindest in Geschäftsordnungsfragen vorgezeichnet. Es blieb aber dem Reichstag des Norddeutschen Bundes, der in der gleichen Zeit und mit ähnlich unsicheren Mehrheitsverhältnissen zu seiner ersten Legislaturperiode zusammengetreten war und der die preußische Geschäftsordnung übernommen hatte, ihre Mängel aber von vornherein vermeiden wollte, vorbehalten, ein Verfahren zur angemessenen Berücksichtigung aller Parteien im Parlament zu entwickeln. Da der Reichstag sofort nach seiner Gründung die Führung in der Weiterentwicklung des Geschäftsverfahrens übernahm und das preußische Abgeordnetenhaus dessen Neuerungen nur noch nachvollzog 77 , werden die weiteren Einzelheiten dort behandelt.
I L Der Reichstag 2. Verfassungsrechtliche
und politische Rahmenbedingungen
Auch der Reichstag blieb als konstitutionelles Parlament nach der Verfassung im wesentlichen auf die Mitwirkung an der Gesetzgebung beschränkt, die er zusammen mit der Vertretung der monarchischen Länderregierungen, dem Bundesrat, ausübte78. Immer noch wurde der Reichskanzler, der die
77 78
Vgl. Plate, GO, S. 1 f, 14 f. Art. 5,6 Reichsverfassung, der Kaiser war an der Gesetzgebung nicht beteiligt.
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Reichsregierung verkörperte, allein vom Kaiser und unabhängig vom Parlament ernannt und entlassen79. Die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten zur Beeinflussung und Kontrolle der Politik und Zusammensetzung der Regierung waren sogar noch geringer als die des Preußischen Landtages80. Dennoch konnte der Reichstag genügend politischen Druck ausüben, um i m Rahmen seines Budgetbewilligungsrechts seinen Einfluß auf die Militärpolitik auszudehnen 81 - gerade hier war Preußens Abgeordnetenhaus gescheitert -, einfachgesetzliche Berichtspflichten der Regierung durchzusetzen 82 und die Vertreter der Exekutive zur Beantwortung von parlamentarischen Anfragen anzuhalten 83 . Der Einfluß des konstitutionellen Reichstags reichte also deutlich weiter als der des preußischen Abgeordnetenhauses. Dies verdankte er dem Umstand, daß seine Entstehung auf der Zusammenarbeit des Reichskanzlers mit großen Teilen der bürgerlich-liberalen Bewegung beruhte. Bismarck konnte sich auch noch in den ersten Jahren seiner Kanzlerschaft im Reichstag nicht nur auf die Freikonservativen, sondern auch auf die Nationalliberalen stützen84. Der Reichstag selbst beschied sich mit seiner Rolle als Gesetzgebungsorgan und baute nur allmählich seinen Einfluß weiter aus. Er verstand sich nicht als prinzipieller Gegner der Regierung, der jede Zusammenarbeit mit ihr verweigerte - mit dieser Position war das Preußische Abgeordnetenhaus bereits gescheitert. Er wollte stattdessen mit konstruktiver Opposition, als kritischer Berater der Regierung durch gründliche und sachliche Arbeit überzeugen. Die Regierung konnte ihrerseits an der Meinung des Reichstags nicht mehr ohne weiteres vorübergehen 85. Seine stärkere Stellung gegenüber dem preußischen Parlament verdankte er daneben der Einführung des allgemeinen, direkten und geheimen Wahlrechts 86 .
79
S.Art. 15RV. So fehlte das Untersuchungsrecht und die Ministeranklage. 81 S. Huber, Das Kaiserreich, in: Hdb. des StaatsR., Bd. 1, Rn. 46. Zur Regierungskontrolle s. auch Kröger, Verfassungsgeschichte, S. 122. 82 Ζ. B. in den Haushaltskontrollgesetzen, S. Huber, ebd.; Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, S. 304. 83 Die nur in der GO (§§ 32 ff.) geregelt waren. Die Regierung war somit rechtlich nicht zur Beantwortung verpflichtet, s. pointiert Laband, a.a.O., S. 307 ff.; positiver in der Einschätzung der Kontroirrechte" Huber, Bd. 3, S. 898 ff. und 902 ff. 84 S. Huber Bd. 3 S. 907. 85 S. Dechamps, S. 59. 86 Art. 201 RV. 80
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
Gewählt wurde nach dem Wahlgesetz der Paulskirche in Einerwahlkreisen mit absoluter Mehrheit 87 . Die Zahl der Abgeordneten lag bei knapp 400 88 . Das Wahlrecht eröffnete den politischen Strömungen erstmals eine reelle Chance i m Kampf um parlamentarischen Einfluß und begünstigte so das erneute Aufkommen von politischen Massenorganisationen, den Parteien. Schon i m Reichstag des Norddeutschen Bundes kristallisierte sich die neue Parteienstruktur mit je einer gemäßigten und entschiedeneren Richtung der Konservativen und Liberalen heraus 89. Dazu kam die Sozialdemokratische Partei und das katholische Zentrums, die beide mit 1 Million bzw. 800000 Mitgliedern über die größte Basis in der Bevölkerung verfügten 90. Damit repräsentierte das Parlament wieder das Volk in seinen bedeutensten politischen Strömungen, erstmals auch einschließlich der Arbeiterbewegung. Der Rückhalt des Reichstages in der Bevölkerung, der sich durch den Rückhalt der Abgeordneten in politischen Massenorganisationen ergab, wurde verstärkt durch die im Vergleich zu Preußen deutlich höhere Wahlbeteiligung, die von 50 % (1871) auf fast 85 % (1912) anstieg9!. Allerdings waren der Macht des Reichstags über die Bindungen der Verfassung hinaus weitere Grenzen gesetzt92. Lange spielten reaktionäre Teile der Regierung mit dem Gedanken an einen Staatsstreich 93. Jeder parlamentarischen Kontrolle entzogen blieben die Kabinette: Gremien nach absolutistischem Vorbild, die neben der Regierung und außerhalb der Verfassung Exekutiv- und Beratungsfunktionen wahrnahmen 94. Die Parteien waren nach wie vor rechtlichen Beschränkungen unterworfen 95 , bis hin zum Sozialistengesetz, wie überhaupt die politischen Freiheiten nicht gewährleistet waren. Grundrechte kannte die Reichsverfassung nicht 96 . 87
S. Huber, Bd. 3, S. 861. Nach Art 20 II RV. 382, ab 1873 397 Abg., s. Huber, Bd. 3, S. 863; Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, S. 317. 89 Vgl. Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund, S. 370; Kröger, Verfassungsgeschichte, S. 117. 90 SPD: Stand 1912, Zentrum: Stand 1914, s. Kröger, Verfassungsgeschichte, S. 118 f. S. Huber, Bd. 3, S. 866, Fn. 26 und 27. 92 Vgl. Stoltenberg, Der deutsche Reichstag, S. 11 ff. Viel zu positiv Huber, Kaiserreich, Rn. 43 ff., der den Reichstag mit dem Weimarer Reichstag und dem Bundestag auf eine Stufe stellt. 93 Vgl. Huber, Bd. 4, S. 202 ff. 94 Zivil-, Militär- und Marinekabinett, S. Huber, Bd. 3, S. 816 ff. 95 Vgl. Hans Meyer, Wahlsystem und Verfassungsordnung, S. 93 f. 96 Vgl. Huber, Grundrechte im Bismarckschen Reichssystem, in: FS U. Scheuner, S. 163 ff. Zur Funktion der Grundrechte für die Demokratie vgl. H. P. Schneider, Eigenart und Funktion der Grundrechte, S. 28 ff., 42 ff. und Abendroth, Grundrechtssystem und Demokratie, S. 249 ff. 88
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Nicht umsonst wurde das Kaiserreich von Zeitgenossen als "bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus 11 charakterisiert 97. Das äußerte sich auch in den Wahlen, die in der Praxis keinesfalls so frei waren, wie es die Verfassung vorsah. Grobe Einmischungen, Manipulationen und Behinderungen oppositioneller Kandidaten waren keine Seltenheit 98 . Das Wahlrecht selbst stand bald dem wachsenden Parteieneinfluß entgegen, den es ursprünglich begünstigt hatte. Die Wahl in Einerwahlkreisen entsprach noch der Fiktion, das Wahlrecht diene der Auswahl des jeweils "besten" Kandidaten, während für die Wähler längst die Parteizugehörigkeit ausschlaggebend war. Da die Stimmen der unterlegenen Kandidaten keinen Erfolgswert besaßen, d.h. sich auf die Zusammensetzung des Parlaments nicht auswirkten, war es nicht möglich, die Parteienstärke entsprechend dem Wählerwillen abzubilden 99 . Dazu kam, wie in Preußen, die Bevorzugung der konservativen, ländlichen Gebiete bei der Wahlkreiseinteilung, die aufgrund der Bevölkerungszunahme in den Städten zu immer krasseren Ungerechtigkeiten führte 100 . So erhielt bei den Wahlen im Januar 1907 die SPD 29 % der Stimmen, aber nur 10,8 % der Mandate. Konservative und Liberale hatten zusammen weniger Stimmen, aber über viermal soviele Abgeordnete 101 . Der Reichstag blieb also trotz seiner stärkeren Stellung gegenüber der Regierung noch immer rechtlich und faktisch ein zweitrangiges Staatsorgan. Er konnte gegenüber der Regierung bestimmte Maßnahmen verhindern und sogar Kanzlerstürze auslösen102, aber nicht die Richtung der Regierungspolitik oder die Person des Regierungschefs positiv bestimmen 103 . Die Regierung war ihrerseits auf einen stabilen parlamentarischen Rückhalt nicht angewiesen. Auch bei einer regierungskritischen Reichstagsmehrheit fand sie für ihre Vorhaben im allgemeinen von Fall zu Fall eine Mehrheit 104 .
97 Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW Bd. 19, S. 29; vgl. auch Kröger, Verfassungsgeschichte, S. 90. 98 Beispiele bei v. Gerlach, Von Rechts nach Links, S. 83 ff. und 144 ff. Die Wahlzettel mußten von den Kandidaten selbst gedruckt und an die Wähler verteilt werden, was bei oppositionellen Kandidaten oft behindert wurde. Die Wahlzettel der Kandidaten der SPD wurden sogar wegen Verstoßes gegen das Sozialistengesetz konfisziert, s. Laband, StaatsR. Bd. 1 S. 327 Fn. 1. 99 Vgl. dazu Hans Meyer, Wahlsystem und Verfassungsordnung, S. 90 ff.; ähnlich aus der Sicht des Zeitgenossen Smend, Maßstäbe des Parlamentarischen Wahlrechts, S. 19 ff. (1911). 100 Das Verhältnis der Wähler in städtischen und ländlichen Wahlkreisen betrug bis zu 25:1, s. Denninger, StaatsR. 1 S. 95. 101 Vgl. die Übersicht bei Huber, Bd. 3, S. 875 f. 102 S. Huber, Kaiserreich, in: Hdb. des StaatsR., Rn. 45. 103 Bergsträsser, Die Entwicklung des Parlamentarismus, S. 147, spricht treffend von "negativer Macht"; Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, von "negativer Politik", S. 339. 104 S. Kröger, Verfassungsgeschichte, S. 122.
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1.Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
2. Die Geschäftsordnung des Reichstags Auch dem Reichstag sicherte die Verfassung die Geschäftsordnungsautonomie zu 1 0 5 , deren Umfang und Grenzen der des preußischen Abgeordnetenhauses entsprach 106. Aus Zeitmangel unterließ es der erste, der verfassungsgebende Reichstag des Norddeutschen Bundes, eine eigene Geschäftsordnung auszuarbeiten, und übernahm die Geschäftsordnung des preußischen Abgeordnetenhauses 107. Viele Parlamentarier gehörten beiden Häusern an, und so war sich der Reichstag über die Mängel der übernommenen Regelung, vor allem hinsichtlich des Kommissionswesens, sehr wohl bewußt und versuchte, sie von Anfang an zu umgehen. Zu diesem Zweck wurden die Verfassungsberatungen, die insgesamt nur sechs Wochen dauerten, im Plenum durchgeführt und auf die Einsetzung von Kommissionen völlig verzichtet 108 . Der im September 1867 zusammengetretene eiste ordentliche Reichstag nahm umgehend die Reform der Geschäftsordnung in Angriff. Ziel war dabei nicht zuletzt der Minderheitenschutz 109 .
a) Die Plenardebatte Die Änderungen des Reglements betrafen im wesentlichen die Plenardebatte. Für die Beratung von Gesetzesentwürfen führte man das heute 110 noch übliche Verfahren der drei Lesungen ein. Die erste Lesung fand vor einer möglichen Überweisung des Gegenstands an die Kommissionen statt. Sie diente der Grundsatzdiskussion. Erst an ihrem Ende wurde über eine Verweisung an eine Kommission entschieden111. Bei einer Verweisung fand die zweite Lesung nach der Vorlage des Ausschußberichts statt, der mündlich oder schriftlich erstattet werden konnte 112 . In der zweiten Beratung wurden die Einzelheiten und die eingebrachten Änderungsanträge erörtert 113 . Die dritte 105
S. Art. 27 ff. Reichsverfassung. S.o. S. 76, vgl. Art. 12 und 25 RV, nach denen der Kaiser den Reichstag versammelte sowie vertagen und auflösen konnte. 107 S. Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, S. 62. Nur die Bezeichnungen der Staatsorgane wurden geändert, s. Plate, Das autonome Reichstagsrecht, S. 1. 108 S. Pollmann, S. 189 f. 109 S. Pollmann, S. 357. 110 Vgl. nur §§ 78 ff. GOBundestag, §§ 38 ff. GOHessLT. 111 S. § 18 GORT. 112 S. § 27 II, III GORT. Der Reichstag konnte in jedem Fall einen schriftlichen Bericht verlangen. 113 S. § 19 GORT. 106
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Lesung war noch einmal unterteilt in General- und Einzeldebatte. Sie endete mit der Schlußabstimmung über den Entwurf. Die erstmalige oder erneute Verweisung an die Kommissionen war auch in der zweiten und dritten Lesung möglich 1 1 4 . Diese Art der Beratung sollte nicht nur die Öffentlichkeitswirksamkeit erhöhen. Sie entsprach dem Selbstverständnis des Reichstags als kritischer Berater der Regierung in zweierlei Weise: Einmal ermöglichte sie eine gründliche Beratung der Gesetze. Diese sollte nicht nur helfen, die Regierung zu überzeugen. Man wollte, zumindest auf liberaler Seite, mit möglichst sorgfältig und genau abgefaßten und begründeten Gesetzen den Spielraum der Regierung bei deren Ausführung einengen. Zum anderen sollte die dritte Lesung den Kompromiß mit der Regierung erleichtern. Konfrontiert mit der Auffassung des Hauses, die es sich in der zweiten Lesung erarbeitet hatte, sollte die Regierung (bzw. der von ihr beherrschte Bundesrat) nicht auf die Alternativen Billigung oder Ablehnung des Entwurfs beschränkt bleiben. Da die Reichstagsvorlage noch nicht endgültig war, konnte in der dritten Lesung, gegebenenfalls nach erneuter Ausschußberatung, noch eine gemeinsame Lösung gefunden werden 115 . Außerdem wurde die starre Rednerliste abgeschafft. Der Präsident bestimmte nunmehr die Reihenfolge der Redner 116 . Die Neuregelung verlagerte den Schwerpunkt der Beratungen in das Plenum zurück. Die Kommissionen wurden durch die Reform zu bloßen Hilfsmitteln zurückgestuft, deren sich das Haus nach Belieben bedienen konnte.
b) Organisation und Besetzung der Gremien A n den direkt die Kommissionen betreffenden Vorschriften wurde nur wenig verändert. Der Verzicht auf ständige Kommissionen 117 unterstrich ihren mit der Reform beabsichtigten Bedeutungsverlust. Die Geschäftsordnung zählte sechs denkbare Fachkommissionen auf, die allerdings nicht zwingend eingesetzt werden mußten 118 . Erst 1876 kam der obligatorische Wahlprüfüngsausschuß neu hinzu 119 .
114
S. § 21 II GORT. S. Pollmann S. 358 f. 116 S. §§ 42,44 und 47 GORT. 117 Falsch insoweit Dechamps, S. 58. 118 Geschäftsordnung, Petitionen, Handel- und Gewerbe, Finanzen und Zölle, Justiz, Haushalt, s. § 26 (ursprünglich § 24) GORT. 119 S. § 5 GORT. 115
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
Die Kommissionssitzungen waren für alle Parlamentsmitglieder offen, wenn nicht der Reichstag strikte NichtÖffentlichkeit beschloß 120 . Beibehalten wurde die Regel, wonach die Regierung über alle Sitzungen zu informieren war und ihren Abgesandten die Teilnahme mit beratender Stimme offenstand 121 . Neu war, daß auch der Abgeordnete, dessen Antrag gerade in der Kommission behandelt wurde, mit beratender Stimme teilnehmen konnte 122 . Mit der Parlamentsöffentlichkeit war die Geheimniskrämerei in den Kommissionen durchbrochen. Der Einfluß der Regierungsvertreter war insoweit kontrollierbar geworden. Das Mitspracherecht des Antragstellers und die Möglichkeit, die Ausschußberatungen mitzuverfolgen, öffnete die Kommissionen für parlamentarische Minderheiten, auch ohne daß das Besetzungsverfahren formell geändert wurde. Nach dem Wortlaut galt das Mitberatungsrecht ausdrücklich auch für einzelne Antragsteller. Nur waren mindestens 15 Abgeordnete nötig, um einen Initiativantrag überhaupt einzubringen 123 . Eine derart große Gruppe hatte, sofern sie sich als Fraktion konstituierte, nach der Übung des Reichstags i.d.R. ohnehin einen Kommissionssitz inne. Dies mag erklären, weshalb diese für Minderheiten eigentlich recht bedeutende Bestimmung in der Praxis offenbar ein Schattendasein führte 124 . Für den einzelnen Abgeordneten brachte die Regelung nichts. Man beließ es im übrigen bei der Wahl der Ausschußmitglieder in sieben zu Beginn jeder Session ausgelosten Abteilungen 125 . Die einzige Änderung bestand in der Ausdehnung der Wählbarkeit auf sämtliche Mitglieder des Hauses126. Da die Geschäftsordnung die Kommissionsgröße nicht festlegte, wurde sie von Fall zu Fall vom Parlament bestimmt 127 . Die Abteilungen hatten außer der Wahl der Kommissionsmitglieder nur noch die Aufgabe der Wahlprüfüng, nicht mehr die der Vorberatung. Die Wahlprüfung wurde später im wesentlichen auf den Wahlprüfungsausschuß übertragen. Die Regeln über die Wahl der Präsidiumsmitglieder blieben unverändert. Die Aufgaben des Präsidenten erführen nur in Randbereichen Änderungen, wie bei der bereits erwähnten Bestimmung über die Reihenfolge der Redner.
120
S. § 27 V GORT, Hatschek, S. 233. Man sprach deshalb von der "Vertraulichkeit'' der Kommissionssitzungen, s. ausführlich Neumann-Hofer, Die Wirksamkeit der Kommissionen in den Parlamenten, S. 51 ff. 121 S. § 29 GORT. 122 S. § 27 IV GORT. Bei mehreren Antragstellern hatte der Erstunteizeichner Mitberatungsrecht. 123 S. § 221 GORT, Pereis S. 45. 124 Pereis, S. 25, übersieht, daß ein einzelner Abgeordneter von dem Mitberatungsrecht keinen Gebrauch machen konnte. Jungheim und Hatschek erwähnen es erst gar nicht. 125 S. §§ 2, 26 III GORT. 126 S.§ 26 III 2 GORT. 127 Vgl. Jungheim, § 26 GORT Anm. 4.
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3. Das Geschäftsverfahren
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in der Praxis
a) Fraktionen Die Fraktionsbildung im neugebildeten Reichstag erreichte nach kurzer Zeit den Stand des preußischen Abgeordnetenhauses 128. Erstmals in der deutschen Parlamentsgeschichte waren alle Fraktionen mit Parteiorganisationen außerhalb des Parlaments mehr oder weniger fest verbunden, was ihren Zusammenhalt zusätzlich förderte 129 . Gelegentlich war eine Partei allerdings von mehreren Fraktionen repräsentiert 130, von der jede für sich in Anspruch nahm, die richtige Parteilinie zu vertreten.
b) Der Seniorenkonvent M i t dem Seniorenkonvent schufen sich die Fraktionen eine Institution außerhalb der Geschäftsordnung, in der sie sich gemeinsam über die Gremienbesetzung und den Verhandlungsablauf im Hause verständigten.
aa) Entstehung des Seniorenkonvents Entgegen der allgemein vertretenen Ansicht 131 kam der erste Anstoß zur Entstehung des Seniorenkonvents nicht aus dem preußischen Abgeordnetenhaus, sondern aus dem ersten, im August 1867 gewählten ordentlichen Reichstag. Dort standen sich, wie in Preußen bereits nach der Wahl 1866, ein etwa gleichstarkes konservatives und liberales Lager gegenüber 132. Die negativen Erfahrungen des Abgeordnetenhauses vor Augen und über die Rolle des neuen Parlaments grundsätzlich einig, suchten beide Seiten den Kompromiß. Bereits vor den ersten Kommissionswahlen und noch bevor die Geschäftsordnungsreform mit der Abwertung der Kommissionen einem Streit um ihre Besetzung 128
Vgl. Pollmann S. 161 ff. Zumal längst nicht mehr alle Abgeordnete finanziell unabhängige Honoratioren, sondern wegen des bis 1906 beibehaltenen Diätenverbots auf ihre Partei angewiesen waren, vgl. Huber Bd. 3 S. 893 ff, Pollmann S. 369 f. 130 S. Hauenschild, S. 28. 131 Zuletzt Jekewitz, Recht und Politik 1/91, S. 15; s.a. ders., Die Bundestagsfraktionen, in: Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, S. 1021, Rn. 24; Franke, S. 40 m.w.N. bei Fn. 81, sowie S. 50; Hauenschild S. 33; Dechamps S. 132; Hatschek S. 175. 132 Vgl. die insoweit übereinstimmenden, in den einzelnen Zahlen differierenden Angaben bei Huber, Bd. 3, S. 649 und Pollmann, S. 372 Fn. 233. 129
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
die Spitze nehmen konnte, kam es zu einer Verständigung, die alle Fraktionen in die Kommissionsbesetzung einbezog 133 . Auf Initiative des freikonservativen Fraktionsführers Graf Bethusy-Huc einigten sich die rechte und die linke Seite darauf, daß n die Fraktionen nach ihrer numerischen Berechtigung in den Kommissionen vertreten sein werden und daß die Wahlen, frei von jeder Rivalität und Verbitterung auf die Kapazitäten der einzelnen Fraktionen gelenkt, von allen gleichmäßig, ohne dissentierende Stimmen vollzogen werden... 1*134. Die Vereinbarung teilte sämtliche Fraktionen dem linken bzw. dem rechten Spektrum zu. Jeder Seite wurde die Hälfte der Kommissionssitze eingeräumt. Bei ungerader Sitzzahl wurde der letzte Sitz abwechselnd in der einen Kommission der einen, in der nächsten der anderen Seite zugeschlagen. Für die Aufteilung der Mandate auf die einzelnen Fraktionen waren jeweils die nationalliberale und die freikonservative Fraktion verantwortlich. Sie erfolgte nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen. Die Vereinbarung wurde allseits begrüßt und bewährte sich auch in der praktischen Durchführung. Sie wurde deshalb in den folgenden Sessionen erneuert 135. Das preußische Abgeordnetenhaus hatte bis dahin keine Lösung für das Problems der Ausschußbesetzung gefunden. Noch zu Beginn der Session 1866/76 beschwerten sich die Konservativen über ihre Benachteiligung und verlangten nun ihrerseits die Ernennung der Mitglieder durch den Präsidenten 1 3 6 . Erst als im November 1867 mit Beginn der neuen Sitzungsperiode die Kommissionen neu gebildet wurden, konnte man auf das Beispiel des Reichstags zurückgreifen und sich vor der Wahl auf eine anteilsgerechte Berücksichtigung aller Fraktionen einigen 137 . I m Reichstag machte die Umsetzung der Vereinbarung weitere Absprachen und Verhandlungen zwischen den einzelnen Fraktionen erforderlich. Einmal mußte innerhalb der Blöcke die Sitzverteilung geklärt werden. Hierbei gab es nur mit der kleinen Fraktion der Bundesstaatlich-Konstitutionellen Probleme. Sie war dem linken Lager zugeschlagen worden, in das es genausowenig hin-
133 Absprachen zwischen einzelnen Fraktionen hatte es bereits vorher im Abgeordnetenhaus gegeben, s. Franke S. 41 f., Hauenschild, S. 33. Sie dienten aber, wie in der Paulskirche, nicht dem Minderheitenschutz, sondern gerade der Ausschaltung der anderen Seite. 134 National-Zeitung vom 20.09.1867, zit. nach Pollmann, S. 363 Fn. 163. Vgl. auch die bei Hatschek, S. 176 wiedergegebene Äußerung des Abg. Aegidi, der bei der Frage der Kommissionsgröße auf diese Absprache Bezug nimmt; dazu auch Hauenschild, S. 31 Fn. 64, Franke, S. 47. 135 Zu der Vereinbarung Pollmann, S. 363. 136 S. Pollmann S. 192 mit Fn. 222. 137 S. National-Zeitung vom 26.11.1867, zit. nach Pollmann S. 363 mit Fn. 169; vgl. bereits Plate, § 26 GO Anm. 2.
C. Konstitutionalismus
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einpaßte wie ins rechte, und wurde wohl deshalb ab der zweiten Session nicht mehr angemessen berücksichtigt 138 . Über die Ergebnisse der internen Verteilung mußten sich die beiden Lager wiederum austauschen. Es mußte festgelegt werden, welche Abteilung welche Kommissionsmitglieder wählte, und die Abgeordneten mußten dementsprechend instruiert werden. Die Kommissionsbesetzung wurde in einem Hin und Her zwischen Fraktionen, Fraktionsvorständen und interfraktionellen Treffen im einzelnen ausgehandelt139. Die Prinzipien des Fraktionsproporzes und der einvernehmlichen Absprache unter allen Fraktionen wurde rasch auf andere Geschäftsordnungsfragen ausgedehnt. Bereits bei der erwähnten Abschaffung der Rednerliste erwartete man, daß sich der Präsident bei der Bestimmung der Redner mit den Fraktionen absprechen und alle angemessen berücksichtigen werde 140 . Die beiden Prinzipien gehörten sehr bald zum Bestand der "guten parlamentarischen Sitten". Verstöße dagegen wurden als unparlamentarisch aufgefaßt 141. Man kann daraus ersehen, wie sehr diese Prinzipien den Bedürfnissen einer demokratisch gewählten, konstruktiv arbeitenden Volksvertretung entsprochen haben. U m den zunehmenden Koordinierungsaufwand bewältigen zu können, wurde die Versammlung von Vertretern aller Fraktionen zur ständigen Einrichtung. Man bezeichnete sie als "Delegiertenversammlung" oder "-konferenz" 142 , sie selbst nannte sich zuweilen "Vertrauenskommission" 143. Erst später setzte sich der zuerst im preußischen Abgeordnetenhaus geprägte 144 Name "Seniorenkonvent" durch. Zu einer rechtlichen Regelung des Seniorenkonvents kam es bis zum Ende des Reichstags nicht, weil man sich zu der damit zwangsläufig verbundenen förmlichen Anerkennung der Fraktionen nicht durchringen konnte 145 . Daraus spricht die Unsicherheit gegenüber der Entwicklung zur parlamentarischen Demokratie, in deren Verlauf die Bedeutung der Parteien und Fraktionen immer größer werden mußte. Daß der Seniorenkonvent dennoch einen offiziel138
S. Pollmann S. 363. Vgl. Pollmann S. 362. 140 S. Pollmann S. 365. 141 So protestierte der Sprecher der Konservativen 1870 dagegen, daß seine Fraktion bei einer Absprache nicht beteiligt worden sei; vgl. Franke S. 49. 142 S. FrankeS. 50. 143 S. Pereis, S. 31. 144 S. Pollmann S. 365 Fn. 185. 145 S. Franke S. 42. Jungheim erwähnt in seiner Kommentierung der GORT aus dem Jahr 1916 den Seniorenkonvent und die Fraktionen mit keinem Wort. 139
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len Charakter annahm, kommt unter anderem darin zum Ausdruck, daß seine Akten seit 1874 beim Reichstag gefuhrt wurden wie die jedes anderen parlamentarischen Gremiums 146 . Mitunter wurde er für einzelne besonders heikle Aufgaben als Kommission förmlich vom Reichstag eingesetzt 147 .
bb) Aufgaben des Seniorenkonvents Hatschek nennt als erste und wichtigste Funktion die nFeststellung des Repartitionsmaßstabs für die Beteiligung der Parteien an den Kommissionsmandaten 11148 , d.h. die Verteilung der Sitze im Verhältnis zur Stärke der Fraktionen. Auch über die Mitgliederzahl 149 und die Vorsitzenden der Kommissionen stimmte man sich i m Seniorenkonvent ab. Dasselbe galt für die Wahl der Schriftführer und die Verteilung der Sitze in den "kommissionsähnlichen11 Gremien wie der Bibliothekskommission oder Ausschüssen aus Vertretern des Reichstags und des Bundesrats 150, deren Mitglieder formal teils in den Abteilungen oder vom ganzen Haus gewählt, teils vom Präsidenten ernannt wurden 1 5 1 . Die Redeordnung wurde ebenfalls, wie schon erwähnt, unter Einbeziehung des Seniorenkonvents nach dem Fraktionsproporz gestaltet 152 . Überhaupt dehnte der Seniorenkonvent seinen Tätigkeitsbereich auf potentiell alle Bereiche des parlamentarischen Verfahrens aus. Insbesondere Fragen des Verfahrensablaufs, wie die Reihenfolge der Behandlung der Anträge, die Dauer der Beratungen etc. wurden dort festgelegt 153. Er wurde zum Gremium, in dem alle wichtigen bzw. strittigen Verfahrensfragen geklärt wurden.
cc) Die Besetzung des Seniorenkonvents Da der Seniorenkonvent eine Institution zur einvernehmlichen Absprache zwischen allen Fraktionen war, genügte es, daß jede Fraktion einen einzigen Vertreter entsandte. I m Laufe der Zeit wirkte das Prinzip des Fraktionsproporzes, zu dessen Verwirklichung der Seniorenkonvent eingerichtet worden war, 146 S. Hatschek S. 176; im preußischen Abgeordnetenhaus wurden offizielle Akten seit 1871 geführt, S. Plate S. 229. 147 S. Hatschek S. 193. 148 Hatschek S. 185. Zum preußischen Abgeordnetenhaus vgl. Plate S. 230 f. 149 S. Hatschek S. 188. 150 Vgl. Hatschek S. 246 und 248; Perels S. 29. 151 S. Hatschek S. 248; Perels S. 30. 152 S. Hatschek S. 189 f. 153 S. Hatschek S. 188 f., zu weiteren, weniger wichtigen Verwaltungsaufgaben S. 190.
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auf ihn selbst zurück. Spätestens ab 1909 waren die Fraktionen im Seniorenkonvent gemäß ihrer Stärke vertreten. Die Mitgliederzahl, die anfangs so hoch war wie die Zahl der Fraktionen, wuchs auf etwa 30 an. Sie war nicht von vornherein festgelegt, sondern ergab sich daraus, daß die kleinste Fraktion mindestens einen Vertreter entsandte, die größeren entsprechend mehr. Angesichts der Zersplitterung in immer zahlreichere Parteien und Fraktionen, der das Wahlrecht damals keine Grenze setzte, wurde es schon in den 80er Jahren Brauch, nur noch Gruppen von mindestens 15 Abgeordneten zu den Sitzungen des Seniorenkonvents einzuladen. Das entsprach dem kleinsten Quorum der Geschäftsordnung, dem für die Einbringung eines Initiativantrags 154 , und etwa 3,8 % der Gesamtzahl der Abgeordneten des Reichstags. 1903 beschloß der Seniorenkonvent, nicht mehr jede beliebige, sondern nur noch solche Gruppen als Fraktion anzuerkennen, die aus Mitgliedern derselben Partei bestanden. Anlaß war die Bildung der "Wirtschaftlichen Vereinigung", deren Mitglieder anfangs noch verschiedenen Parteien angehörten 155 . Fraktion war seitdem die Partei im Parlament. Die Parlamentspraxis vollzog den Wandel von der Repräsentation des Volkes durch den einzelnen Abgeordneten i m Wahlkreis zur Repräsentation durch die politischen Parteien nach, und zwar lange bevor mit der Einführung der Verhältniswahl im Wahlrecht die entsprechenden Konsequenzen gezogen wurden. Kompliziert war der Reichstagsbrauch hinsichtlich der Zuzählung unabhängiger Abgeordneter zu einer Fraktion. Eine Parteigruppe unter 15 Mitgliedern konnte nur mit Hilfe von eng mit ihr verbundenen "Hospitanten" die Fraktionsstärke erreichen und Anspruch auf die Vertretung im Seniorenkonvent und damit in allen anderen Gremien erheben 156. Abgeordnete, die völlig unabhängig bleiben wollten, konnten sich von Fall zu Fall einer Fraktion über 15 Mitglieder zurechnen lassen und dadurch deren Anteil an der Sitzverteilung vergrößern. Ansonsten wurden sie bei der Gremienbesetzung nicht berücksichtigt. Ähnliches galt für Fraktionsbündnisse. Fraktionen, die sich zwecks Erreichung der offiziellen Fraktionsstärke von 15 Abgeordneten verbanden, mußten sich zu einer einzigen Fraktion zusammenschließen und eine einheitliche Parteizugehörigkeit aufweisen. Erreichte wenigstens eine der beteiligten Fraktionen von vornherein die Mindeststärke, genügte für die Berücksichtigung bei der Stellenverteilung ein reines Zweckbündnis 157 .
154 155 156 157
S. HatschekS. 181. S. HatschekS. 181. S. HatschekS. 181 f. und230. Beschluß des Seniorenkonvents 1912, s. Hatschek S. 180 ff.
7 Edinger
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Der engen Verbindung zwischen der Tätigkeit des Seniorenkonvents und des Präsidiums wurde dadurch Rechnung getragen, daß ab 1884 der Vizepräsident von seiner Fraktion in den Seniorenkonvent entsandt wurde und dort den Vorsitz führte. Etwa ab der Jahrhundertwende übernahm der Präsident selbst seine Einberufung und die Leitung der Sitzungen, ohne allerdings als dessen Mitglied angesehen zu werden 158 .
dd) Die Arbeitsweise des Seniorenkonvents Der Seniorenkonvent faßte seine Beschlüsse nur einstimmig. Der Zwang zum Kompromiß garantierte, daß die Minderheit angemessen berücksichtigt wurde, ohne daß diese wiederum die Mehrheit dominieren konnte - denn die Mehrheit hätte ihre Auffassung im Parlament auch ohne den Seniorenkonvent durchsetzen können. Außerdem konnte der Seniorenkonvent als extralegales Organ die Einhaltung seiner Beschlüsse nicht erzwingen - gelegentlich wurden sie auch nicht befolgt 159 - und war auch deshalb auf die Zustimmung aller Beteiligten angewiesen. Der Seniorenkonvent war damit in jeder Hinsicht - Verfahren wie Besetzung - ein Instrument des Kompromisses. Dieser Kompromiß bezog sich allein auf innerparlamentarische Geschäftsordnungsfragen, nicht auf den Ausgleich mit der Regierung. So waren Regierungsvertreter, anders als bei den formellen Kommissionen, auch nicht zu seinen Sitzungen zugelassen160.
c) Die Kommissionen aa) Die Bedeutung der Kommissionen Entgegen der Intention der Reform von 1868 gewannen die Kommissionen i m Laufe der Zeit wieder an Bedeutung. Es war aber nicht wie in der Paulskirche die Arbeitsbelastung, die den Reichstag zur Verlagerung der Tätigkeit in die Ausschüsse anhielt 161 . Bei einer Legislaturperiode von 3, später 5 Jahren reichten dem Reichstag regelmäßig 4 bis 5 Sitzungsperioden von jeweils 1 bis 4 Monaten aus, um sein Pensum zu bewältigen 162 . Der Bedeutungszuwachs beruhte vielmehr darauf, daß die Kommissionen der geeignete Ort zur Kom158 159 160 161 162
S. Hatschek S. 177 f. Vgl. Hatschek S. 195. S. Hatschek S. 193. So zutreffend Dechamps, S. 57 und 59. S. Huber, Bd. 3, S. 882.
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promißfindung in Sachfragen zwischen den einzelnen Fraktionen einerseits 163 und zwischen dem Parlament und der Regierung andererseits waren. Das Mitberatungsrecht der Regierungsvertreter diente also, anders als im preußischen Abgeordnetenhaus, nicht nur der Beeinflussung des Hauses durch die Regierung, sondern auch umgekehrt der Beeinflussung der Regierung durch die Volksvertretung 164 . Die Vertraulichkeit und die Formlosigkeit 165 der Beratungen ermöglichte dabei eine ungezwungene, sachbezogene Auseinandersetzung, in der die gegenseitigen Kompromißmöglichkeiten ausgelotet werden konnten, ohne sich sogleich vor der Öffentlichkeit festzulegen 166. Das Parlament hatte keine Einwände gegen die Verlagerung in die Kommissionen, da sie in der Zusammensetzung einem verkleinerten Plenum gleichkamen. Darin zeigten sich die Kommissionen nun auch den Abteilungen überlegen, die ja den Minderheitsschutz nur dann verwirklichen konnten, wenn einige gerade entgegengesetzt zum Plenum zusammengesetzt waren. So wurde die Verlagerung der Wahlprüfüng von den Abteilungen auf den Wahlprüfungsausschuß damit begründet, daß der Ausschuß dem Parteiengefüge besser gerecht werde als die gerade mit der Wahlprüfüng beschäftige Abteilung 167 . Nur in den Kommissionen hatte die Minderheit überhaupt eine reale Chance, das Beratungsergebnis durch ihre Sachargumente zu beeinflussen 168. I m Plenum, unter den Augen der Öffentlichkeit, hätte eine Partei kaum zugeben können, daß die andere Seite über die besseren Argumente verfügt. Dadurch, daß alle Fraktionen in den Ausschüssen vertreten waren und ihre Argumente vortragen konnten, mußte im übrigen die Qualität der Arbeit zunehmen und damit die Überzeugungskraft des Parlaments als ganzem gegenüber der Regierung. Das Minderheitsgutachten führte der Reichstag nicht wieder ein. Offenbar genügte die Verpflichtung des Berichterstatters auf eine unvoreingenommene Darstellung der Verhandlungen und Beschlüsse der Kommission 169 in der Praxis vollauf, um im Plenum die Minderheitsauffassungen genügend zur Geltung zu bringen, wozu i m übrigen auch die Debatte selbst genügend Raum bot.
163 164 165 166 167 168 169
S. Dechamps, S. 94. Jedenfalls in der Zeit nach Bismarck, s. Neumann-Hofer, S. 65 ff.; Hatschek, S. 328 f. Ohne Bindung an eine GO, s. Hatschek, S. 234 ff. Vgl. Hatschek, S. 328 ff.; Neumann-Hofer, S. 64 f., und S. 68. Vgl. Hatschek, S. 523, für Preußen Plate, vor §§ 3-6 GO Anm. 2. S. Neumann-Hofer, S. 63. S. Pereis, S. 29.
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Gerade in der Anfangszeit nahmen die Spitzenvertreter der Fraktionen die Mandate in allen wichtigen Kommissionen wahr 170 , um die entscheidenden Verhandlungen selbst zu führen und deren Ergebnisse in ihren Fraktionen durchzusetzen. Es nimmt nicht wunder, daß sich die Kommissionen erfolgreich gegen eine zu enge Bindung an Weisungen des Hauses zur Wehr setzten. Das hätte den Spitzenpolitikern ihren Verhandlungsspielraum genommen und die Fähigkeit zum Kompromiß mit der Regierung beeinträchtigt. Hatschek spricht deshalb vom "Prinzip der Selbständigkeit der Kommissionen gegenüber dem Plenum": Ebensowenig wie der Abgeordnete von seinen Wählern dürften prinzipiell die Kommissionen vom Reichstag durch Instruktionen gebunden werden, denn die Kommissionen seien nicht mehr "Mandatare", sondern selbständige "Organe" des Parlaments 171. Die Kommissionen wurden also im Laufe der Zeit wieder zu dem Ort, an dem die Sachentscheidungen nicht nur vorbereitet, sondern getroffen wurden. Das Plenum sanktionierte die Entscheidungen im wesentlichen nur noch und diente im übrigen als Tribüne zur Darstellung gegenüber der Öffentlichkeit 172 . Nicht überwinden konnten der Reichstag und seine Kommissionen das Fehlen eigener Untersuchungsrechte. Sie blieben bei der Informationsbeschaffung, soweit sie sich nicht auf allgemein zugängliche Quellen stützen konnten, auf die freiwillige Unterstützung der Regierung angewiesen. In den ersten Jahren wurde gelegentlich von Reichstagsmitgliedern noch ein eigenes Enqueterecht des Parlaments gefordert. Später fand sich der Reichstag mit den von der Regierung nach preußischem Muster 173 aus Beamten und Abgeordneten zusammengesetzten Untersuchungskommissionen ab, teilweise begnügte man sich sogar mit einem gutachterlichen Regierungsbericht. Allein die Abteilungen und nach ihrer Auflösung die Wahlprüfungskommission stellten gelegentlich eigene Nachforschungen an, wenn der Verdacht regierungsamtlicher Wahlbeeinflussung laut wurde 174 . Ab 1905 ließ es die Regierung zu, daß das Parlament seine Mitglieder in den gemischten Untersuchungskommissionen selbst bestimmte. Da das ganze Verfahren ohne rechtliche Absicherung blieb, konnte die Reichsregierung Abgeordnete zurückweisen, die ihr nicht genehm waren. So weigerte sie sich 1913 ,in die Untersuchungskommission zur söge na nuten Kornwalzer-Affäre
170 171 172 173 174
S. Pollmann, S. 363, am Beispiel der Session 1868. Hatschek, S. 229 und 240 ff. S. Dechamps, S. 106. S. Hatschek, Dt. und preuß. StaatsR., S. 689 ff., vgl. oben S. 80 Fn. 12. Vgl. Neumann-Hofer, S. 72 f., Hatschek, Dt. und preuß. StaatsR., S. 695.
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den v o n den Sozialdemokraten benannten Abgeordneten Dr. K a r l Liebknecht aufzunehmen, der den Skandal p u b l i k gemacht hatte 1 7 5 .
bb) Die Besetzung der Kommissionen D i e Kommissionssitze wurden v o n Beginn an nach interfraktioneller Übereinkunft i m Seniorenkonvent gemäß der Stärke auf die einzelnen Fraktionen verteilt. D i e Wahlen i n den Abteilungen vollzogen diese Absprache nur noch, sie waren "bloße F o r m " 1 7 6 . U m den neuen Besetzungsmodus zu erleichtern, hob der Reichstag i m Zuge der Geschäftsordnungsreform 1868 die Beschränkung der Wählbarkeit auf die Mitglieder der j e w e i l i g e n A b t e i l u n g auf. Die Geschäftsordnungskommission hatte zuvor noch einmal die bis dato bekannten Systeme der Ausschußbesetzung diskutiert (u.a. W a h l i m Plenum oder durch einen besonderen Wahlausschuß, Benennung durch den Präsidenten oder den Antragsteller), sah aber keine Alternative zu dem jetzt praktizierten Verfahren 1 7 7 .
175
Liebknecht, der 1919 ermordete Militärexperte seiner Fraktion, hatte Ende 1912 zusammen mit dem preußischen Innenminister v. Heeringen aufgedeckt, daß die Rüstungsfirma Krupp das Kriegsministerium systematisch ausspähte, um bei Rüstungsaufträgen der Konkurrenz zuvorzukommen. Im Laufe der Enthüllungen kamen auch die internationalen Verwicklungen der Firma ans Tageslicht. Sie unterhielt nicht nur zu allen bedeutenden Rüstungsfirmen der potentiellen Kriegsgegner intensive Geschäftsbeziehungen, sondern exportierte auch Waffen und Waffenlizenzen in diese Staaten (die später gegen die Soldaten des Reichs gerichtet wurden und aus deren Verwendung die Gesellschaft noch nach dem Krieg bedeutende Gewinne realisierte). Ferner lancierte sie erfundene Meldungen und Gerüchte über neue ausländische Rüstungsanstrengungen, um die deutsche Regierung ihrerseits zu weiterer Aufrüstung anzutreiben. Als oberste Regierungsstellen die internen und die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen lahmzulegen drohten, ging Liebknecht im April 1913 an die Öffentlichkeit. Dennoch wurde die Angelegenheit unter tatkräftiger Mithilfe des damaligen Vorsitzenden des Krupp-Direktoriums Hugenberg (des späteren Presse"zars"), der selbst tief in die Affäre verstrickt war, mit allen Mitteln verharmlost und vertuscht. Dazu gehörte auch die Weigerung des preußischen Kriegsministers v. Heeringen, einer Untersuchungskommission Akteneinsicht zu gewähren und vertrauliche Auskünfte zu geben, in der Liebknecht Mitglied gewesen wäre. Die übrigen Fraktionen und offenbar auch die Mehrheit der Sozialdemokraten nahmen diese Bevormundung hin. Die später ohne Liebknecht tagende Kommission trug nichts zur Aufhellung des Skandals bei. Dem preußischen Kriegsminister v. Heeringen nützte sein Umschwenken übrigens nichts mehr, er wurde im Juni 1913 entlassen. Hinter diesem bei Hatschek, Dt. und preuß. StaatsR., S. 689 ff. so beiläufig erwähnten Ausschluß Liebknechts verbirgt sich eine der größten Fehlleistungen des konstitutionellen Reichstags angesichts der heraufziehenden Kriegskatastrophe. Zu den Einzelheiten der "Kornwalzer"-Affäre s. Engelmann, Die unsichtbare Tradition, Bd. 1, S. 319 ff. 176 Perels, S. 22 Fn. 110; s.a. Laband, S. 353. 177 S. Pollmann, S. 362 mit Fn. 164.
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Die Verteilung der Sitze auf die einzelnen Fraktionen bereitete in den ersten Jahren noch keine rechnerischen Schwierigkeiten. Mit der Zunahme der Fraktionen mußte der Seniorenkonvent ab etwa 1877 zur Berechnung der Sitzverteilung übergehen 178. Das Problem bestand damals wie heute darin, daß eine genaue Widerspiegelung der Fraktionsstärken in kleinen Gremien meist unmöglich ist. Dann muß eine Annäherung an die Fraktionsstärken unter Erhaltung der Mehrheitsverhältnisse versucht werden. Der Reichstag entwickelte zu diesem Zweck das "Alternat 11 und den "Ausgleich des Parteikontos" 179 . Zunächst wurde der Anteil einer Fraktion an den Kommissionssitzen mit einer einfachen Dreisatz-Rechnung ermittelt: Angenommen, der Reichstag habe 378 Abgeordnete, die Kommission 28 Sitze und die Fraktion X 50 Abgeordnete, so ergeben sich 28 χ 50 = 3,7 Sitze für die Fraktion X . 378 Um den Bruchteil hinter dem Komma abzugleichen, erhielt diese Fraktion mehrmals 4 Sitze in den Kommissionen. Dabei wurde das "Parteikonto" pro Kommission mit 0,3 Sitzen belastet, bis ihr nur noch 3 Sitze zustanden und das Parteikonto wieder ausgeglichen war. "Alternat" bedeutete, daß die Sitzverteilung nicht nur für den grade anstehenden Ausschuß berechnet wurde, sondern sich die Berechnung über alle gebildeten Ausschüsse erstreckte, um dem Fraktionsproporz möglichst nahe zu kommen. Dabei konnte es zu dem beschriebenen Unterschied des Stimmenanteils einer Fraktion in verschiedenen gleichgroßen Gremien kommen. Kleine Fraktionen erhielten in kleinen Kommissionen oft keinen Sitz. Eine Fraktion, die nur auf einen Anteil von 0,3 Sitzen kam, konnte ihre Anteile aber solange kumulieren, bis sie das Anrecht auf einen Kommissionssitz erhielt. Alternat und Parteikonto konnten sich sinnvollerweise nur auf gleichgroße Ausschüsse erstrecken, da die Anteile an verschieden großen Anteilen nicht vergleichbar waren 180 .
178 179 180
S. Hatschek, S. 185. Zur Berechnungsmethode s. Hatschek, S. 186 f.; Neumann-Hofer, S. 82 f. S. Hatschek, S. 187.
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Die Zahl der Kommissionssitze legte ebenfalls der Seniorenkonvent fest. Sie war wegen der 7 Abteilungen stets durch 7 teilbar, die höchste Zahl war 28 Sitze. I.d.R. hatten die wichtigsten Ausschüsse 28 Mitglieder, damit möglichst alle Fraktionen in ihnen vertreten waren 181 . Das galt vor allem für die 5 Kommissionen, die sich in der Praxis als ständige herausgebildet hatten: 1. 2. 3. 4. 5.
Budgetkommission, Petitionskommission, Wahlprüfungskommission, Geschäftsordnungskommission, Rechnungskommission.
In der hier aufgeführten Reihenfolge wurden die Bruchteile der einzelnen Fraktionen berücksichtigt 182 ; sie entspricht dem Ansehen der Kommissionen i m Reichstag. Ein Grundmandat für jede Fraktion in jedem Ausschuß gab es im übrigen nicht. Gegebenenfalls konnte eine Fraktion für von ihr selbst eingebrachte Anträge auf das Mitberatungsrecht des Antragstellers zurückgreifen 183 . Durch die Erstreckung der Proporzberechnung auf alle Ausschüsse wurde im Reichstag eine bis dahin nicht gekannte Genauigkeit bei der Verteilung der Sitze nach den Fraktionsstärken erreicht. Vielleicht geht dieser Gedanke auf die von Mohl entworfene Konzeption der Wahl der Ausschußmitglieder in den Abteilungen zurück. Nach ihr hätte sich, bei periodisch wiederholter Auslosung der Abteilungen, ebenfalls die Genauigkeit des Proporzes mit der Zahl der gewählten Ausschüsse erhöht 184 . Zu Recht konnte Neumann-Hofer bemerken, "der Grundsatz, daß die Kommissionen ein verkleinertes Abbild der Parteiengruppierung sei, (werde) nirgends strenger durchgeführt als i m deutschen Reichstag" 185 . Der Nachteil der Methode war allerdings, daß sie bei knappen Mehrheiten im Plenum mitunter zu einer dem Plenum nicht mehr entsprechenden Ausschußmehrheit führte. Wenn z.B. die Fraktion X mit einem Anteil von 3,7 Sitzen einmal nur 3 erhielt, die gegnerische Fraktion Y mit einem Anteil von 1,2 dafür 2, konnte sich die Mehrheit um 2 Sitze verschieben 186. 181
Vgl. Neumann-Hofer, S. 83. Lt. Beschluß des Seniorenkonvents aus dem Jahre 1912, s. Hatschek, S. 228. 183 §27IV GORT. 184 S.o. S. 37. 185 S. 81. 186 So lag es in dem von Neumann-Hofer, S. 82 zitierten Beispiel der Reichsfinanzkommission. 182
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Mit der beschriebenen Methode löste das Ausrechnen der Stellen das Aushandeln ab. Es war der Beginn der Verselbständigung und Objektivierung des Prinzips der anteilsgerechten Berücksichtigung aller Fraktionen, das nun nicht mehr allein vom Willen der Parteivertreter im Seniorenkonvent abhängig war 1 8 7 . Die Berechnungen hatte zunächst der Seniorenkonvent noch selbst durchgeführt. Anfang der achtziger Jahre übertrug er diese Aufgabe auf das dem Präsidenten unterstehende Reichstagsbüro und übernahm dessen Ergebnisse nur noch 188 . I m weiteren Verlauf scheint zunächst der Wahlakt in den Abteilungen aufgegeben worden zu sein. Die Vorsteher der Abteilungen delegierten nur noch die von den Fraktionen jeweils benannten Abgeordneten 189 . Spätestens ab 1909 verzichtete der Reichstag völlig auf die Wahrung der geschäftsordnungsmäßigen Form. Ohne die Beteiligung der Abteilungen benannten die Fraktionen direkt die ihnen nach den Berechnungen des Büros zustehenden Kommissionsmitglieder 190 . Auch der Seniorenkonvent war an der Aufteilung der Stellen nicht mehr beteiligt. Schon zuvor war eine Absprache im Seniorenkonvent über die konkreten Ausschußmitglieder nicht üblich. Die Fraktionen konnten die ihnen zustehenden Kommissionsmandate mit Abgeordneten ihrer Wahl besetzen191. Sie konnten auch Fraktionslose benennen oder Mandate an andere Fraktionen abtreten 192 . Nach einem Beschluß des Seniorenkonvents aus dem Jahr 1909 war es den Fraktionen offenbar auch gestattet, ihre Kommissionsmitglieder nach Belieben auszuwechseln. Es genügte die Anzeige des Mitgliederwechsels beim Reichstagsbüro 193. 187 188 189 190 191 192
Vgl. Dechamps, S. 133. S. Franke, S. 57. S. Neumann-Hofer, S. 82 f. S. Hatschek, S. 229. S. Hatschek, S. 188. Vgl. bereits zum Reichstag des Norddeutschen Bundes Pollmann, S. 363 f.; s.a. Hatschek, S.
187.
193
"Der Mitgliederwechsel in den Kommissionen ist dem Bureau durch bestimmte Mitglieder der Fraktionen (= Senioren) bis zum Schlüsse der letzten Plenarsitzung vor der Kommissionssitzung mitzuteilen, der Präsident verfügt die Umschreibung und macht in der nächsten Plenarsitzung davon Mitteilung." Zitiert nach Hatschek, S. 230. Aus der Quelle geht nicht hervor, ob ein Wechsel auch gegen den Willen des Ausschußmitglieds möglich sein sollte. Offenbar kam es zu keinem derartigen Konflikt.
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I m merkwürdigen Gegensatz dazu bestand daneben die Auffassung, die Niederlegung des Kommissionsmandats bedürfe der Zustimmung des Reichstags, da das Mitglied auch von diesem gewählt worden sei 1 9 4 . Das einmalige Rücktrittsrecht, daß die Geschäftsordnung den Schriftführern und den Mitgliedern der Petitionskommission ausdrücklich einräumte 195 , faßte man als Ausnahme auf und folgerte im Umkehrschluß, daß es ansonsten kein Recht zum Rücktritt gebe 196 . Diese Ansicht geht auf eine Äußerung der Geschäftsordnungs-Kommission aus dem Jahr 1875 zurück, als die Praxis der Kommissionsbesetzung durch die Fraktionen noch in den Anfängen steckte. Hatscheks 1915 vorgebrachte Begründung, das Verbot des eigenmächtigen Rücktritts solle die Lahmlegung einer Kommission durch eine geschlossen zurücktretende Mehrheit verhindern 197 , überzeugt nicht. Der Widerspruch zur gängigen Praxis bleibt, und der Mehrheit hätten elegantere Mittel zur Verfügung gestanden, um eine unliebsame Kommission zu neutralisieren. Mit dem Wegfall der Wahlen in den Abteilungen war der fraktionslose Abgeordnete seines geschäftsordnungsmäßigen Einflusses auf die Gremienbesetzung beraubt 198 . Dieser Einfluß war aber so oder so nach dem Aufkommen der Fraktionen nicht mehr besonders groß, wenn man von Pattsituationen absieht. Der Entzug der Wahlmöglichkeit wurde im übrigen ersetzt durch Möglichkeit, sich - unter Wahrung der Unabhängigkeit - einer Fraktion zuzählen zu lassen und damit deren Sitzanteil zu erhöhen. Faktisch dürfte das den "Wilden" mehr realen Einfluß verschafft haben als die Mitwirkung an einer Wahl, deren Ergebnis von vornherein feststand. Daß der unorganisierte Politiker an Einfluß verlor, war mit der Entwicklung zur parlamentarischen Demokratie und dem damit einhergehenden Aufkommen der politischen Organisationen Fraktion und Partei unvermeidbar verbunden. Schon bei den Wahlen zum Parlament gelang es immer weniger unabhängigen Politikern, überhaupt in den Reichstag zu kommen. Dagegen wurden einzelne Abgeordnete in den ersten Jahren, als das Fraktions- und Parteiengefüge sich noch nicht endgültig gefestigt hatte, dann ernst genommen, wenn sie ihr Reichstagsmandat als Vertreter einer Partei erhalten hatten. So 194
So Hatschek, S. 230 f.; Jungheim, § 26 GORT Anm. 5. S. §§11 II, 28 II GORT. 196 S. Pereis, S. 23. 197 S. 231. Zur Beschlußfahigkeit war die Anwesenheit der Hälfte der Kommissionsmitglieder notwendig, § 271 GORT. 198 Vg], Arndt, S. 38. Entgegen seiner Auffassung war jedoch nicht die Arbeitsbelastung, sondern die politische Funktion der Ausschüsse als Mittler zwischen den Fraktionen und zwischen Parlament und Regierung Ursache der mit der Verlagerung der Entscheidungen in die Gremien verbundenen Entmachtung des einzelnen Abgeordneten. Treffend insofern Dechamps, S. 59 und 111. 195
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erhielt August Bebel im Reichstag des Norddeutschen Bundes als einziger Abgeordneter der Sozialdemokratie nach heftigen außerparlamentarischen Protesten seiner Partei einen Sitz in der Gewerbekommission 199. Die Richtung der Entwicklung hin zum Machtzuwachs für Fraktionen und Parteien war also unvermeidlich. Die konkrete Form, in der sie sich i m Reichstag auf die Gremienbesetzung auswirkte, brachte aber nicht nur die faktische Beseitigung der Rechte des fraktionslosen, sondern auch des fraktionsangehörigen Abgeordneten im Parlament mit sich. Dieser konnte nur noch als in seiner Eigenschaft als Fraktionsmitglied an der Ausschußbesetzung mitwirken. Innerparlamentarische Entscheidungen wurden so von der öffentlichen Bühne des Parlaments weg in private Vereinigungen verlegt. I m Parlament konnte mit den Mitteln des Rechts eine demokratische Form der Entscheidungsfindung gewährleistet werden. Die Fraktionen wurden vom Parlamentsrecht aber (noch) ignoriert. Ihre Macht wurde verstärkt, wenn sie allein über die Besetzung der Kommissionen entschieden, in denen die entscheidenen Verhandlungen stattfanden 200. Langfristig mußte sich daraus das Problem der rechtlichen Absicherung der innerfraktionellen bzw. innerparteilichen Demokratie ergeben.
cc) Die Bestellung der Kommissionsvorsitzenden Die Verteilung der Stellen der Vorsitzen und Stellvertreter der Kommissionen wurde im Seniorenkonvent vereinbart. Auch hier wurde die Vereinbarung i m Laufe der Zeit durch einen objektiven Maßstab ersetzt. Die fünf stärksten Fraktionen stellten nach ihrer Stärke die Vorsitzenden entsprechend der oben geschilderten Reihenfolge der fünf ständigen Kommissionen. In jeder zweiten ad-hoc-Kommission durften die kleineren Fraktionen nach ihrer Stärke den Vorsitzenden stellen 201 . Die Stellvertreter gehörten grundsätzlich einer anderen, politisch entgegengesetzten Fraktion an. Ab 1912 wurde das Verfahren vereinfacht. Jede der Fraktionen konnte sich nacheinander in der Reihenfolge ihrer Stärke jeweils eine Kommission aussuchen, in der sie den Vorsitzenden stellte 202 .
199
S. Pollmann, S. 364. Zur gegenseitigen Abhängigkeit der Bedeutung der Kommissionen und der Macht der Fraktionen s. Dechamps, S. 109 ff. 201 S. Neumann-Hofer, S. 84 f. 202 S. Hatschek S. 191. Für das ältere Verfahren beruft er sich allerdings auf S. 228 auf denselben Beschluß des Seniorenkonvents (vom 22.02.1912), auf den er sich auch bei der Schilderung des neueren Verfahrens stützt. Letzteres muß aber nach Neumann-Hofers Darstellung aus dem Jahr 1911 bereits vorher Praxis gewesen sein. 200
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Ursprünglich hatte sich der Seniorenkonvent auch mit der Verteilung der Abteilungsvorsitzenden befaßt. Nachdem die Abteilungen jede Bedeutung verloren hatten, kam man davon wieder ab 2 0 3 .
d) Präsidium aa) Bedeutung Die Aufgaben des Präsidenten bei der Leitung des Hauses überschnitten sich an vielen Punkten mit denen des Seniorenkonvents. Insbesondere wurde der Arbeitsplan und die Redeordnung im Seniorenkonvent ausgehandelt. Dies bedeutete jedoch keine Entmachtung des Präsidenten. Er dürfte als unparteiischer (d.h. nicht von einer Fraktion entsandter) Vorsitzender des Seniorenkonvents gerade in Streitfragen über erheblichen Einfluß verfügt haben, zumal er nach der Geschäftsordnung nicht gehalten war, die Beschlüsse des Seniorenkonvents zu befolgen. In der Phase der Obstruktion seitens der Reichstagslinken anläßlich der n Lex Heinze" 204 war der Präsident ohne weiteres in der Lage, die Leitung der Geschäfte wieder zu übernehmen, solange im Seniorenkonvent keine Einstimmigkeit zu erzielen war 2 0 5 . Der Präsident hatte im konstitutionellen Reichstag nicht nur parlamentsinterne Aufgaben. Er war auch eine Art Vermittlungsinstanz zwischen Parlament und Regierung 206,etwa hinsichtlich der Behandlung der Gesetzgebungsvorhaben der Regierung in der Volksvertretung. Diese Funktion wirkte sich auch auf die Auswahl der Präsidenten aus.
bb) Besetzung Der Präsident und die Vizepräsidenten wurden als einzige weder nach Proporz noch überhaupt nach einer Übereinkunft aller Fraktionen gewählt. Es war vielmehr üblich, daß sich die sogenannten Majoritätsparteien über die einzelnen Ämter verständigten. Unter der Majorität verstand man die Fraktionen, welche "sich ausdrücklich oder stillschweigend zu gemeinsamer Flottmachung der Parlamentsgeschäfte zusammentun"207. Da es keiner festen Regie-
203
S. Hatschek, S. 191. Vgl. dazu Huber Bd. 4 S. 282 ff. ™ Vgl. Hatschek, S. 179. 206 S. Partsch, AöR 86 (1961), S. 14. 207 Hatschek, S. 203. 204
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rungsmehrheit bedurfte, konnte das jede Mehrheitskoalition mit einem gemeinsamen Programm sein 208 . Ein Präsident, der einer der Oppositionsfraktionen angehört hätte, hätte die für ein konstruktives Verhältnis zwischen Regierung und Reichstag notwendige Vermittlerrolle kaum sinnvoll ausfüllen können. Es war aus diesem Grund auch nicht üblich, den Präsidenten aus der stärksten Fraktion auszuwählen, obwohl die beiden großen oppositionellen Fraktionen (SPD und Zentrum) diese Form der "proportionalen" Besetzung des Präsidentenamts forderten 209 . Die Neutralität des Parlamentspräsidenten wurde dadurch unterstrichen, daß er nach seiner Wahl offiziell aus seiner Fraktion auszuscheiden pflegte 210 , so daß er beispielsweise bei der Berechnung der Fraktionsstärke nicht mitgerechnet wurde 211 . Die Wahl der 8 Schriftführer erfolgte nach vorheriger Absprache im Seniorenkonvent unter Berücksichtigung des Stärke Verhältnisses der Fraktionen 212 .
Ι Π . Abschließende Bewertung Betrachtet man die Entwicklung des Verfahrens in den beiden Parlamenten des Konstitutionalismus im Vergleich mit dem Verfahren in der Nationalversammlung der Paulskirche, werden zwei wesentliche Faktoren für die Gestaltung der Gremienbesetzung deutlich. Das ist zum einen das Aufkommen von Fraktionen und Parteien, das mit der Einbeziehung immer größerer Teile der Bevölkerung in den politischen Prozeß zusammenhing. Im Parlament 213 stand nicht mehr der einzelne Abgeordnete und seine Auffassung im Mittelpunkt, sondern die politische Organisation "Fraktion", in der sich die Abgeordneten zur besseren Durchsetzung ihrer gemeinsamen Grundauffassungen zusammenschlossen. Minderheitenschutz konnte und mußte sich seither auf Fraktionen beziehen, nicht mehr in erster Linie auf den einzelnen Abgeordneten oder auf zufällige und wechselnde Mehrheiten und Minderheiten.
208 vgl. die Beispiele bei Hatschek, S. 202 f. 209 i n der Mehrheit der Fälle gehörte der Präsident nicht der stärksten Fraktion an, s. im einzelnen Partsch, a.a.O. S. 14 f.; vgl. auch Hatschek, S. 203. 210 S. Bernhard, Wandlungen des Parlamentsrechts, S. 8. 211 S. Hatschek, S. 184. 212 S. Hatschek, S. 219. 213 Zum "Funktionswandel der Wahlen zum Parlament beim Aufkommen der Parteien" s. Hans Meyer, Wahlsystem u. Verf.Ordnung, S. 90 ff.
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Zum zweiten ergab sich die Notwendigkeit, alle diese Fraktionen, die ja bestimmte politische Vorstellungen jeweils größerer bzw. einflußreicher Bevölkerungskreise repräsentierten, in die parlamentarische Arbeit einzubeziehen, da diese nur so das Parlament als staatliches Forum der politischen Auseinandersetzung akzeptieren konnten. Was das für den Minderheitenschutz im Parlament bedeutet, drückte Neumann-Hofer bereits 1911 treffend mit den folgenden Worten aus: "Der Schutz der Minderheit ist eine ethische Forderung des parlamentarischen Wesens. Die brutale Ausübung des Mehrheitswillens heißt an Stelle der alten Despotien eine neue setzen. Die reine Idee einer Volksvertretung wird nicht dadurch erfüllt, daß nur ein Teil des Volkes zur Geltung gelangt und der andere Teil unterdrückt wird, sondern dadurch, daß ein jeder Teil des Volkes im Staatswesen im Verhältnis seiner Stärke zu Einfluß gelangt. Daß diese Idee nicht voll zum Ausdruck kommen kann, liegt daran, daß man für die Entscheidungen kein besseres Kriterium als das der Majorität gefunden hat und finden wird. So hat man denn wenigstens überall den sittlichen Zwang empfunden, die Minderheit durch Mittel zweiter Gattung zu stützen" 214 . Das wichtigste dieser Mittel ist die uneingeschränkte Freiheit der Meinungsäußerung im Parlament und seinen Gremien, die durch die Berücksichtigung des Fraktionsproporzes im Geschäftsverfahren gewährleistet wird. Dies ist eine Voraussetzung für die Möglichkeit, daß die Minderheit zur Mehrheit werden kann. A m Beispiel der Sozialdemokratie wird die Integrationskraft des Reichstags besonders deutlich: Weder als sie sich noch als "Fundamentalopposition" verstand, noch als einer ihrer Abgeordneten vertrauliche Ausschußinformationen veröffentlichte 215 , noch als die Parlamentsmehrheit mit dem Sozialistengesetz ihre außerparlamentarische Organisation zerschlagen wollte, wurde die sozialdemokratische Fraktion im Reichstag ausgegrenzt oder benachteiligt. Das war eine wesentliche Bedingung dafür, daß die SPD auf die friedliche Durchsetzung ihrer Vorstellungen durch die Erringung der parlamentarischen Mehrheit vertraute. M i t der Besetzung nach Fraktionsproporz fand der Reichstag die grundsätzlich ideale Lösung für die Berücksichtigung aller Fraktionen bei Wahrung der 214
Neumann-Hofer, S. 63. Kautsky ließ vertrauliche militärische Informationen, die die Regierung der Budgetkommission unterbreitete, im Vorwärts abdrucken. Dieser Bruch der Vertraulichkeit war allerdings kein Verstoß gegen formelles Recht. Zu diesem Vorfall im einzelnen Neumann-Hofer, S. 74 f. 215
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Mehrheitsverhältnisse. Das Besetzungssystem des Reichstags ist in seiner konkreten Form (Sitzverteilung außerhalb der Regeln der Geschäftsordnung, zuletzt ohne Wahl im Parlament, allein nach dem Willen der Fraktionen) auf dem Hintergrund der hergebrachten und in der Geschäftsordnung nach wie vor vorgesehenen Wahl in den Abteilungen entstanden. Diese Form hatte den Nachteil einer schwächeren demokratischen Legitimation der Gremien, da die Abgeordneten nicht mehr allein als Mitglieder des Parlaments, sondern nur als Fraktionsmitglieder über die Gremienvertreter entscheiden konnten. Fraktionslose verloren dadurch auch pro forma den Einfluß auf die Gremienbesetzung, den sie real schon lange nicht mehr besaßen. Dabei hätte mit der Verhältniswahl mittlerweile 216 eine Methode zur Verfügung gestanden, die demokratische Legitimation durch Wahl seitens aller Abgeordneter mit der Sitzverteilung nach den Stärkeverhältnissen miteinander verbinden konnte. Andererseits ermöglichte die Methode des Reichstags eine genauere Einhaltung des Proporzes als jede sich nur auf einen Aussdiuß erstreckende Wahl, da sie die Fraktionsstärken bei der Sitzverteilung über mehrere Ausschüsse hinweg, gegebenenfalls sogar auf Kosten des Proporzes in einem einzelnen Ausschuß, berücksichtigte. Die Besetzung nach Proporz hatte noch weitere Vorteile. Der Widerspruch zwischen öffentlicher Plenardebatte und nichtöffentlicher Gremienberatung wurde entschärft. Das Parlament konnte mit allseitiger Zustimmung Funktionen von der Vollversammlung in die Ausschüsse verlagern, da diese ein verkleinertes Abbild des Plenums darstellten. Dazu kam, daß dem Reichstag eine Regierung gegenüberstand, die weder auf einen festen Rückhalt in der Volksvertretung noch im Volk selbst angewiesen war. Ihr gegenüber mußte die eigenständige Rolle und die Handlungsfähigkeit des Parlaments gestärkt werden, wenn es zumindest in den Geschäftsordnungsfragen einig war. Diese Einigkeit konnte wiederum nur aufgrund des Proporzes erreicht werden. Und das Parlament demonstrierte gegenüber der Öffentlichkeit die Fähigkeit, politische Probleme auf demokratisch-parlamentarische Weise, nämlich unter Einbeziehung aller im Parlament vertretenen politischen Kräfte, zu bewältigen.
216 Die Einführung von Proportionalwahlen bei den Wahlen zum Parlament wurde in Deutschland seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts diskutiert, s. Hans Meyer, Wahlsystem und Verfassungsordnung, S. 100 m.w.N.
D. Weimarer Reichstag
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D. Der Reichstag in der Weimarer Republik Ι . Verfassungsrechtliche und politische Rahmenbedingungen Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs kämpften die Anhänger der sozialistischen Revolution nach dem Vorbild Rußlands mit denen der parlamentarischen Demokratie um die künftige Staatsform in Deutschland. Die Wahl der verfassungsgebenden Nationalversammlung war das Resultat des Siegs der parlamentarischen Alternative. A m 11. August 1919 konnte die Nationalversammlung die neue Verfassung verabschieden. Die Verfassung verkündete in Art 1: "Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus." Der zweite Satz enthielt den "Fundamentalsatz aller Demokratie", das Prinzip der Volkssouveränität 1. Erstmals bedurfte damit jegliche Staatsgewalt einer demokratischen Legitimation 2 . Zum ersten Mal nach der Revolution 1848/49 war auch auf Reichsebene mit den in Art. 109 ff. W R V enthaltenen Grundrechten die Grundlage der freien politischen Betätigung der Bürger und ihrer Zusammenschlüsse gewährleistet. Das Parlament gewann gegenüber dem Kaiserreich bedeutende Befugnisse hinzu. Es war in der Gesetzgebung fast souverän. Der Reichsrat, die Vertretung der Länder, hatte nur noch ein Einspruchsrecht (Art. 74 WRV). Daneben konnte das Volk selbst sich per Volksentscheid Gesetze geben (Art. 73 Abs. 3 WRV). Das Verfahren war aber schwerfällig und wurde selten und in keinem einzigen Fall erfolgreich in Gang gesetzt. Das Budgetrecht war durch keine Vorbehalte mehr beschränkt. Die jährliche Etatbewilligung (Art. 85-87 WRV) ermöglichte eine umfassende Kontrolle des Finanzgebahrens des Reiches. Das Recht, selbst positiv die Regierungsmitglieder zu bestimmen, hatte der Reichstag nach wie vor nicht 3 . Er konnte allerdings jedem Regierungsmitglied das Vertrauen entziehen und es damit zum Rücktritt zwingen. Dadurch war die Regierung nach der Verfassung auf das Vertrauen der Volksvertretung an-
1
S. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 1 Anm. 2. Vgl. Thoma, Das Reich als Demokratie, in: Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. I, S. 187 ff., insb. S. 188 f. 3 Thoma sprach deshalb von einem "hinkenden" parlamentarischen Regierungssystem, Die rechtliche Ordnung des parlamentarischen Regierungssystems, in: Hdb. des Dt. StaatsR. IS. 504. 2
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gewiesen (Art. 54 WRV)*. Damit war das Parlament nach der Konzeption der Verfassung das vorherrschende Staatsorgan. Das neue Wahlrecht stärkte die Legitimation der Volksvertretung in mehrfacher Weise: Die Frauen erhielten das Wahlrecht, das Wahlalter wurde auf 20 Jahre herabgesetzt, und das Verhältniswahlrecht mit Listenwahl trug der Bedeutung der Parteien Rechnung (Art. 22 WRV). Das Parlament spiegelte auf diese Weise "die im wählenden Volk sich bildenden Parteiungen möglichst vollständig und richtig"3 wider. Nur so hatten die Wähler einen annähernd gleichen Einfluß auf die Zusammensetzung des Parlaments, nur so konnte das Verfassungspostulat der gleichen Wahl angesichts der Parteien erfüllt werden 6. Die simple Ausgestaltung der Sitzverteilung auf die Parteilisten (pro 60.000 Stimmen ein Abgeordneter) 7 hatte eine variable Anzahl von Abgeordneten zur Folge. Bei zunehmender (Wahl-)Bevölkerung stieg sie von 459 auf zuletzt 608«. Auch wenn das Verhältniswahlrecht eine Reaktion auf die Parteien war, erwähnte die Verfassung diese nur abwehrend in Art. 130 Abs. 1, wonach Beamte "Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei" zu sein hatten. Auch das einfache Recht, vor allem das Wahlrecht, vermied den Begriff der Partei. Dennoch wurde vielfach die positive Rolle der Parteien als notwendige Organisationen der Demokratie hervorgehoben und von einem "Parteienstaat" gesprochen9. Dem Reichstag stellte die Verfassung mit dem Reichspräsidenten ein neues Staatsorgan mit bedeutenden Befugnissen zur Seite. Der Reichspräsident ernannte und entließ den Reichskanzler und auf dessen Vorschlag die Minister, ohne dabei rechtlich an den Willen der Volksvertretung gebunden zu sein
4 Die Ministeranklage nach Art. 59 Verf. war aus diesem Grund überflüssig und ohne praktische Bedeutung. 5 Apelt, Geschichte der Weimarer Reichsverfassung, S. 179. 6 Vgl. zu dieser Anforderung an ein demokratisches Wahlrecht Hans Meyer, Wahlsystem und Verfassungsordnung, S. 202 ff. 7 Die Auszählung erfolgte in den Wahlkreisen oder größeren Wahlkreisverbänden. Nach den negativen Erfahrungen bei den Wahlen zur Nationalversammlung mit einer nur auf die Wahlkreise bezogenen Auszählung nach d'Hondt wurden zusätzlich die Reststimmen auf Reichslisten verteilt. Zu den Einzelheiten Pohl, Reichstagswahlrecht, in: Hdb. des Dt. StaatsR. I S. 386 ff.; Apelt, S. 50 und S. 180. « S. Huber, Bd. 6 S. 351. 9 Z.B. Thoma, in: Hdb. des Dt StaatsR. I, S. 190 m.w.N.; zurückhaltender Triepel, Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, S. 27 ff.
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(Art. 53 WRV). Der Reichspräsident wurde vom Volk direkt gewählt (Art. 41 WRV). Er konnte über vom Reichstag verabschiedete Gesetze den Volksentscheid herbeiführen (Art. 73, 74 Abs. 2 WRV). Ferner konnte er jederzeit den Reichstag auflösen (Art. 25 Abs. 1 WRV). Er besaß den Oberbefehl über das Militär und weitgehende Ausnahmebefiignisse (Art. 47 f WRV). Seine staatsrechtlichen Befugnisse ähnelten also in vielem der des konstitutionellen Monarchen. I m Unterschied zu diesem war der Reichspräsident aber vom Volk gewählt und konnte auf Initiative des Reichstags10 jederzeit abgewählt werden. Die tatsächliche Stellung des Reichstags entfernte sich allerdings im Laufe der 14 Jahre der Weimarer Republik immer weiter von der Konzeption der Verfassung. Die Gesetzgebungsbefugnisse der Volksvertretung wurden zum einen inhaltlich eingeschränkt, indem sich die nicht eben republikanisch gesinnte Justiz ohne verfassungsrechtliche Ermächtigung anmaßte, die Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen und gegebenenfalls zu verwerfen, und indem die konservative Staatsrechtslehre bestimmte Gegenstände der Souveränität des (möglicherweise einmal sozialistisch dominierten) Gesetzgebers zu entziehen versuchte 11. Zum anderen übernahm der Reichspräsident von Anfang an 1 2 und ebenfalls ohne Rückhalt in der Verfassung 13 mit dem Erlaß sogenannter Notverordnungen Gesetzgebungsaufgaben. Der Reichstag nahm das widerspruchslos hin 1 4 . Auch bei der Regierungsbildung wurde die Stellung des Parlaments immer schwächer. Nach der Verfassung und in der Praxis war die "negative Macht" des Parlaments gegenüber der Regierung groß genug, um eine parlamentari10
Der Antrag bedurfte einer 2/3-Mehrheit, Art. 43 WRV. Beispiele sind M. Wolffs "Institutsgarantie" des Eigentums, mit der er es offen "gegenüber linksradikalen Ideen" resistent machen wollte, s. Reichsverfassung und Eigentum, in: Festgabe für Wilhelm Kahl, S. 6, 15, 17 f. und 22 (der Artikel erschien 1923, als es in Sachsen und Thüringen kurzzeitig Koalitionsregierungen aus SPD und KPD gab); und Carl Schmitts "doppelte Verfassung", nach der eine ungeschriebene, bürgerliche Verfassung der geschriebenen vorging, s. insb. Verfassungslehre, S. 29 ff., 163 ff. und passim. 12 Bereits der bis 1925 amtierende Präsident Ebert hatte 163 Notverordnungen erlassen, darunter alle Maßnahmen zur Bekämpfung der Inflation 1923/24; s. Menger, Verfassungsgeschichte, S. 173, 179. 13 Art. 48 WRV kannte keine Notverordnungen. 14 Der Reichstag hätte diesen Mißbrauch auf dreierlei Art und Weise jederzeit beenden können: Er hätte die notwendigen Gesetze selbst verabschieden können. Er hätte nach Art. 48 Abs. 3 WRV alle Notstandsmaßnahmen aufheben können. Und er hätte die Notstandsbefugnisse des Reichspräsidenten durch Gesetz näher bestimmen und damit einschränken können, ja nach Art 48 Abs. 5 WRV sogar müssen. Diesem Gesetzgebungsauftrag kam er aber nie nach. 11
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sehe Regierung zu installieren. In den ersten zehn Jahren mischte sich der Reichspräsident in die Regierungsbildung auch nicht ein und ernannte stets den Kanzler und die Minister, auf die sich die Fraktionen des Reichstags geeinigt hatten. Allerdings waren diese parlamentarischen Regierungen selten stabil. Die Republik erlebte in 14 Jahren 20 verschiedene Regierungen. Davon waren 12 Minderheitskabinette 15 . Diese Schwierigkeiten beruhten mit auf der parteipolitischen Zusammensetzung des Reichstags. Dort fand sich zunächst das Parteienspektrum des Kaiserreichs wieder (Konservative, Zentrum, Rechts- und Linksliberale, SPD), das im Laufe der Zeit durch eine links- und rechtsradikale Gruppierung ergänzt wurde 16 . Die Zahl der darüber hinaus i m Parlament vertretenen Splitterparteien war geringer als im kaiserlichen Reichstag unter dem Mehrheitswahlrecht. Politischen Einfluß besaßen sie nicht 17 . Natürlich erschwerte ein in 7 Gruppierungen und noch mehr Fraktionen zerfallendes Spektrum die Bildung einer stabilen Mehrheit mit positivem politischen Programm, wie es zur Stützung einer Regierung nötig war. I m Falle einer Minderheitsregierung wurde die Regierung oft genug durch ein Mißtrauensvotum gestürzt, ohne daß die Opposition selbst zur Bildung einer alternativen Regierung in der Lage gewesen wäre. Meist war das Anlaß zur Auflösung des Reichstags. Kein Reichstag erlebte seine volle Legislaturperiode 18. Mehr als die Zahl der Fraktionen schwächte vielleicht das Abbröckeln der Anhängerschaft der parlamentarischen Demokratie nicht nur bei den Radikalen, sondern auch im bürgerlichen Lager den Reichstag und die parlamentarische Regierung. Außer großen Teilen der Konservativen, mit dem Reichspräsidenten Hindenburg an der Spitze, legten auch immer größere Teile des Zentrums (Brüning, v. Papen) und der Liberalen (Geßler) ein allenfalls taktisches Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie an den Tag. Die erforderliche Fähigkeit zum Kompromiß, zur konstruktiven Zusammenarbeit im Parlament und damit die Autorität der Volksvertretung mußten darunter leiden. Weil keine längerfristige Regierungs- und Gesetzgebungsarbeit möglich war, verlagerte sich die Entscheidungsmacht der Exekutive, einschließlich der 13
S. Huber, Bd. 6, S. 328 Fn. 18. S. Schwarz, Die Volksvertretung der ersten Republik, in: Der Reichstag, S. 89. Die Zahl der Fraktionen war höher, weil einige Richtungen in mehrere Fraktionen zerfielen, z.B. Katholiken in Zentrum und Bayrische Volkspartei, Rechtsradikale in Deutschvölkische und Nationalsozialisten, s. Huber, Bd. 6, S. 142 f. 17 Im Reichstag von 1912 waren z.B. 12 Splitterparteien unter 12 und mit insgesamt 33 Mandaten vertreten, in den republikanischen Reichstagen waren es 2-6 mit 20-30 Sitzen, s. Huber Bd. 6 S. 144 f. 18 S. Schwarz, Die Volksvertretung der Ersten Republik, S. 91. 16
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Gesetzesinitiative, die schon lange fast ausschließlich von der Regierung ausging 19 , von den politisch verantwortlichen Regierungsspitzen immer mehr auf die scheinbar unpolitische, in Wahrheit konservativ gesinnte Ministerialbürokratie 20 . Daneben war mit der Reichswehr ein mächtiger, antirepublikanischer Staat im Staate entstanden, der sich gegen jede parlamentarische Kontrolle abschottete. Weder die Person des Reichswehrministers noch der Militärhaushalt standen real zur Disposition des Reichstags. Der Reichswehrminister Geßler überstand von 1920 bis 1928 jede Regierungsneubildung und jede Neuwahl. In den geheimen Fonds des Reichswehrministeriums konnte sich kein Abgeordneter zurechtfinden 21. Schließlich stand die Reichswehr seit 1925 unter der Protektion des Reichspräsidenten und Militaristen Hindenburg. Rosenberg spricht von einer Doppelherrschaft aus parlamentarischer Regierung und Generälen, von denen letzteren im Zweifel das größere Gewicht zugekommen sei 22 . Jedenfalls war die Reichswehr maßgeblich am Niedergang der Republik und schließlich an Hitlers Ernennung zum Reichskanzler beteiligt 23 . Der Endpunkt der parlamentarischen Demokratie war bereits mit dem Beginn der sogenannten Präsidialkabinette 1930 erreicht 24 . Von da an ernannte und entließ der Reichspräsident die Regierung nach seinem völligen Gutdünken, ohne auf den Reichstag Rücksicht zu nehmen. Die Kanzler waren statt vom Reichstag vom Reichspräsidenten abhängig, die parlamentarische Legislative wurde völlig durch dessen Notverordnungen ersetzt. Versuchte der Reichstag, dagegen anzugehen (wie bei der Aufhebung der ersten Brüningschen Notverordnung), wurde er kurzerhand aufgelöst. Die Republik war bereits vor dem Beginn der nationalsozialistischen Diktatur zur einer Diktatur des Reichspräsidenten degeneriert. Das Ermächtigungsgesetz von 1933, das 19
Vgl. Der Deutsche Reichstag, S. 10 und 32; Lambach, Die Herrschaft der Fünfhundert, S. 53 ff. 20 S. O. Kirchheimer, Art. 48 und die Wandlungen des Verfassungssystems, S. 93; Menger, S. 367, Kimminich, Verfassungsgeschichte, S. 496 f. Über eine für die Machtlosigkeit der dem Parlament verantwortlichen Minister bezeichnende Episode berichtet Szmula, Bürokratie, in: Hdb. des politischen Systems, S. 73. Als der Sozialdemokrat Hilferding in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre zum ersten Mal an die Spitze des Reichsfinanzministeriums trat, hatte er radikale Reformen angekündigt. Daraufhin machten ihm seine Beamten das "Regieren" unmöglich, indem sie sämtliche Schriftstücke an seinem Schreibtisch vorbei leiteten. Nach einem Nervenzusammenbruch kapitulierte der Minister und veizichtete auf die Reformpläne. 21 Zur Stellung der Reichswehr insb. Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik, S. 102 ff. Zur Person Geßlers vgl. auch Huber, Bd. 6 S. 213 Fn. 18, Bd. 7 S. 10. 22 S. Rosenberg,, S. 103 f. 23 Z.B. durch ihren General v.Schleicher, dem letzten Kanzler vor Hitler. Vgl. zur Rolle der Reichswehrführung bei der Ernennung Hitlers zum Kanzler Huber, Bd. 7, S. 1258 ff. 24 S. Rosenberg, S. 79; Menger, S. 180; Schwarz, S. 92.
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der Regierung Gesetzgebungsgewalt übertrug und sie gleichzeitig von den Schranken der Verfassung entband23, war nur der Schlußpunkt des Niedergangs der Weimarer Republik.
I I . Die Geschäftsordnung des Reichstags 1. Geschäftsordnungsregeln
der Verfassung
Neben der allgemeinen Geschäftsordnungsautonomie (Art. 26) räumte die Weimarer Verfassung dem Parlament erstmals das Selbstversammlungsrecht ein (Art. 24 Abs. 2). Daneben enthielt die Verfassung eine Reihe weiterer Bestimmungen über das Geschäftsverfahren (Art. 23 ff). Darunter war das Recht zur Einsetzung parlamentarischer Untersuchungsausschüsse, die mit eigenen Beweiserhebungsrechten ausgestattet waren (Art. 34). In Erwartung parlamentarischer Mehrheitsregierungen erhielt auch eine Minderheit von einem Fünftel der Reichstagsabgeordeten das Recht, die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses und bestimmte Beweiserhebungen zu erzwingen. Die Untersuchungsausschüsse waren damit nicht nur ein Mittel der Kontrolle des Parlaments gegenüber der Regierung, sondern auch der Parlamentsminderheit für den Fall, "daß eine mit der Regierung zusammengehende Mehrheit es unterläßt, Erhebungen anzustellen, deren Ergebnis ihr oder der Regierung nicht genehm sein könnte" 26 . Die Beweiserhebungen des Untersuchungsausschusses waren öffentlich. Der Ausschuß konnte mit Zweidrittelmehrheit den Ausschluß der Öffentlichkeit anordnen. Als weitere Neuerung schrieb die Verfassung in Art. 35 die Bildung zweier besonderer Ausschüsse vor, des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten und des Ausschusses zur Wahrung der Rechte der Volksvertretung gegenüber der Reichsregierung für die Zeit, in der der Reichstag nicht versammelt war. Beide Ausschüsse hatten die Rechte von Untersuchungsausschüssen. Der Auswärtige Ausschuß tagte grundsätzlich nichtöffentlich. Ferner wurde die Wahlprüfung nicht mehr dem Parlament allein überlassen, sondern einem eigens gebildeten Wahlprüfüngsgericht übertragen (Art. 31), 25 RGBl. 1 1933, S. 141. Alle im Reichstag vertretenen Parteien bis auf die SPD (die Abg. der KPD wurden bereits verfolgt) stimmten dem Gesetz zu. Die Nazis waren in der Regierung zu diesem Zeitpunkt noch in der Minderheit. 26 Anschütz, Art. 34 Anm. 1. Ausführlich dazu Lewald, Enqueterecht und Aufsichtsrecht, in: AöR 44 (1923), S. 319 ff. Zuerst hatte Max Weber die Ausgestaltung der Enquete als Minderheitenrecht gefordert, s. Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland (1918), S. 347.
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das aus 6 vom Reichstag gewählten Abgeordneten und 4 Mitgliedern des Reichsgerichts zusammengesetzt war 27 . Hintergrund dieser Neuregelung war, daß die Wahlprüfüng im Wahlprüfungsausschuß des alten Reichstags zum "Kuhhander der beteiligten Fraktionen um die angefochtenen Mandate ausgeartet war 2 8 . Die parlamentarische Selbstkontrolle hatte an diesem Punkt versagt.
2. Die vom Reichstag erlassene Geschäftsordnung Die Weimarer Nationalversammlung übernahm die Geschäftsordnung des alten Reichstags samt den in der Verfassung des Kaiserreichs enthaltenen Verfahrensregeln, allerdings ohne die Bestimmungen über die Abteilungen, als provisorische Geschäftsordnung. Später beschloß sie, auch auf die Ernennung von Quästoren zu verzichten. Die Verfahrensregeln wurden zunächst vom Reichstag unverändert beibehalten29. Erst 1922 gab sich das Parlament eine völlig neu gefaßte Geschäftsordnung 30.
a) Plenardebatte Inhaltlich unverändert blieb die bewährte Aufteilung der Plenardebatte in drei Lesungen und der fakultativen Verweisung an die Ausschüsse nach der ersten Lesung (§§ 36 ff GO). Haushaltsvorlagen mußten regelmäßig im Haushaltsausschuß vorberaten werden (§ 48 GO). 1931, auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise, wurde zusätzlich eine Regelung aufgenommen, nach der Finanzvorlagen bereits vor der ersten Lesung vom Präsidenten direkt dem Haushaltsausschuß sowie dem möglicherweise zuständigen Fachausschuß überwiesen wurden (§ 48 a GO) 31 . Da es sich bei Finanzvorlagen nach der Legaldefinition des § 48 a GO um alle Entwürfe handelte, die sich auf die Einnahmen und Ausgaben des Staates auswirken konnten, dürfte darunter die überwiegende Zahl der Gesetzesvorlagen gefallen sein.
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Das Reichsgericht trat an nach Art. 166 an die Stelle des nicht bestehenden Reichsverwaltungsgerichts, vgl. Anschütz, Art. 31 Anm. 4. 28 Vgl. Apelt, Geschichte der WRV, S. 180 f.; Meißner, Staatsrecht, S. 62. 29 Vgl. Reichstagshdb. I. Wahlperiode 1920, S. 122 ff. 30 S. RGBl. II 1923, S. 101 ff. 31 S. die Neubekanntmachung der GO in RGBl. II, 1931, S. 221 ff. Zur Verfassungsmäßigkeit des ansonsten dem heutigen Art. 113 GG nahekommenden § 48 a GO s. Klinkhammer, Die Änderungen der GO, S. 1 ff.
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Die Rededauer wurde auf eine Stunde pro Redner begrenzt. Auf Vorschlag des Ältestenrats konnte sie im Einzelfall weiter verkürzt werden (§ 87 GO) 3 2 . Bei der Auswahl der Redner war der Präsident gehalten, "auf die verschiedenen Parteirichtungen und die Stärke der Fraktionen" Rücksicht zu nehmen (§ 82 GO).
b) Fraktionen Die übrigen Änderungen des Geschäftsordnung betrafen in der Hauptsache die Besetzung der Reichstagsgremien. Die Geschäftsordnung wurde in diesem Punkt im wesentlichen mit der vom kaiserlichen Reichstag übernommenen Parlamentspraxis in Übereinstimmung gebracht. Zu diesem Zweck mußte die Geschäftsordnung zuerst einmal die Fraktionen zur Kenntnis nehmen. § 7 Abs. 1 S. 1 bestimmte lapidar: "Fraktionen sind Vereinigungen von mindestens 15 Mitgliedern." Der Zusammenhang zwischen Partei und Fraktion blieb unausgesprochen. Der Geschäftsordnungsausschuß hatte sich aus Gründen des Minderheitenschutzes 33 dagegen gewandt, zur Sicherung der Arbeitsfähigkeit angesichts der steigenden Zahl der Abgeordneten die Mindestfraktionsstärke heraufzusetzen. § 9 schrieb die Gremienbesetzung nach Fraktionsproporz vor: "Im Verhältnis zu ihrer Mitgliederzahl erhalten die Fraktionen Anteil an den Stellen des Ältestenrats, des Vorstandes, der Ausschüsse, der Ausschuß-Vorsitzenden und ihrer Stellvertreter. Danach werden auch bei Wahlen im Reichstag und in den Ausschüssen ihre Vorschläge berücksichtigt." Soweit nach S. 2 die Besetzung durch Wahlen erfolgte 34 , stand danach nur der Anteil der einzelnen Fraktionen vorher fest. Hinsichtlich der konkreten Personen hatten die Fraktionen ein Vorschlagsrecht 35. § 8 bestimmte, daß sich die Reihenfolge der Fraktionen nach ihrer Stärke richtete. Bei Gleichheit entschied das vom Präsidenten zu ziehende Los. Nach § 7 wurden Abgeordnete, die sich einer Fraktion als Gäste anschlossen, bei der Berechnung der Fraktionsstärke mitgezählt. Für die Bemessung 32 Die Redezeitbeschränkung wurde von der Opposition wegen der Einschränkung ihrer Öffentlichkeitswirkung heftig bekämpft, s. St.B. RT Bd. 357 (1922), S. 8979 ff. 33 "Damit den Oppositionsgruppen Gerechtigkeit widerfahre", RT-Drs. Nr. 4411 (1922), S. 20. 34 Z.B. bei den Reichstagsmitgliedern des Wahlprüfungsgerichts, des StGH, des Verwaltungsrats der Reichspost, Perels, Geschäftsgang und Geschäftsformen, in: Hdb. des Dt StaatsR. I, S. 451. 35 Vgl. Trossmann, Reichstag und Bundestag, in: Der RT, S. 132.
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des Stellenanteils in den Parlamentsgremien konnten sich fraktionslose Abgeordnete einer Fraktion anschließen sowie verschiedene Fraktionen sich zusammenschließen.
c) Ältestenrat M i t dem Ältestenrat war der frühere Seniorenkonvent in die Geschäftsordnung aufgenommen worden. Er setzte sich nach § 10 GO zusammen aus dem Präsidenten, seinen Stellvertretern und 21 von den Fraktionen (nach § 9 GO entsprechend ihrer Stärke) benannten Mitgliedern. Merkwürdigerweise war § 10 GO mit "Wahl" des Ältestenrats überschrieben, obwohl von einer Wahl seitens des Reichstags nicht die Rede sein konnte. Die Aufgaben des Ältestenrats bestanden unverändert in der Unterstützung des Präsidenten bei der Führung der Parlamentsgeschäfte, insbesondere die Verständigung zwischen den Fraktionen über den Arbeitsplan, sowie in der Verteilung der Stellen der Ausschußvorsitzenden und ihrer Stellvertreter (§ 12 GO). Die Einberufung und Leitung der Sitzungen oblag dem Präsidenten. A u f Verlangen von drei seiner Mitglieder mußte der Ältestenrat einberufen werden ( § 1 1 GO). Daß seine Vereinbarungen unverbindlich waren, geht aus einem Reichstagsbeschluß hervor, nach dem eine Fraktion, die von den Vereinbarungen abweichen wollte, zuvor möglichst den Präsidenten und die übrigen Fraktionen zu verständigen hatte 36 .
d) Präsidium Das Präsidium, Vorstand genannt, bestand aus dem Präsidenten und einer nicht festgelegten Anzahl von Stellvertretern und Schriftführern (§ 14 GO, Art. 26 WRV). Sie wurden für die Dauer der gesamten Legislaturperiode gewählt. Präsident und Stellvertreter wurden in getrennten Wahlgängen mit verdeckten Stimmzetteln und mit absoluter Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen gewählt. Wurde die absolute Mehrheit im ersten Wahlgang von keinem Bewerber erreicht, fand eine Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen statt. Bei Stimmengleichheit entschied das Los (§ 16
36 S. Pereis, in Hdb. des Dt StaatsR., S. 452. In den Fällen des § 75 (schleunige Anträge) und § 79 GO (Abweichungen vom "Schwerinstag") waren die Vereinbarungen ausnahmsweise verbindlich.
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GO). Die Schriftführer wurden wie bisher in einem Wahlgang mit relativer Mehrheit gewählt (§ 17 GO). Falls kein Abgeordneter widersprach, konnte die Wahl des Vorstands auch per Akklamation in einem oder mehreren Wahlgängen erfolgen (§ 18 GO). Nach § 9 war bei den Vorstandswahlen der Fraktionsproporz zu wahren, die Fraktionen hatten also für die auf sie entfallenden Stellenanteile das Vorschlagsrecht. Der Brauch, daß der gewählte Präsident aus seiner Fraktion auszuscheiden habe, wurde bewußt nicht in die neue Geschäftsordnung übernommen 37. Dafür wurde der Präsident ausdrücklich angehalten, die Verhandlungen "gerecht und unparteiisch" zu leiten (§ 19 GO). Dasselbe galt, wie bereits erwähnt, bei der Handhabung der Redeordnung (§ 82 GO). Ferner wurden die Ordnungsbefugnisse des Präsidenten bedeutend erweitert (§§ 89 ff GO) 3 8 . Ansonsten erfuhren seine Aufgaben keine gravierenden Änderungen 39. Der Vorstand hatte als Kollegialorgan bestimmte Aufgaben, von denen die wichtigste der Entwurf des Haushaltsplans für den Reichstag war (§ 24 GO). Er faßte seine Beschlüsse mit einfacher Mehrheit, bei Stimmengleichheit gab das Votum des Präsidenten den Ausschlag (§ 23 GO).
e) Ausschüsse Die Geschäftsordnung sah 15 ständige Ausschüsse, wie die Kommissionen von nun an genannt wurden, vor (§ 26), darunter die beiden von der Verfassung vorgegebenen Ausschüsse für die Wahrung der Rechte der Volksvertretung und für auswärtige Angelegenheiten (Art. 35). Neben dem Ausschuß für Geschäftsordnung und den fachlich unspezifischen Ausschüssen für die Wahrung der Rechte der Volksvertretung und für Petitionen schrieb die Geschäftsordnung die Einrichtung von 12 Fachausschüssen vor. Dies entsprach in etwa der Zahl der Reichsministerien 40. Zwischen den Fachgebieten der einzelnen Ausschüsse und der Ressorts gab es allerdings einige Überschneidungen. Außerdem besaß der Ausschuß für Bildungswesen41 kein Pendant auf der Regie37 Weil es widersinnig wäre, den Präsidenten aus der stärksten Fraktion zu wählen und ihn danach zum Ausscheiden aus dieser Fraktion zu zwingen, s. RT-Drs. Nr. 4411 (1922), S. 20 und St.B. RT Bd. 357 (1922), S. 9052 f., vgl. auch Bernhard, Wandlungen des Parlamentsrechts, S. 8. 38 Zu den Motiven vgl. St.B. RT Bd. 357 (1922), S. 8966. 39 Dem Präsidenten stand nach Art. 28 WRV insbesondere die Polizeigewalt im Parlamentsgebäude und die Verfügung über die Einnahmen und Ausgaben des Reichstags zu. Diese Befugnisse hatte bereits der konstitutionelle Reichstag für seinen Präsidenten in Anspruch genommen, ihre rechtlich Fixierung aber nicht durchsetzen können; vgl. Anschütz, Art. 28 Anm. 1. 40 Deren Zahl lag zeitweise höher, doch die zusätzlichen Ministerien bestanden nur begrenzte Zeit, vgl. die Übersicht bei Huber, Bd. 6, S. 342 ff. 41 Hierfür hatte das Reich eine Rahmengesetzgebungskompetenz, Art 10 Ziff. 2 WRV.
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rungsseite. Dafür gab es keinen dem Reichswehrministerium gegenüberstehenden Ausschuß, ein aufschlußreiches Indiz für die mangelhafte parlamentarische Kontrolle der Reichswehr. Militärische Fragen wurden in anderen Ausschüssen mitbehandelt, vor allem im auswärtigen und im Haushaltsausschuß42. Über diese 15 Ausschüsse hinaus konnte der Reichstag weitere ständige oder nichtständige Ausschüsse einsetzen (§§ 26 Abs. 2,27 GO). Die Zahl der Ausschußsitze legte der Reichstag von Fall zu Fall fest. Der Vorschlag, daß die Mitgliederzahl stets ungerade sein müsse, um Pattsituationen zu vermeiden, fand keine Mehrheit 43 . Die Fraktionen bestimmten die nach dem Proporz auf sie entfallenden Mitglieder und ihre Stellvertreter. Der Präsident gab nur noch die erstmals "gewählten" Ausschußmitglieder dem Reichstag bekannt (§ 28 GO). Auch bei der Besetzung des Büchereiausschusses, der ein reines Hilfsorgan der Reichstagsverwaltung war, wurde die Geschäftsordnung mit der Praxis in Übereinstimmung gebracht. Die neun Mitglieder wurden von den Fraktionen nach den ihnen zustehenden Stellenanteilen vorgeschlagen und vom Präsidenten berufen (§ 25 GO). Die Ausschüsse "bestimmten" ihre Vorsitzenden und deren Stellvertreter nach den Vereinbarungen im Ältestenrat. Da der Ältestenrat nur die Stellen auf die Fraktionen verteilte und nicht über Personen entschied, wurden die Abgeordneten auf Vorschlag der jeweiligen Fraktion vom Ausschuß gewählt 44 . Die Ausschüsse wählten ferner einen oder mehrere Schriftführer sowie einen oder mehrere Berichterstatter (§ 30 GO). Damit waren Minderheitsgutachten wieder möglich 45 - allerdings nur, wenn die Ausschußmehrheit dem zustimmte. In den ständigen Ausschüssen schlug der Vorsitzende die Berichterstatter vor (§ 30 Abs. 1 S. 2 GO). Beibehalten wurden die Bestimmungen über das Mitberatungsrecht des Präsidenten in jedem Ausschuß (§ 19 Abs. 1 S. 3 GO) und des Antragstellers bei der Behandlung seines Antrags 46 . Darüber hinaus konnten Abgeordnete, die eine Petition überbrachten, bei deren Behandlung im Petitionsausschuß eben-
42
S. Frank, AK-GG, Bd. 2, hinter Art. 87 Rn. 39. S. RT-Drs. 4411 (1922), S. 21. 44 S. Trossmann, in: Der RT, S. 132. 45 Vgl. dazu Morstein Marx, Beiträge zum Problem des parlamentarischen Minderheitenschutzes, S. 25 Fn.. 88. 46 Dazu Morstein Marx, S. 25 Fn.. 87. 43
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falls mit beratender Stimme teilnehmen (§ 63 Abs. 2 GO). Die Ausschüsse konnten weitere Abgeordnete mit beratender Stimme hinzuziehen ( § 3 1 GO). Neu war, daß jede Fraktion einen Obmann im Ausschuß zu benennen hatte, der dem Vorsitzenden jeden Mitgliedeiwechsel anzuzeigen hatte (§ 29 GO). Daraus ist zu entnehmen, daß die Fraktionen weiterhin ihre Mitglieder jederzeit auswechseln konnten 47 . Die Fraktion der Deutschen Demokraten hatte sogar beantragt, den Obleuten das Stimmrecht ihrer nicht anwesenden Fraktionskollegen zu übertragen. Der Antrag stieß auf einhellige Ablehnung. Hervorzuheben ist dabei das Argument, daß das Abgeordnetenmandat in Person auszuüben sei, was eine Delegation des Stimmrechts ausschließe. Zu Recht wurde weiter kritisiert, daß die gewöhnlichen Abgeordneten dann zu Hause bleiben und den Fraktionsführern völlig die Parlamentspolitik überlassen könnten 48 . Die Ausschußsitzungen blieben nichtöffentlich. Allerdings hatten dem Ausschuß nicht angehörende Abgeordnete Zutritt. Deren Ausschluß konnte nur der Reichstag selbst beschließen. Die Ausschüsse erhielten die Möglichkeit, ihre Verhandlungen als "vertraulich" zu erklären. Im Gegensatz zum früheren Sprachgebrauch war damit die Weitergabe von Informationen an die Öffentlichkeit untersagt 49. Ein Antrag, die Öffentlichkeit in den Ausschüssen zuzulassen, weil dort und nicht mehr im Plenum die Entscheidungen fielen, fand keine Mehrheit 50 . Nach der Verfassung konnten der Reichstag und seine Ausschüsse die Anwesenheit eines jeden Mitglieds des Reichskabinetts verlangen (Art. 33 Abs. 1). Damit war auch die Rechenschaftspflicht der Minister gemeint 51 . Umgekehrt hatten die Vertreter der Reichsregierung, aber auch der Länder, Zutritt zu den Plenums- und Ausschußsitzungen und mußten auf Verlangen gehört werden (Art. 33 Abs. 2 und 3 WRV). Regierung und Reichsrat waren nach § 32 GO über die Ausschußsitzungen im voraus in Kenntnis zu setzen. Die Ausschüsse hatten sich nur mit den ihnen zugewiesenen Gegenständen zu befassen (§ 38 S. 5 GO). Nur dem Geschäftsordnungsausschuß wurde ein "Initiativrecht" 52 zugestanden. Er konnte ohne besonderen Auftrag Geschäfts-
47 48 49 50 51 52
S. a. Perels, in: Hdb. des Dt. StaatsR. IS. 454. S. St.B. RT Bd. 357 (1922), S. 9056 ff. Vgl. Hatschek, Dt. und preuß. StaatsR., S. 499. S. St.B. RT Bd. 357 (1922), S. 9095 ff. Vgl. Anschütz, Art. 33 Anm. 1. So Ritzel, Parlamentarische Geschäftsordnung, in: Der RT, S. 149.
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ordnungsfragen beraten und dem Reichstag bzw. dem Präsidenten hierzu Vorschläge unterbreiten (§ 120 GO). Die Ausschüsse waren bei Anwesenheit von mehr als der Hälfte ihrer Mitglieder beschlußfahig. Für das Verfahren in den Ausschüssen galten im übrigen die Grundsätze der Reichstagsgeschäftsordnung, soweit nichts anderes bestimmt war (§ 33 GO).
f) Untersuchungsausschüsse Nach der Verfassung hatte die Geschäftsordnung sowohl das Verfahren als auch die Zahl der Mitglieder der Untersuchungsausschüsse festzulegen (Art. 34 Abs. 1 S. 4). Diesem Gebot kam die Geschäftsordnung nicht, jedenfalls nicht ausdrücklich, nach 53 . Somit galten die allgemeinen Regeln 54 .
Ι Π . Das Geschäftsverfahren in der Praxis Gegenüber dem Kaiseneich vervielfachte sich die Arbeitslast des Reichstags, in erster Linie wegen der staatlichen Neuordnung 55 und der krisenhaften Lage Deutschlands nach dem Weltkrieg und in zweiter Linie wegen der neuen Verantwortung des Parlaments für die Regierungsbildung. Die Geruhsamkeit des Vorkriegsparlamentarismus war einer hektischen Betriebsamkeit gewichen 56 . Eine Aufteilung der Wahlperiode in Sessionen war nicht mehr möglich 5 7 . Die zeitlichen und intellektuellen Anforderungen an den einzelnen Abgeordneten verlangten mehr und mehr den Berufspolitiker, der sich in der "Schule intensiver Ausschußarbeit eines Arbeitsparlaments" für politische Führungsaufgaben qualifizierte 58 . Man erwog die Ausstattung der Abgeordneten mit eigenem Hilfspersonal 59. Die Arbeitslast konnte vom Plenum weniger als zuvor bewältigt werden und wurde an die Arbeitsgremien des Reichstags, die Ausschüsse und Fraktionen, weitergegeben. Das Plenum füllte sich nur noch bei wichtigen Abstimmungen und Debatten. Die Anwesenheit der mei53
Vgl. Lammers, Parlamentarische Untersuchungsausschüsse, in: Hdb. des dt. StaatsR. II S. 458. 54 S. Lammers, S. 458 Fn.. 27 u. S. 462, zum Verfahren nach einem vom 1. Untersuchungsausschuß aufgestellten "Arbeitsplan" s. S. 458 f. 55 Vgl. zu diesem Zusammenhang Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 353. 56 Vgl. dazu die anschaulichen Schilderungen von Lambach, Die Herrschaft der Fünfhundert, insb. s. 35 ff. 57 Vgl. Anschütz, Art. 24 Anm. 5. 58 So Max Weber, Parlament und Regierung, S. 353; vgl. auch Kelsen, S. 353. 59 S. Lambach, S. 53.
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sten Abgeordneten während der Debatten in der Vollversammlung war entbehrlich, da nur noch die Ergebnisse der Beratungen in den Gremien und die Stellungnahmen der Fraktionen dazu der Öffentlichkeit präsentiert wurden 60 .
1. Fraktionen Auch wenn es die Geschäftsordnung nicht erwähnte, war es selbstverständlich, daß die Fraktionen aus den Abgeordneten derselben Partei gebildet wurden«. Ohne Fraktionen war die Bewältigung der Parlamentsaufgaben unmöglich. M i t der Verarbeitung der Vorgaben der Partei und Auseinandersetzung mit den sonstigen außerparlamentarischen Einflüssen, innerfraktioneller Meinungsbildung unter Einbeziehung der verschiedenen internen Richtungen, Vorbereitung der Tätigkeit in den Ausschüssen und im Plenum, Kontakten zur Regierung und zu den anderen Fraktionen und schließlich Öffentlichkeitsarbeit sind einige der wichtigsten Tätigkeitsfelder der Fraktion beschrieben. Die interne Arbeitsteilung nahm zu und führte zu neuen Fraktionsämtern, aus den Mitgliedsbeiträgen der Abgeordneten wurden Sekretariate mit fest eingestellten Hilfskräften finanziert 62. Durch die Arbeitsteilung in der Fraktion wurde das einzelne Fraktionsmitglied noch mehr von seinen Kolleginnen und Kollegen und vor allem der Fraktionsspitze abhängig. Die Mitgliedschaft war aber nach wie vor die einzige Möglichkeit, auf die Parlamentspolitik Einfluß zu nehmen 63 . Das wird bei den Ausschüssen deutlich: Nur über die Fraktion konnte man Sitz und Stimme in den Ausschüssen erhalten. Dies führte in der Fraktion bei der ersten Welle der Ausschußbesetzung in der Wahlperiode regelmäßig zu einem "furchtbaren Kampf aller gegen alle, weil jeder einzelne in möglichst viele Ausschüsse hinein w i l l " 6 4 . Die Fraktion mußte für eine möglichst gleichmäßige Auslastung aller Abgeordneten sorgen. I m Durchschnitt gehörte jeder Abgeordnete bis zu zwei Ausschüssen an 65 . In jeden Fachausschuß mußte ein entsprechender Spezialist entsandt werden 66 . Zumindest die größeren Fraktio-
60 Vgl. die Ausführungen des Abg. Brodauf bei der Beratung der GO, StB. Bd. 357 (1922), S. 8922. 61 Vgl. Lambach, S. 12; Stier-Somlo, Dt. Reichs- und LandesstaatsR., S. 589. 62 S. Lambach, S. 11 ff., 16, 31 ff., 86 f. 63 Vgl. Lambach, S. 12. 64 Lambach, S. 63. 65 Vgl. Dechamps, S. 61. 66 S. Lambach, S. 45.
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nen mußten außerdem darauf achten, daß die verschiedenen Richtungen und Berufsgruppen innerhalb der Fraktion möglichst anteilsmäßig in den Ausschüssen vertreten waren. Sie einzubeziehen war Voraussetzung dafür, daß die im Ausschuß getroffenen Entscheidungen und Kompromisse die Zustimmung der ganzen Fraktion fanden 67. Die Notwendigkeit der Integration verschiedener Gruppen führte also auch zum innerfraktionellen Proporz. Die "ordentlichen 11 Ausschußmitglieder wurden hin und wieder gegen ein für den gerade behandelten Gegenstand besonders kompetentes Fraktionsmitglied kurzzeitig ausgewechselt68. Die Obleute legalisierten gegenüber dem Ausschußvorsitzenden die Wechsel der Fraktionsmitglieder i m Ausschuß. Von der Fraktion wurden sie für das einheitliche Vorgehen der Mitglieder i m Ausschuß und für ihr vollzähliges Erscheinen verantwortlich gemacht, denn von Zufallsmehrheiten gefaßte Beschlüsse waren im nachhinein nur schwer zu korrigieren 69 .
2. Ältestenrat Der Ältestenrat war ausdrücklich nicht als Beschlußorgan konzipiert worden 70 , gerade um den Minderheitsinteressen Rechnung zu tragen 71 . Dennoch übertrug das Plenum dem Ältestenrat gelegentlich die verbindliche Entscheidung einer bestimmten Frage 72. Die Festlegung der Mitgliederzahl auf 21 Mitglieder bedeutete den Ausschluß kleinerer Fraktionen und damit die Abkehr von dem Grundsatz, daß der Ältestenrat eine Institution zur Verständigung zwischen allen Fraktionen sein sollte.
3. Präsidium I m Weimarer Reichstag wurde es endgültig Brauch, daß die stärkste Fraktion den Parlamentspräsidenten stellte 73 . Der Präsident brauchte nicht mehr wie im Kaiserreich der jeweiligen Regierungskoalition anzugehören, da sich die Regierung über das parlamentarische Vorgehen direkt mit den Fraktionen verständigte. In Weimar stand allein die unparteiische Wahrnehmung der in67 68 69 70 71 72 73
Vgl. Lambachs.64f. Vgl. Lambach, S. 43. Vgl. Lambach, S. 64. S. Trossmann, in: Der Reichstag, S. 131. Vgl. Lehmann, Recht der parlamentarischen Minderheiten, S. 44 Fn. 78. Dies wurde von Lehmann, ebda., kritisiert S. Trossmann, in: Der Reichstag, S. 127.
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
nerparlamentarischen Aufgaben im Vordergrund 74. Allerdings wurde in strikter Befolgung der parlamentarischen Sitte auch Hermann Göring zum Reichstagspräsidenten gewählt, nachdem die NSDAP stärkste Fraktion geworden war. Der einmalige Ausnahmefall, in dem der Präsident der zweitstärksten Fraktion angehörte (der Zentrumsabgeordnete Fehrenbach), beruhte auf einer Absprache mit der stärksten Fraktion (SPD) 75 . Die berechtige Fraktion konnte also, wie auch bei der Besetzung der übrigen Gremien, ihr zustehende Sitze abtreten. Gewählt wurde geheim. Einzig Göring wurde am 31. März 1933 in offener Abstimmung (und zum dritten Mal) zum Präsidenten gekürt 76 . Über die Kandidaten wurde bis 1928 im Plenum kein Wort geredet. Man verständigte sich vor der Wahl zwischen den Fraktionen über den künftigen Präsidenten und füllte den leeren Stimmzettel mit dem Namen des Betreffenden aus 77 . In den meisten Fällen wurden auch Stimmen für andere Kandidaten abgegeben, die nicht der stärksten Fraktion angehörten. Mehrfach mußten Stichwahlen durchgefühlt werden 78 . Ein exklusives Vorschlagsrecht der stärksten Fraktion kannte die Parlamentspraxis demnach noch nicht. Ein einziges Mal wurde ein Antrag auf Abwahl des amtierenden Präsidenten gestellt, jedoch vom Reichstag zurückgewiesen 79. Die Zahl der Vizepräsidenten variierte zwischen 3 und 4, die der Schriftführer zwischen 8 und 12 80 .
4. Ausschüsse a) Bedeutung Die Gesetze wurden in den Ausschüssen nicht mehr nur vorberaten, sondern die Ausschußberatungen traten weitgehend an die Stelle der Beratung im Ple74
So blieb der Sozialdemokrat Löbe über mehrere Wahlperioden hinweg und solange die SPD stärkste Fraktion blieb, ein anerkannter Präsident, gleichgültig ob die SPD in der Regierung oder in der Opposition war, vgl. Partsch, AöR 86 (1961), S. 15 f. 75 Vgl. St.B., Bd. 357 (1922), S. 9049. 76 S. Partsch, S. 24. 77 S. Partsch, S. 27. 78 S. Partsch, S. 18. 79 S. Partsch, S. 37 f., Uhlitz, AöR 87 (1962), S. 296 ff. 80 Vgl. Meißner, Das Staatsrecht des Reichs und seiner Länder, S. 61 Fn.; Perels, in: Hdb. des Dt. StaatsR. I, S.453 f.
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num. Dort verzichtete man außer in der ersten Lesung in den meisten Fällen nun auch in der zweiten Lesung auf eine Aussprache und machte im übrigen von der Möglichkeit der Redezeitbeschränkung nach § 80 GO reichlich Gebrauch 81 . I m Ausschuß fanden dafür zwei förmliche Lesungen mit einer General- und einer Einzelaussprache statt. Zwar kamen die Gesetzesvorschläge fast immer von der Regierung, doch gerade in Zeiten von Minderheitsregierungen war der Einfluß der Ausschüsse auf den Inhalt der Gesetze beträchtlich. Nicht umsonst sahen sich die Minister oft genug genötigt, persönlich und zusammen mit ihrem gesamten Stab ihre Vorhaben im Ausschuß zu verteidigen. Namentlich der Haushaltsausschuß, in dem die Spitzen der Fraktionen vertreten waren, war in dieser Hinsicht gefürchtet 82. Nicht selten setzten die Ausschüsse zu ihrer Entlastung Unterausschüsse ein. Die Ausschüsse führten auch Anhörungen von Sachverständigen und Interessenvertretern durch. Da die Sitzungen außer für Abgeordnete nichtöffentlich waren, firmierten diese "Hearings" als inoffizielle Besprechungen 83. Die Zahl der Reichstagsausschüsse lag zeitweise bei über dreißig 84 .
b) Besetzung Eine Publikation des Reichstags bezeichnete die Ausschüsse treffend als "Kommissionen, welche sich aus den Beauftragten der einzelnen Fraktionen zusammensetzen"85, da allein die Fraktionen über die Ausschußmitglieder entschieden. Die Ausschüsse verfügten, wie vor 1918, i.d.R. über 28 86 , gelegentlich über 21 oder 14 87 , in Ausnahmefällen auch über eine andere Anzahl 88 Sitze.
81
Vgl. Lambach, S. 34,60,95 f.; Der Deutsche Reichstag, S. 26; Dechamps, S. 79 f. Vgl. Lambach, S. 65 und 122; s.a. Der Deutsche Reichstag, S. 31. 83 S. Lambach, S. 65. 84 Lambach, S. 44, spricht von mehr als einem "Drittel Hundert" Ausschüssen. 85 Der Deutsche Reichstag, S. 27. 86 S. Lambach, S. 63. 87 Vgl. Hatschek, Dt. und preuß. StaatsR. S. 499. 88 Vgl. St.B. RT Bd. 356 (1922), S. 8974, wonach zu dieser Zeit der "Überwachungsausschuß" nach Art. 35 II WRV 15 Mitglieder hatte. 82
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
M i t zunehmender Abgeordnetenzahl wurde die Chance der kleinen Fraktionen auf Sitz und Stimme auch in den 28er Ausschüssen immer geringer. Eine Erhöhung der Zahl der Ausschußmitglieder war nicht sinnvoll. Mit 28 Sitzen waren die Gremien für eine optimale Arbeitsfähigkeit bereits zu groß. Gleichwohl blieb die Möglichkeit erhalten, wenigstens in dem einen oder anderen Ausschuß vertreten zu sein, da das System des Alternats und des Ausgleich des Parteikontos aus der Zeit vor 1918 beibehalten wurde 89 . Die Stellen der Vorsitzenden, Stellvertreter und Schriftführer wurden wie zuvor nach dem Zugriffsverfahren auf die Fraktionen verteilt. Die von der Fraktion für die ihr zustehende Stelle vorgeschlagene Person mußte allerdings durch Wahl vom Ausschuß bestätigt werden, was in der Praxis regelmäßig der Fall war 90 . Die Berichterstatter wurden in entsprechender Anwendung dieser Regeln nach der Reihenfolge der im Ausschuß vertretenen Fraktionen bestimmt, wobei man in den ständigen Ausschüssen den Vorschlägen der Vorsitzenden zu folgen pflegte 91 . Über die Größe und Zusammensetzung der Unterausschüsse hatten die Ausschüsse gleichfalls in entsprechender Anwendung der für sie selbst geltenden Geschäftsordnungsregeln zu entscheiden.
5. Untersuchungsausschüsse Die Untersuchungsausschüsse waren Ausschüsse besonderer Art. Anders als die übrigen auf parlamentsinterne Aufgaben beschränkten Gremien verfügten die Untersuchungsausschüsse mit der Befugnis der entsprechenden Anwendung der Strafprozeßordnung über beträchtliche Eingriffsrechte gegenüber dem einzelnen Bürgel 92 . Dazu kam, daß sie die Zwangsbefugnisse allein und selbständig handhabten: Die Beweiserhebungsrechte standen nur dem Aus89
Vgl. Hatschek, Dt. und preuß. StaatsR., S. 497 f. Wenn Bernhard zur Ausschußbesetzung des 1. Dt. Bundestags bemerkt, das System d'Hondt habe "bereits in der Weimarer Zeit Anwendung gefunden" (S. 40), kann sich das auf Reichsebene nur auf die Wahl zur verfassungsgebenden Nationalversammlung beziehen (s.o. D.I. Fn.. 7). In den Materialien finden sich keine Hinweise auf eine Änderung des Verfahrens. Der Bericht des Geschäftsordnungsausschusses spricht nur davon, daß die Berechnung der Fraktionsanteile wie bisher dem Büro des Reichstags obliege, s. RT-Drs. 4411 (1922), S. 21. Lambach, S. 63, spricht von Regeln der Ausschußbesetzung, die "sich im Laufe der Jahrzehnte (...) herausgebildet haben". Auch bei der Einführung des d'Hondtschen Verfahrens im Bundestag finden sich keine Hinweise darauf, daß es bereits im Reichstag angewendet wurde, S. St.B. BT Bd. 1 (1949), S. 193 ff. 90 S. Trossmann, in: Der Reichstag, S. 132. 91 Entsprechend § 3012 GO, vgl. Lambach S. 65. 92 Nur ein Beispiel ist die Befugnis, Beugehaft zur Erzwingung einer Zeugenaussage anzuordnen, s. Lammers, in: Hdb. des Dt. StaatsR. II S. 471 m.w.N., und vor dem Untersuchungsausschuß gab es nur Zeugen, keine Beschuldigten (mit entsprechendem Aussageverweigerungsrecht), s. Rosenberg, 34. DJT (1926), Bd. 1 S. 25.
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schuß, nicht dem Reichstag zu; und selbst wenn der Reichstag im Einsetzungsbeschluß bestimmte Beweiserhebungen vorgeben konnte (Art. 34 Abs. 1 S. 2 WRV), entschied der Ausschuß über die Anwendung der Zwangsbefugnisse i m Einzelfall allein und unabhängig93. Es war unbestritten, daß die Untersuchungsausschüsse "staatshoheitliche, obrigkeitliche" 94 , "exekutivistische" 95 Gewalt ausübten. Die Besetzung der Untersuchungsausschüsse unterschied sich dennoch nicht von den übrigen Ausschüssen. Die Frage, ob diese Staatsgewalt der Untersuchungsausschüsse genügend legitimiert war, wurde nicht aufgeworfen. Nach Art. 1 Abs. 2 W R V hatte die Staatsgewalt vom Volke auszugehen. Auch wenn ein Zusatz wie in dem entsprechenden Artikel 20 Abs. 2 S. 2 des Grundgesetzes in der W R V fehlte, konnte demokratische Legitimation nur durch Wahlen und Abstimmungen vermittelt werden. Die Mitglieder der Untersuchungsausschüsse wurden aber nicht vom gesamten, vom Volk gewählten, Parlament benannt, sondern von den einzelnen Fraktionen, zwar entsprechend ihrem Anteil, aber sonst nach Belieben. Die fraktionslosen Abgeordneten und die, deren Fraktion zu klein für einen Ausschußsitz war, waren dabei völlig ausgeschlossen. Allein Lammers spricht an einer Stelle davon, daß der Reichstag selbst im Einsetzungsbeschluß neben der Zahl auch die Namen der Ausschußmitglieder festzulegen habe. Diese Auffassung fand aber in der Geschäftsordnung des Reichstags keine Stütze, und er selbst hatte keine Bedenken gegen eine auch nachträgliche Benennung der Ausschußmitglieder durch die Fraktionen 96 . Auch die Vertretung oder den Austausch der Mitglieder hielt er für zulässig, wobei er mögliche Nachteile des Mitgliederwechsels für die von der Untersuchung Betroffenen immerhin ansprach 97. Kaum mit dem Sinn und Zweck des Rechts einer Minderheit auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ließ sich die Auffassung vereinbaren, daß dieser Minderheit kein Recht auf Sitz und Stimme im Ausschuß zustehe98. Allein die Verfassung des Landes Thüringen sah ein derartiges Recht ausdrück93
Auch über den Ausschluß der Öffentlichkeit entschieden allein die Untersuchungsausschüsse; vgl. Hatschek, Dt. und preuß. StaatsR., S. 703; Lammers, in: Hdb. des Dt. StaatsR. II S. 459 f. 94 Lammers, in: Hdb. des Dt. StaatsR. II S. 460. 95 Anschütz, Art 34 Anm. 4. 96 S. Hdb. des Dt. StaatsR. Π S. 462 mit Fn.. 60. 97 S. Lammers S. 468. 98 S. Lammers S. 464. Nach Art. 34 Abs. 1 S. 2 WRV konnte die Einsetzungsminderheit zumindest im Plenum die Erhebung bestimmter Beweise fordern. Max Weber hatte das Minderheitsrecht zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses "natürlich mit dem Recht (...) auf Vertretung, Fragestellung, Nebenbericht" verbinden wollen, s. Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, S. 347. 9 Edinger
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
lieh vor (Art. 23). I m Reichstag hätten sich die Antragsteller im Zweifel nur auf das Mitberatungsrecht nach § 31 S. 1 GO berufen können. Zum Ausschluß der Antragsteller aus einem Untersuchungsausschuß kam es allerdings nie. Einmal hätte die Mitgliederzahl des Ausschusses mit maximal 4 Abgeordneten außerordentlich klein gehalten werden müssen, um das Mindesteinsetzungsquorum nach Art. 34 WRV, einem Fünftel der Reichstagsabgeordneten, auszuschließen. Zum anderen überwogen die Minderheitsregierungen die Mehrheitsregierungen, gegen die dieser Minderheitenschutz geschaffen worden war.
I V · Abschließende Bewertung A n der Praxis der Gremienbesetzung im Reichstag der Weimarer Republik änderte sich gegenüber dem Konstitutionalismus nur wenig. Geändert haben sich jedoch die äußeren Bedingungen, unter denen sich das innerparlamentarische Geschäftsverfahren vollzog. Deutschland war eine Republik geworden. Nach der Verfassung stieg das Parlament vom untergeordneten Berater der Regierung zum mächtigsten Staatsorgan auf, von dem auch die Regierung abhängig war. Die Parteien wurden als notwendige Bestandteile einer pluralistischen Massendemokratie von der Rechtsordnung, wenn auch zögernd, zur Kenntnis genommen und anerkannt. Der wichtigste Fortschritt in dieser Richtung war die Einführung des Verhältniswahlrechts, das den Parteien gleiche Chancen bei der Bewerbung um die Reichstagsmandate eröffnete. Das Prinzip des Parteienproporzes, das sich im parlamentarischen Geschäftsverfahren bereits seit einem halben Jahrhundert durchgesetzt und bewährt hatte, wurde so auf die Wahlen zum Parlament ausgedehnt. I m Reichstag war die proportionale Gremienbesetzung zu einer unbestrittenen Selbstverständlichkeit geworden, die nun auch Eingang in die Geschäftsordnung fand. Die Anerkennung der Parteien schlug sich hier in der Regelung ihrer Fraktionen nieder. In Bayern und Bremen erhielt die proportionale Gremienbesetzung sogar Verfassungsrang 99. Hervorzuheben ist, daß der Gegensatz zwischen Regierung und Regierungsmehrheit auf der einen und parlamentarischer Opposition auf der ande-
99
In Bayern für die Ausschüsse, Art. 42 Verf., in Bremen für den Vorstand, Art. 23 Verf., s. Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie, S. 42.
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ren Seite auf das Besetzungsverfahren keinen Einfluß hatte. Die Verfassung selbst hatte in Erwartung parlamentarischer Mehrheitsregierungen der Minderheit das Recht eingeräumt, Untersuchungsausschüsse zu erzwingen. Doch unter den Verhältnissen der Weimarer Republik wurde das Mehrheitskabinett nicht zum vorherrschenden Typus der Regierungsform, und bereits nach 10 Jahren wurde die parlamentarische Regierung völlig durch die Diktatur des Reichspräsidenten ersetzt. In der Wissenschaft hatte das Thema des parlamentarischen Minderheitenschutzes ebenfalls Konjunktur 100 . Dabei wurden sämtliche Verfahrensregeln der Verfassung und der Geschäftsordnung auf ihren minderheitsschützenden Charakter hin untersucht, nur die Regeln zur Gremienbesetzung blieben erstaunlicherweise weitgehend unbeachtet101. Von einem Autor stammt immerhin die Forderung nach einem Grundmandat in den Ausschüssen für die Vertreter nationaler Minderheiten, und zwar auch dann, wenn sie nicht in Fraktionsstärke im Parlament vertreten waren 102 . Dabei hätten die bereits beim konstitutionellen Reichstag geschilderten 103 Schwächen im System der Gremienbesetzung einer wissenschaftlichen Erörterung bedurft. Gerade bei den Unteisuchungsausschüssen wurde der Nachteil der Besetzung allein durch die Fraktionen deutlich, da er zu einem Mangel demokratischer Legitimation der durch die Ausschüsse ausgeübten Staatsgewalt führte. Nur bei einigen Gremien und Ämtern konnten die Abgeordneten unter den Vorschlägen der jeweils berechtigen Fraktion wählen, die Stellenanteile der Fraktionen ergaben sich aber allein aus ihrer Stärke und konnten durch diese Wahl nicht verändert werden. Zu welch gravierenden Folgen dies führen konnte, zeigt ein anschauliches Beispiel aus dem preußischen Landtag 104 . Dort erfolgte die Ausschußbesetzung in derselben Weise wie im Reichstag, allerdings mit der Maßgabe, daß in den Ausschüssen keine vom Plenum abweichenden Mehrheiten entstehen sollten 105 . Auch in Preußen gab es einen Ausschuß zur Wahrung der Rechte der Volksvertretung für die Zeit, in der der Landtag nicht versammelt war. I m Jahr 1925 war die bürgerlich-sozialistische 100 Vgl. nur die Monographien von Morstein Marx, Lehmann, Sackers und Kleist-Retzkow. ιοί Die erste und führende Publikation von Morstein Marx, S. 30 Fn.. 129, erwähnt die proportionale Besetzung nur in Form eines Hinweises auf die §§ 7 ff. der GO (Fraktionen). 102 S. Lehmann, S. 28. 103 S.o. C.II.3.c.bb). 104 Dazu und zum folgenden Möller, Parlamentarismus in Preußen 1919-1932, S. 401 ff. 105 § 18 GO, s. im einzelnen Hatschek, Dt. und preuß. Staatsrecht, S. 496 ff.
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
Regierungskoalition mit 6 Abgeordneten in der Minderheit. Wichtige Regierungsvorhaben wurden von der vorwiegend rechtsgerichteten Mehrheit blockiert. In dem erwähnten Ausschuß dagegen verfügte die Koalition über eine Stimme Mehrheit. Das lag daran, daß die oppositionellen Nationalsozialisten mit 13 Abgeordneten die Fraktionsmindeststärke nicht erreichten. Damit spiegelte sich im Ausschuß zwar die Stärke der Fraktionen, nicht aber die Mehrheit im Landtag korrekt wider. Als der Landtag seine Tagung für einige Tage unterbrach, nutzte die Regierung dies, um ihre Vorhaben zusammen mit der Mehrheit im Ausschuß als Notverordnungen zu verabschieden. Gegen diesen offensichtlichen Mißbrauch legte die Opposition Klage beim Staatsgerichtshof ein, die jedoch abgewiesen wurde. Der Staatsrechtslehrer Hugo Preuß hatte das Vorgehen der Koalition u.a. damit verteidigt, daß die Mehrheit "durch Obstruktion die für die Staatsnotwendigkeiten unbedingt erforderlichen Beschlüssen habe verhindern wollen 106 . Der Vorfall in Preußen zeigt, daß das, was man im konstitutionellen Reichstag als Geschäftsordnungs-Konsens bezeichnen konnte, in den Parlamenten Weimars zerbrochen war. Es fehlte bereits an der Grundlage dieses Konsenses, nämlich an der Übereinstimmung in der Anerkennung des Parlaments als dem legitimen Mittel zur Herrschaftsausübung in der Demokratie 107 . Die erbitterten innerparlamentarischen Auseinandersetzungen wurden oft genug mit den Mitteln der Geschäftsordnung geführt. Die Obstruktion durch Minderheiten wurde mit der rigorosen Ausnutzung der Mehrheitsrechte beantwortet und umgekehrt 108 . Gerade deshalb ist, bei aller Kritik im Detail, das Festhalten an der verhältnismäßigen Gremienbesetzung unter Einbeziehung aller Fraktionen (durch Alternat und Ausgleich des Parteikontos) bemerkenswert. Der Reichstag verzichtete darauf, die in den Anfangsjahren kleinen, offen antiparlamentarischen Gruppen von vornherein auszugrenzen, etwa durch die Erhöhung der Mindestfraktionsstärke. Er eröffnete sich und ihnen so Chance zur Integration in das demokratische Parlament. Ausgrenzung hätte Obstruktion provoziert. Einzig bei der Besetzung des Ältestenrats wurde vom Grundsatz der Beteiligung aller Fraktionen abgegangen. Im übrigen griff der Reichstag zum Mittel verschärf106
Zit. nach Möller, Parlamentarismus in Preußen, S. 402. Zum "Verfassungskonsens" als Voraussetzung des Erfolgs einer Verfassung vgl. Grimm, Das Grundgesetz nach vierzig Jahren, NJW 89, 1305 (1312). 108 Vgl d a s a u s Pressezitaten zusammengestellte Beispiel der Debatte um die Zollvorlage 1925 bei Lambach, S. 102 f. Polizeieinsätze gegen Abgeordnete und meist von den Nazis provozierte Schlägereien waren keine Seltenheit und minderten das Ansehen des Reichstags in der Öffentlichkeit zusätzlich. 107
E. Ergebnis der historischen Untersuchung
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ter Ordnungsbestimmungen, um konkrete Geschäftsordnungsverstöße im Einzelfall zu ahnden und so seine Arbeitsfähigkeit zu sichern. Vermutlich hat auch das Fehlen stabiler Mehrheiten dazu beigetragen, daß die Minderheitsrechte gerade bei der Gremienbesetzung weitgehend gewahrt blieben. Wenn die Regierungskoalition keine Mehrheit besaß und die Opposition zerstritten war, gab es nur Minderheiten im Parlament. Festzuhalten bleibt, daß sich der Grundsatz der Gremienbesetzung nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen auch im republikanischen Reichstag grundsätzlich bewährte, gerade auch in Zeiten des Kampfes zwischen den Anhängern und Gegnern der parlamentarischen Demokratie.
E. Ergebnis der historischen Untersuchung I· Gremienbesetzung nach Kompetenz Die parlamentarischen Gremien dienten von Beginn an im wesentlichen zwei Zielen, zum einen der Leitung und Koordinierung der Parlamentsarbeit (Präsidium), zum anderen der intensiven sachlichen Vorberatung des jeweiligen Gegenstands im kleinen Kreis (Ausschüsse). Daraus folgte der erste Zweck, den die Gremienbesetzung zu erfüllen hatte: Die Gremien sollten mit für die jeweilige Aufgabe möglichst geeigneten Abgeordneten besetzt werden.
I I . Gremienbesetzung und Minderheitenschutz Wie sehr der Minderheitenschutz Voraussetzung eines funktionsfähigen Parlaments ist, zeigt der Vergleich der ersten eineinhalb Jahrzehnte des preußischen Abgeordnetenhauses mit der Nationalversammlung der Paulskirche und dem späteren Reichstag. Man kann den parlamentarischen Minderheitenschutz definieren als Begrenzung des Mehrheitsprinzips, das ebenfalls vom Parlamentarismus nicht zu trennen ist, auf die Entscheidung in der Sache. Die Mehrheit kann ihren Willen nur in einem Verfahren durchsetzen, in dem die Minderheit öffentlich ihre Auffassung vortragen kann und die Mehrheit dadurch angehalten wird, sich mit den Argumenten der Minderheit auseinanderzusetzen. Die entsprechenden Verfahrensgrundsätze dürfen nicht zur Disposition der Mehrheit stehen.
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
Die Gremienbesetzung hatte von Anfang an auch den Zweck, dem Minderheitenschutz gerecht zu werden. Für die Berücksichtigung der Minderheit bei der Besetzung der Parlamentsgremien haben sich im wesentlichen drei Faktoren als ausschlaggebend erwiesen:
1. Integration statt Obstruktion Der Minderheit wurde Gelegenheit gegeben, auch bei der durch die zunehmende Arbeitsbelastung erzwungenen Verlagerung der Debatte vom Plenum in die Ausschüsse ihre Vorstellungen im Parlament einzubringen und von dort aus der Öffentlichkeit darzustellen. Zu diesem Zweck wurde ihr in der Paulskirche sogar das Mittel des Minderheitengutachtens zur Verfügung gestellt. War die Minderheit nicht in den Vorberatungsgremien vertreten, mußte sie, bestenfalls, wegen der Öffentlichkeitswirkung auf einer ausführlichen Plenardebatte bestehen, oder sich durch Obstruktion gegen ihren Ausschluß aus den Ausschüssen zur Wehr setzen. Beides hätte den Rationalisierungseffekt der Ausschußberatungen zunichte gemacht und den innerparlamentarischen Verfahrenskonsens, der Voraussetzung eines reibungslosen Arbeitsablaufs ist, in Frage gestellt. In der Paulskirche hätte die Ausgrenzung der Minderheit schlimmstenfalls sogar zum Anlaß für ihren Auszug aus der Nationalversammlung werden können. Stattdessen war die Einbeziehung der Minderheit Ausdruck ihrer Legitimität. Ihr wurde die Chance geboten, mit parlamentarischen Mitteln um die Mehrheit (der Abgeordneten und der Wähler) zu kämpfen, d.h. mit parlamentarischen Mitteln einen Machtwechsel herbeizufuhren. Damit wurde die Minderheit in den bestehenden Parlamentarismus eingebunden, was wiederum dessen Basis gegenüber den antiparlamentarischen Kräften erweiterte. Die aktuelle Mehrheit wollte außerdem für den Fall des Machtwechsel ebenfalls eine faire Behandlung sicherstellen.
2. Sicherung des argumentativen Diskurses Die Parlamente waren Errungenschaften des aufsteigenden Bürgertums. Das Bürgertum setzte in der Tradition der Aufklärung auf die Vernunft, auf die Überzeugungskraft der Argumente in der öffentlichen Auseinandersetzung gegenüber der Macht des Adels, gerade auch in den Parlamenten. Nicht zuletzt um durch den Austausch der verschiedenen Sachargumente die Qualität des Beratungsergebnisses zu erhöhen, sollte deshalb die Minderheit in den entsprechenden Gremien vertreten sein.
E. Ergebnis der historischen Untersuchung
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3. Fähigkeit zum Kompromiß Bereits in der Paulskirche wurden die öffentlichen Reden i m Plenum n zum Fenster hinaus" gehalten, sie sollten die Öffentlichkeit überzeugen und kaum mehr die Parlamentarier. So wurden schon damals im Plenum im wesentlichen nur noch die fertigen Ergebnisse der Willensbildung präsentiert und dabei in der Konkurrenz um die Gunst der öffentlichen Meinung die Gegensätze zwischen den Fraktionen und Parteien besonders herausgehoben. Nur in den Gremien, abgeschirmt von der Öffentlichkeit, war eine offene Beratung möglich, deren Ergebnis nicht von vornherein aufgrund der Mehrheitsverhältnisse feststand. Durch die politische Grundhaltung der Ausschußmitglieder war in den seltensten Fällen der konkrete Inhalt jedes einzelnen Gesetzes festgelegt. Darüber hinaus gab es im Einzelfall gemeinsame bzw. gegensätzliche Ansichten quer durch die Parteien, oder auch gemeinsame Interessen des gesamten Parlaments. Auf dieser Grundlage konnte tatsächlich ein rationaler Diskurs um die bestmögliche Lösung stattfinden. Dabei hatte die Minderheit die reale Möglichkeit, auf das Ergebnis der parlamentarischen Willensbildung einzuwirken. Die Folge war eine Reihe von Kompromissen unter Berücksichtigung der Argumente der Minderheit. Damit wurde in vielen Fällen verhindert, daß Mehrheitsentscheidungen in der Sache auf Kosten der Minderheit gingen, so daß Gegensätze vermindert statt verschärft wurden und die Integration der Minderheit weiter gefördert wurde.
Ι Π . Widerspiegelung der Mehrheitsverhältnisse Der Minderheitenschutz durfte die Sachentscheidungskompetenz der Mehrheit auch in den Gremien nicht in Frage stellen. Außerdem war der Rationalisierungseffekt der Arbeitsverlagerung in die Gremien nur zu erreichen, wenn die Plenumsmehrheit auch dort in der Überzahl war. Vom Gesamtparlament abweichende Mehrheiten in den Gremien, das haben Beispiele in der Paulskirche gezeigt, müssen dazu führen, n daß das Plenum in allen strittigen Fragen die Empfehlung des Ausschusses ablehnen würde und die Mehrheit im Plenum ihre Auffassung durch Änderungsanträge durchsetzen müßte", wie es Trossmann bei der Beschreibung des Deutschen Bundestages treffend ausführt!. Die Gremienbesetzung mußte also auch die Mehrheitsverhältnisse i m Plenum widerspiegeln. 1
Trossmann, Der Bundestag, in: JöR Bd. 28 (1979) S. 113.
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
I V . Minderheitenschutz und Fraktionen Schon in den frühkonstitutionellen Volksvertretungen, in denen es keine nennenswerte Fraktionsbildung gab, war der Gedanke des Minderheitenschutzes auch in den Gremien verankert, wie etwa das Recht zum Minderheitsgutachten zeigt. Wo es keine festgefügten Mehrheiten gab, wo sich die Mehrheit bei jeder Sachfrage jedesmal neu und anders zusammenfand, war der Minderheitenschutz selbstverständlich, aber auch unproblematisch. Die Minderheit bestand hier aus dem einzelnen Abgeordneten selbst und, wie auch die jeweilige Mehrheit, aus einer von Gegenstand zu Gegenstand neu sich findenden Vielzahl von Abgeordneten. Dem unabhängigen Status des einzelnen Abgeordneten entsprachen seine unbeschränkten Antragsrechte. Die Aufteilung des Plenums in zufallig zusammengesetzte Abteilungen sollte jedem Abgeordneten (unabhängig von seiner jeweiligen Sachkompetenz) die Möglichkeit geben, an der Vorberatung mitzuwirken. Solange Mehrheit und Minderheit von Fall zu Fall unterschiedlich zusammengesetzt waren, war es folgerichtig, daß die Ausschüsse meist ad hoc, für jeden Antrag von neuem, eingesetzt wurden. Erst allmählich erkannte man überall die Vorteile ständiger, spezialisierter Fachausschüsse. Seit der Nationalversammlung der Paulskirche organisierte sich die Mehrzahl der Abgeordneten in Fraktionen, in Zusammenschlüssen politisch Gleichgesinnter. Diese Art der innerparlamentarischen Organisation war die Folge der Vertretung verschiedener, auch oppositioneller politischer Strömungen i m Parlament, die sich für den Kampf um Macht und Mehrheit organisierten. Dies wiederum setzte eine gewisse Offenheit des politischen Prozesses voraus. Dazu zählte ein Mindestmaß an politischen Freiheiten, die eine legale Opposition ermöglichten, und ein Wahlrecht, das auch Vertretern der Opposition den Weg ins Parlament eröffnete. Mit dem Erscheinen der Fraktionen wurde der Minderheitenschutz dringlicher und gleichzeitig - bei der gebotenen Verfahrensstraffüng - einfacher. Dringlicher, weil sich die Gefahr der Mißachtung des Minderheitenschutzes bei einer geschlossenen, festgefügten Mehrheit als viel größer erwies. Einfacher, weil die MehrheitsVerhältnisse im Plenum relativ stabil waren und deshalb bei der Gremienbesetzung für eine ganze Legislaturperiode berücksichtigt werden konnten. Dadurch wurde das Problem der Vertretung der Minderheit in den ständigen Ausschüssen entschärft. Gleichzeitig ermöglichte es die Rückkopplung zwischen den Ausschußmitgliedern und ihren Fraktionen, i m Ausschuß Lösungen zu erarbeiten, von denen bereits vor dem Gang ins Plenum hinreichend sicher war, daß sie von der Mehrheit der Abgeordneten gebilligt werden würde.
E. Ergebnis der historischen Untersuchung
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Es stellte sich heraus, daß die ausgelosten, also zufallig zusammengesetzten Abteilungen den Fraktionen und Ausschüssen, was die Vorberatungsfunktion angeht, unterlegen waren. Zum ersten Meinungsaustausch eigneten sich die aus Gleichgesinnten bestehenden Fraktionen besser. Zur Erarbeitung von Empfehlungen an das Plenum waren die Ausschüsse besser geeignet, weil sich in ihnen regelmäßig die Mehrheitsverhältnisse des Plenums wiederfanden. Die Gremienmitglieder wurden seit der Paulskirche in erster Linie nach Fraktionszugehörigkeit ausgewählt. Ihre Kompetenz blieb dennoch gewährleistet, denn jede Fraktion hatte das Interesse, jeweils sachkundige Mitglieder in die Gremien zu entsenden. Es schwächte die Stellung des einzelnen, fraktionslosen Abgeordneten, wenn die Mitglieder der Gremien in erster Linie nach der Fraktionszugehörigkeit ausgewählt wurden. Viel direkter wurde er aber entmachtet durch die Bindung der Antragsrechte an Unterstützungsquoren, die ebenfalls der Rationalisierung der Parlamentsarbeit diente. Die Quoren stärkten wiederum die Fraktionen, weil der Abgeordnete am ehesten dort die notwendige Unterstützung fand. Der Zusammenhang zwischen Quoren und Fraktion wurde dadurch bestätigt und gleichzeitig verstärkt, daß der konstitutionelle Reichstag die Fraktionsmindeststärke mit dem Quorum für einen Gesetzesantrag in Übereinstimmung brachte. Der enge Zusammenhang zwischen Fraktion und Partei war seit der Entstehung der Fraktionen Bestandteil des deutschen Parlamentarismus. Es war von Anfang an selbstverständlich, daß die Fraktionen aus Mitgliedern derselben Partei bestanden. In der Paulskirche waren Fraktion und Partei tatsächlich und begrifflich noch identisch. Die Fraktionen bemühten sich erst, entsprechende Parteiorganisationen zu ihrer Unterstützung außerhalb des Parlaments aufzubauen. Der Seniorenkonvent des Reichstags stellte diesen Zusammenhang ausdrücklich klar, als er die Mitgliedschaft in derselben Partei zur Voraussetzung erklärte für die Anerkennung einer Gruppe von Abgeordneten als Fraktion. Man kann feststellen, daß die Entfaltung der parlamentarischen Demokratie in Deutschland einherging mit der Verdrängung des vereinzelten Abgeordneten als handelndes Subjekt des innerparlamentarischen Verfahrens durch die Fraktion, oder genauer, durch den im wesentlichen als Vertreter seiner Fraktion agierenden Abgeordneten. Entsprechend verlief die Entwicklung bei den Wahlen zum Parlament. Auch hier war der Abgeordnete immer weniger der Vertreter seines Wahlkreises und mehr und mehr der Vertreter seiner Partei, die ihn als Kandidat aufgestellt und im Wahlkampf unterstützt hatte.
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
Während der einzelne Abgeordnete bei der Antragstellung bereits in der Paulskirche rechtlich, durch Bestimmungen der Geschäftsordnung, eingeschränkt wurde, ließ die entsprechende rechtliche Fixierung der Gremienbesetzung bis 1922 auf sich warten. Im Gegensatz zu den Antragsrechten, die einer (beliebigen) Mindestzahl von Abgeordneten übertragen wurden, legte man die Gremienbesetzung weitgehend in der Hände der Fraktionen.
V· Techniken der Gremienbesetzung Den oben aufgeführten Zwecken und Bedingungen der Besetzung parlamentarischer Gremien versuchten die deutschen Parlamente auf verschiedene Weise gerecht zu werden. Die Parlamente des Frühkonstitutionalismus sammelten zunächst Erfahrungen mit den damals bekannten Möglichkeiten der Gremienbesetzung. Man wandte die (i.d.R. geheime) Wahl mit absoluter oder relativer Mehrheit, mit der Abstimmung über einzelne Kandidaten oder mit der Wahl von Listen an. Ferner kannte man die Auslosung und die Kombination von Auslosung und Wahl. Seit der Paulskirche ergaben sich durch die Fraktionsbildung und die Arbeitsverlagerung in die Ausschüsse neue Erfordernisse für die Technik der Gremienbesetzung. Robert Mohl, der Schöpfer der Geschäftsordnung der Nationalversammlung, wählte bewußt die Kombination aus Auslosung und Wahl. Die Kommissionsmitgliedern wurden in ausgelosten Abteilungen gewählt. Was bei der Vorberatung der Nachteil war, war bei der Ausschußbesetzung der Vorteil der Abteilungen: Die Vertretung der Minderheit in den Ausschüssen war gerade deshalb möglich, weil einige Abteilungen entgegen der Plenumsmehrheit zusammengesetzt waren. In den nachfolgenden Parlamenten konnte allerdings keines der damals bekannten Wahl- und Besetzungssysteme den Minderheitenschutz mehr gewährleisten. Um die nicht zuletzt deshalb auftretenden Funktionsstörungen des Parlaments zu beseitigen, kam man im konstitutionellen Reichstag aufgrund freier Vereinbarung zu einer Form der Gremienbesetzung, die den Anforderungen des Minderheitenschutzes, aber auch des Mehrheitsprinzips, unter Berücksichtigung der Rolle der Fraktionen in nahezu idealer Weise gerecht wurde: Der Besetzung nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen. Zu diesem Zweck entstand mit dem Seniorenkonvent, dem späteren Ältestenrat, eine Institution, die geradezu als eine Verkörperung des dem Minder-
E. Ergebnis der historischen Untersuchung
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heitenschutz zugrundeliegenden Geschäftsordnungskompromisses anzusehen ist. Er war mit den Vertretern aller Fraktionen besetzt und konnte Entscheidungen nicht mit Mehrheit, sondern nur einstimmig treffen. Der Ältestenrat erwies sich deshalb bald auch als überaus geeignetes Koordinierungs- und Leitungsgremium neben dem Präsidium. Zwar wurde das Präsidium ebenfalls nach Proporz besetzt, doch aufgrund seiner Entscheidungsbefugnisse blieb der Präsident die beherrschende Figur. Seine Stelle konnte natürlich nicht nach Proporz besetzt werden. Man war stets auf einen fähigen und unparteiischen Amtsinhaber angewiesen. Zur Konsensbildung trug in diesem Punkt bei, daß der stärksten Fraktion die Benennung eines Kandidaten überlassen wurde. Für diesen bemühte man sich um eine möglichst breite Zustimmung. Dafür war wiederum ein fähiger und unparteiischer Kandidat Voraussetzung. Die Weimarer Republik war die erste parlamentarische Demokratie Deutschlands. Die Verfassung sah für die Wahlen zum Reichstag das lange geforderte Verhältniswahlsystem vor. Damit waren die Parteien im Reichstag nach dem Verhältnis ihrer Wählerstimmen vertreten. Nun erst wurde das tradierte System der Gremienbesetzung nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen in die Geschäftsordnung aufgenommen. I m republikanischen Reichstag galten für die Gremienbesetzung folgende Grundsätze: 1. Die Fraktionen erhielten entsprechend ihrer Stärke Sitzanteile in allen Gremien (Fraktionsproporz). 2. Die Fraktionen bestimmten die ihnen zustehenden Gremienmitglieder entweder selbst und konnten sie dann jederzeit wieder abberufen (Ausschüsse, Ältestenrat), oder sie hatten ein Vorschlagsrecht (Präsidium). Die Fraktionen konnten ihnen zustehende Sitze jederzeit an andere Fraktionen oder an fraktionslose Abgeordnete abtreten. 3. Es gab keinen Anspruch jeder Fraktion auf zumindest einen Sitz in jedem Gremium (Grundmandat), in Weimar auch nicht im Ältestenrat. Die Fraktionsmindeststärke blieb trotz steigender Abgeordnetenzahlen mit 15 relativ gering (weniger als 2,5 % der zuletzt über 600 Reichstagsmitglieder), ein Grundmandat hätte demnach eine Gremiengröße von bis zu 40 Sitzen erfordert. Da der Proporz zumindest für sämtliche Ausschüsse einer Legislaturperiode, also nicht bei jedem Ausschuß separat, errechnet wurde, waren dennoch auch die kleinen Fraktionen zumindest in einigen Ausschüssen mit Sitz und Stimme vertreten. Dieser Modus konnte bei knappen Mehrheiten jedoch zur Umkehrung der Mehrheitsverhältnisse im Ausschuß führen.
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1. Teil, Entwicklung der Gremienbesetzungsregeln
Darüber hinaus konnte eine nicht im Ausschuß vertretene Fraktion den parlamentsöffentlichen Ausschußsitzungen beiwohnen und bei der Behandlung von ihr eingebrachter Anträge und Petitionen sogar mit beratender Stimme teilnehmen. 4. Das Parlament selbst entschied nur noch über die Gremiengröße, nicht mehr über die Stellenanteile und, sofern die Fraktionen die Gremienmitglieder einfach benannten, auch in keiner Weise mehr über die einzelnen Mitglieder. Fraktionslose Abgeordnete konnten in diesem Fall auf die Stellenanteile nur dadurch Einfluß nehmen, daß sie sich einer Fraktion anschlossen. Machten sie von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch, konnte das bei knappen Mehrheiten wiederum eine Gremienbesetzung zur Folge haben, die der Plenumsmehrheit nicht entsprach (Beispiel Preußischer Landtag).
V I . Ausblick Es bleibt zu untersuchen, inwieweit die im Verlauf der deutschen Parlamentsgeschichte sich herausgebildeten Zwecke und Bedingungen der Besetzung parlamentarischer Gremien im Deutschen Bundestag fortbestehen und inwieweit die im Bundestag praktizierten Verfahren den sich daraus ergebenden Anforderungen gerecht werden.
Zweiter Teil Die Gremienbesetzung im Bundestag A. Stellung und Aufgaben des Bundestages in der parlamentarischen Demokratie Der Bundestag hat die Tradition der parlamentarischen Demokratie, die die nationalsozialistische Diktatur unterbrochen hatte, wieder aufgenommen. Obgleich der Bundestag später entstand als die Mehrzahl der Länderparlamente, kann er aufgrund seiner politisch überragenden Bedeutung als eine Art bundesdeutsches "Leitparlament" bezeichnet werden 1. An ihm wird deshalb beispielhaft für alle bundesdeutschen Parlamente das Recht und die Praxis der Gremienbesetzung in ihrer Entstehung und in ihrer heutigen Form beschrieben und die wesentlichen dabei auftauchenden Probleme erörtert. Zuvor werden die Stellung und die Aufgaben des Bundestages in der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes insoweit dargestellt, wie es für das Verständnis der Funktion der Gremien notwendig ist, wobei die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Parlamentstradition bis 1933 aufgezeigt werden. Nur unter Berücksichtigung dieser Zusammenhänge lassen sich Maßstäbe für die Gremienbesetzung gewinnen.
I. Das Parlament in der Staatsoi^ganisation - Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Grundgesetz und Weimarer Reichsverfassung Das Grundgesetz knüpft in seinen Grundsätzen an die parlamentarisch-demokratische Tradition der Weimarer Reichsverfassung an. So statuiert es in annähernd den gleichen Worten ("Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus", Art. 20 I I 1 GG) das Prinzip der Volkssouveränität und bekennt sich in Art. 20 I ausdrücklich zur Demokratie. Die negativen Erfahrungen aus der ersten Republik veranlaßten den Parlamentarischen Rat allerdings zu einer Reihe von
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Vgl. Hans Meyer, Die Stellung der Parlamente in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, in: Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, S. 117 ff., Rn. 1, Fn. 1.
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2. Teil, Die Gremienbesetzung im Bundestag
Änderungen gegenüber der Weimarer Reichsverfassung, die eine Abschaffung der Demokratie mit Hilfe ihrer eigenen Mittel verhindern sollen 2 . Zum einen wurde die gesamte Staatsgewalt, ausdrücklich auch die Gesetzgebung, inhaltlich an die "verfassungsmäßige Ordnung" gebunden (Art. 20 I I I GG). Damit sind an erster Stelle die Grundrechte mit der Menschenwürde an der Spitze und unter Einschluß auch der politischen Grundrechte wie Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 1, 5, 7 und 8 GG) gemeint. Das Grundgesetz stellt - im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung - ausdrücklich klar, daß ein Gesetzesvorbehalt das betreffende Grundrecht nicht beliebig zur Disposition stellt (Wesensgehaltsgarantie, Art. 19 I I GG). Nicht zu vergessen ist auch Art. 26 GG, der eine aggressive, den äußeren Frieden gefährdende Politik untersagt 3. Darüber hinaus setzt das Grundgesetz sogar dem Verfassungsgesetzgeber Grenzen. Tragende Verfassungsgrundsätze, im wesentlichen Föderalismus, Demokratie und Beachtung der Menschenwürde, werden für unabänderlich erklärt (Art. 79 I I I GG). Zum anderen wurden auf der Staatsorganisationsebene die "checks and balances" neu verteilt. Das Grundgesetz entmachtete den Staatspräsidenten, legte das parlamentarische Regierungssystem fest und führte das Bundesverfassungsgericht als Kontrollinstanz über die anderen Staatsorgane, auch über das Parlament, ein. Die Machtfülle des Staatspräsidenten wurde beseitigt. Dem Bundespräsidenten obliegen heute im wesentlichen Repräsentationsaufgaben. Die Direktwahl durch das Volk hatte dem Amt in Weimar gegenüber dem Parlament zusätzliches Gewicht verliehen. Deshalb und angesichts der Beschränkung der Befugnisse wurde sie abgeschafft. Der Bundespräsident wird nun von der Bundesversammlung gewählt, die aus den Abgeordneten des Bundestages und den Vertretern der Länderparlamente besteht (Art. 54 GG). A l l dies kam im wesentlichen dem Parlament zugute. Das Grundgesetz übertrug dem Bundestag die Regierungsbildung in der Form der Wahl des Bundeskanzlers (Art. 63 GG). Damit besteht nunmehr erstmals auch von Verfassungs wegen ein echtes parlamentarisches Regierungssystem mit der rechtlichen Macht des Parlaments, positiv über die Person des Regierungschefs zu entscheiden. Zur Stabilisierung des parlamentarischen Regierungssystem wurde die Möglichkeit des Regierungssturzes ebenso erschwert wie die der Parlamentsauflösung. Die Ablösung einzelner Minister durch das Parlament
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Vgl. dazu und zum folgenden Grimm, Das Grundgesetz nach 40 Jahren, NJW 1989,S. 1305 ff. Diese nach den Erfahrungen zweier Weltkriege so zentralen Norm erwähnt Grimm, a.a.O., leider nicht. Zur Entstehungsgeschichte des Art. 26 GG vgl. Frank, AK-GG, Art. 26 Rn. 1 ff. 3
Α. Stellung und Aufgaben des Bundestages
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ist überhaupt nicht mehr, die Ablösung des Regierungschefs ist nur dann möglich, wenn sich im Parlament gleichzeitig eine Mehrheit für einen neuen Kanzler findet (Konstruktives Mißtrauensvotum, Art. 67 GG). Eine Parlamentsauflösung setzt nach dem Wortlaut des Grundgesetzes voraus, daß weder eine Mehrheits- noch eine stabile Minderheitsregierung zustande kommt (Art. 63 und 68 GG)