Wachsein: Ein phänomenologischer Versuch 9783495808023, 9783495487228


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Inhalt
Vorwort
Einleitung
I. Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins
1 Wachsein, ein problematischer Begriff
2 Übergangsphänomene
2.1 Aufwachen aus einem Traum: Wie weiß ich, ob der Wecker wirklich klingelt?
2.2 Zusammenbruch und Wiederaufbau der Intentionalität – Einengung und Erweiterung des Bewusstseinsfeldes
2.3 Etwas weckt etwas und lässt anderes einschlafen
3 Wachsein als Voraussetzung für bewusstes Erleben und als Bei-Bewusstsein-Sein
4 Betroffenheit als Gefühl
5 Die Brentano-Meinong’sche Theorie der Gefühle
6 Pathisches Wachsein als Gefühl
II. Pathisches Wachsein
1 Der Taumel und die Angst vor seiner Wiederkehr
2 Die Weisen des Betroffenseins und die Modi pathischen Wachseins
2.1 Empfindungen und Empfindnisse. Leibliches Wachsein
2.2 Pathisches Wahrnehmen
2.3 Pathisches Vergegenwärtigen
2.4 Pathisches Denken
2.5 Strebungen, Gefühle und Stimmungen
2.6 Träume
2.7 Die Modi des pathischen Wachseins. Zusammenfassung
3 Pathisches Wachsein als notwendige Bedingung pathischen Bewusstseins
3.1 Die allgemeinere These: Die Angst vor der Wiederkehr des Taumels ist eine notwendige Bedingung für pathisches Bewusstsein
3.2 Die speziellere These: In jedem Modus des pathischen Wachseins wird das bewusst, was mich in der Weise betrifft, die für diesen Modus bestimmend ist
4 Gleichzeitiges unterschiedliches pathisches Wachsein
5 Quantitäten des pathischen Wachseins. Pathisches Aufwachen und Einschlafen
5.1 Grade des Wachseins innerhalb eines Modus des pathischen Wachseins
5.2 Wachere und weniger wachere Modi des pathischen Wachseins
6 Pathisches Wachsein als Selbstbeziehung
III. Aktives Wachsein
1 Vorläufiges zum aktiven Wachsein
2 Zum Begriff mentaler Aktivität
3 Mentales Wollen
3.1 Der Begriff des mentalen Wollens
3.2 Aufwachen im prägnanten Sinn: Wie mentales Wollen aus dem pathischen Wachsein entsteht
3.3 Bewusstseinsweisen und Aspekte beim mentalen Wollen
3.4 Aktives Bewusstsein als Bewusstsein durch Entscheidung
4 Aktives Wachsein als Fühlen des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung
5 Modi des aktiven Wachseins
5.1 Das Wachsein im Stellungnehmen
5.2 Aufmerksamkeit im Allgemeinen
5.3 Das Wachsein im absichtlichen Wahrnehmen
5.4 Das Wachsein im absichtlichen Vergegenwärtigen
5.5 Das Wachsein im absichtlichen Denken
5.5.1 Brentanos Unterscheidung von Vorstellen und Urteilen
5.5.2 Gedanke und Denken bei Frege
5.5.3 Rechtfertigendes Denken. Der Begriff der Evidenz
5.5.4 Gedankenfassen und problemlösendes Denken
5.6 Die Modi des aktiven Wachseins. Zusammenfassung
6 Die Beziehungen zwischen pathisch und aktiv Bewusstem
7 Aktives Wachsein als eine notwendige Bedingung aktiven Bewusstseins
7.1 Die allgemeinere These: Das Fühlen des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung ist eine notwendige Bedingung für alles aktive Bewusstsein
7.2 Die speziellere These: In einem Modus des aktiven Wachseins wach zu sein, ist eine notwendige Bedingung für absichtliches Bewussthaben
8 Mehr oder weniger aktiv wach sein
8.1 Mehr oder weniger wach sein innerhalb eines Modus aktiven Wachseins
8.2 Ob es wachere und weniger wache Modi des aktiven Wachseins gibt. Der Übergang von einem aktiven Modus in einen anderen
9 Aktives Wachsein, Selbstbewusstsein und Freiheit
10 Die Phänomene der Passivität in der Aktivität und die Modi des aktiven Wachseins
IV. Wachsein und Subjektivität
1 Die Gefühle des Wachseins und die Lebenswelt
2 Husserls Konzeption von Wachsein und Aufwachen
3 Subjektivität, Wachsein und Identität der Person
4 Metamorphosen der Subjektivität
5 Aufwachen als Befreiung, Einschlafen als Bindung. Zur philosophischen Bedeutung des Wachseins
Bibliographie
Personenregister
Sachregister
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Wachsein: Ein phänomenologischer Versuch
 9783495808023, 9783495487228

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Rudolf Ruzicka

Wachsein Ein phnomenologischer Versuch

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495808023

.

B

Rudolf Ruzicka Wachsein

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Wachsein ist in der abendländischen Philosophie ein Randthema. In psychologischem und medizinischem Kontext ist das Wachsein meist nur Thema in der Perspektive der dritten Person: Man beschreibt, wie sich andere verhalten, wenn sie wach sind. Dieses Buch hält sich an die Perspektive der ersten Person. Es geht um das subjektive Erleben, darum, wie es für mich ist, wach zu sein. Das ist uns vertraut und gerade deswegen fremd und unbefragt. Zumeist hintergründig bewusst, wird es erst explizit, wenn das Erleben gestört wird. Im Zentrum steht die These, es fühle sich irgendwie an, wach zu sein. Wachsein bestehe in unterschiedlichen Gefühlen bestimmter Struktur, die man als »Selbstgefühle« bezeichnen kann, weil ich in ihnen in strengerem Sinn auf mich bezogen bin als in anderen Gefühlen. Eine Theorie der Emotionen, die auf Brentano und Meinong zurückgeht, nach der Gefühle Modifikationen von Strebungen sind, macht dies verständlich und zeigt, wie sich Gefühle des Wachseins von anderen Gefühlen unterscheiden. Die philosophische Bedeutung des Wachseins resultiert aus den Beziehungen zu einigen klassischen Problemen der Philosophie: zum Selbstbewusstsein, zur freien Entscheidung sowie zum Ursprung des Bewusstseins. Zudem bildet es das Medium, in dem uns etwas bewusst ist. Wir müssen nicht wissen, was Wachsein ist, um wach zu sein, aber dieses Wissen ist unverzichtbar für das Selbstverständnis von uns als Menschen.

Der Autor: Rudolf Ruzicka, geb. 1943 in Basel. Studierte Philosophie in Basel, Heidelberg, Köln und Berlin. Promotion 1973, dann Assistent am Philosophischen Seminar Basel. Lehrte bis 2002 Philosophie am Gymnasium. Seither freischaffender Philosoph.

https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Rudolf Ruzicka

Wachsein Ein phänomenologischer Versuch

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48722-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80802-3

https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Für Marina

https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

I.

Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins .

35

1

Wachsein, ein problematischer Begriff . . . . . . . . . .

35

2

Übergangsphänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Aufwachen aus einem Traum: Wie weiß ich, ob der Wecker wirklich klingelt? . . . . . . . . . . . . . 2.2 Zusammenbruch und Wiederaufbau der Intentionalität – Einengung und Erweiterung des Bewusstseinsfeldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Etwas weckt etwas und lässt anderes einschlafen .

.

46

.

46

. .

67 81

3

Wachsein als Voraussetzung für bewusstes Erleben und als Bei-Bewusstsein-Sein . . . . . . . . . . . . . . . .

84

4

Betroffenheit als Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

5

Die Brentano-Meinong’sche Theorie der Gefühle . . . .

103

6

Pathisches Wachsein als Gefühl . . . . . . . . . . . . .

110

II.

Pathisches Wachsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

119

1

Der Taumel und die Angst vor seiner Wiederkehr . . . .

122

2

Die Weisen des Betroffenseins und die Modi pathischen Wachseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Empfindungen und Empfindnisse. Leibliches Wachsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Pathisches Wahrnehmen . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Pathisches Vergegenwärtigen . . . . . . . . . . . . 2.4 Pathisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Strebungen, Gefühle und Stimmungen . . . . . . .

140 143 150 156 162 179 7

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Inhalt

2.6 Träume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Die Modi des pathischen Wachseins. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

Pathisches Wachsein als notwendige Bedingung pathischen Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die allgemeinere These: Die Angst vor der Wiederkehr des Taumels ist eine notwendige Bedingung für pathisches Bewusstsein . . . . . . . 3.2 Die speziellere These: In jedem Modus des pathischen Wachseins wird das bewusst, was mich in der Weise betrifft, die für diesen Modus bestimmend ist . . . .

4

Gleichzeitiges unterschiedliches pathisches Wachsein . .

5

Quantitäten des pathischen Wachseins. Pathisches Aufwachen und Einschlafen . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Grade des Wachseins innerhalb eines Modus des pathischen Wachseins . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Wachere und weniger wachere Modi des pathischen Wachseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6

Pathisches Wachsein als Selbstbeziehung

III.

Aktives Wachsein

1 2 3

. . . . . . . . . . Vorläufiges zum aktiven Wachsein . Zum Begriff mentaler Aktivität . . . Mentales Wollen . . . . . . . . . . .

. . . .

5

209 213

214

221 227 231 233 240

. . . . . . . . 246 . . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

3.1 Der Begriff des mentalen Wollens 3.2 Aufwachen im prägnanten Sinn: Wie mentales Wollen aus dem pathischen Wachsein entsteht . . . 3.3 Bewusstseinsweisen und Aspekte beim mentalen Wollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Aktives Bewusstsein als Bewusstsein durch Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

187

257 258 260 267 267 271 287 290

Aktives Wachsein als Fühlen des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung . . . . . . . . . . . .

293

Modi des aktiven Wachseins . . . . . . . . . . . . 5.1 Das Wachsein im Stellungnehmen . . . . . . 5.2 Aufmerksamkeit im Allgemeinen . . . . . . . 5.3 Das Wachsein im absichtlichen Wahrnehmen

303 311 318 326

. . . .

8 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

. . . .

. . . .

Inhalt

5.4 Das Wachsein im absichtlichen Vergegenwärtigen . 5.5 Das Wachsein im absichtlichen Denken . . . . . . 5.6 Die Modi des aktiven Wachseins. Zusammenfassung

331 347 382

6

Die Beziehungen zwischen pathisch und aktiv Bewusstem

386

7

Aktives Wachsein als eine notwendige Bedingung aktiven Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Die allgemeinere These: Das Fühlen des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung ist eine notwendige Bedingung für alles aktive Bewusstsein . . 7.2 Die speziellere These: In einem Modus des aktiven Wachseins wach zu sein, ist eine notwendige Bedingung für absichtliches Bewussthaben . . . . .

396

398

403

Mehr oder weniger aktiv wach sein . . . . . . . . . . . 8.1 Mehr oder weniger wach sein innerhalb eines Modus aktiven Wachseins . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Ob es wachere und weniger wache Modi des aktiven Wachseins gibt. Der Übergang von einem aktiven Modus in einen anderen . . . . . . . . . . . . . .

415

9

Aktives Wachsein, Selbstbewusstsein und Freiheit . . . .

426

10

Die Phänomene der Passivität in der Aktivität und die Modi des aktiven Wachseins . . . . . . . . . . . . . . .

440

IV.

Wachsein und Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . .

447

1

Die Gefühle des Wachseins und die Lebenswelt

2

Husserls Konzeption von Wachsein und Aufwachen . . .

3

Subjektivität, Wachsein und Identität der Person

8

4 5

415

418

. . . . . 448 455

. . . . 468 Metamorphosen der Subjektivität . . . . . . . . . . . . 477 Aufwachen als Befreiung, Einschlafen als Bindung. Zur philosophischen Bedeutung des Wachseins . . . . .

Bibliographie

489

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

509 511

9 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Vorwort

Dieses Buch beruht auf Notizen, Entwürfen und Einzelstudien, deren Entstehung teilweise Jahre zurückliegt. Sie haben sich im Laufe der Zeit zu einem Ganzen zusammengefügt, wobei manches aufgenommen, anderes verworfen wurde. Was dabei herausgekommen ist, erhebt weder den Anspruch, alle Aspekte des Themas erfasst zu haben, noch eine in jeder Hinsicht ausgefeilte und ausgewiesene Theorie zu sein. Es ist ein Versuch aus dem Bemühen heraus, sich möglichst nahe an die Phänomene zu halten. Jenen, welche Vorarbeiten oder Teilstücke dieser Schrift im Laufe der Zeit gelesen und das Unternehmen durch Kritik oder Ratschläge gefördert haben, möchte ich ganz herzlich danken. Dazu gehören Emil Anghern, Yves Bossart, Andreas Hamburger, Iso Kern und Eduard Marbach. Besonders danke ich Jürgen Mohr für die kritische Durchsicht des ganzen Manuskripts. Basel, im Januar 2015

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https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Einleitung

Im Zentrum dieser Arbeit steht das Wachsein, am Rande auch sein Gegenteil, der Schlaf. Wie können Wachsein und Schlaf Thema der Philosophie sein? Im Philosophieren treten wir von den Selbstverständlichkeiten des alltäglichen Lebens zurück und machen sie zum Gegenstand unseres Nachdenkens. Wir gehen nicht mehr in unseren Tätigkeiten auf, sondern fragen, was wir da tun und wie uns das bewusst sei, womit wir immerzu beschäftigt sind. Was sind Wahrnehmen, Denken, Erkennen, Sprechen oder Handeln? Was sollen wir tun? Wie lassen sich Normen, wie wir miteinander umgehen sollten, begründen? Das sind einige traditionell philosophische Fragen. Von ihnen unterscheidet sich die Frage, wie es ist, wach zu sein, in mehrerer Hinsicht. In den zuerst genannten Fragen geht es um ein Verstehen, was Wahrnehmen, Denken, Erkennen oder Handeln sind. Wir halten sie gewöhnlich für zielgerichtete Tätigkeiten: Im Denken und Erkennen geht es vor allem um Wahrheit, im Sprechen um Mitteilung, im Handeln um Verwirklichung von Zwecken. Wach zu sein ist dagegen nicht Ziel einer Tätigkeit oder eines Wollens: Wir können nicht wach sein wollen, wir sind es immer schon, wenn uns überhaupt etwas bewusst ist. Darin gleicht das Wachsein dem Lebendigsein. Wir müssen immer schon wach sein, um bewusst erleben zu können. Man mag die Frage, wie es ist, wach zu sein, für grundlegender als die obgenannten philosophischen Fragen halten, weil sie sich nicht auf einzelne Fähigkeiten bezieht, die wir im Leben immer wieder aktualisieren, sondern auf etwas, das immer schon aktualisiert sein muss, wenn man solche Fähigkeiten ausübt. Wir müssen in einer Weise wach sein, dass wir denken, erkennen, sprechen oder handeln können. Aber dazu müssen wir nicht wissen, was Wachsein ist. Das bewusste Leben läuft gewöhnlich ohne dieses Wissen ab und wäre mit ihm kaum optimaler, aber unser Selbstverständnis von uns als Menschen bliebe ohne dieses unvollständig. 13 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Einleitung

Die Frage, was Erkennen sei, muss eine Antwort gefunden haben, wenn wir das Wachsein zum Gegenstand des Erkennens machen wollen. Ich gehe von einem phänomenologischen Verständnis des philosophischen Erkennens aus. Phänomenologisches Philosophieren beruht meiner Meinung nach auf der Forderung, aller Sinn sei letztlich durch den Verweis auf das, was erscheint, auszuweisen. Fragen wir danach, wie es ist, wach zu sein, so suchen wir diese Frage durch die Beschreibung von Erlebnissen zu beantworten, die jeder Mensch im eigenen Erleben auffinden und das so und so Beschriebene bestätigen oder widerlegen kann. Wachsein ist nicht unbewusst. Es ist uns irgendwie bewusst, dass wir wach sind. Aber das Wachsein bleibt, solange unser Bewusstseinsleben hindernisfrei verläuft, zumeist im Hintergrund. Erst wenn der normale Verlauf gestört wird und wir uns zu fragen beginnen, was da falsch gelaufen ist, stoßen wir darauf, dass uns nicht nur etwas bewusst ist, sondern dass wir dabei auch wach sind. Derart Hintergründiges reflexiv zum Thema zu machen, ist Aufgabe der Phänomenologie, indem sie das zum Phänomen macht, was normalerweise zwar erlebt ist, aber nicht eigens erscheint. Nehmen wir z. B. etwas wahr, sind wir thematisch auf den Gegenstand gerichtet. Dieser erscheint, und zwar erscheint er im Ablauf von Erscheinungen, die erlebt, aber nicht gegenständlich bewusst sind. Die Phänomenologie fragt nach den Strukturen, die das Wahrnehmen, aber auch andere Bewusstseinsweisen wie das Erinnern, Phantasieren, Urteilen, Fühlen oder Wollen auszeichnen. In ähnlicher Weise kann man nach Strukturen des Wachseins fragen, denn ob wir immer in gleicher Weise wach sind, ist keineswegs ausgemacht, und wenn es verschiedene Weisen gibt, wach zu sein, dann fragt sich, wie sie untereinander und mit dem zusammenhängen, was in ihnen bewusst ist. Erkenntnistheoretische Fragen sind philosophisch grundlegender als die Frage, wie es ist, wach zu sein. Andere philosophische Fragen sind diesen nachgeordnet, aber darum nicht bedeutungslos. Dies gilt auch für die Frage nach unserem Wachsein. Für uns Menschen ist es fraglos von Bedeutung, ob wir ein waches und bewusstes Leben führen oder bewusstlos dahinvegetieren. Für uns gehört es zu einem sinnvollen Leben, bewusst und damit wach zu sein. Einem Menschen, der ein Leben ganz ohne Perioden des Wachseins leben muss, wünschen wir den Tod, weil es uns besser scheint zu sterben, als in dieser Weise zu leben. Das ist natürlich aus einer menschlichen Perspektive gesagt. Zu einem sinnvollen menschlichen Leben gehört die ganze 14 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Einleitung

Palette menschlichen Wachseins. Ein einzelner Mensch muss nicht und kann nicht alles erleben, was einem Menschen zu erleben möglich ist. Aber wenn auch nur eine Weise wach zu sein ausfällt, wenn jemand z. B. in keiner Weise seine Umwelt wahrnehmen kann oder einfachste Zusammenhänge nicht denken kann, halten wir ihn für schwer beeinträchtigt. Wach zu sein dünkt uns für gewöhnlich so selbstverständlich wie Atmen oder Gehen. Wir sind es, wenn wir es sind, und bedürfen keiner Theorie und Philosophie, um es zu werden. Sind wir wach, beschäftigt uns vielerlei, zu dem das Wachsein selbst gewöhnlich nicht gehört, aber dieses andere kann uns nur beschäftigen, wenn wir wach sind. Wach zu sein, so scheint es, bildet eine notwendige Bedingung bewussten Erlebens. Könnten wir nicht wach sein, befänden wir uns in einem dauernden Tiefschlaf, von dem nicht zu sagen wäre, wodurch er sich von gänzlichem Nichtsein unterscheidet. Ob wir wach sein können oder nicht, ist für uns keinesfalls belanglos, und doch wird es kaum zum Thema, was weiter nicht verwundert, weil die Selbstverständlichkeit, mit der wir wach sind, tiefer gründet als andere. Könnten wir weder wahrnehmen noch handeln noch denken und sprechen, wären wir blind, taub, stumm und stockdumm, hätten wir doch noch Empfindungen, Gefühle und Träume. Wären wir in keiner Weise mehr wach, versänken wir in dunkelster Dunkelheit. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir etwas hinnehmen, scheint mit dem Grad seiner Notwendigkeit zu korrelieren. Ohne ein Minimum an Wachsein gibt es kein bewusstes Erleben und gänzlich nicht wach zu sein, dünkt uns Lebendigen so unvorstellbar wie der eigene Tod. Ist die alltägliche Erfahrung, dass wir nur bewusst erleben können, wenn wir wach sind, in irgendeiner Art philosophisch relevant? Wenn man Philosophie als ein Unternehmen versteht, das nach den letzten Voraussetzungen unseres alltäglichen Lebens fragt, wird man nicht herumkommen, diese Frage zu bejahen. Wenn wir fragen, wie bewusstes Leben überhaupt möglich sei, was seine letzten Ursprünge sind, so stoßen wir unweigerlich darauf, dass wir wach sein müssen, damit wir etwas bewusst erleben können. Damit wissen wir noch nicht, wie es ist, wach zu sein, auch nicht, wie wir aufwachen können und wie es zu bewusstem Erleben kommt, wenn wir wach sind. Wenn das Wachsein bewusstes Erleben erst ermöglicht, stellt sich natürlich auch die Frage nach seinem Ursprung. Wer solche Fragen stellt, muss sich bemühen, bevor er nach Ant15 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Einleitung

worten sucht, sich darüber klar zu werden, in welchem Sinn solches Fragen gemeint sein kann. Gefragt wird in einem philosophischen, nicht in einem wissenschaftlichen Sinne. Es geht nicht um die ersten Anfänge des je eigenen bewussten Erlebens als dem Erleben dieser bestimmten Person, die ich bin; auch nicht um die Ursprünge bewussten Erlebens anderer Personen, indem wir sie nach den ersten Anfängen ihres bewussten Erlebens befragen oder ihr Verhalten beobachten. Das sind psychologische Fragen. Wir fragen auch nicht wie Hirnforscher nach physischen Bedingungen des bewussten Erlebens oder wie Evolutionstheoretiker nach den Ursprüngen bewussten Erlebens in der Entwicklung der menschlichen Gattung. Stellen wir die Fragen, was Wachsein sei und wie es entstehe, philosophisch, so müssen wir von allen wissenschaftlichen Theorien absehen, auch von allen Voraussetzungen wissenschaftlicher oder lebensweltlicher Art. Dazu gehören Selbstverständlichkeiten, wie der Glaube, dass wir selbst existieren und dass es um uns eine Umwelt und in uns eine Innenwelt gibt. Solche selbstverständlichen Urteile dürfen wir nicht mitmachen, wenn das philosophische Beginnen radikal sein soll. Derart radikales Philosophieren findet sich in der Tradition der phänomenologischen Philosophie, auf die ich mich immer wieder beziehe. Ihr gemäß dürfen wir weder die Selbstverständlichkeiten des alltäglichen Lebens noch die Ergebnisse der Wissenschaften als gegeben voraussetzen, denn es gehört zum Selbstverständnis phänomenologischen Philosophierens, die Grundlagen alltäglichen und wissenschaftlichen Erfahrens und Denkens zu erforschen und zu rechtfertigen. Darum Husserls Forderung, der Phänomenologe müsse »Epoché« üben, d. h. sich aller vorausgesetzten Urteile enthalten und das Vorgegebene auf das »reine Bewusstsein« 1 bzw. auf das Phänomen als das »Sich-an-sich-selbst-zeigende« 2 reduzieren. Schließen wir uns Husserl an, so ist es Aufgabe der Phänomenologie, das Bewusstsein beschreibend zu erfassen, was auch für das Wachsein gilt, denn auch dieses ist bewusst erlebt. Wie alles bewusste Erleben ist uns auch das Wachsein aus zwei Perspektiven zugänglich. Zum einen aus der Innenperspektive (sprachlich der Perspektive der ersten Person), in der wir uns selbst

E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Husserliana (Hua) III/1, § 50. 2 M. Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1963, S. 28. 1

16 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Einleitung

als wach erleben, zum anderen aus der Außenperspektive (der Perspektive der dritten Person), in der es um die Erfahrung geht, ob und wie andere Personen wach sind. Wir werden uns bei der Untersuchung des Wachseins an die Perspektive der ersten Person halten, weil das die Perspektive ist, aus der heraus wir leben, Wissenschaft betreiben und Philosophieren. Ob ein Organismus aus der Perspektive der dritten Person wach ist, lässt sich an einer Reihe von Merkmalen leicht erkennen: Die Augen sind offen, der Muskeltonus ist groß genug, um Bewegungen zu ermöglichen. Wir können die Bewegungen der Augen, des Kopfes und des übrigen Körpers beobachten, während der Organismus auf verschiedene Reize reagiert. 3 Versteht man das Wachsein als Fähigkeit wahrzunehmen, sich zu bewegen und zielgerichtet zu verhalten, so kann man darin ein Kriterium dafür sehen, ob jemand anderer wach ist. Die Frage, worin es (für jede und jeden) besteht, selbst wach zu sein, ist damit nicht beantwortet. Die Beschreibung, wie sich jemand verhält, wenn er mehr oder weniger oder in verschiedener Weise wach ist, und wie sich das in Mimik und Gestik ausdrückt, ist eines, wie wir es selbst erleben, ein anderes. Das eigene Erleben des Wachseins bildet das Thema, das im Zentrum dieser Arbeit steht. Wenn man sich darauf besinnt, wie es ist, wach zu sein, kommt einem meist das in die Quere, was uns momentan gegenständlich bewusst ist. Wir sind kaum je wach, ohne etwas bewusst zu haben. Solche rein wachen Zustände sind vielleicht nur durch strikte Anwendung meditativer Techniken zu erreichen. Sollte so etwas gelingen, müssen wir es als einen Ausnahmezustand ansehen, denn normalerweise ist unser Wachsein nicht ohne Beziehung auf das, was wir erleben. Normalerweise sind wir dem zugewendet, was uns thematisch beschäftigt, dass wir dabei wach sind, bleibt meist im Hintergrund und wird von dem überdeckt, was gegenständlich bewusst ist. Es bedarf einer eigenen Wendung der Aufmerksamkeit auf das, was am Rande des bewussten Erlebens sich abspielt und nur in Ausnahmefällen in den Vordergrund rückt. Dazu gehören Störungen des geregelten Erfahrens sowie Fälle von Unfähigkeit und Misslingen. Spätestens dann werden wir dazu gezwungen, unsere Aufmerksamkeit dem eigenen Wachsein zuzuwenden. Wenn ich das Wachsein, so wie es erscheint, und damit als PhäA. R. Damasio: Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, Berlin 2004, S. 109.

3

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Einleitung

nomen, zum Thema machen möchte, stoßen wir auf eine in der einschlägigen phänomenologischen Literatur (und bei ihren Kritikern) immer wieder bedachte (und beklagte) Problematik, nämlich wie es möglich sei, das Erleben im phänomenologischen Sinn in objektiver und allgemeingültiger Weise zu erfassen, denn unmittelbar zugänglich ist jedem nur das, was er selbst erlebt in seiner Singularität und Einmaligkeit. Was so nur subjektiv zugänglich ist, mag jedem anders erscheinen und gilt denn auch in seinem Erkenntniswert als nur subjektiv. Nennen wir eine Erkenntnis objektiv, wenn sie von einem Standpunkt aus erfolgt, »der von der inneren Konstitution dieses oder jenes erkennenden Wesens oder der Spezies, der es angehört, unabhängig ist« 4, dann kann ein Erkennen von einem subjektiven Standpunkt aus von vorneherein nicht objektiv sein. Eine in diesem Sinn objektive Weltbeschreibung kann nichts von dem enthalten, was zum eigenen subjektiven Erleben gehört. Die Konsequenz einer solchen Beschränkung des Wirklichen auf streng objektiv Erfassbares, wäre eine lebensferne metaphysische Position, in der für uns selbst kein Platz mehr ist. Gehen wir von der Unterscheidung dieser beiden Perspektiven aus, so ist damit noch nicht ausgemacht, ob das in der subjektiven Perspektive Gegebene nicht doch in einem gewissen Sinne objektiv erkannt werden könne, nämlich im Sinne einer Intersubjektivität, der es darum geht, das Gemeinsame unterschiedlicher Perspektiven herauszuarbeiten. So können mehrere Menschen denselben Gegenstand aus einer je anderen Perspektive sehen und doch zu übereinstimmenden Aussagen über ihn kommen. Allerdings ist das subjektive Erleben, wie es die Phänomenologen zum Thema machen, in einem stärkeren Sinne subjektiv als das in äußerer Wahrnehmung Gegebene. Während ein wahrgenommener Gegenstand demselben Subjekt in unterschiedlichen Erscheinungen erscheint und sich in diesen als invariant durchhält und darum als objektiv gilt, erscheinen die Erscheinungen nicht wieder. Insofern sind sie ein Letztes, in dem sich das Bewusstsein eines objektiven Gegenstands konstituiert. Gewöhnlich achten wir nicht darauf, wie uns Personen und Dinge erscheinen. Wir sehen Menschen in Häuser hineingehen und herauskommen, durch die Straßen flanieren und in Autos einsteigen usw.; dass uns dies aus unterschiedlichen Perspektiven so erscheint, wird zumeist nicht bewusst. Obschon diese Seherlebnisse subjektiv sind, 4

Th. Nagel: Der Blick von Nirgendwo, Frankfurt a. M. 1992, S. 27.

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Einleitung

lassen sich auch in ihnen gleiche Strukturen aufweisen, wenn auch anders als beim Wahrnehmen von Dingen. Dies gilt für alle Arten von Erlebnissen. So können wir z. B. Schmerzen unterscheiden und in verschiedene Typen einteilen, und dies kann nicht nur jeder für sich, auch intersubjektiv bewähren sich solche Differenzierungen, wie Gespräche über Schmerzen in medizinischem Kontext zeigen. So wie ich und andere gleichartige (z. B. klopfende) Zahnschmerzen haben können, so können mehrere Menschen Seherlebnisse, Erinnerungserlebnisse oder Gefühlserlebnisse haben, die gleichartig sind, sei es, weil sie gleiche phänomenale Qualitäten aufweisen oder gleiche Struktureigenschaften, d. h. gleichartige Beziehungen zwischen ihren Teilen. So eignet z. B. der Freude eine bestimmte Gefühlsqualität, die auf einen intentionalen Gegenstand bzw. Sachverhalt bezogen ist (wir freuen uns über etwas), oder eine Erinnerung ist immer als vergangen charakterisiert, Phantasiertes als möglich seiend usw. Die Rede von einer »subjektiven Perspektive« meint nicht, dass das in dieser Perspektive Gegebene nur die eigene Person etwas angehe und nur für sie Gültigkeit hätte. Es ist die Perspektive, aus der heraus jedes beliebige menschliche Subjekt etwas bewusst erlebt. Was in ihr gegeben ist, ist auf das Erscheinen reduziert, auf das, was sich von sich her zeigt. Wie wissen wir, dass wir wach sind und wie wir es sind? Wie wissen wir überhaupt von unserer »Innenwelt«, von dem, was uns in subjektiver Perspektive gegeben ist? Eine Antwort, die immer wieder auf diese Frage gegeben wurde, lautet: durch Introspektion. Wir blicken gleichsam in uns hinein, es ist ein Sehen, das gewiss metaphorisch gemeint ist. So wie wir die Dinge um uns herum sehen können, so können wir in uns hinein sehen und finden da innere Gegenständlichkeiten, die wir wie äußere beschreiben können. Das ist natürlich schon darum falsch, weil der Begriff einer Innenwelt den einer Außenwelt voraussetzt und damit Urteile über die Existenz der Welt, die wir als Phänomenologen doch gerade ausschalten sollten. Dahinter steht auch die Überzeugung, dass alles, was uns direkt, nicht durch Vermittlung eines anderen Bewusstseins bewusst ist, wahrgenommen sein müsse. Auch Husserl hing anfänglich dieser Meinung an und glaubte, wir wüssten durch »immanente Wahrnehmung«, die er zudem für evident hielt, von unserem Bewusstsein. Andere Autoren haben die Unzuverlässigkeit dieser Wahrnehmung beklagt, und noch andere hielten sie für unmöglich. Dazu nur soviel: Unsere inneren Zustände und Vorgänge sind bewusst, aber nicht, weil sie wahr19 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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genommen werden, denn dann gälte dasselbe auch für diese Wahrnehmung, auch sie wäre nur bewusst durch eine weitere Wahrnehmung usw. Sie sind bewusst, aber nicht Gegenstand eines anderen, weiteren Bewusstseinserlebnisses, wir sind ihrer inne, ohne sie zum Gegenstand einer Reflexion zu machen. Sartre nannte das ein »präreflexives cogito«, Husserl sprach von einem »Urbewusstsein« als einem Moment des inneren Zeitbewusstseins, das selbst ein Letztes ist. 5 Dieses macht eine Reflexion und damit eine Vergegenständlichung des Bewusstseins möglich. Diese Vergegenständlichung ist kein Wahrnehmen, sondern eine Reflexion in der Erinnerung an das eben vergangene Bewusstseinsleben. 6 Wenn wir versuchen, ein Erlebnis zu erfassen, so verlassen wir die gewöhnliche »natürliche« Einstellung (Husserl), die wir Dingen und Menschen gegenüber einnehmen. Es bedarf eines eigenen Interesses, einer Wendung der Aufmerksamkeit auf solches, das zumeist unbemerkt im Hintergrund wirkt. Dabei kommt der Beschreibung und den dabei verwendeten Begriffen vorwiegend eine hinweisende Funktion zu. Es gilt das, was sich zeigt, in seinen allgemeinen Zügen zu erfassen. 7 Ob und inwieweit der Leser solcher Beschreibungen in ihnen sein eigenes Erleben wieder erkennt, muss ihm überlassen bleiben. Dem Phänomenologen geht es nicht um einzelne Erlebnisse bestimmter Menschen, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort leben oder gelebt haben, was nur von biographischem Interesse wäre, sondern um das Typische dieses Erlebens. 8 Was ich jeweils wirklich erlebe, ist nur Ausgangspunkt, um zu dem zu gelangen, was man erleben kann. Damit ist angedeutet, dass es nicht um das wirkliche, sondern um das mögliche Erleben des Menschseins geht. Im Unterschied zur Psychologie schließen wir nicht nur, ausgehend vom Erleben einzelner Menschen, auf das, was dem Erleben aller Menschen gemeinsam ist, sondern fragen, was Menschen überhaupt erleben können, also nach den Erlebensmöglichkeiten des Menschseins. Damit sind nicht bloße Denkmöglichkeiten gemeint, Dazu: M. Sommer: Lebenswelt und Zeitbewusstsein, Frankfurt a. M. 1990, S. 151 ff. Vgl. dazu Hua X, Beilage IX: Urbewusstsein und die Möglichkeit der Reflexion. 7 Vgl. H. Kunz: Über den Sinn und die Grenzen des psychologischen Erkennens. In: Sinn und Wesen des erfahrenden Erkennens. Gesammelte Schriften in Einzelausgaben, Bd. 3, Frauenfeld, Stuttgart, Wien 2009, S. 161. 8 Davon handelt der ganze Themenkomplex der phänomenologischen und eidetischen Reduktion bei Husserl. Siehe dazu die Übersicht in: R. Bernet, I. Kern, E. Marbach: Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens, Hamburg 1996, 2. Kapitel. 5 6

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sondern solche, die sich aus den Verwirklichungen in konkreten Menschen erschließen lassen. 9 Um festzustellen, ob etwas in diesem Sinne möglich ist, genügt eine einzige Verwirklichung. Was menschenmöglich ist, muss nicht auf alle Menschen zutreffen, es mag Möglichkeiten geben, die manche Individuen nie verwirklichen. Dennoch gehören auch sie zu den Möglichkeiten des Menschseins und damit zu denen eines jeden Menschen, auch wenn die Bedingungen ihrer Verwirklichung nicht gegeben sind. Das Bemühen, Erlebnisse zu erfassen, zielt nicht auf das faktische Erleben bestimmter Individuen, sondern auf Erlebnismöglichkeiten. Dazu gehört auch das Wachsein. Dies ist allerdings eine Möglichkeit, die mit Ausnahme komatöser Patienten 10 in allen Menschen verwirklicht ist, wenn auch vielleicht nicht in allen seinen Facetten. Sind wir wach, können wir empfinden, wahrnehmen, erinnern, phantasieren, denken, uns willkürlich bewegen, sprechen, zielgerichtet handeln usw. »Können« heißt hier soviel wie: Wir verstehen uns darauf, im aktuellen Vollzug solcher Erlebnisse zu leben. Wäre das Wachsein nichts weiter als die Aktualisierung solchen Könnens, bestünde sein Begriff in einer Konjunktion der Begriffe solchen Könnens. »Können« kann in diesem Zusammenhang allerdings auch in einem anderen Sinne gemeint sein, nämlich als Disposition zu etwas. In diesem Sinne ist es vom Wahrnehmen und Denken unterschieden, in denen es realisiert ist. »Ich kann wahrnehmen« meint dann: Normalerweise kann ich wahrnehmen, aber unter gewissen Bedingungen kann ich es nicht, z. B. wenn ich schlafe. Gewöhnlich halten wir das Wachsein für eine Voraussetzung bewussten Erlebens und meinen, wenn wir wach sind (oder genügend wach oder in bestimmter Weise wach), dann können wir dieses oder jenes. Auch da ist zu fragen, in welchem Sinne das gemeint sein kann, und wie das möglich sein soll. Wenn wir wach sind, ist uns hintergründig bewusst, dass wir es sind. Aber dies ist kein propositionales Bewusstsein, kein Wissen, dass ich wach bin. Wach zu sein scheint eine Art Bewusstsein zu sein, das sich von allem sonstigen bewussten Erleben unterscheidet. Es ist weder ein Empfinden noch ein Wahrnehmen oder Denken. Am ehesten scheint es dem Fühlen nahe zu stehen, wie es zum Ausdruck kommt, wenn jemand sagt: »Ich fühle mich wach«. Aber wenn es ein Gefühl ist (oder ein gefühlter Zustand), was für ein Gefühl (oder Zustand) ist 9 10

Ich folge damit einem Gedanken von Hans Kunz. Siehe Kunz, a. a. O., S. 165 ff. Zu Komapatienten siehe Damasio, a. a. O., S. 285.

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es dann und wie verhält es sich zu anderen Gefühlen? Gibt es nur ein Gefühl wach zu sein oder mehrere, die sich unterscheiden, so dass man von verschiedenen Qualitäten des Wachseins sprechen muss. Doch wenn es verschiedene Weisen gibt, wach zu sein, wie verträgt sich das mit der Vorstellung, dass wir wacher und weniger wach sein können? Hinzu kommt, dass das Wachsein in einer Weise verfasst ist, die uns sagen lässt, es sei ein eigener Zustand, der da gefühlt wird. Soweit ich überhaupt merklich wach bin, fühle ich in gewisser Weise mich selbst, wenn ich wach bin. Bin ich wach, bin ich mir bewusst, Subjekt zu sein, sei es, weil ich mich von etwas betroffen fühle, das mir geschieht, sei es, dass ich fühle, Urheber eines bewussten Erlebens zu sein. Es ist zu fragen, wie so etwas möglich sei und wie es sich mit dem Gedanken verträgt, wach zu sein sei eine Voraussetzung bewussten Erlebens. Wachsein als eine Art Selbstbewusstsein bzw. umgekehrt, Selbstbewusstsein als ein Aspekt des Wachseins zu verstehen, ist vielleicht der philosophisch interessanteste und fruchtbarste Gedanke dieser Arbeit. Auf der Landkarte der philosophischen Literatur bildet das Wachsein weitgehend einen unthematisierten weißen Fleck. 11 Außer gelegentlichen aphoristischen Äußerungen findet man allenfalls beiläufige Erwähnungen, in denen es zumeist als selbstverständliche Voraussetzung unseres bewussten Erlebens gilt, ohne dass ihm eine philosophische Bedeutung beigemessen würde. In dieser Arbeit geht es mir in erster Linie darum zu erörtern, was wir sinnvollerweise unter Wachsein verstehen können, in zweiter Linie aber auch um die Frage, welche philosophische Bedeutung dem Wachsein zukommt. Was den ersten Problemkreis betrifft, so versuche ich ausgehend von der gegenwärtigen psychologischen und philosophischen Literatur einem Verständnis des Wachseins näher zu kommen. Dabei hat es sich als hilfreich erwiesen, verwandte Phänomene aufzusuchen. Dazu gehören zunächst das Einschlafen und Aufwachen als Erfahrungen, die jedem vertraut sind. Trotz (oder wegen) dieser Vertrautheit sind sie jedoch schwer zugänglich, wir müssen uns darum auch Phänomenen zuwenden, wie dem Übergang vom Traum und Tagtraum ins Wahrnehmen und strukturell Ähnlichem, das bei Störungen des normalen Wahrnehmungsverlaufs auftreten kann. Dazu gehören der Schreck, die Überraschung, der Übergang vom Wahrnehmen ins bloVgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. J. Ritter / K. H. Gründer, Art. »Wachen, das«, Bd. 12 (2004), Sp. 1–6.

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ße Empfinden, das Auftreten starker Schmerzen oder überwältigender Affekte. Das sind Übergänge in Zustände intensiven Betroffenseins und Übergänge zwischen zwei Bewusstseinsfeldern, die sich gegenseitig ausschließen. Dabei erweist sich besonders das Erschrecken als lehrreich: Wir erschrecken, wenn etwas gänzlich Unerwartetes auftritt. Dann wissen wir für kurze Zeit nicht, womit wir es zu tun haben, die Auffassungen fallen aus, die Intentionalität bricht für Momente zusammen, setzt aber wieder ein, sobald sich aufgeklärt hat, was uns so erschreckt hat. Man möchte sagen, die wahrnehmende Intentionalität schläft für Momente ein und wacht wieder auf. Sagen wir von einer Person, sie sei wach, so kann das heißen: Sie übt aktuell eine Fähigkeit aus, sie nimmt z. B. etwas wahr, urteilt oder klopft Steine. Es kann aber auch heißen, sie kann eine Fähigkeit ausüben. In diesem Sinne sind wir wach, wenn wir eine Fähigkeit aktualisieren können. Das Wachsein wird dann als eine Bedingung für solche Aktualisierungen verstanden. Denken wir an Fähigkeiten, die bewusst erlebt sind, so kommen wir zu zwei Begriffen des Wachseins: Wachsein als Bei-Bewusstsein-Sein und Wachsein als Voraussetzung für bewusstes Erleben. Wir sind wach, wenn uns etwas wahrnehmend, vorstellend oder urteilend bewusst ist, aber auch schon, wenn wir dazu bereit sind. Diese Bereitschaft ist mehr als bloße Betriebsbereitschaft, die sich erst im Ausüben der Fähigkeit kundgibt. Wir fühlen auch, dass wir zu etwas bereit sind. Wir sind nicht nur wach, sondern fühlen uns wach. Dies gilt für beide Begriffe des Wachseins. Sind wir wach im Sinne des Bei-Bewusstsein-Seins, nehmen wir etwas wahr oder haben Schmerzen oder fällt uns etwas ein, so erleiden wir etwas, wir sind von etwas betroffen. In diesem Betroffensein ist uns etwas bewusst, das uns betrifft. Wir fühlen uns aber auch betroffen, und dieses Gefühl des Betroffenwerdens ist ein Wachsein im Sinne des Bei-Bewusstsein-Seins. Es ist ein Wachsein, weil es noch anderes Wachsein in diesem Sinne gibt, nämlich solches, in dem wir uns nicht betroffen, nicht etwas erleidend, sondern uns tätig fühlen, wie es der Fall ist, wenn wir willentlich Bewusstseinsakte vollziehen. Wir müssen ein pathisches Bewussthaben von einem aktiven unterscheiden und entsprechend ein pathisches Wachsein von einem aktiven. Auch das Wachsein im Sinne der Bereitschaft zu bewusstem Erleben ist ein Gefühl, in dem wir uns zu solchem Erleben bereit fühlen. Die Behauptung, wach zu sein bestehe in einem Gefühl, bedeutet nicht, dass es nur ein Gefühl des Wachseins gebe; man muss sich vielmehr mit dem Gedanken vertraut machen, dass wir uns in 23 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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unterschiedlicher Weise wach fühlen, was nicht ohne Belang für die Funktionen des Wachseins sein dürfte. Wollen wir die These, wach zu sein bestehe in Gefühlen, weiter verfolgen, müssen wir die Gefühle ausmachen, die stets mit dem Einschlafen und Aufwachen verbunden auftreten, wie auch dann, wenn wir etwas bewusst erleben oder dazu bereit sind. Nicht alle Gefühle sind solche, in denen wir uns hellwach, dösig oder schläfrig fühlen, und nicht in allen fühlen wir uns bereit, etwas zu erleiden oder mentale Fähigkeiten auszuüben. Es ist anzunehmen, dass Gefühle, in denen wir uns wach fühlen, sich von anderen Gefühlen unterscheiden. Eine genauere Bestimmung des Wach-Fühlens setzt einen dafür geeigneten Begriff des Gefühls voraus, von dem her sich die unterschiedlichen Phänomene des Wachfühlens besser verstehen lassen. Was nun einen solchen Begriff des Gefühls angeht, der sich für das Verständnis der Gefühle des Wachseins als fruchtbar erweisen könnte, so stütze ich mich auf eine Theorie der Gefühle, die auf Brentano und Meinong zurückgeht. Nach dieser Theorie lässt sich ein Gefühl auf ein Streben nach etwas und auf ein Urteilen darüber zurückführen, ob das Ziel des Strebens erreicht oder nicht zu erreichen ist oder ob es wahrscheinlich zu erreichen oder wahrscheinlich nicht zu erreichen sei. Im ersten Fall entsteht ein Gefühl der Befriedigung, im zweiten eines der Frustration, im dritten eines der Hoffnung auf Befriedigung, im vierten eines der Furcht vor Frustration. Die Urteile, die dabei mitspielen, sind nicht explizit, sondern implizit im Gefühl enthalten. Nicht alle Gefühle lassen sich auf diese Weise analysieren, aber wenigstens solche, welche Urteile zur Voraussetzung haben. Meinong hat sie »Urteilsgefühle« genannt. Dazu gehören auch die Gefühle des Wachseins, auch wenn sie besondere Urteilsgefühle sind, die sich von anderen unterscheiden. Von diesem Verständnis von Gefühlen ausgehend finden wir im Wachsein als Bei-Bewusstsein-Sein sowohl frustrierende als auch befriedigende Gefühle und im Wachsein als Bereitschaft zu bewusstem Erleben Gefühle der Furcht, nicht zu erlangen, was wir möchten, aber auch solche der Hoffnung, es zu erreichen. Frustrierende Gefühle des Wachseins entstehen, wenn wir etwas bewusst haben möchten, aber es gelingt uns nicht. Sie kommen aber auch ohne solches Bewussthaben-Wollen vor, nämlich dann, wenn uns etwas ohne unser Zutun geschieht. Das Erschrecken ist dafür nur ein extremes Beispiel, andere mentale Ereignisse kommen leiser daher, aber doch so, dass uns etwas widerfährt, sei es eine Ohrwurmmelodie, die wir nicht loswerden, ein 24 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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überraschender Einfall oder eine Stimmung, die uns überkommt. Gefühle sind bekanntlich Musterbeispiele des Pathischen, man denke nur an Angst, die uns packt oder Wut, die uns mit sich reißt. Alle diese Weisen pathischen Bewusstseins sind bewusst erlebt, in ihnen sind wir wach im Sinne des Bei-Bewusstsein-Seins, und das fühlen wir in einem Gefühl der Ohnmächtigkeit, des Ausgeliefertseins, das diese Erlebnisse begleitet. Wir fühlen uns von etwas betroffen, zumindest ausgeliefert an etwas. Das gilt selbst für Zustände des Tagträumens und nicht zuletzt für den Schlaftraum. Wenn wir das Wachsein vom Wach-Fühlen her angehen, verändert sich unsere Perspektive darauf. Gewöhnlich sind wir der Meinung, wir seien in den hellsten Momenten unseres Bewusstseinslebens hellwach, nämlich dann, wenn wir tätig in es eingreifen, seinen Verlauf lenken und kontrollieren oder Inhalte tätig zur Erscheinung bringen. Dazu gibt es Abstufungen: Wir fühlen uns weniger wach, wenn die Aktivität nachlässt. Die pathischen Weisen, wach zu sein, gelten gewöhnlich als Privationen des Hellwachen und damit als defiziente Formen des Wachseins. Gehen wir vom Sich-wach-Fühlen aus, gibt es nicht nur eine Weise, wach zu sein, die in unterschiedlichen Graden vorkommt, wir sind auch in unterschiedlichen Qualitäten wach. Ein pathisches, erleidendes Wachsein tritt neben das aktive, ohne dass damit eine Rangordnung verknüpft wäre. Nur soviel dürfte einstweilen feststehen: Das pathische Wachsein ist das ursprünglichere und primitivere, weil es das ist, das ganz von selber entsteht, während das aktive das pathische voraussetzt, auf ihm aufbaut und von uns gewollt ist. Wie steht es dann um das Wachsein im Sinne der Bereitschaft zu bewusstem Erleben? Was zunächst das pathische Wachsein betrifft, so geht es um eine Bereitschaft, von Widerfahrnissen betroffen zu werden. Versuchen wir auch dieses Wachsein als ein Urteilsgefühl zu deuten, dann kann es keine Frustration sein, wie das Bei-Bewusstsein-Sein, es muss sich um eine Art Angst handeln, dass uns etwas widerfährt. Wie wir in der Furcht vor einer Gefahr oder der Angst vor einer unbekannten Bedrohung in gespannter Weise auf das Bedrohliche bezogen sind, so kann man im pathischen Wachsein im Sinne der Bereitschaft, bewusst zu erleben, ein ähnliches Gespanntsein-auf ausmachen. Wir werden der Frage nachgehen müssen, wie weit diese Parallele reicht. Dann stellt sich die Frage, ob sich auch bei der aktiven Bereitschaft Ähnliches ausmachen lässt. Doch vordringlicher sind andere Fragen. Dazu gehören sicherlich die nach dem, was aktives 25 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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Wachsein sei und wie es entstehe, aber auch, was überhaupt mit Aktivität gemeint sein könne, und wie weit sie reiche. Wenn aktives Wachsein pathisches voraussetzt, werden wir wieder zur Frage zurückgewiesen, was pathisches Wachsein sei und wie es entstehe. Sie muss zuerst geklärt werden. Was die Frage nach dem Entstehen des Wachseins betrifft, wird man dabei vordringlich an Phänomene des Aufwachens denken. So wie uns beim morgendlichen Aufwachen etwas bewusst wird (oder wir von einer Weise, bewusst zu sein, in eine andere geraten), so oder ähnlich sind wir irgendwann, vermutlich schon im Mutterleib, aufgewacht. Eine Erinnerung an solche Vorzeiten ist nicht zu haben, wir müssen uns mit Rekonstruktionsversuchen begnügen. Wir nehmen an, das erstmalige Aufwachen unterscheide sich vom täglichen dadurch, nicht vielfach wiederholtes Aufwachen nochmals zu wiederholen, sondern eines zu sein, das noch keine Geschichte hinter sich hat. Wenn wir das Wachsein als ein Urteilsgefühl verstehen, dann entsteht es, wie jedes Urteilsgefühl, wenn ein Streben durch ein Urteilen darüber, ob sein Ziel erreicht oder nicht erreicht wird, sich in ein Gefühl wandelt. Denken wir an starkes Betroffensein, so kommt es zu einem Gefühl der Ohnmächtigkeit und des Ausgeliefertseins. Dann stellt sich die Frage, was für ein Streben diesem Gefühl des pathischen Wachseins zugrunde liegt. Ein Streben kann positiv oder negativ sein: Ich kann danach streben, dass etwas sei oder dass etwas nicht sei. Das Streben, das der Frustration durch das Betroffensein zugrunde liegt, dürfte eines sein, das darauf abzielt, nicht betroffen zu werden. Es ist ein Widerstreben gegen Widerfahrnisse. Zumindest Fälle starker Betroffenheit zeigen Betroffenheit als etwas, das wir nicht möchten. Sie bringen im Extrem zum Vorschein, was auch sonst, wenn auch in milderer Weise, der Fall sein dürfte. Auffallen muss dabei das Phänomen, dass wir uns betroffen fühlen, wenn dieses Streben frustriert wird. Das weckt die Vermutung, es gehe in diesem Streben in einer wesentlichen Weise um uns selbst und es sei eines, das nicht wie anderes in mir auftaucht, also nicht mich betrifft, sondern von mir ausgeht (was zunächst lediglich bedeutet, nicht von anderem auszugehen). Einmal auf diesen Weg geraten, sind die Konsequenzen zu bedenken und zu fragen, ob sie nicht in Widersprüche führen. Es zeichnet sich ab, dass etwas dann pathisch bewusst ist, wenn es mich betrifft. Aber damit wären die Fragen, warum und wie dadurch etwas bewusst wird, noch kaum berührt. Unklar und dringend einer Erklä26 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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rung bedürftig ist auch die Frage, wie ein Widerstreben gegen Widerfahrnisse entstehen kann, wenn Widerfahrnisse dadurch bewusst werden, dass sie ein solches Widerstreben frustrieren. Wenn sowohl das Bewusstsein dessen, was uns widerfährt, wie auch das des Widerfahrens (des Betroffenseins) ein solches Widerstreben voraussetzen, dann kann dieses nicht als Reaktion auf Erfahrungen von Betroffenheit erklärt werden, und so steht man vor der Frage, wie es denn sonst entstanden sein könne. Das pathische Wachsein im Sinne des Bei-Bewusstsein-Seins ist nicht nur mit einem Bewusstsein von dem verknüpft, was uns betrifft, sondern auch mit einem Selbstbewusstsein. In jedem Betroffensein fühle ich mich betroffen. Nicht erst das »ich denke« im Sinne einer Aktivität ist ein Selbstbewusstsein, sondern schon das »ich erleide«. Es gibt nicht nur ein aktives, sondern auch ein pathisches Selbstbewusstsein. Doch was ist damit gemeint? Bedeutet das mehr als der Umstand, dass ich mich frustriert fühle? Habe ich Lust, einen Apfel zu essen, und ist gerade keiner verfügbar, bin ich frustriert. Das Frustriertsein ist, wie jedes Erlebnis, von mir erlebt. Woher kommt dieser Bezug auf mich? Die klassische Antwort darauf lautet: durch Reflexion. In einem weiteren Erlebnis wird mir bewusst, dass ich denke, dass ich erlebe. Aber das ist nur möglich, wenn das Erlebnis, auf das ich reflektiere, schon als meines bewusst ist. Solches präreflexives cogito können wir bei pathischen Erlebnissen vom Betroffensein her verstehen: Wenn jedes pathische Erlebnis bewusst ist, weil ich mich betroffen fühle, ist jedes darum von mir erlebt, weil es gerade mich betrifft. Der Wunsch, einen Apfel zu essen, taucht auf, er ist pathischen Ursprungs. Er ist bewusst, indem er mich betrifft. Im Unterschied zu beliebigen Wünschen ist das Streben, nicht betroffen zu werden, eines, das von sich aus auf mich bezogen ist, denn es zielt auf einen eigenen künftigen Zustand, in dem ich einer sein werde, der nicht betroffen wird. Daher die Besonderheit dieses Strebens, welche darin besteht, dass ich mich betroffen fühle, wenn es frustriert wird. Damit ist eine Thematik berührt, die ebenfalls der Ausführung bedarf: der Unterschied der Gefühle des Wachseins von anderen Gefühlen. Hinsichtlich des aktiven Wachseins stellt sich die Frage, wie wir aus dem pathischen Wachsein zum aktivem aufwachen können, wenn wir annehmen, wir seien nur pathisch wach. Aktives Wachsein kann man zunächst negativ verstehen als ein nicht-pathisches Wachsein, und d. h. als eines, dem kein Geschehenscharakter zukommt. Das ist 27 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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vom pathischen Wachsein her gesehen ganz unverständlich, dieses kennt bewusstes Erleben nur als etwas, das ihm geschieht. Ich, der dies schreibt, und Sie, die dies lesen, wir sind auch aktiv wach und können von der einen Weise, wach zu sein, in die andere übergehen. Wir kennen beide Seiten. Daher müssen wir uns zuerst bemühen, aus einem Zustand aktiven Wachseins heraus, dieses aktive Wachsein deskriptiv zu erfassen, und können erst danach der Frage nachgehen, wie ein nur pathisch waches Subjekt zu aktivem Wachsein aufwachen kann. Mentale Aktivität lässt sich auf sehr verschiedene Weise verstehen: Man kann dabei an die Bewegung des Leibes denken, die beim Wahrnehmen immer aktiv ist, oder an die Aufmerksamkeit und damit wie Husserl die Aktivität in der Zuwendung sehen. Man kann sie auch auf die Denkbewegungen beschränken oder sie an ein mentales Tun binden und sagen: Erst wenn wir absichtlich etwas in Gang bringen, sind wir aktiv und aktiv wach. Ich neige zum Letzteren, weil nur so eine klare Abgrenzung zum Pathischen erreicht werden kann. Kinästhetische Bewegungen des Leibes können wie die Bewegungen der Aufmerksamkeit auch pathisch verlaufen, dies gilt auch für zusammenhängende Gedankengänge, man denke nur an Tagträume. Dagegen kann das, was wir aufgrund einer Absicht wollen, für die wir uns entschieden haben, nicht pathisch sein. Dies gilt nicht nur für Absichten des Handelns, sondern auch für solche, die sich auf etwas beziehen, das wir bewusst haben wollen. Dem Entscheiden kommt im Rahmen des aktiven Wachseins die Stellung zu, die im pathischen das Betroffensein einnimmt. Entscheiden wir uns innerhalb eines Spielraums von Möglichkeiten für eine, so fühlen wir uns von der Entscheidung nicht betroffen, wir erleben sie nicht als ein Geschehen, sondern als etwas, das durch uns ist. Wenn wir uns im pathischen Wachsein betroffen fühlen, so fühlen wir im Entscheiden, dass es durch uns ist und ohne unser Zutun nicht wäre. Ob dieses Gefühl zu Recht besteht, kann bekanntlich bezweifelt werden. Auch dies wird uns beschäftigen müssen. Aktives Bewusstsein entsteht, wenn wir etwas bewusst haben wollen. Ich will etwas erinnern oder phantasieren, ein Problem oder eine Gleichung lösen oder schlicht Zahlen zusammenzählen. In solchen Erlebnissen fühlen wir uns aktiv wach im Sinne des Bei-Bewusstsein-Seins, und so fragt sich, wie das zu verstehen sei. Nehmen wir auch dieses Gefühl, wie das des pathischen Wachseins, als ein Urteilsgefühl, so kann es sich um Befriedigung oder Frustration eines 28 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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Bewussthabenwollens handeln. Diese Gefühle beziehen sich nun nicht auf etwas, das uns geschieht, sondern auf ein eigenes Können und auf die Frage, ob es gelingt oder misslingt, das bewusst zu haben, was wir bewusst haben wollen. Dabei zerfällt das aktive Wachsein in zwei Teile: Wir müssen uns zuerst entscheiden, was wir bewusst haben wollen, und dann müssen wir uns bemühen, das Gewollte bewusst haben zu können. Es sind daher zwei Ziele und zwei Strebungen am Werk: Zuerst streben wir nach Entscheidung, und das kann schon gelingen oder misslingen, und dann wollen wir das, wofür wir uns entschieden haben, bewusst haben. Mit dem Bewussthabenwollen allein wird noch nichts bewusst, wir müssen auch das Können wollen, das notwendig ist, damit das bewusst wird, was wir bewusst haben wollen. Will ich eine Zahl durch eine andere dividieren, muss ich wissen, wie man das macht, und es machen wollen. Regelfolgen ist eine Art des Könnens, das wir je aktuell können müssen, wenn wir etwas bewusst haben wollen, das auf diese Weise bewusst wird. Gelingt es nicht, fehlt uns das erforderliche Können, oder wir können es nicht aktualisieren, d. h. wir sind nicht in der dazu gehörigen Weise wach. Man kann den Eindruck haben, wir seien im absichtlichen Regelfolgen am wachsten, aber schon wenn dieses sich automatisiert, fühlen wir uns nicht mehr im gleichen Maße wach. Kommt hinzu, dass längst nicht alles, was wir mental wollen, durch Regelfolgen zustande kommt. Denken wir nur an das Erinnern- oder Phantasierenwollen oder an problemlösendes Denken. Da gibt es kaum Regeln, höchstens Ratschläge, wie man das machen kann. Nicht selten geschieht es dabei, dass sich das Gewollte von selber einstellt. Dann steht man vor der Frage, ob das, was so bewusst geworden ist, aktiv oder pathisch bewusst ist. Für das Erste spricht, dass es das ist, was wir bewusst haben wollen, für das Zweite, dass es uns eingefallen ist. Aber wäre es uns auch eingefallen, ohne dass wir es bewusst haben wollten? Wenn wir das aktive Bewusstsein als ein Bewusstsein durch Entscheidung bestimmen und das Aufwachen als Übergang vom pathischen ins aktive Wachsein auffassen, so geraten wir in Gegensatz zur gewöhnlichen Meinung, die das Aufwachen mit dem Übergang vom Schlaf ins Wahrnehmungsbewusstsein gleichsetzt. Dabei bleibt unklar, wie wir den Schlaf phänomenologisch fassen können. Meist wird er negativ bestimmt durch Abwesenheit des Wahrnehmens und der willkürlichen Körperbewegungen. Der Schlaf gilt dann eigentlich als Schlaf des Leibes. Dass er bewusstlos sei, kann man schwerlich be29 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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haupten: Nicht selten träumen wir, oder es tauchen andersartige bewusste Erlebnisse auf. Obschon wir gewöhnlich der Meinung sind, wir seien wach, wenn wir bewusst erleben, nehmen wir den Traum von dieser Regel aus. Dafür gibt es wenigstens zwei Gründe: Wir können nur träumen, wenn der Leib schläft, und Wachen und Schlafen schließen sich aus. Letzteres ist verständlich, wenn wir mit »wach« wie gewöhnlich das aktive Wachsein meinen. Unterscheiden wir davon ein pathisches Wachsein, so können wir gleichzeitig pathisch und aktiv wach sein. Mit dem Schlaf des Leibes schläft auch das aktive Wachsein, und wir sind nur noch pathisch wach, während der Leib schläft. Wenn wir uns unseren methodischen Erwägungen gemäß ganz auf das subjektive Erleben beschränken, dann muss das Geträumte ebenso gut als ein bewusstes Erleben gelten wie das, was wir im Wachen erleben, was strukturelle Unterschiede zwischen beiden nicht ausschließt. Wir fühlen uns im Traum auf andere Weise betroffen als im bloß sinnlichen Wahrnehmen oder im spontanen Einfall einer Erinnerung oder eines Gedankens. Aber es gibt keinen Grund, das Geträumte aus dem Umfang des pathischen Wachseins auszuschließen. Wir müssen die Zäsur zwischen Schlafen und Wachen anders setzen. Entscheidend dafür wird nun der strukturelle Unterschied zwischen pathischem und aktivem Wachsein und zwischen pathisch und aktiv Bewusstem. Von diesem Gesichtspunkt aus ist das Geträumte ebenso pathisch bewusst wie bloß sinnlich Wahrgenommenes. Der einzig wirklich einschneidende Übergang bildet nicht das Einschlafen oder Aufwachen des Leibes, sondern der zwischen pathischem und aktivem Wachsein. Wenn wir uns ein Subjekt denken, das nur pathisch wach ist (und nie anders wach gewesen ist), so ist dieser Übergang nur schwer zu verstehen, denn wir dürfen der Versuchung, dem nur pathisch wachen Subjekt schon ein aktives Wachsein unterzuschieben, nicht nachgeben. Das Hauptproblem ist dabei: Wie kommt ein Subjekt, das nie entschieden hat, zu einem Bewusstsein von Möglichkeiten, zwischen denen zu entscheiden ist, und wie erlangt es die Fähigkeit, entscheiden zu können? Dieses Thema wird uns wiederholt beschäftigen. Wie eingangs bemerkt, müssen wir nicht wissen, was Wachsein ist, um wach zu sein. Dann stellt sich die Frage, wozu sonst ein solches Wissen gut sei. Besser leben können wir damit nicht, denn für alles, was wir wollen und tun, reicht es, entsprechend wach zu sein, und dies sind wir, auch ohne Wissen, wie wir es sein können. Wenn 30 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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wir dennoch nach dem Wesen des Wachseins fragen, dann aus einem Interesse an Selbsterkenntnis. Das ist bei anderen philosophischen Fragen nicht anders: Wenn wir wissen wollen, was Erkenntnis sei, so nicht, weil wir glauben, erst richtig erkennen zu können, wenn diese Frage geklärt ist, denn zumeist reicht die Fähigkeit, erkennen zu können, für unsere Bedürfnisse aus. Auch Logik treiben wir nicht, weil wir ohne sie nicht logisch denken könnten, und Sprachphilosophie nicht, weil dieses Wissen notwendig wäre, um sprechen zu können. All dies tun wir vordringlich, um uns selbst in unserem Menschsein besser kennen zu lernen. Insofern dürfen wir die Frage, wie es ist, wach zu sein, zu den typisch philosophischen Fragen zählen. Diese Arbeit gliedert sich in vier Teile. Im 1. Teil geht es darum, einen Boden zu gewinnen, von dem aus die Strukturen des Wachseins aufgewiesen werden können. Dies geschieht im Rückgang auf Phänomene, die sich auf das beziehen, was wir im alltäglichen Leben gewöhnlich unter Wachsein verstehen. Dies führt zum Gedanken, Wachsein sei ein Gefühl, wenn auch ein besonderes. Der 2. Teil handelt vom pathischen Wachsein. In ihm wird der Gedanke, Wachsein sei ein Gefühl, weiterentwickelt und das pathische Wachsein als Betroffenheit expliziert bzw. als Angst, betroffen zu werden. Dabei zeigt sich, dass verschiedene Weisen des Betroffenseins unterschieden werden müssen und damit auch verschiedene Weisen, pathisch wach zu sein. Tagträumend fühlen wir uns anders wach als in einem Wutausbruch oder wenn uns eine Ohrwurmmelodie tyrannisiert. Hinter solchen qualitativen Unterschieden verlieren die quantitativen an Bedeutung. Es fällt dann schwer zu beurteilen, ob wir in einer Weise, wach zu sein, wacher oder weniger wach sind als in einer anderen, weil eine durchgehende einheitliche Qualität des Wachseins nicht auszumachen ist. Der 3. Teil hat das aktive Wachsein zum Thema. Dieses ist vom pathischen her als ein Wachsein zu verstehen, das nicht an das Betroffenwerden gebunden ist. Wir erleiden nicht etwas, sondern entscheiden darüber, was wir bewusst haben wollen, und bringen es tätig zur Erscheinung. Dies entspricht einer gängigen Auffassung von aktivem Bewusstsein, die sich allerdings einige Korrekturen gefallen lassen muss. Ist das pathische Wachsein durch Betroffenheit, so ist das aktive durch Entscheidung, Wollen und Können bestimmt, auch wenn es uns in manchen Fällen schwer fällt, anzugeben, wie wir das machen, was wir da können. Ungeachtet dessen können wir auch in 31 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Einleitung

diesen Fällen etwas, und so lassen sich, entsprechend des jeweiligen Könnens, das erforderlich ist um etwas bewusst zu haben, verschiedene Weisen aktiven Wachseins unterscheiden. Genaue Angaben über dieses Können sind vor allem da möglich, wo das, was wir bewusst haben wollen, durch vorgegebene Regeln generiert wird. In jenen Fällen, in denen wir zwar etwas Bestimmtes bewusst haben wollen, aber nicht wissen, was wir dazu tun müssen, stellt sich nicht selten das Gesuchte von selber ein. Das fordert eine Erklärung und zeigt, dass wir den Begriff der mentalen Aktivität nicht zu eng fassen dürfen. Fällt uns ein, was wir bewusst haben wollen, so ist das kein pathisches Bewusstsein, denn etwas, das wir bewusst haben wollen, kann uns nicht betreffen, und doch haben wir es nicht aktiv erzeugt. An solchen Fällen wird deutlich, dass die Aktivität des aktiven Wachseins manchmal auf das Entscheiden beschränkt ist. Dieses ist bestimmend für das, was uns als aktives Wachsein gilt. Ihm fällt im aktiven Wachsein die Rolle zu, die im pathischen das Betroffensein einnimmt. Das eine erleide ich, das andere tue ich, zumindest fühlt sich das so an. In beiden sind wir unserer selbst bewusst, im einen als das, was betroffen wird, im anderen als das, was entscheidet. Im 4. Teil wird die Frage nach dem Verhältnis von Wachsein und Subjektivität aufgegriffen und nach verschiedenen Seiten hin durchleuchtet. Ein Subjekt kann seine Subjektfunktionen nur ausüben, wenn es entsprechend wach ist. Wach zu sein ist ein Zustand eines Subjekts. Wenn das Ausüben von Subjektfunktionen (das »Haben« von Erlebnissen) davon abhängt, in welcher Weise das Subjekt wach ist, so muss es immer wieder auf andere Weise wach werden bzw. gleichzeitig auf verschiedene Weise wach sein. Damit stellt sich die Frage, wie wir unter solchen Umständen noch eine einheitliche Person sein können. Wenn das Subjekt in wechselnden Wachheitszuständen lebt, wandelt es sich und bleibt doch dasselbe. Ich habe diese Wandlungen als »Metamorphosen des Subjekts« bezeichnet und dreierlei Metamorphosen unterschieden: eine durch Erfüllung, eine durch den Übergang von einem Modus des Wachseins in einen anderen, und eine durch Aufwachen und Einschlafen. Die letzte ist die bedeutendste, weil sie die ganze Subjektivität umfasst. Man kann im Aufwachen eine Befreiung von der Bindung an das Pathische sehen und im Einschlafen eine Rückkehr zu dieser Bindung. Aber wenn wir uns im aktiven Wachsein entscheiden, binden wir uns auch, nicht an Pathisches, aber an unsere Entscheidung. Diese Bindung ist notwendig, ohne sie käme kein Wollen zustande. Sie kann aber, im 32 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Einleitung

Unterschied zur Bindung ans Pathische, durch erneutes Entscheiden wieder gelöst werden. Sich an eine Entscheidung zu binden hat nicht nur die Funktion, ein Wollen zu ermöglichen, das eine wie immer geartete Aktivität motiviert; ihr kann im Bereich des Mentalen eine weckende Funktion zukommen, so dass beharrliches Bewussthabenwollen allein schon dazu führen kann, dass Gesuchtes bewusst wird. Wir verstehen den Übergang vom pathischen ins aktive Wachsein als ein Aufwachen, weil wir uns im aktiven Wachsein intuitiv wacher fühlen. Von diesem Aufwachen müssen wir ein anderes unterscheiden, das insofern als ein ursprünglicheres gelten muss, als es dabei nicht um ein Wachersein geht, sondern um das Entstehen von Wachsein überhaupt. Dies rührt an die Frage nach den letzten Ursprüngen des Bewusstseins und führt in einen Bereich, der sich zunehmend einer Beschreibung entzieht, je mehr man in ihn eindringen möchte.

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I. Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

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Wachsein, ein problematischer Begriff

Peter Lanz hat in seinem Buch »Das phänomenale Bewusstsein« 12 einen Katalog von Bestimmungen des Wachseins zusammengestellt, die sich in der zeitgenössischen psychologischen und philosophischen Literatur finden. Er schreibt: »Bewusstsein als Wachheit: Der grundlegende Tatbestand wird mit Wendungen wie beispielsweise (1) S ist bei Bewusstsein ausgesprochen. (1) gibt einen globalen, per se nicht ›gerichteten‹ (intentionalen) psychischen Zustand einer Person oder eines Lebewesens wieder. (1) ist intransitiv. Verwandte Ausdrücke und Wendungen sind: ›wach‹, ›aufmerksam‹, ›ansprechbar‹, ›kann etwas spüren oder registrieren oder wahrnehmen‹. Bewusstsein in diesem psychologisch globalen Sinn ist etwas, das man verlieren und wiedergewinnen kann (Schlaf, Koma, Erwachen); etwas, das man ausschalten und wieder einschalten kann (Anästhesie und Narkose); etwas, das man durch Drogen, durch Psychopharmaka, also mit chemischen Mitteln direkt beeinflussen kann; etwas, das in Graden und Abstufungen vorkommt: hellwach, konzentriert, zerstreut, halbwach, verschlafen. Neuropsychologen sprechen von Vigilanz und versuchen Grade von Vigilanz zu skalieren. Bewusstsein in diesem Sinn scheint psychologisch primitiv und grundlegend zu sein, d. h. seinerseits keine psychologischen Voraussetzungen mehr zu haben: Es ist ohne ihm voraus liegende psychologische Struktur direkt im Hirn verankert.«

Andere bewusste Erlebnisse haben psychologische Voraussetzungen, so setzen Erwartungen oder Befürchtungen Überzeugungen und Wünsche voraus, das Wachsein beruht nicht auf anderen Erlebnissen, da uns diese nur bewusst sein können, wenn wir wach sind. Die ganz anders gearteten neurologischen Voraussetzungen des Wachseins sind nicht unser Thema. P. Lanz: Das phänomenale Bewusstsein. Eine Verteidigung, Frankfurt a. M. 1996, S. 74 ff.

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Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

Lanz fährt fort: »Umgekehrt scheint Bewusstsein als Wachheit eine wichtige psychologische Voraussetzung für viele Leistungen eines Lebewesens zu sein. Und der Beobachter erkennt Wachheit an den Reaktionen und Leistungen eines Lebewesens. Den tatsächlichen Umfang seiner Fähigkeiten beweist man im Wachzustand.« Dies verweist auf eine funktionale Charakterisierung des Wachseins in Begriffen der Leistungsfähigkeit, die nach Lanz »nicht rätselhafter als die Arbeits- oder Betriebsbereitschaft eines Geräts« ist. Dabei wird deutlich, dass wir das Wachsein aus zwei Perspektiven beschreiben können: Aus derjenigen der 3. Person, indem wir beobachten, ob andere Personen wach sind oder nicht, und aus derjenigen der 1. Person, aus der »Innenperspektive«, in der wir selbst fühlen, wie wir wach sind. Lanz nennt dies den »internen Aspekt«: »Im eigenen Fall kennt man Wachheit zum einen aus dem Kontrast zu Schlaf und Narkose oder gar Koma, zum anderen als das Gefühl der dichten Kopräsenz vieler verschiedener Dinge, zusammen mit dem Gefühl, selbst präsent zu sein.« Auch wenn es dabei nicht recht klar werden will, was mit diesem Gefühl gemeint sein könnte, sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass wir manchmal, wenn wir dazu genötigt werden, auf unser Wachsein zu achten (was besonders dann vorkommt, wenn wir damit unzufrieden sind), davon sprechen, wie wir uns wach fühlen. Das hat nicht nur den quantitativen Aspekt, wie sehr oder wie wenig wach wir uns fühlen, sondern auch einen qualitativen. Es fühlt sich nicht immer in gleicher Weise an, wach zu sein. Versinken wir in einen Tagtraum und knüpft sich eine Vorstellung an die andere, so dass eine Geschichte entsteht, die sich, wie beim Träumen im Schlaf, von selber fortspinnt, empfinden wir die Vorstellungen als etwas, das uns widerfährt. Da fühlen wir uns anders wach, als wenn wir absichtlich etwas phantasieren oder über etwas urteilen. Wir fühlen uns einem Geschehen ausgeliefert, gegen das wir nicht ankommen und in das wir nicht, oder nur mit Mühe, eingreifen können. Da stellt sich ein Gefühl der Ohnmacht ein, während beim absichtlichen Phantasieren und Urteilen so etwas wie ein Gefühl des im Griff Habens, des Bemächtigens auftritt, jedenfalls dann, wenn gelingt, was wir wollen. Noch deutlicher zeigen sich solche Unterschiede an starken Affekten, an der Wut, die uns packt oder an panischer Angst. Dieser Aspekt des Wachseins ist nur in der »Innenperspektive« zugänglich, aber was nur subjektiv erfahrbar ist, ist deswegen nicht beliebig. Erfahrung ist zunächst subjektiv, objektive Erkenntnis konstituiert sich weitgehend in subjektiven Leistungen, das gilt nicht 36 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Wachsein, ein problematischer Begriff

weniger für die subjektiven Erfahrungen, die wir von so etwas wie Wachheit haben. Wir können sprachlich auf sie verweisen, sie vergleichen und darüber diskutieren, obschon keiner die Erlebnisse anderer in gleicher Weise erlebt wie die eigenen. Stellen wir die unterschiedlichen Bestimmungen des Wachseins nebeneinander, die Lanz gesammelt hat, kommen Zweifel, ob sie denn auch miteinander harmonieren. Mehrere von ihnen scheinen nicht miteinander kompatibel zu sein, was zu unterschiedlichen Begriffen des Wachseins 13 führen dürfte, die sich gegenseitig ausschließen. 1. Wach zu sein bedeutet soviel wie bei Bewusstsein sein, es steht im Gegensatz zu Bewusstlosigkeit. Andererseits wird das Wachsein auch als Gegensatz zu Schlaf, Narkose und Koma gefasst. Aber zumindest der Schlaf ist nicht gleichbedeutend mit Bewusstlosigkeit. Viele Menschen (und Tiere) träumen im Schlaf 14, und Träume sind jedenfalls nicht bewusstlos. Sind sie bewusst, so sind sie uns bewusst, und wir haben ein Bewusstsein von ihnen. Sind wir wach während wir bei Bewusstsein sind und gibt es Bewusstsein im Schlaf, so schließen sich Schlaf und Wachsein nicht aus, und wir müssen entweder die sprachwidrige Rede zulassen, dass wir auch im Schlaf wach sein können oder dass wir etwas bewusst haben können, ohne wach zu sein. 15 Nehmen wir noch die weitere Bestimmung hinzu, wonach wach zu sein eine psychologische Voraussetzung vieler Leistungen ist, nicht zuletzt auch für das Bewussthaben von etwas, so müssen wir wach sein, um träumen zu können. Dagegen mag man einwenden, Träume seien zwar bewusst, aber nicht etwas, das wir leisten, denn nur das Ich verwende im Folgenden das Wort »Wachsein« anstelle von »Wachheit«, um deutlich zu machen, dass es mir um den subjektiven Aspekt der Wachheit geht, wonach Wachheit nicht nur ein objektiv feststellbarer Zustand von Lebewesen ist, sondern eine Weise, wie wir Subjekte sind. Vgl. unten Kap. IV, 3 Subjektivität, Wachsein und Identität der Person. 14 Es ist sogar fraglich, ob es überhaupt bewusstlosen Schlaf gibt. Siehe: D. Foulkes: Die Psychologie des Schlafs, übersetzt von R. Müller-Berghaus, Stuttgart 1969, S. 111. 15 Zum Letzteren neigt Erwin Straus, wenn er erklärt, Träume seien bewusst, aber nicht wach erlebt. Vgl. E. Straus: Some remarks about awakeness. In: Psychologie der menschlichen Welt, Berlin 1960, S. 347; 350. Auch Damasio ist dieser Ansicht: »Während des Traumschlafs sind wir offenkundig nicht wach und verfügen trotzdem über ein gewisses Bewusstsein der Ereignisse, die in unserem Geist stattfinden.« Damasio, a. a. O., S. 113. – Der Widerspruch besteht natürlich nur, wenn man »wach« im subjektiven Sinne der ersten Person Perspektive versteht. 13

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Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

könne als Leistung gelten, was wir absichtlich hervor- oder wenigstens zur Erscheinung bringen. Wenn Träume keine Leistung sind (jedenfalls nicht unsere), ist vieles, was uns bewusst ist, wenn wir nicht schlafen, auch keine. Wenn wir einem Tagtraum nachhängen oder im Kino sitzen und das virtuelle Geschehen verfolgen, ohne es zu analysieren, oder in einem Konzert uns ganz der Musik hingeben, und uns von ihr tragen lassen, sind wir nicht aktiv und erleben doch bewusst. Nimmt man noch die häufigen automatisierten Handlungen hinzu, durch die wir zwar etwas leisten, aber ohne dass uns bewusst wäre, wie wir es machen, so wären die Menschen, wenn wir das Wachsein mit der Fähigkeit zu absichtlichen Leistungen gleichsetzen, einen großen Teil der Zeit, in der sie nicht schlafen, auch nicht wach. Gegen diese Konsequenz sträuben wir uns gewöhnlich und rufen den Begriff der Potenzialität zu Hilfe und sagen: Wir sind nicht nur wach, wenn wir wirklich aktiv etwas leisten, sondern auch dann, wenn wir zu solchen Leistungen fähig sind. Und wie wissen wir von dieser Fähigkeit? Natürlich dadurch, dass wir die Leistungen wirklich vollbringen. Das lässt sich leichthin sagen, die Praxis zeigt jedoch, dass sich dem Übergang von der Potenzialität zur Aktualität erhebliche Widerstände entgegenstellen. Aus einem Tagtraum finden wir nicht so leicht wieder hinaus, wir müssen erst »zu uns kommen«, ähnlich dem Erwachen aus dem Schlaf, was eher darauf hinweist, dass wir die Fähigkeit, etwas zu leisten, erst aktualisieren können müssen, auch wenn uns die Disposition dazu zukommt. Da scheint es passender zu sagen, wir seien in solchen Zuständen defizienten Wachseins nicht wach, da wir erst aufwachen müssen, um eine Fähigkeit zu aktualisieren. Folgt man dieser Überlegung, muss man die Ungereimtheit in Kauf nehmen, es sei möglich, nicht wach zu sein, wenn wir nicht schlafen (im Tagtraum z. B.). Will man dies vermeiden, tut man gut daran, die Bindung des Begriffs des Wachseins an das aktive Leisten aufzugeben und zu konzedieren, es sei möglich, wach zu sein, während wir nicht aktiv sind, sondern passiv hingegeben an das, was uns widerfährt. In solchen Fällen sind wir bei Bewusstsein und haben etwas bewusst, aber was wir da bewusst haben, beruht nicht auf Leistungen unsererseits, wir haben nichts dazu beigetragen, es geschieht uns. Wünschen, Strebungen, Träumen und Gefühlen, aber auch Schmerzen, ist es eigentümlich, von selbst aufzutauchen und »ins Bewusstsein« zu drängen, das gilt ebenso für Stimmungen, die uns überkommen, für Tagträume und Einfälle aller Art. Alle diese Erlebnisweisen sind nicht aktiv hervorgebracht, sie drängen sich auf, wir 38 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Wachsein, ein problematischer Begriff

sind ihnen ausgeliefert, und doch schlafen wir nicht, denn wir können gleichzeitig zielgerichtet unseren Körper bewegen und wahrnehmen. Jedes Mal erleiden wir etwas, wir fühlen uns von etwas betroffen, und das fühlt sich anders an, als wenn wir absichtlich handelnd in die Welt eingreifen oder solches, das uns bewusst ist, absichtlich verändern oder etwas bewusst haben wollen, das uns im Moment nicht bewusst ist. 2. Damit kommen wir zum »internen Aspekt« des Wachseins. Während das Wachseins über das Verhalten auch in der 3. PersonPerspektive zugänglich ist, steht nun die Frage im Vordergrund, wie wir es aus der Perspektive der 1. Person erleben. Es fühlt sich irgendwie an, wach zu sein. Lanz spricht vom Gefühl, selbst präsent zu sein. Alltagssprachlich sagen wir manchmal, dass ich mich (noch) nicht so richtig wach fühle, nämlich nicht voll aufgewacht. Das weist darauf hin, dass Wachsein so etwas wie ein Gefühl sein könnte, und doch fühlen wir uns nicht immer wach, wenn wir wach sind. Wach zu sein gilt uns gewöhnlich für so selbstverständlich, dass wir es erst beachten, wenn es gestört ist. Straus schreibt dazu: »Jedoch, wie wir bei Tag die belichteten Gegenstände, nicht das Licht selbst gewahren, so wird im Wachen unser Interesse durch die vielen einzelnen Dinge geweckt und gefesselt. Das Wachsein selbst bleibt der unbeachtete und verborgene Grund.« 16 Unbeachtet zu sein heißt freilich nicht, nicht vorhanden sein. Es mag durch anderes verdeckt sein, so dass es dort aufgesucht werden muss, wo es unverdeckt zur Erscheinung kommt. Angenommen, ich könne mich in verschiedenen Arten bewussten Erlebens in verschiedener, sogar entgegengesetzter Weise wach fühlen, 17 dann fühle ich mich anders wach, wenn ich etwas erleide, als wenn ich mental aktiv bin. Meist wird das Wachsein an mentale Aktivität gebunden. Im tätigen Eingreifen und willkürlichen Umgehen mit dem, was mir bewusst ist, empfinde ich mich in herausragender Weise als wach, was manchmal mit einem Gefühl der Macht, des Beherrschens, des Im-Griff-Habens verbunden ist, jedenfalls solange das gelingt, was ich will. Von der Aktivität her hat auch Husserl das Wachsein des Ich verstanden, nämlich als »Vollziehen der Zuwendung«, und zwar als faktischer Vollzug von Ichakten oder als

E. Straus: Vom Sinn der Sinne, Berlin 21956, S. 294. Der Nachweis dafür kann erst später erbracht werden, siehe unten Kap. II, 2 Die Weisen des Betroffenseins und die Modi pathischen Wachseins.

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Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

Potenzialität, als »Zustand des Akte-vollziehen-könnens« 18. Gelten die Zustände als wach, in denen wir uns als mental aktiv empfinden, so ist nicht einzusehen, warum wir dieses Prädikat Zuständen vorenthalten sollten, in denen wir uns als mental passiv, als etwas erleidend erleben, sind doch beide gleichermaßen Weisen eines Sich-Fühlens. Bindet man den Begriff des Wachseins an mentale Aktivität, dann muss ein Zustand mentaler Passivität als nicht-wach gelten, macht man ihn dagegen am Sich-Fühlen fest, so wird er um vielfältige Formen des Erleidens im Erleben bereichert, die sonst übergangen würden. Sind wir auch im Erleiden dessen wach, was uns widerfährt, so kann dieses Erleiden verschiedene Qualitäten annehmen, wie Hingabe und Aufgehen in etwas, Betroffenheit und Überwältigtwerden bis hin zu Ausgeliefertsein und Ohnmacht. Wollen wir etwas bewusst haben und gelingt, was wir wollen, macht sich ein Gefühl des Bemächtigens breit, des Beherrschens und In-Griff-Nehmens des erlebten Gehalts. Im Erleiden fühlen wir uns nicht in jedem Fall weniger, aber vor allem anders wach als im Bemächtigen; das Wachsein nimmt im einen eine andere qualitative Färbung an als im anderen, so dass man von unterschiedlichen, ja entgegengesetzten Qualitäten des Wachseins sprechen muss. Von der Weise her, wie wir uns als wach erleben, macht es Sinn, zwei geradezu gegensätzliche Arten des Wachseins anzunehmen, die sich in qualitativer Hinsicht deutlich unterscheiden. In einem Traum oder Tagtraum bin ich anders wach, als wenn ich etwa in absichtlicher Weise phantasiere oder urteile. In Erlebnissen, in denen wir beabsichtigen, etwas in bestimmter Weise bewusst zu haben, fühlen wir uns tätig: Wir greifen in das ein, was uns bewusst ist, oder wollen uns an etwas erinnern, oder etwas phantasieren, das uns nicht visuell gegeben ist, vielleicht auch ein Problem lösen. Ich möchte diese Art des Wachseins, die wir in solchen mentalen Akten erleben, als aktives Wachsein bezeichnen und ihr das MichFühlen im Erleiden von Widerfahrnissen als pathisches Wachsein gegenüberstellen. Indem ich nicht den funktionalen, sondern den qualitativen As-

E. Husserl: Erfahrung und Urteil, redigiert und herausgegeben von L. Landgrebe, Hamburg 1972 (EU), S. 83; vgl. Hua III/1 S. 73; Hua IV, S. 108. Husserl räumt jedoch ein, dass das reine Ich nicht nur vollziehend, sondern auch passiv sein könne, etwa von einem Objekt angezogen, ihm hingegeben, in ihm aufgehend oder versunken. Vgl. Hua IV, S. 98.

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Wachsein, ein problematischer Begriff

pekt des Mich-wach-Fühlens ins Zentrum stelle, gewinnen wir einen erweiterten Begriff des Wachseins, der dadurch charakterisiert ist, dass ich nicht nur wach bin, wenn ich mich tätig, sondern auch, wenn ich mich leidend fühle. Ob dem Übergang vom Leiden zur Aktivität auch ein quantitativer Unterschied entspricht, so dass man von Graden und Abstufungen des Wachseins sprechen kann, muss sich erweisen. Man mag das für selbstverständlich halten, aber wenn wir einmal den Schritt zur Anerkennung unterschiedlicher Qualitäten des Wachseins gemacht haben, wird diese Selbstverständlichkeit fraglich, denn sie verträgt sich nicht ohne Weiteres mit der Annahme, es gebe Grade und Abstufungen des Wachseins, was eine einheitliche Qualität voraussetzt, die gradualisierbar ist. Gehen wir dagegen von einer Vielzahl von Qualitäten aus, so kann es zwar von jeder Qualität Grade geben, aber ob und wie wir darüber entscheiden können, ob wir in einer Qualität wacher sind als in einer anderen, ist vorläufig nicht absehbar. 19 Auch der interne und der funktionale Aspekt wollen nicht zusammenpassen: Halten wir das Wachsein für eine psychologische Voraussetzung vieler Leistungen eines Lebewesens, scheint der Zirkel unvermeidlich. Im Vollziehen von Bewusstseinsakten fühle ich mich aktiv, und nun soll dieses Mich-aktiv-Fühlen Voraussetzung dafür sein, dass ich Bewusstseinsakte vollziehen kann. Aber wenn ich mich erst im Vollzug solcher Akte aktiv fühle, und dieses Fühlen als Wachsein eine Voraussetzung für das Vollziehen von Bewusstseinsakten sein soll, so enthält die Voraussetzung schon das, wofür sie Voraussetzung sein soll. Analoges gilt für das pathische Wachsein: Wenn ich fühle, dass ich etwas, das mir widerfährt, erleide, so muss das, was ich erleide, schon bewusst erlebt sein, damit ich mich darin leidend fühlen kann, und zugleich soll dieses Fühlen Voraussetzung dafür sein, dass das bewusst ist, was ich erleide. Die angeführten Probleme markieren einige Schlingen, Fallen und Leimruten, denen ein sinnvoller Begriff des Wachseins entkommen muss. Wach zu sein scheint eine Weise zu sein, mich zu fühlen, aber kein cartesisches cogito. Es ist nicht ein Wissen, dass ich zweifle, einsehe, bejahe, verneine, will, nicht will, bildlich vorstelle und emp-

Siehe unten Kap. II, 2 Die Weisen des Betroffenseins und die Modi pathischen Wachseins, und II, 5 Quantitäten des pathischen Wachseins. Pathisches Aufwachen und Einschlafen.

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Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

finde. 20 Wach zu sein mag zwar eine je besondere Weise des MichFühlens sein, in der ich mich als aktiv oder als leidend fühle, aber es ist nicht ein Wissen oder Fühlen davon, dass mir dieses oder jenes bewusst ist, sondern dass ich in qualitativ bestimmter Weise etwas erleide oder dass ich fühle, dass ich etwas bewusst haben will. Obschon ich im Wachsein auf möglich oder wirklich Bewusstes bezogen bin, scheint dieser Bezug nicht epistemisch zu sein, sondern pathisch oder voluntativ. Kommt hinzu, dass wach zu sein kein Bewusstseinszustand ist, jedenfalls keiner von der gleichen Art wie Schmerzen, Sinnesqualitäten oder Gefühle im üblichen Verständnis. Wenn wir dennoch von einem Gefühl, wach zu sein, sprechen, so darum, weil es sich um ein Gefühl handelt, das sich durch bestimmte Merkmale von dem unterscheidet, was wir gewöhnlich ein »Gefühl« nennen. 21 Wach zu sein ist jedenfalls keine theoretische Einstellung, allerdings auch keine praktische. Beide Kategorien scheinen gleichermaßen unpassend. Wenn überhaupt, muss es sich um eine andere Art von Einstellung handeln, die wir zu dem, was uns bewusst ist oder bewusst werden könnte, einnehmen. Bevor wir jedoch dazu kommen, diesen Fragen nachzugehen, dürfte es angebracht sein, einige Weisen des Sich-Fühlens zurückzuweisen, von denen man glauben könnte, sie würden etwas zur Erhellung eines allgemeinen Begriffs des Wachseins beitragen. Zunächst möchte man an das Erleiden denken. Das Wort »erleiden« wird transitiv verwendet, wir erleiden etwas. Was wir erleiden, wollen wir als ein »Widerfahrnis« bezeichnen. Was uns widerfährt, kann etwas sein, das uns geschieht, im Gegensatz zu anderem, was wir tun oder beabsichtigen, es kann uns aber auch in einem starken Sinne affektiv betroffen machen. Das, was geschieht, hat hier nicht den Sinn eines objektiven Geschehens in der Welt, es geschieht mir, und das bedeutet, es betrifft mich in gewisser Weise, und dies mehr oder weniger. Dass wir etwas erleiden, fühlen wir unmittelbar, es begleitet mehr oder weniger merklich alle pathischen Bewusstseinszustände. Wollten wir darin das Wachsein sehen, dann müssten wir mit zunehmendem Erleiden wacher werden, während intuitiv gerade das Gegenteil der Fall zu sein scheint: Sind wir weniger stark betroffen als zuvor oder kommt es zu einem tätigen Eingreifen in den Bewusstseinsablauf, so fühlen wir uns zumeist wacher, als wenn uns 20 21

R. Descartes: Meditationen 2, 8. Hg. von L. Gäbe, Hamburg 1977, S. 51. Siehe unten S. 117.

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Wachsein, ein problematischer Begriff

etwas widerfährt. Auch das Sich-aktiv-Fühlen kann kaum als geeigneter Kandidat für einen generellen Begriff des Wachseins durchgehen, denn das ließe sich nur um den Preis annehmen, dass wir in pathischen Zuständen überhaupt nicht wach wären. Ein Argument das entsprechend auch für das Erleiden gilt. Zwar fühlen wir uns wach, wenn wir tätig sind, und ebenso, wenn wir etwas erleiden, aber das Wachsein besteht weder nur im einen noch nur im anderen. Erleiden wir etwas, das uns widerfährt, wird das Widerfahrnis bewusst. Wir sind dann »bei Bewusstsein«, und auch das kann man als ein Wachsein bezeichnen. Ebenso lässt sich sagen, wir seien aktiv wach, wenn etwas durch unsere Aktivität bewusst wird. Bei Bewusstsein zu sein, gilt gewöhnlich als ein Kriterium dafür, dass jemand wach ist. Wollte man jedoch das Wachsein auf das Erleiden oder Tätigsein beschränken, blieben andere Aspekte unberücksichtigt, von denen man ebenso gut behaupten könnte, wir fühlten uns in ihnen wach. Ich denke dabei vor allem an das Wachsein im Sinne einer Bereitschaft, bewusst zu erleben. Wachsein muss als ein Mich-Fühlen verstanden werden, das pathische wie aktive Zustände begleiten kann, das zuoder abnehmen kann und eine notwendige Bedingung bewussten Erlebens bildet. Es gibt nicht viele Kandidaten, welche diese Bedingungen erfüllen. Um sie zu finden, müssen wir auf jene Züge des Mich-Fühlens achten, die in allen Phasen des Wachseins vorkommen, sowohl wenn wir träumen oder tagträumen, als auch wenn wir willkürlich erinnern, phantasieren oder urteilen. Zunächst könnte man an Folgendes denken: Wie auch immer ich mich fühle, ob tätig oder leidend, immer fühle ich mich so und so zu sein. Dass gerade ich es bin, der tätig oder leidend ist, ist ein Sachverhalt, der allen Qualitäten des Mich-Fühlens zukommt, es ist derjenige Sachverhalt, durch den sie Qualitäten des Mich-Fühlens sind. Er ist in einem strengen Sinn subjektiv und in keiner Weise objektiv beschreibbar. Sagt man, dass RR Schmerzen hat, ist damit gerade nicht erfasst, dass ich Schmerzen habe, denn dass ich RR bin, diese objektiv beschreibbare Person in der Welt, ist nicht objektiv feststellbar. Thomas Nagel hat argumentiert, eine vollständig objektive Weltbeschreibung würde zwar alle Personen in der Welt enthalten, aber nichts darüber, welche dieser Personen ich bin. Nimmt man an, die Eigenschaft, ich zu sein, sei eine objektive Eigenschaft einer Person oder eine Relation dieser Person zu etwas anderem, so kann man wieder fragen, »welche Person bin ich?«. Eine vollständig objektive Weltbeschreibung kann das Faktum, 43 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

dass ich RR bin, nicht enthalten. 22 Schon vor Nagel hat Hermann Schmitz ähnlich argumentiert: Wenn Hermann Schmitz sagt »ich bin traurig«, bedeutet das nicht dasselbe wie »Hermann Schmitz ist traurig«. Eine vollständig objektive Sprache kann den zweiten Satz enthalten, aber nicht den ersten. Damit kann in ihr auch nichts darüber ausgesagt werden, ob Hermann Schmitz derjenige ist, der sagt »ich bin traurig«. Dem Sinn des Satzes »Hermann Schmitz ist traurig« fehlt die Nuance, die sich nur mit »ich« oder äquivalenten Sprachformen ausdrücken lässt, nämlich, »dass diese Trauer mir nahe geht, dass ich in ihr befangen bin.« 23 Schmitz betont, dass diese Nuance in einem strengen Sinn subjektiv sei. Zwar mag die Traurigkeit des einen mit der eines anderen ähnliche Züge aufweisen, aber dass gerade ich von ihr betroffen bin, ist ein anderer Sachverhalt, als wenn ein anderer davon betroffen ist. Obschon diese Sachverhalte verschieden sind, haben sie keinen deskriptiven Gehalt, da weder ich noch ein anderer durch eine Beschreibung auf sich Bezug nehmen kann. Soweit sie sich beschreiben lassen, enthält die Beschreibung das, worin sie sich ähnlich sind, und damit nicht das, worin es besteht, dass gerade ich betroffen bin. Dies kann ich niemandem beschreiben, nicht einmal mir selbst, ich kann es nur fühlen. Daher gilt, »dass Sachverhalte des affektiven Betroffenseins der vollständigen Objektivierung entzogen sind« 24. Das lässt sich nicht nur vom affektiven Betroffensein sagen, es gilt ebenso »für Entschlüsse, Gesinnungen und Bestrebungen, die ihm [dem Menschen] wesentlich und intim angehören.« 25 Damit ist ein Zug getroffen, der auch zu allem Wachsein gehört: dass gerade ich es bin, der wach ist, ist eine irreduzible subjektive Tatsache. Sie wird uns noch beschäftigen. 26 Wollte man jedoch behaupten, Wachsein bestehe geradezu in diesem subjektiven Sachverhalt, gerät man rasch in eine Sackgasse. Zwar trifft er auch auf mein Wachsein zu, auch dieses ist in diesem Sinne meines, aber wollte man darin eine zureichende Bestimmung des Wachseins sehen, käme man nicht weit, da dieser Sachverhalt weder in unterschiedlichen Qualitäten vorkommen kann noch gra-

Vgl. Th. Nagel: Das objektive Selbst, in: Ders.: Letzte Fragen, hg. M. Gebauer, Bodenheim bei Mainz 1996, S. 301. 23 H. Schmitz: System der Philosophie III, 2: Der Gefühlsraum, Bonn 1969, S. 50. 24 Ebd., S. 51. 25 Ebd., S. 52. 26 Siehe unten Kap. II, 6 Pathisches Wachsein als Selbstbeziehung. 22

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Wachsein, ein problematischer Begriff

dualisierbar ist. Davon, dass ein Erleben gerade mich betrifft, kann es weder ein Mehr oder Weniger geben noch unterschiedliche Qualitäten: Entweder betrifft mich etwas oder es betrifft mich nicht. Zwar kann mich etwas mehr betreffen als anderes, aber es betrifft darum nicht mehr mich als das andere, es geht nicht mehr mich an. Eine Wut, die mich packt, ist nicht meiniger als ein Gedanke, den ich fasse. Die Meinigkeit des Erlebens ist nicht steigerbar, nur das Betroffensein. Sie kann nicht das sein, was mich wach sein lässt. Dennoch dürfen wir vermuten, das Wachsein bestehe in einer ausgezeichneten Weise, mich zu fühlen, nämlich darin, dass ich mich von etwas betroffen oder als etwas tätig zur Erscheinung bringend fühle. Wenn wir im Wachsein eine wichtige psychologische Voraussetzung für viele Leistungen eines Lebewesens sehen 27, dann müsste diese Weise, sich zu fühlen, eine notwendige Bedingung für bewusstes Erleben sein. Wenn wir nicht in der geeigneten Weise wach sind, können wir bestimmte Arten von Erlebnissen nicht bewusst erleben. Wir können z. B. nicht wahrnehmen, wenn wir schlafen, aber sehr wohl träumen. Wenn wir uns in bestimmter Weise wach fühlen und dies eine Voraussetzung bewussten Erlebens ist, dann fühlen wir uns wach, bevor das bewusst ist, was in dieser Weise des Wachfühlens bewusst werden kann. Wir fühlen uns bereit, etwas zu erleiden, bevor wir es erleiden, und bereit, etwas zu können, bevor wir das Können aktualisieren. Wie das möglich sein soll, muss sich erweisen. Erweisen muss sich auch, ob sich die genannten Probleme, die wir uns damit einhandeln, lösen lassen. 28 Wachsein scheint immer ein Sich-wach-Fühlen zu sein, freilich eines, das meist nur hintergründig mitbewusst ist und nur bei besonderen Gelegenheiten zu deutlichem Bewusstsein kommt. Unbeachtet zu sein, bedeutet nicht, unbewusst zu sein, aber es ist nicht thematisch bewusst, weil sich anderes vordrängt, und so müssen wir das Wachsein selbst und sein Beachten unterscheiden. Wir können hellwach sein und dies doch kaum bemerken, weil wir ganz in dem aufgehen, was uns bewusst ist.

Siehe oben S. 36. Einiges davon wird unten im Kap. II, 3 Pathisches Wachsein als notwendige Bedingung pathischen Bewusstseins wieder aufgenommen.

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Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

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Übergangsphänomene

Die Schwierigkeiten, das Wachsein näher zu bestimmen, ergeben sich einerseits aus der Bedingung der Konsistenz, andererseits aus der Forderung, den Phänomenen entsprechen zu müssen. Doch welche Phänomene sind solche des Wachseins? Ohne ein Vorverständnis von Wachsein kommen wir nicht aus. So sind wir im letzten Kapitel von einem Katalog unterschiedlicher Bestimmungen des Wachseins ausgegangen, welcher der psychologischen und philosophischen Literatur entnommen wurde, und haben uns schließlich auf ein Vorverständnis des Wachseins als einer Weise, sich zu fühlen, fokussiert. Man kann auch anders gewichten und den Gegensatz zu Zuständen wie Schlaf, Narkose und Koma in Zentrum stellen. Diese sind uns allerdings als Phänomene aus der Innenperspektive kaum mehr zugänglich. In dieser Situation scheint es sinnvoll zu sein, sich an die Übergänge zu halten, die wir intuitiv als Aufwachen und Einschlafen erleben, trotz aller Schwierigkeiten, die sich auch hier in den Weg stellen.

2.1

Aufwachen aus einem Traum: Wie weiß ich, ob der Wecker wirklich klingelt?

Schlaf wird gewöhnlich negativ charakterisiert: Wir schlafen, wenn wir nicht wach sind. Wie wir gesehen haben, kann Schlaf nicht mit Bewusstlosigkeit gleichgesetzt werden. Zu schlafen scheint vor allem unser Leibkörper: Das Empfinden ist weitgehend zurückgedrängt und mit ihm das Wahrnehmen und die Fähigkeit zu willkürlicher Bewegung. Im Schlaf wenden wir uns von der Außenwelt ab, erklärt Freud, und der Weg zur Motilität ist verschlossen. 29 Alle Menschen (und viele andere Lebewesen) leben in zyklisch wiederkehrenden Perioden des Wachens und Schlafens. Die Übergänge von einem zum andern bilden allgemein bekannte Phänomene, die aller Bekanntheit zum trotz nicht schon erkannt sind. Das mag an der mangelnden Distanz liegen, die sich schon daran zeigt, dass wir beim Übergang in den Wachzustand noch zu wenig aufgewacht, beim Übergang in den Schlaf schon zu schläfrig sind, um noch etwas von diesem ÜbergangsS. Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Studienausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1969, S. 459; 462.

29

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Übergangsphänomene

geschehen zu erhaschen. Diese Schwierigkeiten können allenfalls durch meditatives Training überwunden werden. Uns, denen es mehr um Theorie zu tun ist, kann vielleicht der im vorigen Kapitel entwickelte Gedanke weiter helfen, es gebe unterschiedliche Qualitäten des Wachseins. Auch wenn noch nicht im Detail geklärt, leuchtet wenigstens in Umrissen ein, was damit gemeint sein kann. Wir fühlen uns z. B. in einem Tagtraum nicht in gleicher Weise wach, wie wenn wir absichtlich etwas phantasieren: Das Tagträumen geschieht uns, wir erleiden es, während absichtliches Phantasieren durch Wahl und Entscheidung gekennzeichnet ist. Ich hätte, statt mich an das erinnern zu wollen, an das ich mich erinnern will, mich ebenso gut an etwas anderes erinnern können, wenn ich gewollt hätte. Dagegen geschieht mir, was ich erleide, und könnte ebenso gut jemand anderem geschehen; dass es mir geschieht, ist eine Tatsache. Jeder, der betroffen wird, fühlt sich selbst betroffen. Analoges gilt vom Entscheiden: Entscheiden kann nur ich selbst, jemand anderer kann nicht an meiner Stelle entscheiden. 30 Das Gefühl, selbst zu entscheiden, scheint notwendig zum Entscheiden zu gehören. Im Entscheiden über das, was wir phantasieren wollen, fühlen wir uns nicht nur anders wach als im pathischen Phantasieren, wir fühlen uns auch wacher, was damit zusammenhängen dürfte, dass das, was uns bewusst wird, von uns abhängt. 31 Auch den Übergang vom Träumen ins Wahrnehmen der Umgebung können wir ein »Aufwachen« nennen. Wir kommen damit der üblichen Auffassung entgegen, dergemäß wir im Traum nicht wach, im Wahrnehmen aber sehr wohl wach sind 32, da wir im Gegensatz zum Traum im Wahrnehmen in einer wirklichen, nicht in einer imaginären Welt leben. Jedenfalls nach der Ansicht desjenigen, der dies glaubt, und Zweifel von der Art, es könnte sein, dass Wachsein und Träume niemals durch sichere Kennzeichen unterschieden werden können 33, in den Wind schlägt. Gewöhnlich macht es indessen keine Mühe, das Wahrnehmen vom Träumen zu unterscheiden, aber nur wer wach ist, kann es; nur Vgl. R. de Sousa: Die Rationalität des Gefühls, Frankfurt a. M. 2009, S. 245. Genaueres dazu siehe unten Kap. II, 5 Quantitäten des pathischen Wachseins. Pathisches Aufwachen und Einschlafen. 32 Die Meinung, dass man im Wahrnehmen wach sei, geht auf Aristoteles zurück. Siehe De Anima II, 1; 412 a: »Das Wachen ist analog dem Betrachten; der Schlaf dem Besitzen, ohne Betätigung.« Siehe auch: Über Schlafen und Wachen. In: Kleine naturwissenschaftliche Schriften, Stuttgart 1997, S. 102 ff. 33 Descartes, a. a. O., S. 35. Vgl. Platon, Theaitetos, 158 a–e. 30 31

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Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

ihm sind beide Zustände bekannt, der Traum allerdings auch nur in der Erinnerung und nicht in statu nascendi. 34 Immerhin ist uns der Übergang vom Traum zum Wahrnehmen (und umgekehrt) zugänglicher als der vom Tiefschlaf aus. Wir können den Umschlag vom Tagtraum ins absichtliche Phantasieren und den vom Wahrnehmen in dieses ein partielles Aufwachen nennen. Wie es um den Übergang vom Träumen ins Wahrnehmen steht, bedarf freilich einer genaueren Analyse, weil wir Fälle illusionären Aufwachens und des Träumens, dass ich träume, nicht außer Acht lassen dürfen. Kommt hinzu, dass auch das Wahrnehmen pathisch oder aktiv sein kann. Vorab einige Begriffserläuterungen im Rückgriff auf die Phänomenologie Husserls: Wahrnehmen wie Erinnern und Phantasieren sind intentionale Erlebnisse, d. h. sie sind ein Bewusstsein von etwas. Dabei ist festzuhalten, dass das, was Husserl unter »Erlebnis« versteht, nicht mit dem gewöhnlichen, populären Erlebnisbegriff zusammenfällt, wonach wir z. B. von jemandem sagen, er habe den Einsturz der Twin-Tower erlebt. Was im Sinne des gewöhnlichen Erlebnisbegriffs erlebt ist, ist Gegenstand von Erlebnissen im phänomenologischen Sinne: Es ist wahrgenommen, erinnert, beurteilt usw. 35 Diese Beziehung eines intentionalen Erlebnisses auf seinen Gegenstand ist nicht als eine Beziehung eines Erlebnisses auf ein anderes reales Dasein zu verstehen, vielmehr gehört die Gerichtetheit auf den Gegenstand dem Erlebnis selbst an. 36 Der Gegenstand kann, aber muss nicht real sein. Im Falle der Wahrnehmung ist er es: Wahrnehmung ist »Bewusstsein der leibhaftigen Selbstgegenwart eines individuellen Objekts«, erklärt Husserl und fährt fort: »Unser natürliches waches Ichleben ist ein beständiges aktuelles oder inaktuelles Wahrnehmen. Immerfort ist die Dingwelt und in ihr unser Leib wahrnehmungsmäßig da.« 37 Was gewöhnlich für das Wahrnehmen gilt, dass sein Gegenstand gegenwärtig ist, also gleichzeitig mit dem Wahrnehmen, trifft für das Erinnern und Phantasieren gerade nicht zu: in der Erinnerung ist er vergangen, in der Phantasie bloß möglich. Solche Gegenstände können nur in der Weise bewusst sein, als ob sie wahrgenommen wür-

Zur Geschichte der Unterscheidung von Traum und Wirklichkeit siehe: P. Gehring: Traum und Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 2008. 35 Vgl. Hua XIX/1, S. 351. 36 Hua III/1, § 36. 37 Ebd., § 39. 34

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den. Im Erinnern ist uns ein vergangenes Wahrnehmen eines vergangenen Gegenstandes bewusst. Was wir erinnern, erinnern wir so, wie wir es wahrgenommen haben, und was wir phantasieren, phantasieren wir so, wie wenn wir es wahrnehmen würden. 38 Im Erinnern oder Phantasieren ist der Gegenstand als vergangen bzw. als möglich charakterisiert und dabei so bewusst, als ob er gegenwärtig wäre. Husserl spricht deshalb von Vergegenwärtigung oder Reproduktion: In der Erinnerung erinnern wir eine vergangene, in der Phantasie phantasieren wir eine mögliche Wahrnehmung. 39 Dabei kann das, was mir bewusst ist, nur darum als nicht-gegenwärtig erscheinen, weil ein Bewusstsein der aktuellen Gegenwart aufrechterhalten bleibt. Ich befinde mich mit meinem Leib nach wie vor in der mich umgebenden Welt, die ich hintergründig wahrnehme, während ich thematisch dem Erinnerten oder Phantasierten zugewendet bin. 40 Dabei schließen sich die Felder des Vergegenwärtigten und des Wahrgenommenen gegenseitig aus, ich kann nicht beides zugleich aufmerksam bewusst haben. Achte ich auf die Wahrnehmungsobjekte, so schwindet das Erinnerungs- oder Phantasiefeld und umgekehrt. »Was zur Einheit des Blickfeldes der Wahrnehmung gehört, das ist zugleich da, ist gegenwärtig, und alles darin ist zugleich. Was zur Einheit eines Erinnerungsfeldes, und eines Phantasiefeldes jeder Art, gehört, ist auch zugleich, aber nicht findet die Rede vom Zugleich eine Anwendung auf Wahrnehmungsfeld und Phantasiefeld in eins genommen« 41. Ich selbst als aktuell Erinnernder oder Phantasierender gehöre zum aktuellen Wahrnehmungsfeld, zugleich bin ich mir im Erinnerungs- oder Phantasiefeld als vergangenes wahrnehmendes Ich oder als mögliches bewusst. So muss ich, um zu vergegenwärtigen, einerseits in meinem Wahrnehmungsfeld verbleiben, andererseits muss ich mich gleichsam als erinnertes oder phantasiertes Ich in das Erinnerungs- oder Phantasiefeld versetzen, mich entgegenwärtigen, um vergegenwärtigen zu können. 42 Im Hinblick auf das Vergegenwärtigen kommt dem Wahrnehmen die »Rolle einer Urerfahrung« 43 zu. Wahrnehmen ist ein unmitDies gilt sicherlich für vieles, was wir phantasieren, ob es für alles zutrifft, halte ich für fraglich. 39 Hua III/1, § 111. 40 Vgl. EU, § 42 und Hua XXIII, S. 67 f. 41 Hua XXIII, S. 69. 42 Vgl. I. Kern: Idee und Methode der Philosophie, Berlin, New York 1975, § 17. 43 Hua III/1, S. 81. 38

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telbares, schlichtes Bewusstsein, während das Vergegenwärtigen ein Bewusstsein von Bewusstsein ist, eines, das ein weiteres Bewusstsein impliziert, das wiederum eine Vergegenwärtigung sein kann, letztlich aber auf ein Wahrnehmen zurückgeht. Wenn ich vom Wahrnehmen ins Vergegenwärtigen übergehe, kippe ich von einem Bewusstseinsfeld ins andere, denn es gibt zwischen beiden keinen kontinuierlichen Übergang, da sich beide Felder gegenseitig ausschließen. Dabei bleibe ich aber stets hintergründig in der wahrgenommenen Welt verankert. Ich kann diesen Übergang absichtlich vollziehen, doch nur zu häufig geschieht er unabsichtlich. Sind wir wahrnehmend mit etwas beschäftigt, fällt uns plötzlich eine Erinnerung oder Phantasie ein. Reihen sich solche Einfälle aneinander, so dass sie einen Zusammenhang bilden, sprechen wir von einem Tagtraum oder besser von einem Wachtraum, denn entscheidend ist, dass sich dieser Traum in einem Zustand abspielt, den wir wach zu nennen gewohnt sind, weil wir dabei immer noch hintergründig die Umgebung wahrnehmen. Fällt dieses Wahrnehmen weg, beginnen wir zu träumen. Wenn ich hier von Traum spreche, meine ich das, was wir als Traum erinnern, wenn wir aufwachen, also das, was Freud die manifesten Traumgedanken genannt hat. 44 Wir mögen noch so sehr in einen Tagtraum vertieft sein, solange wir noch in Kontakt zur wahrnehmbaren Umgebung sind, ist uns das, was bewusst ist, als fiktiv bewusst. Dieses Bewusstsein des Fiktiven verliert sich, sobald der letzte Rest hintergründigen Wahrnehmens schwindet, dann erscheint das Phantasierte als gegenwärtig und wirklich, während es nach dem Erwachen als fiktiv entlarvt wird. Die »wirkliche Wahrnehmung verscheucht die Einbildung«. 45 Im Traum dagegen wird die Vergegenwärtigung zu »illusionärer Gegenwärtigung« 46 oder, wie Freud schlicht sagt, zu Halluzination. 47 Entscheidend für den Übergang vom Phantasieren ins Träumen ist der Verlust des Bewusstseins aktueller Gegenwart, während sein Gewinn den Übergang in die umgekehrte Richtung markiert. Beim ersten Übergang stellt sich die Frage, wie und warum wir das Bewusstsein des wirklich Gegenwärtigen verlieren. Der Übergang vom Traum ins Phantasieren muss durch das Freud, Traumdeutung, Studienausgabe, a. a. O., Bd. 2, S. 144. Die Frage, wie weit das, was wir nach dem Erwachen als Traum erinnern, wirklich das ist, was wir geträumt haben, lasse ich hier offen. Ich werde unten (S. 189) darauf eingehen. 45 Vgl. Hua XXIII, S. 42; 548. 46 Kern, a. a. O., S. 59. 47 Freud, a. a. O., S. 74. 44

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Übergangsphänomene

Auftauchen echten Gegenwartbewusstseins initiiert sein, das sich in das illusionäre Gegenwärtigen drängt. Am bekanntesten ist wohl der Fall, bei dem wir durch ein Geräusch gestört und aus unseren Träumereien herausgerissen werden. Der plötzliche Einbruch der Gegenwart reißt uns ruckartig aus dem Traum heraus und konfrontiert uns mit den Realitäten des Alltags. Ähnliches geschieht, wenn ein Traum starke Gefühlsreaktionen auslöst, wie Angst, Schreck oder Ekel. So kulminiert ein Angsttraum gewöhnlich im Erwachen. Manchmal sind die äußeren oder inneren Reize zu schwach, als dass sie ein wirkliches Gegenwärtigen einleiten könnten, sie werden dann als dieses oder jenes aufgefasst und in den Traum integriert. Gelingt es nicht, solche Störungen imaginativ zu bewältigen, d. h. in die Geschichte des Traums einzubauen, etwa zu fliehen oder imaginäre Gefahren imaginär zu beseitigen, kann dies zum Zusammenbrechen des Traums und in der Folge zum Aufwachen führen. Dann wird nicht die imaginäre Gefahr außer Gefecht gesetzt, sondern das Imaginieren aufgegeben. Dies führt zur Annahme, wir erwachen aus einem Traum, wenn wirklich Gegenwärtiges in das Traumfeld eintritt. Leider stehen dem Erfahrungen entgegen, die zu häufig sind, als dass man sie als außergewöhnlich beiseite schieben könnte. Nicht selten taucht aktuell Gegenwärtiges, meist Reize der Außenwelt oder Körpervorgänge, in einem Traum auf und macht sich breit, ohne ein Aufwachen nach sich zu ziehen, stattdessen wird die Störung in den Traum eingebaut, und es entsteht um sie herum eine Geschichte, die uns ruhig weiter schlafen lässt. Bekannt ist das Beispiel des Weckertraums: Der Wecker klingelt, doch statt zu erwachen, träume ich eine Geschichte, in der dieses Geräusch eine Rolle spielt. Nehmen wir an, ich träume, der Wecker klingle, und weiter, ich erwache, stehe auf, kleide mich an usw. Das Weckerklingeln, das aus der Perspektive des Wachseins wirklich gegenwärtig sich ereignet, wird auch in der Perspektive des Traums als wirklich erlebt, nämlich als im gleichen Sinne wirklich wie alles andere, das im Traum wirklich zu sein scheint. Wie auch soll der Traum zur Einsicht kommen, dass dieses Klingeln in einem Sinne wirklich sei, der ihm gar nicht zugänglich ist? Wir mögen im Traum urteilen, dass der Wecker wirklich klingelt, aber dieses Urteilen ist wie alles im Traum imaginär, und dies selbst dann, wenn wir träumend zur Einsicht gelangen, dass erst dieses Klingeln wirklich sei und dass wir vorher geträumt hätten, jetzt aber wach seien und die Dinge um uns herum wirklich wahrnähmen und nicht bloß einbildeten. In einem solchen Fall ist die Unterscheidung zwischen 51 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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imaginärer und wirklicher Welt geträumt und kann in keiner Weise zum Aufwachen führen. Der Seinsglaube des illusionären Gegenwärtigens ist selbst illusionär. Wie kann ich dann im Traum wissen, ob etwas, das auftaucht, nicht illusionär, sondern wirklich gegenwärtig ist? Eine mögliche Antwort wäre: Reflektiere auf dein Gegenwärtigen; ist es ein unmittelbares Bewusstsein, so ist es wirklich, ist es ein Bewusstsein von Bewusstsein, so ist es illusionär. Doch wie soll man im Traum reflektieren? Das setzt die Möglichkeit voraus, willentlich mental zu agieren, und die ist im Traum nicht gegeben. 48 Ist aber wirklich Gegenwärtiges als Gegenwärtiges dem Traumbewusstsein gar nicht zugänglich, so ist nicht einzusehen, wie wir jemals aufwachen können. Descartes hat sein Traumargument auf einzelne isolierte Dinge und Tatsachen gestützt, von denen er meinte, dass sie uns im Traum nicht anders erscheinen als im Wachen. 49 Margaret Macdonald hat gezeigt, dass wir im Wachsein prüfen können, ob etwas, das erscheint, wirklich existiert oder nicht, oder ob es wirklich das ist, als was es erscheint, wogegen es logisch unmöglich ist, solche Prüfungen im Traum durchzuführen. 50 Dann ist es auch unmöglich zu prüfen, ob »sichere Kennzeichen« vorliegen, durch die wir das Wachsein von Träumen unterscheiden können. Aufwachen geschieht spontan, ohne Prüfung, ob etwas, das mir bewusst ist wahrgenommen oder geträumt ist. Kann man ein Kriterium zur Unterscheidung von Traum und Wachen nur anwenden, wenn man wach ist, so ist ein solches für das träumende Bewusstsein ohne Bedeutung. Dann kann das Aufwachen auch nicht von der Anwendung eines Kriteriums abhängen. Dennoch erwachen wir aus unseren Träumen, zumindest aus denen, die wir gewöhnlich »Träume« nennen. Offensichtlich haben die bisherigen Vorstellungen zur Sache in eine Sackgasse geführt. Um beim Beispiel des Weckertraums zu bleiben, habe ich angenommen, dass der Träumer den Wecker wirklich hört, aber nicht merkt, dass er ihn hört. Merkt er es, bricht der Traum zusammen. Diese Konzeption scheitert daran, dass der Träumer nicht in der Lage ist, zwischen wirklicher und illusionärer Gegenwärtigung, also zwischen Wahrnehmung und Traum, zu unterscheiden. Damit müssen wir uns nach Möglichkeiten umsehen, wie die Sache anders sein könnte. Viel48 49 50

Vgl. J.-P. Sartre: Das Imaginäre, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 258. Descartes, a. a. O., S. 33 f. Siehe: M. Macdonald: Sleeping and Waking, in: Mind 62 (1953), S. 204 ff.

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Übergangsphänomene

leicht hört der Träumer den Wecker gar nicht wirklich; was er im Traum zu hören glaubt, ist das illusorische Gegenwärtigen des Hörens eines Weckers. Wenn er weiter träumt, statt aufzuwachen, liegt das nicht daran, dass er nicht merkt, dass er etwas wirklich wahrnimmt, vielmehr nimmt er gar nichts wahr. Nach dieser Auffassung gilt der Traum als durch und durch imaginär, alles, was in ihm vorkommt, ist illusionär, es gibt nichts in ihm, was wirklich gegenwärtig wäre. Allerdings gibt es Gegenwärtiges im Traum, aber immer ist es solches, das nur dem wachen Bewusstsein als gegenwärtig und wahrgenommen erscheint, dem träumenden kommt es in gleicher Weise gegenwärtig vor wie alles andere im Traum. Denken wir an einen Angsttraum, so erweist sich die Angst, die wir dabei erleben, als wirklich und nicht als imaginär, aber wiederum nur für das wache Bewusstsein, denn nach dem Aufwachen erleben wir noch für kurze Zeit dieselbe Angst. Aufgewacht sind wir weit entfernt davon, unsere Angst als eingebildet anzusehen, wir erleben sie als eine zwar abklingende, aber doch wirkliche Angst. Also muss auch die Angst des Angsttraums wirklich und nicht imaginär gewesen sein, denn sie unterscheidet sich nicht von der, die wir nach dem Aufwachen erleben, obschon sie für das träumende Bewusstsein genau so traumhaft war, wie alles andere. Dies bestätigt sich, wenn andere die Geräusche hören, die wir träumen, oder wenn wir eben von einer üppigen Mahlzeit geträumt haben, und hungrig aufwachen. Wir nehmen also an, es könne im Traum beides vorkommen, illusionäres und wirkliches Gegenwärtigen, wobei das illusionäre schwerer wiegt, weil es sich dabei nicht um vereinzelte zusammenhangslose Dinge und Ereignisse handelt, wie ein läutender Wecker, sondern um solche, die miteinander zusammenhängen oder aufeinander verweisen, auch wenn solche Zusammenhänge und Verweisungen mitunter vom Wachen her gesehen sich höchst bizarr ausnehmen. Wenn in einem Traum wirklich Gegenwärtiges erscheint, kann es sich nur um vereinzelte Episoden handeln, nicht um länger anhaltende zusammenhängende Sequenzen. Das ist im Hinblick auf das Vergegenwärtigen bemerkenswert. Während ich vergegenwärtige, lebe ich fortwährend in der Gegenwart. Ich muss nicht eigens wissen, dass ich (auch noch) gegenwärtige, dieses bildet den selbstverständlichen ständigen Hintergrund meines Vergegenwärtigens. Eben dieser fehlt, wenn ich ins illusionäre Gegenwärtigen gerate. Über einzelnes wirklich Gegenwärtiges kann der Traum locker hinweggehen, es gilt im gleichen Sinn für gegenwärtig, wie das übrige Traumgeschehen. 53 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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Ein Widerstreit tritt nicht auf. Erst wenn sich die vereinzelten Episoden zu zusammenhängenden Sequenzen erweitern, die auf Weiteres und immer Weiteres verweisen, entsteht, wie beim wachen Vergegenwärtigen, ein beständiger Hintergrund des Gegenwärtigens, vor dem das illusionär Gegenwärtige als imaginär entlarvt wird. Zur Welt des Traums muss eine Welt des Gegenwärtigens hinzutreten, erst dann entsteht ein Widerstreit, weil es nicht gleichzeitig zwei gegenwärtige Welten geben kann, die voneinander verschieden sind. Was lässt uns also aus dem Traum erwachen? Gewiss ist dazu ein gleichzeitiges Gegenwärtigen erforderlich, aber nicht als isoliertes Erscheinen gegenwärtiger Dinge oder Ereignisse, Affekte oder Triebbedürfnisse; diese müssen eine Beständigkeit erlangen, es müssen sich Zusammenhänge mit anderen Gegenwärtigkeiten zeigen, indem ihre impliziten Verweise auf Anderes und Weiteres explizit werden, kurz, wenn sich wenigstens ansatzweise eine gegenwärtige Welt abzuzeichnen beginnt. Wie viel an solchen Verweisungen nötig sind, um einen Traum ins Stocken zu bringen, steht nicht fest, das dürfte von der Intensität, mit der wir träumen, wie auch von der des Gegenwärtigens abhängen. Wer hat nicht schon beim Aufwachen erlebt, dass er eine Weile zwischen beiden Welten hin und her pendelt und sich schließlich zur Frage gedrängt fühlt, bin ich wach oder träume ich? Solche Übergangserlebnisse bestätigen, dass das wirkliche Gegenwärtigen erst Boden gewinnen und sich stabilisieren muss, bis es sich gegen das illusionäre durchsetzen kann. Es genügt nicht, dass es bewusst wird, es muss sich wenigstens ansatzweise zu einer Welt ausweiten, so wie wir beim wachen Vergegenwärtigen beständig hintergründig wahrnehmend in der wirklichen Welt wurzeln. Der Weckertraum demonstriert, dass das bloße Hören des Weckers nicht immer hinreicht, um die weckende Wirkung zu erreichen. Erst wenn sich das Klingeln wiederholt oder andere Geräusche hinzutreten, bricht der Traum zusammen und wir erwachen. Noch ist unklar, wie dieses Erwachen vor sich geht. Der Träumer muss merken, dass wenigstens in Ansätzen eine Welt des Wahrnehmens entsteht, die nicht mit der des Traums zusammen bestehen kann, denn es kann gleichzeitig nur eine Welt geben. Die wahrgenommene Welt enthält mich mit meinem Leib, welcher den Standpunkt bildet, von dem aus ich die Umgebung wahrnehme. Jedes wahrgenommene Ding verweist auf anderes und dieses wieder auf anderes, sowohl räumlich als zeitlich, so dass zu jedem Wahrgenommenen ein Horizont weiterer möglicher Wahrnehmungen gehört. Das träumen54 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Übergangsphänomene

de Bewusstsein dagegen kann nicht wahrnehmen. 51 Träumend geht es von einem zum anderen fort, wie sprunghaft und widersprüchlich das auch immer sein mag. Auch ein Traum bildet eine in sich geschlossene Welt, daher gibt es keinen kontinuierlichen Übergang vom Träumen zum Wahrnehmen, sondern nur ein Umkippen vom einen zum andern. Doch nur dem träumenden Bewusstsein erscheint seine Welt als geschlossen, das wache weiß, dass es in ihm Elemente geben kann, die beiden Welten angehören, und dem träumenden Bewusstsein als traumhaft-wirklich, dem wachen als wach-wirklich gelten. Gelingt es der träumenden Aufmerksamkeit, sich an ein solches Element zu binden und seinen impliziten wahrnehmbaren Verweisungen zu folgen, so findet es den Weg zu jener Welt, zu der dieses Element gehört. Es beginnt wahrzunehmen und träumt nicht mehr. Jetzt kann das Bewusstsein rückblickend zwischen illusionärer und wirklicher Gegenwart unterscheiden. Es weiß um sein Herkommen aus dem Traum und merkt, dass es jetzt nicht mehr träumt, sondern wahrnimmt, weil die wahrnehmende Präsenz sich ganz anders ausnimmt als die geträumte. Jetzt, wo es wirklich wahrnimmt, wandelt sich das, was vordem illusorisch gegenwärtig war, in Vergegenwärtigung. Der vergangene Traum gilt nunmehr als bloße Phantasie und wird als solche entwertet. Aber kann das Subjekt den Verweisungen folgen, die zum wahrnehmbaren Objekt im Traum gehören, wenn es träumt? Es glaubt, wach zu sein und wahrzunehmen, was es träumt, und wird die Elemente, die wahrgenommen sind, in das Traumgeschehen einbauen, selbst wenn es mehrere sind. Denken wir an das Weckerläuten im Traum. Dieses ist wahrnehmbar und hat seinen Horizont von Verweisungen auf anderes Wahrnehmbares. Wir wollen annehmen, das Traumbewusstsein höre den Wecker wirklich klingeln, nimmt das Klingeln aber sogleich in den Traumkontext auf und träumt eine Geschichte darum herum. Wenn Traum und Wahrgenommenes Bewusstseinsfeldern angehören, die einander ausschließen, dann kann das Traumbewusstsein den wahrnehmbaren Verweisungen gar nicht folgen, solange es träumt. Das kann es erst, wenn es in einer Weise geweckt wird, durch die es fähig wird, wahrzunehmen. Dann sieht es auch den Wecker und die Umgebung, zu der er gehört. Aber was kann im Traum weckend wirken? Vielleicht müssen mehrere wahrnehm-

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Vgl. Sartre, Das Imaginäre, a. a. O., S. 262 f.

55 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

bare Elemente in den Traum eindringen, die miteinander zusammenhängen, und sie müssen stark affektiv sein. Lauter Lärm, Geschütteltwerden oder drängende Leibreize lassen uns aufwachen und wahrnehmen. Aber damit ist noch nicht verstanden, wie das vor sich geht. Offenbar gibt es Gegenstände oder Vorkommnisse, die Teil eines Traums und Teil unseres Wachlebens sind. An ihnen können wir aufwachen. Das kann auch zu einem Schwanken zwischen wachem Wahrnehmen und Träumen führen. Wir glauben im Wahrnehmen wach oder zumindest wacher zu sein als im Träumen, sonst würden wir nicht von »Aufwachen« sprechen. Aber worauf stützt sich diese Annahme? Beruht das allein auf Konvention, etwa indem man das Wachsein durch die Fähigkeit wahrnehmen zu können bestimmt? Zunächst muss auffallen, dass der Übergang zum Wahrnehmen gleichsam hinter unserem Rücken geschieht: Es gibt Phasen, da glauben wir noch zu träumen, dabei nehmen wir schon wahr. Sobald wir merken, dass wir nicht mehr träumen, sondern wahrnehmen, ist die Traumwelt in die wahrgenommene Welt umgeschlagen. Eine Antwort auf die Frage, ob wir jetzt wacher sind als zuvor, muss sich an Kriterien des Wacherseins orientieren, und die bleiben willkürlich, solange es nicht gelingt anzugeben, worin es besteht, wach zu sein. Es erscheint uns selbstverständlich, dass wir wahrnehmend wacher sind als träumend, weil wir im Traum schlafen und damit unfähig sind wahrzunehmen, uns willkürlich zu bewegen und nicht wählen und entscheiden können. Das legt nahe, das Aufwachen in einen Zusammenhang mit Aktivität und Passivität zu bringen, was in mancher Hinsicht zutreffen mag, aber gewiss nicht durchwegs. Gerade das Wahrnehmen ist nie ohne passive Anteile. Es gibt Phasen, die ganz ohne (willentliche) Aktivität auskommen, von dieser Art ist insbesondere das Wahrnehmen, das eben aus einem Traum hervorgegangen ist. Da gibt es sich noch ganz als ein Geschehen, auch die Aufmerksamkeit ist in solchen Fällen nicht willkürlich, sondern etwas, das wir erleiden ähnlich der im Traum. Dieses anfängliche Wahrnehmen unterscheidet sich nicht durch Aktivität, sondern lediglich durch seine Funktion vom Traum. Ich kann etwas, was ich im Traum nicht kann, auch wenn dieses Können noch in keiner Weise von mir gewollt ist und auf meinen Absichten beruht. Es ist mir eine Fähigkeit zugefallen, die ich zuvor nicht hatte. Die Dinge und Ereignisse erscheinen in einer Selbstpräsenz und Klarheit und mit deutlichen räumlichen und zeitlichen Horizonten, wie es im Traum selten vorkommt, aber keineswegs ausgeschlossen ist. Etwas zu können, was wir zuvor nicht 56 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Übergangsphänomene

konnten, könnte man als ein Kriterium dafür nehmen, dass wir wacher sind als zuvor. 52 Dafür spricht vor allem die ganz andere Weise der Intentionalität im Wahrnehmen. Jedes wahrgenommene Ding enthält Verweisungen auf immer andere, noch nicht wahrgenommene Aspekte seiner selbst, die zu immer weiteren neuen Urimpressionen führen. Diese Weise originärer Gegebenheit gibt es weder im Traum noch im Tagtraum. Ein Traum teilt gewisse Züge mit dem Wahrgenommenen, andere mit einem Bild. Ein Bild bildet etwas ab, das unterscheidet es von dem, was wir wahrnehmen, wie auch von dem, was wir träumen. Aber das Geträumte ist ähnlich wie ein Bild in sich abgeschlossen. Ein Bild enthält Verweisungen auf anderes, aber das, auf das verwiesen wird, kann nicht im Bild erscheinen. Sehe ich mir das Bild eines Balls an, so weiß ich, dass der Ball eine Rückseite hat, aber das Bild zeigt sie mir nicht, ich kann es auch nicht umdrehen, um sie mir anzusehen. Es ist wie eine Momentaufnahme eines Prozesses, den es nur im Wahrnehmen gibt. Allerdings kennt auch der Traum, im Unterschied zum Bild, Bewegungsabläufe oder Abfolgen von Geschehnissen, aber auch sie machen den Eindruck, von vorneherein festzustehen. Es fehlt der entdeckende Charakter des Wahrnehmens. Wer wahrnehmen, erinnern und denken kann, kann diese Unterschiede bemerken und zur Einsicht gelangen, dass er im Übergang vom Traum zum pathischen Wahrnehmen eine Fähigkeit gewinnt, andererseits auch eine verliert, nämlich eine des spontanen assoziativen Verknüpfens, das anderen Regeln gehorcht als das Wahrnehmen oder gerade durch seine Regellosigkeit besticht. Für Descartes war diese Regelmäßigkeit Grund genug zur Annahme, dass wir in der Welt des Wahrnehmens wach sind. 53 Hinzu kommt das Argument der Intersubjektivität, das sich schon bei Heraklit findet. 54 Die wahrnehmbare Welt ist jedenfalls eine allen Menschen gemeinschaftliche Welt. Auch gibt es eine bemerkenswerte Asymmetrie zwischen Traum und Wahrnehmen: Als Wahrnehmende können wir uns erinnern, was wir vor dem Aufwachen geträumt haben. Im Traum da-

Vom Wachbewusstsein her gesehen können wir Vereinzeltes auch im Traum wahrnehmen, aber für das Traumbewusstsein ist auch dieses geträumt. 53 Vgl. Descartes, a. a. O., S. 161. 54 »Die Wachenden haben eine gemeinsame Welt, doch jeder Schlummernde wendet sich nur an seine eigene.« H. Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 1, Berlin 1906, B 89. 52

57 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

gegen entzieht sich das, was wir vor dem Einschlafen wahrgenommen haben, der Erinnerung. Solche oder ähnliche Kriterien für das Wachsein können wir anwenden, wenn wir wach sind, aber nicht, wenn wir träumen. Aber sind wir, wenn wir wahrnehmen können, schon wach genug dazu? Müssen wir dafür nicht mehr können, nämlich wenigstens willkürlich die Aufmerksamkeit auf etwas richten und urteilen? Es scheint, wir sind, wenn wir nicht schlafen und nicht träumen, noch nicht in jeder Hinsicht wach. Zu sagen, wir sind wach, wenn wir nicht schlafen, erscheint in diesem Kontext als eine grobe Vereinfachung. Der Sachverhalt des Wachseins ist komplexer. Einerseits scheint er etwas zu sein, das man fühlt, andererseits hängt er mit Fähigkeiten zusammen, so dass man sagen möchte: Je mehr einer kann, umso wacher ist er. Aber auch das stimmt so nicht, denn meist ist der Gewinn einer Fähigkeit mit dem Verlust einer anderen verbunden. Gibt es verschiedene Weisen, wach zu sein, die davon abhängen, was wir jeweils können, so ist der Übergang von einer Weise, wach zu sein, zu einer anderen durch den Zugewinn, allenfalls auch durch den Verlust eines Könnens bestimmt. Dabei wird etwas geweckt und anderes schläft ein. Beim Träumen weckt ein Element im Traum, das wahrgenommen wird, das noch schlafende Wahrnehmen. Wie das möglich sein soll, ist noch nicht geklärt, so dass wir gut daran tun, verwandte Phänomene hinzuzuziehen. Ein erstes ist der Übergang vom Tagtraum zum Wahrnehmen. Gilt uns der Übergang vom Traum ins Wahrnehmen bzw. Vergegenwärtigen als ein Aufwachen, so fragt sich, ob dies ebenso auf den Übergang vom Tagträumen ins Wahrnehmen zutreffe. Nennen wir alles Vergegenwärtigte »Vorstellung«, so sind sowohl das Träumen und Tagträumen sowie das absichtliche Phantasieren und Erinnern ein Vorstellen. Aber was dabei jeweils vorgestellt wird, unterscheidet sich strukturell erheblich. Traumvorstellungen sind im Gegensatz zum Tagtraum ein illusionäres Gegenwärtigen, d. h. wir halten das, was vorgestellt ist, für gegenwärtig, weil uns im Traum ein Bewusstsein wirklicher Gegenwart fehlt. Im Tagtraum ist der Kontakt zur Gegenwart nicht völlig abgebrochen, aber dazu kann es jederzeit kommen, und dann träumen wir. Worauf schon die Namen hinweisen, haben Traum und Tagtraum doch auch ihre Gemeinsamkeiten. Nicht nur bestehen beide aus Folgen von Vorstellungen, diese Vorstellungen sind auch unbeständig, sie tauchen auf und verschwin58 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Übergangsphänomene

den wieder ohne jedes Zutun unsererseits. Beide geschehen von selbst, und sie geschehen uns; beide sind etwas, das uns widerfährt, nicht etwas, das wir absichtlich hervorbringen. Manchmal sind Tagträume willentlich initiiert, aber auch dann verlaufen sie weitgehend ohne unser Zutun. Damit fehlt ihnen jene Identität, welche das willentliche Vergegenwärtigen kennzeichnet. In diesem können wir etwas als Identisches festhalten, im Traum und Tagtraum gibt es auch Identisches, aber dies ist eine Identität, nach der wir nicht gesucht haben, sie ergibt sich von selbst oder eben nicht und kann auch wieder zerfallen. Im Traum können Identitäten auch widersprüchlich sein, so dass z. B. ein und dieselbe Person zugleich noch andere Personen ist, was Freud »Verdichtung« 55 genannt hat, ein Phänomen, das auch dem Tagtraum nicht völlig fremd ist. Nicht selten schließen sich Tagträume an Träume an. Erwachen wir aus einem Traum, mag es geschehen, dass wir das eben Geträumte phantasierend fortspinnen und, statt hellwach zu werden, in einen Tagtraum geraten. Wir halten das Phantasierte nicht mehr für real, aber dies Irreale entwickelt sich wie ein Traum von selber. Manchmal schlafen wir dabei wieder ein und träumen, was in ein hin und her Pendeln zwischen Traum und Tagtraum führen kann. Im Gegensatz zum Träumen halte ich phantasierend das Phantasierte nicht für wirklich, glaube aber auch nicht, dass es nicht sei. Das Eigentümliche des Phantasierens kann man darin sehen, etwas so bewusst zu haben, als ob es wirklich wäre. In der Phantasie erfahren wir nicht wirklich, wie im Wahrnehmen, aber wir phantasieren uns in ein Erfahren hinein. In ihr ist etwas bewusst, »als ob« es gegenwärtig oder vergangen oder bloß möglich wäre. 56 Nach Husserl ist Phantasie Modifikation eines Wahrnehmens. Wie diesem kommt auch ihr ein Wahrnehmungsglaube zu, aber in modifizierter Form. In der Phantasie ist es mir so, als ob ich das Ding oder den Vorgang sähe, als ob er die und die Bestimmtheit hätte. Ich nehme ihn quasi wahr und glaube gleichsam, er sei wirklich 57, obschon es sich um eine »Quasi-Wirklichkeit« 58 handelt. Das Phantasieren im Tagtraum zeichnet sich zudem dadurch aus, nicht willentlich zu sein; wir sind ins Phantasieren verfallen, es

Siehe: J. Laplanche, J.-B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1973, S. 580. 56 Hua XXIII, S. 504. 57 Ebd., S. 220 ff. 58 Ebd., S. 281. 55

59 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

phantasiert ohne unser Zutun. Das Quasi-Wirkliche widerfährt uns und spinnt sich von selber fort. Wir erleiden es, auch wenn wir es nicht für real halten. Nimmt es sich in dieser Weise uns gegenüber selbstständig aus, so ist der Schritt nicht groß, es für wirklich oder doch beinahe wirklich zu halten. Der Tagtraum kann dann in einen echten Traum hinüber gleiten. Bekanntlich ist auch dem Bildbewusstsein eine solche Tendenz nicht fremd. Sitzen wir im Kino und lassen uns zunehmend vom Dargestellten einnehmen, so dass wir auch emotional voll beteiligt sind, kann es geschehen, dass wir den dargestellten Mord für wirklich, das dargestellte Blut für echtes Blut nehmen usw. Finden wir wieder von der Darstellung zur Wirklichkeit zurück, wird uns bewusst, dass wir im Kino sitzen, der Mord fiktiv und das Blut Farbe ist. So entsteht wieder Distanz, wir sind dann auch emotional beruhigt. Das gleicht dem Erwachen aus einem Traum. Ähnliches gibt es auch beim tagträumenden Phantasieren, auch dieses tendiert dazu, zugunsten eines beinahe Wirklichnehmens den Charakter des »Als-ob« abzuschwächen, und zwar umso mehr, je mehr wir es als etwas erfahren, das uns geschieht. Auch hier dürfte das Urteilen »es ist nur gleichsam so, und nicht wirklich« die Heftigkeit eindämmen, mit der uns das Phantasierte widerfährt. Dabei kann das Phantasieren weiter laufen, aber es wird distanzierter und hört schließlich ganz auf. Ich komme damit auf meine Frage zurück, ob wir den Übergang vom Tagtraum ins Wahrnehmen im gleichen Sinn ein Aufwachen nennen können, wie den vom Traum ins Wahrnehmen. Dieser Übergang schien uns durch den Umstand gekennzeichnet, im Wahrnehmen etwas zu können, was wir im Träumen nicht können. Das trifft für den Übergang vom Tagtraum ins Wahrnehmen nicht zu, denn wir nehmen auch im Tagtraum hintergründig wahr. Fällt das weg, träumen wir. Eher ließe sich behaupten, wir könnten im Tagträumen mehr als im Wahrnehmen, nämlich auch noch Vergegenwärtigen, dann wären wir nach dem Kriterium, wonach wir in einem Zustand wacher sind als in einem anderen, wenn wir mehr können als im vorhergehenden, sogar wacher als im Wahrnehmen. Dennoch haben wir intuitiv zumeist den Eindruck, das Gegenteil sei der Fall. Beim Übergang ins Wahrnehmen gibt es aber auch Gemeinsamkeiten zwischen Traum und Tagtraum. Zwar verhalten sich Tagtraum und Wahrnehmungswelt nicht wie zwei unverträgliche Welten zueinander, da das Wahrnehmen den Boden abgibt, von dem aus ein Vergegenwärtigen erst möglich wird, aber dieses hintergründige 60 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Übergangsphänomene

Wahrnehmen ist im Tagtraum kein Thema. Versunken in das fiktive Geschehen achte ich in keiner Weise auf das, was um mich ist. Erst wenn ein Ereignis aus der Umgebung die Aufmerksamkeit auf sich zieht, wird das vormals Unthematische thematisch, und das Vergegenwärtigte rückt in den Hintergrund und sinkt in die Vergangenheit. Dann nehmen wir aufmerksam wahr. Im Unterschied zum Träumen können wir im Tagträumen wahrnehmen und die Aufmerksamkeit auf etwas Wahrgenommenes richten, was im Traum nur möglich wäre, wenn wir wahrnehmen könnten, aber dann träumen wir nicht mehr. Im Tagträumen nehmen wir schon wahr, und so beruht der Übergang ins Wahrnehmen lediglich auf einer Wendung der Aufmerksamkeit. Auch dieser Übergang geschieht in einem plötzlichen Umschlag. Wie der Traum bildet auch der Tagtraum eine zusammenhängende imaginäre (ansatzweise) Welt, die nicht mit der des Wahrnehmens zusammen aufmerksam bewusst sein kann. Was phantasiert ist, kann nicht wahrgenommen sein und umgekehrt. Was dem Traum möglich ist, dass Wahrgenommenes in die Traumwelt aufgenommen wird, ist dem Tagtraum verwehrt: Wahrgenommenes, kann nicht als Teil einer imaginären Welt erscheinen und damit als Nicht-Gegenwärtiges; es muss im Hintergrund verbleiben. Gilt ihm die Aufmerksamkeit, dann gilt sie auch der wahrgenommenen Welt und der Tagtraum bricht ab. All das macht nicht wirklich verständlich, warum wir uns im Wahrnehmen wacher vorkommen als im Tagträumen. Vielleicht sollten wir nicht nur danach fragen, was wir erleben, sondern auch, wie wir es erleben und insbesondere, wie wir uns in diesem Erleben vorkommen, denn wach zu sein ist nicht ein Prädikat, das Dingen und Ereignissen zukommt, sondern dem Subjekt, dem sie bewusst sind. Es gibt einen Zug, der dem Traum, den hypnagogischen Bildern, die sich beim Einschlafen manchmal einstellen, dem Tagtraum, den geschehenden Wahrnehmungen, wie auch den Vorstellungen, die uns unwillkürlich einfallen, gemeinsam ist: Sie geschehen uns, sie sind etwas, das uns widerfährt. Im Tagtraum bekommen wir das Vorgestellte nicht in den Griff, es entgleitet uns, benimmt sich uns gegenüber durchaus selbständig, es entfaltet sein eigenes Leben, das uns gefangen nimmt und beherrscht. Deutlich zeigt sich dies wiederum im Traum: Ich entschließe mich z. B. etwas zu tun, doch schon im Entschließen fühle ich dabei, dass nicht ich mich entschließe, denn das Entschließen vollzieht sich merkwürdig passiv, so dass es viel passender wäre zu sagen »etwas entschließt sich in mir«. Oder ich will 61 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

im Traum die Aufmerksamkeit auf etwas richten, was auch ohne Weiteres gelingt, doch wiederum fühlt sich das an wie etwas, das mit mir geschieht, und nicht wie etwas, das ich tue. Im Extremfall bin ich ganz und gar dem eigenlebendigen Geschehen ausgeliefert, ähnlich wie bei starken Schmerzen oder Affekten. Ich verspüre, dass ich in bestimmt qualifizierter Weise betroffen bin, es packt mich, ergreift mich, schnürt mir die Kehle zu oder lässt mich vor Freude hüpfen. Dieses Pathische, das im Erleben von Leidenschaften besonders hervortritt, ist für alles Erleben charakteristisch, das wir erleiden, auch für das von Vorstellungen. Wollen wir den Eigenheiten dieses Erleidens nachgehen, müssen wir es mit dem willentlichen Vorstellen und Wahrnehmen kontrastieren und darauf achten, wie es sich beim Einschlafen in einen Tagtraum breitmacht. Aktives Phantasieren ist durch Absichten gekennzeichnet. Ich will mir dieses oder jenes bildlich vorstellen oder mir von diesen oder jenen Personen und Situationen ausgehend eine Geschichte phantasieren, die ich mir von Phase zu Phase ausdenke und dann vorstelle, wie das ist, wenn das oder jenes passiert. Sich etwas vorstellen und überhaupt etwas in beabsichtigter Weise bewusst haben wollen, nenne ich ein »mentales Wollen«. Es ist ein Wollen, durch das ich nicht tätig die Welt verändern will, sondern eines, das sich auf das Mentale beschränkt. Ich will in die Weise, wie etwas bewusst ist, eingreifen, will es verändern oder etwas, das mir nicht bewusst ist, bewusst haben. Was geschieht mit diesem Wollen, wenn die Aktivität in Passivität umschlägt? Im freien Phantasieren kann ich Beliebiges wollen: Ich will bestimmte Gegenstände phantasieren, eine Umgebung mit agierenden Menschen, die allerlei tun und denen dieses oder jenes begegnet. Ich will von einem Gegenstand zum andern übergehen, will mir ein Detail verdeutlichen, dann will ich, dass sich der Held meiner Geschichte an dieses oder jenes erinnert und Ähnliches. Geht das Phantasieren in einen Tagtraum über, wandelt sich vieles: Gegenstände, Menschen, Handlungen, Ereignisse drängen sich mir auf, meine Aufmerksamkeit wird von einem zu anderem verschoben; alles, was ich zuvor aktiv vollzogen habe, erscheint nun als etwas, das mit mir geschieht. Ich will nicht mehr selbst, mein Wollen wird geführt, gezwungen, kurz: Es ist in merkwürdiger Weise passiv geworden. Ein passives Wollen wäre allerdings ein Widerspruch; lässt sich so etwas denken, geschweige denn phänomenologisch aufweisen? Verfalle ich in diese passive Einstellung, so stelle ich mir zumeist keine Ziele vor, doch 62 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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selbst dies ist nicht ausgeschlossen. So kann es in einem Traum durchaus geschehen, dass ich mich entschließe, mir dieses oder jenes genauer »ansehen« zu wollen, aber dieses absichtliche Wollen erscheint merkwürdig erzwungen; ich fühle mich mehr erleidend als wollend. Das Wollen hat immer noch Ziele, ob ich sie eigens vorstelle oder nicht, aber sie erscheinen nicht als solche, die ich mir selbst gesetzt habe, sondern als vorgegeben und aufgezwungen durch die Vorstellungen, die von selbst eine Geschichte hervortreiben. Ein Wille, der gezwungen ist, fremdbestimmten Zielen zu folgen, kann zu Recht »widerwillig« genannt werden; er gleicht einem Kind, das Lebertran trinkt. Ist dieses passive Wollen eine Art Widerwille? Ich denke, die Antwort kann zunächst nur ein entschiedenes »nein« sein, denn wer fremdbestimmten Zielen folgt, will immer noch in einem aktiven Sinne etwas: Er verfolgt bewusst Ziele, auch wenn sie ihm vorgegeben sind und er dazu gezwungen wird. Untersucht man, was im Traum als Tätigkeit erscheint, so kann man zwei Arten von Tätigkeiten unterscheiden: imaginäre und nicht-imaginäre. Zu den imaginären gehören die Handlungen des imaginären Ichs und seine mentalen Akte, wie das Quasi-Wahrnehmen, das Verschieben der Aufmerksamkeit, das Urteilen, Vergleichen, Schließen, Rechnen, Sprechen usw. Diese Akte sind keine wirklichen, sondern vorgestellte Akte, und zwar Vergegenwärtigungen von Akten, deren Gegenstände im Traum illusionär als gegenwärtig erscheinen. Nicht imaginär ist nur das Imaginieren selbst. Dieses ist zwar wirklich, aber keine Tätigkeit, jedenfalls nicht meine, denn nicht ich selbst imaginiere im Traum, vielmehr ist dieses Imaginieren etwas, das mir geschieht, von dem ich betroffen bin. Ob an meiner Stelle etwas anderes will, ein »Es« oder was auch immer, sei dahingestellt. Wir wissen nur, dass uns etwas geschieht, aber nichts von einem fremden Subjekt als Akteur dieses Geschehens. Im wachen, willentlichen Phantasieren kann ich mein mentales Wollen vom imaginierten Wollen meiner imaginierten Personen (unter denen ich selbst sein kann) sehr wohl unterscheiden. Im Traum ist das imaginierte Wollen nicht gewollt, sondern geschieht von selbst und bleibt dabei imaginär. Komme ich selbst als imaginäre Person im Traum vor, so ist auch mein Wollen imaginär, aber davon weiß ich nichts, denn als ein illusionäres Gegenwärtigen eines Wollens halte ich es für gegenwärtig und glaube aktuell und wirklich zu wollen. Vom Imaginieren im Traum sagte ich, es sei nicht imaginär, sondern wirklich. Aber gewiss ist es nicht gewollt, sondern etwas, das mir ge63 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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schieht. Aus dem Phantasieren-Wollen ist ein Betroffensein durch das Phantasieren geworden. Ist das wache, aktive Phantasieren ein Bewusstseinsakt, sogar eine Tätigkeit, die ich will, die von meinem Wollen ausgeht, so erscheint das Phantasieren im Traum (und meist auch im Tagtraum) als etwas, das mir geschieht, das ich erleide. Im Übergang vom willentlichen Phantasieren in den Traum geschieht mit dem mentalen Wollen zweierlei: Es wird zu einem illusionären Wollen, und an Stelle des Wollens tritt ein Erleiden. Wenn wir uns absichtlich phantasierend ein Wollen vergegenwärtigen, so stellen wir uns vor, wie wir dieses oder jenes wollen, und wissen dieses imaginäre Wollen sehr wohl von einem wirklichen Wollen zu unterscheiden. Eben dies gelingt im Traum nicht. Da wird uns vorgestellt, dieses oder jenes zu wollen, aber dieses imaginäre Wollen erscheint uns in der illusionären Gegenwärtigung so, als ob wir wirklich wollten, und zugleich ist dieses Wollen von einer Aura der Passivität und des Zwangs umgeben. Was vordem aktiv, absichtlich imaginiert war, wird nun passiv erlitten. Im Übergang vom Vergegenwärtigen ins illusionäre Gegenwärtigen wandelt sich das ganze Erleben. Das Vergegenwärtigte, die phantasierten Inhalte, widerfährt uns ebenso wie die vergegenwärtigten Akte, sie geschehen von selbst, ohne unser Zutun. Sie sind nicht mehr Akte, nicht etwas, das ich vollziehe, sondern etwas, das ich erleide. Wir verspüren das als ein Sich-Aufdrängen von Gegenständen und Sachverhalten, wie es von Tagträumen, hypnagogischen Bildern, Träumen, aber auch von Zwangsideen oder Einfällen her bekannt ist. Das Aktive des Phantasierens hat sich ins Pathische gekehrt. Ein Imaginieren zu erleiden, statt zu vollziehen, ist so, als ob eine unbekannte Hand Regie führte. Nicht selten laufen Träume ab, wie ein Film, dem wir zusehen. Aber selbst wenn wir glauben, handelnd einzugreifen, erscheint dies merkwürdig zwanghaft. Das bildlich Vorgestellte spinnt sich zu einer Geschichte fort und weitet sich zu einer Welt aus. Ich bin nur Zuschauer und erleide, was immer geschieht, selbst dann, wenn ich mir einbilde, tätig zu sein. Was liegt in diesem Erleiden? Soweit noch das Bewusstsein vergangenen Könnens mitschwingt, ist es im Nachklang mentaler Aktivität negativ getönt. Ich fühle mich unfähig und ohnmächtig zu etwas. Aber es ist nicht bloß Privation des Aktiven: Es birgt eigene Möglichkeiten. Dazu gehört das Sich-Versenken in das, was begegnet und von selbst geschieht, was zu einem Gefühl der Hingabe und Aufgehen-in-etwas führen kann. So fühlen wir auch im Erleiden, dass 64 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Übergangsphänomene

wir zu etwas fähig sind, und diese Fähigkeiten sind nicht gering zu schätzen, auch wenn sie von anderer Art sind als die aktiven. Manches, was durch aktives Bemühen nicht bewusst werden will, wird es, wenn wir diese Aktivität sistieren und uns einer hingebenden, hinhorchenden Haltung überlassen. Dieses pathische Wachsein, wenn wir es denn so nennen wollen, führt nicht nur in den Schlaf; zu ihm gehören Phasen des Versenkens in Gefühle und Stimmungen, des Zulassens von Assoziationen und Einfällen. Das sind Fähigkeiten, die dem wollenden und tätigen aktiven Wachsein abgehen. Es wird sich zeigen, dass pathisches und aktives Wachsein nicht nur phasenweise ineinander übergehen und einander ablösen. Zwar gibt es Phasen pathischen Wachseins ohne aktives, aber doch nur im Traum und in den Übergängen des Einschlafens und Aufwachens. Aktives Wachsein ist dagegen immer von pathischem begleitet, weil das pathisch Bewusste den Boden abgibt, auf dem das aktive gedeiht. Wenn wir vergegenwärtigen, müssen wir hintergründig wahrnehmen, aber das ist kein absichtliches aktives Wahrnehmen, sondern eines, das pathisch mitläuft. Auch unser Denken, selbst wenn es unseren Absichten folgt, beruht öfters nicht allein auf unserer Tätigkeit, sondern wird nicht selten, etwa wenn es stecken zu bleiben droht, durch Einfälle weiter gebracht, die dann hinterher einer analytischen Überprüfung unterzogen werden können, was uns glauben lässt, alles hätte sich von Anfang an nach dem Leitfaden der Logik entwickelt. Beide Weisen, sich wach zu Fühlen, die pathische wie die aktive, scheinen ein Gefühl zu sein, das sich nicht allein auf das bezieht, was gerade jetzt bewusst ist, sondern auch auf solches, das bewusst werden könnte. So weit es auf Zukünftiges verweist, gleicht es Gefühlen, wie Furcht und Angst oder Hoffnung und Sehnsucht. Als auf Zukünftiges gerichtet bildet das Wachsein eine Bedingung für bewusstes Erleben. Ich bin pathisch wach, wenn mich etwas betrifft, ich bin es aber schon zuvor, nur fühle ich mich nicht betroffen, sondern fürchte es zu werden. So etwas schwingt auch in der erwähnten hingebenden Haltung mit. Wenn das aktive Wachsein durch ein Gefühl des Könnens und Gelingens bis hin zu einem Mächtigsein gekennzeichnet ist, so bezieht sich das auf das, was gegenwärtig bewusst ist, dazu gehört aber auch die Hoffnung auf weiteres Gelingen und allenfalls auch die Furcht vor Misslingen. Träume, Tagträume, pathisches Wahrnehmen, Strebungen, Gefühle, Stimmungen und nicht zuletzt Schmerzen erleiden wir. Aber wir erleiden nicht alles in gleicher Weise. Wäre das so, könnten wir 65 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

das Aufwachen, jedenfalls im Bereich pathischen Erlebens, allein auf quantitative Unterschiede im Erleiden zurückführen. Abnehmendes Leiden wäre dann gleichbedeutend mit Aufwachen, zunehmendes mit Einschlafen. Aber die Realität macht es uns nicht so einfach. Die qualitativen Unterschiede im Erleiden sind zu offensichtlich. Was ich träume, erleide ich anders, als was ich pathisch wahrnehme, phantasiere oder fühle. Werden diese Erlebnisse qualitativ unterschiedlich erlitten, dürfen wir vermuten, dass wir in ihnen auf qualitativ unterschiedliche Weise wach sind. 59 Sollte sich das bestätigen, so wäre der Übergang vom Träumen oder Tagträumen ins pathische Wahrnehmen vor allem einer in eine andere Weise des Erleidens und damit des Wachseins. Ob es sich dabei auch um ein Aufwachen im Sinne eines Wacher-Werdens handelt, ist erst zu beurteilen, wenn die Frage geklärt ist, ob es Kriterien für das Wacher-Sein unterschiedlicher Weisen des Wachseins gibt. Ein solches Kriterium hat sich jedenfalls gefunden: Sind wir aktiv wach, können wir mental etwas wollen und fühlen uns intuitiv wacher als im pathischen Wachsein. Im absichtlichen aufmerksamen Wahrnehmen fühlen wir uns wacher als in einem Wahrnehmen, in dem wir selbstverloren den sinnlichen Eindrücken hingegeben sind. Wir fühlen uns auch wacher als in einem Tagtraum oder einem Traum. Die Frage, warum wir uns im aktiven Wahrnehmen wacher fühlen als in diesen, hat nun eine Antwort gefunden: Wir sind wacher, weil wir willentlich aufmerksam sein können. Ob wir auch aufwachen im Übergang vom Traum in ein pathisches Wahrnehmen, sei einstweilen dahingestellt. Vom Tagträumen kommen wir ins Wahrnehmen, sobald etwas aus der Umgebung stört und die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Das geschieht zunächst pathisch, so dass wir anfänglich auch nur pathisch wahrnehmen. Das Aufwachen aus einem Traum nimmt sich komplexer aus. Wenn auch dabei, wie vermutet, dem Wahrnehmen eine weckende Funktion zukommt, sollten wir uns Aspekten des Wahrnehmens und der Intentionalität zuwenden, in denen so etwas wie ein Wecken zum Zug kommt.

Dazu unten das Kap. II, 2 Die Weisen des Betroffenseins und die Modi pathischen Wachseins.

59

66 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Übergangsphänomene

2.2

Zusammenbruch und Wiederaufbau der Intentionalität – Einengung und Erweiterung des Bewusstseinsfeldes

Die Phänomene des Übergangs zwischen Traum oder Tagtraum und dem Wahrnehmen haben ihre Parallelen in anderen Phänomenen, die ihnen insofern verwandt sind, als es sich auch dabei um Übergänge zwischen unterschiedlichen Bewusstseinsweisen handelt, etwa um Störungen des normalen Erfahrens, wie dem Schreck oder dem Übergang vom Wahrnehmen ins Empfinden. Auch diese Übergänge sind keine Einbahnstraßen: Die Intentionalität bricht zusammen, kann sich aber wieder aufbauen. Es sind Übergänge, bei denen etwas verschwindet und etwas anderes auftaucht. Sie können auch in umgekehrter Richtung ablaufen und sich wiederholen. Darin kommen sie dem Einschlafen und Aufwachen nahe. Da es dabei immer um Übergänge vom Wahrnehmen in andere Bewusstseinszustände oder umgekehrt von diesen ins Wahrnehmen geht, wollen wir mit dem Wahrnehmen beginnen. So sehr man angesichts einer verbreiteten Ansicht betonen muss, Wahrnehmen sei nicht nur ein passives Geschehen, ist doch nicht zu übersehen, dass ihm passive Züge zukommen, und dies in mehrfacher Hinsicht. Achten wir zunächst auf die Aktivitäten verschiedener Sinne, so finden wir beim Tasten die Bewegung der Hände und Finger, beim Sehen die der Augen und des Kopfes, beim Schmecken diejenigen des Mundes, der Mundhöhle und der Zunge, beim Hören zumindest das Sich-Hinwenden in Richtung auf das tönende Objekt und beim Riechen das Schnuppern. Am wenigsten Aktivität scheint der Wärme-Kälte-Sinn aufzuweisen. Von ihm können wir sagen, er sei der passivste, wenn wir mit »Passivität« einen Mangel an körperlicher Aktivität meinen. Im Zusammenhang mit dem Wahrnehmen kann »Passivität« jedoch noch einen anderen Sinn annehmen: In der tastenden Bewegung der Finger z. B. erscheint ein Gegenstand, und in diesem Erscheinen lässt sich wieder ein passives Angemutetwerden von der Aktivität unterscheiden, die dem Wahrnehmen zukommt. Wenn ich einen Quarzkristall in den Händen drehe und wende und mit den Fingern über seine Oberflächen fahre, heben sich im darüber hinweg Streichen deutlich rechteckige und dreieckige Flächen ab, von scharfen Kanten begrenzt und von unterschiedlicher Größe und Form. Diese Eigenschaften treten im tätigen Ertasten hervor und verschwinden wieder, sobald ich den Stein ruhig in der Hand halte. Was da während des Bewegens erscheint, begegnet 67 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

als etwas, das schon da ist, ohne von ihm erzeugt zu sein. Das Aufdrängende, das bei anderen Sinnen stärker hervortreten kann, wird hier durch die Bewegung gemildert, und dennoch: Was mir in ihr entgegentritt, macht mich in gewisser Weise betroffen, die Bewegung ist zugleich rezeptiv, ist bewegte Rezeptivität und damit in einer anderen Hinsicht als zuvor auch passiv. Bei passiveren Sinnen, wie dem Hören, tritt das Aufdrängende des Wahrgenommenen stärker hervor, so dass das Betroffensein heftiger ausfällt. Ich denke etwa an lauten Lärm, an störende, sich aufdrängende Geräusche, wie einen tropfenden Wasserhahn, oder an das Stimmengewirr im Eisenbahnwagen, das beim Lesen so sehr irritieren kann. Es ist diese, der Aktivität entgegenstehende Passivität des Wahrnehmens, die für die Frage nach seinen pathischen Anteilen von Interesse ist. Am ausgeprägtesten zeigt sich diese Passivität im Schreck. Schreck erleben wir als ein extremes wahrnehmendes Ausgesetztsein. In ihm fühlen wir uns ähnlich stark betroffen wie im Angsterleben, obschon er sich davon qualitativ erheblich unterscheidet. Wir erschrecken, wenn wir Unerwartetes wahrnehmen, wir zucken zusammen und werden starr vor Schreck. Schon diese Reaktionen machen deutlich, dass es sich beim Schreck um eine leibliche Regung handelt, wir verspüren ihn klar als örtlich begrenzt, wenn er uns in die Glieder fährt. Das sind Gemeinplätze, denen man die Zustimmung kaum versagen wird. Fragt man jedoch genauer nach, was unter dem »Unerwarteten« zu verstehen sei, das uns erschrecken lässt, wird man zu Zusammenhängen geführt, die über den Schreck hinaus für das Wahrnehmen im Allgemeinen und für seine Beziehung zum Wachsein im Besonderen von Bedeutung sind. In welchem Sinn ist das unerwartet, was uns in Schreck versetzt? Damit kann gemeint sein, dass wir etwas erwarten und dann erscheint etwas anderes als erwartet wurde. Oder es ist so zu verstehen, dass wir gar nichts erwarten und es erscheint überraschend doch etwas. Beide Bedeutungen des Wortes sind für unseren Problemzusammenhang nicht von Belang. Die erste verweist eher auf eine Enttäuschung 60 als auf ein Erschrecken, die zweite dürfte schon darum verfehlt sein, weil wir in einem bestimmten Sinne von »Erwartung« immer etwas erwarten, wenn wir wahrnehmen. »Erwartung« kann heißen: 1. Erwartung im Sinne von Vergegenwärtigung, d. h. wir stellen uns vor, was in Zukunft geschehen wird. 2. Erwartung in 60

Zur Enttäuschung siehe Hua XI, §§ 5–7.

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Übergangsphänomene

dem Sinne, den Husserl »Protention« genannt hat, d. h. im Sinne von Vorweisungen, in denen das Kommende leer konstituiert ist und wahrnehmend zur Erfüllung gebracht werden kann. 61 Für Husserl ist ein Gegenwartsmoment kein punktuelles Jetzt: Jedes Jetzt hat seine momentane Dauer und ist mit dem vorhergehenden vergangenen und dem nachfolgenden künftigen Jetzt verbunden, indem das eben Kommende in einer Protention leer vorgestellt und das eben Vergangene in einer Retention noch im Griff behalten wird. Der Wahrnehmungsprozess wird so zu einem Verlauf ständiger Erfüllung und Entleerung, in dem jedes Jetzt, jede »Urimpression«, das soeben Gewesene in einer Retention im Griff behält und in einer Protention auf das soeben Kommende vorweist. Die sinnliche Fülle jeder Urimpression verliert sich im Absinken in die Vergangenheit und dabei werden erfüllte Urimpressionen zunehmend entleert und protentionale Leerintentionen mit jeder neuen Urimpression erfüllt oder enttäuscht. Die noch unerfüllten (und unenttäuschten) Protentionen sind im Gegensatz zu Erwartungen im Sinne von Vorstellungen nicht, wie diese, eigene Erlebnisse, nämlich Vergegenwärtigungen, sondern unvollständige Momente von Urimpressionen, welche in die Zukunft voraus weisen. Das Unerwartete, das uns erschrecken lässt, ist nicht im Sinne einer Vergegenwärtigung, sondern in dem einer Protention unerwartet. Protentionen gehören zu jedem Wahrnehmungsprozess, es ist unmöglich, etwas ohne sie wahrzunehmen. Damit fällt auch die zweite Bedeutung von »unerwartet« dahin, da in jeder Wahrnehmung, also auch wenn wir erschrecken, Protentionen am Werk sind, also in diesem Sinn immer etwas erwartet wird. Wir müssen damit erneut fragen, was Schreck sei, was ihn auslöst, in welchem Sinne er als unerwartet gelten kann und insbesondere, wodurch er sich von Enttäuschungen unterscheidet. Ich beginne mit dem Letzteren und greife ein Beispiel für Enttäuschung auf, das Husserl in seinen »Analysen zur passiven Synthesis« erwähnt: Wir sehen die Vorderseite einer roten Kugel und nehmen selbstverständlich an, auch die Rückseite sei rot und kugelförmig, was sich jedoch als falsch erweist, sie ist statt dessen grün und eingebeult. 62 Husserl fasst Enttäuschung als Modifikation einer normalen Wahrnehmung, in der einige der ursprünglichen Intentionen »Durchstreichung« erfahren und damit als »nichtig« gelten. Stellt 61 62

Hua X, S. 52. Hua XI, S. 29 f.

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Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

sich eine ursprünglich als rot angenommene Rückseite als grün heraus, so besteht die Intention auf Rot weiterhin, doch erhält sie nun den Charakter »aufgehoben«, »ungültig« zu sein. Der gegenständliche Sinn bleibt erhalten, nur seine Seinsmodalität hat sich verändert, er ist nicht mehr in unbestrittener Einstimmigkeit, sondern bestritten und negiert. 63 Schreck dagegen entsteht erst dann, wenn dem, was erscheint, der Zusammenhang mit dem bisher Erschienenen abhanden gekommen ist, wenn der Bruch so groß ist, dass wir für Momente nicht wissen, womit wir es zu tun haben. Während in der Enttäuschung der frühere, nunmehr als falsch erwiesene Sinn erhalten bleibt, geht das, was erschreckt, völlig an den Erwartungen vorbei. Das, was erschreckt, kommt unerwartet, weil wir in Bezug auf dieses gar nichts erwartet haben. Was uns in einer Situation erschreckt, kann in einer anderen als selbstverständlich erscheinen, sofern wir es erwartet haben. Dazu ein Beispiel: Ich sitze in einer einsamen Berghütte und versuche im Dunkeln bei Kerzenlicht zu lesen. In diesem Sinnverstehen und im hintergründigen Wahrnehmen der Umgebung liegt eine Vielzahl von Protentionen, die im weiteren Verlauf zumeist erfüllt werden. Plötzlich ertönt ein entsetzliches Geschrei aus dem Kamin. Vieles andere habe ich erwartet, nur das nicht. In Bezug darauf hatte ich weder zutreffende noch unzutreffende Protentionen, sondern gar keine. Später lernte ich das Geräusch als das durchdringende Geschrei eines Siebenschläfers kennen; es hat mich niemals mehr in dem Maß erschreckt wie beim ersten Mal. Wenn wir erschrecken, mögen wir vielerlei erwarten, doch das, was dann auftaucht, kommt unerwartet. Da wir keine Erwartung haben, die in irgend einem Sinn etwas mit dem, was eintrifft, zu tun hat, kann es auch zu keiner Enttäuschung kommen, statt dessen erschrecken wir. Hätte ich in meiner Hütte irgendein Geräusch dieser Art erwartet, wäre ich nicht erschrocken. Dies wirft ein Licht auf die Rolle der Protentionen im Wahrnehmen sowie auf die ihm eigene Pathizität. Schreckerleben ist gekennzeichnet durch eine auffallende Leere an Sinn und einen Einbruch an Fülle, die uns überflutet. Niemals sonst kommt es im Verlauf des Wahrnehmens zu derart extremem Betroffensein. Der Unterbruch des Sinnzusammenhangs macht das Erscheinende unbeherrschbar und überwältigend, strukturlos und ungegliedert wird es unfassbar, und darin liegt das eigentlich Erschreckende und Überwältigende. 63

Ebd., S. 32 f.

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Übergangsphänomene

Wir erschrecken, weil wir für Augenblicke in keiner Weise wissen, womit wir es zu tun haben. Anders als Furcht oder Angst gehört der Schreck nicht zu jenen Regungen, die durch etwas Wahrgenommenes ausgelöst werden, das als bedrohlich erscheint. Es ist ein Betroffensein durch etwas unerwartet Wahrgenommenes, das zwar als bedrohlich erscheinen kann, aber nicht weil wir es als Gefahr ansehen, sondern weil wir es weder erwartet haben noch wissen, was es ist. 64 Im Schreck fährt uns das nackt und bloß in die Glieder, was immer als ein Widerfahrnis dem Wahrnehmen zugrunde liegt. Wahrnehmend erscheint uns etwas als etwas; was immer erscheint, ist schon als etwas aufgefasst, in diesem oder jenem Sinn. Im Erschrecken als einem extrem pathischen Erleben gerät die Intentionalität aus den Fugen. Was erschreckt, ist ohne Bedeutung, es wird höchstens als unbestimmte Bedrohung aufgefasst. In ihm deutet sich an, dass das, was als etwas erscheint, über dieses Als-etwas-Erscheinen hinaus, auch noch ist, nämlich mehr, als es bedeutet, oder auch weniger. 65 Was wir als Schreck erleben, fällt aus dem normalen Wahrnehmungsprozess heraus, muss aber doch, wenn auch in veränderter Form, zu ihm gehören, eben als das, was uns widerfährt und das wir als etwas auffassen. Wir erschrecken nicht, wenn es als das oder jenes aufgefasst ist, sondern dann, wenn solche Intentionen ausbleiben. Sowie sich die Intentionalität wieder aufbaut, lässt der Schreck nach. Das Erschrecken beginnt, wenn die Kontinuität des Wahrnehmungsprozesses zerrissen wird, d. h. wenn die Protentionen weder erfüllt noch enttäuscht werden und schließlich ganz ausbleiben; und es endet, sobald wir wissen, wodurch es ausgelöst wurde, womit sich die Kontinuität wieder herstellt. So tritt der Schreck an die Stelle des Wahrnehmens von Unerwartetem und damit von etwas, von dem wir im Moment des Erschreckens nicht wissen, was es ist oder sein könnte. Man möchte sagen, er sei selbst dieses Wahrnehmen, obschon im Erschrecken vor lauter Betroffenheit nichts mehr wahrgenommen wird. Im Schreck tritt das in jedem Wahrnehmen enthaltene Pathische weit stärker hervor als in normalen Wahrnehmungsprozessen. Offenbar haben Schreck- und Schmerzerleben einiges gemeinsam. Dazu Dazu Freud: »Schreck aber benennt den Zustand, in den man gerät, wenn man in Gefahr kommt, ohne auf sie vorbereitet zu sein«. Jenseits des Lustprinzips, Studienausgabe, Bd. 3, S. 223. 65 Vgl. B. Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung, Frankfurt a. M. 2002, S. 33. 64

71 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

gehört nicht nur die mit Macht sich aufdrängende Affektion, wir finden auch hier ein Widerstreben, das sich, solange der Schreck dauert, ebenso ohnmächtig ausnimmt wie dasjenige im Schmerz. Wie bei Schmerzen oder starken Emotionen fühlen wir uns im Schreckerleben betroffen, und mit dem Wiederaufbau der Intentionalität nimmt diese Betroffenheit wieder ab, so dass im normalen Wahrnehmen nur noch wenig davon zu merken ist. Doch ganz ohne Affektion kommt das Wahrnehmen nicht aus, darauf angewiesen, dass uns etwas widerfährt, erleiden wir es. 66 Zwar geht dem Erleiden im Wahrnehmen alles Schreckhafte ab: Es fehlt das plötzliche Zusammenzucken, das In-die-Enge-getrieben-Sein, was weiter nicht verwunderlich ist, da nun anstelle eines chaotischen Überwältigtwerdens ein Gegenstand präsent ist, dessen Sinngehalt in Protentionen vorgezeichnet wurde. Dieselbe Art Schrei, die ich jetzt als Schrei eines Siebenschläfers kenne, hat mich damals so sehr erschreckt, dass ich für Augenblicke kaum in der Lage war, ihn auch nur als eine Art Geschrei zu identifizieren. Was mich damals erschreckt hat und was ich jetzt höre, wenn wieder so ein Tier herumkrächzt, ist zwar seiner Art nach dasselbe, seine Erscheinungsweise hat sich aber so sehr verändert, dass man glauben möchte, man habe es mit unterschiedlichen Sachverhalten zu tun. Das Erschrecken wegen des Geschreis ist kein stärkeres Hören des Geschreis und das Hören nicht ein schwächeres Erschrecken. Man möchte sagen, beides seien unterschiedliche Erscheinungsweisen derselben Sache, wenn da nicht der Umstand wäre, dass im Schreck kaum mehr etwas erscheint. Ich habe diesen Unterschied zwischen Hören und Erschrecken auf die fehlenden oder fungierenden Protentionen zurückgeführt. Wenn eine Protention eben Kommendes leer vorzeichnet, wird sie erfüllt oder enttäuscht oder es entstehen weitere Modalisierungen. Im Falle einer Erfüllung ergibt sich Husserl zufolge eine Deckungssynthesis der gegenständlichen Sinne, bei einer Enttäuschung resultiert Widerstreit. Beide Mal erscheint, was erscheint, im Licht eines, sei es auch noch so vagen protentionalen Sinnes; dies ist nicht nur der Grund dafür, dass wir nicht erschrecken, es ist ebenso der Grund für Waldenfels weist darauf hin, dass die grundlegende Bedeutung des griechischen »Pathos« die des Widerfahrnisses sei als etwas, das uns ohne unser eigenes Zutun zustößt oder entgegenkommt. Die Bedeutung spielt aber auch ins Widrige hinüber, da es nicht nur ohne unser Zutun und wider Erwarten, sondern auch entgegen unseren Wünschen eintreten kann und in Situationen vorkommt, in denen wir nicht Herr der Lage sind. Waldenfels, a. a. O., S. 15, vgl. 61.

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72 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Übergangsphänomene

die erheblichen qualitativen Unterschiede zwischen normalem Wahrnehmen und Schreck. Beide sind nicht nur quantitativ verschieden: Wahrnehmen ist nicht ein schwächeres Erschrecken, aber sicherlich ist das, was uns im normalem Wahrnehmen widerfährt, weit weniger intensiv, es wirkt gegenüber dem Schreck gehemmt. Auch erscheint, was da erscheint, in mehr oder weniger bestimmter Weise, nicht unbestimmt und chaotisch wie der Schreck. Was immer ich wahrnehme, es mutet mich in einer Weise an, die wesentlich durch meinen Erwartungshorizont mitbestimmt ist. Woher kommt diese hemmende Funktion und wie hängt sie mit der Bestimmtheit des Wahrgenommenen zusammen? Wie sich gezeigt hat, erschrecken wir dann, wenn wir für Augenblicke nicht wissen, womit wir es zu tun haben. Das Wissen, das hier fehlt, muss nicht ein explizites Erkennen in Form eines Urteils sein, ein solches kann sich auch gar nicht herausbilden, solange wir uns auf den Bereich des pathischen Erlebens beschränken. Auch wenn wir von unseren Urteilen über das Wahrgenommene absehen, hat jedes räumliche Ding seinen objektiven Sinn, der in der Wahrnehmung nie vollständig gegeben ist, sondern nur im Nacheinander stets einseitiger Erscheinungen. Wir sehen immer nur einzelne Seiten eines Gegenstandes, niemals alle zugleich. Was erscheint, erscheint in »perspektivischen Abschattungen« (Husserl), wobei uns in jedem Moment des Wahrnehmungsverlaufs bewusst ist, dass sich der gegenständliche Sinn des Dinges nicht in dem erschöpft, was wir gerade jetzt wirklich sehen. Wir wissen stets, dass mehr zu ihm gehört, und dieses Mehr ist leer, unanschaulich, mitgemeint. Wir können zwischen original Bewusstem und leer Vermeintem unterscheiden, das auf mögliche neue Wahrnehmungen verweist. So ist jedes Wahrgenommene ein System von Verweisungen auf solches, das auch noch wahrzunehmen wäre. Zu jedem Originalbewusstsein gehört ein intentionaler Horizont leerer Vorzeichnungen, in denen, wenn auch unbestimmt, auf das verwiesen wird, was sich im weiteren Wahrnehmungsverlauf noch zeigen kann. Sieht man das Erschrecken im Zusammenhang dieser Struktur des Wahrnehmens 67, folgt für unser obiges Beispiel etwa Folgendes: Kenne ich das Geschrei von Siebenschläfern und höre unerwartet einen schreien, so mag ich zwar im ersten Augenblick erschrecken. Es widerfährt mir etwas, das nicht als etwas erscheint, mithin nicht intentional bewusst ist. Aber dann 67

Siehe dazu: Hua XI, §§ 1–3.

73 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

weiß ich rasch, um was es geht, und es stellen sich bestimmte Urimpressionen und mit ihnen bestimmte Protentionen ein, die nicht mehr erschreckend sind und nicht mehr im selben Maß betroffen machen. Waldenfels hat bemerkt, dass wir das, was uns in solchen Störphänomenen wie dem Scheck widerfährt, als Getroffensein denken sollten. Damit zielt er auf etwas, das nach seiner Meinung im Ausdruck »Betroffenheit« zu wenig hervortrete, nämlich dass uns das, was uns widerfährt, wie ein Blitz treffen könne, also auch verletzend wirke. 68 Darin liege »ein Moment der Vorgängigkeit. Was uns zustößt oder zufällt, ist immer schon geschehen, wenn wir darauf antworten.« 69 Wir antworten auf das, was uns trifft, indem wir es »auf diese oder jene Weise meinen oder erstreben.« 70 In den Störungen kommt dieses Getroffensein zum Vorschein, in ruhigeren Phasen tritt es in die Latenz zurück, gehört aber dennoch mit zur Ordnung des geordneten Wahrnehmens. Die »Vorgängigkeit« des Widerfahrnisses versteht Waldenfels als »Vorgängigkeit einer Wirkung, die ihrer Ursache vorausgeht« 71. Was immer die Ursache sein mag, sie gehört schon unserer Auffassung an und damit zur Antwort, die wir auf sie gegeben haben. Dass es da etwas gibt, das uns trifft, liegt vor der Erfahrung, diese ist ohne etwas, das uns affiziert. 72 Bleibt ein Widerfahrnis ohne Antwort wie im Schreck, fühlen wir uns verletzt und leiden. Setzt die Intentionalität wieder ein, lässt der Schreck nach und das Widerfahrnis tritt in geordnetere Bahnen zurück. Denken wir an Fälle gestörter Intentionalität wie das Erschrecken, so erscheint die Rede von »Getroffenheit« durchaus treffend und die von »Vorgängigkeit« nicht weniger, denn da gleicht die Ursache des Getroffenwerdens in der Tat einem Ding an sich im Sinne Kants. 73 Aber was für den gestörten Wahrnehmungsverlauf gilt, gilt nicht gleichermaßen für das normale Geschehen. Wenn wir auf das, was uns begegnet, zu antworten vermögen, so nimmt diese Antwort Bezug auf das, was uns entgegenkommt, und beruht auf einem wahrWaldenfels, a. a. O., S. 60 f. Ebd., S. 56. 70 Ebd., S. 60. 71 Ebd., S. 58. 72 Im Übrigen hat schon Husserl darauf hingewiesen, dass das, was sich aufdrängt und einen Reiz ausübt, kein Gegenstand im eigentlichen Sinne sei. Vgl. EU, S. 81 mit Anm. 1. 73 Siehe Waldenfels, a. a. O., S. 59. 68 69

74 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Übergangsphänomene

nehmenden oder denkenden Hinnehmen des Gegebenen. Sie ist kein spontanes oder gar schöpferisches Entwerfen. 74 Werden wir, wie beim Erschrecken, von Seienden in einer Weise getroffen, die keine Erfahrung zulässt, kommt es auch zu keiner Antwort. Da, wo Erfahrung möglich ist, zeigt sich etwas von sich her, das sich so und so als etwas auffassen lässt. Damit fügen wir es in einen größeren Zusammenhang ein. Da passt der Ausdruck »Getroffenheit« nicht mehr. Jeder Erfahrung eignet ein Moment der Begegnung, in der uns etwas geschieht und manchmal auch bedrängt. Ich werde dafür weiterhin den Ausdruck »Betroffenheit« verwenden, allerdings nicht in seiner umgangssprachlichen Bedeutung, in der das gefühlsmäßige Bedeutungsmoment im Vordergrund steht, etwa wenn wir sagen »etwas hat mich betroffen gemacht«, nämlich das Bestehen und Nichtbestehen eines Sachverhalts. Ich verwende dagegen »Betroffenheit« in einem weiteren Sinne, wonach beliebige Erlebnisse im Betroffensein erlebt werden, nicht nur Gefühle. So besteht z. B. das Betroffensein durch Trauer darin, dass mich Traurigkeit überkommt, dass ich von Trauer ergriffen werde. Aber auch Gedanken oder Erinnerungen können mich betreffen, wenn sie mir einfallen. Lässt der Schreck nach und kommen wieder Intentionen auf, nimmt die Betroffenheit ab, und es erscheint wieder etwas. Es macht den Anschein, die Affektivität des Wahrnehmens, die Aufdringlichkeit, mit der sich etwas aufdrängt 75, werde durch die Intentionalität gehemmt und durch ihr Wegfallen enthemmt. Vorab drängt sich die Intuition auf, dass bekannte Dinge und Vorgänge mich weniger beeindrucken, mich eher kühl lassen und mir distanzierter begegnen als solche, die mir neu und unbekannt sind. Der Wahrnehmungsverlauf bekannter Dinge und Vorgänge unterscheidet sich von dem unbekannter durch die Protentionen, welche im ersten Fall bestimmter ausfallen als im zweiten, da das Bekanntere bestimmtere Erwartungen ermöglicht, während das Unbekannte nur unbestimmt allgemein-vage intendiert werden kann. Dies lässt sich verdeutlichen am Beispiel einer bekannten Melodie, bei der wir in jedem ihrer Zeitpunkte ziemlich sicher wissen, wie es weitergehen wird, während wir uns bei unbekannten Melodien oder gar ganz fremden Musikarten (chinesische Musik z. B.) mit unseren Erwartungen im Leeren heVgl. H. Kunz: Die eine Welt und die Weisen des In-der-Welt-seins. Gesammelte Schriften in Einzelausgaben, Bd. 6, Frauenfeld, Stuttgart, Wien 2007, S. 20. 75 Husserl, EU, S. 80. 74

75 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

rumtappen. Bestimmtere Protentionen scheinen das eben-bewusstWerdende stärker in den Griff zu nehmen, es sozusagen in die Form des Erwarteten zu zwingen, so dass es an Lebendigkeit einbüßt. Was bestimmtere Protentionen erfüllt, macht uns weniger betroffen als das, was unbestimmtere erfüllt. Dabei ist die Erfüllung nie endgültig, jede enthält weitere Leerintentionen, die wiederum Erfüllung erheischen, so dass jede Bestimmtheit weitere Näherbestimmung zulässt. 76 Das Vertraute ist zumeist bestimmter und bekannter als das Unvertraute. Dringen wir in ein verlassenes leer stehendes Haus ein, so wissen wir ungefähr, was uns erwartet: kahle Räume, da und dort liegen gelassenes Gerümpel, herunterhängende Tapeten, losgerissene Leitungen, unsichere Böden usw., aber das bleibt doch sehr im Allgemeinen. Was dann erscheint, überrascht immer wieder. Es überrascht nicht dadurch, dass es anders wäre als erwartet, sondern dadurch, dass es gerade so ist, dass das vage Vorgezeichnete gerade in dieser Weise näher bestimmt ist, wobei auch andere Näherbestimmungen überraschend gewesen wären. Überraschung ist dem Schreck in gewisser Weise verwandt: Was überrascht, macht uns betroffen, überwältigt bis zu einem gewissen Grad, jedoch nicht in dem Maß wie der Schreck. Während das Erschreckende gänzlich unerwartet auftaucht, wird das Überraschende zwar erwartet, aber doch nicht so, wie es dann erscheint. Es ist nicht wie jenes im Augenblick des Erschreckens weitgehend unbestimmt, sondern etwas, das weiter bestimmt ist als erwartet, auch wenn es immer noch Unbestimmtheiten an sich trägt. Die Überraschung lässt nach, wenn wir zunehmend auf Bekanntes treffen, der Schreck beruhigt sich, wenn die Protentionen wieder einsetzen, d. h. wenn wir beginnen, das, was uns erschreckt hat, als etwas aufzufassen. Höre ich ein unbekanntes Geschrei und erschrecke, so motiviert das eine Näherbestimmung: Ich suche nach der HerBetont werden muss, dass es hier, wo wir rein im Bereich des Wahrnehmbaren verbleiben, nicht um begriffliche Bestimmtheit gehen kann, sondern um rein sinnliche (perzeptive, auditive usw.). Ein Beispiel Husserls mag dies verdeutlichen: »Sehe ich ein Haus im Sonnenschein, bei durchsichtiger Luft, so erscheint mir die Farbe der zugewendeten Seite in ihrer Bestimmtheit, sehe ich es im Dunkel oder im Nebel, so erscheint seine Farbe mehr oder minder unbestimmt. Eine komplizierte Körpergestalt erscheint je nach Umständen bestimmt, sie wird klar aufgefasst, oder sie wird unvollkommen aufgefasst, sie lässt an Bestimmtheit zu wünschen übrig. Diese Unterschiede sind hier so zu verstehen, dass es sich nicht um eine begriffliche Klassifikation handelt, sondern um einen der Wahrnehmung und näher der Auffassung selbst eigenen und ihr wesentlichen Charakter«. Hua XVI, S. 58.

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76 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Übergangsphänomene

kunft des Geräusches und sehe schließlich das Tier, das schreit. Stellt sich das Erschreckende als harmlos heraus, endet der Schreck und die Betroffenheit lässt in dem Maße nach, als bestimmtere Protentionen entstehen und Erfüllung finden. Der Schreck hat den Wahrnehmungsprozess unterbrochen, und zwar auf eine Weise, die sich von anderen Unterbrechungen, wie Enttäuschungen oder anderen Modalisierungen des vermeinten Sinnes, unterscheidet. Schreck ist keine solche Modalisierung. Er beruht nicht auf der Konfrontation bestehender Protentionen mit neu auftauchenden Urimpessionen, sondern auf dem Ausfallen der Protentionen und damit einem Zusammenbruch der Intentionalität. Neben dem Schreck dürfen eine Reihe anderer Phänomene nicht übergangen werden, bei denen der Ausfall der wahrnehmenden Intentionalität gleichfalls in eine Bewusstseinsweise führt, die mit einem intentionalen Bewusstsein unverträglich ist. Auch dabei handelt es sich um Störungen des geregelten Erfahrens. Dazu gehören so bekannte Phänomene wie zu helles Licht, das blendet, oder zu lauter Lärm, der betäubt. In solchen Fällen vergeht uns Sehen und Hören, die geordnete Intentionalität fällt aus, anstelle des Sehens oder Hörens treten Schmerzen. Ähnliches kommt beim Ertasten vor. Ich zitiere ein Beispiel von Iso Kern: »Wenn ich tastend ein äußeres Ding wahrnehmen soll, so muss ich es betasten, d. h. ich muss z. B. meine Finger auskundschaftend über es hin dirigieren. In diesem erkundenden Hervorrufen des Dinges liegt die Initiative und Leitung der tastenden Selbstbewegung bei mir selbst. Üben meine Finger nicht die Initiative aus, so bringen sie nie einen äußeren Gegenstand zum Erscheinen, auch dann nicht, wenn ein Ding über sie hinweggeführt wird oder wenn sie von einem solchen bewegt werden. Ich empfinde dann in meinen Fingern eine Affektion, Wärme, Druck, Zerren etc., aber ich nehme dadurch kein warmes, hartes, so und so geformtes Ding wahr. Im Betasten rein als solchem habe ich keine Empfindungen, ich verspüre nichts in meinen Fingern, nichts in meinem Leib, sondern es erscheint mir nur das so und so erscheinende Ding. Wird das Ding aber plötzlich so heiß, dass ich es nicht mehr frei von mir aus betasten kann, so brennt’s mich in den Fingern, während das erscheinende Ding für mich schwindet; oder halte ich mit meinem Betasten inne und lasse meine Finger am Ding ruhen, so erlischt die Dingerscheinung, während ich nun in meinen Fingern leichten Druck empfinde.« 77 77

I. Kern, a. a. O., S. 104.

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Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

Ich habe dieses Beispiel ausführlich zitiert, weil es auf einen anderen Umstand hinweist, der die Intentionalität zusammenbrechen lässt. Hier sind es nicht Reize, deren Heftigkeit zu Schmerzen führt, stattdessen tritt, wegen der ausbleibenden erkundenden kinästhetischen Bewegung, anstelle des Bewusstseins eines Gegenstandes, ein bloßes Empfinden. Was so am Tasten verspürt wird, findet sich auch beim Sehen und Hören. Kommt der Fortgang der Augenbewegungen zum Stillstand, glotzen wir nur noch irgendwohin, so beginnt das, was wir dort eben noch gesehen haben, zu zerfließen und sich in bloße Farbempfindungen aufzulösen, wobei uns nicht selten ein leiser Schwindel ergreift. Ähnliches lässt sich vom Hören sagen: Wenn wir nicht hinhören, allenfalls durch Hinwenden des Kopfes, so hören wir nicht mehr räumlich situierte Geräusche, sondern haben nur noch Gehörsempfindungen. Der Zusammenbruch der Intentionalität des Wahrnehmens infolge Stillstands der kinästhetischen Bewegung verläuft zwar meist weniger dramatisch als Schreckerlebnisse, doch haben wir es hier wie dort mit einem Ausfall der Intentionen zu tun. Anders liegt der Fall, wenn starke Helligkeit blendet oder lauter Lärm betäubt. Hier wird die Störung durch überstarke Reize verursacht. Die strukturellen Ähnlichkeiten dieser Phänomene untereinander und mit dem Übergang vom Wahrnehmen ins Träumen oder Tagträumen sind unübersehbar: Im Übergehen vom Wahrnehmen ins Erschrecken oder Empfinden gehen wir nicht in ein anderes Bewusstseinsfeld über, aber es sind doch Übergänge zwischen unvereinbaren Bewusstseinszuständen. Auch für das Erschrecken und Empfinden gilt: Entweder ist etwas wahrgenommen oder empfunden bzw. ein Erschrecken, es kann nicht beides zugleich sein. Auch hier erfolgt der Übergang vom einen zum andern durch ein plötzliches Umschlagen. 78 Dazu kommt: Sowohl beim Übergang in den Schreck wie ins Empfinden kann nichts anderes mehr bewusst sein als eben dieser Schreck oder dies Empfinden. Nennen wir das, was jeweils bewusst sein kann, ein Bewusstseinsfeld, so kann man von einer Einengung des Bewusstseinsfeldes sprechen. Schmerzen, Schreck, Angst, Wut, um nur die auffälligsten Beispiele zu erwähnen, schränken den Umfang dessen, was uns bewusst sein kann, für Momente auf dieses eine Erleben ein. Man darf das nur nicht in dem Sinne verstehen, als sei es Für Schmerzen scheint es jedoch auch gleitende Übergänge zu geben. So kann auch etwas blenden, das wir sehen. Erst wenn das Blenden zu stark wird, sehen wir nichts mehr.

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78 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Übergangsphänomene

das Wahrnehmungsfeld, das auf den Schreck bzw. das Empfinden, die Angst oder Wut eingeschränkt wird. Denn der Schreck bzw. das Empfinden gehören ebenso wenig zum normalen Wahrnehmen wie Angst oder Wut. Vom Übergang vom Wahrnehmen in den Traum kann man ebenfalls sagen: Es kann nun nur noch Geträumtes bewusst werden, und das ist so wenig wahrgenommen wie das Empfinden oder Erschrecken. Im Tagtraum als einem Übergang ins Vergegenwärtigen wird der Umfang des aufmerksam Bewussten eingeschränkt auf das Vergegenwärtigte. Man mag versucht sein, dieses Phänomen mit Aufmerksamkeit in Zusammenhang zu bringen, es handelt sich jedoch um etwas anderes. Von Aufmerksamkeit sprechen wir dann, wenn etwas gegenüber anderem hervorgehoben ist. Der Übergang vom geregelten Wahrnehmen ins Erschrecken oder Empfinden oder in einen Tagtraum führt nicht zu einem Hervorheben gegenüber anderem. Es gibt gar kein anderes mehr, sondern nur noch das eine: der Schreck, die Empfindung, der Tagtraum oder der Traum. Mehr noch muss ein anderer Unterschied zur Aufmerksamkeit beachtet werden: Wenn wir von Aufmerksamkeit sprechen, meinen wir gewöhnlich, etwas anderes hätte ebenso gut aufmerksam bewusst sein können wie das, dem gerade jetzt die Zuwendung gilt. Aufmerksamkeit wird gerne mit einem Scheinwerfer verglichen, der auf dieses oder jenes gerichtet werden kann. Im Falle willkürlicher Aufmerksamkeit hängt diese Richtung von unserem Belieben ab, bei passiver Aufmerksamkeit sind dafür Gesetzmäßigkeiten der passiven Konstitution maßgebend. In beiden Fällen gilt: Ändern sich die Bedingungen, welche diese Richtung bestimmen, kommt auch anderes in den Fokus der Aufmerksamkeit. Diese Verschiebbarkeit fehlt in unseren Beispielen ganz und gar, obschon sie unter gewissen Bedingungen, nämlich solchen des Aufwachens, wieder einsetzen kann. In starken Affekten kann gar nichts anderes bewusst sein als dieses affektive Erleben, im Traum findet sich nur Geträumtes, Nicht-Geträumtes wird in ihm nicht als solches bewusst, sondern in das Geträumte mit aufgenommen. Es geht hier nicht wie bei der Aufmerksamkeit um einzelnes Bewusstes in einem Bewusstseinsfeld, sondern um Einengung oder Ausweitung dessen, was zu einem Zeitpunkt überhaupt bewusst sein kann. Diese Einengung des Bewusstseinsfeldes auf Erlebnisse mit ähnlichem Betroffensein kann im Schreck, im Empfinden, in Angst oder Wut oder auch im Traum erlebt werden. Dabei verändert sich nicht nur die Größe des Bewusstseinsfeldes, sondern auch die Qualität mei79 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

nes Mich-Fühlens. Im Betroffensein fühle ich mich an dieses affektive Erleben gebunden, ich fühle, dass ich nicht davon loskomme, sondern überwältigt und gefangen bin. Im starken affektivem Betroffensein kann nichts anderes bewusst werden als das, was auf ähnliche Weise betroffen macht, wie das, was mich jetzt betrifft. Man mag darin zunächst nichts weiter sehen als eine extreme Form des Betroffenseins, doch scheint nun ein Aspekt auf, der zuvor unbeachtet blieb: Indem ich von etwas betroffen werde, bin ich an dieses gebunden, und zwar so, dass nur dieses oder solches, das mich in ähnlicher Weise betrifft, bewusst sein kann. Betroffenheit bindet an das, was mich betrifft, und diese Bindung lockert sich in dem Maß, in dem die Betroffenheit abnimmt. Lässt der Schreck nach, verraucht die Wut, weitet sich das Bewusstseinsfeld wieder aus und vieles von dem, was vorher schon bewusst war, vermag wieder bewusst zu werden. Man möchte sagen, ich fühle mich in solchen Fällen ungebundener, weniger eingeschränkt als zuvor, was von einem Gefühl begleitet sein kann, mehr und anderes bewusst erleben zu können als das, was eben noch bewusst war. Noch ist nicht klar, was das zu bedeuten hat. Wir können annehmen, die Verengung des Bewusstseinsfeldes komme einem partiellen Einschlafen gleich, die Erweiterung einem partiellen Aufwachen, denn beim Einschlafen und Aufwachen aus dem Schlaf haben wir es im gleichen Sinn mit einer Verengung und Erweiterung zu tun. Der Übergang vom Wahrnehmen ins Erschrecken, ins Geblendetwerden oder in sonstiges bloßes Empfinden, aber auch in heftiges Affekterleben, muss dann als ein partielles Einschlafen gelten, der umgekehrte ins Wahrnehmen als ein Aufwachen. Ob auch der Übergang in den Traum oder in einen Tagtraum als ein Einschlafen gelten kann, mag jedoch nicht im selben Maß einleuchten, kann man doch gerade so gut umgekehrt behaupten, im Traum wie im Tagtraum könne alles vorkommen, was wahrnehmbar ist 79, und noch viel mehr, nur mit der Einschränkung, dass es geträumt oder phantasiert sei; eine Einschränkung, die in analoger Weise natürlich auch vom Wahrnehmen gilt. Dennoch möchte man sagen, vom (aktiven) Wahrnehmen her gesehen bin ich im Traum völlig an das ausgeliefert, was mir geschieht, und insofern eingeschränkter als im Wahrnehmen. Aber das gilt nur, wenn wir willentlich wahrnehmen können. Da öffnen sich Vgl. I. Strauch, B. Meier: Den Träumen auf der Spur. Zugang zur modernen Traumforschung, Bern 22004, S. 83.

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80 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Übergangsphänomene

Freiheitsspielräume der Aufmerksamkeit, die uns im Traum niemals zukommen, aber im pathischen Wahrnehmen ebenfalls nicht. Der Übergang vom aktiven Wahrnehmen ins Träumen oder Tagträumen muss als ein Einschlafen gelten, denn im Traum sind wir offensichtlich weit mehr an das gebunden, was geschieht, als im absichtlichen Wahrnehmen. Aber wenn wir aus einem Traum aufwachen, sind wir im ersten Moment noch nicht derart aufgewacht, dass wir willentlich wahrnehmen können, das Wahrnehmen ist vielleicht für Augenblicke noch pathisch, und da sind wir kaum weniger an das gebunden, was geschieht, als im Traum.

2.3

Etwas weckt etwas und lässt anderes einschlafen

Was zunächst nur eine Eigenheit von Traum und Wahrnehmung zu sein schien, nämlich zwei unvereinbare Bewusstseinsfelder zu bilden, die ineinander umschlagen, hat sich als etwas erwiesen, das in analoger Weise einer Reihe anderer Phänomene gleichfalls zukommt. Auch die Übergänge vom Erinnern oder Phantasieren (und Tagträumen) sowie jene von Schreck und Empfinden ins Wahrnehmen weisen diese Eigenheit auf. Solche strukturellen Verwandtschaften laden dazu ein, das Aufwachen aus einem Traum in einen größeren Zusammenhang zu stellen, was, wie wir gesehen haben, die Möglichkeit eröffnet, in einem erweiterten Sinn von Aufwachen und Einschlafen zu sprechen. Hinsichtlich des Aufwachens aus einem Traum standen wir vor dem Problem, wie der Träumer merken könne, dass ein Element seines Traums ein Fremdkörper ist, weil es als Teil der wahrgenommenen Welt nicht in den Traum gehört. Klingelt der Wecker und träumen wir, dass er klingelt, so steht dieses Klingeln im Traum mit anderem Geträumtem in Beziehung. Es ist Teil einer geträumten Geschichte und wir fassen es als ebenso wirklich auf wie alles andere, was wir träumen, so dass es wie dieses wahrgenommen zu sein scheint. Wir haben dann ein Widerfahrnis im Traum, das wir wahrnehmend als etwas auffassen könnten, wenn wir wahrnehmen könnten; aber eben das können wir nicht, dazu sind wir nicht entsprechend wach, denn wir träumen ja. Die Frage, wie das Träumen ins Wahrnehmen übergehen könne, scheint noch nicht eine abschließende Antwort gefunden zu haben. Dieser Frage lassen sich jetzt andere gegenüberstellen: Wie komme ich vom Schreck zurück ins geregelte Wahrnehmen? Starkes 81 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

Erschrecken bringt uns für Momente ins Erstarren, so dass die Intentionen für kurze Zeit aussetzen. Aber der Schreck hinterlässt eine Unruhe und, wenn er nachlässt, ein Bemühen zu erfassen, was mich da so sehr erschreckt hat. Vermindert sich die affektive Kraft des Schrecks, wird der normale Wahrnehmungsprozess wieder aufgenommen. Was mir widerfährt, lockt nun Auffassungen hervor. Das, wovon wir getroffen werden, regt uns zu etwas an, ähnlich einer Frage, die eine Antwort erheischt. Wenn wir etwas als etwas auffassen, antworten wir auf das, was uns trifft, denn dieses trifft uns höchstens im Schreck völlig unqualifiziert, normalerweise mutet es uns in einer Weise an, die uns zu einer Antwort anregt. 80 Man kann in der Wiederaufnahme des normalen Wahrnehmungsverlaufs ein Wecken sehen und sagen, etwas, das uns widerfährt, weckt die Fähigkeit, etwas als etwas aufzufassen. Wir erschrecken, wenn die Intentionalität durch etwas gestört wird, das nicht zu den bestehenden Auffassungen passt. Damit verliert sie ihre Aktualität, sie wird latent, schläft sozusagen ein und wacht auf, wenn wieder Widerfahrnisse auftreten, die Auffassungen herausfordern, durch die das, was uns erschreckt hat, in den Gang geregelter Erfahrung passt. Für das Aufwachen aus einem Traum bedeutet dies: Was die schlafende wahrnehmende Intentionalität weckt, muss das sein, was aus der Wahrnehmungswelt in den Traum eingedrungen ist. Aber dieses weckt nicht immer, wie der Traum vom Weckerklingeln zeigt. Die bloße Anwesenheit eines wahrnehmbaren Elements im Traum scheint dazu nicht auszureichen, es bedarf zusätzlicher Bedingungen. Dass es das aus dem wirklichen wachen Leben in den Traum eingedrungene Element ist, welches weckt, bestätigen Täume, die von leiblichen Reizen, wie Hunger, Durst oder Harndrang verursacht sind. Sind solche Reize stark genug, wachen wir auf und die Widerfahrnisse werden nicht mehr als traumartig, sondern als real aufgefasst. Hat das Wahrnehmen einmal begonnen, kann es die Horizonte eines Dinges oder Geschehnisses verfolgen, und es beginnt sich eine wahrgenommene Welt herauszubilden, die mit der geträumten streitet. Die wahrnehmende Intentionalität wird geweckt und die träumende schläft ein, da beide nicht gleichzeitig bestehen können. Daran lässt sich eine Bedingung dafür ablesen, ob ein Widerfahrnis zu wecken vermag. Steigert sich die in einem Angsttraum erlebte Angst derart, dass ich von ihr gepackt werde, und nehmen Hunger 80

Vgl. Waldenfels, a. a. O., S. 102 ff.

82 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Übergangsphänomene

oder Harndrang in einem Maß zu, dass es kaum auszuhalten ist, vermag der Traum nicht länger »Hüter des Schlafs« 81 sein, er bricht zusammen. Kommt es zu keiner merklichen Steigerung der Betroffenheit, kann das fremde Element unbemerkt im Traum verbleiben, es sei denn, es dringen noch weitere wahrgenommene Elemente ein, und vermögen sich zu einer Welt auszuweiten. Ist das Klingeln des Weckers wahrgenommen, steht es in einem Kontext wahrnehmbarer Dinge und Ereignisse und kann nicht geträumt sein; ist es geträumt, ist auch der Kontext geträumt. Wenn mich das Klingeln zu weiteren Wahrnehmungen führt, wache ich auf, verbleibe ich im geträumten Kontext, träume ich weiter. Das eine oder andere ergibt sich von selbst. Das Aufwachen ist nichts, was wir wollen und tun können. Elemente, welche wie das Weckerklingeln Bewusstseinsfeldern, in denen wir unterschiedlich wach sind, gemeinsam zukommen, ermöglichen auch den Übergang vom Wahrnehmen ins Tagträumen und überhaupt ins Vergegenwärtigen. Denken wir nur an das bekannte Phänomen des »etwas erinnert an etwas«. Ich sehe etwas und das erinnert mich an eine bestimmte Szene aus meiner Vergangenheit, die irgendeinen Zug mit dem gemeinsam hat, was ich sehe. Man führt dies gewöhnlich auf Assoziation durch Ähnlichkeit zurück; und auch dies können wir (mit Husserl) als ein Wecken verstehen. 82 Nicht nur Erinnerungen, auch Phantasien können in dieser Weise geweckt werden. Weiten sie sich zu einem Tagtraum aus, können wir sagen, ein Element aus dem Wahrnehmungsfeld habe die phantasierende Intentionalität geweckt und die wahrnehmende einschlafen lassen. Diese schläft freilich nicht ganz, aber sie ist unthematisch geworden und als solche in den Hintergrund verbannt. Umgekehrt erwachen wir aus einem Tagtraum, wenn etwas Wahrgenommenes die im eben genannten Sinne schlafende wahrnehmende Intentionalität weckt und die phantasierende einschlafen lässt. Den Übergang vom Wahrnehmen ins Empfinden können wir gleichfalls als ein partielles Einschlafen verstehen, weil es auch hier zu einer Einengung des Bewusstseinsfeldes kommt. Dieser Übergang unterscheidet sich von den bisher Betrachteten dadurch, dass wir es nicht mit einem Übergang von einem Bewusstseinsfeld in ein anderes

Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Studienausgabe, Bd. 1, S. 144; Traumdeutung, a. a. O., S. 240. 82 Siehe unten S. 332ff. 81

83 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

zu tun haben, denn eine Empfindung ist kein intentionales Feld. Man ist vielleicht versucht zu sagen, die Empfindung sei auch im Wahrnehmen enthalten, aber wir mussten am Beispiel des Tastens erfahren, dass gerade dies nicht der Fall ist. Es gibt kein Element, das dem Empfinden und Wahrnehmen gemeinsam wäre. Erschrecken wir oder geht das Wahrnehmen in Schmerz über, schläft die Intentionalität ein, sie wird geweckt, wenn Schreck oder Schmerz nachlassen. Was hier weckt, ist nicht ein Element, das beiden gemeinsam zukäme, sondern das, was immer die wahrnehmende Intentionalität aktuell werden lässt: Das, was uns widerfährt und uns betrifft. Natürlich betreffen uns auch der Schreck und die Schmerzempfindung, aber sie betreffen uns anders.

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Wachsein als Voraussetzung für bewusstes Erleben und als Bei-Bewusstsein-Sein

In der Weise wie eben von »Wecken« zu sprechen, hat uns zu einer andern Bedeutung von »Aufwachen« und »Einschlafen« und damit auch von »Wachsein« geführt. Anfänglich gingen wir davon aus, dass wir wach sind, einschlafen und wieder aufwachen, und meinten damit Personen, die »ich« zu sich sagen. Jetzt sagen wir das auch von Fähigkeiten, die Personen haben. Aber auch die Bedeutung von »wach« hat sich verschoben. Wird eine potentielle Fähigkeit geweckt, wird sie aktuell, und als eine solche haben wir sie »wach« genannt und als potentielle »schlafend«. Verstehen wir »wach« im Sinne von »aktuell«, so können wir es ohne Verlust durch dieses Wort ersetzen. Ohnehin ist der metaphorische Beiklang unüberhörbar, wenn wir vom Einschlafen oder Aufwachen von Fähigkeiten sprechen, denn gewöhnlich sagen wir eben doch von Personen, nicht von Fähigkeiten, sie seien wach oder schlafen. Von einer Person zu sagen, sie sei wach, kann wenigstens zweierlei bedeuten, nämlich, dass sie jetzt aktuell eine Fähigkeit ausübt oder dass sie eine ausüben kann. Letzteres ist wiederum zweideutig. Es kann heißen: Eine Person besitzt die Disposition zu etwas, sie kann z. B. Tango tanzen, tanzt jetzt aber nicht. Für das Wachsein bedeutsamer ist ein anderer Sinn von »können«, nämlich, ob eine Person fähig ist, die Disposition zu aktualisieren. Liegt sie z. B. im Bett und schläft, so kann sie nicht Tango tanzen, obschon sie Tango tanzen kann. Diese Bedeutung von »können« passt zu der eingangs aus der 84 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Wachsein als Voraussetzung für bewusstes Erleben und als Bei-Bewusstsein-Sein

einschlägigen Literatur aufgenommenen Bestimmung von Wachheit, wonach sie eine psychologische Voraussetzung für viele Leistungen eines Lebewesens sei. 83 In diesem Sinne sind wir schon wach, bevor eine Fähigkeit aktualisiert ist, und dieses Wachsein ist eine Voraussetzung für ihre Aktualisierung. Wir sind nicht nur wach, wenn wir eine Fähigkeit ausüben, sondern auch dann, wenn wir sie ausüben können, also wenn wir dazu bereit sind. Das führt zunächst zurück zur Metapher der Betriebsbereitschaft. Danach gilt eine Fähigkeit als wach, wenn sie ohne Weiteres aktualisiert werden kann. Von einer Maschine lässt sich sagen, sie bestehe aus Teilen, die so zusammengefügt sind, dass ihr Zusammenspiel einem bestimmten Zweck dient. Sie ist betriebsbereit, wenn es nur noch eines bestimmen Anlasses bedarf, damit sie ihren Betrieb aufnimmt. Ist der Knopf gedrückt, der Schalter betätigt, realisiert sie ihren Zweck. Übertragen auf eine mentale Fähigkeit bedeutet dies, sie ist betriebsbereit, wenn alle Teile funktionstüchtig sind und es nur noch eines Anlasses bedarf, damit sie aktuell wird. Hier kommt der Begriff des Weckens ins Spiel. Wach in diesem Sinne zu sein, scheint eine zwar notwendige, aber doch nicht hinreichende Bedingung für die Aktualisierung einer Fähigkeit zu sein. Es bedarf dazu auch eines Weckens, z. B. durch einen Reiz vermittelst einer Assoziation durch Ähnlichkeit. Man kann dieses Bild der Maschine nicht nur auf einzelne Fähigkeiten anwenden, sondern auch auf die gesamte mentale Ausstattung eines Menschen, und das Wachsein überhaupt als Betriebsbereitschaft verstehen. 84 Das Wachsein Personen zuzuschreiben scheint schon darum sinnvoll, weil die Fähigkeiten einer Person nicht unabhängig voneinander funktionieren. Sie bauen aufeinander auf oder haben gewisse Eigenheiten mit anderen gemeinsam. Ist eine mentale Fähigkeit aktuell, so ist etwas bewusst, und zwar Jemandem. Es gibt ein Subjekt des Bewussthabens, das für alle Fähigkeiten einer Person dasselbe ist. Unterschiedliche Fähigkeiten sind Fähigkeiten einer Person, wenn sie Subjekt dieser Fähigkeiten ist. Es ist das Subjekt, das sich kriterienlos mit dem Wort »ich« auf sich beziehen kann und damit denselben meint, auf den sich andere mit »er« oder anderen singulären Termini Siehe oben S. 36. In diesem Sinne versteht z. B. Damasio das Wachsein: »Die Bewusstseinsschwelle erreichen Sie, wenn Sie erwachen, danach bleibt das Bewusstsein an, bis es abgestellt wird.« Damasio, a. a. O., S. 227, vgl. 113.

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85 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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identifizierend beziehen können. 85 Phänomenologisch erlebe ich mich als Subjekt unterschiedlicher Fähigkeiten, wenn ich in jeder erlebe, dass ich von etwas, das mir widerfährt, betroffen werde oder mich zu etwas entscheide. Vielleicht lassen sich die eben getroffenen Unterscheidungen an einem Beispiel verdeutlichen: Die Fähigkeit zu hören ist potentiell, heißt, jemand besitzt die Disposition dazu, er kann hören, er ist nicht taub, aber er hört zurzeit nicht, weil er schläft. Die Fähigkeit zu hören ist wach, heißt, sie ist betriebsbereit, es bedarf nur noch eines Anlasses zu ihrer Aktualisierung. Die Person schläft nicht mehr, aber sie hört nichts, weil rings um sie Stille herrscht. Dringt ein Geräusch an ihre Ohren, hört sie wirklich, die Fähigkeit zu hören ist aktualisiert. In diesem Verständnis von »wach« ist eine Fähigkeit wach, wenn sie betriebsbereit ist, und das ist sie, wenn es nur noch eines Anlasses bedarf, um sie in Betrieb zu setzen. Wird der Anlasser betätigt, so läuft der Motor, läuft er nicht, ist er nicht betriebsbereit. Entsprechendes gilt für Fähigkeiten: Kriterium dafür, ob eine Fähigkeit in diesem Sinne wach ist bzw. ob wir zur Ausübung einer Fähigkeit wach sind, besteht darin, dass die Fähigkeit geweckt und aktuell vollzogen werden kann. Versteht man Wachsein in diesem Sinn, ist sie ein Epiphänomen, denn das Wort bezeichnet dann nur den Umstand, dass alle Bedingungen zur Ausübung einer Fähigkeit gegeben sind, weiter hat es damit nichts auf sich. Wachsein muss nicht bewusst sein, wir müssen nicht merken oder fühlen, dass wir wach sind. Ob wir es sind, zeigt sich daran, dass wir eine Fähigkeit wirklich ausüben. Es fragt sich jedoch, ob dieses Verständnis nicht zu kurz greift. Wenn wir das Wachsein für eine Voraussetzung vieler Leistungen halten, so bezieht sich das auch auf eine ganze Reihe mentaler Fähigkeiten, wie Wahrnehmen, Erinnern, Phantasieren, Denken, Schmerzen haben und Fühlen. Solchen Leistungen ist es wesentlich, dass in ihnen etwas bewusst ist. Das macht ein Verstehen des Wachseins schwieriger, als wenn es z. B. allein um die Fähigkeit sich zu bewegen geht. Sagen wir, in diesen Fällen bedeute Wachsein soviel wie Bewusstseinsfähigkeit, so ist nicht viel gewonnen, solange wir nicht wissen, worin diese besteht. Bleiben wir dabei, Wachheit als Betriebsbereitschaft zu verstehen, so fragt sich, zu was wir da bereit sind und wie es möglich sein soll, bewusstes Erleben aus dieser Bereitschaft zu Siehe E. Tugendhat: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt a. M. 1979, S. 130.

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86 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Wachsein als Voraussetzung für bewusstes Erleben und als Bei-Bewusstsein-Sein

verstehen. 86 Für eine Antwort auf diese Frage dürfte es hilfreich sein, uns zu erinnern, dass wir auch wach sind, während wir bewusst erleben. Damit kommen wir zu einem weiteren Begriff des Wachseins. Wir sind nicht nur wach, wenn wir bereit sind, bewusst zu erleben, sondern auch, während wir bewusst erleben. Wir können dies das Wachsein im Sinne des Bei-Bewusstsein-Seins 87 nennen. Das Kriterium für das Vorliegen von Wachheit in diesem Verständnis besteht nicht wie bei der im Sinne einer Betriebsbereitschaft darin, dass die Fähigkeit, für die man bereit ist, geweckt werden kann, sondern darin, dass sie aktuell ist, also bewusst erlebt wird. Ausgehend von einer phänomenologischen Zugangsweise verstehe ich Bewusstsein weder als Verhaltensdisposition noch als funktionalen Zustand 88, sondern als phänomenalen Zustand, als Zustand, den wir erleben, während wir in ihm sind. Man kann ein intentionales von einem nichtintentionalen Bewusstsein unterscheiden. Letzteres hat es mit der Empfindungsfähigkeit eines Lebewesens zu tun und ist nicht kognitiv. Schmerzen mögen ein Beispiel dafür sein, ebenso Hunger, Durst, Geschmäcker, Gerüche, Farb- und Tastempfindungen. Man spricht auch von sinnlichem oder phänomenalem Bewusstsein. 89 Auch Gefühle haben eine phänomenale Komponente. Das sind Erfahrungen von jeweils unterschiedlicher Qualität (Qualia), die wir nicht anders erfassen können als eben dadurch, dass wir spüren, riechen, schmecken, tasten, sehen, hören oder fühlen. 90 Dabei geht es nicht um das Sehen oder Ertasten von Gegenständen. Bei diesen Qualitäten handelt es sich weder um Gegenstände, die in unterschiedlichen Perspektiven wahrnehmbar sind, noch um Subjekte möglicher Prädikate, es geht vielmehr schlicht um Farben, Töne, Wärme, Kälte, Glätte oder Rauigkeit, nicht um tönende, riechende oder schmeckende Gegenstände. Gegenstände Weiteres zum Wachsein im Sinne einer Bereitschaft zu bewusstem Erleben siehe unten Kap. I, 6 Pathisches Wachsein als Gefühl, insbes. S. 113. 87 Vgl. oben S. 35. 88 Einen Überblick über den Funktionalismus geben: J. Kim: Philosophie des Geistes. Aus dem Amerikanischen von G. Günther, Wien, New York 1998. A. Beckermann: Analytische Philosophie des Geistes, Berlin, New York 22001. 89 Lanz, a. a. O., S. 79. 90 Thomas Nagel hat mit seinem Aufsatz »Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?« (In: P. Bieri (Hg.): Analytische Philosophie des Geistes, Königstein/Ts. 1981, S. 261–275) eine Diskussion darüber in Gang gesetzt, die eine kaum mehr überblickbare Literatur zur Folge hatte. 86

87 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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sind Gegenstände intentionalen Bewusstseins, d. h. einem Bewusstsein von etwas. Ein Gegenstand ist keine sinnliche Qualität, sondern etwas, das in unterschiedlichen Perspektiven erscheint, und dem unterschiedliche sinnliche Qualitäten zukommen. Ich kann einen Gegenstand sehen, ohne damit einen Erkenntnisanspruch zu verbinden. Dagegen ist das Bewusstsein von Tatsachen kognitiv: Es wird behauptet, geglaubt, gezweifelt oder befürchtet, dass etwas der Fall sei. Manche sprechen von propositionalen Einstellungen. Sie haben die Form »S glaubt, dass a F ist«, was man nur kann, wenn man über Begriffe verfügt. Dabei geht es um Gedanken, Überzeugungen, Urteile und Schlüsse. Im sinnlichen Bewusstsein können wir Töne hören, ohne darüber nachzudenken, was da so tönt. Wir hören, wie die Töne klingen, und belassen es dabei. Begriffe kommen erst ins Spiel, wenn wir wissen wollen, was etwas ist. Das darf aber nicht zur Annahme verführen, Gedanken träten immer nur in der Weise auf, dass die Initiative von uns ausginge. Auch propositionale Einstellungen haben nicht selten Geschehenscharakter. Gedanken und Urteile (auch Vorurteile) können uns ebenso einfallen wie Vorstellungen, so dass wir auch in solchen Fällen von einem pathischen Bewusstsein sprechen müssen. Wenn wir die Frage stellen, wie wir dazu kommen, bei Bewusstsein zu sein, müssen wir fragen, wie etwas bewusst ist, und d. h., wenn wir uns vorerst auf das pathische Bewusstsein beschränken, wie wir das, was uns widerfährt, erleiden. Nicht nur sinnliches Bewusstsein betrifft uns, und zwar je nach Qualität anders, sondern auch intentionales und propositionales, soweit es ohne oder gegen unseren Willen sich ereignet. Was pathisch bewusst ist, ist es dadurch, dass es uns betrifft. Das gehört mit zum Bewussthaben, was auch immer sonst noch mitspielen mag. Sagen wir, wir seien wach, wenn wir bewusst erleben, dann muss dieses Wachsein damit zusammenhängen, dass wir betroffen sind, wenn uns etwas betrifft. Wir müssen unser Erleiden von dem, was wir erleiden, unterscheiden können, damit deutlich wird, wie wir uns fühlen, wenn uns etwas bewusst ist. In Fällen heftigen Betroffenseins, wie dem Erschrecken, mag das nicht gelingen, aber wenn uns z. B. einfällt, wo sich ein Gegenstand befinden könnte, den wir vermissen, so können wir das, was uns einfällt, vom Wie des Einfallens zumindest hinterher sehr wohl unterscheiden. Wie uns etwas betrifft, tritt manchmal auch bei starken Affekten hervor, was sich z. B. in Wendungen ausdrückt, »eine Wut oder eine 88 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Wachsein als Voraussetzung für bewusstes Erleben und als Bei-Bewusstsein-Sein

Angst packt mich«. Bin ich über etwas wütend, so ist das kein gefühlsneutraler Zustand, zu dem ein Gefühl des Gepacktwerdens hinzukäme, denn ohne diese affektive Seite ist eine Wut nicht das, was wir gewöhnlich »Wut« nennen. Obschon keines der beiden ohne das andere erlebt werden kann, können wir die Wut, die uns packt, vom Gepacktwerden unterscheiden. Diesem eignet, wie anderen Weisen des Betroffenseins, eine Gefühlsqualität. Es fühlt sich in je besonderer Weise an, betroffen zu sein. Fällt mir eine Ohrwurmmelodie ein und macht es mir Mühe, sie wieder loszuwerden, so fühle ich mich in einer Weise betroffen, zu der dieses Aufdrängende und Festsetzende gehört. Aber im Unterschied zum phänomenalen Gehalt eines Gefühls, das mich betrifft, zu dem immer etwas Ergreifendes und Packendes gehört, ist die Ohrwurmmelodie ein intentionaler Gehalt, und zwar ein vergegenwärtigter, denn ich höre sie nicht wirklich, sondern stelle mir vor, sie zu hören. Sie drängt sich auf und setzt sich fest, aber dieselbe vergegenwärtigte Melodie kann mir auch auf andere Weise bewusst sein: Ich kann sie hören oder von Noten ablesen. Im Hören fehlt der aufdrängende Charakter, obschon mir auch hier etwas widerfährt, aber dieses betrifft mich anders, nämlich so, dass es die Aufmerksamkeit auf sich zieht und sich nicht aufdrängt wie eine Ohrwurmmelodie. Wieder in anderer Weise ist mir die Melodie bewusst, wenn ich sie vom Blatt ablese. Was mir da widerfährt, sind Zeichen, die ich sehe, und die meine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Die Melodie sehe ich nicht, aber ich kann sie vergegenwärtigen, wenn ich die Zeichen zu deuten weiß und der Deutung folge, was nicht ohne eigenes Zutun geschieht. Dies ist denn auch kein pathisches Bewussthaben mehr. Intentionale Gegenstände können auf unterschiedliche Weise bewusst sein und machen uns, soweit sie pathisch bewusst sind, auf unterschiedliche Weise betroffen. Im pathischen Bewussthaben widerfährt uns immer etwas (ein Schmerz, eine Sinnesqualität, eine Phantasie- oder Erinnerungsvorstellung, ein Gedanke, ein Gefühl) und macht uns auf je spezifische Weise betroffen. Pathisch wach zu sein heißt, in je bestimmter Weise betroffen zu werden. Die Weisen, betroffen zu sein, unterscheiden sich durch ihre Gefühlsqualität, und so fragt sich, ob man das Wachsein, jedenfalls das pathische, als ein Gefühl verstehen kann.

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Betroffenheit als Gefühl

Pathisches Wachsein ist untrennbar mit dem Phänomen des Betroffenseins verbunden. Pathisch bewusst ist das, was uns widerfährt, was uns trifft, was wir erleiden. Etwas erleiden besteht in einem Gefühl von je besonderer Qualität, was vorab in jenen Fällen deutlich wird, in denen uns etwas mit besonderer Härte trifft: Schreck, der mich erstarren lässt, Angst, die mich ergreift, Wut, die mich packt. Es kann auch ein Einfall sein, eine Erinnerung, die mich umtreibt, eine Zwangsidee, eine Phantasie, die sich aufdrängt und festsetzt. Immer ist mir dabei in einer Weise zumute, die keineswegs in allen Fällen gleichartig ist. Wenn hier und im Folgenden von »Gefühl« die Rede ist, sei daran erinnert, dass Wörter wie »Gefühl« oder »Emotion« in der Literatur sehr unterschiedlich verwendet werden. Unter »Emotion« versteht man meist eine heftige Gemütsbewegung von kurzer Dauer, die von deutlichen körperlichen Symptomen begleitet ist, wie Angst, Zorn, Wut, Trauer, Freude. »Gefühl« hat manchmal mehr die Bedeutung einer Disposition, die lange anhalten kann und kaum körperliche Symptome aufweist, wie Liebe, Vertrauen, Nostalgie, Weltschmerz, Heimweh. Davon unterschieden werden Stimmungen, die im Unterschied zu anderen Gemütsbewegungen meist nicht als intentional gelten, weil sie unser ganzes Dasein durchdringen. Darüber hinaus wird jedenfalls im Deutschen »Gefühl« auch als Oberbegriff für alle Arten von Gemütsbewegungen gebraucht. 91 Ich werde hier und im Folgenden das Wort »Gefühl« im denkbar weitesten Sinne verwenden, wobei es mir vor allem darauf ankommt, dass Gefühle je bestimmte Erlebnisqualitäten aufweisen, sie sind ein phänomenales Bewusstsein, es fühlt sich in je besonderer Weise an, ein Gefühl zu haben. Diese Eigenheit schließt nicht aus, dass Gefühle auf etwas bezogen sind: Man freut sich über etwas und ist traurig wegen etwas, man fürchtet oder erhofft sich etwas. Aber immer fühlt sich Trauer anders an als Freude, Furcht anders als Hoffnung. Nicht nur der Begriff des Gefühls ist mehrdeutig, der des Betroffenseins ist es nicht weniger. So geht die Weise, wie ich bisher von Betroffenheit gesprochen habe, von einem Verständnis aus, das vom üblichen Gebrauch des Wortes abweicht. 92 Gewöhnlich sagen wir, wir

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Siehe z. B. E.-M. Engelen: Gefühle, Stuttgart 2007, S. 7 ff. Vgl. oben S. 75.

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Betroffenheit als Gefühl

fühlen uns von einem Sachverhalt betroffen, wenn dieser ein Gefühl auslöst. So sprechen wir davon, der Verlust eines geliebten Menschen mache uns traurig, eine drohende Gefahr sei beängstigend, ein langgehegter Wunsch, der in Erfüllung geht, freue uns. Löst ein Sachverhalt ein Gefühl aus, so sind wir in der Weise des Gefühls betroffen, das er auslöst. Er berührt uns angenehm oder unangenehm, er lässt uns fürchten, hoffen, trauern, freuen usw. Ich habe das Wort »Betroffenheit« in einem weiteren, mehr technischen Sinn verwendet und davon gesprochen, das betreffe uns, was uns widerfährt, was wir erleiden. Dieses Erleiden, das pathische Bewussthaben, ist auch ein Gefühl, aber kein beliebiges, sondern eines der Frustration. In diesem Sinne betrifft uns alles, was pathisch bewusst ist, auch die Gefühle, soweit sie nicht solche des Wachseins sind, und damit auch das Betroffensein im umgangssprachlichen Sinn. In diesem Sinn betroffen zu sein ist keine neutrale Tatsache, sondern ein Gefühl, das je nachdem, was mich betrifft, eine andere Qualität annimmt, die sich auch auf die Furcht, betroffen zu werden, überträgt. Wenn wir vom Schreck sagen, er fahre uns in die Glieder, so dass wir zusammenzucken, beschreibt das die Weise, wie wir uns von ihm betroffen fühlen. Wieder anders fühlen wir uns betroffen, wenn wir etwa einen spektakulären Sonnenuntergang genießen, uns dem Spiel der Farben und Formen überlassen und in dieser sinnlichen Fülle aufgehen. Bei Gefühlen kann man sich fragen, ob ein Gefühl etwas ist, das uns betrifft, oder ob es nicht vielmehr in diesem Betroffensein besteht. Dabei müssen wir beide Begriffe des Betroffenseins auseinanderhalten: Im umgangssprachlichen Sinne ist jedes Gefühl Ausdruck einer Betroffenheit, im weiteren Sinne von Betroffenheit betrifft uns auch ein Gefühl, weil auch Gefühle Widerfahrnisse sind. Wir müssen dabei das Gefühl, das uns betrifft, vom Gefühl des Betroffenseins durch das Gefühl unterscheiden. Freude z. B. betrifft uns nicht wieder in der Weise der Freude, denn wir erleiden sie wie alles, was pathisch bewusst wird. Die Freude überkommt uns, sie ergreift uns (wie andere Gefühle auch), manchmal heftig (dann packt sie uns), manchmal kommt sie leiser daher, aber auch in solchen Fällen fühlen wir uns von innen her ergriffen. Damit dürfen wir annehmen, dass uns auch Gefühle betreffen und dass auch da das Betroffensein in einem Gefühl besteht. Nur betreffen uns Gefühle anders als andere Arten des Erlebens. Was immer uns widerfährt, betrifft uns, und dieses Betroffensein hat seine Gefühlsqualität, die je nach Art des Erlebens, das uns betrifft, anders ist. Ein Schmerz betrifft uns in der 91 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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Weise, wie er eben schmerzt. Von Gefühlen sagen wir, sie ergreifen uns, und zwar je nach Gefühl in unterschiedlicher Qualität. Trauer ergreift uns anders als Freude, Furcht vor einer Gefahr anders als Wut. Ich werde diesen Gedanken an späterer Stelle wieder aufgreifen, denn wenn das pathische Wachsein in Gefühlen besteht, ist es angezeigt, zuvor der Frage nachzugehen, was unter einem Gefühl zu verstehen sei. Dies ist notorisch umstritten. Ein Autor wie William P. Alston zählt nicht weniger als neun verschiedene Verwendungsweisen dieses Wortes auf, 93 das lässt der Annahme, es sei klar, was damit gemeint sei, keinen Raum. Kaum ermutigender ist die Bemerkung von Sabine A. Döring in der Einleitung zu der von ihr herausgegebenen Anthologie über die Philosophie der Gefühle, es sei eine »offene Frage, ob es eine Theorie der Gefühle geben kann und, falls ja, wie eine solche Theorie aussehen könnte.« 94 Mir geht es allerdings nicht um eine Theorie der Gefühle, die auf alles passt, was man noch in irgendeinem Sinn »Gefühl« nennen kann, sondern um einen Begriff des Gefühls, der uns hilft, Wachsein besser zu verstehen. Ich werde mich jedoch hüten, eine Definition zu geben, die den Anspruch erhebt, allgemeingültig zu sein. Gefühle sind pathische Erlebnisse, sie werden vorwiegend passiv-rezeptiv erlebt, nämlich als etwas, das uns ergreift, packt, oder in das wir eintauchen. Gefühle lassen sich nicht herbeizwingen, wir können sie zwar haben wollen, aber dieses Wollen kommt über ein bloßes Wünschen nicht hinaus. Vom Erleben her erscheinen Gefühle als etwas nur Subjektives und Innerliches oder lediglich als Reaktionen auf äußere Reize. Es gibt jedoch Gefühle, bei denen wir dazu neigen, sie für ähnlich objektiv zu halten wie Naturphänomene. Geraten wir in eine bedrohliche Situation, so erleben wir das Gefährliche nicht als neutrales Geschehen, das vorhanden ist, wahrgenommen, dann als bedrohlich bewertet wird und darauf Furcht erregt. Vielmehr wird das Geschehen selbst schon als furchterregend erlebt. So gesehen kann Furcht nicht nur subjektiv sein, sie hat auch ihre objektive Seite, die so gut wie ich auch andere bemerken können. Diese besteht nicht allein darin, dass Gefühle sich im Gefühlsausdruck für andere

W. P. Alston: Emotion und Gefühl. In: Logik des Herzens. Die soziale Dimension der Gefühle. Hg. von G. Kahle, Frankfurt a. M. 1981, S. 21. 94 S. A. Döring (Hg.): Philosophie der Gefühle, Frankfurt a. M. 2009, S. 12. 93

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Betroffenheit als Gefühl

zeigen, sondern auch darin, dass Gegenstände oder Ereignisse nicht selten als gefühlsbetont erscheinen. Noch offensichtlicher lässt sich das Objektive von Gefühlen an den Stimmungen erleben, etwa die Stimmung einer Landschaft im flach einfallenden Abendlicht, die drückenden Wetters im Sommer, eine Gewitterstimmung usw. Auch an Tieren und Menschen können uns Stimmungen begegnen, nicht bloß im körperlichen Ausdruck ihrer Befindlichkeit, sondern direkt spürbar als die unter Umständen »dicke Luft«, die sie umgibt. 95 Im Gegensatz zu diesem objektiven Verständnis der Gefühle dominiert in der Literatur die Auffassung, Gefühle seien einerseits subjektiv, privat und innerlich, andererseits kommt ihnen auch eine objektive Seite zu, die sich jedoch auf Ausdruck und Gebärde beschränkt. Der subjektiven Seite muss unser Interesse gelten, wenn es um die Frage geht, ob wach zu sein ein Gefühl sei, und wenn ja, was für eines. Gibt es Erlebnisweisen, die ohne unser Zutun durch Erleiden bewusst sind, so sind wir auch in diesem Erleiden wach, nur anders als in aktiven Bewusstseinsvollzügen. Auch wenn wir Träume einstweilen beiseite lassen, gibt es vieles, was in dieser Weise bewusst erlebt wird. Man denke nur an alles, was uns einfällt, insbesondere auch an die Gefühle, die geradezu als Paradigmata pathischen Bewusstseins gelten können. Man hat diesen Aspekt der Gefühle stets darin gesehen, dass sie uns ergreifen, mitreißen oder dass wir in ihnen aufgehen. Man denke an Angst oder Wut, die uns packt, an Freude, die unser Herz hüpfen lässt, an Trauer, die uns niederdrückt. Schmitz spricht in solchen Fällen von »affektivem Betroffensein« durch leibliche Regungen oder Gefühle 96, das den spezifisch subjektiven Charakter des Bewusstseins eines Subjekts ausmache, was sich daran zeige, dass sich Sachverhalte des affektiven Betroffenseins gänzlicher Objektivierung entziehen. Sie können nicht ohne Verarmung in einer vollständig objektiven Sprache wiedergegeben werden 97 und lassen sich nur aus der Perspektive der ersten, nicht aus jener der dritten Person vollständig beschreiben. Durch affektives Betroffensein werden Gefühle und leibliche Regungen zu meinen, eine Aneignung, die vorwiegend passiv ist und sich, wie Scheler am

Die Objektivität von Gefühlen wurde in den letzten Jahren besonders von Hermann Schmitz hervorgehoben. Siehe sein System der Philosophie III, 2: Der Gefühlsraum, a. a. O., bes. Kap. 2 und 3. 96 Siehe ebd., 2. Kap. 97 Ebd., S. 51. 95

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Beispiel des Schmerzes gezeigt hat, in den Formen des Leidens, Ertragens, Duldens und Genießens abspielen kann. 98 Zu Recht meint Schmitz, sie gehe in zwei Dimensionen vor sich, neben der des Erleidens gebe es auch eine des Verhaltens zum Affekt, die auch Widerstand einschließe. 99 Was Schmitz auf Gefühle und leibliche Regungen beschränkt, nämlich dass sie uns affektiv betreffen, scheint mir, wenn auch modifiziert, von allem zu gelten, was uns widerfährt. Auch ein Gedanke, der uns einfällt, betrifft uns, ebenso eine Ohrwurmmelodie, die uns nicht loslässt, oder ein Tagtraum, in den wir versunken sind. Nicht nur Gefühle, auch Erinnerungen, Phantasien und Gedanken können uns affektiv betreffen, wenn auch anders als Gefühle, aber gleichfalls mit der Nuance, dass gerade ich betroffen bin. Viele Gefühle kann man darauf zurückführen, dass wir etwas wünschen, begehren oder erstreben, und urteilen, ob das Erstrebte ist oder nicht ist. So kann man Trauer als ein Gefühl verstehen, das entsteht, wenn wir einen geliebten Menschen verlieren, und Hoffnung als dasjenige, das darauf beruht, dass wir etwas wünschen und zur Überzeugung gelangen, dass das Gewünschte wahrscheinlich eintreffen wird. Genauer besehen heißt das nicht nur, dass solche Gefühle durch Wünsche und Überzeugungen verursacht sind, sondern dass auch ihre phänomenale Qualität dadurch bestimmt ist, dass wir etwas wünschen und davon überzeugt sind, dass das Gewünschte ist oder nicht ist oder wahrscheinlich ist oder wahrscheinlich nicht ist. Wenn ich über den Verlust eines Menschen traurig bin, so fühle ich, dass ich diesen Menschen liebe, und fühle, dass diesem Lieben gewissermaßen die Spitze abgebrochen wird durch das Urteil, dass der Geliebte nicht mehr ist. Wenn ich mir etwas erhoffe, so fühle ich den Wunsch, dass das sei, was ich erhoffe, und fühle, wie dieser Wunsch verstärkt wird durch das Urteilen, das Gewünschte werde wahrscheinlich eintreten. Man darf vermuten, dass solche Gefühle nicht nur durch ein Streben und ein Urteilen verursacht sind, sondern dass die jeweilige Gefühlsqualität darin besteht, dass ich fühle, nach etwas zu streben, und fühle, wie das Urteilen, ob das Strebensziel erreicht oder nicht erreicht werden wird, die Dynamik dieses Strebens beeinflusst. Ich möchte

Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materielle Wertethik, Bern 1954, S. 270. 99 Schmitz, a. a. O., S. 139. 98 4

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Betroffenheit als Gefühl

solche Gefühle im Anschluss an Meinong 100 als »Urteilsgefühle« bezeichnen. Strebungen nenne ich Erlebnisse, die wir als Drang auf ein Ziel hin verspüren, wobei die Verwirklichung des Ziels mit einem Nachlassen des Drängens und dem Gefühl der Befriedigung einhergeht, während ein Gefühl der Frustration auftritt, wenn sich die Realisierung als unmöglich herausstellt. Ziele lassen sich einteilen in solche, in denen das Sein und in solche, in denen das Nichtsein von etwas angestrebt wird. Entsprechend kann man grob sympathische und antipathische Strebungen unterscheiden. Ziele müssen nicht vergegenwärtigt sein, oft sind sie nicht vorgestellt, sondern im Strebungserlebnis nur dumpf und andeutungsweise miterlebt in einer ähnlichen Unbestimmtheit, wie in einer Frage das Erfragte, das noch nicht erkannt und dennoch schon in einer eigenartigen Weise vorweggenommen und gesucht ist. 101 Durch ihre Zielgerichtetheit ist jedes Streben auf Zukunft bezogen, ohne das Künftige zu vergegenwärtigen. Wir müssen uns nicht vorstellen, wie das Erstrebte sein wird, wir fühlen nur, wie es uns zu etwas hindrängt, das noch nicht ist. Dies zeichnet den bewussten Drang aus. Zu den Strebungen zähle ich alles Erleben, das in der genannten Weise strukturiert ist, also die körperlich fundierten Triebe, wie Hunger, Durst, Sexualtrieb sowie alle Arten von Sympathien und Antipathien, wie auch mentale Strebungen, deren Ziele nur durch mentale Vorgänge zu erreichen sind. Strebungen sind immer etwas, das uns widerfährt, und damit pathisch, im Gegensatz zu einem Wollen, das aus einer Entscheidung hervorgeht. Was uns da entgegentritt, dieses Treibende, Drängende, Fordernde, drängt uns mehr oder weniger intensiv zu diesem und jenem. Strebungen entstehen unwillkürlich, ohne unser Zutun, wir können sie nicht willentlich erzeugen, was nicht ausschließt, dass wir nach ihrem unwillkürlichen Auftreten zu ihnen Stellung nehmen und uns mit ihnen verbinden oder sie unterdrücken können. Diese Auffassung findet treffend in passiven Redewendungen ihren Ausdruck, etwa wenn wir sagen »mich hungert«, »mich dürstet es«, »es treibt mich …«. Worin besteht nun diese doch durchaus miterlebte Passivität? Was macht das Sich-getrieben-Fühlen aus? Dieses Drängende schien uns für Strebungen typisch zu sein, wir fühlen, dass es uns zu etwas hindrängt, darin besteht ihre phänomenale Qualität. 100 101

Siehe unten S. 107. Vgl. Philipp Lersch: Der Aufbau der Person, München 111970, S. 124.

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Das Streben hat nicht nur ein Ziel, dessen Realisierung als Befriedigung erlebt wird, es hat auch ein Objekt, das zur Befriedigung dient. Dieses steht in der Spannung zwischen angestrebter und wirklicher Befriedigung, aus ihr geht das Drängende, in Bann Schlagende des Strebens hervor, worin man die Weise sehen muss, wie uns ein Streben betrifft. Das Streben nach einem Ziel verweist auf einen Mangel, auf etwas, das nicht so ist, wie man möchte, eine Redeweise, die schon andeutet, dass der Mangel nicht das Streben begründet, sondern umgekehrt: etwas erscheint von einem Streben her als Mangel. 102 Im Drängen, ihn zu beheben, fühlen wir uns gedrängt, von ihm geht auch die affektive Betroffenheit aus, die für manche Strebungen typisch ist. So möchte man sagen, wir wissen, dass wir nach etwas streben, weil wir uns gedrängt fühlen, etwas zu tun oder doch wenigstens zu wünschen, dass etwas der Fall sei. Denken wir an die körperlich fundierten Triebe, wie Hunger, Durst und Sexualtrieb, so fühlen (oder spüren) wir, dass es uns zu etwas hin drängt, man kann in solchen Fällen von Drive-Gefühlen sprechen. 103 Was für Triebe plausibel klingt, lässt sich jedoch kaum von allen Strebungen behaupten. Oft fühlen wir das Drängende des Strebens erst, wenn dieses befriedigt oder frustriert wird oder die Befriedigung als fraglich erscheint, und damit das Streben schon Gefühl geworden ist. Auch fühlen wir unseren Selbsterhaltungstrieb oder ein Streben nach Gerechtigkeit, nach Reichtum usw. nicht ständig. Man wird sagen, das sind Dispositionen, die nicht immer aktuell sind. Aber wann fühle ich sie aktuell? Meist dann, wenn ich glaube, in einer dieser Hinsichten zu kurz gekommen zu sein. D. h. ich fühle das Streben erst, wenn ich über das Erreichen oder Nichterreichen des Strebungsziels urteile oder schon geurteilt habe. Das Urteil, um das es hier geht, ist nicht eines, das ich absichtlich vollziehe, was Einsicht in das Strebensziel und in meine aktuelle Situation voraussetzen würde, was natürlich auch möglich ist. Aber das im Gefühl implizierte Urteilen ist ebenso pathisch wie das Streben selbst. Ein Streben wird oft erst dann bewusst, wenn es schon Gefühl geworden ist. Strebungen sind wie Wahrnehmungen oder Vergegenwärtigungen intentional, nur ist die Intention nicht meinend, sondern begehrend. Wie ein Widerfahrnis ein Wahrnehmen, so kann es auch ein 102 Sartre hat dies klar herausgearbeitet. Siehe: Das Sein und das Nichts, hg. von T. König, Reinbek bei Hamburg 1973, S. 754 ff. 103 Vgl. Agnes Heller: Theorie der Gefühle, Hamburg 1981, S. 91 ff.

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Betroffenheit als Gefühl

Begehren auslösen, und nicht selten geschieht beides zugleich. Zu jedem Streben gibt es eine mögliche Befriedigung, in der sein Ziel als erreicht erlebt wird, und ebenso eine mögliche Frustration, wenn sein Ziel sich als unerreichbar herausstellt. Befriedigung ist ein Gefühl, und zwar eine Modifikation des Drängens, in dem sich dieses eruptiv auflöst. Was in ihr mehr oder weniger heftig zum Ausbruch kommt, ist Freude bis hin zu Enthusiasmus. Mit der Befriedigung lässt das Drängen nach und das Streben geht zu Ende. Anders die Frustration. Auch sie ist eine Modifikation des Drängens, aber so, dass dieses sich nicht auflöst, sondern als ein nagendes missgelauntes Gefühl weiter besteht. Wie entstehen diese Modifikationen? Zur Befriedigung kommt es, möchte man meinen, wenn der angestrebte Sachverhalt besteht, was ein weiteres Streben überflüssig macht, denn was wirklich ist, kann nicht mehr erstrebt werden. Analog entsteht Frustration, wenn der erwünschte Sachverhalt nicht besteht oder unerreichbar ist. Jede Befriedigung scheint die Realisierung des Strebungsziels anzuzeigen, das, was erstrebt wurde, ist wirklich geworden, sei es durch eine bestimmte, von der Art der Strebung abhängige Tätigkeit oder durch ein gütiges Geschick. Das dürfte bedeuten, dass es an der befriedigenden Tätigkeit oder günstigen Umständen, jedenfalls an einem realem Geschehen liegt, wenn ein Streben befriedigt und seine Intensität nachlässt. Doch Fälle täuschender Befriedigung lassen Zweifel aufkommen. Manchmal geschieht es, dass ich glaube, mich an etwas zu erinnern, doch was Erinnerung zu sein schien, entpuppt sich später als Phantasie. Die scheinbare Erinnerung befriedigt mein Streben, mich an etwas zu erinnern im Augenblick seiner Befriedigung ebenso gut wie eine zutreffende, solange der Glaube aufrecht erhalten bleibt, mich richtig erinnert zu haben. Verliere ich diesen Glauben, baut sich das Streben von neuem auf. Mögen Fälle täuschender Befriedigung bei einfachen sinnlichen Begehrungen wie Hunger, Durst oder Sexualtrieb nicht einmal denkbar sein, so sind sie bei anderen geradezu alltäglich, nämlich immer dann, wenn die Befriedigung, oder schon das Streben selbst, auf falschen Annahmen beruht. Z. B. drängt es mich dazu, mich an A zu rächen, weil ich glaube, dass er es war, der mich beleidigt hat. Der Vollzug der Rache befriedigt diesen Drang, obschon er fehlgeht, da es nicht A, sondern B war, von dem die Beleidigung ausging. Wer glaubt, durch Exorzismus böse Geister zu vertreiben, wird nach erfolgter Beschwörung befriedigt sein, auch wenn es sich dabei um bloßen Humbug handelt. Wenn 97 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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nicht nur wirkliches, sondern auch scheinbares Erreichen des Strebungsziels befriedigend wirkt, gerät die These, die Realität des Angestrebten bewirke die Befriedigung, ins Wanken, es genügt der Glaube, das Strebungsziel sei erreicht. Es liegt dann auch an diesem Glauben und nicht am Bestehen des angestrebten Sachverhalts, wenn sich das Streben wieder abbaut. Die Befriedigung einer Strebung beruht wesentlich darauf, dass ich beginne, an die Wirklichkeit des Erstrebten zu glauben. Dabei muss es sich nicht um ein explizites Urteil handeln, etwa um ein Vergleichen des erfüllenden Ereignisses mit dem Strebungsziel und einem nachfolgendem Urteilen darüber, ob dieses erreicht sei. Dies wäre voreilige Intellektualisierung. Eher besteht dieser Glaube im Falle der Befriedigung in einem Erfüllungsbewusstsein, im Bewusstsein, dass sich Erstrebtes und Erfüllendes decken, und das kann auch die Form einer passiven Glaubensgewissheit annehmen, an die sich nachträglich ein eigentliches Urteilen anschließen mag. Das lässt einige Fragen offen. Die Befriedigung eines Strebens beruht auf dem Glauben an die Wirklichkeit des Erstrebten, der seinerseits in einem Erfüllungsbewusstsein besteht, in dem Erstrebtes und Erfüllendes (oder was man dafür hält) zur Deckung kommen. Worin besteht nun eigentlich das Phänomen der Befriedigung, im Glauben an das Vorhandensein des Erstrebten, im Hemmen der in der Strebung liegenden Lebendigkeit (wie es das Wort »Befriedigung« zum Ausdruck bringt) oder schlicht im Gefühl der Befriedigung? Was das Erste betrifft, so setzt die Befriedigung mit diesem Seinsglauben ein, der sich in ihrem Fortgang laufend weiter bestätigt, solange er nicht durch gegenteilige Erfahrungen modalisiert wird. Er muss mit der Befriedigung koexistieren, ohne ihn ist keine Befriedigung denkbar. Zum Zweiten: Was macht das gesamte Phänomen der Befriedigung aus? Mir scheint, es kann nicht in einem Glauben oder Urteilen darüber bestehen, dass das Angestrebte wirklich sei, obschon jede Befriedigung einen solchen Glauben impliziert. Befriedigung ist ein Gefühl, in welches das Streben umschlägt, sobald der Glaube an die Wirklichkeit des Erstrebten beginnt sich auszuwirken. Ein Gefühl setzt ein Streben (oder einen Wunsch) und ein Urteilen (oder eine Überzeugung) voraus, aber es ist nicht aus ihnen zusammengesetzt. 104 Es hat als Gefühl eine bestimmte phänomenologische Quali104 Ähnlich argumentieren A. Stephan und J. Slaby, wenn sie festhalten, erlebte Emotionen seien wesentlich einheitliche Zustände, die sich phänomenologisch nicht aus

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tät, die sich nicht auf das Streben und Urteilen zurückführen lässt, es ist diesen gegenüber emergent. 105 Im Gefühl der Befriedigung löst sich die Spannung zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, und insofern haben die Gefühle der Befriedigung immer etwas Entspannendes. Befriedigung ist Modifikation eines Strebens in ein Gefühl, das dann entsteht, wenn der Strebende an die Wirklichkeit des Erstrebten glaubt. Auch die Frustration wird durch ein Urteilen eingeleitet, was ihren phänomenalen Gehalt prägt. So wie das Urteil, »das Erstrebte ist«, das Dranggefühl verändert, so auch das Urteil, »es ist nicht« oder »es ist nicht zu erreichen«. Und wie in der Freude noch ein Drängen enthalten ist, so auch in der Frustration. Aber während es in der Freude gewissermaßen wie ein Feuerwerk verpufft, wird es in der Frustration in sich zurückgedrängt, ohne deswegen an Intensität einzubüßen. Verstehen wir Gefühle als durch Urteile modifizierte Strebungen, so muss das nicht bedeuten, dass dem Gefühl immer ein Streben und ein Urteilen vorhergehen, die es verursachen. Gefühle können auch auftreten, ohne dass wir uns zuvor eines Strebens und Urteilens bewusst wären, oft finden wir beide erst hinterher durch eine Analyse des Gefühls. Dieses enthält implizit ein Drängen nach einem Ziel hin und ein Urteilen darüber, ob dieses Ziel erreicht oder nicht erreicht oder zu erreichen oder nicht zu erreichen sei. Worin besteht dieses implizite Enthaltensein? Jedes Gefühl ist ganz und gar Gefühl, und jeder Teil eines Gefühls ist wiederum gefühlt, so dass auch das Streben und Urteilen, wenn sie Teile eines Gefühls wären, gefühlt sein müssten. Vom Streben lässt sich sagen, wir fühlen, dass es uns zu etwas hindrängt, dazu, dass etwas sei oder nicht sei, aber das Urteilen fühlen wir nicht. Es mag als Überzeugung dem Gefühl vorhergehen, aber im phänomenalen Gehalt des Gefühls ist es nicht aufzufinden. In einem Urteil haben wir ein Bewusstsein davon, ob ein Sachverhalt wahr oder falsch ist, dies kann nur geurteilt, nicht gefühlt werden. Dennoch hinterlässt das Urteilen im Gefühl seine Spuren. Ist ein Ziel nicht nur Gegenstand eines Strebens, sondern zugleich auch eines Urteilens, so ververschiedenen Bestandteilen zusammensetzen. Ihre Merkmale gelten als lediglich begrifflich separierbar. Siehe: A. Stephan und J. Slaby: Affektive Intentionalität, existenzielle Gefühle und Selbstbewusstsein. In: Affektive Intentionalität. Beiträge zur welterschließenden Funktion der menschlichen Gefühle. Hg. J. Slaby, A. Stephan, H. Walter, S. Walter, Paderborn 2011, S. 209. 105 Dazu R. de Sousa, Die Rationalität des Gefühls, a. a. O., S. 69.

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ändert sich das Streben und mit ihm der Drang, den wir im Gefühl fühlen. Das Ziel ist nun nicht allein angestrebt, es ist im Falle der Befriedigung zugleich als seiend beurteilt, im Falle der Frustration als etwas, das nicht ist oder nicht sein kann. Wird dasselbe zugleich erstrebt und beurteilt, so entsteht etwas, das weder bloß ein Streben noch ein Urteilen ist, sondern ein einheitliches Gefühl, das wir analytisch auf ein Streben und ein Gefühl zurückführen können. Wir fühlen, dass das Angestrebte ist oder nicht ist, ohne zu urteilen. Urteilsgefühle sind durch ein Urteilen modifizierte Strebungen. Je nachdem wie über das Strebungsziel geurteilt wird, geht das Drängen in unterschiedliche Gefühle über. Was für ein Gefühl entsteht, hängt vom Ziel des Strebens und von der Modalität des Urteilens ab. Ein Urteil kann nicht nur entschieden positiv oder negativ sein, sondern auch unentschieden und schwankend, was ein Gefühl des Zweifels ergibt. Es kann in die eine oder andere Richtung tendieren, zu wahrscheinlicher Befriedigung hin, was zu Hoffnung führt, oder zu wahrscheinlicher Frustration, was Furcht entstehen lässt, das Ziel sei nicht zu erreichen. Dabei geht es um die Befriedigung oder Frustration eines konkreten aktuellen Strebens, z. B. des Strebens, sich am Leben zu erhalten. Auch andere Gefühle lassen sich in dieser Weise analysieren, z. B. Ungeduld, aber auch komplexere soziale Gefühle wie Zorn, Neid, Eifersucht oder Scham. Von vielen Strebungen müssen wir annehmen, dass sie nur insoweit bewusst werden, als sie Gefühl geworden sind. Noch ist weitgehend unklar, wie das Urteilen das Streben verändert. Wenn wir annehmen, wir fühlen im Gefühl der Befriedigung, das, wozu wir uns gedrängt fühlen, sei realisiert, und in der Frustration die Vergeblichkeit des Drängens, so muss man sich die Frage gefallen lassen, wie wir fühlen können, dass etwas der Fall oder nicht der Fall ist. Wir trauen damit dem Gefühl etwas zu, was offensichtlich in die Kompetenz des Urteilens fällt. Wenn ich eben der Meinung war, wir könnten ein Urteil nicht fühlen, aber es gehe dem Gefühl vorher und hinterlasse in ihm seine Spuren, so ist jetzt zu fragen, worin diese Spuren bestehen. Zuvor noch aber stellt sich die Frage nach den Zusammenhängen zwischen Streben und Urteilen, die zu solchen Spuren führen. Dabei kann man erstens darauf hinweisen, dass auch das Urteilen ein Streben sei, nur nicht eines nach Befriedigung, sondern nach Entscheidung darüber, ob ein Sachverhalt wahr oder falsch ist. Nicht nur das Streben nach Befriedigung, auch das nach Entscheidung im Urteilen 100 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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ist ein Prozess, der dauert und seine Zeitgestalt hat. Zweitens ist das, worüber wir urteilen, zugleich der intentionale Gegenstand des Strebens. Ich strebe, und urteile zugleich über denselben Gegenstand. Darin besteht die dritte Beziehung zwischen Streben und Urteilen: Beide haben dasselbe Subjekt, dem sie bewusst sind. Setzt ein Urteilen über Sein oder Nichtsein eines Strebensziel ein, so verändert sich das Streben, weil sein intentionaler Gegenstand nicht mehr derselbe ist wie zuvor. Es ist nicht mehr ein bloß angestrebter Sachverhalt, sondern einer, der als wirklich oder wahrscheinlich seiend oder wahrscheinlich nicht seiend oder definitiv nicht seiend beurteilt wird. Aus dem Streben wird ein Gefühl, weil sich sein Gegenstand durch das Urteilen verändert hat. Die Spur, die das Urteilen am Streben hinterlässt, hinterlässt es an seinem Gegenstand, und sie findet sich am intentionalen Gegenstand des Gefühls wieder. Im Gefühl der Befriedigung bin ich darüber befriedigt, dass das, wonach ich strebe, wirklich ist; für die Gefühle der Hoffnung auf Befriedigung, der Frustration und der Furcht vor ihr, gilt Entsprechendes. Die Behauptung, ein Urteilsgefühl impliziere ein Urteil, bezieht sich nicht auf seinen phänomenalen Gehalt, sondern auf seinen intentionalen Gegenstand. So scheint es zumindest. Dennoch ist zu fragen, ob nicht das Urteilen auch am phänomenalen Gehalt des Gefühls Spuren hinterlässt. Ich habe schon erwähnt, dass man sich dieses im Gefühl implizierte Urteilen nicht als ein echtes prädikatives Urteilen denken darf, und wir müssen hinzufügen: schon gar nicht als ein sprachlich verfasstes und womöglich absichtlich vollzogenes. Es geht hier um ein vorsprachliches Urteilen, das wir auch Säuglingen zuschreiben dürfen, wenn sie zu Einschätzungen fähig sind und ein affektives Erleben zeigen. 106 Dazu kommt, dass dieses Urteilen kein punktuelles Entscheiden ist, sondern ein Prozess, der in einer Entscheidung terminiert. Der Weg dorthin kann langsamer oder schneller, zögerlich oder zielstrebiger vonstatten gehen. Die Entscheidung mag vorläufig sein und mehr den Charakter einer Vermutung annehmen, sie kann schwanken und sich ins Gegenteil kehren. Mit dieser sich verändernden Zeitgestalt des Urteilens verändert sich auch die des Strebens. Das hinterlässt Spuren am phänomenalen Gehalt des Gefühls. Da wir das Drängende des Strebens füh-

106 Dazu: D. Stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings. Übersetzung aus dem Amerikanischen von W. Krege, bearbeitet von E. Vorspohl, Stuttgart 92007, S. 67.

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len, fühlen wir auch die temporale Dynamik seiner Veränderung, die es durch das Urteilen erfährt. Ich knüpfe damit an einen Gedanken von Daniel Stern an, den er in den Konzepten des »Vitalitätsaffekts« und des »Gegenwartsmoments« entwickelt hat. 107 »Gegenwartsmoment« nennt er eine »subjektive psychische Prozesseinheit, deren man sich bewusst ist.« 108 Es ist das Jetztbewusstsein, das nur wenige Sekunden dauert und wie bei Husserl durch Retention mit der Vergangenheit und durch Protention mit der Zukunft verbunden ist. 109 Diese Dauer ist zeitlich dynamisch, vergleichbar einer musikalischen Phrase. 110 Solche dynamischen Zeitgestalten nennt Stern auch »Vitalitätsaffekte«. 111 Allem, was wir tun oder wahrnehmen, kommt eine zeitliche Kontur zu. Zeitkonturen werden im Wahrnehmen zu Gefühlskonturen und damit zu Vitalitätsaffekten. 112 Sehen wir z. B. zu, wie eine Feuerwerksrakete aufsteigt, explodiert und verglüht, »erleben wir einen Erregungsund Erwartungsanstieg während die Rakete aufsteigt, ein plötzliches Aufwallen der Gefühle bei ihrer Explosion und ein Nachlassen der Erregung bei gleichzeitigem wachsendem Staunen und zunehmender Freude« 113. Die zeitliche Dynamik des Wahrgenommenen führt zu Gefühlsqualitäten, die uns zwar vertraut sind, aber nicht durch die üblichen Gefühlswörter erfasst werden. Sie lassen sich besser mit dynamischen kinetischen Begriffen charakterisieren wie »aufwallen, verblassen, flüchtig, explosiv, zögerlich, nachdrücklich, beschleunigend, verlangsamend, dem Höhepunkt zustrebend, berstend, sich hinziehend, strebend, zögernd, nach vorn gebeugt, zurückgelehnt usw.« 114 Wir müssen annehmen, auch die herkömmlichen Affekte haben ihre zeitliche Dynamik, nicht zuletzt die Urteilsgefühle, und es ist kein Wagnis zu behaupten, es liege bei ihnen am Urteilen, wenn eine solche Dynamik in Gang kommt. Wenn wir das Urteilen nicht bloß 107 Siehe ebd., S. 83 ff. und ders: Der Gegenwartsmoment. Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag. Aus dem Amerikanischen von E. Vorspohl, Frankfurt a. M. 2005. 108 Stern, Gegenwartsmoment, a. a. O., S. 43. 109 Ebd., S. 45. 110 Ein Vergleich, der sich schon bei Musil findet. Siehe: R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Ges. Werke, Bd. 4, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 1164, 1169. 111 Stern, Gegenwartsmoment, a. a. O., S. 54. 112 Ebd., S. 79. 113 Ebd., S. 54. 114 Ebd., S. 80, vgl. Die Lebenserfahrung des Säuglings, a. a. O., S. 83.

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nach seinem Resultat nehmen, sondern als Prozess, der schließlich in einer Entscheidung terminiert, so hat auch dieser seine temporale Kontur, welcher das Dranggefühl nachfolgt und nachfolgen muss. Solche zeitlichen Konturen des Urteilens können unterschiedlich ausfallen: Ein Urteilen mag zunächst unentschieden sein, nach Momenten des Zweifels kann die Vermutung aufkommen, das Erstrebte könne wahrscheinlich wirklich werden, dann kann es plötzlich zur Entscheidung kommen, dem sei wirklich so, oder das Urteilen schlägt je nach Situation ins Gegenteil um, ein verneinendes wird zum bejahenden oder umgekehrt. Vermutungen können sich verstärken oder abschwächen oder sich ins Gegenteil kehren. So kommt dem Urteilen nicht nur in jedem Jetztpunkt eine mehr oder weniger bestimmte Modalität zu, als ein Prozess ist es eine Bewegung in der Zeit, die mal schneller, mal langsamer, mal beschleunigend, mal verlangsamend, mal rasch der Entscheidung zustrebt, mal zögerlich sich hinzieht usw. Da das Streben nach dem strebt, worüber geurteilt wird, können ihm die Wege, die das Urteilen nimmt, nicht gleichgültig sein. Ein zügiges Vorwärtsstreben wird durch ein zweifelndes Urteilen unentschlossen und zögerlich. Entsteht der Glaube, das Ziel werde wahrscheinlich erreicht, kommen Zuversicht und Hoffnung auf, wogegen die Aussicht auf Nichterfüllung mutlos macht und der Intensität des Strebens den Schwung nimmt. Tendiert das Urteilen zur Entscheidung, das Gewünschte existiere, so kommt es zu einem Aufwallen des Strebens, bis sich die Erregung in der Freude der Befriedigung abbaut. Ein Streben, über dessen Ziel nicht geurteilt wird, würde einförmig gleichmäßig dahinströmen, durch das Urteilen erhält es eine differenzierte Zeitgestalt. Ihr Anfang mag im Dunkeln liegen, aber ihr Ende ist durch die Entscheidung des Urteilens gegeben, zumindest wenn es zur Befriedigung kommt. Dazwischen fühlen wir das Streben, in dem wir die Bewegung fühlen, die es durchmacht.

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Die Auffassung, Gefühle setzten Strebungen und Urteile voraus oder bestehen geradezu aus ihnen, kann keinen Anspruch auf Neuigkeit erheben. Angedeutet schon in Spinozas Affektenlehre 115, findet sich 115 B. Spinoza: Ethik 3, 18, Anm. 2. Werke lateinisch und deutsch, hg. K. Blumenstock, Bd. 2, Darmstadt 1967, S. 289.

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dieser Gedanke bei Brentano wieder. Einige seiner Schüler haben ihn aufgegriffen, darunter Alexius Meinong, der ihn in seiner Theorie der Urteilsgefühle weiter ausgearbeitet hat. 116 Auch die kognitive Emotionstheorie steht weitgehend in dieser Tradition. 117 Brentano hat die klassische Dreiteilung des Seelischen in Denken, Fühlen und Wollen durch eine andere ersetzt, indem er das Denken in die beiden Grundklassen des Vorstellens und Urteilens zerlegte und das Fühlen und Wollen in einer Grundklasse, jener der Gemütsbewegungen oder des Liebens und Hassens, zusammenfasste. 118 Die Trennung von Vorstellen und Urteilen begründete er damit, dass mit dem Urteil eine neue Weise der Beziehung der psychischen Tätigkeit auf einen Inhalt entsteht. Ein Urteil ist nicht eine Synthese von Vorstellungen, sondern ein als wahr Annehmen oder als falsch Verwerfen. 119 Die Einheit von Fühlen und Wollen glaubte er zum einen mit dem Hinweis plausibel machen zu können, dass es zwischen beiden keine Grenze gebe, sondern nur allmähliche Übergänge. 120 Das Gemeinsame dieser dritten Grundklasse sah Brentano »in einem gewissen Annehmen oder Verwerfen« ähnlich dem Urteilen. Wird etwas zum Inhalt eines Urteils, indem es als wahr angenommen oder als falsch verworfen wird, so wird etwas Inhalt einer Gemütsbewegung, »insofern es als gut genehm (im weitesten Sinne des Wortes) oder als schlecht ungenehm sein kann.« 121 Etwas als gut annehmen oder als schlecht verwerfen ist wie das Urteilen eine »besondere Weise der Beziehung der psychischen Tätigkeit auf einen Inhalt«, Brentano nannte sie ein Lieben oder Hassen. Statt wie beim

116 Zu Meinong siehe unten. Eine kritische Aufnahme dieser Gedanken findet man bei Chr. von Ehrenfels. Siehe: Über Fühlen und Wollen. Eine psychologische Studie. Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften (Wien), Phil.-hist. Klasse 114 (1887), S. 523–636. Abgedruckt in: Philosophische Schriften, Bd. 3, München, Wien 1988, S. 15–97. Auch andere Schüler Brentanos haben an seine Gefühltheorie angeknüpft. Siehe dazu.: C. Stumpf: Über den Begriff der Gemütsbewegung. In: Zeitschr. für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 21 (1899), S. 47–99; R. Steiner: Anthroposophie, Psychosophie, Pneumatosophie, Dornach 1965, S. 161 f. 117 Siehe: R. Reisenzein, W.-U. Meyer, A. Schützwohl: Einführung in die Emotionspsychologie, Bd. III, Kognitive Emotionstheorien, Bern 2003. 118 F. Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd. 2. Von der Klassifikation der psychischen Phänomene, hg. von O. Kraus, Hamburg 1971. 6. (2.) Kap. 119 Ebd., S. 34. 120 Ebd., S. 84 ff. 121 Ebd., S. 88 f.

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Urteilen um Wahrheit oder Unwahrheit geht es hier um Wert oder Unwert. 122 Ein zusätzliches Argument für diese Einteilung der psychischen Phänomene sah Brentano darin, dass die drei Grundklassen im Hinblick auf relative Unabhängigkeit, Einfachheit und Allgemeinheit eine natürliche Reihenfolge bilden. Die Vorstellung galt ihm als das Einfachste und Grundlegendste, da sowohl das Urteil als auch die Liebe eine Vorstellung in sich schließen. 123 Dabei verstand er das Wort »Vorstellung« in einem weiten Sinne, es bedeutet soviel wie »Erscheinen« und bezieht sich damit nicht nur auf Vergegenwärtigungen, sondern auch auf Wahrnehmungen. 124 Das Urteilen kommt an zweiter Stelle, es hat nur die Vorstellung zur Voraussetzung, nicht das Lieben oder Hassen. Diesem gebührt der dritte Platz, denn es beruht auch auf dem Urteilen. Zur Begründung heißt es unter anderem: Jedes Lieben ist »ein Lieben, dass etwas sei«, das kann nur bedeuten, wir lieben nicht nur einen Gegenstand, den wir vorstellen, sondern einen Sachverhalt, also den Gegenstand eines Urteils. 125 Das schließt nicht notwendigerweise ein, »dass derjenige, welcher etwas liebt, glaubt, dass es existiert, oder doch auch nur existieren könne«. 126 Lieben, dass etwas sei, ist kein Urteilen, sondern ein Streben. 127 Doch wenn wir lieben, dass etwas sei, drängt sich ein Urteilen darüber auf, ob das, was wir lieben, sei oder nicht sei, und dadurch wird aus dem bloßen Lieben oder Hassen ein Gefühl. »Je nach dem Urteile über das Sein oder Nichtsein, die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit dessen, was man liebt, ist der Akt der Liebe bald Freude, bald Trauer, bald Hoffnung, bald Furcht, und nimmt so noch mannigfache andere Formen an. So scheint es in der Tat undenkbar, dass ein Wesen, das mit dem Vermögen der Liebe und des Hassens begabt wäre, ohne an dem des Urteilens Teil zu haben.« 128 Dabei ist ein Gefühl nicht ein irgendwie geartetes Resultat eines Urteilens und eines Liebens (oder Hassens), sondern wie alle Phänomene der dritten Grundklasse (wozu Brentano nebst den Gefühlen das Ebd., S. 89 f. Ebd., S. 127. 124 Ebd., S. 114. 125 Ebd., S. 128, vgl. Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis, hg. O. Kraus, Hamburg 41955, S. 144 ff. 126 Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, a. a. O., S. 128. 127 Brentano spricht meist von »Begehren«. Siehe ebd., S. 35. 128 Ebd., S. 128. 122 123

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Begehren und Wollen zählt) selbst ein Lieben oder Hassen: »Wer sich nach etwas sehnt, der liebt es zu haben; wer über etwas trauert, dem ist das unlieb, worüber er trauert; wer sich über etwas freut, liebt, dass es so ist; wer etwas tun will, liebt es zu tun (wenn nicht an und für sich, so doch in Rücksicht auf diese oder jene Folge) u. s. f., und die genannten Akte sind nicht etwas, was bloß mit einem Lieben zusammen besteht, sondern sie selbst sind Akte der Liebe.« 129 Ein Gefühl ist ein Lieben oder Hassen (ein Wünschen, Streben oder Widerstreben), das mit einem Urteil unterschiedlicher Art (bejahend/verneinend, gewiss/ungewiss) über das Geliebte oder Gehasste (das Erstrebte oder Widerstrebte) verbunden ist. Dabei kommt man, wie erwähnt, nicht darum herum, den Ausdruck »Urteil« in einem weiten Sinne zu verstehen: Bei diesen im Gefühl implizierten Urteilen kann es sich kaum um Urteile im eigentlichen Sinne handeln, nicht um solche, die Husserl »objektivierende Ichakte« 130 genannt hat, sondern um Formen passiven Glaubens. Es wäre ja auch sonderbar, wollte man behaupten, in jedem Gefühl, auch in einem stark affektiven, das mich packt und fortreißt, stecke ein von mir gefälltes Urteil, also ein Ichakt. Was sich im Gefühl aufzeigen lässt, ist eher ein sich gleichfalls aufdrängender Glaube, dass etwas sei oder nicht sei. Nach Brentano wandelt sich jedes Streben (und das ist immer ein Lieben oder Hassen) in ein Gefühl, wenn wir glauben, das Erstrebte sei, oder sei nicht, oder vermuten, es sei mehr oder weniger wahrscheinlich oder unwahrscheinlich, dass es existiere oder zur Existenz komme. Die Gefühle der Befriedigung lassen sich leicht in dieser Weise analysieren. Der Glaube, das Erstrebte sei wirklich, baut nicht nur das Drängende der Strebung ab und damit auch die ihr innewohnende Spannung, sondern wandelt es in Gefühle der Entspannung, der Ausweitung, wie sie sich in Freude und Lust zeigen. Glaubt man, das Erstrebte sei nicht zu erlangen, entstehen Gefühle der Frustration, wozu etwa Enttäuschung, Verzweiflung Trauer und Reue gehören. In der Trauer lieben wir, dass etwas sei, doch dieses Lieben befindet sich im Widerstreit mit dem Erfahrungsglauben, dass es nicht sei 131, was in ihr wie ein Zusammenstauchen des weit ausladenden Liebens erlebt wird. Ein enttäuschendes Gefühl, das analog zur Trauer ent129 130 131

Ebd., S. 99 f. Siehe: Husserl, EU, S. 63 Vgl. damit das Beispiel des Herausgebers O. Kraus in Brentano, a. a. O., S. 289.

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steht und sich doch ganz anders anfühlt, ergibt sich, wenn wir hassen, dass etwas sei, und zur Überzeugung gelangen, es sei doch. Bezieht sich dieses auf etwas, das wir selbst getan haben, und das auch andere verurteilen, so handelt es sich um Reue oder Scham, geht es um eine Eigenschaft von Dingen oder Personen oder um solches, das andere getan haben, entsteht Missfallen. Ähnliches wie für Trauer gilt auch für andere Enttäuschungen: z. B. drängt es uns dazu, uns an etwas zu erinnern, doch es gelingt nicht, so sehr wir uns auch anstrengen mögen. Hier beruht der Glaube an das Nichtsein des Erstrebten nicht auf äußerer Erfahrung, sondern lediglich darauf, dass sich die erstrebten Erinnerungen nicht einstellen. Während befriedigte Strebungen in der Freude, der Lust, dem Genuss ein Ende finden, können unbefriedigte über längere Zeit andauern. Der Glaube, das Erstrebte sei nicht, modifiziert das Streben in ein Gefühl, in dem die Vergeblichkeit des Strebens noch deutlich zu vernehmen ist. Zwischen den beiden Extremen der Befriedigung und der Frustration liegen jene Gefühle, in denen der Glaube an Sein oder Nichtsein des Erstrebten ins Wanken gerät oder nach dem Wahrscheinlichen oder Unwahrscheinlichen hin tendiert. Hierher gehören die Gefühle des Zweifels, der Hoffnung, der Sehnsucht, der Furcht und alle weiteren, die sich auf analoge Weise verstehen lassen. Im Gefühl des Zweifels schwankt das Urteilen, ohne zu einer Entscheidung zu gelangen, der Zweifel bleibt damit zwischen Furcht und Hoffnung in der Schwebe. In der Hoffnung findet sich klar ein Lieben, dass etwas sei, und die Vermutung, es sei wahrscheinlich, dass es sei, oder ein Hassen, dass etwas sei, und ein Vermuten, dass es nicht sei. Umgekehrt haben wir in der Furcht das Lieben, dass etwas sei, und den Glauben, es sei wahrscheinlich nicht, oder das Hassen, dass etwas sei, und der Glaube, es sei wahrscheinlich doch. Was sich in Brentanos Schriften nur als knapp gehaltene Bemerkungen findet, hat Alexius Meinong weiter ausgeführt. Er unterscheidet zwei Hauptklassen von Gefühlen: Vorstellungsgefühle und Urteilsgefühle. Die ersteren haben Vorstellungen zur Voraussetzung, dazu gehören die sinnlichen (z. B. die wohlige Wärme des Ofens) und die ästhetischen Gefühle. Urteilsgefühle setzen nebst Vorstellungen auch Urteile voraus. 132 Gefühle im weitesten Sinne definiert Meinong 132 A. Meinong: Psychologisch-ethische Untersuchungen zur Werttheorie, Graz 1894. Wiederabgedruckt in: A. Meinong, Gesamtausgabe, hg. von R. Haller und R. Kindinger, Bd. III, Graz 1968, S. 34 f.

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als »einer jener psychischen Zustände […], zu deren Wesen es gehört, jederzeit nach einem der beiden Gegensätze Lust und Unlust (im weitesten Wortsinne) charakterisiert zu sein« 133. Gehören Lust und Unlust zu jedem Gefühl, dann setzt auch jedes nicht nur ein Urteil, sondern auch ein Wünschen oder Streben voraus (oder wie Meinong sagt, ein Begehren), denn Lust stellt sich ein, wenn das der Fall ist, was wir möchten, Unlust, wenn dies nicht zutrifft. Meinong hat dies allerdings nirgends explizit hervorgehoben, seine Beispiele machen jedoch deutlich, dass ohne Begehren kein Gefühl zustande kommt. Offensichtlich wird dies an seiner Analyse eines Gefühls der Freude: Ein Knabe erhält eine Dampfmaschine zum Geschenk und freut sich darüber. 134 Freude ist ein Lustzustand, aber nicht jede Lust ist Freude. Es muss ein determinierendes Moment geben, durch das sich Freude von anderen Lustzuständen unterscheidet. Dieses besteht darin, dass wir uns immer an etwas oder über etwas freuen. 135 Freude hat einen Gegenstand, und diesen müssen wir erfassen, sonst können wir uns nicht freuen. Dazu müssen wir ihn vorstellen, aber Vorstellen allein lässt noch keine Freude entstehen. Würde sich der Knabe die Dampfmaschine oder ihren Besitz bloß vorstellen, würde er sich längst nicht so freuen, wie wenn er weiß, dass ein längst gehegter Wunsch in Erfüllung geht. Allerdings: Nicht allein das Wissen darum führt zu Freude, denn der Knabe hätte sich auch gefreut, wenn er infolge eines Missverständnisses nur geglaubt hätte, sie gehöre ihm. Nicht das Wissen, aber doch ein Überzeugtsein, ein Glaube, ein Urteil darüber, dass das Gewünschte eingetroffen sei, unterscheidet die Freude von einem bloßen Lustgefühl. 136 Ein Freudegefühl hat wesentlich ein Urteil zur psychologischen Voraussetzung, es kann keine Freude geben, die in ihrem Auftreten nicht an diese Voraussetzung gebunden wäre. 137 Und zwar ist das Urteil, wie das Beispiel zeigt, ein Urteil darüber, ob der gewünschte Sachverhalt wirklich sei. Freude ist »das Lustgefühl, das sich an die Überzeugung vom Vorhandensein dessen anschließt, worüber man sich eben freut.« 138 Natürlich sind nicht alle Urteilsgefühle Gefühle der Freude. Ver133 A. Meinong: Über Urteilsgefühle. Archiv für die gesamte Psychologie 6 (1906), S. 24. 134 Ebd., S. 23. 135 Ebd., S. 25. 136 Ebd., S. 26. 137 Meinong, Psychologisch-ethische Untersuchungen, a. a. O., Anm. 132, S. 34. 138 Meinong, Über Urteilsgefühle, a. a. O. Anm. 133, S. 27.

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Die Brentano-Meinong’sche Theorie der Gefühle

stehen wir das Gegenteil von Freude als Leid, so ist Leid in Analogie zur Freude, das Unlustgefühl, das aus der Überzeugung vom Vorhandensein dessen entsteht, von dem man wünscht, dass es nicht sei. Nicht nur die Gefühlsqualität kann von Lust in Unlust umschlagen, auch die Urteilsqualität kann statt bejahend verneinend sein, und dann gilt: wo Existenz erfreut, betrübt Nichtexistenz und umgekehrt. 139 Der Knabe wird sich auch freuen, wenn heute keine Schule ist (sofern er heute nicht zur Schule gehen möchte), und es wird ihm leid sein, wenn statt des erwarteten Spielkameraden eine Absage eintrifft. 140 Das Urteil muss auch nicht ein Existenzialurteil sein, auch ein kategorisches kann zu Freuden oder Leiden führen. Man kann sich nicht nur darüber freuen, »dass es Menschen wie Goethe und Schiller überhaupt gegeben hat, sondern auch darüber, dass sie Freunde waren, dass ihre Werke Gemeingut der Menschen geworden sind, usf.« 141 Selbst hypothetische oder disjunktive Urteile können Leid oder Freude zur Folge haben. 142 Wie bei Brentano muss das zugrunde liegende Urteil nicht gewiss sein, auch größere oder geringere Ungewissheit führen zu Urteilsgefühlen, nämlich solchen der Furcht und der Hoffnung, die beide Reaktionen auf einen ungewissen Sachverhalt sind. 143 Urteilsgefühle sind intentional, sie haben ebenso einen Gegenstand wie die Urteile, die ihnen zugrunde liegen. Der Knabe freut sich über die Dampfmaschine, aber nicht die Maschine als solche ist Gegenstand seiner Freude, sondern der Umstand, dass sie ihm gehört. 144 Dass der gewünschte Gegenstand existiert oder dass er die und die Eigenschaft hat, ist intentionaler Gegenstand des Urteilgefühls wie auch des Urteils selbst. Meinong hat diese Gegenständlichkeit »Objektiv« 145 genannt, für unsere Zwecke mag das Wort »Sachverhalt« genügen. Nicht Dinge oder Eigenschaften, sondern Sachverhalte sind Gegenstände von Urteilsgefühlen. Der Sache nach scheint Meinong mit Brentano einer Meinung zu sein, auch wenn er diesem gegenüber das Urteilen betont und das Wünschen oder Streben wohl als eine Selbstverständlichkeit in den 139 140 141 142 143 144 145

Meinong, Psychologisch-ethische Untersuchungen, a. a. O., Anm. 132, S. 55. Meinong, Über Urteilsgefühle, a. a. O. Anm. 133, S 29. Ebd., S. 34. Ebd., S. 29. Meinong, Psychologisch-ethische Untersuchungen, a. a. O., Anm. 132, S. 56. Meinong, Über Urteilsgefühle, a. a. O. Anm. 133, S. 32. Ebd., S. 33.

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Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

Hintergrund treten lässt. Wenn wir urteilen, das, wonach wir streben, sei der Fall, freuen wir uns; kommen wir zum gegenteiligen Urteil, folgt Unlust. Urteilen wir, es sei wahrscheinlich so, wie wir wünschen, tritt Hoffnung ein; gilt es uns als eher unwahrscheinlich, kommt Furcht auf, es sei nicht so. Meinong hat seine Gefühlstheorie weiter ausgeführt als Brentano, nicht nur hinsichtlich der Wertgefühle, auch in Bezug auf Phantasiegefühle und auf jene der Sympathie- und Antipathie. Dennoch gibt es Unterschiede, aber mehr in den Akzentuierungen als im Wesentlichen. So betont Brentano die Einheit des Gefühls mit dem Begehren: ein Gefühl ist ein Lieben oder Hassen, wenn auch ein anderes als das Lieben oder Hassen im Wollen, und dies darum, weil ein Urteilen über das Geliebte oder Gehasste hinzukommt. Meinong dagegen legt mehr Gewicht auf den Umstand, dass Urteilsgefühle Urteile zur psychologischen Voraussetzung haben 146. Sie sind ohne solche Urteile nicht möglich: Ein Gefühl ist nicht bloß durch ein Urteil verursacht, denn dann könnte es auch ohne dieses sein, vielmehr konstituiert das Urteilen das Gefühl, aber nicht ohne ein Begehren. 147

6

Pathisches Wachsein als Gefühl

Ich kehre nach diesem historischen Exkurs zur Frage zurück, ob man das pathische Wachsein als ein Gefühl verstehen könne. Im 4. Kapitel habe ich dafür plädiert, das Betroffensein bestehe in Gefühlen, deren phänomenaler Gehalt von dem abhängt, was uns betrifft. 148 So müssen wir z. B. im Schreck ein Widerfahrnis von eigener Qualität sehen, für das der Zug unvorhergesehener Bedrohung kennzeichnend ist. Schreck wird nicht befürchtet noch in irgendeinem Sinne erwartet. Ich kann mich davor weder schützen noch verteidigen noch davor fliehen. 149 Er fährt uns in die Glieder und lässt uns zusammenzucken. Der nachlassende Schreck kann Intentionen wecken, in denen ver-

146 Siehe Meinong, Psychologisch-ethische Untersuchungen, a. a. O., Anm. 132, S. 34 und 37. 147 Auch neuere Theorien der Gefühle knüpfen an die Brentano-Schule an. Siehe z. B. den Verweis auf Peter Goldie bei Döring, a. a. O., S. 35. 148 Ausführlicher kommt das im Kapitel II, 2 Die Weisen des Betroffenseins und die Modi pathischen Wachseins zur Sprache. 149 Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung, a. a. O., S. 326.

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Pathisches Wachsein als Gefühl

sucht wird zu erfassen, was uns so sehr erschreckt hat. 150 Intentionen hervorzulocken, um etwas als etwas aufzufassen, ist die Weise, wie mich das betrifft, was als Widerfahrnis dem Wahrnehmen zugrunde liegt. 151 Dieses Locken dirigiert auch die pathische Aufmerksamkeit. Dieses oder jenes im Seh- oder Hörfeld drängt sich hervor und zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Es lockt auch das, was noch gar nicht wahrgenommen, sondern nur erst leer vermeint ist. Die Rückseite eines Dinges, die wir nicht sehen, will gleichsam gesehen werden und bringt uns dazu, das Ding zu drehen oder um es herum zu gehen. 152 Wieder ganz anders betrifft uns pathisch Vergegenwärtigtes. Eine Melodie, die uns einfällt, werden wir für eine Weile nicht mehr los. Sie drängt sich auf und setzt sich fest. Das nimmt sich wie eine Gegenbewegung zum Wahrnehmen aus. Es wird nicht etwas in uns hervorgelockt, sondern strömt auf uns zu und bindet uns an sich. Beim Tagträumen kann es auch geschehen, dass wir etwas nicht nur nicht loswerden, sondern geradezu in eine phantasierte Geschichte hinein gezogen werden. Nochmals anders fühlen wir uns von starken Affekten betroffen. Von der Angst sagen wir, sie packt uns, von der Wut, sie reißt uns mit. Trauer, Freude, Rührung ergreifen uns. Während pathische Erinnerungen oder Phantasien sich wie von außen aufdrängen, greifen Triebe und Strebungen gewissermaßen von innen her an, indem sie uns dazu bringen, ihrem Ziel zu folgen. Betroffen zu werden fühlt sich unterschiedlich an: Wir fühlen uns angelockt oder bedrängt und festgesetzt oder ergriffen bzw. gepackt. Was da lockt, sich aufdrängt oder ergreift, ist das, was im Betroffensein bewusst wird als etwas, das auf uns einwirkt, uns auf je eigene Weise affiziert. Insofern sind wir in ein Verhältnis zu ihm gestellt, was nahe legt, die Gefühle des Betroffenseins seien Urteilsgefühle; dann wäre nach den Strebungen und Urteilen zu fragen, die sie konstituieren. In allen diesen Gefühlen erleiden wir etwas, insofern kann man sie für Gefühle der Frustration halten, was auf ein Siehe oben S. 82. Vgl. unten Kap. II, 2.2 Pathisches Wahrnehmen. 152 Vgl. Hua XI, S. 7: »Auch hinsichtlich der schon wirklich gesehenen Seite ertönt ja der Ruf: Tritt näher und immer näher, sieh mich dann unter Änderung deiner Stellung, deiner Augenhaltung usw. fixierend an, du wirst an mir selbst noch vieles neu zu sehen bekommen, immer neue Partialfärbungen usw., vorhin unsichtige Strukturen des nur vordem unbestimmt allgemein gesehen Holzes usw.« 150 151

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Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

Urteil hinweist, ein Strebensziel sei nicht zu erreichen. Dann müsste allem Sich-betroffen-Fühlen ein gemeinsames Streben zugrunde liegen, und zwar eines, aus dessen Ziel verständlich wird, warum wir uns je selbst betroffen fühlen. Betroffen fühlen kann sich nur ein Wesen, dem es um es selbst geht. Wir selbst müssen das Ziel dieses Strebens sein, nicht als das, was wir sind, sondern als das, das wir sein möchten. Was wir sein möchten, ergibt sich aus dem, wie wir uns im Betroffensein erfahren, nämlich als solche, denen etwas widerfährt. Und zwar fühlt sich das zumindest in Fällen starken Betroffenseins frustrierend an, was zeigt, dass wir nicht solche sein möchten, denen etwas widerfährt. Wenn wir Betroffenheit als Frustration verstehen, muss es ein solches Streben geben, schon bevor etwas pathisch bewusst wird, und sein Ziel muss zumindest bei Beginn des Bewusstwerdens unbestimmter und damit allgemeiner sein als das, was uns jeweils betrifft. Was uns betrifft, ist immer ein bestimmtes Widerfahrnis, und das Betroffensein nimmt immer eine mehr oder weniger bestimmte Qualität an. Ein bestimmtes Gefühl ergreift uns, sinnlich Wahrgenommenes lockt, etwas Erinnertes drängt sich auf. Was uns auch immer widerfährt, es macht uns betroffen, weil wir allen Weisen des Widerfahrens widerstreben. Der Ursprung dieses Widerstrebens muss einstweilen offen bleiben. 153 Natürlich weiß ich erst, was mir widerfährt, wenn es bewusst geworden ist, und bewusst wird es im Erleben des Betroffenseins. Das ist mehr als ein zufälliges Zusammentreffen: Wenn ich mich betroffen fühle, bin ich bei Bewusstsein, dann ist mir etwas bewusst. Ich kann mich nicht betroffen fühlen, ohne dass mich etwas betrifft und ohne dass dieses bewusst wird. Ich kann mich täuschen über die Weise, wie ich mich betroffen fühle, im Traum scheint dies geradezu die Regel zu sein, aber dass das, was mich betrifft, im Betroffensein nicht bewusst sei, scheint unmöglich. Und doch ist uns so etwas begegnet. Im Schreck haben wir den Fall, dass wir vor lauter Betroffenheit nicht wissen, was uns da erschreckt. Allerdings wissen wir auch da, dass uns etwas betrifft, nur bleibt es unbestimmt und nimmt allenfalls den Charakter von etwas unbestimmt Bedrohlichem an. Der Schreck ist nur ein Grenzfall extremer Einschränkung des Bewusstseinsfeldes, aber selbst in ihm ist noch etwas bewusst. Im Betroffen-Fühlen fühle ich mich von etwas betroffen, von dem, was mir widerfährt. Betroffensein ist auf mich und auf etwas anderes bezogen und dennoch ein 153

Siehe unten Kap. II, 1 Der Taumel und die Angst vor seiner Wiederkehr.

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Pathisches Wachsein als Gefühl

einheitliches Phänomen. Fühle ich einen stechenden Schmerz, so fühle ich mich gestochen von etwas Stechendem. Ist das eine bewusst, dann auch das andere. Fühle ich mich rot angemutet, dann ist Rotes bewusst. Zumindest für das Bewusstsein von Qualia scheint das nicht unplausibel. Aber auch wenn das, was schließlich ins Bewusstsein drängt, weit über die Weise, wie es mich betrifft, hinausreicht, kommt es im Betroffenwerden zum Bewusstsein. Fühle ich mich von etwas gepackt, wird auch das, was mich packt, bewusst, und das ist ein Packendes von bestimmter Qualität, ein bestimmter Affekt. Nicht nur Affekte im Sinne von Aristoteles, also »Begierde, Zorn, Furcht, Zuversicht, Neid, Freude, Liebe, Hass, Sehnsucht, Eifersucht, Mitleid, überhaupt alles, was mit Lust oder Unlust verbunden ist« 154, können mich betreffen, sondern auch Erinnerungen, Phantasien und Gedanken, die mir einfallen. Letztere betreffen mich, auch wenn sie nicht spürbar affektiv besetzt sind. Dies wird verständlich, wenn wir das Betroffensein auf die Frustration eines Widerstrebens gegen Widerfahrnisse zurückführen. Verstehen wir Betroffenheit als Frustration eines solchen Widerstrebens, dann kann sie nicht unbewusst sein. Wenn ich mich nicht betroffen fühle, bin ich es nicht. Unbewusstes Betroffensein kann es so wenig geben wie ein unbewusstes Bewusstsein. Ob ich wirklich aktuell betroffen werde, hängt nicht allein von dem ab, was mich betrifft, sondern auch von der Bereitschaft, betroffen zu werden. Werde ich stark betroffen, kommt dieser Bereitschaft eine selektive Funktion zu: Nur solches kann noch bewusst werden, das mich ähnlich und ähnlich stark betrifft wie das, was mich jetzt betrifft. Schlafe ich, kann außer Träumen nur weniges bewusst werden, für anderes bin ich nicht offen. Ähnlich eingeschränkt ist mein Bewusstseinsfeld, wenn mich panische Angst erfasst, oder wenn eine Ohrwurmmelodie oder eine Zwangsidee sich meiner bemächtigt. Auch wenn ich mich konzentriert mit etwas beschäftige, ist nur gerade das, was meine Aufmerksamkeit fesselt, in einem bevorzugten Sinne bewusst, anderes dagegen nur nebenher. Es fällt nicht schwer, in dieser Bereitschaft jenen Sinn von »Wachsein« zu erkennen, demgemäß es als Voraussetzung für viele Leistungen eines Lebewesens gilt, insbesondere dafür, dass uns etwas betreffen kann und bewusst wird. Wach in diesem Sinne sind wir nicht nur, wenn wir betroffen werden, sondern schon zuvor. 154

Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1105 b.

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Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

Woran zeigt sich die Bereitschaft, betroffen zu werden? Wenn wir im Betroffensein im Sinne eines Bei-Bewusstsein-Seins wach sind und dieses Wachsein als Frustration des Widerstrebens gegen Widerfahrnisse deuten, liegt es nahe, die Furcht, betroffen zu werden, für eine Bereitschaft zu halten, betroffen zu werden. Und wenn wir im Sinne der Furcht vor Betroffenheit wach sein müssen, damit uns etwas betreffen kann, dann muss diese Furcht eine Voraussetzung dafür sein, wirklich betroffen zu werden. Aber das ist nicht ohne Weiteres einzusehen und verlangt nach Gründen. Wer sich fürchtet, dem ist in der Furcht das Gefürchtete vorweg bewusst, bevor es eintritt. Aber das bedeutet nicht, dass wir nur dann in eine akute Gefahr geraten, wenn wir sie zuvor befürchtet haben. Eben dies müsste auf das Wachsein zutreffen, wenn Furcht vor Betroffenheit Wachsein im Sinne einer Bedingung für bewusstes Erleben wäre. Verstehen wir Betroffenheit als Frustration eines Widerstrebens gegen Widerfahrnisse, so sind wir frustriert, wenn wir urteilen, dass uns etwas widerfährt. Aber worauf soll sich ein solches Urteilen stützen, wenn das, was mir widerfährt, erst in der Betroffenheit und damit in der Frustration bewusst wird? Offenbar ist ein solches Urteil gar nicht möglich, und dennoch fühlen wir uns betroffen. Entweder ist Betroffenheit nicht als Frustration zu denken und Wachsein nicht als ein Urteilsgefühl oder die Frustration kommt beim Widerstreben gegen Widerfahrnisse auf andere Weise zustande. Wollen wir einstweilen dabei bleiben, Wachsein sei ein Gefühl, müssen wir diese Möglichkeit weiter verfolgen. Da wir wirklich betroffen werden, und zwar durch Widerfahrnisse, die nicht schon zuvor bewusst sind, kann das, was uns widerfährt, erst im Verlauf des Betroffenwerdens bewusst werden. Ich möchte in Anlehnung an Husserls Begriff der Erfüllung versuchen, diesen Verlauf als Erfüllung der Furcht vor Betroffenheit zu verstehen. Erfüllung nennt Husserl die Synthese eines leer vermeinenden mit einem anschaulichen Akt, deren Gegenstände wenigstens teilweise zur Deckung kommen. 155 Beides ist bewusst, dabei deckt sich das, was ich sprachlich vermeine, mit dem, was ich wahrnehme. Das zuvor bloß Vermeinte ist damit anschaulich gegeben. Husserl hat schon in den »Logischen Untersuchungen« gesehen, dass zwischen beiden eine dynamische Beziehung besteht, beide Beziehungsglieder »ent-

155

Vgl. Hua XIX, 2, bes. §§ 6, 8, 11.

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Pathisches Wachsein als Gefühl

falten sich in einer Zeitgestalt«. 156 Der Gegenstand der Anschauung ist derselbe wie der des sich erfüllenden Gedankens, aber Husserl macht klar, »dass die Identität nicht erst durch die vergleichende und gedanklich vermittelte Reflexion hereingebracht wird, sondern dass sie von vorneherein da, dass sie Erlebnis, unausdrückliches, unbegriffenes Erlebnis ist.« 157 Zwar bezeichnet er die Erfüllungseinheit als Akt, aber nur darum, weil auch sie ein intentionales Korrelat hat, worauf sie »gerichtet« ist, aber sie ist nicht etwas, das wir machen, indem wir urteilen, dass das Wahrgenommene dasselbe ist wie das leer Vermeinte. Sobald sich die entsprechende Wahrnehmung einstellt, erfüllt sich das leere Vermeinen. Zwischen der Furcht und dem Eintreten des Gefürchteten besteht ein ähnliches Verhältnis. Auch hier kommt der Gegenstand der Furcht mit der sich ereignenden Bedrohung zur Deckung, ohne ein Urteil, dass das Bedrohliche das Befürchtete sei. Allerdings können wir eine Gefahr auch wahrnehmen, ohne sie zuvor gefürchtet zu haben. Aber etwas als Gefahr wahrnehmen und betroffen sein, sind nicht dasselbe. Betroffenheit ist kein Wahrnehmen, sondern ein Gefühl, das wir nur in der Erfüllung der Furcht vor ihr erleben. Nur wenn wir befürchten, von einem Widerfahrnis betroffen zu werden, wird das Betroffensein bewusst, weil es diese Furcht erfüllt. Das bleibt einstweilen eine Behauptung, die durch eine Theorie des pathischen Bewusstwerdens gestützt werden muss. 158 Pathisches Bewusstsein beruht auf Erfüllung der Furcht vor Betroffenheit, nicht auf einem Urteilen, dass das Befürchtete besteht. Ohne diese Furcht (oder Hoffnung auf andersartiges oder geringeres Betroffensein) gibt es keine Betroffenheit und kein pathisches Bewusstsein. Sie ist Bereitschaft zu bewusstem Erleben und damit pathisches Wachsein. Im Wachsein als Bei-Bewusstsein-Sein sind wir wach, wenn wir aktuell betroffen sind, und aktuell betrifft uns alles, was zur Einheit eines bewussten Erlebnisses gehört, also nicht nur das, was im Fokus der Aufmerksamkeit liegt, sondern auch das, was in den zeitlichen und in den Innen- und Außenhorizont des Erlebnisses fällt. Davon müssen wir das Wachsein im Sinne einer Bereitschaft zu bewusstem

Ebd., S. 567. Ebd., S. 568. 158 Siehe unten S. 130f. und Kap. II, 3 Pathisches Wachsein als notwendige Bedingung pathischen Bewusstseins. 156 157

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Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

Erleben unterscheiden. Dies ist eine Bereitschaft, die entschieden über das hinausgeht, was ich oben 159 als »Wachsein im Sinne von Betriebsbereitschaft« bezeichnet habe. Es ist nicht nur eine Disposition, deren Vorliegen sich lediglich in ihrer Funktion zeigt, sondern eine Bereitschaft, die wir in der Furcht vor Betroffensein fühlen. Diese Furcht bezieht sich anfänglich, nämlich zu Beginn des Aufwachens, nicht auf etwas, das bewusst ist, da noch gar nichts bewusst ist. Sie bezieht sich auch nicht auf eine bestimmte Weise, in der uns etwas betreffen könnte, sondern auf irgend etwas, das uns irgendwie betreffen könnte, und damit nicht auf ein Erleben von bestimmtem Gehalt, sondern auf eine relativ unbestimmte, vage schimmernde Qualität des Betroffenseins. Ich fürchte nur, irgendwie betroffen zu werden. Wegen dieser Unbestimmtheit des Wovor meiner Furcht, sollte man in diesen Fällen besser von Angst statt von Furcht reden. 160 Sind wir erst einmal betroffen worden, wird die Angst, betroffen zu werden, auf das eingeengt, was uns ähnlich betrifft, wie das, was uns bisher betroffen hat. Wachsein im Sinne des Bei-BewusstseinSeins und im Sinne der Bereitschaft zu bewusstem Erleben hängen insofern zusammen, als sie beide Urteilsgefühle desselben Strebens sind. Ungleich der Befriedigung endet mit der Frustration das Widerstreben nicht, es bleibt aufrecht erhalten und wird in der Angst, betroffen zu werden, mehr oder weniger gefühlt. Indem sie durch eine bestimmte Weise des Betroffenwerdens erfüllt wird, sind wir auf bestimmtere Weise frustriert. Aber diese Erfüllung ist nur partiell, die Angst, weiterhin betroffen zu werden, bleibt bestehen. Aber je stärker wir betroffen sind, desto mehr bezieht sich die Angst auf das, was dem ähnlich ist, was uns jetzt aktuell in bestimmter Weise betrifft, so dass schließlich nur solches bewusst werden kann, das diese bestimmte Angst (die man jetzt besser wieder »Furcht« nennen sollte) erfüllt. Dies engt das Bewusstseinsfeld im Falle extremen Betroffenseins auf das ein, was jetzt gerade das Bewusstsein dominiert. Umgekehrt weitet sich dieses Feld wieder aus, wenn die Intensität des aktuellen Betroffenseins nachlässt. Die Angst, betroffen zu werden, wird unbestimmter, so dass uns auch solches betreffen kann, das uns anders betrifft als das, was uns eben noch so intensiv betroffen hat. Je nach der Weise des

Siehe oben S. 85. Zum Unterschied von Angst und Furcht siehe: Chr. Demmerling, H. Landweer: Philosophie der Gefühle, Stuttgart 2007, S. 80 ff. 159 160

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Pathisches Wachsein als Gefühl

Betroffenseins, vor der wir uns ängstigen, lassen sich unterschiedliche Qualitäten des pathischen Wachseins unterscheiden. 161 Wenn das Wachsein in Gefühlen besteht, so kann es sich dabei nicht um beliebige Gefühle handeln. Es müssen Gefühle sein, die sich aus wenigstens zwei Gründen von anderen Gefühlen unterscheiden: Erstens sind es nicht Gefühle, durch die mir ein Ding bzw. ein Sachverhalt als angenehm oder unangenehm, als erfreulich oder unerfreulich, als hoffnungsvoll oder furchterregend, als traurig, eklig usw. erscheint. Es sind Gefühle, in denen ich mich auf mich selbst beziehe, denn in jedem fühle ich, dass ich es bin, der betroffen wird. Wie dieser Selbstbezug zu denken ist, wird sich zeigen müssen. 162 Zweitens: Wenn wir von der Annahme ausgehen, Wach-zu-sein sei eine notwendige Bedingung bewussten Erlebens, so leuchtet ein, dass dieses nicht in beliebigen Gefühlen bestehen kann, denn auch Gefühle erleben wir nur bewusst, wenn wir entsprechend wach sind. Wenn Wachsein in Gefühlen besteht, müssen diese so verfasst sein, dass sie bewusst sind, ohne wieder vorauszusetzen, dass wir wach sind, andernfalls geraten wir in einen unendlichen Regress. Wenn es Gefühle des Wachseins gibt, können sie nicht unbewusst sein, denn wach zu sein ist ein Zustand, der nicht unbewusst sein kann, und dies schon aus begrifflichen Gründen. Gefühle des Wachseins müssen zwei Bedingungen erfüllen: Sie müssen Gefühle sein, in denen die Person, die sie hat, sich auf sich selbst bezieht, und es müssen Gefühle sein, die nicht unbewusst sein können. Ob beide Bedingungen zusammenhängen, wird zu untersuchen sein. Wachsein im Sinne einer Bereitschaft zu bewusstem Erleben als Furcht vor Betroffenheit zu fassen, fordert Widerspruch heraus. Der Einwand »ich habe mich noch nie vor Betroffenheit gefürchtet« liegt nahe und ist nicht grundlos. Das Wort »Furcht« in »Furcht vor Betroffenheit« deckt sich nicht mit dem, was wir gewöhnlich »Furcht« nennen, obschon es Gemeinsamkeiten gibt, die mich dazu bewogen haben, diesen Ausdruck zu wählen. Wenn wir Betroffenheit als Frustration verstehen und der Theorie der Urteilsgefühle folgen, so ist es konsequent, die Bereitschaft zu Betroffenheit als Furcht vor ihr zu verstehen. Wie wir in der Furcht vor einer Gefahr bereit sind, vor ihr auf der Hut zu sein, so sind wir in der Furcht vor Betroffenheit 161 Siehe unten Kap. II, 2 Die Weisen des Betroffenseins und die Modi des pathischen Wachseins. 162 Siehe Kap. II, 6 Pathisches Wachsein als Selbstbeziehung.

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Annäherungen an einen allgemeinen Begriff des Wachseins

auf der Hut, betroffen zu werden. Das bedeutet aber nicht, dass sich beide Weisen des Fürchtens qualitativ gleich anfühlen. In extremen Formen des Betroffenseins mögen sie sich annähern, etwa im Erschrecken oder extrem starken Schmerzen. Aber woher die Berechtigung, auch in Fällen harmlosen normalen Betroffenseins von »Furcht« zu reden? Sie beruht darauf, dass jedes Betroffensein, ähnlich einer Gefahr, mich betrifft. Jeder Einfall, jeder Tagtraum ist etwas, das mich angeht und mich in Beschlag nimmt, und das ist es, was die Betroffenheit mit einer Gefahr gemeinsam hat. Wie vor einer Gefahr kann ich mich fürchten, betroffen zu werden, und wie die Furcht vor einer Gefahr bereitet mich die Furcht vor Betroffenheit auf das Betroffenwerden vor. Aber im Gegensatz zur Gefahr fehlt mir jede Möglichkeit zu reagieren: Ich kann mich weder schützen noch wehren noch fliehen. Insofern fühle ich mich dem ausgeliefert, was da kommt, was sich in der Furcht vor Betroffenheit als ein Zug des Ohnmächtigseins niederschlägt. Ihre Gefühlsqualität kommt vielleicht der Bangigkeit näher als der Furcht vor einer Gefahr. Insofern trifft das Wort »Furcht« die Sache nicht. Wenn ich doch dabei bleibe, dann mehr aus den formalen Gemeinsamkeiten, die beiden Weisen des Fürchtens eigen sind. In der Furcht, betroffen zu werden, sind wir auf Künftiges bezogen, aber nicht im Sinne einer Erwartung, denn eine zukünftige Gefahr vorzustellen und sie zu fürchten sind nicht dasselbe. Damit bleiben viele Fragen offen, auch wenn wir uns vorerst auf das pathische Wachsein beschränken. Ich habe angenommen, dem Wachsein liege ein Widerstreben gegen Widerfahrnisse zugrunde, ohne auf die Frage einzugehen, woher ein solches Streben stammt. Dieses Widerstreben zeigt sich vor allem bei Störungen des normalen Erlebens, es fragt sich aber, ob es nicht auch gute Gründe für die Annahme gibt, wir fühlten dem Betroffenwerden gegenüber nicht nur Antipathie, sondern auch Sympathie. Auch musste die Beziehung zwischen Wachsein und Selbstbewusstsein im Dunkeln bleiben, und von den unterschiedlichen Qualitäten des Wachseins war zwar die Rede, aber sie sind nicht vollständig beschrieben und hergeleitet worden. Schließlich bedarf die Behauptung, Wachsein sei Voraussetzung für bewusstes Erleben weiterer Klärung, und die Frage, was es heißt, mehr oder weniger wach zu sein und wacher zu werden und einzuschlafen, ist noch kaum in Angriff genommen.

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II. Pathisches Wachsein

Pathisches Wachsein nenne ich die Weise, wie wir im pathischen Erleben wach sind, also in einem Erleben, das wir erleiden. Mit dem Erleiden können mancherlei Tätigkeiten verbunden sein, aber diese werden nicht als eigene erlebt, weil sie ohne unser Zutun von selbst ablaufen, also für uns passiv. Dazu gehören etwa die kinästhetischen Bewegungen des Leibes beim Wahrnehmen, welche z. T., wie die Bewegungen der Augen beim Lesen, unmerklich verlaufen. Insbesondere fehlt diesen Tätigkeiten alles, was auch nur entfernt an Absichtlichkeit oder bewusstes Stellungnehmen anklingt. Das gilt natürlich auch für das Wachsein selbst. Wir können nicht wach oder wacher sein wollen. Pathisch wach sind wir in allen Arten bewussten Erlebens, in denen sich etwas aufdrängt, in Träumen und Tagträumen, in Gefühlen und Wahrnehmungen, soweit es sich dabei um ein bloß sinnliches Bewusstsein handelt, und ebenso in Phantasien, Erinnerungen und Gedanken, die uns einfallen. Ist im pathischen Wachsein bewusst, was wir erleiden, können wir es auch ein Wachsein im Erleiden nennen. Dieses, so schien es, ist ein Gefühl, und Gefühle verstehen wir als Modifikationen von Strebungen. Was wir erleiden, setzt sich gegen einen Widerstand durch, der frustriert wird. Im Erleiden bin ich wach, wenn ich das frustrierte Widerstreben fühle, aber auch, wenn ich weiteres Betroffensein befürchte oder auf geringeres hoffe. Dadurch bin ich nicht nur wach für das, was jetzt wirklich bewusst ist, sondern auch für solches, was in der einmal erreichten Weise des Wachseins auch noch bewusst werden kann. Die bisher unternommenen Versuche, uns dem pathischen Wachsein anzunähern, bedürfen der Erläuterung, Präzisierung und Ergänzung. Im Wesentlichen geht es dabei um folgende Punkte: 1. Pathisches Wachsein im Sinne eines Bei-Bewusstsein-Seins umfasst die Weisen, wie wir in einem Erleben wach sind, das ohne jedes absichtliche Eingreifen unsererseits geschieht. Kennzeichnend dafür ist eben dieser Geschehenscharakter: Etwas widerfährt uns, wir 119 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

erleiden es, und dieses Betroffensein ist je nach Art des Erlebens verschieden, es besteht in unterschiedlich gefühlten Qualitäten, die ich »Weisen des Betroffenseins« nennen möchte. Die Phänomene solch unterschiedlichen Betroffenseins bilden den Ausgangspunkt dieser Theorie des pathischen Wachseins. Ihnen entsprechen unterschiedliche Weisen pathisch wach zu sein. Einige davon haben wir kennen gelernt, sie bedürfen der Vertiefung und Ergänzung, andere sind noch aufzuzeigen. Dies wird im 2. Kapitel unter dem Titel »Die Weisen des Betroffenseins und die Modi pathischen Wachseins« geschehen. 2. Etwas, das wir erleben, wird bewusst, wenn es uns betrifft. Betroffensein verstehe ich als ein Urteilsgefühl im Sinne der Gefühlstheorie von Brentano und Meinong. Es besteht in der Frustration eines Widerstrebens gegen Widerfahrnisse. Diese Frustration kann nicht durch ein Urteil entstehen, dass uns etwas widerfahre, denn dazu müsste das Widerfahrnis bewusst sein, aber bewusst wird es erst in der Frustration. Wir haben gesehen, dass sich dieses Problem lösen lässt, wenn wir annehmen, Frustration sei auch als Erfüllung der Furcht vor ihr möglich. In dieser Furcht kann man so etwas wie eine Bereitschaft, betroffen zu werden, sehen. Wir sind nicht nur wach, wenn wir bewusst erleben. Wach zu sein gilt auch als eine Voraussetzung bewussten Erlebens. Wachsein in diesem Sinne ist nicht bloß als Betriebsbereitschaft zu verstehen, die sich erst zeigt, wenn wir bewusst erleben, denn in der Furcht vor Betroffenheit fühlen wir, dass wir zu dieser oder jener Weise bewussten Erlebens bereit oder nicht bereit sind. Auch dieses Wachsein im Sinne einer Bereitschaft zu bewusstem Erleben können wir als Urteilsgefühl verstehen: als Angst, in unbestimmter oder als Furcht in bestimmter Weise betroffen zu werden. Wirklich betroffen werden wir, wenn eintritt, was wir befürchtet haben, d. h. wenn sich die Furcht vor Betroffenheit erfüllt. In diesem Erfüllungsgeschehen wird bewusst, was uns widerfährt. Das erklärt nicht, wie Bewusstsein entsteht, es setzt bewusstes Erleben voraus als Furcht, so und so betroffen zu werden. Solche bestimmten Weisen der Furcht sind freilich erst möglich, wenn wir schon in entsprechender Weise betroffen worden sind, was die Bereitschaft voraussetzt, überhaupt irgendwie betroffen zu werden, also Angst vor Betroffenheit überhaupt. Sie ist Voraussetzung für bewusstes Erleben. Davon handelt das 3. Kapitel mit dem Titel »Pathisches Wachsein als notwendige Bedingung pathischen Bewusstseins«. 3. Damit stehen wir vor der Frage, wie es zu dieser Angst vor 120 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

Betroffenheit kommt, und vor der weiteren, wie das angenommene Widerstreben gegen Widerfahrnisse entsteht. Die Behauptung, wir strebten danach, nicht betroffen zu werden, ist alles andere als selbstverständlich und fragwürdig, nicht nur wegen der Schwierigkeit, das Behauptete phänomenal aufzuweisen, sondern auch wegen der Konsequenz, die darin besteht, dass wir nicht mehr bewusst erleben würden, wenn dieses Streben befriedigt wäre. Es ist daher zu fragen, ob und wie sich ein solches Widerstreben aufweisen lässt, und wenn das zutrifft, ob ihm nicht ein gegenteiliges Streben nach Betroffensein an die Seite gestellt sei, so dass wir in Anlehnung an Brentano sagen müssten, wir hassen das Betroffensein nicht nur, wir lieben es auch. Um diesen Themenkreis geht es im 1. Kapitel unter dem Titel »Der Taumel und die Angst vor seiner Wiederkehr«. 4. Wie auch immer es um das Streben bestellt sei, auf dem das pathische Wachsein und Bewusstsein beruht, es ist auch eines, in dem ich mich zu mir selbst verhalte, denn betroffen fühlen kann sich nur ein Wesen, dem es nicht nur um etwas, sondern auch um es selbst geht. Ich möchte einer sein, der nicht betroffen wird, aber auch einer, der bewusst lebt und erlebt. Eine solche Selbstbeziehung findet sich in allen Urteilsgefühlen dieses Strebens wieder: Im Betroffensein als Frustration fühle ich mich betroffen, in der Angst vor Betroffenheit ängstige ich mich davor, selbst betroffen zu werden. Dies ist Thema des 6. Kapitels unter dem Titel »Pathisches Wachsein als Selbstbeziehung«. 5. Bisher war von unterschiedlichen Qualitäten des Wachseins die Rede. Damit stellt sich die Frage, wie sich diese Modi des Wachseins zueinander verhalten, zumal die Erfahrung, in unterschiedlicher Weise wach zu sein, zur Konsequenz führt, dass wir gleichzeitig auf verschiedene Weise wach sind. Auch gibt es Modi des Wachseins, die sich gegenseitig ausschließen, und solche, die aufeinander aufbauen. Zudem stellt sich die Frage nach den quantitativen Unterschieden des pathischen Wachseins. Gibt es wachere und weniger wache Modi oder sind quantitative Unterschiede nur innerhalb eines Modus denkbar? Dazu gehört auch die Frage, wie man sich den Übergang in einen neuen Modus des Wachseins denken kann. Von diesen Fragen handelt das 5. Kapitel mit dem Titel »Quantitäten des pathischen Wachseins. Partielles Aufwachen und Einschlafen«.

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Pathisches Wachsein

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Der Taumel und die Angst vor seiner Wiederkehr

Wir fühlen uns betroffen, wenn unser Widerstreben gegen Widerfahrnisse frustriert wird, d. h. wenn die Angst vor Betroffenheit erfüllt wird. Wir dürfen dieses Widerstreben nicht als Reaktion auf das auffassen, was sich aufdrängt, denn Aufdrängendes wird erst bewusst, wenn es uns betrifft, also unser Widerstreben frustriert. Das Widerstreben kann nicht reaktiv sein, es ist nicht eine Antipathie gegen alles, was uns widerfährt, sondern gegen alles, was uns widerfahren könnte. Sein Ziel ist Nichtsein von Betroffenheit, und zwar, zumindest ursprünglich, jeder Art von Betroffenheit. Es ist ein Streben, nicht betroffen zu werden, das sich nicht allein gegen das richtet, was uns jetzt gerade betrifft, sondern darüber hinaus gegen alles, was uns ebenso betreffen könnte. Meine These ist, dass wir in der Angst, betroffen zu werden, die Bereitschaft sehen müssen, bewusst erleben zu können. Aber diese Annahme stützt sich ausgerechnet auf Reaktionen auf Erfahrungen extremen Betroffenseins, denen man nicht ausgesetzt sein möchte und die Angst hervorrufen. Der Neigung, solche Erfahrungen bloß als Störungen normalen Erlebens abzutun, ist entgegenzuhalten, dass an solchen Extremfällen entdeckt werden kann, was sonst verdeckt bleibt. Zwar sind es heftige Widerfahrnisse, wie Schreck oder starke Affekte, von denen her ein Widerstreben gegen Betroffenheit plausibel erscheint, aber meist nimmt das Betroffensein die Form eines Affiziertwerdens an, ohne uns in schockähnliche Zustände zu versetzen. Doch auch dann, wenn uns etwas bloß geschieht, geschieht uns etwas. Es gibt keine Betroffenheit, ohne dass sich jemand betroffen fühlt. Wir mussten schon feststellen, dass dieses Gefühl nicht immer merklich ist, weil es durch das verdeckt wird, was uns vordergründig beschäftigt. Auch wenn mir etwas bloß geschieht, geschieht es gegen einen Widerstand, nur ist dieser zunächst ganz unspezifisch, er richtet sich nicht gegen eine bestimmte, sondern gegen jede mögliche Weise, betroffen zu werden. Auch Wunscherfüllungen betreffen uns (Freude z. B.) und geschehen gegen ein Widerstreben, irgendwie betroffen zu werden. Wendet man ein, ein solches Widerstreben werde nur darum angenommen, damit sich Betroffenheit als Frustration verstehen lasse, so ist zu bedenken, dass wir dieses Widerstreben nicht nur in der Frustration, sondern auch in der Angst, irgendwie betroffen zu werden, fühlen. Dies ist eine dumpfe, hintergründige Angst, in der wir uns in unserem Selbstsein gefährdet fühlen. In ihr 122 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Der Taumel und die Angst vor seiner Wiederkehr

kann man eine ursprüngliche Weise des Subjektseins sehen: Subjekt zu sein bedeutet in einem ursprünglichen Sinne geradezu, sich gefährdet fühlen. Betroffensein ereignet sich immer vor dem Hintergrund möglicher Gefährdungen. In ihnen grenzt sich ab, was wir nicht sind, aber darin liegt auch ein Gefahrenpotential, wie Fälle extremen Betroffenseins zeigen. Die Angst, betroffen zu werden, kann letztlich nicht auf Betroffenheit allein zurückgeführt werden. Wenn wir annehmen, alles was wir pathisch erleben, sei bewusst durch Erfüllung einer Angst vor Widerfahrnissen, dann kann diese Angst letztlich nicht eine Reaktion auf Betroffenheit sein, sie muss ihr vorausgehen. Es muss vor allen bewussten Widerfahrnissen eine noch ganz unbestimmte Angst geben, von der man nicht sagen kann, wovor ich mich ängstige, außer dass ich Angst habe, irgendwie betroffen zu werden. Das ist zunächst lediglich ein Postulat, welches aus der These folgt, dass wir in einer solchen Angst bereit sind, bewusst zu erleben. Aber dann ist darauf zu achten, ob sich im Dunkel des aufkeimenden Bewusstseins so etwas ausmachen lässt. Man müsste zu den ersten Anfängen bewussten Erlebens zurückfinden, aber dagegen sperrt sich unser Erinnerungsvermögen. Wir müssen nach anderen Zugangsweisen Ausschau halten. Dazu könnte die Beobachtung anderer Menschen gehören, die sich in diesem Stadium ihrer Entwicklung befinden (Neugeborene oder noch Ungeborene im Mutterleib), aber damit verlassen wir die Perspektive der ersten Person. Eine andere Möglichkeit wäre, ausgehend von gegenwärtigen Erlebnissen, die ersten Anfänge bewussten Erlebens, gewissermaßen das erste Aufwachen, zu rekonstruieren. Das soll im Folgenden versucht werden. Gehen wir unterschiedlichen Weisen des Betroffenseins nach, kommen wir zu unterschiedlichen Qualitäten des Wachseins. Fragen wir nach dem, was in allem Betroffensein gleichartig ist, werden wir zu einem Streben geführt, das jedem Betroffenwerden zugrunde liegt. In jedem beziehen wir uns auf uns, indem wir uns auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlicher Intensität als gefährdet erleben, am extremsten im Schreck, bei dem es für Momente beinahe zur Selbstauflösung kommt. Erschrecke ich vom geordneten Wahrnehmen herkommend, bin ich nicht mehr in der Welt, in der ich mich mit einiger Sicherheit bewegt habe und getragen worden bin. Insofern führt der Schreck zu Verunsicherung, ich verliere gewissermaßen den Boden unter den Füßen und gerate in Taumel. Auch wenn die ersten Momente des Erschreckens vorüber sind und Intentionen 123 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

hervorgelockt werden, wie sie normalem Wahrnehmen zukommen, liegt in diesem Locken noch eine Affektion. Auch im pathischen Vergegenwärtigen fühlen wir unser Selbstsein gefährdet, wenn auch in anderer Weise. Einfälle können sich derart aufdrängen, festsetzen und uns in Beschlag nehmen, dass sie unsere Zukunft zeitweise, wenn nicht für Momente blockieren, so doch festlegen. Man denke nicht nur an Ohrwurmmelodien, auch Zwangsgedanken kommt diese Eigenheit zu, selbst wenn sie sich im Rahmen der Normalität bewegen. In dieselbe Richtung weisen Tagträume, die uns fesseln und uns in ihre Geschichte hineinziehen. Wieder anders zeigt sich die Gefährdung in Gefühlen und Affekten, wo sie die Form des Ergriffenwerdens annimmt. Diesen unterschiedlichen Weisen des Betroffenseins liegt ein einheitliches Streben zugrunde, das auf unterschiedliche Weise frustriert wird. Es muss ein Streben nach ungefährdetem Selbstsein sein, das sich weitgehend negativ äußert als ein Widerstreben gegen alles, was mich irgendwie taumelig werden lässt. Ähnlich gefährdet fühlen wir uns beim Zusammenbruch der Intentionalität beim Tasten, Sehen oder Hören, wenn wir einen Gegenstand über längere Zeit fixieren und er zu zerfließen beginnt, so dass uns ein leiser Schwindel ergreift. 163 So etwas kann einem manchmal auch bei langen Autobahnfahrten zustoßen, wenn die Aufmerksamkeit andauernd auf die weiße Linie fixiert ist, was einen hypnoseähnlichen Effekt haben kann. 164 Ähnliches beschreibt Casey, wenn man sich dem Rand des Gesichtsfeldes nähert; er nennt das eine »Urerfahrung«:»Ich befand mich einmal auf einem rasiermesserscharfen Kamm eines Bergrückens in Montana: Ich kam an diesen Rand und wich zwangsläufig – unmittelbar – zurück. Und das, obwohl ich keineswegs unter Höhenangst leide: Das bloße Schauspiel, das die andere Seite bot, genügte, um mich zurückschrecken zu lassen.« 165 In solchen Fällen, in denen uns ein Schwindel erfasst, geraten wir in einen Zustand, in dem wir fühlen, wie wir den Boden unter den Füssen verlieren, ins Wanken und Taumeln geraten. Verwandt damit ist das Grenzphänomen, das manchmal im Übergang zum Schlaf und beim Aufwachen erlebt wird. Besonders beim Einschlafen,

Siehe oben S. 77. Vgl. W. S. Kroger: Clinical and Experimental Hypnosis in Medicine, Dentistry and Psychology, Philadelphia 1977, S. 10. 165 E. S. Casey: An den Rand des Ereignisses kommen. In: H.-D. Gondeck, T. N. Klass, L. Tengelyi (Hg.): Phänomenologie der Sinnereignisse, München 2011, S. 37. 163 164

124 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Der Taumel und die Angst vor seiner Wiederkehr

kurz bevor ich in eine wenigstens momentane Bewusstlosigkeit wegkippe, kann sich ein Zustand einstellen, der zwar bewusst ist, doch ohne dass mir etwas bewusst wäre. Ich verspüre mich noch, aber nicht in einem Erleben, ich erleide nicht etwas, das sich aufdrängt, ich bin nicht betroffen, nichts ist mehr bewusst, kein Schmerz, keine Körperempfindung, keine Sinnesqualität, kein Einfall, keine Schlummerbildchen. Ich fühle nur noch, wie ich wankend und taumelnd mich selbst verliere. Analoges kommt manchmal in umgekehrter Reihenfolge beim Aufwachen vor. Es scheint ein Phänomen zu sein, das meist unbemerkt bleibt, da wir dabei kaum wach sind. Daher entgleitet es rasch und ist schwer zu fassen. Man kann von zwei Seiten her durch diesen Taumel gehen: Er kann mit einem Zustand geringen Wachseins anheben und zu Momenten der Bewusstlosigkeit führen oder umgekehrt mit dieser beginnen und in pathischem Bewusstsein enden. Gerate ich aus einem bewussten und damit wachen Zustand ins Taumeln, so fühle ich dieses als einen Zustand meiner selbst: ich fühle mich taumelig. Das Taumeln beim Aufwachen erscheint dagegen weder als Eigenes noch als Fremdes. Es ist nicht etwas, das ich habe oder in das ich gerate, nicht ein Zustand meiner selbst: Ich erlebe nichts weiter als Taumel. Der Durchgang durch den Taumel weist Gemeinsamkeiten mit dem Betroffensein auf, die vermuten lassen, die verschiedenen Arten des Betroffenseins seien Frustrationen eines einheitlichen Strebens, das man eines nach ungefährdetem Selbstsein nennen kann. Wie und wie sehr auch immer wir betroffen werden, wir fühlen uns ohnmächtig und verletzlich gegenüber dem, was uns betrifft. So möchten wir nicht sein. Das macht das Widerstreben gegen Widerfahrnisse aus. Wie allgemein und unbestimmt dieses Ziel auch sein mag, es setzt doch Erfahrung mit Gefährdung voraus und damit Betroffenheit und etwas, das in ihr bewusst geworden ist. Wir haben es mit diesem Streben noch nicht mit den letzten Ursprüngen anfangenden bewussten Erlebens zu tun. Diese müssen im oben erwähnten Taumel, der uns manchmal beim Aufwachen aus dem Schlaf erfasst, gesucht werden. Es ist ein Taumel, der zwar bewusst ist, aber nicht etwas, das bewusst ist, noch bin ich mir selbst in ihm bewusst, da es nichts gibt, gegen das ich mich abheben könnte. Er liegt noch vor einer Unterscheidung in Selbst und Gegenstand. Auch ist nicht auszumachen, ob es da etwas gibt, das erleidet, und etwas, das erlitten wird, es gibt kein Wachsein und nicht etwas, das in ihm bewusst wäre. Dieser Taumel ist noch ganz undifferenziert und kaum fassbar, aber 125 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

auch unbeständig und damit nur momentan. Eben entstanden geht er vorüber, kann aber wiederkommen. Meist wird dieses Taumeln beim Aufwachen kaum bemerkt, zu rasch schwindet es dahin und macht einfallenden Vorstellungen und Gedanken Platz. Erst wenn es vergangen ist, kann aus der zeitlichen Distanz das Bewusstsein entstehen, soeben getaumelt zu haben. Dann ist es noch bewusst als ein Zustand, in dem ich eben gewesen bin, aber auch als einer, in dem ich nicht sein möchte. Spätestens hinterher, wenn nicht schon im aktuellen Taumeln, erscheint es im Licht eines Strebens nach nichttaumeligem Selbstsein als ein defizienter Zustand meiner selbst. Merklicher als das Taumeln beim Aufwachen gibt sich das beim Einschlafen, wenn Sinneseindrücke und Vorstellungen zurücktreten. Dieser Taumel ist nicht anonym, da er zeitlich an das bewusste Erleben anschließt, das ich als meines erlebe. Mit ihm endet ein Zyklus wachen Erlebens, mit dem Taumel beim Aufwachen beginnt einer. Die erwähnten Phänomene des Betroffenseins, des Zusammenbruchs der Intentionalität und der wachen Hypnose sind mit dem einschlafenden Taumel insofern verwandt, als auch sie beim Einschlafen auftreten können. Der aufwachende Taumel ist ein erstes bewusstes Erleben nach einer mehr oder weniger langen Periode mehr oder weniger bewusstlosen Schlafs. Dabei gewinnen wir das bewusste Erleben wieder, das wir beim einschlafenden Taumel verloren haben. Das ist freilich nicht jenes erste Erleben, das am Anfang unseres bewussten Lebens gestanden hat, aber es dürfte ihm nahe kommen. Auch hier taucht ein Erleben aus dem Dunkel einer Bewusstlosigkeit auf, allerdings einer solchen, die Perioden wachen Erlebens hinter sich hat. Immerhin ist auch der aufwachende Taumel ein anfangendes Bewusstsein, wenn nicht des ganzen Lebens, so doch einer zyklischen Periode. Das lässt fragen, ob sich von diesem her die Angst vor Betroffenheit verstehen lässt. Kann man vom einschlafenden Taumel sagen, er sei ein Zustand, in dem ich das Bewusstsein meiner selbst und das von dem, was mir bewusst ist, verliere, und in die Anonymität zurücksinke, so finde ich im aufwachenden Taumel aus der Anonymität zu mir zurück. Im Taumeln müssen wir die erste bewusste Regung sehen, die meist von kurzer Dauer ist; der Taumel flaut ab, kann aber wieder anschwellen. Solch wiederholender Taumel, wie er sich ergibt, wenn wir beim Aufwachen zwischen Wachen und Schlaf hin und her pendeln, lässt Angst aufkommen, der Taumel könne wiederkehren. Wie das zugeht, ist allerdings schwer auszumachen, da wir es hier mit 126 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Der Taumel und die Angst vor seiner Wiederkehr

einem chaotischen und undifferenzierten Zustand zu tun haben, in dem sich kaum etwas gegen anderes abhebt. Es stellen sich jedoch nicht nur Bedenken hinsichtlich des Erfassens der entsprechenden Phänomene ein, sondern auch prinzipielle Einwände. Verstehen wir Angst wie bisher als ein Urteilsgefühl, als ein durch pathisches Urteilen modifiziertes Streben, und nehmen wir an, es wäre uns gelungen, ein solches Streben und Urteilen nachzuweisen, so stehen wir vor der Frage, worauf sich ein solches Urteilen stützen könne. Daran schließt sich eine zweite Frage an: Selbst wenn es uns gelungen wäre, glaubhaft zu machen, dass es eine solche Angst gibt, stehen wir vor der weiteren Frage, wie sie denn bewusst sein könne, denn sie kann es nicht deswegen sein, weil sie eine gleichartige Angst erfüllt, denn dann geraten wir in den bereits erwähnten Regress. Der erste Einwand stellt sich uns in den Weg, wenn wir versuchen, die Angst vor dem Taumel auf ein Streben nach Nichtsein von Taumel und auf ein Urteil, dass wir wahrscheinlich taumeln werden, zurückzuführen. Die These, Urteilsgefühle seien durch Urteile modifizierte Strebungen, besagt jedoch nicht, dass sie ausnahmslos durch ein Streben und Urteilen entstehen, sondern nur, dass die Analyse eines solchen Gefühls stets zu einem Streben und einem Urteilen über das Strebensziel führt. Gefühle können uns ergreifen, ohne dass wir darüber geurteilt haben, ob das Ziel unseres Strebens erreicht wird oder nicht. Man denke z. B. an Stimmungen, die uns überkommen, ohne dass wir angeben können, warum das so ist. 166 Wir sollten uns durch diese Bedenken nicht allzu sehr beirren lassen und fragen, ob es möglich sei zu rekonstruieren, wie eine Angst, der Taumel könne wieder kommen, aus dem bloßen Taumeln entstehen könne. Zweierlei ist dabei zu bedenken: 1. Vom Taumel sagten wir, er sei chaotisch und undifferenziert. Wir erleben ihn nicht als einen Zustand unserer selbst, den wir nebst anderem auch noch haben, sondern so, dass wir nichts weiter als dieser Zustand sind. Ich taumle, aber ich unterscheide mich nicht von diesem Taumeln, sondern bestehe in ihm. Ich bin nichts weiter als Taumel. 2. Dieses Taumeln ist bewusst und hat seine Dauer. Das Bewusstsein dieser Dauer, so dürfen wir annehmen, konstituiert sich wie jede Dauer im zeitkonstituierenden Bewusstsein in Urimpressionen, Retentionen und Proten-

166

Dieser Einwand wird unten S. 216 wieder aufgenommen.

127 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

tionen. 167 Vergeht ein Taumeln, so ist der vergangene Taumel noch retentional bewusst, auch wenn dieses Bewusstsein mehr und mehr verblasst. Diese noch retentional bewusste Phase umfasst nicht nur die Urimpression des vergangenen Taumels, sondern auch eine Retention ihrer vorhergehenden Phase und eine Protention der nachfolgenden, die leer bleibt, weil es sich in diesem Fall um die letzte Phase des vergangenen Taumels handelt. An diese leere Erwartung möglichen Taumels kann sich eine Antipathie gegen weiteren Taumel knüpfen: So möchte ich nicht sein. Wiederholt sich der Taumel, wird aus der Antipathie spürbare Angst, der Taumel kehre wieder, die erfüllt wird, wenn wir erneut in Taumel geraten. Gäbe es diese Angst nicht, würde ich wieder Taumeln wie zuvor. Kommt es zu dieser Angst, entsteht aus dem undifferenzierten chaotischen Zustand ein erster Unterschied: der zwischen der Angst vor der Wiederkehr des Taumels und dem wiederkehrenden Taumel. Kehrt der Taumel wieder, erfüllt sich die Angst, und im Licht dieser Angst erscheint der Taumel als bedrohlich. Weil diesem Taumel die Angst vor ihm vorhergeht, wird er zu etwas, das mich ins Wanken und Taumeln bringt, und damit zu einem Fremden, mir Gegenüberstehenden, zu einer Macht, die mich ergreift. Der ursprüngliche und der wiederkehrende Taumel gleichen sich nicht in jeder Hinsicht. Der wiederkehrende ist seinem Gehalt nach gleich dem ursprünglichen, darum ist er ein wiederkehrender, aber er ist mir fremd, weil ich mich vor ihm ängstige. Ich erlebe die Angst als einen Zustand meiner selbst und den wiederkehrenden Taumel zunächst als Anderes und Fremdes, das über mich kommt und mich taumeln lässt. Dann erfüllt sich die Angst und geht in Betroffenheit über, und dabei hebt sich mein taumelndes Betroffensein vom mich treffenden Taumel ab. Der wiederkehrende Taumel erscheint im Unterschied zum ursprünglichen als etwas, das mich betrifft, und darum als etwas Fremdes, Gegenüberstehendes und insofern Gegenständliches, aber auch als Eigenes. Denn betroffen zu sein ist ein Zustand meiner selbst, allerdings einer, der mir Angst macht. Damit ist diese Angst nicht mehr bloß eine, in Taumel zu geraten, sondern eine, die sich auch auf alles richtet, was mich in Taumel versetzen kann. Sie wird damit zu einer Angst vor Widerfahrnissen aller Art. Wenn wir nach Nichtsein von Taumel streben, streben wir auch nach Nichtsein von Widerfahrnissen, weil diese uns in einen ähnlichen Zustand ver167

Siehe oben S. 69.

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Der Taumel und die Angst vor seiner Wiederkehr

setzen wie der Taumel. So kann man im Widerstreben gegen Widerfahrnisse ein Mittel sehen, nicht taumelig zu werden, und darin dürfte das eigentliche Ziel des Widerstrebens bestehen. Ich fühle mich taumelig, sofern ich etwas erleide. In diesem Fühlen müssen wir das Wachsein im Sinne des Bei-Bewusstsein-Seins sehen. Das, was ich erleide, wird in der Erfüllung der Angst bewusst, es erscheint in ihr als das, welches mich betrifft. Dies wirft ein neues Licht auf das Betroffensein: Jedes erleben wir als Wiederkehr des Taumels oder zumindest findet sich in jedem noch ein Nachklang davon. In stark affektiven Erlebnissen ist dies unübersehbar. Angst oder Wut, die mich packt, erlebe ich weitgehend als Gepacktwerden und dieses zumindest anfänglich als eine Art Taumel. Erst im weiteren Verlauf hebt sich das, was mich packt, vom Gepacktwerden ab. Ähnlich drängt sich bei starkem Lärm ein nervendes Erleiden in den Vordergrund, von dem sich der aufdrängende Lärm erst hinterher für ein aufmerkendes Bewusstsein abhebt. Je stärker mich etwas betrifft, desto mehr steht im Betroffensein das Erleiden im Vordergrund. Am extremsten dokumentiert das der Schreck: Da erleiden wir nur noch, ohne dass sich etwas Gegenständliches abhebt. Dennoch unterscheiden sich ursprünglicher Taumel und Betroffenheit, trotz ähnlicher Erlebnisqualität. Im Betroffensein macht mich etwas betroffen, ein Zug, der dem ursprünglichen Taumel wie auch seinen Wiederholungen fehlt, soweit sie bloß Wiederholungen sind. Aber wenn der wiederkehrende Taumel in der Angst vor ihm als etwas mir Fremdes erscheint, das mich gefährdet, gleicht er der Betroffenheit. Nur ist der wiederkehrende Taumel als eine Wiederholung des Ursprünglichen wie dieses auf eine ursprüngliche Weise bewusst, während Betroffenheit erst durch die Erfüllung der Angst bewusst wird. Vom Taumel möchte man sagen, er habe seinen Ursprung in mir selbst, wenn man von einem »Selbst« ohne Anderes sprechen kann. Betroffenheit dagegen geht immer auf etwas zurück, das uns begegnet. Ohne Angst vor der Wiederkehr des Taumels wäre jeder Taumel bloß Wiederholung des ursprünglichen. Ich würde mich nur taumelig fühlen, ohne etwas zu erleiden und ohne betroffen zu sein. Diese Angst ist jedoch noch in anderer Hinsicht von Bedeutung. Sie bleibt erhalten, auch wenn der Taumel schwindet, und bildet damit ein kontinuierlicheres Selbstgefühl als dasjenige, das wir im Taumel erleben, doch ist es labil, dauernd bedroht vom Zerfall in der Wiederkehr des Taumels. Die Angst vor dieser Wiederkehr und damit vor drohendem 129 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

Selbstverlust dürfte die primitivste Weise des Wachseins (im Sinne von Bereitschaft zu bewusstem Erleben) sein, eine, die noch der Betroffenheit vorhergeht und die letzte Bedingung für Erleiden und Betroffensein bildet. Die Angst vor der Wiederkehr des Taumels ist ein schwer zugängliches Phänomen, das an die Ursprünge bewussten Erlebens rührt. Mit dem ursprünglichen Taumel hebt das bewusste Erleben an, mit seiner Wiederkehr taucht diese Angst auf. Bei all den Unsicherheiten, die damit verbunden sind, kann man doch sagen, in ihr liege ein Streben nach Nichtsein von Taumel und damit ein Widerstreben gegen Widerfahrnisse. Der Taumel lässt sich als Phänomen aufweisen, auch wenn dies bei seinen subtileren Formen nicht eben leicht fällt und er gesucht werden muss. Nicht geringer sind die Schwierigkeiten bei der Angst vor seiner Wiederkehr. Es gibt die Angst vor Betroffenheit, und wenn meine Interpretation stimmig ist, müssen wir darin eine Angst vor der Wiederkehr des Taumels sehen. Aber gibt es diese Angst auch abgesehen von Betroffenheit? Man könnte an Phänomene denken, die entstehen, wenn wir uns aus dem bewussten Erleben heraus ängstigen, uns selbst zu verlieren. Es muss nicht gleich Todesangst sein, aber auch sie gehört hierher, ebenso die Erfahrungen von Schwindel oder Ohnmacht, vor denen wir fürchten, sie könnten wieder auftreten. Auch die Angst vor dem Einschlafen als einer Form von Selbstverlust, die Schlafgestörte am Einschlafen hindert, soll nicht unerwähnt bleiben. Nun müssen wir uns dem zweiten prinzipiellen Bedenken zuwenden. 168 Ich habe schon bemerkt, dass die Gefühle des Wachseins besondere Gefühle sein müssen, weil sie nicht wieder, wie andere, durch Frustration eines Widerstrebens bewusst werden können, da dies in einen unendlichen Regress führt. Aber auch diese Gefühle können bewusst sein, und so stehen wir vor der Frage, wie sie es werden. Diese Frage stellt sich natürlich auch schon für die Angst vor der Wiederkehr des Taumels. Wenn es gelingt, sie für diese Angst zu beantworten, hat auch die Frage, wie Angst vor Betroffenheit bewusst sein kann, eine Antwort gefunden. Ist das Widerstreben gegen Betroffenheit ein Streben nach Nichtsein von Taumel, dann unterscheidet es sich grundsätzlich von anderen Strebungen. Denn dieses ist eines, das nicht wie andere darum meines ist, weil es, wie wir zu sagen pflegen, »in mir« auftaucht, 168

Siehe oben S. 127.

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Der Taumel und die Angst vor seiner Wiederkehr

was nun in dem Sinne verstanden werden muss, dass es mein Streben nach Nichtsein von Taumel frustriert. Von diesem Streben dasselbe behaupten zu wollen, wäre offensichtlich unsinnig. Im Fühlen dieses Strebens fühle ich in ursprünglicher Weise mich selbst, jedes andere Streben erscheint diesem gegenüber als ichfremd, als eines, das sich mir aufdrängt und mich ergreift. Zwar sagen wir auch von solchen Strebungen gewöhnlich, sie seien darum »unsere«, weil sie uns unmittelbar ergreifen, also unser Widerstreben frustrieren. Ihnen gegenüber fühle ich mich mit meinem Streben nach Nichtsein von Taumel eins, da ich mich nicht von ihm unterscheiden kann. Jedes andere Streben hat seinen Ursprung nicht in mir, es wird von etwas ausgelöst, das ich nicht bin; nur mit diesem fühle ich mich eins. Wir haben in der Angst vor der Wiederkehr des Taumels ein erstes und primitivstes Selbstbewusstsein, und da ihr das Streben nach nichttaumeligem Selbstsein zugrunde liegt, ist auch jedes andere Fühlen dieses Strebens ein Selbstgefühl 169, in dem ich mich in ursprünglichster Weise selbst fühle, und durch das erst jedes andere Streben als »meines« erscheint, weil es dieses frustriert. Gilt uns das Fühlen des Strebens nach Nichtsein von Taumel als ursprünglichstes Selbstbewusstsein, so gibt es nicht noch ein Streben, das von ihm betroffen werden könnte. Fühlen wir im Fühlen dieses Strebens uns selbst, dann kann es nicht dadurch bewusst werden, dass es mich betrifft. Womit ich mich als eines fühle, kann mich nicht wieder betreffen. Das Fühlen dieses Strebens scheint ein Gefühl zu sein, das nicht unbewusst sein kann: Sobald es entsteht, ist es auch bewusst. Dies mag 169 Was ich hier als »Selbstgefühl« bezeichne, muss von einem gleichfalls »Selbstgefühl« genannten Erleben unterschieden werden, das im 18. Jh. zu einer Tradition geführt hat, die wohl auf Lockes Begriff »reflection« zurückgeht. Dieser Begriff des Selbstgefühls ist nicht voluntativ-affektiv, sondern epistemisch gemeint und zunächst gleichbedeutend mit innerer Wahrnehmung. Nach Locke gründet das Wissen über unser mentales Leben auf »reflection«, was soviel wie »innerer Sinn«, eine nach innen gerichtete Wahrnehmung, bedeutet. Manfred Frank hat in seinem Buch »Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung, Frankfurt a. M. 2002« detailliert nachgewiesen, wie die nicht begriffliche Kenntnis aus innerer Anschauung im 18. Jh. als ein Selbstgefühl verstanden wurde. Man hat den Ausdruck Gefühl am Tastsinn orientiert und das Fühlen im Sinne von Tasten »zum privilegierten Organ der Kontaktnahme mit der Wirklichkeit gemacht« (a. a. O., S. 66). Joh. Bernhard Basedow dürfte der erste gewesen sein, der »Selbstgefühl« in diesem Sinne als Übersetzung von »inner sense« eingeführt hat (a. a. O., S. 101). »Selbstgefühl« wird damit den Empfindungen angeglichen und unterscheidet sich grundlegend von einem Gefühl im Sinne Brentanos und Meinongs.

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Pathisches Wachsein

plausibel machen, warum die Gefühle des pathischen Wachseins nicht wie andere dadurch bewusst werden, dass wir sie erleiden. Doch damit stehen wir vor der Frage, wie sie es sonst werden. Diese Frage stellt sich schon für die Angst vor der Wiederkehr des Taumels. Durch sie erscheint der wiederholte Taumel als fremd und bedrohlich, aber doch nur, wenn sie bewusst ist, denn nur bewusste Angst lässt etwas als bedrohlich erscheinen. Ich gehe vom ursprünglichen Taumel aus. »Ursprünglich« nenne ich ihn, weil mit ihm alles bewusste Erleben anfängt. In diesem Taumel müssen wir das erste, anfängliche bewusste Erleben sehen. Mit ihm fängt alles an. Bewusst ist er als ein geschehendes Taumeln; schon zu sagen, der Taumel ergreife uns, wäre zu viel gesagt, denn wir können uns nicht taumelnd vom Taumel unterscheiden, da sich noch kein Bewusstsein unserer selbst herausgebildet hat. Dieser Taumel ist bewusst, seine Bewusstheit lässt sich nicht weiter auf anderes zurückführen; von ihr müssen wir ausgehen und versuchen, anderes Bewussthaben vom Bewusstsein dieses Taumels her zu verstehen. Vergeht der Taumel, können wir erneut ins Taumeln geraten. Der vergehende Taumel ist noch retentional bewusst, sinkt aber zunehmend in die Vergangenheit ab. Wir nehmen an, das Widerstreben gegen den wiederkehrenden Taumel beruhe auf der Erfahrung wiederholten Taumelns und könne kaum aufkommen, während wir aktuell taumeln, sondern erst im Nachhinein, wenn sich der Taumel beruhigt. Besteht eine solche Antipathie gegen den Taumel und verfestigt sie sich zu einer Disposition, so wird dieses Widerstreben frustriert, sobald wir erneut ins Taumeln geraten. Ich fühle mich dann vom Taumel betroffen. Diese Frustration geht auf ein Urteil der Art »ich taumle wieder« zurück. Wenn wir annehmen, der wiederkehrende Taumel sei ebenso bewusst wie der ursprüngliche, haben wir damit kein Problem. Auch das Betroffensein durch den wiederkehrenden Taumel ist bewusst. Sein Bewusstsein ist ein Erbe des wiederkehrenden Taumels. 170 Husserl hat an verschiedenen Phänomenen aufgezeigt, wie ein bewusstes Erlebnis ein anderes »wecken« kann, sofern es genügend affektive Kraft besitzt und die Sinne beider Erlebnisse ganz oder teilweise zur Deckung kommen. So kann z. B. die urimpressionale Kraft einer Wahrnehmung eine Erinnerung an längst Vergangenes wecken, worauf diese bewusst wird. Dazu gehört das bekannte 170

Weiteres dazu unten S. 218.

132 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Der Taumel und die Angst vor seiner Wiederkehr

Phänomen des »etwas erinnert an etwas anderes«, das uns noch öfters beschäftigen wird. Strebe ich danach, nicht taumelig zu sein, und gerate ich in Taumel, so deckt sich der Sinn dessen, dem ich widerstrebe, mit dem, was sich ereignet, dem Taumel. Dadurch erleide ich den Taumel, und zwar bewusst, weil mein Erleiden durch den Taumel geweckt wird. Die Erfahrung wiederholten Taumelns lässt Angst aufkommen, ich könne wieder taumeln und betroffen werden. Sie entsteht, wenn das wiederholte Taumeln zum (pathischen) Urteil führt, ich könne wieder taumeln. Durch dieses Urteil wird das Streben, nicht taumelig zu sein, in ein Gefühl der Angst vor der Wiederkehr des Taumels modifiziert. Geschieht dies während wir taumeln, so deckt sich der Sinngehalt des Taumelns mit dem, wovor wir uns ängstigen, und die Angst ist bewusst. Jetzt erscheint der wiederkehrende Taumel durch das Medium der Angst als bedrohlich. Damit entsteht eine Distanz zwischen mir, der ich mich ängstige, und dem Taumel. Ich erlebe ihn nicht mehr in der Weise unmittelbaren Taumelns, sondern als Fremdes, das mir entgegenkommt, als etwas, das mir widerfährt. Ist der ursprüngliche Taumel das erste anfängliche Bewusstsein beim Erwachen aus dem Tiefschlaf, so müssen wir in der Angst vor der Wiederkehr des Taumels das erste anfängliche Wachsein sehen. Es bleibt bestehen bis zum Übergang in den Tiefschlaf. Sollte dieser gänzlich bewusstlos sein, dann müssen wir erst wieder ins Taumeln geraten, bevor wir pathisch wach werden können. Wir haben damit eine Antwort auf die Fragen gefunden, die uns umgetrieben haben. Sind die Wiederholungen des ursprünglichen Taumels ebenso bewusst wie dieser, kann aus der Erfahrung wiederholten Taumels eine Antipathie, ein Widerstreben gegen das Taumeln, entstehen. Einmal entstanden frustriert jedes erneute Taumeln dieses Widerstreben, weil jedes Mal ein pathisches Urteil von der Art aufkommt »ich taumle wieder«. Diese Frustration ist bewusst: Ich fühle, dass ich nicht taumeln mag. Dabei erlebe ich das Taumeln als einen Zustand meiner selbst: So, wie ich jetzt bin, möchte ich nicht sein. Darin müssen wir ein primitives, ursprüngliches Selbstbewusstsein sehen. Dieses ist durch eine Deckung der Sinne bewusst: Der Taumel, der mich ergreift, ist bewusst und deckt sich mit dem, was ich in der Frustration als etwas erlebe, das ist, aber nicht sein soll. Lässt jedes wiederholte Taumeln das Urteil »ich taumle« entstehen, so führt die Erfahrung wiederholten Taumelns zum Urteil »ich werde 133 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

wahrscheinlich wieder taumeln«. Zusammen mit dem Widerstreben gegen Taumel wird dies zur Angst vor der Wiederkehr des Taumels. Auch diese ist bewusst durch eine Deckung der Sinne, weil sie entsteht, während wir taumeln. Damit sind wir einer Antwort auf die Frage, wie die Gefühle des Wachseins bewusst werden, zumindest für das pathische Wachsein ein Stück näher gekommen. Die Frustration durch den wiederkehrenden Taumel und die Angst davor können nun als Urbilder jeden Betroffenseins und jeder Angst, betroffen zu werden, gelten. Auch das Betroffensein durch Widerfahrnisse versetzt uns mehr oder weniger in Taumel, allerdings mit dem Unterschied, dass der wiederkehrende Taumel als Wiederholung des ursprünglichen auch ohne Angst vor ihm bewusst ist, während Widerfahrnisse nur bewusst werden, wenn wir dafür empfänglich sind. Damit sind wir wieder bei der Angst, betroffen zu werden. Die Angst vor der Wiederkehr des Taumels ist bewusst, aber ist es auch die, betroffen zu werden? Wenn wir die erstgenannte Angst als eine Angst, irgendwie gefährdet zu sein, verstehen, so ist die Angst vor Widerfahrnissen eine Angst vor der Wiederkehr des Taumels. Diese Angst ist im Unterschied zur Frustration des Widerstrebens nicht nur dann bewusst, wenn wir erneut in Taumel geraten oder uns etwas widerfährt. Sie ist es unabhängig davon, ob dies der Fall ist oder nicht. Merkwürdig an dieser Angst ist nicht so sehr, dass sie bewusst ist, sondern dass sie so lange anhält. Aber als endliche Wesen, deren Sein ohne Unterlass gefährdet ist, haben wir immer Grund zur Angst, betroffen zu werden, selbst wenn wir schlafen. Wir kommen damit zum Schluss: Von den Gefühlen des Wachseins ist die Angst, irgendwie betroffen zu werden, der Zustand, in dem wir ständig sind, zumindest solange, als uns noch ein Rest von Selbstbewusstsein eigen ist. Das Betroffensein und damit das pathische Wachsein im Sinne des Bei-Bewusstsein-Seins ist nur bewusst, wenn das Widerstreben gegen Betroffensein frustriert wird. Und wie wird diese Frustration bewusst? Durch ein Urteil von der Art »ich werde betroffen« oder »mir widerfährt etwas« jedenfalls nicht, denn dazu müsste das schon bewusst sein, was uns widerfährt. Betroffenheit kann nur bewusst werden durch Erfüllung der Angst, irgendwie betroffen zu werden. Alles, was diese Angst erfüllt, macht uns betroffen, aber nur das kann sie erfüllen, was uns mehr oder weniger in Taumel versetzt, und das kann nur solches sein, dem hinreichend affektive Kraft zukommt. Das Betroffensein als Wachsein im Sinne 134 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Der Taumel und die Angst vor seiner Wiederkehr

des Bei-Bewusstsein-Seins ist darum bewusst, weil es die (bewusste) Angst vor ihm erfüllt, was wiederum durch eine Deckung der Sinne geschieht. Damit sind freilich nicht alle Probleme vom Tisch. So sieht man sich vor die Frage gestellt, ob nicht ein Streben nach Nichtsein von Taumel widersinnig sei. Ein solches Streben wäre befriedigt, wenn es keine Betroffenheit mehr gäbe. Gar nicht betroffen zu werden, bedeutet etwa soviel, wie im Koma oder tot zu sein. Danach zu streben, gehört auch zu den Möglichkeiten des Menschseins, aber die Realisierung dieser Möglichkeit verläuft in der Regel nicht pathisch, es sei denn, es handle sich um suizidalen Zwang. Sich für den Tod und gegen das Leben zu entscheiden, kann man sich schwerlich als Ziel eines pathischen Strebens denken. 171 Ein Streben allein nach Nichtsein von Taumel kann es nicht geben. Zwar möchten wir nicht taumeln und nicht betroffen werden, aber es gibt auch so etwas wie Hunger nach bewusstem Erleben, eine Gier nach Neuem, ein Interesse herauszufinden, was etwas ist. Darin bekundet sich ein Streben, sich mit dem zu verbinden, was bewusst geworden ist. Auch wenn wir nicht alles lieben, was wir erleben, kann man sich einem Streben, überhaupt bewusst zu erleben, kaum verschließen. Dies lässt uns annehmen, es gebe neben der Antipathie gegen Widerfahrnisse auch eine Sympathie zu bewusstem Erleben. Das ist nicht so zu verstehen, dass die Sympathie dem gilt, was wir erleben. Auch sie zielt auf das Faktum, dass wir überhaupt bewusst erleben. Wie es beim Widerstreben nicht um eine Antipathie gegen das ging, was uns betrifft, sondern um das Faktum, dass wir betroffen werden, so geht es beim Streben nach bewusstem Erleben nicht um eine Sympathie zu dem, was bewusst geworden ist, sondern darum, dass überhaupt etwas bewusst ist. Das wird allerdings zumeist von den Sympathien und Antipathien zum Inhalt überdeckt. Dies sind sekundäre Strebungen, d. h. solche, die voraussetzen, dass das, was wir lieben oder hassen, bewusst ist. Wir lieben ja keineswegs alles, was wir erleben. Solches Streben nach bewusstem Erleben zeigt sich vor allem da, wo es noch unbefriedigt ist: als Hunger nach Eindrücken, und da, wo es frustriert

171 Das gilt auch für Freuds Todestrieb. Misst man diesen an den Merkmalen, durch die Freud selbst die Triebe bestimmt hat, wird man seinen Triebcharakter bezweifeln müssen. Vgl. H. Kunz: Die Erweiterung des Menschenbildes in der Psychoanalyse Freuds. In: Philosophische Anthropologie, hg. von H.-G. Gadamer und P. Vogler, 1. Teil, Stuttgart 1975, S. 79 f.

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Pathisches Wachsein

ist: in der Langweile. Das Widerstreben gegen Widerfahrnisse wird ergänzt durch ein Streben nach bewusstem Erleben. 172 Das ist nicht konfliktlos, denn solange wir pathisch wach sind, ist das, was wir möchten, oft nur zu haben um den Preis von etwas, was wir nicht möchten. Es wird sich zeigen, dass dieser Konflikt eine neue Weise des Bewussthabens hervortreibt, eines, das nicht auf Betroffenheit, sondern auf Entscheidung beruht. 173 Ob sich dadurch ein Weg zur Befriedigung des Widerstrebens gegen Widerfahrnisse eröffnet, bleibt vorläufig offen. Auch wenn es bewusstes Erleben gibt, das nicht auf Betroffenheit beruht, bedeutet das nicht, dass ein Leben ohne Widerfahrnisse möglich wäre. Auch ein Bewusstsein durch Entscheidung ist auf sie angewiesen, daher dürfte dem Widerstreben die Befriedigung letztlich versagt bleiben. Noch ist unklar, wie diese Strebungen zusammenhängen. Taumel und Betroffenheit scheinen etwas zu sein, das wir nicht möchten. Aber danach zu streben, dass es das nicht gibt, bedeutet bewusstlos zu sein, und das möchten wir auch nicht. Beide Ziele wären nur in einem Streben nach nicht-taumeligem Bewusstsein zu vereinigen, nach einem Bewusstsein, das nicht auf Betroffenheit beruht. Das Sein, um das es uns geht, wenn wir nach nicht-taumeligem Selbstsein streben, ist ein bewusstes Sein. Das Widerstreben gegen Widerfahrnisse ist kein Endzweck, sondern dient als Mittel, auf nicht-taumelige Weise bewusst zu sein. Diese Zweck-Mittel Relation kennzeichnet schon unsere Einstellung zum wiederkehrenden Taumel: Wir ängstigen uns vor seiner Wiederkehr, hoffen aber auch, bewusst erleben zu können. Das, wovor wir uns ängstigen, und das, worauf wir hoffen, sind nicht dasselbe, sondern zwei unterschiedliche Aspekte des wiederkehrenden Taumels. In ihm zu taumeln erleben wir als Gefährdung, aber dass er bewusst ist, kommt unserem Wunsch nach bewusstem Erleben entgegen. So sind die Gefühle, die wir dem wiederkehrenden Taumel entgegenbringen, ambivalent. Wir lieben und hassen ihn zugleich, und dies aus unterschiedlichen Gründen. Beide Strebungen sind jedoch nicht gleich ursprünglich. Das Widerstreben entsteht aus 172 Beide Strebungen findet man bei Säuglingen schon im Alter von zwei Monaten. Im Spiel mit ihrer Betreuungsperson streben sie ein optimales Erregungsniveau an. Zu starke Erregungen werden abgelehnt, zu schwache ebenfalls, weil sie uninteressant sind. Interessant und damit sympathisch sind jene, die ein optimales Erregungsniveau aufweisen. (Stern, Die Lebenserfahrung des Säuglings, a. a. O., S. 111.) 173 Siehe unten Kap. III, 3.2 Aufwachen im prägnanten Sinn: Wie mentales Wollen aus dem pathischen Wachsein entsteht.

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Der Taumel und die Angst vor seiner Wiederkehr

den Wiederholungen des Taumels und führt zu einer Trennung von Selbst und Anderem. Die Sympathie zu bewusst Erlebtem setzt diese Trennung voraus. Den ursprünglichen Taumel können wir nicht lieben, wenn Liebe bedeutet, sich mit etwas zu vereinigen. Mit dem, was wir selbst in ungetrennter Einheit sind, können wir uns nicht verbinden, da Verbinden Trennung voraussetzt. Sympathie zu bewusst Erlebtem ist nur möglich, wenn mir etwas bewusst ist, das mir sympathisch oder unsympathisch sein kann. Diese Sympathie ist noch nicht jene, die sich auf die Besonderheiten des Inhalts richtet, sondern ein Streben, sich mit allem zu verbinden, das bewusst ist, was immer es sei, und dies im Sinne eines Sich-darauf-Einlassens, des Sich-Versenkens in etwas. Dazu muss erst etwas bewusst sein, und bewusst ist es durch Frustration des Strebens nach Nichtsein von Taumel. Wenn Sympathie zu bewusst Erlebtem bewusst Erlebtes voraussetzt, kann sie nicht Wachheit im Sinne einer Voraussetzung bewussten Erlebens sein. 174 Angst vor der Wiederkehr des Taumels halte ich für die ursprünglichste Weise, in der man wach sein kann, weil sie die Angst ist, die durch beliebige Weisen des Betroffenseins erfüllt werden kann. Ist erst die Angst vor Widerfahrnissen erfüllt, kann sich auch die Hoffnung auf bewusstes Erleben erfüllen, aber eben nur auf dem Umweg über die Erfüllung der Angst. Bewusstes Erleben ist nur erst durch Taumel und Betroffenheit zu haben. Darum sind wir in der Angst vor der Wiederkehr des Taumels wach und nicht in der Hoffnung auf bewusstes Erleben. Dennoch kommt auch dem Streben nach bewusstem Erleben eine tragende Rolle zu, wenn sich ein Bewusstsein von etwas konstituiert. Mit dem anfänglichen Bewusstwerden dessen, was mir widerfährt, wird nur erst ziemlich Ungeordnetes bewusst: ein Schreck, ein Reiz, der lockt, ein Schmerz, ein Affekt. Intentionales Bewusstsein entsteht nicht durch Betroffenheit allein, durch diese wird es nur bewusst. Auch die Sympathie zu bewusstem 174 Damit setze ich mich in Gegensatz zu Husserl, der Wachheit als »Vollziehen der Zuwendung« bestimmt hat (EU, S. 83). Was wir »wach« nennen und was uns noch nicht als wach erscheint, ist eine Frage der Definition. Husserl nennt das nur hintergründig Bewusste »schlafend« (Hua IV, S. 107), als wach gilt ihm das Bewusstsein aufmerksamer Zuwendung. Ich setze die Grenze zwischen beiden anders: Wenn wir wach sein müssen, um bewusst erleben zu können, sind wir auch wach, wenn wir etwas nur hintergründig dumpf erleben. Entsprechend schlafen wir endgültig erst in einem Zustand gänzlicher Bewusstlosigkeit. Weiteres dazu siehe unten Kap. IV, 2 Husserls Konzeption von Wachsein und Aufwachen, bes. S. 461ff.

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Pathisches Wachsein

Erleben reicht dazu nicht hin, aber ohne sie ist nicht auszukommen. Sie bekundet sich in der Zuwendung zu etwas und erfolgt im Rahmen des pathischen Wachseins durchwegs pathisch. Was auch immer vor sich gehen mag, bevor etwas bewusst wird, das anfängliche Bewussthaben besteht im Betroffensein durch etwas, das mir widerfährt. Betrifft mich etwas und wird bewusst, wendet sich ihm diese Sympathie zu, was immer es sein mag. Dann bin ich mit ihm verbunden und halte es wenigstens für Momente fest. Das macht ein weiteres Eindringen und den Aufbau eines intentionalen Bewusstseins erst möglich. Genaueres bedarf einer Untersuchung der Rollen, die das Widerstreben gegen Widerfahrnisse und die Sympathie zu bewusstem Erleben im Anfang pathischen Bewusstwerdens spielen. Ich beginne mit der Angst vor der Wiederkehr des Taumels als einer Angst von irgendetwas irgendwie betroffen zu werden. Das, wovor ich mich ängstige ist zunächst, und d. h. beim Aufwachen aus gänzlicher Dunkelheit, ganz und gar unbestimmt. Wenn mich etwas betrifft, wenn das Widerstreben frustriert und die Angst erfüllt wird, betrifft mich etwas Bestimmtes (oder doch Bestimmbares) auf bestimmte Weise. Was auch immer die Angst erfüllt, es kann sie nur auf bestimmte Weise erfüllen. Das meint nicht, dass mir mit dem Bewusstwerden dessen, was mich betrifft, auch schon alle seine Bestimmungen bekannt wären. Aber es ist doch ein bestimmbares Einzelnes, das mich betrifft, und nicht ein unbestimmtes Allgemeines. Etwas lockt und erweist sich als bestimmter sinnlicher Reiz, vielleicht ein Ton oder ein Roteindruck. Etwas ergreift mich und enthüllt sich als ein nostalgisches Gefühl, oder etwas drängt sich auf und nimmt mich gefangen, es ist eine Erinnerung an etwas, die mich nicht loslässt. Was immer mich betrifft, es erfüllt die Angst, irgendwie durch irgendetwas betroffen zu werden, auf bestimmte Weise. In diesem Erfüllungsbewusstsein fühle ich mich betroffen, und das ist ein Gefühl des Wachseins, in dem mir bewusst ist, dass mich etwas betrifft, ein Gefühl, ein Schmerz, ein Reiz, eine Erinnerung oder Phantasie, die mir einfallen. Was mich betrifft, erfüllt die Angst, von etwas betroffen zu werden, und wird in der Erfüllung durch eine zumindest partielle Deckung der Sinne bewusst. 175 Ich erleide das Angelocktwerden durch etwas oder das Ergriffenwerden durch etwas, und davon hebt sich das ab, was lockt oder ergreift. Ein wahrgenommener bzw. empfundener Reiz lockt, sei es ein Ton oder ein Farbeindruck. Kom175

Zum Bewusstwerden durch Deckung der Sinne siehe unten S. 218.

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Der Taumel und die Angst vor seiner Wiederkehr

men weitere Töne hinzu, bilden sie im inneren Zeitbewusstsein eine Zeitgestalt, eine Melodie. Sie zieht aufmerksame Zuwendung auf sich. Kommen zu einem Farbeindruck weitere hinzu, die nebeneinander stehen, bildet sich ein visuelles Feld. Assoziation durch Ähnlichkeit lässt bestimmte Eindrücke als gleich, andere, die sich davon abheben, als verschieden erscheinen. Dann sehe ich einiges als gleich und anderes als verschieden. Derart etwas als etwas bewusst zu haben, ist ein intentionales Bewusstsein. Was wir als gleich sehen, zieht Sympathie auf sich, die das Gleiche festhält, wodurch eine Gestalt erscheint, die sich von einem Hintergrund abhebt. Ohne sympathische Zuwendung würden solche Gestalten bald wieder zerfallen. Ihr ist es zuzuschreiben, dass das Gegenständliche, welches betroffen macht, gegenüber dem Betroffensein hervorgehoben erscheint, das in den Hintergrund tritt. Man möchte sagen, nach dieser Konzeption des Wachseins und Betroffenseins seien an jedem bewussten Erlebnis zwei Erlebnisse beteiligt: eines, das bewusst ist, und eines, durch welches es bewusst ist. Das Wachsein als Angst vor der Wiederkehr des Taumels ist in der Erfüllung durch den wiederkehrenden Taumel bewusst geworden und bleibt bestehen, bis wir wieder im Tiefschlaf versinken. Die Erlebnisse kommen und gehen, das Wachsein ist im Vergleich zu ihnen bleibend, aber doch nur ein relativ Bleibendes. Auch es vergeht: im Tiefschlaf, in reversiblem Koma und (wohl) endgültig im Tod. Wenn ich oben den Rückgang auf den ursprünglichen Taumel als Versuch einer Rekonstruktion des Anfangs bewussten menschlichen Erlebens eingeführt habe, so muss ich auch darauf hinweisen, dass diese Anfänge sich nicht so abstrakt ausnehmen, wie es eine philosophische Rekonstruktion verlangt, und auch nicht so solipsistisch, wie es meine Darstellung nahe legt. Dies hat die neuere Säuglingsforschung eindrücklich aufgezeigt. 176 Wenn von »Gegenständen« die Rede war, so sind die Gegenstände, die zuerst das Interesse (und dann auch die Liebe) wecken, Personen, vorweg die Mutter oder die Person, welche ihre Stelle einnimmt. Vor allem die Zeit zwischen dem zweiten und sechsten Lebensmonat ist durch intensiven Sozialkontakt geprägt. Es ist die Zeit jener einfachen stereotypen Kinderspiele, für welche die »Babysprache« der Mutter und das antwortende Brabbeln des Kindes, der Austausch der Mimik sowie der Blickkontakt charak176 Den Hinweis auf die aktuelle Säuglingsforschung verdanke ich Andreas Hamburger (München/Berlin).

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Pathisches Wachsein

teristisch sind. 177 Den Verhaltensweisen der Betreuungsperson kann der Säugling jene Invarianten entnehmen, die für sie typisch sind. In diesem wechselseitigen Verhalten nimmt er die Anwesenheit eines Anderen wahr und merkt, dass er dessen Verhalten und sein eigenes Erleben verändern kann. In diesem Zusammenhang lernt er auch die Invarianten des eigenen Selbst zu identifizieren. 178 Dieser Herausbildung eines »Kern-Selbst« und des Bewusstseins des Anderen gehen Selbstempfindungen vorher, die auf erstaunlichen Fähigkeiten beruhen, die angeboren sind. 179 Neugeborene suchen nach sensorischer Stimulierung, es gibt ein angeborenes Verlangen nach neuen Eindrücken. Sie haben Vorlieben und Abneigungen, sowohl hinsichtlich der Sinneseindrücke wie auch der Wahrnehmungen. Hinzu kommt ein Bestreben zur Bildung und Prüfung von Hypothesen über das, was in der Welt geschieht. Sie vergleichen, was sie erfahren miteinander und mit vergangenen Erfahrungen. Es scheint, dass sich schon vor dem Entstehen bewussten Erlebens, das im Mutterleib beginnt, Fähigkeiten ausgebildet haben, die erst mit dem wachen bewussten Erleben Anwendung finden. 180 Was immer uns betrifft, immer sind es Erlebnisse von bestimmter Struktur, von denen sich zeigen wird, dass sie uns nur in einer Weise betreffen können, die von ihrer Struktur abhängt, was dazu führt, dass wir je nach Erlebnis, das uns betrifft, in je bestimmter Weise wach sind. Von solchen unterschiedlichen Weisen des Wachseins handelt das nächste Kapitel.

2

Die Weisen des Betroffenseins und die Modi pathischen Wachseins

Denken wir uns das Wachsein als Voraussetzung bewussten Erlebens, dann müssen wir vor und unabhängig von jeder Betroffenheit schon pathisch wach sein. Ein Wachsein, das allem bewussten Erleben vorhergeht, können wir uns als Angst vor der Wiederkehr des Taumels denken und damit als ein Sich-wach-Fühlen, das sich weitgehend difSiehe dazu Stern, a. a. O., S. 108 ff. Ebd., S. 114 ff. 179 Ebd., S. 66 ff. 180 Zur inzwischen umfangreichen Literatur zu diesem Thema siehe z. B. M. Dornes: Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen, Frankfurt a. M. 1993. 177 178

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Die Weisen des Betroffenseins und die Modi pathischen Wachseins

fus und undifferenziert ausnimmt. Differenziertere Weisen des pathischen Wachseins sind erst auszumachen, wenn Betroffenheit einsetzt, die je nachdem, was uns betrifft, unterschiedliche Qualitäten annimmt. Sind wir von einem Widerfahrnis betroffen, erleiden wir es, unser Streben nach Nichtsein von Taumel wird frustriert und zugleich wird bewusst, was wir erleiden. Beides lässt sich meist recht gut unterscheiden. Die Wut, die mich packt, hebt sich ab von meinem Gepacktwerden. Gerate ich in einen Tagtraum, so fühle ich, wie ich von einer Phantasie zu anderen und weiteren fortgetrieben werde und kann auch hier das Erleiden von dem unterscheiden, was ich erleide. Ebenso ist es, wenn mich eine Stimmung durchdringt oder mich plötzlich ein Einfall überrumpelt. Die wenigen Beispiele machen deutlich, dass wir in unterschiedlicher Weise betroffen werden und diese Unterschiede im Betroffensein von dem abhängen, was uns betroffen macht. In der Regel können wir das, was uns betrifft, von der Weise unterscheiden, wie es uns betrifft, nur Empfindungen lassen das nicht zu. Bei ihnen fällt das, was uns bewusst ist, mit dem, wie es uns betrifft, zusammen. Ein stechender Schmerz z. B. betrifft uns in der Weise stechend, wie er eben schmerzt. Schon bei den Gefühlen müssen wir beides unterscheiden, bei Vorstellungen und Gedanken erscheint ein solches Zusammenfallen als ausgeschlossen. Ein Gefühl wie das der Hoffnung, dass etwas sei, hat seine eigene Qualität, durch die es sich von anderen Gefühlen unterscheidet, aber es betrifft uns ähnlich wie andere Gefühle, z. B. wie Freude oder Zuversicht. Solche Unterschiede in der Qualität des Betroffenseins färben dann auch auf die Furcht, betroffen zu werden, ab und auf die Hoffnung auf geringeres Betroffensein. Ich fühle nicht nur Angst, in unbestimmter Weise betroffen zu werden, sondern fürchte, so oder ähnlich betroffen zu werden wie zuvor. Damit nimmt die Furcht vor Betroffenheit eine bestimmte Qualität an und folglich auch das Wachsein im Sinne der Bereitschaft, bewusst zu erleben. Fürchte ich, eine Prüfung nicht zu bestehen, dann ist das nicht eine unbestimmte Angst, sondern eine, die durch ihren Gegenstand bestimmt ist. So fühle ich schon im Fürchten das mögliche Nichtbestehen auf mir lasten. Ebenso nimmt die Furcht, in bestimmter Weise betroffen zu werden, die Qualität dieses Betroffenseins vorweg. In dieser Furcht fühlen wir uns pathisch wach, schon bevor wir betroffen werden. Sich so wach zu fühlen, bedeutet bereit zu sein, betroffen zu werden und damit bewusst zu erleben. 141 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

Pathisch wach sind wir im Fühlen des Widerstrebens gegen Widerfahrnisse. Wir fühlen uns wach in der Betroffenheit, weil sie unser Widerstreben frustriert, und ebenso in der Furcht vor ihr und in der Hoffnung auf geringeres Betroffensein. Wir können nicht nur unterschiedlich intensiv betroffen werden, es gibt offensichtlich auch qualitative Differenzen. Wenn ein Strebensziel so unbestimmt allgemein ausfällt wie beim Widerstreben gegen Widerfahrnisse, hängt die Qualität des Urteilsgefühls nicht allein vom Strebensziel und der Qualität des Urteils ab, sondern auch vom Sachverhalt, über den geurteilt wird. Dieser ist, wenn das Ziel im Nichtsein von Widerfahrnissen besteht, weit bestimmter als das Strebensziel. Wenn mich etwas betrifft, frustriert das mein Widerstreben, aber diese Frustration fühlt sich nicht immer gleich an. Die Qualität des Betroffenseins ändert sich mit der Art dessen, was mich betrifft. Dabei müssen wir das, was uns betrifft, von dem unterscheiden, wie es uns betrifft. Was uns betrifft, betrifft uns je nach Gehalt des Erlebens anders: Freude betrifft uns nicht gleich wie Traurigkeit, Schmerzen nicht so wie Tagträumereien. Aber es gibt Ähnlichkeiten. Verschiedene Erlebnisse können uns ähnlich betreffen: Trauer unterscheidet sich klar von Freude, beide sind qualitativ verschieden, auch fühlen wir uns von ihnen unterschiedlich betroffen. Aber ungeachtet dieser Unterschiede gibt es auch Gemeinsamkeiten, wie sich rasch zeigt, wenn wir etwa das Betroffensein durch Freude mit dem durch Trauer vergleichen und mit dem durch Vorgestelltes oder Gedachtes kontrastieren. Es sind solche Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die für den Begriff eines Modus des pathischen Wachseins konstitutiv sind. Die Annahme, es gebe bestimmte Modi des Wachseins, beruht auf der Erfahrung, dass wir, wenn uns ein bestimmtes Erlebnis bewusst ist, auch andere ähnliche Erlebnisse bewusst haben können. Wenn wir bewusst Freude fühlen, können wir auch Trauer erleben, aber vielleicht sind wir nicht fähig, wahrzunehmen, weil wir schlafen und von Gefühlen träumen. Wenn wir uns an A erinnern können, können wir uns auch an B erinnern und C phantasieren, aber vielleicht sind wir unfähig, ein einfaches Problem zu lösen. Sehen wir von den Empfindungen ab, bei denen das Empfinden mit dem Betroffensein zusammenfällt, dürfen wir annehmen, Erlebnisse bestimmter Art betreffen uns auf ähnliche Weise: Gefühle anders als Wahrnehmbares und dieses wieder anders als Vorstellungen oder Gedanken. Was uns betrifft, ist immer etwas Bestimmtes, diese Erinnerung z. B., die mir jetzt einfällt, aber sie betrifft mich qualitativ gleich wie andere 142 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Die Weisen des Betroffenseins und die Modi pathischen Wachseins

Vorstellungen, die mir einfallen. Fühlen wir uns in bestimmter Weise betroffen, so fürchten wir, in gleicher Weise betroffen zu werden, und nicht, vom Gleichen betroffen zu werden, das gibt es nur in Fällen heftigen Betroffenseins, im Schreck oder bei extrem starken Schmerzen. Verstehen wir das pathische Wachsein im Sinne einer Bereitschaft zu bewusstem Erleben als Furcht vor Betroffenheit, so fragt sich, was ich da fürchte. Auch wenn wir in bestimmter Weise betroffen werden, umfasst die Furcht vor Betroffenheit in der Regel mehr als das, was mich eben betroffen hat, außer in Fällen extremen Betroffenseins. Es ist anzunehmen, dass uns das ähnlich betrifft, was sich ähnlich, und das unähnlich, was sich unähnlich ist, wobei es sich um Ähnlichkeiten der Struktur der Erlebnisse handelt. So hat ein Gefühl eine andere Struktur als ein Wahrnehmen und dieses wieder eine andere als ein Vergegenwärtigen. Doch diese Entsprechung scheint nicht durchgängig zu gelten. Es wird sich zeigen, dass z. B. strukturell so unterschiedliche Gebilde wie Träume und Gefühle uns auf ähnliche Weise betreffen. Wollen wir versuchen, unterschiedliche Modi des Wachseins zu bestimmen, müssen wir darauf achten, ob wir verschiedene Arten des Betroffenseins ausmachen können, die einander ausschließen. Ich beginne die Untersuchung an dem Punkt, der für gewöhnlich den Unterschied zwischen Schlafen und Wachen markiert, mit dem Wachsein des empfundenen Leibes. An das Empfinden knüpft das Wahrnehmen an und an dieses das pathische Vergegenwärtigen und Denken. In einem weiteren Schritt geht es um andere Formen des Gegenwärtigens, um das Gefühl- und Traumbewusstsein.

2.1

Empfindungen und Empfindnisse. Leibliches Wachsein

Alltagspsychologisch trennen wir das Wachsein vom Schlafen und betrachten beide als zwei unterschiedliche Sphären. So vieles für diese Trennung spricht, mussten wir doch bemerken, dass uns selbst im Schlaf das Bewusstsein nicht gänzlich verlässt. Das hat uns dazu bewogen, von einem Wachsein im Traum zu sprechen, das sich allerdings erheblich von dem unterscheidet, was man gewöhnlich »Wachsein« zu nennen beliebt, worunter zumeist die Fähigkeit verstanden wird, willkürlich in sein Bewusstseinsleben eingreifen und absichtlich leben und handeln zu können. Zwischen diesem und dem Wachsein im Traum gibt es vielfältige Zwischentöne, denen nachzugehen ist. Dabei möchte ich nicht mit dem traumartigen Wachsein beginnen, 143 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

denn wir sollten mit einfacher zu erfassenden Weisen des Betroffenseins anfangen, um nicht in Gefahr zu geraten, schon am Anfang Schiffbruch zu erleiden. Kommt hinzu, dass wir Träume nur von unserem Wachsein her zu fassen vermögen und sie nur von diesem her als Träume erscheinen. 181 Ich beginne da, wo die Träume enden, mit dem Aufwachen aus dem Schlaf bzw. Traum. Das Erste, was wir erleben, wenn wir aufwachen, hängt natürlich davon ab, wie wir aufwachen. Werden wir durch heftige sinnliche Affektionen aus dem Schlaf gerissen, übertönen diese alles, was sonst zu erleben gewesen wäre. Daher scheint es angezeigt, sich an ruhigere Formen des Aufwachens zu halten. Oft sagt man, wir kommen beim Aufwachen aus dem Schlaf zu uns und meint damit, wir beginnen mit dem Aufwachen unsere Umgebung wahrzunehmen und uns in ihr zu verorten. Dann wissen wir wieder, wo wir uns befinden. Es fragt sich jedoch, ob dem nicht ein noch ursprünglicheres Zu-sich-kommen vorhergeht. So glaubten wir im ursprünglichen Taumel ein Phänomen zu finden, durch das wir beim Aufwachen wie beim Einschlafen hindurchgehen. Mag sein, dass das Wort »Taumel« nicht in jedem Fall die Sache trifft, jedenfalls gelingt es manchmal so etwas als Erstes beim Aufwachen und als Letztes beim Einschlafen zu bemerken. Versucht man zu fassen, worin das besteht, kann man es kaum anders umschreiben als so: Ich weiß, dass ich irgendwo bin. Das ist noch kein Lokalisieren in einem objektiven Raum. Es ist ein durchaus subjektives Fürmichsein, das örtlich bestimmt ist, jedoch nicht dadurch, dass der Ort relativ zu anderen Orten festgelegt wäre, sondern so, dass ich den Ort unmittelbar spüre, an dem ich mich befinde. Ich weiß, dass ich da bin, aber ich kann nicht angeben, wo dieses Da im objektiven Raum lokalisiert ist, denn einen solchen gibt es für mich (noch) nicht. Das Da des Taumels ist unbestimmt und, sofern wir nicht aus einem Traum heraus in ihn hinein geraten, auch unbegrenzt, da es nichts gibt, gegen das er sich abheben könnte. Damit soll nicht behauptet werden, ein solcher Taumel stelle sich regelmäßig beim Aufwachen aus dem Schlaf ein. Es kann sein, dass zunächst durchaus bestimmte Erlebnisse bewusst werden, wie Hunger, Durst, Harndrang oder Schmerzen. Nicht selten kommt es auch ohne solche Zwischenepiso181 Dazu bemerkt Straus: »Im Erwachen erst verwandelt sich der Traum, der mich, den Träumer, gefangen hielt, in einen Traum, den ich, der Wache, gehabt habe. Während des Schlafs war es nicht mein Traum, sondern ich war ein Teil der Traumwelt, die ich nicht als meine erkennen konnte.« E. Straus, Vom Sinn der Sinne, a. a. O., S. 281

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Die Weisen des Betroffenseins und die Modi pathischen Wachseins

den direkt zum Wahrnehmen, womit die Sphäre des unmittelbar örtlichen Betroffenseins verlassen ist. Wir gehen kaum fehl, wenn wir dieses »Da« des Taumels als ein leibliches Da interpretieren. Vom Leib sagt Husserl, er sei der »Nullpunkt« der Orientierungen, in der uns Dinge erscheinen. 182 Die Dinge erscheinen uns im Raum als »näher oder ferner […], als oben oder unten, als rechts oder links. Das gilt hinsichtlich aller Punkte der erscheinenden Körperlichkeit, die nun in Relation zueinander ihre Unterschiede hinsichtlich dieser Nähe, dieses Oben und Unten usw. haben« 183. Ein solches System relativer Orte bedarf der Verankerung in einem Hier, das nicht mehr relativ ist, als ein »Hier, das kein anderes außer sich hat, in Beziehung auf welches, es ein ›Dort‹ wäre.« 184 Alle Dinge der Umwelt haben ihre Orientierung in Bezug auf den Leib. Im ersten Moment des Aufwachens besteht diese Beziehung noch nicht, aber das absolute »Da«, das zum Nullpunkt aller räumlichen Orientierung wird, ist schon verspürt, aber noch nicht als eine bestimmte Empfindung, sondern als ein dumpfes, unsicher schwankendes Empfinden, da zu sein. Nach Husserl erfahren wir den Leib im Empfinden, aber der Begriff der Empfindung ist bei ihm, wie Zahavi schreibt, »notorisch zweideutig«. 185 »Empfindung« bedeutet einerseits Empfinden, andererseits Empfundenes. Diese Doppeldeutigkeit gilt auch für den ganzen Leib: Er fungiert einerseits als erfahrendes Subjekt, andererseits ist er Objekt seiner eigenen Erfahrung. Husserl hat das am Beispiel der rechten Hand erläutert, welche die linke Hand abtastet. 186 Ich nehme dabei die linke Hand wahr, sie erscheint in Tastempfindungen als weiche, so und so geformte glatte Hand. Zur rechten Hand gehören die Bewegungs- und Tastempfindungen, die zu Tasterscheinungen an der linken Hand objektiviert werden. Aber auch die linke Hand empfindet, wenn sie berührt wird, in ihr sind Tastempfindungen lokalisiert, auch wenn sie keine objektive Auffassung erfahren. Wird die Hand »gezwickt, gedrückt, gestoßen, gestochen etc. so hat sie ihre Berührungs- Stich- oder Schmerzempfindungen usw., und geschieht dies durch einen anderen Leibesteil, so haben wir dergleiHua IV, S. 158. Ebd. 184 Ebd. 185 D. Zahavi: Husserls Phänomenologie, Tübingen 2009, S. 112. Im Folgenden stütze ich mich auf das Kapitel »Der Leib als Subjekt und der Leib als Objekt«, S. 105 ff. 186 Hua IV, S. 144 ff. 182 183

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Pathisches Wachsein

chen doppelt in beiden Leibesteilen, weil jeder eben für den anderen berührendes, wirkendes Außending ist und jeder zugleich Leib.« 187 Liegt meine Hand auf dem Tisch, so empfinde ich den Druck auf der Hand. Durch diesen Druck nehme ich den Tisch wahr, und wenn ich über die Oberfläche fahre, nehme ich ihre Eigenschaften wie Härte, Glätte und Ausdehnung wahr. Mit einer Änderung der Aufmerksamkeit spüre ich in der Hand lokalisierte Druck-, Glätte- und Bewegungsempfindungen, durch die ich den Tisch wahrnehme. Letztere nennt Husserl als »spezifische Leibesvorkommnisse« »Empfindnisse«. 188 Empfindnisse sind, wie Zahavi schreibt, nicht Eigenschaften der Hand als physischem Gegenstand, sondern die »leibliche Subjektivität selbst«. 189 Sie sind Empfindungen, die empfinden, nicht solche, die empfunden sind. Empfindungen sind unmittelbar leiblich lokalisiert und damit subjektive Gegenständlichkeiten. Dazu gehören die sinnlichen Empfindungen, durch die sich Sinnendinge konstituieren, die sinnlichen Gefühle der Lust- und Schmerzempfindungen, dann die Berührungsund Bewegungsempfindungen, Wärme- oder Kälteempfindungen, der Druck und Zug der Kleider, das den ganzen Leib durchströmende Wohlbehagen oder allenfalls Missbehagen und vieles andere dieser Art. Wie schon erwähnt, zählt Husserl zu diesen Empfindungen auch jene nicht-intentionalen Erlebnisse, die zu reellen Bestandstücken intentionaler Erlebnisse werden können, wenn sie Auffassung erfahren. Dazu gehören Farb-, Tast- und Tondaten, jedoch nicht die an Dingen gesehenen Farben, nicht die gehörten Töne, auch nicht die Rauigkeit oder Glätte der Dinge, die sich mittels Empfindungen darstellen. 190 Zwischen Empfindungen und Wahrnehmungen besteht der nicht unerhebliche Unterschied, dass Letztere intentional sind, die Ersteren nicht. Husserl hat dies schon in den »Logischen Untersuchungen« betont: Bei intentionalen Erlebnissen müssen wir zwischen Dingerscheinung und erscheinendem Ding unterscheiden 191, Ebd., S. 145. Ebd., S. 146. 189 Zahavi, a. a. O., S. 107. 190 Vgl. Hua III/1, § 85. Ob es nebst den gesehenen Farben, den gehörten Tönen und dem Ertasteten auch Farb- Ton- und Tastdaten gibt, sei hier dahingestellt. MerleauPonty etwa zählt die Letzteren zu den Wahrnehmungen, wenn er erklärt: »Was man Empfindung nennt, ist nur die allereinfachste Wahrnehmung«. Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O., S. 282, vgl. S. 22 ff. 191 Hua XIX/1, S. 359 ff. 187 188

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Die Weisen des Betroffenseins und die Modi pathischen Wachseins

bei Empfindungen ist das Empfundene nichts anderes als die Empfindung 192. Empfindungen und Empfindungskomplexionen sind daher nicht intentional. 193 Das unterscheidet sie nicht nur von Wahrnehmungen, sondern ebenso von Träumen. Kennzeichnend für Empfindnisse ist ihre Lokalisation, die, wie Husserl betont, »etwas prinzipiell anderes ist als Extension aller materiellen Dingbestimmungen.« 194 Zwar breiten sie sich im Raum aus, durchlaufen ihn allenfalls, aber das ist keine Ausdehnung im objektiven Sinne, es ist nicht eine Beschaffenheit eines durch Abschattungsmannigfaltigkeiten erscheinenden Dinges. So ist ein Tastempfindnis nicht Zustand des Dinges Hand, sondern meine Hand selbst als Teil meines Leibes. 195 Empfindnisse haben eine »unmittelbare leibliche Lokalisation, sie gehören also für jeden Menschen unmittelbar anschaulich zum Leib als seinem Leib selbst als eine vom bloßen materiellen Ding Leib durch diese ganze Schicht der lokalisierten Empfindungen sich unterscheidende subjektive Gegenständlichkeit.« 196 Leib ist alles, was unmittelbar lokalisiert ist. Kitzelt es mich oder verspüre ich eine Gänsehaut, so weiß ich unmittelbar, wo es mich kitzelt und wo sich die Gänsehaut ausbreitet. Empfindungen sind qualitativ überaus vielfältig. Denken wir nur an Hunger oder Durst, an Berührungs- und Bewegungsempfindungen, an Empfindungen von Wärme und Kälte, an optische oder taktile Nachbilder, an die ganze Palette unterschiedlicher Schmerzen, die wir als drückend, ziehend, stechend, brennend, klopfend usw. beschreiben. 197 So unterschiedlich das sein mag, was da auf mich eindringt, immer ist es etwas, das ich unmittelbar an einem Ort verspüre. 198 Dies scheint ein eigentümlicher Charakterzug des Empfindens zu sein, der anderen Erlebnissen abgeht. Wahrgenommenes ist zwar ebenfalls lokalisiert, aber nicht unmittelbar. Seine Lage ist bestimmt durch den Bezug auf andere Gegenstände. Im Empfinden dagegen zeigt sich

Ebd., S. 362. Ebd., S. 382 f., 406. 194 Hua IV, S. 149. 195 Ebd., S. 149 f. 196 Ebd., S. 153. 197 Zu Schmerzen siehe: Chr. Grüny: Zerstörte Erfahrung. Eine Phänomenologie des Schmerzes, Würzburg 2004. 198 Straus hat auf die doppelsinnige Bedeutung dieses Wortes hingewiesen: Es bedeutet sowohl ein Aufsuchen als ein Hinnehmen. A. a. O., S. 18. 192 193

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Pathisches Wachsein

etwas unmittelbar örtlich situiert. 199 Ich spüre, wie ich an einem bestimmten Ort so und so affiziert werde, aber ich verspüre nicht etwas, das mir gegenübersteht, nicht einen Gegenstand dort, sondern einen eigenen Zustand. Ich spüre, wie mir kalt ist, wie es mich kitzelt, mich hungert, wie es mich da und da so und so schmerzt. Immer ist es ein unmittelbar an einem Ort empfundener eigener Zustand. So ist der Leib ein »Lokalisationsfeld«. 200 Empfinden heißt, einen eigenen Zustand unmittelbar an einem Ort erleben. Dieses Erleben geschieht mir leise und kaum merklich oder mit aller Macht, wie bei plötzlich hereinbrechenden starken Schmerzen. Wie auch immer ich dieses Geschehen erleide, stets ist das Erleiden unmittelbar lokalisiert. Spüre ich ein Kitzeln oder eine Gänsehaut, so fühle ich auch ein Widerstreben gegen das, was an den betreffenden Orten geschieht, und zwar als ein vergebliches Sich-Wehren, eben als frustrierter Widerstand, und darin fühle ich mich pathisch wach. Sind Empfindungen geradezu durch ihre unmittelbare Lokalisierung charakterisiert, so kann das nicht ohne Bedeutung für die Weise sein, wie sie uns betreffen. Wie unterschiedlich sie auch immer erlitten sein mögen, sie betreffen uns immer an einem unmittelbar bestimmten Ort. Dann stellt sich die Frage, was denn dabei betroffen wird. Man möchte sagen, es sei der Leib, aber das führt uns nicht weiter, wie sich am Beispiel von Schmerzen zeigen lässt. Buytendijk sieht im Schmerz ein »umgrenztes GetroffenSein« 201, zu dem eine »diffuse Fluchtreaktion« gehört, die aber erfolglos bleiben muss, da man sich vom eigenen Leib nicht distanzieren kann. 202 Für Grüny ist die Negativität oder Widrigkeit des Schmerzes das Merkmal, welches am unmittelbarsten einleuchtet. 203 Die Hand, die aus Versehen die heiße Herdplatte berührt, zieht sich zurück, noch bevor der Schmerz als solcher gefühlt wird. Geschieht das Zurückziehen zu langsam, so dass die Hand verletzt wird, beginnt es zu schmerzen, aber die Bewegung des Zurückweichens bleibt erhalten

Ich lehne mich hier an Schmitz an, der relative Orte, die durch Lage- und Abstandsbeziehungen bestimmt sind, von absoluten Orten unterscheidet, die sich als primitive Gegenwart von einem Hintergrund der Weite abheben. (H. Schmitz: System der Philosophie II, 1. Der Leib, Bonn 1965, S. 207 f.) 200 Hua IV, S. 151. 201 Buytendijk, a. a. O., S. 22. 202 Ebd., S. 25 203 Grüny, a. a. O., S. 28. 199

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und wird zu einer inneren Abwehr internalisiert. 204 Grüny übernimmt von Buytendijk den Begriff des Getroffenwerdens und fasst den Schmerz als ein zeitlich erstrecktes Geschehen, das vom Getroffenwerden ausgeht und dieses mit der vergeblichen Rückzugsbewegung verbindet. 205 Abgesehen vom Schmerzausdruck ist der Schmerz »das, wozu sich das Wovon des Rückzugs bzw. Zurückgestoßenwerdens verdichtet hat« 206. In dieser Bestimmung gilt die Rückzugsbewegung (wie schon bei Buytendijk) als eine Reaktion auf den Schmerz, was voraussetzt, dass der Schmerz empfunden wird. Bereits zuvor muss es etwas geben, das getroffen wird, und das scheint zunächst nichts anderes zu sein als der im Getroffenwerden unmittelbar leiblich verspürte Ort. Dieser Ort hat das Eigentümliche, nicht vorhanden zu sein in der Weise irgendeines Dinges. Da es einen unmittelbar lokalisierten Ort nur gibt, wenn er verspürt wird (hier gilt wirklich esse est percipi), besteht er nicht unabhängig von seinem Verspürtwerden, dann kann er auch nicht das sein, was getroffen wird, sondern müsste eher als Resultat, denn als Voraussetzung solchen Getroffenwerdens gelten. Empfinden wir über längere Zeit chronische Schmerzen, so verschwinden diese während des Schlafs und tauchen wieder auf, wenn wir erwachen. Ihr Auftauchen fällt aber nicht immer mit dem Erwachen zusammen. Nicht selten können wir beim Aufwachen spüren, wie die Schmerzen erst allmählich wiederkehren, was kaum anders gedeutet werden kann als so, dass wir schon in gewisser Weise wach sind, bevor wir sie wieder spüren. Was ist es dann, was örtlich betroffen wird und gewissermaßen die Bereitschaft bildet zu solchem Getroffenwerden? Der Ort kann es nicht sein, denn der konstituiert sich erst im Getroffenwerden. Vielleicht möchte man sagen, es sei der Leib, doch wenn wir Husserl folgen, gilt von ihm dasselbe: »Der Leib kann sich als solcher ursprünglich nur konstituieren in der Taktilität und allem, was sich mit den Tastempfindungen lokalisiert, wie Wärme, Kälte, Schmerz u. dgl.« Eine wichtige Rolle kommt dabei den Bewegungsempfindungen zu. 207 Letztlich bleibt uns nur der Rückgriff auf den Taumel und die Angst vor seiner Wiederkehr. Wird diese Angst auf eine Weise erfüllt, in der wir uns unmittelbar örtlich betroffen fühlen, wird die Empfindung 204 205 206 207

Ebd. Ebd., S. 31. Ebd., S. 131. Hua IV, S. 150 f.

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Pathisches Wachsein

bewusst. Das Wachsein im Aufwachen bevor der Schmerz wieder einsetzt, dürfte mit der anfänglichen, noch undifferenzierten Furcht vor der Wiederkehr des Taumels zusammenfallen. Wir kommen zum Resultat, dass alles Betroffensein durch Empfindungen unmittelbar lokalisiert ist und umgekehrt: Alles, was wir unmittelbar lokalisiert verspüren, ist Empfindung oder Empfindnis und gehört zu unserem unmittelbar verspürten Leib. Dadurch ist der Modus des Wachseins im Empfinden bestimmt. Das heißt nicht, dass sich die Qualität des Betroffenseins in der Weise, wie sie lokalisiert ist, erschöpft. Ein Schmerz, den wir erleiden, betrifft uns so, wie er schmerzt, stechend oder klopfend oder noch in anderer Weise, und er betrifft uns mehr als zuvor, wenn sich das Stechen oder Klopfen verstärkt. Ein stechender Schmerz betrifft uns anders als einer, der klopft oder brennt oder stumpf ist, und wieder anders als die Kälte des Wassers, wenn wir hineinspringen. Das Betroffensein durch Empfindungen ist immer bestimmt, aber immer auch unmittelbar lokalisiert. Die Furcht, betroffen zu werden, ist meist unbestimmter. Bestimmt ist sie nur bei extrem starker Betroffenheit, normalerweise fürchten wir nur, durch etwas betroffen zu werden, das unmittelbar lokalisiert zu verspüren ist, und das ist eine Furcht, die von jeder Empfindung erfüllt wird.

2.2

Pathisches Wahrnehmen

Wenn im Folgenden von Wahrnehmen die Rede ist, geht es mir um die rein pathischen Anteile desselben, d. h. um das, was sich in seiner sinnlichen Fülle von sich her zeigt. Von allem, was wir selbst dazutun, wollen wir absehen, also von allem Vergleichen und Urteilen, auch Erinnerungen und Phantasien wollen wir fernhalten, ebenso Gedanken und Vorstellungen, die sich pathisch, also von selbst einstellen. Normalerweise ist das, was wir wahrnehmen, immer schon mit meinenden und urteilenden Intentionen durchsetzt. All das zählt nicht, wenn es darum geht, die für ein bloß sinnliches Bewusstsein charakteristische Weise des Betroffenseins herauszuarbeiten. Solch bloßes Wahrnehmen ist wohl am ehesten in einer ästhetischen Einstellung zu gewinnen, in der es uns nicht darauf ankommt, was etwas ist, sondern wie es auf uns wirkt. Ohne wachen Leib können wir nicht wahrnehmen, da zu ihm die Sinnesorgane gehören und die Fähigkeit, sich zu bewegen. Dabei 150 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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stellt sich die Frage, ob wir wahrnehmend auf dieselbe oder auf eine andere Weise wach sind als im Empfinden. Eine lange Tradition, welche das Wahrnehmen auf Sinnesempfindungen (impressions) zurückgeführt hat, lässt das Erste vermuten, die Phänomene sprechen für das Zweite. Was wir wahrnehmen, sind intentionale Gegenstände, was wir empfinden, nicht. Daher kann das Wahrgenommene nicht empfunden und damit auch nicht unmittelbar lokalisiert sein. 208 Im Wahrnehmen empfinden wir nicht, das Empfinden muss vielmehr verschwinden und dem Wahrnehmen Platz machen. Berühren wir mit der Hand einen Gegenstand, so spüren wir Berührungsempfindungen in den Fingern. Bewegen wir die Finger und die ganze Hand, tasten wir den Gegenstand ab, gehen die Empfindungen verloren und wir nehmen einen Gegenstand wahr. 209 Umgekehrt ist das Empfundene nicht intentional und schon darum nicht in unterschiedlichen Erscheinungen gegeben. Dies gilt für den ganzen Leib als Empfindungsfeld und damit als Feld unmittelbar lokalisierter Örtlichkeiten. 210 Was wir als unseren physischen Körper wahrnehmen, ist nicht unser Leib, weil es an ihm als wahrgenommenen nur relative Orte gibt und keine, die unmittelbar verspürt werden. Gewiss sind beide nicht beziehungslos, was sich schon daran zeigt, dass es uns nicht selten gelingt anzugeben, an welcher Körperstelle wir Schmerzen empfinden. Der Leib selbst jedoch lässt sich nicht wahrnehmen. »Ich beobachte äußere Gegenstände mit meinem Leib, hantiere mit ihnen, betrachte sie, gehe um sie herum, doch meinen Leib selbst beobachte ich nie«, erklärt Merleau-Ponty und fährt fort: »um dazu imstande zu sein, brauchte ich einen zweiten Leib, der wiederum seinerseits nicht beobachtbar wäre.« 211 Ich kann zwar Teile meines Körpers sehen, aber meinen sehenden Leib sehe ich nicht, er befindet sich nicht unter den gesehenen Dingen, sondern »meinerseits, diesseits von allem Sehen.« Ebenso wenig ist der Leib ertastbar: »wenn ich auch mit der linken Hand meine rechte befassen kann, indessen diese selbst einen Gegenstand berührt, so ist doch die rechte Hand als der Gegenstand nicht die rechte Hand als Berührende« 212. Die eine ist das »auf einen Raumpunkt festgelegte Gebilde von Knochen, Muskeln und Fleisch, nicht

208 209 210 211 212

Siehe Hua IV, S. 153. Siehe oben S. 77. Zum Begriff des unmittelbaren Ortes siehe oben S. 147. Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O., S. 116. Ebd., S. 117.

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aber die schwebend den Raum durchstoßende, einen äußeren Gegenstand an seinem Ort berührend entdeckende Hand.« 213 Der »fungierende«, sehende oder tastende Leib, kann nicht wieder gesehen oder getastet werden. Er ist nicht wahrnehmbar und damit auch nicht in unterschiedlichen Perspektiven gegeben. Die Dinge erscheinen mir perspektivisch, weil mein Leib nicht perspektivisch erscheint. Alles, was ich sehe, erscheint als von meinem Leib aus gesehen, es befindet sich rechts oder links, nahe oder ferne, oben oder unten. Der Leib trägt, wie wir schon wissen, »den Nullpunkt all dieser Orientierungen in sich«. 214 Dies mag genügen, um deutlich zu machen, dass sich das Wahrgenommene vom Empfundenen grundlegend unterscheidet, so dass wir annehmen dürfen, die Weise, wie uns Wahrgenommenes betrifft, habe nichts mit der gemeinsam, wie uns Empfundenes betrifft. Folgen wir Merleau-Ponty (und der Gestalttheorie), so kann man dann von Wahrnehmung sprechen, wenn in einem Feld sich eine Figur von einem Hintergrund abhebt. 215 Das gehört zu jeder Wahrnehmung, aber nicht nur zu ihr, wir finden das auch im Bildbewusstsein, in einer visuellen Phantasie oder einer Erinnerung. Der Wahrnehmung muss etwas zukommen, was diesen abgeht. Sitzen wir mit geschlossenen Augen auf einem Stuhl und öffnen sie, so mag uns einer der nächstgelegenen Gegenstände in die Augen springen. Dieser steht in voller Aufmerksamkeit da, während anderes um ihn herum nur nebenbei bewusst ist. Dies nebenbei Bewusste zieht bald auch mehr oder weniger die Aufmerksamkeit auf sich, es lockt sozusagen aus dem Hintergrund. Das ganze Sehfeld gibt sich als ein Feld von Verlockungen, denen der Blick ständig ausgesetzt ist. Nicht nur das lockt, was bei einem aufmerksam bewussten Ding nur nebenher gesehen ist, auch die Teile des Dinges locken, selbst jene, die (noch) nicht wahrgenommen sind. Jedes wahrgenommene Ding ist von einer unaufhebbaren Unvollständigkeit. Keines kann sich von allen Seiten zugleich zeigen, immer bleibt etwas verdeckt, das zwar auch erscheinen kann, aber nur um den Preis, dass andere Teile verdeckt werden. Wahrnehmend haben wir jedoch nicht nur das bewusst, was wir jeweils sehen, tasten oder hören, sondern auch solches, das wir nicht wirklich wahrnehmen, sondern bloß leer, unanschaulich 213 214 215

Ebd. Hua IV, S. 158. Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O., S. 22.

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mitmeinen. Sehen wir ein Ding von vorne, so erwarten wir, dass es eine Rückseite habe, auch wenn wir sie uns nie zuvor vor die Augen gekommen ist. Und nicht nur dies: Wir erwarten auch, dass ihr gewisse Eigenschaften zukommen, diese oder jene Form und Farbe, dass sie rau oder glatt, hart oder weich, vielleicht biegsam und klebrig sei. 216 Jede Dingwahrnehmung ist voll von Verweisungen auf solches, das nicht wirklich wahrgenommen, aber doch wahrzunehmen ist, wenn nur die Aufmerksamkeit darauf gerichtet wird, wenn wir nur dazu gebracht werden, uns anzunähern, das Ding zu drehen, zu wenden oder um es herum zu gehen. Und warum geschieht dies? Nicht nur aufgrund unserer Wissbegierde, sondern weil auch das nicht Wahrgenommene, bloß leer Vermeinte lockt. Es fordert eine Vielzahl kinästhetischer Bewegungen, in denen sich das gibt, was wir anfänglich nur unvollständig bewusst haben. Es sind ähnliche Forderungen, wie jene, die sich stellen, wenn wir etwas erkennen wollen: Sehen wir von weitem einen Baum, so mag gewiss sein, dass es sich um einen Baum handelt, aber nicht, um was für einen. Dazu müssen wir näher herangehen und die Form der Krone beachten, ebenso die der Äste und der Blätter. Dann können wir sagen, es ist eine Esche, und zwar eine, welche diese oder jene Besonderheiten aufweist. Das Erkennen von Wahrgenommenem beginnt mit Allgemeinem, erst die weitere Untersuchung, zu der das Wahrgenommene herausfordert, führt zu den besonderen Bestimmtheiten, welche das jeweilige Ding kennzeichnen. Doch schon bevor wir etwas erkennen, lockt die Welt des Wahrgenommen, an dieser oder jener Stelle doch genauer hinzusehen oder hinzuhören, was es denn sei, was da im Dickicht blinkt und lärmt. Nicht die Dinge locken, denn ein Bewusstsein von Dingen entsteht erst, nachdem wir angelockt wurden. Das Locken ist hier das Erste, und es fragt sich, ob es nicht auch noch dem Anziehen bzw. Abstoßen der Aufmerksamkeit 217 vorhergeht. Auch gibt es ohne Zweifel Unterschiede des Lockens. Bekanntes lockt nicht mehr im selben Maß wie Fremdes und Unbekanntes. Was lockt, dem wendet sich die Aufmerksamkeit zu. Solches Aufmerken ist nicht schon ein Bemerken eines erfassbaren und be216 Wir sehen nicht nur Farben und Formen, sondern auch viele andere Eigenschaften der Dinge. Siehe dazu die immer noch lesenswerte Dissertation von Wilhelm Schapp: Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, Frankfurt a. M. 42004, insbes. S. 19 ff. 217 Vgl. B. Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a. M. 2004, S. 99.

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merkbaren Gegenstands. Wenn mir etwas auffällt, widerfährt es mir, bevor ich dazu komme, es zu deuten. 218 Dies Auffallen und Aufmerken fern aller Deutung ist pathische Aufmerksamkeit. Was mir derart auffällt, dem kann ich mich nicht entziehen, ich muss ihm folgen, ich kann nicht anders. Keineswegs vermag ich mich der Zuwendung enthalten oder sie etwas anderem schenken. Das Lockende bemächtigt sich meiner und ich muss nachgeben. Pathisches Wahrnehmen ist durch pathische Aufmerksamkeit gekennzeichnet. Was sich aus einer Umgebung heraushebt, lockt und lässt mich aufmerken. Ein Geräusch hebt sich gegen die Stille ab, ein Bewegendes gegen das, was ruht. Zumeist sind es solche oder ähnliche Kontraste, welche die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, was einen Prozess der Kenntnisnahme auslöst: Was lockt, ist nicht schon im ersten Moment wahrgenommen, erst wenn weiteres Locken sich anschließt, das eine Richtung vorgibt, vermag die kinästhetische Bewegung des Leibes zu folgen, worauf in der Abfolge der Verlockungen ein Ding erscheint. Der Blick, das Hinhorchen, die Bewegung der Finger, ein Schnuppern vielleicht, folgt dem, was nacheinander lockt. Das führt zur Ansicht eines Dinges, zum Hören oder Riechen von etwas, zum Ertasten einer Gestalt. Das Auffallen selbst ist kein nur kognitives Geschehen, es ist trieb- und interessegebunden, somit stets auch affektiv besetzt. 219 Solche Besetzung kann jedoch nicht als charakteristische Eigenschaft des Wahrnehmens gelten, da alles Bewusste fast ausnahmslos affektiv besetzt ist. Typisch für das pathische Wahrnehmen ist vielmehr, dass die Initiative dazu von dem ausgeht, was lockt. Das Betroffensein im Angelocktwerden bestimmt den Modus des Wachseins im pathischen Wahrnehmen. Was lockt, wird zur Erscheinung von etwas, sobald Weiteres lockt, das auf anderes verweist, das gleichfalls lockt. 220 Die Erscheinung verweist auf ein Ding, dessen Erscheinung sie ist, und auf weitere mögliche Erscheinungen desselben Dinges. So fügt sie sich einem intentionalen Bewusstsein ein. Der Gegenstand, der uns betrifft, betrifft uns durch die Erscheinungen, in denen er erscheint. Wie fühlen wir uns in einem Ablauf von Erscheinungen eines Dinges betroffen? Ich erleide nicht nur das Angelocktwerden, sondern auch das, was in den hervorgelockten kinästhetischen Bewegungen des Leibes, seien es auch nur kaum merk218 219 220

Ebd. S. 66 f. Ebd., S. 71. Vgl. Hua XI, S. 7.

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liche Augenbewegungen, erscheint, auch wenn dieses Erscheinen zumeist nicht thematisch ist. Was erscheint, hat zuvor gelockt. Die Erscheinung ist ein Widerfahrnis, das in die geschehende Bewegung des Leibes aufgenommen wurde. Aber diese Bewegung ist nicht zufällig, sie folgt dem, was lockt, und seinen Verweisungen, so dass das Erscheinen einen Zusammenhang von Lockungen bildet, in dem etwas erscheint. Dieses ist nicht eine Summe von dem, was lockt; es ist eine Gestalt, eine Melodie, ein Gegenstand und damit eine Anordnung, die Sinn hat. Diese betrifft mich wie etwas, das lockt, aber nicht wie ein vereinzeltes, isoliertes Locken, sondern als ein sinnvolles Nacheinander von Lockungen. Ich fühle mich angelockt und muss weiteren Lockungen folgen. Was erscheint, bildet ein Wahrnehmungsfeld von Dingerscheinungen und vereinzelten Lockungen. Die Erscheinungen locken auch, nur locken sie im Zusammenhang und nicht vereinzelt. Nun fragt sich aber doch: Hat nicht auch das Erinnerte oder Phantasierte seine Horizonte, die nur implizit bewusst sind, und lockt, was in ihnen hintergründig bewusst ist, nicht auch und lenkt die Aufmerksamkeit auf sich? Sicherlich ist das aufmerksam Erinnerte voll von Verweisungen auf solches, das auch noch explizit zu erinnern wäre. Im Phantasierten sind Horizonte allenfalls angedeutet als etwas, das man weiter phantasieren könnte, aber sie sind nicht schon irgendwie vermeint, so dass sie nur explizit zu machen wären. Da gibt es gar nichts, das locken könnte. Auch was zum Horizont der Erinnerung gehört, lockt nicht im gleichen Sinne wie Wahrgenommenes. Wie alles Erinnerte sind auch sie vergegenwärtigt und erscheinen, wenn wir ihnen nachgehen, als Erinnertes. Was wir wahrnehmen ist nicht nur Korrelat unseres Bewusstseins, sondern tritt uns als ein eigenständig Seiendes gegenüber. Der Glaube, dass das Wahrgenommene existiert, hat ein fundamentum in re: In der Weise wie Wahrgenommenes lockt, gibt es sich als eigenständig Seiendes kund. Das schließt Täuschung nicht aus, denn darüber, ob etwas so sei, wie es erscheint, und als das, als was wir es auffassen, ist mit dem bloßen Locken noch nichts ausgemacht. Aber was wir wahrnehmen beruht letztlich auf etwas, das lockt, und was derart lockt, ist in einem ursprünglichen Sinne Natur, noch unabhängig von unseren Objektivierungen, intentionalen Bezügen und Urteilen. 221

221

Vgl. Kunz, Die eine Welt und die Weisen des In-der-Welt-seins, a. a. O., S. 73.

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2.3

Pathisches Vergegenwärtigen

Husserl verstand Vergegenwärtigung als ein reproduktiv modifiziertes Gegenwartsbewusstsein. 222 Damit unterscheidet sie sich nicht nur vom Wahrnehmen, sondern auch vom eigentlichen Bildbewusstsein, in dem ein wahrgenommener Gegenstand als Abbild von etwas anderem fungiert. Eine Vergegenwärtigung ist nicht nur Bewusstsein eines Gegenstandes, sondern reproduktives Bewusstsein der Wahrnehmung eines Gegenstandes. In der Wiedererinnerung ist mir ein Gegenstand so bewusst, wie ich ihn wahrgenommen habe, in der Erwartung so, wie ich ihn vermutlich wahrnehmen werde, in der Phantasie so, wie ich ihn wahrnehmen könnte. Denken wir zunächst an pathische Phantasievorstellungen, in denen uns etwas vorschwebt, ohne als seiend gesetzt zu sein. Es mag sich um vereinzelte Einfälle oder zusammenhängende Phantasien handeln, wie wenn sich Bilder einstellen, die in ihrer Abfolge eine Geschichte erzählen. Stellen wir uns etwas visuell vor, so stellen wir es uns so vor, wie es von einem bestimmten Standort aus gesehen würde. Doch nehmen wir es nicht wahr, die Gegenstände sind nicht wirklich präsent, obschon sie vor uns stehen, als ob sie wahrgenommen würden. Jedes wahrgenommene Ding enthält eine Unzahl von Verweisungen auf Anderes und Weiteres, das lockt, um auch noch bemerkt zu werden. In der Vorstellung dagegen lockt nichts. Nur in setzender Phantasie, wenn ich etwas erinnere oder mir etwas vorstelle, das es wirklich gibt, kommt ein Zug des Lockens hinzu, der sich in Fragen von der Art »da war doch noch etwas«, »was war denn das bloß?« äußern kann. Aber im Vergleich zum Wahrnehmen ist das schon intellektuell überformt und kein wirkliches affektives Locken. Wir werden nicht aufgefordert, auf dieses oder jenes zu achten, es drängt sich vielmehr zunehmend auf. Als reproduktives Bewusstsein ist das Vergegenwärtigen kein aktuelles Gegenwartsbewusstsein, obschon es sich mehr oder weniger einem solchen angleichen kann. Ich kann einen vergangenen Vorgang genau so erinnern, wie er sich abgespielt hat, und doch findet kein ursprüngliches Zeitigen mehr statt. Ich kann ihn, wenn ich will, auch rückwärts, entgegengesetzt zum ursprünglichen Zeitverlauf, erinnern, aber nur, wenn ich wollen kann, und das kann ich nur, wenn ich entsprechend wach bin. Im pathischen Vergegenwärtigen kann ich 222

Hua XXIII; S. 266.

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gar nichts wollen, auch nicht das Vergegenwärtigte als identischen Gegenstand festhalten. Wenn es identische Gegenstände gibt, dann liegt das allein am Geschehenscharakter des pathischen Vorstellens, denn in ihm erscheint alles, wie es eben erscheint. Gegenstände können sich verändern oder zugleich noch andere Gegenstände sein, wie die »Verdichtungen« Freuds. Gewiss gibt es auch fest gefügte bildliche Vorstellungen, die sich mit klaren Konturen und satten Farben plastisch darstellen, doch bilden sie eher die Ausnahme, und der Verdacht drängt sich auf, in solchen Fällen sei denn doch schon ein willentliches Festhalten im Spiel und der Bereich des Pathischen verlassen. Was nun das pathische Erinnern betrifft, geschieht es nicht selten, dass uns ungewollt und unerwartet Erinnerungen einfallen, meist angeregt durch eine gegenwärtige Begebenheit. Dazu gehört das Phänomen des »etwas erinnert an etwas«, das uns noch beschäftigen wird. 223 Erinnerungen, die uns spontan einfallen, betreffen uns zumeist nicht nur durch ihr ungewolltes Auftauchen. Sie drängen sich nicht selten auch gegen unseren Willen auf und lenken uns von anderen Beschäftigungen ab, können aber inhaltlich mehr oder weniger treue Wiedergaben des Vergangenen sein. In dieser Hinsicht kommt dem Phantasieren größere Freiheit zu als dem Erinnern. Husserl glaubte, es könne sich in Klarheit und Deutlichkeit dem Wahrgenommenen annähern, bleibe aber meist sowohl hinsichtlich Farbe und Form unbestimmt und veränderlich: »Die Phantasieobjekte erscheinen wie leere Schemen, durchsichtig, blass, mit ganz ungesättigten Farben, mit mangelhafter Plastik, oft nur vagen und schwankenden Konturen, ausgefüllt mit einem je ne sais quoi, oder eigentlich mit nichts ausgefüllt, mit nichts, was dem Erscheinenden als begrenzende, so und so gefärbte Fläche zugedeutet würde. Proteusartig ändert sich die Erscheinung, da blitzt etwas wie Farbe und plastische Form auf, und schon ist es wieder weg, und die Farbe, auch wo sie aufblitzt, hat etwas eigentümlich Leeres, Ungesättigten, Kraftloses; und ähnlich die Form etwas so Vages, Schattenhaftes, dass uns nicht einfallen könnte, dergleichen in die Sphäre aktueller Wahrnehmung und Bildlichkeit hineinzusetzen.« 224

Jede Vergegenwärtigung ist ein Bewusstsein von etwas nicht Gegenwärtigem, nicht Wirklichem, ein reproduktives Bewusstsein eines vergangenen oder möglichen Bewusstseins von etwas. Fragen wir 223 224

Siehe unten S. 332ff. Hua XXIII, S. 59.

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Pathisches Wachsein

uns, was es denn sei, was uns da betroffen macht, so kann es nicht der intentionale Inhalt allein sein, denn als nicht-wirklich und damit fiktiv charakterisiert, kann uns dieser nicht wirklich und gegenwärtig betreffen. Es ist, als ob mich die Ohrwurmmelodie betreffen würde, die mich nicht loslässt, aber das ist Schein; was mich betrifft, ist die Vergegenwärtigung der Melodie. Es muss das wirklich gegenwärtige Erlebnis des Vergegenwärtigens sein, das uns betrifft, und das kann nur das Vergegenwärtigen selbst sein, natürlich immer als Bewusstsein von etwas Nicht-Gegenwärtigem. Vergleichen wir das Vergegenwärtigen mit dem Wahrnehmen, so erfahren wir in diesem allmählich, was oder wie etwas ist. Was lockt, wird nach und nach in seinen unterschiedlichen Aspekten bewusst. Das Erfahren ist auch dann ein Prozess, wenn das, was wir erfahren, kein Prozess ist, sondern relativ unveränderlich bleibt. Auch das Erinnern ist ein Prozess, nur nicht einer des Erfahrens, sondern einer der Reproduktion früheren Erfahrens und, soweit es pathisch ist, einer, den wir nicht machen, sondern der uns geschieht. Das Erinnern muss nicht dem Prozess der vergangenen Erfahrung nachfolgen, es kann an beliebigen Stellen dieses Prozesses einsetzen und vorwärts oder rückwärts verlaufen. Dabei folgt es den Verweisungen auf das, was da sonst noch war. Die Seiten, die wir erinnern, haben wir erfahren, die, welche wir nicht erfahren haben, können wir kaum mehr erinnern. Auch im Phantasieren gibt es nichts zu entdecken. Die noch ungesehenen Seiten, wie das je zukünftige Geschehen, werden laufend dazu phantasiert. Es wird nicht etwas erfahren, das es gibt, sondern etwas dargestellt, das es nicht gibt, aber geben könnte. Es geht nicht darum, etwas zu ergründen, denn präsent wird nur, was schon mehr oder weniger bekannt ist. Es wird nicht etwas erfahren, sondern Möglichkeiten entworfen, wie etwas sein könnte, und allenfalls wieder verworfen. Dabei entwerfe ich nicht aktiv, das Phantasieren geschieht mir, es fällt mir ein und steht für mich so fest, wie es mir einfällt. Dieses Festgefügte, dieser Charakter des Abgeschlossenseins, ist nicht nur für das pathische Erinnern, sondern auch für das pathische Phantasieren typisch, weil in beiden nicht etwas wirklich erfahren wird, sondern sich ein (vergangenes oder mögliches) Erfahren reproduziert. Eignet dem pathischen Wahrnehmen Prozesscharakter, weil ich in ihm etwas erfahre, auch wenn es eine Erfahrung ist, die mir geschieht, so ist das pathische Vergegenwärtigen etwas Fertiges, das mir zufällt. Es gibt hier kein Bemühen, etwas Stück für Stück zu er158 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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innern, sondern bloß ein Aneinanderreihen von Einfällen. Gleichgültig, ob wir in einem Tagtraum aufgehen oder ob uns einzelne Vorstellungen betreffen, die sich festsetzen, oder nur vorübergehend berühren: Es betrifft uns als Wiedergabe, sei es von etwas, das wir schon erfahren haben, oder von etwas, das wir erfahren könnten. Auch das pathische Wahrnehmen ist geschehend, aber auf andere Weise, nämlich so, dass sich nach und nach immer mehr und anderes von etwas zeigt, indem leer Mitgemeintes sich erfüllt und erfüllte Intentionen entleert werden. Ich bekomme mit, wie sich etwas in der Erfahrung entfaltet, auch wenn ich nicht aktiv daran mitwirke. Eben dies fehlt im Vergegenwärtigen. Achten wir auf unser Verhältnis zum Vorgestellten, so zeigt sich nicht, wie sich das Bewusstsein von etwas Seiendem entwickelt, vielmehr ist das, was bewusst wird, die Wiedergabe einer solchen Entwicklung. Aber wenn ein pathisches Erinnern ein vergangenes Wahrnehmen reproduziert, so muss sich im Verlauf dieser Reproduktion nicht der Verlauf des vergangenen Wahrnehmens wiederholen, weder im Sinne der Reihenfolge noch im Sinne der Vollständigkeit. Im Tagtraum, wie auch in sich fortsetzenden Einfällen, scheint zwar etwas zu entstehen, eine Geschichte, eine Melodie vielleicht; es scheint, wir erfahren da etwas, aber wir erfahren nicht wirklich, sondern nur gleichsam, so wie wir im Kino nicht wirklich sehen, sondern die Wiedergabe eines Sehens sehen, das nicht unseres ist. Es ist dieser Charakter des »Als-ob«, des »Gleichsam«, der dem Vergegenwärtigen den Stempel aufdrückt und im Betroffensein seinen Ausdruck findet. Es drängt sich etwas auf, als ob es erfahren würde. Da dieses Erfahren kein originäres, authentisches Erfahren und damit kein realer Bildungsprozess ist, sondern die Reproduktion eines solchen, kopiert es nur und ist als ein Kopieren endlos wiederholbar. Dies zeigt sich als Tendenz an der Ohrwurmmelodie, die sich in einer Weise aufdrängt, die einem Wiederholungszwang nahe kommt. Das gibt dem pathisch Vergegenwärtigten einen Zug ins Fade und Abgeschmackte, und wenn es wirklich zur Wiederholung kommt, ins Aufdringliche und zur Fixierung auf das, was sich aufdrängt. Andererseits können Einfälle auch flüchtig sein, nur vorüberhuschen, dann fehlt das Moment der Fixierung, aber nicht das des Fertigseins, das allem pathisch Vorgestellten zugesprochen werden muss, ganz im Gegensatz zu dem, was in aktueller Erfahrung bewusst wird. Wieder etwas anderes als Fixierung, Wiederholung und Flüchtigkeit zeigt sich, wenn der Ablauf von Vorstellungen da159 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

zu führt, dass wir uns selbst verlieren. Dies kommt vor allem im Tagträumen vor, das geradezu dadurch gekennzeichnet ist, dass wir darin völlig aufgehen können; ein Zug, der wahrscheinlich eng mit den Motiven zusammenhängt, die in diesen Bewusstseinszustand führen. Wenn es eine Gemeinsamkeit im Betroffensein durch Vergegenwärtigtes gibt, ist sie nicht auf den ersten Blick zu erfassen. Vielleicht hilft es, zwei Arten von pathischen Vorstellungen zu unterscheiden: solche, die isoliert auftreten (Einfälle), und solche, die einen Sinnzusammenhang ausbilden, eine Geschichte, die durch einen Ablauf von Bildern erzählt wird. So ist das Tagträumen vor allem durch das selbsterzeugende Fortlaufen einer Geschichte charakterisiert, die seine Eigenlebendigkeit ausmacht, nebst dem Zug des Sich-aufdrängens, der ihm nicht weniger zukommt als den sporadischen Einfällen. Eines drängt zum anderen fort, nicht selten sprunghaft, assoziativ und weitgehend unbekümmert um Logik und Realität. Dennoch träumen wir nicht wirklich, aber nicht, weil wir das Geschehen kontrollieren und lenken, sondern weil es als fiktiv bewusst ist, wenigstens so lange, als wir das Bewusstsein unserer Umgebung noch nicht ganz verloren haben. 225 Vereinzelte pathische Vorstellungen sind manchmal durch die Hartnäckigkeit gekennzeichnet, mit der sie sich aufdrängen, besonders wenn sie sich wiederholen (man denke an eine Ohrwurmmelodie); bei Abfolgen von Vorstellungen ist es die Geschichte, die uns in Bann schlägt und gefangen nimmt. Dies gilt nicht nur für Tagträume, sondern auch für das, was in einem Bild- oder Zeichenbewusstsein gegeben ist: Auch Lektüre kann fesseln oder ein Theaterstück, ein Film. Bildet sich eine Geschichte heraus, so werden wir durch die Folge von Vorstellungen in sie hineingezogen und gehen in ihr auf. Dies Aufgehen in dem, was sich aufdrängt, muss gleichfalls als typisch für das Betroffensein durch Vorstellungen gelten. Wir werden später das willentliche Sich-versenken in etwas als eine Möglichkeit absichtlichen Stellungnehmens kennen lernen. 226 Seine Entsprechung im pathischen Wachsein besteht darin, dass es uns vor aller Wahl in die Geschichte hineinzieht, wir gehen passiv darin auf, wie es 225 Vgl. etwa die folgende Definition eines Tagtraums: Unter einem prototypischen Tagtraum verstehen wir »einen durch innere oder äussere Reize unwillkürlich angeregten, nichtintentional gesteuerten Gedankenstrom, der in bildhaften Vorstellungen und/oder inneren Monologen eine alternative Realität konstruiert.« Th. A. Langens: Tagträume, Anliegen und Motivation, Göttingen usw. 2002, S. 8. 226 Siehe unten Kap. III, 5.1 Das Wachsein im absichtlichen Stellungnehmen.

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Die Weisen des Betroffenseins und die Modi pathischen Wachseins

sich besonders am Tagträumen zeigt. Bin ich ganz und gar der Geschichte hingegeben, die sich entfaltet, tritt alles andere in den Hintergrund. Anders als die Aufmerksamkeit kennt solches Vertiefen und Aufgehen in etwas keine Distanz. Wir verlieren uns im Ablauf der Vorstellungen und finden nur mit Mühe zu uns zurück. Das ist wie eine Art Taumel, und zwar einer, den vorwiegend Haltlosigkeit kennzeichnet. Gebunden an den Ablauf der Vorstellungen haben wir keine Möglichkeit, uns zu ihm zu verhalten, wir können uns nicht einmal, wie im Wahrnehmen, irgendwo darin verankern. Was geschieht, geschieht und fällt über uns her. Anders ist es bei vereinzelten Vorstellungen, die mir einfallen, seien es Erinnerungen oder Phantasien. Darunter gibt es solche, die leichtfüßig daherkommen und andere, die sich schwergewichtig festsetzen, wie die schon erwähnte Ohrwurmmelodie oder fixe Ideen und Zwangsvorstellungen, die hartnäckig andauern und sich nicht rasch durch andere Vorstellungen verdrängen lassen. Sie betreffen uns, indem sie uns gefangen nehmen, sich festsetzen und uns auf sich fixieren. Andere Vorstellungen berühren uns nur leicht, wie ein Hauch, ein Anflug und ziehen wieder weg. Hier ist das Sich-Festsetzen auf ein Minimum beschränkt. Manchmal fällt uns etwas ein, das wir für wichtig und in irgendeiner Hinsicht für interessant halten, aber kaum haben wir es bemerkt, ist es schon verflogen. Was lässt sich daraus für das Betroffensein und damit für den Modus des Wachseins im pathischen Vergegenwärtigen entnehmen? Wir müssen zwei Arten von Vergegenwärtigungen unterscheiden, welche uns in verschiedener Weise betreffen: isolierte Einfälle und zusammenhängende Geschichten. Dabei ist es gleichgültig, ob diese phantasiert oder erinnert sind. Von Einfällen fühlen wir uns dann besonders stark betroffen, wenn sie sich wiederholen, man denke an Zwangsvorstellungen oder Ohrwurmmelodien. Etwas drängt sich auf, bedrängt uns, setzt sich fest, fesselt sich an uns, klebt. Betrifft uns ein Einfall nur leichthin, flüchtig, berührt er uns kaum. Es fehlt dann die Tendenz, sich festzuklammern. Geht eine Vorstellung in die nächste über, so dass sich eine Geschichte herausbildet, so drängt sie sich gleichfalls auf, nun aber so, dass sie uns in sich hineinzieht und uns in sich aufgehen lässt. Man möchte sagen, sie bindet sich nicht an uns, sondern uns an sich. Was die einen Vorstellungen durch Wiederholung erreichen, erlangen die anderen durch Vergegenwärtigung eines Sinnzusammenhangs. Kommt es weder zur Ausbildung einer Geschichte noch zu 161 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

Wiederholungen, sondern bloß zu Fragmenten einer Geschichte oder vereinzelten Vorstellungen, dann haben wir es mit flüchtigen Vorstellungen zu tun, bei denen die Bindung auf ein Minimum beschränkt ist, so dass sie uns nur wenig betreffen. Typisch für das Betroffensein durch Vorstellungen ist nicht nur, dass sie sich uns wie von Außen aufdrängen, sondern auch, dass sie sich an uns oder uns an sich binden, und das mehr oder weniger.

2.4

Pathisches Denken

Was uns einfällt, sind oft nicht Vorstellungen, sondern Gedanken. Fällt mir ein, dass ich die Zähne putzen oder einen Regenschirm mitnehmen sollte, so stelle ich mir dabei nicht vor, wie ich die Zähne putze oder den Regenschirm bereit stelle, zumindest besteht dazu keine Notwendigkeit. Wir sagen dann gewöhnlich, wir denken uns das bloß. Damit ist schon ausgedrückt, dass wir mit diesem »bloßen Denken« etwas Unanschauliches meinen im Unterschied zu Erinnerungs- oder Phantasievorstellungen, die anschaulich sind oder es zumindest sein können. Dass sie es nicht immer sind, ist uns schon begegnet. So gibt es nicht nur im Verlauf des Wahrnehmens, sondern auch beim Vorstellen Leerintentionen, etwa als Vorerwartungen auf eben Kommendes. Hielten wir Gedanken lediglich für unanschauliche Vorstellungen, stünden wir vor der Frage, wie sie sich zu solchem verhalten, das gleichfalls der Anschaulichkeit entbehrt und sich doch von Vorstellungen unterscheidet. Ich denke an Urteile, die unanschaulich sind, aber im Gegensatz zu Vorstellungen wahr oder falsch sein können. Es gibt nicht nur Urteile, bei denen wir über Wahrheit oder Falschheit entscheiden, sondern auch solche, bei denen das Entscheiden von selbst, ohne unser Zutun geschieht. Solch pathische Urteile fanden wir implizit in Gefühlen, aber auch in so unzweifelhaft pathischen Bewusstseinserlebnissen wie den Träumen. Denken umfasst allerdings mehr als Urteilen, weil Gedanken auch fraglich oder zweifelhaft sein können, ohne dass über ihre Wahrheit schon entschieden wäre. Als ein geschehendes Denken unterscheidet sich das pathische Denken in vielerlei Hinsicht vom aktiven. Dennoch können wir es ein Denken nennen, weil die Gedanken dieses Denkens mit denen des aktiven Denkens das Merkmal gemeinsam haben, wahr oder falsch zu sein. Damit haben wir uns am aktiven Denken orientiert als einem, 162 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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bei dem die Frage, ob ein Gedanke wahr oder falsch sei, durch Abwägen von Gründen entschieden wird. Ein angemessener Begriff des Denkens lässt sich nur am aktiven Denken gewinnen, denn es gehört mit zum Begriff des Denkens, dass in ihm begriffen werde, was Denken sei. Das kann nur ein begründendes Denken leisten, und begründen können wir nur, wenn wir aktiv und damit willentlich denken können. Ein nur pathisches Denken kann dies nicht leisten, weil es nicht Gedanken zweckmäßig verknüpfen kann. Wir müssen daher etliche Anleihen beim aktiven Denken machen, die erst begründet werden können, wenn dieses zum Thema wird. Dies gilt nicht zuletzt für die Behauptung, Gedanken seien etwas, das durch die Eigenheit bestimmt ist, wahr oder falsch zu sein. 227 Wenn im Folgenden von »pathischem Denken« die Rede ist, so ist nicht ein Denken gemeint, das ich absichtlich vollziehe, sondern eines, das mir geschieht. Insofern kann man mit Lichtenberg sagen: »Es denkt in mir«. 228 Wollen wir untersuchen, in welcher Weise wir in diesem geschehenden Denken wach sind, müssen wir, wie bisher, von der Annahme ausgehen, wir seien gerade nur so weit wach, wie erforderlich ist, damit pathisches Denken bewusst verläuft. Auch wenn wir hellwach sind, können uns Gedanken einfallen, manchmal auch solche, die sich sinnvoll in den Zusammenhang einfügen. An sie kann unser aktives Denken anknüpfen, was nicht selten Entscheidendes zur Lösung eines Problems beiträgt, das uns gerade beschäftigt. Von solchen Vorkommnissen pathischen Denkens, die durch ein Wollen induziert sind, möchte ich hier absehen und mich auf jene beschränken, bei denen wir nicht in der Weise wach sind, dass wir wollen und absichtlich denken können. Frege folgend sind Gedanken das, was in einem Urteil als wahr anerkannt oder als falsch verworfen wird, wobei es gleichgültig ist, ob 227 Eine ausführliche Erörterung der Begriffe des Denkens und des Gedankens findet sich erst später, wenn es um das absichtliche Denken geht. Siehe unten Kap. III, 5. 5 Wachsein im absichtlichen Denken. 228 Lichtenberg hat dabei nicht nur das Denken im engeren Sinne vor Augen, sondern auch Vorstellungen und Empfindungen. Der volle Wortlaut der berühmten Passage lautet: »Wir werden uns gewisser Vorstellungen bewusst, die nicht von uns abhängen; andere glauben, wir wenigstens hingen von uns ab; wo ist die Grenze? Wir kennen nur allein die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt, es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, sobald man es durch Ich denke übersetzt. Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis.« G. Ch. Lichtenberg: Sudelbücher II, K 76, hg. von W. Promies, München 1991, S. 412.

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Pathisches Wachsein

es sich um pathische oder absichtlich erworbene Gedanken handelt. Diese Bestimmung kann uns als Kriterium dienen, um Gedanken von Wahrnehmungen und Vorstellungen zu unterscheiden, wie auch immer sie miteinander verflochten sein mögen. 229 »Als wahr anerkennen« hat im pathischen Denken allerdings nicht den gleichen Sinn wie im absichtlichen: Es ist kein Urteilsakt, nicht ein Entscheiden zwischen Wahrheit und Falschheit, sondern ein Entscheiden, das mir geschieht, das ich hinzuzunehmen habe. Wahrheit hat im pathischen Wachsein weit mehr die Bedeutung eines subjektiven Glaubens, eines Überzeugtseins, als einer Einsicht in Wahrheit in einem objektiven Sinn. So etwas wie objektive Geltung und Rechtfertigung dieser Geltung durch Beweise fällt ganz außer Betracht. Dieser Gegensatz zu Einsicht in die Wahrheit und ihre Begründung ist nicht ohne Bedeutung für die Weise, wie uns Gedanken betreffen. Nur aus ihm wird das Betroffensein durch Gedanken verständlich, was sich besonders am Urteilen zeigt. Ein pathisches Urteilen ist nicht ein Prozess, den wir vollziehen, sondern etwas, das geschieht: Das Anerkennen als wahr erfolgt fraglos und ohne jede Begründung auf geradezu zwanghafte Weise. Dies wird offenbar, sobald wir verfolgen, wie pathische Gedanken mit dem pathischen Wahrnehmen, Erinnern und Phantasieren verbunden sind. Wenn wir einstweilen von den Träumen absehen, zeigen sich pathische Gedanken als Einfälle und als Bestandstücke von Tagträumen. Meistens stellen wir in solchen Fällen das, was uns einfällt, nicht nur vor, sondern denken es auch, etwa als Gedanken über etwas Vergangenes, mehr oder weniger illustriert durch allerlei Erinnerungsbilder, die sich dazu einfinden. Es können uns auch Gedanken über Phantasiertes einfallen, die dann gleichfalls von visuellen Vorstellungen begleitet sein mögen. Weiten sich solche Einfälle zu Geschichten aus, so geraten wir ins Tagträumen. Auch hier schweben uns meist nicht allein Phantasiebilder vor, Gedanken kommen hinzu, die sich mit ihnen verbinden, und umgekehrt findet das Ausgedachte zu bildhafter Gestaltung. Dabei ist, wenn wir nur pathisch wach sind, kein willentliches, absichtliches Sich-Ausdenken im Spiel, sondern ein geschehendes Denken, das von selbst abläuft, ohne willentliche Eingriffe und unserer Kontrolle entzogen. Ähnlich, aber doch mehr durch Gewohnheit automatisiert, nimmt sich unser Denken über längst Bekanntes aus. Begegnet uns jedoch etwas Unbe229

Zum Verhältnis von Urteilen und Gedanken siehe unten S. 349.

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kanntes, so vollziehen wir ein absichtliches Urteil, das von der Frage ausgeht, was es sei, und über Erwägungen von Möglichkeiten schließlich zu einem Resultat kommt, das am besten mit dem, was wir sehen, übereinstimmt. Das ist ein aktives Urteilen. Im pathischen Denken fehlt dieses fragende und suchende Verhalten völlig. Es gibt kein eigenes Bemühen um Wahrheit, diese fällt uns gewissermaßen in den Schoß. So ist es bei vielen Dingen und Ereignissen, die uns tagtäglich begegnen. Da fliegt etwas vorbei und wir wissen sogleich, dass es eine Taube oder jedenfalls ein Vogel ist. Wir fassen das Erscheinende ohne jedes Bemühen als etwas auf, was auch meist hinreichend gut funktioniert. Erst wenn wir fehl gehen, halten wir inne und beginnen absichtlich zu überlegen, womit wir es denn da zu tun haben. In all diesen Fällen hat sich das Denken aufs engste mit dem Wahrgenommenen, Erinnerten oder Phantasierten verbunden. Insofern entpuppt sich die Annahme eines »bloßen« Wahrnehmens, Erinnerns oder Phantasierens, die ich bisher gemacht habe, als Abstraktion, wenn auch eine, die aus methodischen Gründen ihre Berechtigung hat. Mit seiner Intention auf Wahrheit bezieht sich das Denken auf Anschauliches, Wahrgenommenes, Erinnertes oder Phantasiertes, aber auch auf Unanschauliches, nicht zuletzt auch auf andere Gedanken. Dabei kann sich die logische Form pathischer Gedanken jener angleichen, die Gedanken höchst wacher Zustände auszeichnet. Beide enthalten Begriffe als identische Einheiten und sind selbst identisch. Beide kann man sprachlich durch die Form »dass p« bzw. »dass a F ist« ausdrücken, wobei a sprachlich für einen singulären Terminus, F für ein Prädikat steht. Damit ist auch darauf hingewiesen, dass dieses Denken in der Regel sprachlich verfasst ist. Wenn ich mich erinnere, dass der Mann, der mir gestern begegnet ist, einen schwarzen Filzhut trug, oder wenn ich phantasiere, dass ich nach einem Schiffbruch die Schöne aus den Fluten rette, so haben wir es meist mit solchen identischen Einheiten zu tun. Im absichtlichen Denken ist die Identität von Begriffen und Gedanken eine Forderung der Logik, aber das kümmert das pathische Denken wenig. Gehen wir davon aus, Gedanken seien Gebilde, die wahr oder falsch sein können, dann findet sich so etwas schon im Wahrnehmungs- und Gefühlsbewusstsein, aber da kann es nicht mit sich identisch sein, weil das bloße Wahrnehmen als ein Sinnliches ständig im Fluss ist und die Gefühle nicht weniger. Das prädikative Denken hat, wie Husserl gezeigt hat, seine Vorläufer im unmittelbaren sinnlichen 165 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

Bewusstsein. Achten wir auf das Wahrnehmen, finden wir selbst in seinen einfachsten Gestaltungen etwas dem Urteil Verwandtes. Auch wenn wir nicht wissen, was wir hören oder sehen, sind wir doch überzeugt, wenn wir ein Geräusch hören oder etwas vorüberhuschen sehen, dass da etwas ist. Nach Husserl gehört zu jeder normalen Wahrnehmung ein Wahrnehmungsglaube, durch den das, was erscheint, als seiend erscheint. 230 Wir halten das wahrnehmungsmäßig Gegebene in seinem ersten Erscheinen für wirklich, es gilt uns als gewiss seiend, und alle Zweifel und Fraglichkeiten stellen sich erst später und auf dem Boden dieser Gewissheit ein. Für Husserl gilt der Wahrnehmungsglaube als Urform der Glaubensweisen und sein Korrelat, der Seinscharakter schlechthin, als Urform aller Seinsmodalitäten, die sich stets auf diese zurück beziehen: So besagt »möglich« soviel wie »möglich seiend«, »wahrscheinlich«, »zweifelhaft«, »fraglich« soviel wie »wahrscheinlich, zweifelhaft, fraglich seiend«. 231 Er spricht deshalb von einem »Urglauben« oder einer »Urdoxa«, die allen ihren Abwandlungen zugrunde liegt. 232 Man muss allerdings von diesem Glauben an das Wirklichsein jeden Anspruch auf Objektivität und objektive Geltung fernhalten. Es ist eine nur momentane und nur subjektive Überzeugung. Dennoch ist es verlockend, Parallelen zum Urteil im Sinne der Logik zu ziehen, und auch nicht weiter irreführend, sofern man im Auge behält, dass dabei unter dem Etikett »Urteil« sehr Verschiedenes zur Sprache kommt. Husserl hat dies nicht immer gebührend berücksichtigt und ist immer wieder der Versuchung erlegen, dem gegenwärtigenden Bewusstsein einen identischen Sinn unterzuschieben. 233 Von Objektivität kann bei den vorprädikativen Urteilen des Wahrnehmens schon darum nicht die Rede sein, weil das, was in ihnen als seiend geglaubt wird, kein Gegenstand in einem objektiven Sinne ist. Im Fluss des Gegenwärtigens kann sich keine Objektivität aufbauen, dieser Fluss ist subjektiv. Alles fließt, ohne dass sich ein Bewusstsein von Dauer herausbildet. Wohl kann ich etwas als seiend vermeinen, aber dieser Glaube an das Wirklichsein gilt nur für mich und reicht über die Dauer des Glaubens nicht hinaus. Im Übrigen hält Husserl daran fest, dass »der spezifische, die 230 231 232 233

Hua III/1, S. 239. Ebd., S. 240. Ebd., S. 242. Siehe dazu Kern, a. a. O., § 35 »Husserl im Banne des Intellektualismus«.

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Logik der Theorie beherrschende Urteilsbegriff im Rahmen der bloßen Wahrnehmung noch gar nicht auftritt«, und er fährt gleich fort: »aber die Modalitäten treten hier eben auf, welche die Wahrnehmung nicht aus zufälligen Gründen mit dem Urteil gemein hat.« 234 Auch wenn wir nur mit den erwähnten Vorbehalten beim Wahrnehmen von einem Urteilen (und von Wahrheit) sprechen können, hindert uns nichts, seiner Auffassung von der Modalisierung der unmittelbaren Wahrnehmungsgewissheit zu folgen und sie für das Verständnis des pathischen Denkens zu nutzen. In jeder Wahrnehmungsphase finden sich protentionale Erwartungen, die sich auf das beziehen, was im Verlauf des Wahrnehmens soeben zur Gegebenheit kommen wird. 235 Erfüllen sich diese Erwartungsintentionen stetig, wird der Gegenstand fortlaufend näher bestimmt, er steht dann »in schlichter Glaubensgewissheit als seiend und so seiend vor uns.« 236 Solange wir mit diesem »so seiend« nicht begriffliche Bestimmtheit verbinden, sondern nur an das denken, was zu einem bestimmten Zeitpunkt angeschaut, gehört oder ertastet wird, sind wir auf gutem Weg. Eine erste Modalisierung dieser Glaubensgewissheit ergibt sich durch Enttäuschung. Von ihr war schon oben die Rede. 237 Sie entsteht, wenn ein neuer Glaube und damit eine neue pathische Wahrheit auftreten, die im Widerspruch zur alten stehen. Ich erinnere an Husserls Beispiel: Es wird eine gleichmäßig rote Kugel gesehen, und diese Auffassung, gleichmäßig rot und kugelförmig zu sein, bestätigt sich in einstimmiger Erfüllung. Nun kommt die Rückseite zur Ansicht, und es zeigt sich, sie ist nicht rot, sondern grün, nicht kugelförmig, sondern eingebeult. 238 Anstelle des Erwarteten tritt etwas anderes auf. Ein Wahrnehmungsglaube wird enttäuscht, wenn ein anderer seine Stelle einnimmt. Dies führt zum Widerstreit unterschiedlicher Intentionen, es streitet Glaube mit Glaube, Glaube des einen Sinngehalts und Anschauungsmodus mit dem eines andern Gehalts und Anschauungsmodus. Dabei bleibt der alte Sinn noch bewusst, aber aufgehoben und durchgestrichen. 239 Immer ist es die »urimpressionale Erfüllungskraft«, die »Gewissheit in Urkraft, die die Vorerwar-

234 235 236 237 238 239

Hua XI, S. 29. Husserl, EU, S. 94. Ebd. Siehe S. 69. Hua XI, S. 29. Ebd., S. 31.

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tungsgewissheit […] überwältigt.« 240 Die Negation der alten Erwartungen und damit des alten Glaubens geschieht durch eine neue Urimpression und damit durch neuen Glauben. Wie die Enttäuschung beginnt auch der Zweifel 241 mit dem Einsetzen einer neuen Urimpression. In Husserls Beispiel schwankt ein Beobachter, ob das, was er sieht, ein Mensch oder eine Puppe sei. 242 Das zunächst als Mensch Gesehene wird zweifelhaft, weil eine neue Urimpression einsetzt, der gemäß es sich bloß um eine Wachspuppe handle. Während des Zweifels überschieben sich zwei Wahrnehmungsauffassungen, doch ohne dass die neue die alte enttäuscht. Über die Auffassung »menschlicher Leib« schiebt sich die Auffassung »bekleidete Puppe« und zwischen beiden herrscht unentschiedener Streit und wechselseitige Verdrängung. Mal glaubt er, einen Menschen zu sehen, dann wieder eine Puppe. Das verändert den Glaubensmodus: Das Bewusste gilt nicht mehr als »schlechthin-da«, sondern als »fraglich, als zweifelhaft, als strittig«. Der Zweifel kann zur Entscheidung kommen, und auch da ist die Urimpression »die Kraft, die alles niederrennt« 243. Es kommt zur Erfüllung der einen und zur Enttäuschung der anderen Auffassung. Sollte sich dabei der ursprüngliche Seinsglaube bewahrheiten, haben wir nicht mehr eine unmodalisierte Gewissheit, da er im Durchgang durch den Zweifel bestätigt wurde. Sehen wir von den weiteren Modalisierungen des Wahrnehmungsglaubens nach Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit ab 244, so kommen wir zum Schluss, dass eine jede Modalisierung zweierlei ungebrochenen Seinsglauben voraussetzt: Jenen, der modalisiert wird, und jenen, durch den diese Modalisierung zustande kommt. So haben das assertorische, das negative und das problematische Urteil der Logik ihre Vorläufer im Wahrnehmen. Dabei sind der Wahrnehmungsglaube wie seine Modalisierungen immer etwas, was uns geschieht. Der Glaube ist pathisch, wie das übrige Wahrnehmen, aber wir erleiden ihn auf andere Weise. Das im sinnlichen Bewusstsein enthaltene Urteilen (wenn wir es denn so nennen wollen) unterscheidet sich deutlich von Gedanken und Urteilen des vergegenwärtigenden Denkens, bei dem wir es mit

240 241 242 243 244

Ebd., S. 30. Siehe dazu ebd., S. 33 ff. und EU, S. 99 ff. Hua XI, S. 33 ff. Ebd., S. 37. Ebd., S. 39 ff.

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identischen Inhalten zu tun haben. Der Inhalt eines Urteilens, das mit diesem im Fluss des Gegenwärtigens fließt, bringt es zu keiner Beständigkeit, sondern fließt mit diesem Fluss und verändert sich mit ihm. Dies gilt von der Wahrheit dieser Urteile nicht minder. Protentionale Erwartungen bewahrheiten sich, wenn sie erfüllt werden, doch diese Wahrheit reicht nicht weit, aber doch weit genug, nämlich bis zur nächsten Urimpression, welche sie bestätigt oder widerlegt oder in Frage stellt. Es ist eine Wahrheit, die auf die Einsicht unmittelbarer sinnlicher Gewissheit zurückgeht, die zwar ständig vergeht, aber sich im nächsten Augenblick wieder erneuern kann. Man mag einwenden, es handle sich dabei um eine bloß subjektive Gewissheit, was zutrifft, aber mehr als dies ist hier nicht zu haben und auch nicht erforderlich für die Zwecke, um die es geht. Objektivität verlangt, dass wir unseren subjektiven Standpunkt verlassen und die Welt von einem standpunktlosen Standpunkt aus zu erfassen suchen (Nagel). Das ist im sinnlichen Bewusstsein nicht zu erreichen: Wäre dies der Fall, wäre es kein sinnliches Bewusstsein. Wenn ich oben bemerkt habe, Wahrheit habe im pathischen Denken mehr den Sinn eines subjektiven Glaubens als den einer objektiven Wahrheit, so gilt das ohne Einschränkung auch für den Wahrnehmungsglauben, nur erhebt das sinnliche Bewusstsein keinen Anspruch auf Objektivität, wie dies bei vergegenwärtigten pathischen Gedanken die Regel ist. Nebst dem Wahrnehmen müssen wir in den Urteilsgefühlen ein gegenwärtigendes Bewusstsein sehen, das ein pathisches Urteilen enthält. In jedem Urteilsgefühl liegt ein passives Urteilen über Erreichen oder Nichterreichen des Strebungsziels, und dieses Ziel selbst ist nicht ein Gegenstand, sondern ein Sachverhalt, somit ein Gedanke im Sinne Freges (eine Proposition). Der Knabe, der sich eine Dampfmaschine wünscht, wünscht sich nicht bloß dieses Ding da, er wünscht, dass er damit spielen kann. Da Gefühle wie Strebungen kein mittelbares, sondern ein unmittelbares, ein gegenwärtigendes, nicht ein vergegenwärtigendes Bewusstsein sind, muss man sich fragen, wie in ihnen ein Gedanke intendiert oder als Teil in ihnen enthalten sein kann. Entweder sind hier gar keine Gedanken im Spiel und wir beschreiben nur im Nachhinein ein Erleben so, als ob es Gedanken enthielte. Oder den Gedanken des gegenwärtigenden Bewusstseins kommt eine andere Struktur zu als denen in der Vergegenwärtigung. Ob man das noch Gedanke nennen will oder nicht, dürfte davon abhängen, was sich an strukturellen Gemeinsamkeiten aufweisen lässt. Strebungen erleben auch sprachunfähige Wesen (Tiere, Säuglinge). 169 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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Wir schreiben ihnen ein Bewusstsein von Strebungszielen zu, ohne ihnen Gedanken im gewöhnlichen Sinne zugestehen zu müssen. Wer denkt, er habe Hunger, tut dies aufgrund von Empfindungen, die ihn dazu drängen zu essen. In diesem Hindrängen wird die Tätigkeit antizipiert, welche das Streben befriedigt, ohne vorgestellt zu sein. Sie ist nicht als ein Identisches vieler möglicher Tätigkeiten bewusst, sondern als diese eine im Streben vorweggenommene Tätigkeit, als eine Fähigkeit, aber auch als Gewohnheit, die sich aufgrund vergangener Erfahrung herausgebildet hat, ohne Vergegenwärtigungen dieser Erfahrung vorauszusetzen. 245 Verwirklicht sich das Strebensziel, tritt Befriedigung ein, und zwar auch dann, wenn wir uns irren und nur glauben, das Erstrebte sei wirklich. 246 In Anlehnung an den Wahrnehmungsglauben können wir diesen Glauben als Erfüllung protentionaler Erwartungen verstehen. Kommt es dagegen zu Frustration, wird diese Erwartung enttäuscht: Das Erstrebte ist nicht, weil etwas anderes ist, das ihm widerstreitet. Auch hier ist die Urimpression »die Kraft, die alles niederrennt«. Das im Gefühl implizierte Urteilen kann, wie bei der Befriedigung, als ein Wahrnehmungsglaube verstanden werden, so dass das Gefühl der Frustration wie das der Befriedigung eine Wahrnehmung überlagert. Ich möchte noch ein Stück Kuchen, aber da ist keines mehr (d. h. ich sehe keines). Der Knabe wünscht sich eine Dampfmaschine, aber er kriegt ein Stück Seife. Während bei den Gefühlen der Befriedigung und der Frustration Wahrnehmungen im Spiel sind, so dass der entsprechende Wahrnehmungsglaube zum Aufbau des Gefühls beiträgt, müssen sich andere Gefühle mit Wahrscheinlichkeiten oder bloßen Möglichkeiten begnügen, so bei Gefühlen des Zweifels, der Furcht und der Hoffnung. Diese in den Gefühlen implizierten Urteile, wenn wir sie denn so nennen wollen, sind von denen im Sinne der Logik ebenso verschieden wie der Wahrnehmungsglaube. Weder sind sie selbst identische Einheiten noch enthalten sie solche. Sie sind ein lediglich momentanes, pathisches subjektives Überzeugtsein. Etwas anderes ist hier gar nicht möglich, weil Gefühle wie Wahrnehmungen im Fluss des Gegenwärtigens ständig vergehen, so dass sich im Wechsel der Erscheinungen nichts Bleibendes herausbilden kann. Gedankenartiges, das wahr oder falsch sein kann und als unselbstständiges Moment an Ge245 246

Vgl. Kern, a. a. O., S. 116. Siehe oben S. 97.

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genwärtigungen (Wahrnehmungen oder Gefühlen) vorkommt, unterscheidet sich von Gedanken im eigentlichen Sinn zum einen dadurch, dass es gegenwärtig und nicht vergegenwärtigt ist, zum anderen aber auch dadurch, dass es nicht als ein selbstständiges Erlebnis, sondern als ein unselbständiges Moment an einem Erlebnis auftritt. Das Erste hat zur Folge, dass es in einem bloß subjektiven Sinne wahr sein kann, weil kein identischer Inhalt zustande kommt. Dennoch reicht diese Wahrheit aus, um die Funktion zu erfüllen, die ihm als Moment eines Erlebnisses zukommt. Das Zweite führt dazu, dass wir die Frage, wie uns das betrifft, gar nicht stellen können, denn im Betroffensein fühlen wir uns von einem Erlebnis betroffen, nicht von unselbständigen Momenten eines solchen. Die Frage, wie uns Gedanken betreffen, kann nur bei Gedanken im eigentlichen, d. h. prädikativen Sinn gestellt werden, die identische Inhalte eines vergegenwärtigenden Denkens sind. Was nur unselbständiges Moment eines Erlebnisses ist, mag seinen Teil zur Betroffenheit durch dieses beitragen, betrifft uns aber selber nicht wieder. Es ergeben sich aber Parallelen zwischen diesen Momenten und dem Betroffensein durch Gedanken. Wie betreffen uns solche Gedanken, die gleichfalls pathisch sind, aber auch identische Einheiten, auf die ich immer wieder zurückkommen kann, wie es typisch ist für Vergegenwärtigungen und für Gedanken im prädikativen Sinn? Erst im Vergegenwärtigen wird so etwas wie objektive Wahrheit möglich, weil ich mich in wiederholten Denkund Wahrnehmungsakten vergewissern kann, ob etwas tatsächlich so ist wie behauptet. – Ich kann es, wenn ich es kann, und dieses »kann« hat hier auch den Sinn von »wenn ich entsprechend wach bin«. Eben das bin ich nicht, wenn ich pathisch wach bin, da kommt lediglich ein bloß pathisches Denken zustande, nämlich Einfälle, die kommen und gehen. Daher kann ich nicht leisten, was ein aktives Denken fordern würde, nämlich die Begründung einer (angeblichen) Wahrheit. Ich kann nicht einmal Fragen stellen und muss Behauptungen wie Begründungen hinnehmen wie blanke Wahrheiten. Eine pathische Begründung ist bloß ein Einfall und nicht mehr wert wie eine Behauptung. Sie ist wie alle pathischen Gedanken zu akzeptieren, eine andere Option haben wir nicht, solange wir pathisch wach sind. Nimmt auch das Betroffensein durch Gedanken wie bei Empfindungen, Wahrnehmungen und Vergegenwärtigungen eine eigene Qualität an? Fühlt es sich auf eine bestimmte Weise an, in pathischen Gedanken wach zu sein? Fragt man sich, woran die Suche nach einer 171 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

Antwort anknüpfen könnte, so liegt es nahe, von dem auszugehen, wodurch sich Gedanken vor anderen Weisen bewussten Erlebens auszeichnen. Gefühle haben ihren emotionalen Gehalt, Wahrnehmungen und Vorstellungen ihre anschauliche Fülle, Gedanken können wahr oder falsch sein. Dabei sind nicht nur die wahren Gedanken auf Wahrheit bezogen, sondern ebenso die falschen, die fraglichen und zweifelhaften und die bloßen Annahmen nicht minder, denn ein falscher Gedanke ist nicht wahr, bei einem fraglichen ist es seine Wahrheit, die fraglich ist, bei einem zweifelhaften ist sie zweifelhaft und bei einer Annahme bloß angenommen. Auch fiktive Gedanken, also solche über Fiktives, können wahr oder falsch sein, nur hat »wahr« hier nicht die Bedeutung von »seiend«, sondern bezieht sich auf einen bestimmten Kontext, auf eine Geschichte, einen Roman, ein Theaterstück oder einen Tagtraum. Sehen wir vorerst von der Wahrheit über Fiktives ab, so müssen wir uns vor Augen halten, dass »Wahrheit« hier etwas anderes bedeutet als im aktiven, wachen Urteilen und Denken. Es kann nicht eine Wahrheit sein, die wir uns fragend und suchend erringen, so etwas gibt es im pathischen Wachsein nicht. In diesem Wachheitszustand ist auch Wahrheit etwas, das uns geschieht. Sie kommt über uns, wie ein Gedanke, der uns einfällt. An Objektivität und Begründung darf man bei ihr nicht denken, nicht einmal, dass sie bloß subjektiv sei, denn das Subjektive schöpft seinen Sinn aus dem Gegensatz zum Objektiven, das uns in diesem Zustand unzugänglich bleibt. Wahrheit kann hier nur als ein Fürwahrhalten, als Überzeugtsein, als ein Glaube verstanden werden. Doch führen diese Worte auf Abwege, wenn wir nicht darauf bestehen, jede Anlehnung an ein aktives Verständnis fernzuhalten. Nicht ich halte etwas für wahr, nicht ich glaube etwas, das geht nicht von mir aus, sondern ich muss etwas für wahr halten, ich muss glauben, ich kann nicht anders. Ich erleide dieses Fürwahrhalten, es widerfährt mir, wie etwas, das mich betrifft. 247 Der Glaube ist nie ohne das, woran ich glaube. Wenn ich etwas glauben muss, ist auch das bewusst, woran ich glaube. Vielleicht möchte man einwenden, es sei eher umgekehrt: Zuerst sei der Gedanke bewusst und dann glaube ich, dass er wahr sei. Aber das ist vom aktiven Denken her gedacht, wo wir zuerst einen Gedanken denken und dann nach seiner Wahrheit fragen. Das pathische Denken ver247 In gewissen Fällen kann dieses Fürwahrhalten auch von Einsicht begleitet sein. Siehe unten insbes. S. 361.

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Die Weisen des Betroffenseins und die Modi pathischen Wachseins

läuft anders. Ein pathischer Gedanke wird gleichzeitig mit der Überzeugung von seiner Wahrheit bewusst. Er ist so wenig vom Glauben an sein Wahrsein zu trennen wie der Schreck von der Betroffenheit. Bemüht man sich zu erinnern, wie uns Gedanken einfallen, so wird man bald einsehen, dass sie uns meistens als wahr einfallen. Ein falscher Gedanke kann mir nicht einfallen. Er entsteht aus einem Gedanken, der mir mit der Überzeugung, wahr zu sein, eingefallen ist, wenn mir ein anderer, ihm widersprechender Gedanke als wahr einfällt, der dem ersten widerstreitet. Das alles läuft ohne einen Hauch von Begründung ab. Ähnlich bei fraglichen Gedanken: Ein Gedanke, den ich für wahr halte, wird fraglich, wenn mir ein anderer, widersprechender Gedanke einfällt, dem es jedoch an Kraft fehlt, sich dauerhaft als wahr durchzusetzen. Beide streiten sich und die Wahrheit bleibt in der Schwebe. Zu solch fraglichen Gedanken kann mir dann die eine oder andere Frage einfallen, und so, möchte man sagen, finden Einfälle doch noch eine Begründung, wenn sich Fragen daran knüpfen, die eine solche fordern. Ja, muss man einwerfen, für ein aktiv waches Nachdenken, aber ob dies auch für das pathisch wache Bewusstsein zutrifft, mag man ruhig bezweifeln. Wenn uns ein Einfall als berechtigt oder begründet erscheint, dann meist darum, weil wir gleichzeitig aktiv wach sind und nach solchen Zusammenhängen fragen und sie durchschauen. Fällt uns ein Gedanke ein, so fällt er uns mit der Überzeugung ein, wahr zu sein. Sind wir von der Falschheit oder Fraglichkeit eines Gedankens überzeugt, so liegt das daran, dass uns ein gegenteiliger Gedanke als wahr eingefallen ist, der die vorherige Überzeugung verdrängt hat, so dass der eben vergangene Gedanke noch kurze Zeit als falsch oder zweifelhaft bewusst ist. Das erste ursprüngliche pathische Bewusstwerden von Gedanken scheint immer mit einem Fürwahrhalten verbunden zu sein. Darin kann man geradezu ein Kennzeichen pathischer Gedanken sehen. Fällt mir etwas ein, so halte ich es für wahr, nicht für möglicherweise wahr oder für zweifelhaft. Gedanken treten zuerst als wahre Urteile auf, alle Modalisierung ist demgegenüber sekundär. Ich schließe mich damit der Meinung Husserls an, wonach die »schlichteste Glaubensgewissheit die Urform ist, und dass alle anderen Phänomene wie Negation, Möglichkeitsbewusstsein, Wiederherstellung der Gewissheit durch Bejahung oder Verneinung sich erst durch Modalisierung dieser Urform ergeben und nicht gleichwertig nebeneinander stehen.« 248 248

Husserl, EU, S. 111.

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Pathisches Wachsein

Auch von der Wahrheit lässt sich in einem gewissen Sinn behaupten, sie sei die »Kraft, die alles niederrennt«. Sie setzt sich gegen (fast) alles durch, vor allem auch gegen unsere Wünsche. Wenn ich erwarte, die Rückseite einer Kugel sei rot und kugelförmig, und bestätigt sich das beim Drehen, so sehe ich die Wahrheit meiner Erwartung im buchstäblichen Sinne ein. Ich sehe, dass es so ist, wie erwartet, und nicht anders, alle denkbaren Alternativen sind damit ausgeschlossen. Solche unmittelbare Evidenz ist nur im sinnlichen Bewusstsein möglich. Die Gewissheit ist in dem begründet, was ich wahrnehme, ohne dass dazu ein Schluss notwendig wäre. Das gibt es nicht allein bei protentionalen Erwartungen des Wahrnehmens, sondern auch bei vergegenwärtigten pathischen Gedanken. Ich sehe aus dem Fenster und sehe, dass es regnet, d. h. ich urteile, dass es regnet, aufgrund dessen, was ich sehe. Solche Urteile über sinnlich Gegebenes sind oft pathisch: sie fallen uns ein, während wir wahrnehmen. Wer wollte ihnen die Evidenz absprechen? Aber sobald ein Gedanke über das unmittelbar Wahrgenommene hinausreicht und die Einsicht in die Wahrheit auf die Vermittlung durch andere Gedanken angewiesen ist, wäre Einsicht nur zu gewinnen, wenn uns diese Gedanken einfielen, denn anders sind sie in pathischem Wachsein nicht zu haben. Sind wir nur pathisch wach, kann ein Gedanke zur Enttäuschung eines anderen führen und sich an seine Stelle setzen oder ihn zweifelhaft werden lassen, aber begründen kann er ihn nicht. Dazu wären Absichten erforderlich: Wir begründen einen Gedanken durch andere wahre Gedanken, um einsehen zu können, dass er wahr ist. Aber ein nur pathisch waches Subjekt kann keine Absichten haben, und wenn es welche hätte, wüsste es damit nichts anzufangen, weil ihm der Wille fehlt, sie zu verwirklichen. Fallen uns Gedanken ohne jede Evidenz dennoch mit der Überzeugung ein, wahr zu sein, ist das ein Phänomen, das Erklärung fordert, jedenfalls wenn wir aktiv wach sind. Dazu nur soviel: Es fällt auf, dass dieses momentane Überzeugtsein von der Wahrheit im Gegensatz zu den Gedanken steht, wie wir sie vom wachen Nachdenken kennen. Diese können sich als wahr, falsch, fraglich, unsinnig, hilfreich, vielleicht gar als genial erweisen. Es fällt auch auf, dass das Fürwahrhalten pathischer Gedanken nicht selten einen Zug ins Zwanghafte, Aufsässige und Hartnäckige gewinnt, womit es in die Nähe pathologischer Phänomene, z. B. von Wahngedanken gerät. Auch Zwangsgedanken harmloserer Art weisen auf einen Zusammenhang zwischen ihrer (vermeintlichen) Wahrheit und der Weise, 174 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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wie sie sich aufdrängen. Ich verreise und sitze schon im Zug, da fällt mir ein, es könne sein, dass ich die Herdplatte nicht ausgeschaltet habe. Die Hartnäckigkeit, mit der sich solche Gedanken immer wieder melden, ist bekannt. Hielten wir sie für falsch oder zweifelhaft, würden sie sich nicht so obsessiv aufdrängen. Zu erinnern ist auch an den weiten Bereich der Vorurteile, von deren Wahrheit Menschen so überzeugt sind, dass sie durch sie ihr Leben und Handeln bestimmen lassen. Solch blindes Festhalten an Urteilen ist dem aktiv wachen Denken kaum verständlich. Wir sind, ohne es zu wollen, an sie gebunden. Man kann darin eine Art Besessenheit sehen und vermuten, in solchen Fällen nähre sich die Überzeugung von der Wahrheit aus ganz anderen Quellen als der Einsicht. Zumindest von den Gedanken, die sich auf wirkliche Sachverhalte beziehen, dürfen wir behaupten, sie betreffen uns so, dass wir sie für wahr halten müssen. Ihre Wahrheit kann in sinnlicher Gewissheit einleuchten, meistens jedoch fehlt diese Evidenz und es bleibt beim bloßen Überzeugtsein. Auch Gedanken, die uns vereinzelt einfallen, während wir aktiv wach sind, halten wir im ersten Augenblick für wahr. Als Einfälle tauchen sie unbeabsichtigt und von selbst auf, wir fühlen uns von ihnen betroffen und sind für einen Moment pathisch wach. Erst hinterher prüfen wir sie auf ihre Wahrheit. Davon bilden jene Einfälle eine Ausnahme, von denen wir möchten, dass sie uns einfallen, z. B. wenn wir nach Vermutungen oder Hypothesen suchen. 249 Aber das gehört nicht zum pathischen Wachsein. Damit haben wir den großen Bereich jener pathischen Gedanken noch gar nicht berührt, die sich auf fiktive Sachverhalte beziehen. Dazu gehören Handlungsmöglichkeiten, die vergegenwärtigend vorweg genommen werden, ebenso Vermutungen und Hypothesen sowie alles, was in den Bereich der Dichtung, der Mythen und Fabeln gehört. 250 Auch bei diesen Gedanken kann man sich fragen, wie es sich anfühlt, wenn sie uns einfallen, und ob das ähnlich ist wie bei jenen, die sich auf Wirkliches beziehen. Denken wir zunächst an Handlungsmöglichkeiten. Kürzlich träumte mir, ich stehe vor einem zugefrorenen Weiher und da fällt mir ein, dass man darauf Schlittschuhlaufen könnte. Das könnte mir ebenso gut einfallen, wenn ich wach wäre und wirklich vor einem Siehe unten S. 176. Zum Begriff der fiktiven Sachverhalte vgl. W. Kamlah, P. Lorenzen: Logische Propädeutik, Mannheim 1967, S. 138 ff. 249 250

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Pathisches Wachsein

Weiher stünde und auf das Eis hinblickte. Wie fällt mir das ein? Ist das noch irgendwie auf Wahrheit bezogen, wie bei Gedanken über Wirkliches? Immerhin kann man sagen, wenn gewisse Bedingungen erfüllt sind, wird der Gedanke wahr. Wenn ich Schlittschuh laufen möchte und es kann und Schlittschuhe hätte und mich damit aufs Eis begäbe und dieses mich tragen würde, so kann ich es tun. Das sind ziemlich unterschiedliche Bedingungen. Die erste betrifft die Motivation, die meinem Wunsch, Schlittschuh zu laufen, zugrunde liegt. Ob ich Schlittschuhe habe, hängt von weiteren Bedingungen und Handlungen ab, die gleichfalls den Wunsch, Schlittschuh zu laufen, voraussetzen. Dieser Wunsch besagt: Wenn es möglich ist, auf diesem Weiher Schlittschuh zu laufen, möchte ich das tun. Es gibt Handlungen, die für Menschen möglich sind, und solche, die es nicht sind, wohl aber für andere Lebewesen. So ist das Fliegen für Vögel eine Möglichkeit in einer Weise, wie es für Menschen keine ist. In diesem Sinn kann man sagen, es gibt Handlungsmöglichkeiten, die auf Menschen zutreffen, und solche, für die das nicht der Fall ist. »Möglich« hat hier nicht nur die Bedeutung von »denkmöglich«, sondern die einer Realmöglichkeit. Können Menschen überhaupt Schlittschuh laufen? Die Antwort lautet natürlich: ja, auch wenn es nicht jeder kann. Das sind Überlegungen eines aktiv wachen Subjekts. Einfälle kommen uns nicht nur im Traum oder Tagtraum, sondern auch, wenn wir aktiv wach sind, dann können wir solche Überlegungen anstellen. Ein nur pathisch waches Subjekt ist dazu nicht fähig. Fällt ihm ein, Schlittschuh zu laufen, so zweifelt es nicht im Geringsten daran, ob es das kann, es sei denn, es fällt ihm ein, dass es nicht Schlittschuh laufen kann. Auch hier gilt: Gedanken fallen mir als wahr ein, unwahr oder zweifelhaft werden sie nur, wenn uns das Gegenteil als wahr einfällt. Fallen uns Vermutungen und Hypothesen ein, so können sie sich als fruchtbar erweisen, wenn wir aktiv wach sind. Ein nur pathisch waches Subjekt wüsste damit nichts anfangen. Was wir im absichtlichen Denken als Hypothese bezeichnen, ist im pathischen eine Überzeugung, dass das, was mir einfällt, wahr ist. Dem aktiv wachen Subjekt werden solche Einfälle gleichfalls pathisch bewusst, auch hält es sie im ersten Augenblick für wahr, erst danach setzt sich das aktive Wachsein durch, indem es anfängt zu zweifeln und zu prüfen. Aber kann uns eine Hypothese nicht als hypothetischer, eine Vermutung als vermuteter Gedanke einfallen, wenn wir aktiv wach sind? Müssen 176 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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wir sie immer, wenigstens im ersten Moment, für wahr halten? Mir scheint, man muss die erste Frage bejahen und die zweite verneinen. Unter gewissen Bedingungen ist es möglich, dass uns eine Hypothese als Hypothese einfällt, nämlich dann, wenn wir nach ihr suchen. In diesem Fall wollen wir, dass uns eine Hypothese zu etwas bewusst werde. Fällt uns dann eine ein, dann betrifft sie uns nicht. Wir haben ja gewollt, dass sie uns einfällt. Der Einfall ist dann nicht pathisch, sondern gewollt. 251 Damit komme ich zur Frage, wie uns Gedanken einfallen, die sich nicht auf die wirkliche, sondern auf mögliche, phantasierte Welten beziehen, insbesondere auf solche, die allgemein zugänglich sind, also um Dichtungen, Mythen, Sagen, Fabeln, Märchen usw. Ihre Helden und das übrige Personal sind fingiert, wie alle ihre Gegenstände und die Geschichten als ganze. Ein Gegenstand ist fingiert, wenn seine Kennzeichnung fingiert ist. 252 Auch hier muss durch einen Eigennamen oder eine Kennzeichnung genau ein Gegenstand benannt oder gekennzeichnet werden. 253 So ist »Dornröschen« im Kontext des gleichnamigen Märchens eindeutig als eine bestimmte fiktive Person gekennzeichnet, von der jeder, der das Märchen kennt, weiß, um wen es sich handelt. Natürlich kann ich mir auch eine Geschichte einfallen lassen mit eindeutig gekennzeichneten Personen und Gegenständen, über die ich Aussagen mache, die wahr oder falsch sind. Aber sie sind es bloß für mich, nicht auch für andere, es sei denn, ich veröffentliche sie. Ich möchte mich daher auf bekannte Dichtungen beschränken und von Pseudokennzeichnungen (wie »die zehnte Symphonie von Beethoven«) absehen, bei denen es nicht möglich ist zu zeigen, dass es Gegenstände gibt, denen das verwendete Prädikat zukommt, und dass es nicht mehrere solche Gegenstände gibt. 254 Mit dieser Einschränkung können wir sagen, auch Gedanken über solche Gegenstände können wahr oder falsch sein, obschon die Wahrheit, um die es geht, sich nicht auf die wirkliche, sondern auf eine fingierte Welt bezieht. Phantasien sind Fiktionen, aber wenn sie einstimmig sind, bilden sie gewissermaßen eine eigene Welt, über die Aussagen möglich sind,

251 Siehe unten Kap. III, 10 Die Phänomene der Passivität in der Aktivität und die Modi des aktiven Wachseins. 252 Logische Propädeutik, a. a. O., S. 140. 253 Ebd., S. 103 ff. 254 Vgl. ebd., S. 109.

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die wahr oder falsch sein können. Ist es nicht wahr, dass der Prinz Dornröschen wach geküsst hat, und falsch, dass er es nicht geküsst hat? Man wird das zugeben und doch darauf beharren, dass es sich dabei um eine fiktionale Wahrheit handle, um deren Fiktionalität wir wissen, solange wir noch zwischen ihr und der Wirklichkeit unterscheiden können. Diese Wahrheit bezieht sich nicht auf die jetzt gegenwärtige Wirklichkeit, aber das trifft auch für jene Wahrheiten zu, die von Vergangenem handeln. Ist ein Urteil wahr, das sich auf Vergangenes bezieht, sofern es diesen Bezug explizit enthält, dann ist auch ein Urteil über Phantasiertes wahr, sofern klargestellt ist, dass es sich nicht um eines über die wirkliche, sondern um eines über eine bestimmte und bekannte mögliche Welt handelt. Denke ich an Madame Bovary, so fällt mir mit Überzeugung ein, es sei wahr, dass sie ihren Mann betrogen habe. So kann man über Kunstwerke evidente Urteile fällen, die nicht die künstlerische Qualität betreffen, sondern lediglich den Inhalt, nicht nur in der Literatur, sondern ebenso in der Musik und bildenden Kunst. Ist das, was da rechts oben im Hintergrund dieses Gemäldes zu sehen ist, ein Engel oder nicht? Ist der dritte Satz des zweiten Brandenburgischen Konzertes so mitreißend, dass man dazu tanzen möchte? Das lässt sich beantworten, und wenn mir solche Gedanken einfallen sollten, halte ich sie ebenso selbstverständlich für wahr, wie Gedanken über wirkliche Sachverhalte. Ich komme damit zum Schluss, dass mir alle pathischen Gedanken mit der Überzeugung einfallen, wahr bzw. zutreffend zu sein, und dass alle Modalisierung dieser Wahrheit sekundär ist. Gedanken über wirkliche Sachverhalte fallen mir immer als wahr ein, auch wenn sie sich nachträglich als fraglich oder falsch herausstellen. Das Fürwahrhalten kann geradezu zwanghafte Züge annehmen. Ich fühle mich dann in einer Weise betroffen, etwas für wahr halten zu müssen. Dies bestimmt auch den Modus des Wachseins im pathischen Denken. Gedanken über fiktive Sachverhalte sind entweder Gedanken über Sachverhalte, die in der wirklichen Welt möglich, aber nicht wirklich sind, oder über solche, die zu einer bloß möglichen Welt gehören. Zu den ersten kann man Handlungsmöglichkeiten zählen. Fällt mir ein, was ich tun könnte, so fällt es mir mit der Überzeugung ein, es sei wahr, dass ich es tun könne. Auch hier stellen sich Zweifel erst nachträglich ein. Geht es um Annahmen und Hypothesen über die wirkliche Welt, so fallen sie mir für gewöhnlich im ersten Augenblick nicht als solche ein, sondern als blanke Wahrheit, also wiederum mit der Überzeugung, etwas sei wirklich so, wie es mir einfällt. Dass 178 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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das fraglich sei, wird erst klar, wenn mir etwas anderes, Gegenteiliges einfällt. Bin ich aktiv wach, während mir etwas einfällt, kann ich den Einfall in Frage stellen und kritisch prüfen, ohne auf weitere Einfälle angewiesen zu sein. Gedanken über fiktionale Welten der Literatur, bildenden Kunst und Musik fallen mir mit der Überzeugung ein, dass sie auf das jeweilige Werk zutreffen, auf das sie sich beziehen. Ich bin überzeugt, dass das, was mir einfällt, darin wirklich so vorkommt, wie es mir einfällt, auch wenn diese Wirklichkeit nur imaginär ist, und hinterher Zweifel an meiner Überzeugung aufkommt. Wenn mich Gedanken so betreffen, dass ich sie für wahr halten muss, und Betroffenheit ein Gefühl ist, bedeutet das nicht, dass auch Wahrheit ein Gefühl ist, sondern nur, dass ich mich gezwungen fühle, einen Gedanken für wahr halten zu müssen.

2.5

Strebungen, Gefühle und Stimmungen

Nach dem Betroffensein im Vergegenwärtigungen und Denken komme ich wieder auf jene Erlebnisse zurück, die man als Gegenwärtigungen bezeichnen kann, weil in ihnen nur solches vorkommt, was im Fluss der Gegenwart jeweils gegeben ist. Außer Empfindungen und Wahrnehmungen müssen wir auch Strebungen und Gefühle dazu zählen sowie das Träumen. Von den ersten beiden war schon ausführlich die Rede, auch davon, dass uns Gefühle in der Weise betreffen, dass sie uns ergreifen und packen, eine Redeweise, die ich aus der Umgangssprache aufgenommen habe. 255 Nun ist zu fragen, was es mit diesem metaphorischen Sprechen auf sich habe und ob das Gemeinte das Phänomen des Betroffenseins durch Strebungen und Gefühle trifft. Nach der Gefühlstheorie von Brentano und Meinong 256 gibt es Gefühle, die Meinong »Urteilsgefühle« genannt hat, die sich als Modifikationen von Strebungen durch Urteile verstehen lassen. Wenigstens für diese Gefühle kann man fragen, ob nicht auch die Weise, wie 255 Ursula Wolf hat darauf hingewiesen, dass nicht alle Gefühle Widerfahrnisse seien, z. B. nicht Freude an Tätigkeiten. Dies gilt allerdings nur, »wenn man sie mit Aristoteles so versteht, dass hier die Lust selbst etwas Aktives ist.« (U. Wolf: Gefühle im Leben und in der Philosophie. In: Zur Philosophie der Gefühle, hg. von H. Fink-Eitel und G. Lohmann, Frankfurt a. M. 1993, S. 113.). Soweit Freude uns überkommt, müssen wir sie doch zu den Widerfahrnissen zählen. 256 Siehe oben Kap. I, 5 Die Brentano-Meinongsche Theorie der Gefühle.

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sie uns betreffen, eine Modifikation der Weise sei, wie uns Strebungen betreffen. Wie betreffen uns Strebungen? Auf der Suche nach einer Antwort können wir auch hier von der Frage ausgehen, was das fragliche Erleben charakterisiert, und da muss die Antwort lauten: Etwas ist eine Strebung, wenn es uns zu einem Ziel hin drängt. Gedrängt zu werden, etwas zu tun, ist denn auch die Weise, wie wir von Strebungen betroffen werden. Bei Trieben wie Hunger, Durst, Sexualtrieb wird das Gedrängtwerden leiblich verspürt, es ist unmittelbar örtlich lokalisiert ähnlich wie Schmerzen oder starke Affekte, wie Schreck oder panische Angst. 257 Bei sublimeren Strebungen, wie etwa einem bloßen Wünschen, werden wir immer noch zu etwas hin gedrängt, doch ohne dass dieses Gedrängtwerden unmittelbar lokalisiert verspürt wird (und damit leiblich wäre). Z. B. drängt es mich dazu, einer Person nahe zu sein oder mich von ihr fern zu halten, was dazu führt, dass ich sie sympathisch bzw. unsympathisch finde. Solche Sympathien oder Antipathien müssen nicht leiblich verspürt sein. Aber wie können wir ein nicht-leiblich verspürtes Gedrängtwerden verstehen? Wenn wir es fühlen, ist es ein Gefühl und kein (bloßes) Streben. Aber es ist kein Urteilsgefühl des Strebens, das mich betrifft, sondern eines des Strebens nach ungefährdetem Selbstsein, also des Strebens, nicht betroffen zu werden. Dieses Streben wird frustriert, indem die Angst, irgendwie betroffen zu werden, erfüllt wird. Betrifft uns ein Streben in der Weise, dass es uns zu etwas hin drängt, so ist dies entweder in einer leiblichen Regung verspürt oder gefühlt als ein Gefühl des Zuetwas-hin-gedrängt-Werdens. Dies ist ein Urteilsgefühl, aber nicht des Strebens, das uns betrifft, sondern eines des Strebens, nicht betroffen zu werden. Das Gefühl, zu etwas hin gedrängt zu werden, ist ein Gefühl des Betroffenseins und damit des pathischen Wachseins. Ein Streben drängt mich zu etwas hin; es beginnt gewissermaßen im Dunkeln, es hat seinen Anfang nicht in mir, aber sein Ende ist ein Zustand meiner selbst: Es drängt mich, etwas zu tun, sei es zum Vollzug mentaler Akte oder zu einer Handlung. Ich muss diesem Drängen Folge leisten, auch wenn es sich meinem Widerstreben gegen Widerfahrnisse entgegenstellt. Damit soll nicht geleugnet

257 Schmitz ist der Ansicht, alles Betroffensein durch Gefühle sei an leibliche Regungen gebunden und von diesen vermittelt. (H. Schmitz: System der Philosophie III, 2. Der Gefühlsraum, Bonn 1969, S. 153; Ders.: Bewusstsein, Freiburg i. Br. 2010, S. 112.)

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werden, dass wir zu unseren Strebungen Stellung nehmen können, aber das können wir nur, wenn wir entsprechend wach sind. Da es uns hier darum geht herauszuarbeiten, wie es sich verhält, wenn wir nur in der Weise wach wären, in der wir Strebungen erleben, müssen wir von dieser Möglichkeit absehen. Einem Streben Folge leisten zu müssen, ist ein Widerfahrnis und damit eine Weise, betroffen zu werden. Strebungen betreffen mich in der Weise, dass sie mich zu einem Ziel hin drängen. Das ist allen gemeinsam, wie unterschiedlich ihre Ziele sein mögen. Das charakterisiert sie. Damit ist auch bestimmt, wie ich mich durch Strebungen betroffen fühle, nämlich so, dass ich mich zu etwas hin gedrängt fühle. Soweit dieses Gedrängtwerden leiblich verspürt wird, bin ich leiblich wach. Ist es nicht leiblich lokalisierbar, bin ich in einem besonderen Modus wach, dessen Qualität durch dieses Gedrängtwerden gekennzeichnet ist. Auch hier kann sich anstelle des Betroffenseins Furcht einstellen, zu etwas hin gedrängt zu werden. Dann sind wir wach im Sinne der Bereitschaft zu bewusstem Erleben. Wie betreffen uns Gefühle? Beschränken wir uns auf Urteilsgefühle, so gelten sie uns als Modifikationen von Strebungen und enthalten ein Streben und ein Urteilen als unselbständige Momente. So ist das Streben im Gefühl noch in gewisser Weise fühlbar, was sich daran zeigt, dass sich das Strebensziel im Gegenstand des Gefühls sozusagen spiegelt. Fürchte ich mich vor einer Gefahr, so ist das, was durch die Gefahr gefährdet wird, mein Strebensziel, mich unversehrt am Leben zu erhalten. Bin ich über etwas traurig, so darum, weil der Sachverhalt, über den ich traurig bin, dem entgegensteht, wonach ich strebe. Ähnlich, nur mit Erfüllung des Ziels, steht es mit der Freude. Das legt die Vermutung nahe, auch das Zu-etwas-hin-Drängen des Strebens sei nicht nur im Gefühl, sondern auch im Betroffensein durch das Gefühl noch in modifizierter Weise enthalten. Wenn (Urteils-)Gefühle Modifikationen von Strebungen sind und wir Strebungen durch die Weise, wie sie uns betreffen, charakterisieren, dann müssen wir in den Gefühlen Modifikationen der Weise sehen, wie uns Strebungen betreffen. Fragen wir zunächst, wodurch eine modifizierte Strebung, also ein Gefühl, sich vom Betroffensein durch eine unmodifizierte Strebung unterscheidet. Wenn uns ein Streben betrifft, spüren oder fühlen wir uns zu einem Ziel hin gedrängt. In einem Urteilsgefühl wird dieses Drängen durch ein Urteil darüber modifiziert, ob das Strebensziel erreicht sei 181 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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oder wahrscheinlich erreicht werde, oder nicht zu erreichen sei oder wahrscheinlich nicht zu erreichen sei. In der Befriedigung löst sich die Spannung zwischen dem, was ist, und dem, was erstrebt wird. Das Hindrängen zum Ziel lässt nach und geht zu Ende, was als Erleichterung und Befreiung empfunden wird und sich leiblich als ein Bewegungsimpuls nach oben hin äußern kann, wie es für Freude typisch ist. In der Hoffnung auf Befriedigung löst sich das Drängen noch nicht auf, es drängt uns in der Weise, dass es uns mit sich zieht. Dabei fühlen wir sein Ende nahen, und das verändert es in einer Weise, die sein Auflösen schon vorwegnimmt, was als befreiend und manchmal als beflügelnd erlebt wird. Dies kann wie bei der Befriedigung zu einem Bewegungsimpuls nach oben hin führen. Auch in der Frustration löst sich das Drängen nicht auf, sondern wird mit dem Urteilen in sich zurückgestoßen. Dies führt zu einem in sich abgestumpften Gefühl, wie Enttäuschung oder Trauer beispielhaft zeigen. Das lähmt und drückt nieder. Leiblich kann sich das in einer Bewegungstendenz nach unten zeigen: Man lässt Kopf und Glieder hängen. In der Furcht vor Frustration kündigt sich dieses Zurückstoßen schon an. Es drängt uns immer noch zu etwas hin, aber die Furcht wirkt im Gegensatz zur Hoffnung demotivierend, es zieht mich nicht mit, sondern stößt schon zurück, wenn auch nicht in dem Maß wie bei einer Frustration. Das wirkt sich ähnlich lähmend aus, mit ähnlicher leiblicher Bewegungstendenz. Für die Gefühle bedeutet dies, sie bewegen sich zwischen Befreiung und Lähmung. Man kann sie in erhebende lustvolle und in niederdrückende unlustvolle einteilen. Was heißt das für das Betroffensein durch Gefühle? Wenn Strebungen durch die Weise charakterisiert werden, wie sie uns betreffen, und wenn Gefühle Modifikationen von Strebungen sind, dann sind sie auch Modifikationen der Weise, wie uns Strebungen betreffen, aber nicht Modifikationen unseres Betroffenseins durch sie. Das Betroffensein durch ein Gefühl ist nicht eine Beschreibung des Gefühls, das mich betrifft. Wäre das so, dann müsste z. B. das Betroffensein durch Freude als befreiend erlebt werden, aber jedes Betroffensein besteht darin, dass mir etwas widerfährt, das mein Widerstreben gegen Widerfahrnisse frustriert, und das trifft auch zu, wenn ich das, was mir widerfährt, für wünschenswert halte. Das Gefühl, von einem Gefühl betroffen zu sein, und das Gefühl, das uns betrifft, stimmen keineswegs immer überein. Aber sie können nahe beieinander liegen, was es nicht immer leicht macht, beides 182 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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zu unterscheiden. Was ändert sich, wenn uns statt eines unmodifizierten Strebens ein modifiziertes betrifft? Das unmodifizierte drängt uns zu einem Ziel hin, es kann auch mitreißen, wie wenn mich eine Wut packt oder ich von Liebe ergriffen werde. Im modifizierten Streben, also in einem Gefühl, ist das Ziel nur noch in modifizierter Form enthalten, nämlich beurteilt hinsichtlich seiner Erreichbarkeit. Es ist eines, das erreicht ist oder wahrscheinlich zu erreichen ist oder nur unwahrscheinlich oder gar nicht. Gilt mir ein Ziel als erreicht, so lässt der Drang nach, etwas zu seiner Erfüllung beizutragen. Das Streben geht zu Ende, während es in der Frustration ohne Aussicht auf Befriedigung bestehen bleibt. Im einen Fall erweist sich weiteres Streben als überflüssig, im anderen als aussichtslos. In beiden betrifft mich das modifizierte Streben anders als das unmodifizierte. Dieses drängt mich zu einem Ziel hin, packt mich, reißt mich allenfalls mit. Im Betroffensein durch ein Gefühl tritt dieser Zug zurück, nur in starken Affekten kann sich davon noch ein Rest erhalten. Die Modifikation durch das Urteilen macht aus dem Streben eine Gefühlsqualität, die befreiend oder lähmend sein kann. Werde ich davon betroffen, fühle ich mich mehr oder weniger von ihr durchdrungen, allenfalls ergriffen oder gepackt. Kaum etwas durchdringt mich so sehr wie ein Gefühl. Dies lässt sich nicht nur von befreienden Gefühlen sagen mit ihrer Tendenz zum Emporheben und Ausweiten (wie bei Freude, Lust, Glück, Wonnegefühl, Zufriedenheit, Hoffnung), sondern auch von solchen, die lähmend wirken, mit der Tendenz zum Niederdrücken und zur Einengung (wie bei Trauer, Depression, Unlust, Angst, Langeweile). Davon unterschieden sind Antipathien, deren Ziel darin besteht, etwas, das ist, solle nicht sein. Dazu gehören Hass, Wut, Ärger, Zorn, Empörung, Neid, Eifersucht. Hier ist nicht der Ort, auf die vielfältigen Unterschiede einzugehen, wir müssen uns mit groben Zügen bescheiden. Hass, Wut, Zorn und Empörung sind Strebungen, die uns ergreifen und packen, allenfalls mitreißen, und zu denen es entsprechende Befriedigungen und Frustrationen gibt. Es drängt mich dazu, dem Hass, der Wut, dem Zorn freien Lauf zu lassen, was zu Befriedigung oder Frustration führen kann, wobei die Befriedigung wieder als befreiend und erhebend, die Frustration als lähmend und beengend erlebt wird. Ärger stellt sich ein, wenn unsere Wünsche behindert werden, Neid, wenn jemand anderer etwas hat oder kann, was wir selbst gerne hätten oder könnten. Eifersüchtig ist man auf Personen wegen ihres Verhältnisses zu anderen Personen, die man liebt und 183 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

fürchtet, sie zu verlieren. 258 Ärger kann als ein Frustrationsgefühl gelten, ebenso Neid, der allerdings komplexer ist, weil ich nicht nur nicht bekomme, was ich gerne hätte, sondern weil es an meiner Stelle ein anderer hat. Eifersucht ist dagegen der Furcht verwandt: Ich fürchte, eine mir nahe stehende Person wegen einer anderen zu verlieren. Wie unterschiedlich und komplex die Gefühle auch sein mögen, immer bin ich in der Weise betroffen, dass ich mich mehr oder weniger durchdrungen und erfüllt, allenfalls ergriffen und gepackt fühle. Dies bestimmt den Modus des Wachseins in Gefühlen. Wie steht es um das Betroffensein durch Stimmungen? Nach Bollnow stellen Stimmungen »die einfachste und ursprünglichste Form dar, in der das menschliche Leben seiner selbst – und zwar immer schon in einer bestimmt gefärbten Weise, mit einer bestimmt gearteten Wertung und Stellungnahme – inne wird.« 259 Stimmungen sind nicht wie Gefühle auf einen bestimmten Gegenstand intentional bezogen, sie sind vielmehr Zuständlichkeiten, Färbungen des gesamten menschlichen Daseins und verweisen nicht auf etwas außer ihnen Liegendes. 260 So fürchten wir uns immer vor etwas, durch das wir uns bedroht fühlen, während der, der sich ängstigt, keinen bestimmten Gegenstand anzugeben weiß, der ihm Angst macht. Ebenso unterscheidet sich Freude von der Stimmung der Fröhlichkeit dadurch, dass wir uns über etwas Bestimmtes freuen, während die Fröhlichkeit einen Gesamtzustand bildet, der uns überkommt und allen unseren Regungen einen bestimmten Stil verleiht. 261 Man möchte aus dieser Unterscheidung folgern, Gefühle unterscheiden sich von Stimmungen durch ihre Intentionalität, aber das trifft die Sache nicht, denn auch Stimmungen beziehen sich auf etwas, auf das »menschliche Leben«, auf das »Gemüt«, auf einen »Gesamtzustand«. Das sind zwar keine bestimmten Gegenstände, aber darum nicht nichts, sondern etwas, jedenfalls Subjekte möglicher Prädikate, und darum eben doch Gegenstände in einem allgemeinen Sinn. 262 Auch Stimmungen sind Zu Neid und Eifersucht siehe Demmerling / Landweer, Philosophie der Gefühle, a. a. O., S. 195 ff. 259 O. F. Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt a. M. 31956, S. 33. 260 Ebd., S. 35. 261 Ebd., S. 35 f. 262 So Tugendhat, wenn er erklärt, im Weltbezug der Stimmungen liege auch ein Gegenstandsbezug, aber ein offener, unbestimmter (Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a. a. O., S. 206). 258

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Die Weisen des Betroffenseins und die Modi pathischen Wachseins

intentional, obschon ihre Intentionalität unbestimmter ist als die von Gefühlen. Das lässt vermuten, sie seien in gleicher Weise Modifikationen von Strebungen wie Gefühle. Wenn Bollnow erklärt, in den Stimmungen werde das menschliche Leben seiner selbst inne, und zwar »mit einer bestimmt gearteten Wertung und Stellungnahme«, so besteht eine solche Wertung in einer Einschätzung, ob wir das Leben gut oder schlecht finden, was in der Meinung zum Ausdruck kommt, in der Stimmung zeige sich, wie wir uns fühlen. Heidegger, der die wohl fundierteste Theorie der Stimmungen geliefert hat, 263 konstatiert, dass das, was wir selbst sind (das »Dasein«) immer schon in irgendeiner Weise gestimmt sei. Stimmungen (»Befindlichkeiten«) sind eine besondere Weise, seiner selbst bewusst zu sein. »In der Befindlichkeit ist das Dasein immer schon vor es selbst gebracht, es hat sich immer schon gefunden, nicht als wahrnehmendes Sich-vorfinden, sondern als gestimmtes Sichbefinden.« 264 Sie ist eine »ursprüngliche Seinsart des Daseins«, »in der es ihm selbst vor allem Erkennen und Wollen und über deren Erschließungstragweite hinaus erschlossen ist.« 265 Erschlossen zu sein bedeutet nicht, dass etwas als solches erkannt ist 266, darüber hinaus bleibt der Begriff der Erschlossenheit bei Heidegger ziemlich dunkel. Tugendhat hat sich bemüht, ein Kriterium zu finden, mit dem sich entscheiden lässt, ob ein Bewusstseinszustand als eine Erschlossenheitsweise gelten könne oder nicht. Nach ihm erschließt ein Affekt oder eine Stimmung nur dann etwas, »wenn wir durch diesen Zustand etwas in irgendeiner Weise als etwas erfahren.« 267 Dazu genügt es nicht, dass ein Affekt auf einer kognitiven Komponente aufbaut, wie wenn man z. B. mit Aristoteles die Furcht auf die Vorstellung eines künftigen Übels zurückführt, denn ein solches ist auch ohne Furcht als Übel erkennbar, vielmehr soll ein Sachverhalt durch den Affekt selber als gut oder schlecht erscheinen. Dies sieht Tugendhat z. B. bei der Freude an einer Tätigkeit erfüllt. Jene Tätigkeiten sind für mich gut, die ich gerne tue. Vom Mitleid kann man sagen, ich erfahre in ihm mein Sein M. Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1963, § 29. Siehe dazu: Tugendhat, a. a. O., S. 200 ff.; B.-C. Han: Heideggers Herz. Zum Begriff der Stimmung bei Martin Heidegger, München 1996; R. Pocai: Heideggers Theorie der Befindlichkeit, Freiburg/ München 1996. 264 Heidegger, a. a. O., S. 135. 265 Ebd., S. 136. 266 Ebd., S. 134. 267 Tugendhat, a. a. O., S. 201 ff. 263

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als vom Übel eines andern, vom Zorn, in ihm erschließe sich mein Sein als von der Geringschätzung eines andern betroffen. 268 Ähnliches kann man von der Furcht behaupten. In ihr erschließt sich zwar nicht ein Sachverhalt als für mich schlecht, wohl aber erfahre ich mein Sein als jetzt von einem künftigen Übel betroffen. Diese Überlegungen führen Tugendhat zum Schluss: »Affekte sind Weisen des Sichzusichverhaltens, in ihnen begegne ich mir selbst, präziser gesagt: in ihnen werde ich mit meinem Zu-Sein – mit Bezug auf einen sein Wohl affizierenden Sachverhalt – als zu-seiendem und d. h. zu erleidendem konfrontiert.« 269 Ich selbst bin es, der im Affekt von einem Sachverhalt betroffen ist, nicht weil ich mich reflexiv auf mich zurückbeuge, sondern weil ich mich zu meinem Sein verhalte als einem solchen, das ich zu sein habe. 270 In der Freude an einer Tätigkeit erfahre ich diese als eine, die für mich gut ist, womit sie zu dem gehört, was für mich ein gutes Leben ausmacht. Hier verweist ein bestimmtes Gefühl darauf, dass der Sachverhalt, der es auslöst, zum Ziel des Strebens gehört, das in diesem Gefühl als befriedigt erlebt wird. In den Stimmungen bin ich im Unterschied zu Affekten vorwiegend mit mir selbst konfrontiert. In ihnen bricht das »Dass es ist und zu sein hat« des Daseins auf. 271 Dass sich in Stimmungen wie Angst, Missmut, Langeweile oder Heiterkeit und Glück das Sein des Daseins als Zu-Seiendes erschließt, heißt in Tugendhats Deutung, dass ich in ihnen nicht einen Sachverhalt als für mich oder einen anderen als gut oder schlecht erfahre, sondern mein Zu-sein, mein eigenes Leben als Ganzes. Dass ich zu sein, zu leben habe, bedeutet für Heidegger, dass ich in der Welt zu sein habe. »Die Gestimmtheit der Befindlichkeit konstituiert existenzial die Weltoffenheit des Daseins.« 272 Stimmungen beziehen sich nicht auf bestimmte Gegenstände oder Sachverhalte in der Welt, sondern auf das In-der-Welt-sein im Ganzen. Die Stimmung erschließt dieses als das, was wir zu sein haben. In ihr erfahren wir das Leben, das wir zu leben haben, als sinnvoll oder sinnleer. Das mag zunächst für die negativen Stimmungen einleuchten, in denen das In-der-Welt-sein als Last erscheint. Aber es gilt

268 269 270 271 272

Ebd., S. 203. Ebd., S. 204. Heidegger, a. a. O., S. 12. Ebd., S. 134. Ebd., S. 137.

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Die Weisen des Betroffenseins und die Modi pathischen Wachseins

nicht allein für diese, wie Tugendhat betont: »Im Glück wird dasjenige bejaht, was im Unglück verneint wird, das In-der-Welt-Sein, und das ›Ja‹ vollzieht sich wie jedes ›Ja‹ auf dem Hintergrund eines möglichen ›Nein‹ und umgekehrt.« 273 Der Sinnlosigkeit des depressiven Gestimmtseins und der Verzweiflung steht die Bejahung des Lebens in den heiteren Stimmungen entgegen. Auch Stimmungen kann man wie Urteilsgefühle als Modifikationen eines Strebens durch Urteile auffassen, nur beziehen sich Strebungen und Urteile nicht auf einen bestimmten Sachverhalt, sondern auf das Leben, insofern wir es zu leben haben. Für das Betroffensein wirkt sich das dahingehend aus, dass mich Stimmungen mit geringerer affektiver Kraft betreffen. Stimmungen packen mich nicht, haben nichts Mitreißendes; das Betroffensein beschränkt sich darauf, dass ich von der jeweiligen Stimmungsqualität durchdrungen werde, was unter Umständen sehr intensiv sein kann. Manchen Stimmungen entsprechen gegenstandsbezogene Gefühle von ähnlicher Qualität. Das, wovon wir in einer heiteren Stimmung betroffen werden, gleicht der Freude. Nur freuen wir uns über etwas, während heiter zu sein, ein die ganze Person durchziehender Zustand ist, der sich ähnlich befreiend anfühlt, wie Freude. Missmut wird wie Furcht oder Trauer als ein in sich abgestumpfter Zustand erlebt, der sich ähnlich lähmend auswirkt wie diese, nur durchdringt die missmutige Stimmung unser ganzes bewusstes Erleben, während Furcht oder Trauer vorwiegend leiblich lokalisiert sind. Dabei fühlen wir uns im Betroffensein durch Stimmungen in unserm ganzen Erleben und Tun von der jeweiligen Stimmungsqualität durchdrungen und erfüllt.

2.6

Träume

Die Frage, wie es sich im Träumen anfühlt, wach zu sein, klingt ziemlich gekünstelt, schon weil sie dem Sprachgebrauch widerspricht, demgemäß wir während des Träumens schlafen und eben darum nicht wach sein können. Zwar schlafen wir, während wir träumen, aber nicht ganz, oder nicht alles von uns schläft. Der Leib schläft weitgehend, aber das Traumbewusstsein schläft während des Träumens gewiss nicht. Träumend erleben wir bewusst, auch wenn sich dieses Erleben von dem, während wir nicht schlafen, unterscheidet. Soll 273

Tugendhat, a. a. O., S. 209.

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Pathisches Wachsein

man nun sagen, wir seien nicht wach, während wir träumen, da wir schlafen und Schlafen und Wachen gewöhnlich als Gegensätze gelten, die einander ausschließen, obschon jeder an sich selbst die Übergänge erfährt, die es zwischen beiden gibt? Gewiss sind wir nicht voll wach, während wir träumen, nicht allein der Leib schläft, so dass wir weder wahrnehmen noch uns willkürlich bewegen können, auch das pathische Vorstellen und Denken und alles absichtliche Bewusstsein schläft, obschon es scheint, als ob wir im Traum denken und vorstellen würden. Nur eines scheint wach zu sein: das träumende Bewusstsein. Wenn wir mit einem differenzierteren Begriff des Wachseins an unser bewusstes Erleben herangehen und annehmen, wir seien in jeder Weise bewussten Erlebens in einer je bestimmten Weise wach, dann kommen wir nicht umhin, nicht nur zu fragen, wie es ist, im Empfinden, im Wahrnehmen, im Vorstellen, Denken und Fühlen wach zu sein, sondern auch im Träumen. Die Schwierigkeiten, welche sich einer Antwort auf diese Frage in den Weg stellen, sind allerdings von ganz eigener Art. Wir können diese Frage nicht während des Träumens stellen und beantworten, sondern erst hinterher, nachdem wir aufgewacht sind. Das allein wäre noch harmlos, denn auch die Frage, wie es im Empfinden, Wahrnehmen oder Fühlen ist, wach zu sein, lässt sich nicht allein in eben diesen Bewusstseinsweisen beantworten, die Gegenstand unserer Reflexion sind. Wenn wir es können, dann darum, weil wir gleichzeitig noch in anderer Weise wach sind, nämlich vorstellend und denkend. Beides ist im Traum nicht möglich, und das macht das Träumen so viel unzugänglicher. Nicht nur kann ein Traum nicht sich selbst zum Gegenstand haben, er kann auch nicht Gegenstand anderer gleichzeitiger Erlebnisse sein, denn solche gibt es erst, wenn wir aufgewacht sind. Es bleibt nichts anderes übrig, als sich auf die Erinnerung an das eben Geträumte zu verlassen, phänomenologisch steht kein anderer Zugang offen. Der Traum hat das Merkwürdige an sich, dass wir ihn nicht zum Gegenstand eines gleichzeitigen anderen Erlebnisses machen können. 274 Wir können uns nur hinterher erinnern und nie sicher sein, ob das, was wir erinnern, auch das sei, was wir geträumt haben. Zwar lässt sich unsere Erinnerung durch andere Erinnerungen korrigieren, aber endgültige Gewissheit ist hier nicht zu haben. 275 274 Daher meinte Sartre, wir erwachen, sobald ein reflexives Bewusstsein im Traum erscheint. (Das Imaginäre, a. a. O., S. 257.) 275 Einiges an empirischen Befunden zur Traumerinnerung findet sich bei: Strauch/

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Freud war bekanntlich der Meinung, das, was wir als Traum erinnern, der »manifeste Traum«, sei nicht aus sich selbst heraus verständlich, sondern bedürfe der Deutung, die mit Hilfe der Einfälle des Träumers zu bestimmten Stücken des manifesten Traums sowie von Symbolen mit feststehender Bedeutung zu erfolgen habe. Die Deutung führt zum eigentlichen Trauminhalt, den »latenten Traumgedanken«, aus ihnen entsteht durch den Antrieb eines gleichfalls unbewussten Wunsches der manifeste Traum. Dieser ist das Resultat der »Traumarbeit«, welche die latenten Traumgedanken in den manifesten Traum umwandelt. An ihrem Ende steht die »sekundäre Bearbeitung« 276, welche die unterschiedlichen Teile, aus denen sich der Traum zusammensetzt, miteinander verkittet, Auslassungen stopft und ihm so eine glatte Oberfläche verleiht. Freud hielt die sekundäre Bearbeitung für ein Resultat unseres wachen Denkens, das bemüht ist, in diesem Material Ordnung zu schaffen. 277 Das Produkt der ganzen Traumarbeit wird am Ende zu einer Fassade, hinter der sich der Sinn des Traumes verbirgt, der nur durch Deutung und d. h. durch eine Rekonstruktion zu finden ist. Da wir das Rekonstruierte nie mit dem Original vergleichen können, haben Skeptiker leichtes Spiel. Ist der Traum während des Schlafs wirklich das, was aus dem Erinnerten mit Hilfe von Einfällen und Symbolen rekonstruiert wurde? Kann man ausschließen, dass er zur Gänze ein Produkt des Aufwachens ist? 278 Dann fänden wir auch keinen Zugang zur Weise, wie wir im Träumen wach sind, denn wenn wir nicht sicher sein können, ob das, was wir nach dem Aufwachen als Traum erinnern, auch das ist, was wir geträumt haben, ist auch auf die Erinnerung an das Wachsein im Traum kein Verlass. Allerdings dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass die Weise, wie wir im Traum wach sind, nicht von dem abhängt, was wir träumen, sondern primär von der Weise, wie wir uns im Traum betroffen fühlen. Der erinnerte Traum betrifft uns, wenn er Meier, Den Träumen auf der Spur, a. a. O., S. 61 ff. – Auf die umfangreiche Literatur zur empirischen Schlaf- und Traumforschung kann ich hier nicht eingehen. 276 Freud, Traumdeutung, a. a. O., S. 470 ff. 277 Ebd., S. 480. 278 Vgl. P. Gehring: Traum und Wirklichkeit. Zur Geschichte einer Unterscheidung, Frankfurt a. M. 2008, S. 213. Freud selbst hat darauf hingewiesen, die Auffassung, die ganze Schöpfung des Traums vollziehe sich im Moment des Aufwachens, finde sich bereits bei E. Goblot (Sur le souvenir des rêves. Rev. Phil. 42 (1896), S. 288) und M. Foucault (Le rêve: études et observations, Paris 1906, S. 482 f., 491). Freud, Traumdeutung, a. a. O., S. 482.

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Erinnerung geworden ist, nicht mehr wie ein Traum, aber das vergangene Betroffensein ist mit erinnert, und da fragt sich: Bezieht sich diese Erinnerung auf das Betroffensein durch Traumelemente im Schlaf oder auf etwas, das erst im Prozess des Aufwachens entstanden ist? Dazu ist zunächst zu bemerken: Wenn Träume uns wie andere pathische Erlebnisse betreffen, so müssen wir darin ein wirkliches Betroffensein sehen, nicht ein geträumtes und schon gar nicht ein phantasiertes. Allerdings erscheint im Traum alles als wirklich, er täuscht uns systematisch über das, was er ist. Erst wenn wir wach sind, erkennen wir den Irrtum und wissen, dass das, was wir geträumt haben, nicht wirklich war. Aber nicht alles im Traum ist irreal, es gibt Elemente, die im Traum vorkommen und sich nach dem Erwachen noch als wirklich erweisen. Dazu gehören die schon erwähnten Leibreize und vereinzelte Wahrnehmungen, aber auch Gefühle, als die ständigen Begleiter allen Erlebens, auch der Träume. Dabei müssen wir zwischen realen und imaginären Gefühlen unterscheiden. 279 Imaginäre Gefühle sind solche des geträumten, nicht des wirklichen Ich. Real sind die Gefühle des wirklichen Ich, des Ich, als das wir uns auch nach dem Erwachen fühlen. Es sind die Gefühle, die auch nach dem Erwachen noch für kurze Zeit fortdauern können, wie die Angst, die wir noch verspüren, wenn wir aus einem Angsttraum erwachen. Wenn wir annehmen, auch Geträumtes betreffe uns irgendwie, dann müsste auch das Betroffensein im Traum ein reales Gefühl sein, das auch nach dem Erwachen noch retentional gefühlt werden kann. Dann könnten wir nach dem Erwachen aus einem Traum noch erhaschen, wie uns der Traum betroffen hat. Bisher habe ich das Träumen als illusionäres Gegenwärtigen verstanden. Das Geträumte ist Vergegenwärtigtes, das als gegenwärtig erscheint. Dieses Verständnis kommt freilich nicht dem Traumbewusstsein selbst zu, sondern dem sich rückbesinnenden Wachbewusstsein. Träumend glauben wir wahrzunehmen, zu meinen, zu wissen, zu urteilen, zu zählen, zu fühlen usw., während wir doch nur vorstellen, wir würden all dies tun. Beide Gesichtspunkte sind sorgfältig auseinander zu halten: einerseits die Perspektive des Traumbewusstseins, wie wir in der Erinnerung meinen, geträumt zu haben, und andererseits, wie wir vom Wachbewusstsein her das Geträumte interpretieren und es in den Zusammenhang der wach erlebten Welt 279

Sartre, Das Imaginäre, a. a. O., S. 274.

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einordnen. In der Erinnerung an den Traum erscheint das Geträumte als wirklich Gewesenes, während es bloß phantasiert ist. Wir haben gesehen: Etwas erscheint dann als vergegenwärtigt, wenn es sich von einem hintergründigen Gegenwärtigen als nicht-gegenwärtig abhebt. Schwindet dies hintergründige Bewusstsein, so verliert das Gegenständliche den Charakter des Nicht-Gegenwärtigen und erscheint als gegenwärtig. Diese Auffassung bestätigt sich, wenn wir vom Phantasieren ins Traumbewusstsein übergehen. Schlafen wir ein, während wir einem Tagtraum nachhängen, und beginnen zu träumen, so ist das Gegenständliche des Tagträumens anfänglich noch als imaginär bewusst; kippen wir ins Träumen, erscheint es als gegenwärtig. Doch fragt sich, ob das Schwinden des hintergründigen Wahrnehmens ausreicht, um verständlich zu machen, warum das Geträumte als gegenwärtig erscheint. Es mag einleuchten, dass es nun nicht mehr als vergegenwärtigt bewusst sein kann, aber warum es mit dem Schein der Gegenwart ausgestattet wird, fordert zusätzliche Gründe. Überhaupt dürfte der Status der Gegenwärtigkeit des Geträumten näher besehen klärungsbedürftig sein. Gewöhnlich halten wir das Geträumte für gegenwärtig und wirklich und meinen damit, es sei wahrgenommen, doch mit welchem Recht? Sartre hat dem Geträumten jeden Wirklichkeitscharakter abgesprochen. 280 Für ihn ist der Traum ein Glaubensphänomen. Wir glauben an die Realität der Traumbilder, aber es ist nicht ein Glaube wie an Realitäten, d. h. die Objekte sind nicht selbst meiner Intuition präsent. 281 Der Träumende glaubt, die Szene spiele sich in einer Welt ab, doch das heißt nach Sartre nicht, er glaube, diese Welt sei real, er glaubt nur sehr intensiv an sie. Vertiefen wir uns in eine Lektüre, so glauben wir an die gelesene Geschichte, es macht Mühe uns von ihr zu lösen, wir sind von ihr fasziniert. Diese Art von Faszination nennt Sartre Glauben. 282 Gewiss kann Gelesenes uns gefangen nehmen, aber auch die spannendste Lektüre vermag uns nicht über ihre Fiktionalität hinwegzutäuschen. Eben dies scheint dem Traum zu gelingen, obschon durch und durch imaginär, glauben wir an seine Wirklichkeit. Aber warum eigentlich? Ist es notwendig, dass, wenn immer etwas erscheint, wenigstens etwas davon als gegenwärtig erscheint? Würden wir nur Begriffe träumen, wäre das Geträumte 280 281 282

Ebd., S. 263. Ebd., S. 260 f. Ebd., S. 268.

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zeitlos und nichts daran müsste gegenwärtig sein. Aber Träume sind nicht zeitlos, sie bestehen in Abfolgen (fiktiver) Ereignisse, und dazu gehört ein Bewusstsein von Gegenwärtigem, das stetig in die Vergangenheit absinkt. Diese Gegenwart kann auch fiktiv sein wie im Vergegenwärtigen, wo sie vergangen oder bloß möglich ist, aber fiktiv kann sie nur sein, wenn es eine wirkliche Gegenwart gibt, der gegenüber sie als fiktiv erscheint. Fällt sie weg, muss die fiktive Gegenwart als wirklich erscheinen, da zeitliche Vorgänge nicht ohne Gegenwart erlebt werden können. Allerdings haben wir schon bemerkt, dass es im Traum durchaus auch wirklich Gegenwärtiges gibt: Leibreize und vereinzelte Wahrnehmungen, aber auch reale Gefühle. Aber sie erscheinen im Traum als geträumt und damit im selben Sinne als (quasi-)wirklich wie alles im Traum. Wird uns klar, dass es sich dabei wirklich um Wirkliches handelt, nämlich um solches, gegenüber dem das übrige Gegenwärtige als fiktiv erscheint, wachen wir auf. Vielleicht hilft uns die These, Geträumtes sei Vergegenwärtigtes, das als gegenwärtig bewusst ist, typische Eigenheiten des Traumerlebens zu verstehen. Im Traum kann alles vorkommen, was wir im Wachzustand erleben 283, und noch einiges mehr. Träumend glauben wir nicht nur wahrzunehmen, sondern auch zu erinnern, zu urteilen, zu denken, zu sprechen, uns zu entschließen, zu handeln und uns zu bewegen. Vom Wachbewusstsein her gesehen tun wir das alles nicht wirklich, aber im Traum scheint es uns doch so, als ob wir es täten. Wir stellen uns vor, wir würden wahrnehmen, urteilen, uns entschließen usw., d. h. wir vergegenwärtigen uns ein Bewusstsein, das all dies vollbringt, und glauben zugleich, dies Vergegenwärtigte sei jetzt aktuell gegenwärtig. Was zunächst das Wahrnehmen im Traum betrifft 284, so unterscheidet es sich ganz erheblich vom Wahrnehmen im Wachzustand. Zwar scheinen wir wirklich wahrzunehmen, und doch sind beide Weisen des Wahrnehmens nicht von gleicher Qualität. Das Traumwahrnehmen ist nicht lediglich schwächer oder undeutlicher als das Wahrnehmen im Wachzustand, es kann äußerst intensiv und von höchster sinnlicher Prägnanz sein. 285 Aber es gibt nichts, was wie im 283 »Die Traumerfahrung umfasst mit den Wahrnehmungen, dem Sprechen, den Gedanken und Gefühlen alle Dimensionen, die uns vom Wachen her vertraut sind.« (Strauch/Meier, a. a. O., S. 83). 284 Vgl. ebd., S. 83 ff. 285 Vgl. M. Boss: Der Traum und seine Auslegung, Bern 1953, S. 77 ff.; Schmitz, System der Philosophie II, 5, a. a. O., S. 36.

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wachen Wahrnehmen lockt und weitere Erkundung fordert. Wir glauben wahrzunehmen, wo wir nur etwas visuell vorstellen, in Quasi-Erfahrungen scheinen wir wirklich zu erfahren, wo wir in Wahrheit so wenig erfahren wie im Vorstellen. Taucht etwas im Traum auf, so wissen wir zumeist auch schon, um was es sich handelt. Das schließt ausführliches Urteilen nicht aus. Als ich einmal mit der Frage, ob es im Traum echtes Urteilen gäbe, einschlief, träumte mir, ich gehe durch einen Gemüsegarten, wo von allen Seiten an Spalieren gezogenes Gemüse herunterhing. Dabei fragte ich mich bei jedem, was es sei, und gab gleich demonstrativ die Antwort: »das sind Bohnen«, »das sind Auberginen«, »das sind Peperoni«, »das Gurken«, »das ist Kürbis« usw. Doch von einem forschenden, abwägenden Urteilen fehlte jede Spur. Jedes Urteil war von Anfang an fertig und entschieden. 286 Anders als im wachen Wahrnehmen können im Traum unerwartete Szenenwechsel vorkommen: Eben habe ich noch in der Rolle des Zuschauers dieses bestimmte Geschehen in dieser Umgebung verfolgt, und mit einem Schlag ist alles ganz anders. Oder ich bin in einer bestimmten Rolle in ein Geschehen involviert, und dann bin ich plötzlich, vielleicht gar als ein anderer, an anderem beteiligt. Wahrnehmend nehme ich die Welt immer von einem bestimmten Standort aus wahr, den ich ändern kann. Bin ich woanders, so weiß ich für gewöhnlich, wie ich dorthin gekommen bin, zumindest kann ich es wissen. Zwischen den einzelnen Raumerlebnissen gibt es eine anschauliche Kontinuität, die im Traum meist fehlt. 287 Aber nicht nur das Träumen, auch das Vergegenwärtigen kommt ohne sie aus. Stelle ich mir eine Szenerie bildlich vor, so kann ich meinen phantasierten Standort willkürlich und nach Belieben ändern, ohne mitphantasieren zu müssen, wie es dazu gekommen ist. Auch im pathischen Vorstellen ist so etwas ohne Weiteres möglich. In einem Tagtraum versunken sehe ich eine Szene plötzlich von einem anderen Standpunkt aus, oder ich bin in ein ganz anderes Geschehen verwickelt als eben noch zuvor. Im Schlaftraum kann dasselbe geschehen, weil das Geträumte nicht wahrgenommen, sondern (eigentlich) vergegenwärtigt ist. In gleicher Weise lassen sich einige Merkwürdigkeiten ver286 Einiges zu empirischen Befunden über das Denken im Traum findet sich bei Strauch/Meier, a. a. O., S. 90 ff. 287 Vgl. I. Frank: Die Weisen des Gegebenseins im Traum. In: Psychologische Forschung 16 (1932), S. 136.

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stehen, die am Urteilen und Entschließen im Traum auffallen. Dem Urteilen im Traum fehlt, wie erwähnt, jener fragende und suchende Charakter, den es im Wachzustand auszeichnet. Es ist nicht in gleicher Weise auf Wahrheit bezogen, da sich schon von vorneherein entschieden hat, was etwas ist. Das Urteil ist eigentlich schon gefällt. Anstelle echten Urteilens tritt im Traum das Resultat eines Urteilens, das nicht erlebt wurde. Darin gleicht es den Gedanken, die uns einfallen. Das Urteilen im Traum ist nicht wirklich, sondern die Vergegenwärtigung eines Urteilens, das als gegenwärtig erscheint. Sich vorstellen zu urteilen, ist kein Urteilen. Aus demselben Grund steht auch ein Entschließen von vorneherein fest. Es fehlt das Bewusstsein unterschiedlicher Möglichkeiten und das der Wahl. Darüber hinaus ist es oft so, als ob ein anderer sich entschlösse, was daran liegen mag, dass das Ich, das sich entschließt, nicht ich bin, sondern ein imaginäres Ich, das ich träume. Es gibt allerdings eine Eigenheit des Träumens, welche die These, Geträumtes sei Vergegenwärtigtes, das als gegenwärtig erscheint, an eine Grenze stoßen lässt. Dinge im Traum können ihre Identität verlieren. Nicht nur kann eines plötzlich ein anderes sein, es kann auch zugleich ein anderes, ja mehrere Dinge zugleich sein. Freud hat dies »Verdichtung« genannt. Im Wahrnehmen ist so etwas unmöglich. Der Wahrnehmungsverlauf würde gehemmt, wir würden stutzen und fragen, was hier nicht stimmt. Auch im Vorstellen wird ein solcher Verstoß gegen den Satz der Identität nicht ohne Weiteres toleriert. Zwar können wir Widersprüchliches vorstellen, aber etwas sträubt sich dagegen. Im Traum jedoch nehmen wir das gelassen hin. Wir wundern uns nicht einmal, wenn etwas nicht in den bisherigen Zusammenhang des Traumes passt, geschweige denn, dass wir uns fragen, wie so etwas zustande kommt. Man gewinnt den Eindruck, es gehe dem Träumen gar nicht um das, was etwas ist. Es scheint nicht auf Wahrheit hin angelegt zu sein, was den Verdacht weckt, das Geträumte stehe nicht für sich selbst, sondern für anderes. Woher diese Unbekümmertheit gegenüber aller Logik und Erfahrung? Zunächst kommen wir nicht um die Feststellung herum, das Phänomen nicht-identischer Dinge und Sachverhalte im Traum bringe die These, Geträumtes sei Vergegenwärtigtes, das als gegenwärtig erscheint, gehörig ins Wanken. Wenn ich vergegenwärtige, weiß ich, dass ich vergegenwärtige, d. h. ich weiß, dass ich Vergangenes oder Mögliches bewusst habe. Dabei ist dieses Bewusstsein nicht ein Bewusstsein von etwas Gegenständlichem, sondern ein Bewusstsein von 194 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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Bewusstsein: Ich reproduziere ein vergangenes Wahrnehmen von einem Gegenstand. Wenn ich mich an ein vergangenes Erinnern erinnere, dann erinnere ich mich an ein vergangenes Erinnern eines vergangenen Wahrnehmens. Ich kann ein vergangenes Phantasieren oder Erinnern phantasieren oder ein vergangenes Phantasieren phantasieren, wobei ich immer das Erinnerte oder Phantasierte des jeweils vergegenwärtigten Bewusstseins thematisch bewusst habe. Wie sehr ineinander verschachtelt solches Bewusstsein von Bewusstsein auch immer sein mag, 288 letztlich ist es angewiesen auf ein unmittelbar selbstgebendes Bewusstsein, auf Wahrnehmung. So ist alle Vergegenwärtigung an das Wahrnehmen und seine Gesetzmäßigkeiten gebunden. Dazu gehören die Gesetzmäßigkeiten des Erscheinens wahrgenommener Dinge, etwa das der notwendigen Unvollständigkeit ihres Gegebenseins, z. B. dass ein Ding nicht gleichzeitig von allen Seiten gesehen werden kann. Vom Wahrgenommenen gelten auch die Gesetze der Logik. Ein Ding kann nicht zugleich und in derselben Hinsicht widersprechende Eigenschaften haben. Was in solcher Weise undenkbar ist, ist auch nicht wahrnehmbar. Wenn Geträumtes »eigentlich« Vergegenwärtigtes ist und alles Vergegenwärtigte auf Wahrgenommenes zurückweist, dann wären nichtidentische Dinge und Sachverhalte auch im Traum unmöglich. Gibt es sie dennoch, wie es wirklich der Fall ist, dann sind es entweder keine Vergegenwärtigungen oder solche, bei denen die Beziehung auf das Wahrgenommene weitgehend gestört ist. Das Erste kommt schon darum nicht in Frage, weil wir im Traum wirklich zu sehen meinen, und zwar durchaus auch sich widersprechende Dinge. Wenn ich träume, ich stehe vor einem Haus, und weiter träume, wie ich es mir von außen ansehe, dann hineingehe und feststelle, dass es innen ein ganz anderes Haus ist als außen, dann ist das alles quasi-wahrgenommen, also eine Vergegenwärtigung, die als gegenwärtig erscheint. Für die Hausansicht von außen wie für die von innen gilt das sicherlich, nur der Zusammenhang beider kann weder wahrgenommen noch vergegenwärtigt sein. Was ich da beide Mal quasiwahrnehme, kann nicht dasselbe Haus sein. Es scheint, im Traum werde der Zusammenhang des Vergegenwärtigten zerrissen und die derart entstandenen Fragmente in einer Weise zusammengesetzt, die weder im Wahrnehmen noch im Vorstellen möglich ist. Das lässt die Frage aufkommen, warum beim Träumen die Zu288

Vgl. dazu E. Marbach: Mental representations and consciousness, Dordrecht 1993.

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sammenhänge der wahrgenommenen Welt sich so sehr auflösen und die entstandenen Teile sich in widersprüchlichster Weise wieder zusammensetzen. Schon in der Phantasie trennen wir uns von der Wahrnehmung, obschon wir letztlich noch auf sie bezogen bleiben. Wir können Dinge und Vorgänge phantasieren, die es in Wirklichkeit nicht gibt, und selbst solche, die es nicht geben kann. Nur das logisch Unmögliche scheint hier eine Grenze zu setzen, die vom Traum noch überschritten wird. Dieser dürfte damit nur eine Tendenz fortsetzen, die schon dem Phantasieren eignet, nämlich sich mehr und mehr von der Welt des Wahrgenommenen zu entfernen, die Beziehungen unter den Dingen und Ereignissen aufzulösen und die Bruchstücke dieser Welt in neue Zusammenhänge einzubringen. Im Phantasieren und Tagträumen haben wir es immer mit Dingen und Sachverhalten zu tun. Da gibt eine Straße, daran ein Haus und die Person X, die in das Haus hineingeht. Unwillkürlich fügen sich solche Dingeinheiten zu Geschichten zusammen. Im Traum können sich diese Einheiten wieder in Bruchstücke auflösen. Vom Visuellen bleiben dann nur vereinzelte Gesamteindrücke und Ansichten. Ein Gesicht, eine Geste, die Atmosphäre eines Ortes, die Ansicht eines Hauses, einer Straße usw. Das Material, aus dem sich eine Traumgeschichte zusammensetzt, besteht weniger aus Dingen und Sachverhalten als aus Ansichten, Gesamteindrücken, Atmosphären und Gesten. Der Zusammenhang solcher Bruchstücke kann, aber muss nicht durchgehend, auf logischen und ontologischen Gesetzen und solchen des Wahrnehmens beruhen. Einzelne Ansichten werden aus ihren Zusammenhängen herausgerissen und in neue eingebracht. So kann z. B. die Ansicht eines Hauses aus dem Wahrnehmungsverlauf, in dem sich immer weitere Ansichten desselben Hauses zeigen, herausgenommen werden und in die Ansicht eines ganz anderen Hauses übergehen. So oder ähnlich werden im Traum die Ganzheiten des Wahrnehmens noch weiter zerlegt als im Phantasieren und neu zusammengesetzt. Dann erscheint im Traum eine Geschichte, in welche die Traumfiguren, darunter allenfalls auch wir selbst, verstrickt sind. 289 Solche Geschichten gibt es natürlich nicht nur im Traum, auch das wirkliche Leben besteht in Geschichten, und nicht zuletzt fügen sich auch die Phantasievorstellungen zu Geschichten zusammen. Vielleicht bekommen wir eine 289 Zur Thematik des Verstricktseins in Geschichten siehe: Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 42004.

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Antwort auf die Frage, wie es der Traum anstellt, die Zusammenhänge der wahrgenommenen Welt aufzulösen und sie durch andere zu ersetzen, wenn wir verfolgen, was jeweils für den Zusammenhang einer Geschichte bestimmend ist. Dies kann hier allerdings nur sehr verkürzt geschehen, indem wir uns an die auffälligsten Faktoren halten und dabei Vieles, das lediglich aus dem Hintergrund wirkt, beiseite lassen. Denken wir an die Geschichten, in die wir im wachen Leben verstrickt sind, so ist ihr Zusammenhang durch die Absichten der beteiligten Personen bestimmt, durch ihre Charaktere, die Situationen, in denen sie handeln, die Eigenschaften der Dinge, mit denen sie es zu tun haben, sowie durch all das, was uns dabei weiter an Widerfahrnissen begegnet. Phantasieren wir absichtlich eine Geschichte, so sind die Absichten, die wir dabei haben, entscheidend für das, was imaginär in ihr geschieht. Sie bestimmen die Absichten der in die Geschichte verstrickten Personen, ihre Charaktere, die Situationen, in denen sie ihre Phantasie-Handlungen vollziehen. Sie bestimmen auch die Eigenschaften der phantasierten Dinge, die nicht mit denen wirklicher Dinge übereinstimmen müssen, aber doch Variationen wirklicher Eigenschaften sind. Geraten wir in unabsichtliches Phantasieren, so fehlen die Absichten. An ihre Stelle treten Strebungen und Wünsche, Gefühle und Stimmungen. Während Absichten auf Überlegungen und Entscheidung beruhen, verstehen wir Wünsche als Strebungen, die ohne unser Zutun auftreten. Besonders Tagträume zeigen deutlich, wie eine ganze Geschichte durch Wünsche angetrieben und geleitet wird, wie auch der Höhepunkt für gewöhnlich in einer Wunscherfüllung besteht. Doch nicht nur Wünsche sind entscheidend. Wohl lässt uns Liebe das Zusammensein mit der geliebten Person ausmalen und Hass die gehasste Person allerlei phantasiertem Ungemach aussetzen. Trauer drängt dazu, fortwährend an die verlorene Person denken zu müssen, und Hoffnung lässt das Erhoffte sich in der Phantasie erfüllen, während Furcht uns dazu bringt, das Befürchtete herbei zu phantasieren. Depressives Gestimmtsein verleitet zu schwarz malenden, heiteres zu angenehmen, wohligen Phantasien. Auch was uns im gesellschaftlichen Zusammensein als Gesprächsstoff in den Sinn kommt, kann in hohem Maß davon abhängen, wie vergnüglich oder gereizt die momentane Stimmung ist. Obschon wir im Traum glauben, wirklich wahrzunehmen, zu urteilen oder zu entscheiden, sind wir noch stärker von der Wirklichkeit entfernt als im Phantasieren. Weil in ihm das Bewusstsein gänz197 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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lich abhanden gekommen ist, dass alles in ihm Vergegenwärtigung letztlich eines Wahrnehmens, Urteilens oder Entscheidens ist, ist der Traum nur durch einen dünnen Faden mit der Wirklichkeit verbunden. Dafür brechen Wünsche, Gefühle und Stimmungen mehr oder weniger ungehindert durch. Das Träumen braucht nicht, wie das Phantasieren, Rücksicht zu nehmen auf Gesetze der Erfahrung und Logik, insofern und insoweit ist es kein Phantasieren und kein Vergegenwärtigen möglichen Wahrnehmens, Urteilens usw., sondern ein Gebilde neuer, eigener Art, in dem nicht die Realität, sondern das Wünschen, die Gefühle, die Stimmungen dominieren, denen alles untergeordnet wird. Im Traum kappen wir die Verbindung zur wirklichen Welt gerade dadurch, dass wir glauben, nicht zu phantasieren und damit Wirkliches zu vergegenwärtigen, sondern glauben, alles sei wirklich gegenwärtig. Gibt es im Wachzustand ein Erleben, das sich ähnlich unbekümmert zur Realität verhalten und ähnlich Widersprüchliches für gegenwärtig und wirklich nehmen kann? Auf dem Gebiet der Strebungen und Gefühle findet sich zumindest Verwandtes. Folgen wir Brentano, so lassen sich die Strebungen in Liebe und Hass einteilen, von denen jede mit sich identisch ist. Liebe ist nicht zugleich Hass und dieser nicht zugleich Liebe. Aber wir können ein und dieselbe Person zugleich lieben und hassen. Es gibt ambivalente Gefühle: Wir können ein und derselben Person zugleich zärtliche und aggressive Gefühle entgegen bringen. 290 Dieselbe Person zugleich lieben und hassen, bedeutet, sie zugleich zu lieben und nicht zu lieben, was sich nicht weniger widersprüchlich ausnimmt, wie etwas in derselben Hinsicht zugleich für A und non-A zu halten. Man darf also annehmen, Träume haben nicht nur mit Vorstellungen und Urteilen einiges gemeinsam, sondern auch mit Gefühlen, worauf einige strukturelle Ähnlichkeiten zwischen beiden hinweisen. Gefühle, jedenfalls Urteilsgefühle, hielten wir für Modifikationen eines Strebens durch Urteile. Je nach Strebensziel und Urteilsmodalität ergeben sich unterschiedliche Gefühle. Ziel ist ein Sachverhalt, der angestrebt und über dessen Existenz oder Nichtexistenz geurteilt wird. Dieses Urteilen

290 Vgl. die Definition von Ambivalenz in: J. Laplanche, J. B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1973, S. 55: »Gleichzeitige Anwesenheit einander entgegengesetzter Strebungen, Haltungen und Gefühle, z. B. Liebe und Hass, in Beziehung zu ein- und demselben Objekt.«

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kann sich auf echtes oder vermeintlich Reales beziehen. Letzteres trifft auf die realen Gefühle im Traum zu, sie sind zwar echte, nicht fiktive Gefühle, haben aber eine fiktive Realität, z. B. eine imaginäre Gefahr, zum Gegenstand. Im Traum gibt es keine wirklichen Sachverhalte, nur solche des illusionären Gegenwärtigens, aber es gibt wirkliche und wirkende Wünsche. Nun möchte man sagen, wenn es reale Wünsche und reale Gefühle gibt, dann gibt es auch reale Tatsachen im Traum, nämlich solche, die darin bestehen, dass das und das gewünscht oder gefühlt wird. Aber beim Träumen muss man immer fragen, für wen etwas ist, für das träumende oder das wache Ich. Die Tatsachen, um die es hier geht, sind nur durch Reflexion zugänglich, aber reflektieren können wir im Traum nicht, ohne aufzuwachen, das hat Sartre gezeigt. Die Wünsche im Traum streben nach Befriedigung und brauchen keine Rücksicht auf die Realität zu nehmen, sondern gestalten sie nach ihrem Gusto. Wenn der Traum, wie Freud meinte, eine halluzinierte Wunscherfüllung ist, dann gaukelt er vor, das Gewünschte würde existieren. Demgegenüber sind die Gefühle im Traum sekundär. Sie entstehen, wenn wir das Vorgegaukelte für wirklich halten. Der Traum beruht nicht, wie das Gefühl, auf einem Urteil über die Existenz des Gewünschten, vielmehr tritt an die Stelle des Urteils, dass das Gewünschte existiert, das illusionäre Gegenwärtigen einer Wunscherfüllung. Das gilt zumindest, wenn wir Freud folgen, für Kinderträume, in denen angeblich Wunscherfüllungen ohne Hemmung und Zensur geträumt werden. Darin gleichen sie den Tagträumen, die jedoch nicht Träume, sondern Phantasien sind, und zwar solche, die regelmäßig auf Wunscherfüllungen hinauslaufen. Der Traum, so muss man jetzt sagen, ist ein illusionäres Gegenwärtigen, aber kein beliebiges, sondern eines, das Wünschen folgt und fiktive Wunscherfüllungen hervorbringt. Diese Halluzinationen sind nicht, wie der erinnerte und erzählte Traum, ein für sich bestehendes Resultat, das vom aktuellen Wünschen trennbar wäre, vielmehr ist das Wünschen während des Träumens wie im Gefühl dauernd am Werk. Darin gleicht der Traum dem Gefühl. Haben wir dieses als eine Modifikation eines Strebens verstanden, so scheint auch der Traum eine solche Modifikation zu sein. Und wie Gefühle nicht aus Streben und Urteilen zusammengesetzt sind, so sind Wünsche und illusionäres Gegenwärtigen nicht Bestandteile von Träumen, sondern nur noch unselbständige Momente von etwas, das ihnen gegenüber neu ist, in dem wir glauben, Wirkliches zu erfahren, das unseren Wunsch 199 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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erfüllt. Während das Gefühl nicht nur vom Wunsch, sondern auch von der Realität abhängt, ist der Traum allein an den Wunsch (oder an mehrere Wünsche) gebunden, die nichts weiter als ihre Erfüllung verlangen. Darin folgen wir Freud. Wir können auch seiner Erklärung zustimmen, warum so viele Träume so wenig nach Wunscherfüllungen aussehen, und oft wirr, unverständlich und bizarr erscheinen. Nach Freud ist auch dies ein Werk der Traumarbeit, insbesondere dessen, was er »Zensur« genannt hat, 291 einer Instanz, die den Traum entstellt und so dafür sorgt, dass der in ihm wirkende Wunsch und die mit ihm verbundenen unbewussten latenten Traumgedanken nicht ins Bewusstsein dringen. Das Resultat sind Lücken im Trauminhalt, bloße Andeutungen oder Unbestimmtheiten, welche anstelle dessen treten, was eigentlich hätte dargestellt werden sollen. Auch die Verschiebung des Akzents gehört dazu, so dass ein Teil des manifesten Inhalts unwichtig und nebensächlich erscheint, obschon er aufgrund der latenten Traumgedanken die Hauptsache enthält. Die Zensur wendet sich gegen das hemmungslose Wünschen, das so gar keine Rücksicht auf die Realität nimmt, insbesondere nicht auf die Anforderungen von Kultur und Gesellschaft. Was als anstößig verworfen wird, unterliegt der Zensur, wozu auch der schrankenlose Egoismus gehört, der die Wünsche auszeichnet, welche Träume hervorbringen. Freud beschreibt den manifesten Traum als Produkt eines Konflikts zweier Instanzen: Die eine will etwas ausdrücken, und die andere will das nicht zulassen; dabei identifiziert er die Traumzensur mit dem Verdrängungswiderstand, durch den sich die beiden Instanzen voneinander absetzen. 292 Dieser geht vom Über-Ich aus, 293 dem die Funktion der Selbstbeobachtung, des Gewissens und des Strafens zugehört. 294 Das Über-Ich enthält die durch Identifizierung mit den Eltern verinnerlichten tradierten Wertvorstellungen der Gesellschaft. So sind auch in der Traumentstellung Wünsche am Werk, nur nicht solche libidinösen Ursprungs. Die Strafträume, erklärt Freud, »setzen nur an die Stelle der verpönten Wunscherfüllung die dafür gebührende Strafe, sind also die Wunscherfüllung des auf den verworfenen

291 S. Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Studienausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1969, S. 150 ff. 292 Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Neue Folge, a. a. O., S. 458. 293 Ebd., S. 507. 294 Ebd., S. 498 f.

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Trieb reagierenden Schuldbewusstseins.« 295 Die Entstellungen, welche die Zensur am Traum vollbringt, sind Eingriffe in halluzinierte Wunscherfüllungen, und selbst wiederum Erfüllungen von Wünschen, nur von anderen. So können wir den manifesten Traum als Produkt unterschiedlicher, ja gegenteiliger Wünsche verstehen. Freud ist noch mit einer weiteren Art von Träumen konfrontiert worden, die nun gar nicht mehr zu seiner These passen, Träume seien halluzinierte Wunscherfüllungen. Es sind Träume, die er an Patienten beobachtete, die an traumatischer Neurose leiden. 296 Solche Neurosen sind Folgen schrecklicher Erlebnisse, wie sie im Krieg oder bei Unfällen vorkommen, für die das Moment der Überraschung und des Schrecks kennzeichnend ist. 297 Während Angst uns vor einer drohenden Gefahr wappnet, sind wir im Schreck ungeschützt dem Schrecklichen ausgesetzt. Kranke, welche an dieser Neurose leiden, träumen immer wieder unter starker Angstentwicklung die Schocksituation, die ihr Leiden verursacht hat. Dies widerspricht offensichtlich der These vom Traum als einer halluzinierten Wunscherfüllung, denn was für ein Wunsch soll da erfüllt werden, wenn einer immer wieder dasselbe Entsetzliche träumt? 298 Freud meint denn auch, diese Träume dienten nicht der Wunscherfüllung, sondern einer Aufgabe, die gelöst sein muss, »bevor das Lustprinzip seine Herrschaft beginnen kann. Diese Träume suchen die Reizbewältigung unter Angstentwicklung nachzuholen, deren Unterlassung die Ursachen der traumatischen Neurose geworden ist.« 299 Türcke bemerkt dazu: »Träume, die in zwanghafter Wiederholung wieder und wieder traumatische Kriegserlebnisse halluzinieren, sind Ausdruck des Wunsches nach Erlösung vom Schrecken. Sie sind Kronzeugen der Wunscherfüllung, nur nicht der Freudschen, die auf der Einschränkung beruht: wo Wunsch, da Eros.« 300 Den Wunsch, vom Schrecken loszukommen, hält er für grundlegender als jene Wünsche, deren Erfüllung Lust bereitet, und das nicht zu Unrecht, weil Lust erst erlebt werden kann, 295 Freud, Jenseits des Lustprinzips, Studienausgabe, Bd. 3, a. a. O., S. 242. Vgl. Traumdeutung, a. a. O., S. 531 f. 296 Auf diese Träume hat neulich Christoph Türcke hingewiesen (Philosophie des Traums, München 2008, S. 56 ff.) und darauf eine (etwas gewagte) spekulative Kulturarchäologie aufgebaut. 297 Freud, Jenseits des Lustprinzips, a. a. O., S. 222 f. 298 Ebd., S. 223 f. 299 Ebd., S. 241 f. 300 Türcke, a. a. O., S. 59.

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wenn wir von Schreck, Verletzung und Schmerz losgekommen sind. Hier kommt eine Dimension des Lebens und seiner Bedürfnisse zum Vorschein, die noch vor der des Luststrebens liegt und mit dem Streben zusammenhängen dürfte, das dem pathischen Wachsein zugrunde liegt. Was der an traumatischer Neurose Leidende träumt, ist entsetzlich, aber der Zwang zur Wiederholung hilft, sich davon zu befreien, und darin besteht die Erfüllung des Wunsches. Dazu wird nicht eine Wunscherfüllung halluziniert, sondern geradezu die Nichterfüllung eines Wunsches, mit dem Zweck, diesen Wunsch nicht halluzinatorisch, sondern wirklich zu befriedigen. Die Wunscherfüllung gehört hier nicht dem Traum, sondern dem wirklichen Leben an. Das erinnert daran, dass auch der Wunschtraum nach Freud einem Zweck dient, dessen Erfüllung nicht halluzinatorisch, sondern wirklich erreicht werden soll, nämlich dem Schlafwunsch. Wenn Türcke meint, die Träume von Patienten mit traumatischer Neurose seien »Ausdruck des Wunsches nach Erlösung vom Schrecken«, heißt das nicht, dass der Traum diese Erlösung darstelle, denn was er darstellt, ist das Gegenteil davon. Diese Träume mögen der Erfüllung eines Wunsches dienen, aber sie drücken ihn nicht aus. Sie bilden auch nicht, wie Freud meinte, die Ausnahme von der Regel, demgemäß alle Träume halluzinierte Wunscherfüllungen sind, und diese Regel ist auch nicht damit zu retten, indem man sie umformuliert und den Traum nur noch als »Versuch einer Wunscherfüllung« 301 bezeichnet, denn das glatte Gegenteil einer Wunscherfüllung zum (missglückten) Versuch einer solchen umzuinterpretieren, kann, wie Türcke bemerkt, kaum überzeugen. 302 Wir müssen die Beziehung zwischen Wunsch und Traum weiter fassen. Natürlich strebt jeder Wunsch nach Befriedigung, was annehmen lässt, dieses Streben könne sich ungehindert durchsetzen, wenn die Hindernisse wegfallen, die sich dem entgegenstellen, wie es im Schlaf der Fall ist. Alle Träume müssten dann eigentlich Halluzinationen von Wunscherfüllungen sein. Aber das Wünschen hat seine Schicksale. Jeder Mensch macht seine Erfahrungen damit, nicht nur solche lustvoller Befriedigung, sondern auch von Frustrationen, Enttäuschungen und Niederlagen. Es wäre verwunderlich, wenn sich das nicht auch im Traum durchsetzen würde. Das legt nahe, an den Träumen seien nicht nur Wünsche beteiligt, sondern auch der Nieder301 302

Freud, Vorlesungen, Neue Folge, a. a. O., S. 471. Türcke, a. a. O., S. 57.

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schlag von Erfahrungen, der sich in den Gefühlen als Modifikationen von Wünschen oder Strebungen findet. Beliebiges zu wünschen setzt voraus, dass wir bis zu einem gewissen Maß von Schreck, Leiden und Schmerz losgekommen sind, und der Kampf um die Herstellung dieser Bedingungen kann uns bis in die Träume verfolgen. Können wir nicht nur die Erfüllung, sondern auch die Versagung von Wünschen träumen, dürfen wir vermuten, es ließen sich auch Träume finden, die auf eine wahrscheinliche Befriedigung oder wahrscheinliche Frustration hindeuten. Sollte sich diese Annahme bestätigen, wäre die strukturelle Ähnlichkeit zwischen Träumen und Gefühlen kaum mehr zu übersehen. Dann stellt das Geträumte nicht nur eine Wunscherfüllung dar, es muss in einem weiteren Sinne verstanden werden, nämlich als illusionäre Vergegenwärtigung des Sachverhalts oder der Situation, die beim Urteilsgefühl das Urteil auslöst und es wahr macht. Wenn Urteilsgefühle Strebungen sind, welche durch Urteile über das Erreichen oder Nichterreichen des Ziels modifiziert wurden, so können wir Träume in Analogie dazu gleichfalls als Modifikationen von Strebungen ansehen, nur nicht durch Urteile allein, sondern auch durch ein illusionäres Gegenwärtigen. Wir müssen Gefühle und Träume als ein funktionales Ganzes betrachten, in dem jeder Teil etwas zum Entstehen und Bestehen eines Gefühls oder Traums beiträgt. Verstehen wir ein Urteilsgefühl als Modifikation eines Strebens durch ein Urteilen, so bleibt das unvollständig. Zum Urteil gehört eine Situation in der Welt (ein Sachverhalt, ein Ereignis), welche ein Urteil über das Erreichen oder Nichterreichen des Strebensziel auslöst und wahr macht. Schläft der Leib, ist der Bezug zur Umwelt verschlossen; an die Stelle der realen Situation des Wachlebens tritt der Traum. Wenn dieser, wie das Gefühl, eine Modifikation eines Strebens wäre, was modifiziert dann das Streben? Es kommt auch beim Traum, wie beim Gefühl, dafür zunächst nur ein Urteil in Frage. Aber warum entsteht daraus ein Traum und nicht ein Gefühl? Die Antwort dürfte mit dem fehlenden Bezug zur Realität zu tun haben. Ist unser Leib wach, können wir wahrnehmen und erfahren, ob unser Strebensziel erreicht oder nicht erreicht wird. Schläft der Leib, ist das unmöglich. Woher kommt dann ein Urteil? Schlafen wir, sind nicht nur Strebungen am Werk, sondern auch Gefühle, die aus dem Wachleben stammen und uns im Schlaf noch beschäftigen. Im Schlaf hat das im Gefühl implizierte Urteilen den Bezug zu dem verloren, aus dem es herkommt: die reale 203 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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Situation, die es wahr macht. Der Traum ersetzt das fehlende Stück. Das im Gefühl implizierte Urteil (und mit ihm das Streben) schafft sich das fehlende Glied durch ein Vergegenwärtigen, das nur illusionär sein kann, weil ihm das hintergründige Wahrnehmen fehlt. So ist ein Traum nicht immer eine halluzinierte Wunscherfüllung, aber immer ist er ein illusionäres Gegenwärtigen einer Situation, die ein gleichartiges Urteil und damit ein gleichartiges Urteilsgefühl auslösen kann wie das Gefühl, aus dem der Traum hervorgegangen ist und das ihn in Gang hält. Jeder Traum ist Modifikation eines Gefühls durch ein illusionäres Gegenwärtigen und damit immer auch Modifikation eines Strebens. Während ein Gefühl aus dem Zusammenwirken von Streben und Urteilen hervorgeht, braucht es für einen Traum auch das illusionäre Gegenwärtigen einer Situation, die das Urteilsgefühl (quasi) wahr machen kann, das den Traum ausgelöst hat. Dieser entsteht nicht ohne das Gefühl, das ihn trägt und lenkt. Die Stücke, aus denen sich der Traum zusammensetzt, stammen aus der Erfahrung, aber nicht ihr Zusammenhang. Das Gefühl bringt das illusionäre Gegenwärtigen dazu, diese so zusammenzusetzen, dass Szenen und Situationen entstehen, welche das im Gefühl enthaltene Urteil wahr machen, was wiederum das Gefühl erneuert. So bildet sich der Traum als eine vom Gefühl erzeugte und gelenkte Geschichte, die durch und durch von diesem bestimmt ist. Der Traum stellt nicht ein Gefühl dar, sondern eine Situation, die ein Gefühl auslöst und es (quasi) wahr macht. Die Nähe zwischen Gefühl und Traum haben auch andere bemerkt, doch ohne auszuführen, worin sie besteht. So kann man bei Binswanger lesen: »Gerade die Vertiefung in den manifesten Trauminhalt […] lehrt uns, die ursprünglich enge Zusammengehörigkeit von Gefühl und Bild, von Gestimmtheit und bildhaftem Erfülltsein richtig zu würdigen.« 303 Er sieht diese Zusammengehörigkeit nicht allein darin, dass das Geträumte Gefühle und Stimmungen auslöst, vielmehr gilt ihm dieses als Ausdruck des Gefühlten: »Es ist ein Zeichen geistiger Gesundheit, wenn der Mensch im Traum seine Wünsche und Befürchtungen vorwiegend in dramatischen Bildern objektiviert, aus denen dann erst […] der Stimmungsgehalt zu entströmen 303 L. Binswanger: Traum und Existenz, in: Ausgewählte Werke, Bd. 3, hg. von M. Herzog, Heidelberg 1994, S. 103. Vgl. D. Wyss: Traumbewußtsein? Grundzüge einer Ontologie des Traumbewußtseins, Göttingen 1988, S. 47.

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scheint.« 304 Die halluzinierten Erfüllungen des Gewünschten oder Befürchteten sind solche, die ein Urteil darüber motivieren, dass das Gewünschte oder Befürchtete besteht, was zusammen mit dem Wunsch oder der Befürchtung zu einem Gefühl der Befriedigung oder der Frustration führt. Ähnlich äußert sich Benedetti: »Alles, was das wache psychische Leben des Menschen ausmacht – Befürchtungen, Ängste, Wünsche, Hoffnungen, Sehnsüchte – werden durch den Traum in Bilder übersetzt. Die Angst vor dem Tod lässt den Tod leibhaftig erscheinen; die Sehnsucht nach Gott kann den Träumer erleben lassen, wie er eins mit ihm wird im Feuer einer Kerze. […] Die Fähigkeit des Traums, die verschiedensten Regungen der Seele in Bilder zu übersetzen, ist beinahe unendlich.« 305 Benedetti macht deutlich, dass Träume nicht nur Wunscherfüllungen und ihre Modalisierungen, sondern auch den Gegenstand von Gefühlen bildhaft darstellen können. Wenn er meint: »Die Angst vor dem Tode lässt den Tod leibhaftig erscheinen«, so besagt das nicht, dass das Gefühl, hier die Todesangst, im Traum erscheint, sondern das, wovor man sich ängstigt: das eigene Sterbenmüssen. Dass auch Gefühle Träume auslösen und ihr Gegenstand im Traum erscheint, braucht uns nicht zu wundern, wenn wir sie als Modifikationen von Strebungen oder Wünschen verstehen. Das Streben, am Leben zu bleiben, wird durch das Urteil »ich werde sterben« zur Angst vor dem Tod, in der das Strebensziel als wahrscheinlich nicht erreichbar erlebt wird. Im Traum tritt an die Stelle der Angst auslösenden Situation eine bildhafte Erscheinung des Todes. So sehr das Geträumte mit Gefühlen verflochten sein mag, Träume sind nicht Übersetzungen oder Darstellungen von Gefühlen in Bilder, sondern Darstellungen von Situationen, die jene Gefühle auslösen können, die dem Traum zugrunde liegen. Solche illusionären Gegenwärtigungen lösen Gefühle aus, ohne selbst Gefühle zu sein. 306 Zu sagen, sie stellten Gefühle dar, trifft die Sache nicht, denn die Situation, die ein Gefühl auslöst, ist kein Gefühl, auch nicht die Darstellung eines solchen. Wenn ich hungrig bin und von einem üppigen Essen träume, stellt der Traum nicht mein Gefühl der Befriedigung

Binswanger, a. a. O., S. 105. G. Benedetti: Vom Sinn und Doppelsinn der Träume. In: Ders.: Botschaft der Träume, Göttingen 1998, S. 50. 306 Die Erfahrung, dass nicht alle Träume von Gefühlen begleitet sind (siehe Strauch/ Meier, a. a. O., S. 97 f.) spricht daher nicht gegen dieses Traumverständnis. 304 305

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dar, sondern das, was befriedigt: das Essen. Die Zufriedenheit, welche diesen Traum begleiten mag, ist und bleibt ein Gefühl und ist nicht geträumt; sie ist ein reales, nicht ein fiktives Gefühl. Ein Traum ist kein Gefühl, aber er speist sich aus den gleichen Quellen wie die Gefühle. Wie diesen liegt ihm ein Streben oder Wünschen zugrunde, aber dieses wird nicht allein durch ein Urteilen zum Traum, sondern nur mit Hilfe eines illusionären Gegenwärtigens von Situationen und Ereignissen, die ein Urteilen über das Erreichen oder Nichterreichen eines Strebensziel (quasi) wahr machen. Insofern kann man auch vom Traum sagen, er sei eine Modifikation eines Strebens, nur nicht durch ein Urteilen allein, sondern durch ein illusorisches Gegenwärtigen, das eine Situation fingiert, das ein Urteil darüber hervorruft, ob das Strebensziel erreicht oder nicht erreicht wird. Der Traum dramatisiert Sachverhalte, die den Umständen entsprechen, auf die sich Urteilsgefühle beziehen. Wenn dies zutrifft, dann gibt es nicht nur Träume von Situationen, die Wunscherfüllungen darstellen, sondern auch Hoffnungsträume mit Szenen, die hoffen lassen, ein Wunsch werde erfüllt, Angstträume, in denen ein Wunsch als wahrscheinlich nicht erfüllbar imaginiert wird, und schließlich Frustrationsträume, welche Ereignisse wiedergeben, welche die Erfüllung eines Wunsches verunmöglichen. Unter diesen Träumen sind die Angstträume die bekanntesten. In ihnen wird unter starker Angstentwicklung eine beängstigende Situation geträumt, z. B. Verfolgungsträume oder Träume, man würde endlos immer tiefer fallen. In beiden kommt das Ende unausweichlich näher, die Angst nimmt stetig zu, aber meist wird das Ende nicht geträumt, weil zu starke Angst den Schläfer weckt. Freud war der Meinung, anstelle der wahrnehmbaren Realität trete im Schlaf die Halluzination einer Wunscherfüllung, weil Wünsche nach Erfüllung streben, und mit dem Ausfall der Realität alle Hindernisse, die sich ihr in den Weg stellen könnten, weggeräumt sind. Dann ist die Bahn frei zur assoziativen Bildung von Träumen, der nur noch andere Wünsche in die Quere kommen können. Diesem Konzept stehen die Wiederholungsträume jener Kranken entgegen, die an traumatischer Neurose leiden. Solche Träume erfüllen nicht beliebige Wünsche, sondern (wenn man das unterstellen darf) den Wunsch, das seelische Gleichgewicht wieder zu erlangen. Man kann diese Träume als krankhaft beiseite schieben und traumatische Situationen zu extremen Ausnahmen erklären, muss aber doch zugeben, dass auch ein »normales« Leben reichlich Gelegenheiten zu frustrie206 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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renden Erlebnissen bietet, mit denen man zurechtkommen muss. Wir haben gesehen, dass frustrierende Gefühle im Unterschied zu den befriedigenden nicht in sich abgeschlossen sind. In ihnen baut sich das Streben nicht ab, es bleibt bestehen und kann störend und hindernd in unser Leben eingreifen. Wir sagen dann gewöhnlich, »etwas beschäftigt mich«, weil wir immer wieder daran denken müssen. Ähnlich den traumatischen müssen auch frustrierende Erlebnisse verarbeitet werden, bis sich das Drängende und Treibende des ihnen zugrunde liegenden Strebens abgebaut hat. Das muss nicht zu Wiederholungen der frustrierenden Situation im Traum führen, es genügt, eine Situation zu träumen, welche zu einem Urteil führt, das zusammen mit dem immer noch drängenden Streben ein Gefühl entstehen lässt, das dem ursprünglichen frustrierenden Gefühl gleichkommt. Frustrationsträume oder auch Angstträume können dazu beitragen, vagabundierende unbefriedigte Wünsche abzubauen, die nicht zu befriedigen sind. Man muss sich mit der Tatsache abfinden, dass etwas nicht so ist, wie gewünscht. Wunschträume können dies so wenig leisten wie tröstende Worte, mit denen man etwas vorgaukelt, dem keine Realität entspricht. Das wäre Flucht in die Illusion. Es scheint, das Realitätsprinzip fordere auch im Traum noch vor dem Lustprinzip sein Recht. Wie steht es nun um die strukturelle Ähnlichkeit zwischen Traum und Gefühl? Obschon Träume eng mit Gefühlen verflochten sind, müssen wir an ihrer Verschiedenheit festhalten: Ein Gefühl besteht in einer je besonderen Gefühlsqualität, die für es charakteristisch ist, ein Traum in einem zumeist anschaulichen illusionären Gegenwärtigen. Gefühle können sich zwar auf Anschauliches beziehen, sind aber selbst unanschaulich. Ihre »Fülle« ist, wenn man so will, emotional, nicht visuell. Hinzu kommen strukturelle Gemeinsamkeiten: Beide gehen aus Strebungen oder Wünschen hervor und können als Modifikationen von Strebungen verstanden werden; bei Gefühlen durch Urteile, bei Träumen durch Urteile und illusionäres Gegenwärtigen. Zu einer solchen Modifikation kommt es nur dann, wenn sich das Urteilen und das dieses szenisch darstellende illusionäre Gegenwärtigen auf das Strebensziel beziehen und dieses als erfüllt oder wahrscheinlich erfüllt oder als nicht erfüllt oder wahrscheinlich nicht erfüllt beurteilen bzw. anschaulich vergegenwärtigen. Die Parallelisierung von Gefühl und Traum mag hilfreich sein, die Komplexität der Träume besser zu durchschauen, aber sie darf nicht dazu verführen, sich über diese hinwegzutäuschen. Träume sind meist nicht so 207 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

einfach gestrickt, dass man sie in vier Sorten einteilen könnte. Wie Gefühle komplexer werden, wenn unterschiedliche, ja gegenteilige Wünsche beteiligt sind oder sie sich auf mehrere Personen beziehen (man denke an ambivalente Gefühle oder an Gefühle wie Eifersucht oder Scham), so sind auch die Sachverhalte, an denen sich solch komplexe Gefühle entzünden, selbst komplex und damit die Träume, in denen sie halluziniert werden. Auch wenn der Vergleich von Träumen und Gefühlen das Verständnis beider fördern mag, ist damit erst ein Anfang gemacht. Träume sind zu vielschichtig, als dass sie allein mit dem Aufweis solch struktureller Verwandtschaften aufzuklären wären. Die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Träumen und Gefühlen lassen uns annehmen, Träume betreffen uns ähnlich wie Gefühle. Wie Gefühle sind sie Modifikationen von Strebungen, nicht allein durch ein Urteilen, sondern auch durch Imagination. Wie jedem Urteilsgefühl liegt auch dem Traum ein Streben nach einem Ziel zugrunde. Nur urteilen wir nicht darüber, ob wir es erreichen, sondern träumen eine Situation, in der es als erreichbar oder wahrscheinlich erreichbar oder nicht zu erreichen oder wahrscheinlich unerreichbar dargestellt wird. Solche geträumten dramatischen Situationen lösen denn auch die ihnen entsprechenden Gefühle aus. Daher sind wir im Traum nicht nur vom Traumgeschehen, sondern auch von den dadurch ausgelösten Gefühlen betroffen, und so nennen wir denn auch geträumte Situationen, die Angst verursachen, einen »Angsttraum«. In solchen Fällen betrifft uns die Angst, indem sie uns durchdringt und erfüllt, und wenn sie affektiv genug ist, packt sie uns auch. Nicht nur die Angst betrifft uns, auch die Situation, von der sie ausgelöst wird, denn Träume sind bewusst, und das sind sie, weil wir uns betroffen fühlen. Gefühle und Träume unterscheiden sich, aber die Weisen, wie sie uns betreffen, unterscheiden sich nicht: Träume betreffen uns gleichartig wie Gefühle. Nicht nur Gefühle durchdringen und erfüllen uns, auch Träume, und auch sie können uns ergreifen und packen. Der Modus des Wachseins im Traum unterscheidet sich nicht vom Wachsein in Gefühlen. 307 Man kann sich die Gleichartigkeit im Betroffensein von Träumen und Gefühlen durch einen Vergleich mit dem Tagträumen klar machen. Schlafen wir, während wir einem Tagtraum nachhängen, zeitweise ein, träumen und erwachen wieder, tritt der Unterschied 307

Zum Betroffensein durch Gefühle siehe oben S. 183.

208 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Die Weisen des Betroffenseins und die Modi pathischen Wachseins

im Betroffensein durch einen Traum und einen Tagtraum ziemlich deutlich hervor. In den Tagträumen folgt das Vorgestellte unseren Wünschen. Es drängt sich auf, aber zwischen dem, was sich da aufdrängt und uns liegt noch eine Distanz, die mit dem Einschlafen schwindet. Während wir träumen, versinken wir gleichsam im Geträumten, das sich nun nicht mehr, wie Vorgestelltes, wie von außen aufdrängt, sondern intimer uns von innen her ergreift und erfüllt. Die These, Träume betreffen uns wie Gefühle, hat auch für unser Verständnis von Gefühlen Konsequenzen. Betreffen uns Träume in gleicher Weise wie Gefühle und ist die Weise, wie wir betroffen werden, ein Modus des pathischen Wachseins, dann sind wir in den Gefühlen in gleicher Weise wach wie in den Träumen. Nennen wir das Wachsein im Traum traumartig, so sind wir auch in den Gefühlen traumartig wach, gleichgültig ob es sich um reale Gefühle im Schlaftraum oder um Gefühle handelt, während wir nicht schlafen. Der Zustand, den wir gewöhnlich »wach« nennen, ist einer, in dem wir immer auch traumartig wach sind, da unser normales Wachleben immer von Gefühlen durchdrungen ist. Umgekehrt muss man sagen: Der Ausfall der wahrgenommenen Realität im Schlaf bedeutet nicht, dass es für das träumende Subjekt keine Realität mehr gäbe. Schon die dem Traum zugrunde liegenden Wünsche sind real und wirksam, selbst wenn sie unbewusst bleiben. Gefühle können im Traum real und bewusst sein, dann betreffen sie uns in gleicher Weise, wie wenn wir sie in den Perioden aktiven Wachseins erleben. Dies macht sie zu Botschaftern zwischen der Welt des Traums und der des Wachseins. Man denke nur an die Angst, die wir noch fühlen, wenn wir eben aus einem Angsttraum erwacht sind. Auch das Umgekehrte ist möglich, etwa wenn uns beim Einschlafen ein intensives Gefühl nicht loslässt und einen Traum induziert, in dem es weiter besteht. Auch wenn wir leiblich wach sind und wahrnehmend und denkend mit der Umgebung beschäftigt, bleiben wir in unseren Gefühlen traumartig wach.

2.7

Die Modi des pathischen Wachseins. Zusammenfassung

Ein Modus des pathischen Wachseins ist bestimmt durch die Weise, wie wir uns betroffen fühlen. In ihm fühlen wir auf je bestimmte Weise unser Widerstreben gegen Widerfahrnisse. In den Urteilsgefühlen dieses Widerstrebens sind wir pathisch wach. Der Gehalt dieser Gefühle hängt nicht allein vom Strebensziel und der Urteils209 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

qualität ab, sondern auch von der Qualität, wie uns etwas betrifft. Je nachdem, wie uns etwas betrifft, fühlt sich das anders an. Schmerzen zu fühlen und befürchten, sie zu fühlen, fühlt sich anders an, als wenn ein noch unbestimmter Reiz uns lockt, panische Angst uns ergreift oder wenn wir in einen Tagtraum versinken. Das alles sind Frustrationen des Strebens, nicht betroffen zu werden, aber sie sind nicht immer von derselben Gefühlsqualität: In jedem Betroffensein fühle ich mich mehr oder weniger ohnmächtig, aber je nachdem, wie ich betroffen werde, fühlen sich die Frustrationen unterschiedlich an, und diese Unterschiede bestimmen einen Modus des Wachseins. 308 Wir fanden, dass ein solcher Modus nicht nur in einer bestimmten Weise, betroffen zu sein, besteht, sonst wären wir nur im Betroffensein wach, und das Wachsein wäre mit dem Bei-Bewusstsein-Sein gleichzusetzen. 309 Wir sind nicht nur im bewussten Erleben wach, sondern schon zuvor, da wir in einer bestimmen Weise wach sein müssen, um Erleben bestimmter Art bewusst haben zu können. So lautet jedenfalls die These, welche im nächsten Kapitel vertreten wird. Wir sind nicht nur wach, wenn wir bei Bewusstsein sind, sondern auch dann, wenn wir bereit sind, in dieser oder jener Weise betroffen zu werden. Das pathische Wachsein als Voraussetzung bewussten Erlebens habe ich der Furcht vor Betroffenheit gleichgestellt, weil mir Betroffenheit nur als Erfüllung der Furcht vor ihr möglich schien. 310 Die Furcht, in bestimmter Weise betroffen zu werden, ist nicht mehr Angst vor der Wiederkehr des Taumels und damit nicht mehr Angst vor unbestimmter Betroffenheit: Als Furcht, in bestimmter Weise betroffen zu werden, antizipiert sie dieses Betroffensein und gehört demselben Modus des Wachseins an, der durch die Weise des Betroffenseins bestimmt ist. Auch die Hoffnung auf geringeres Betroffensein gehört dazu, denn auch sie hat ein Betroffensein bestimmter Qualität zum Gegenstand. Ob es auch eine Befriedigung des Widerstrebens gibt, die zu einem Modus des pathischen Wachseins führt, wird uns noch beschäftigen müssen. 311 Einstweilen wollen wir festhalten, dass ein Modus des pathischen Wachseins durch eine bestimmte Weise des Betroffenseins charakterisiert ist, die zu 308 309 310 311

Siehe oben S. 142. Vgl. oben S. 115. Siehe oben S. 114. Siehe unten S. 232.

210 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Die Weisen des Betroffenseins und die Modi pathischen Wachseins

ihm ebenso gehört wie die Furcht, in dieser Weise betroffen zu werden, und die Hoffnung auf geringeres Betroffensein gleicher Qualität. Es wäre natürlich bequem, wenn man einen Modus des Wachseins jeweils einer bestimmten Erlebnisart zuschreiben könnte, aber wir mussten feststellen, dass so unterschiedliche Erlebnisse wie Träume und Gefühle im selben Modus bewusst werden. Auch mussten wir zugeben, dass es ein leibliches Betroffensein durch Gefühle gibt, was bedeutet, dass die Gefühle, die uns leiblich betreffen, jedenfalls soweit das der Fall ist, im selben Modus bewusst werden wie Empfindungen und Schmerzen. Damit sind auch schon Probleme berührt, die uns noch beschäftigen müssen, nämlich die des gleichzeitigen Wachseins in unterschiedlichen Modi. Wenn uns z. B. in einem Angsttraum die Angst leiblich ergreift, ergreift sie uns unmittelbar örtlich bestimmt, dann müssen wir auch leiblich wach sein, aber doch nur in einer beschränkten Weise, denn sonst wären auch die Sinnesorgane wach, und das ist im Traum nur in sehr eingeschränkter Weise möglich. Sehen wir von solchen Komplikationen ab, so können wir zusammenfassend fünf Modi des pathischen Wachseins unterscheiden: 1. Das traumartige Wachsein: Traumartig wach sind wir in Träumen und Gefühlen. Fühlen wir uns von einer Traumszene oder einem Gefühl betroffen, so fühlen wir uns davon durchdrungen und erfüllt und, je nach Intensität der ihnen zugrunde liegenden Strebung, auch ergriffen oder gepackt. Traumartig wach sind wir auch, wenn wir fürchten, auf diese Weise betroffen zu werden oder auf geringeres Betroffensein gleicher Qualität hoffen. 2. Leiblich wach sind wir, wenn etwas unmittelbar leiblich lokalisiert verspürt wird. Dazu gehören Empfindungen, Schmerzen, aber auch Gefühle, soweit sie uns leiblich betreffen. Dabei ist jedes Betroffensein, je nach Art der Empfindung oder des Schmerzes oder des Gefühls, von je ganz bestimmter Qualität. Von dieser Qualität fühlen wir uns mehr oder weniger betroffen, aber immer fühlen wir uns leiblich betroffen, d. h. in der Weise unmittelbaren Lokalisiertseins, oder wir fürchten, in dieser Weise betroffen zu werden, oder hoffen auf geringeres Betroffensein. 3. Das wahrnehmungsartige Wachsein: In diesem Modus wird bewusst, was lockt. Im Angelocktwerden, sei es ein Vereinzeltes oder eines durch einen Verweisungszusammenhang von 211 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

Lockungen oder in der Furcht davor, besteht der wahrnehmungsartige Modus des pathischen Wachseins. 4. Das vorstellungsartige Wachsein: Betroffensein durch Vorstellungen entsteht, wenn uns eine vereinzelte Vorstellung einfällt und sich derselbe Einfall ständig wiederholt, aber auch dann, wenn sich unterschiedliche Vorstellungen zu einer Geschichte aneinanderreihen, die sich von selbst fortsetzt. In beiden Fällen drängen sich die Vorstellungen wie von Außen auf, aber in der Wiederholung derselben Vorstellung binden sie sich an uns (sie docken an uns an), in der Ausweitung zu einer Geschichte binden sie uns an sich und wir gehen in der Geschichte auf. Das sich Wiederholende setzt sich fest, wir werden es nicht los, während die Geschichte uns fesselt und in sich hineinzieht. Bei vereinzelten Vorstellungen, die uns ohne Wiederholung einfallen, ist die Tendenz zur Bindung weniger ausgebildet, sie sind flüchtiger und berühren uns kaum. 5. Das Wachsein in pathischen Gedanken: Verstehen wir unter »Gedanken« etwas, das wahr oder falsch sein kann, so betreffen uns pathische Gedanken, welcher Art auch immer (seien es solche über Wirkliches, Mögliches oder Fiktives) in der Weise, dass wir sie für wahr halten müssen. Zu Modalisierungen ihrer Wahrheit kommt es erst, nachdem uns ein Gedanke eingefallen ist. Während er uns einfällt, sind wir von seiner Wahrheit überzeugt, aber nicht aus Einsicht, sondern aus Zwang. Dieser Zwang zum Fürwahrhalten ist die Weise, wie uns pathische Gedanken betreffen. Durch ihn ist dieser Modus des Wachseins bestimmt. Es hat einige Mühe bereitet, unterschiedliche Weisen des Betroffenseins gegeneinander abzugrenzen. Ich habe mich dabei an dem orientiert, was im Betroffensein bewusst wird, an den unterschiedlichen Arten von Erlebnissen, in denen wir uns betroffen fühlen, und diese zum Leitfaden genommen. Ohne diese Orientierung an dem, was wir erleben, wäre die Suche nach gemeinsamen Zügen des Betroffenseins in Gefahr geraten, ins Uferlose abzugleiten, denn wir sind in verschiedener Hinsicht und in vielerlei Nuancen von etwas betroffen. Möglicherweise wäre man auf diesem Wege zur Feststellung gekommen, dass gewisse Erlebnisse gewisse Züge des Betroffenseins gemeinsam haben und andere Züge gemeinsam mit anderen Erlebnissen, wie bei Familienähnlichkeiten. Die Möglichkeit, jeden Modus durch einen oder wenige Züge zu charakterisieren, hat die Übersicht erheblich erleichtert. Die Beschreibung der unterschiedlichen Quali212 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein als notwendige Bedingung pathischen Bewusstseins

täten des Betroffenseins erfolgt in einer metaphorischen Sprache, wie stets, wenn wir über das Bewusstsein sprechen. Man kann sich die Bedeutung dieser Metaphern klar machen, indem man unterschiedliche Beispiele miteinander vergleicht. Vielleicht hätte man nun doch gerne eine Antwort auf die Frage, warum diese unterschiedlichen Weisen, Betroffenheit zu erleiden und zu befürchten, Modi des Wachseins sein sollen. Die Frage zielt auf das, was ihnen gemeinsam ist, was sie zu Weisen des Wachseins macht. Dieses Gemeinsame müssen wir darin sehen, dass sie unterschiedliche Weisen sind, unser Widerstreben gegen Widerfahrnisse und damit unser Streben nach einem nicht-taumeligem Selbstsein zu fühlen. Wir fühlen in diesen Modi unterschiedliche Weisen der Frustration dieses Strebens oder fürchten sie oder hoffen auf geringere Frustration. Dadurch sind diese unterschiedlichen Gefühle Modi des Wachseins. Das leuchtet vorerst nur für das Betroffensein selbst ein und damit für das Wachsein im Sinne des Bei-Bewusstsein-Seins. Dass wir auch in der Furcht vor Betroffenheit wach sind, und auch sie, wie die Hoffnung auf geringeres Betroffenseins, zum selben Modus des Wachseins gehören, muss erst nachgewiesen werden. Dazu ist zu zeigen, dass die Furcht, in bestimmter Weise betroffen zu werden, eine notwendige Voraussetzung dafür ist, dass eine bestimmte Art des Erlebens bewusst werden kann. Das ist Thema des folgenden Kapitels.

3

Pathisches Wachsein als notwendige Bedingung pathischen Bewusstseins

Wach zu sein gilt für gewöhnlich als eine wichtige psychologische Voraussetzung für viele Leistungen eines Lebewesens. Wir müssen wach sein, damit wir bewusst erleben können. 312 Dies trifft schon für das pathische Wachsein zu. Bewusstes Erleben, das wir erleiden, ist nach dieser Behauptung nur möglich, wenn wir pathisch wach sind. Dies ist eine notwendige, wenn auch gewiss nicht hinreichende Bedingung für pathisches Bewusstsein. Sie gilt in einem allgemeineren und einem spezielleren Sinn. Allgemein gilt: Jedes pathische Bewusstsein setzt pathisches Wachsein voraus. Um Pathisches überhaupt bewusst erleben zu können, muss ich pathisch wach sein, und 312

Siehe oben S. 36.

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Pathisches Wachsein

das bin ich zunächst in einem weiten Sinne in der Angst, irgendwie betroffen zu werden. Werde ich betroffen, so ist das immer eine je bestimmte Weise des Betroffenseins. Ich fürchte dann, in ähnlicher Weise betroffen zu werden wie bisher, und bin auch nur für solches wach, das mich ähnlich betrifft. Die speziellere These handelt davon, in welcher Weise ich wach sein muss, damit ich eine bestimmte Art pathischen Erlebens bewusst erleben kann, und setzt damit die Unterscheidung qualitativ verschiedener Modi des Wachseins voraus. Ich wende mich zunächst der allgemeineren These zu.

3.1

Die allgemeinere These: Die Angst vor der Wiederkehr des Taumels ist eine notwendige Bedingung für pathisches Bewusstsein

Verstehen wir pathisches Wachsein im allgemeinen Sinn als Fühlen des Widerstrebens gegen Widerfahrnisse, dann fühlen wir dieses Widerstreben zum einen in der Frustration, und d. h. im Betroffensein, in dem etwas pathisch bewusst ist. Das ist Wachsein im Sinne von Bei-Bewusstsein-Sein. Wach sind wir aber schon, bevor uns etwas bewusst ist, wir müssen dazu bereit sein, ein Minimum an Rezeptivität muss entstanden sein, denn es ist nicht einzusehen, wie in völliger Bewusstlosigkeit etwas bewusst werden könnte. Wir haben in der Angst vor der Wiederkehr des Taumels ein anfängliches Wachsein gefunden, das sich in der Angst, in irgendeiner Weise betroffen zu werden, fortsetzt. Die allgemeinere These besagt, diese Angst zu fühlen, bilde eine notwendige Voraussetzung für jede Art pathischen Bewusstseins. Oben 313 habe ich einige Bedenken formuliert, die gegen ein solches Verständnis sprechen. Nun ist zu fragen, ob diese durch den Rückgang auf den Taumel obsolet geworden sind oder ob wir weiter mit ihnen rechnen müssen. Ein erstes Bedenken bezog sich auf die Frage, wie das Widerstreben gegen Widerfahrnisse entsteht. Darauf hat sich eine Antwort gefunden: Ist der ursprüngliche Taumel bewusst, so müssen wir in ihm den Keim sehen, aus dem dieses Widerstreben hervorgegangen ist, denn er führt zur Angst vor seiner Wiederkehr, in der wir fühlen, dass wir danach streben, nicht-taumelig zu sein, worin das eigentliche

313

Siehe oben S. 127ff.

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Pathisches Wachsein als notwendige Bedingung pathischen Bewusstseins

Ziel des Widerstrebens besteht. 314 Dieses Widerstreben darf nicht als eine Reaktion auf schon Bewusstes aufgefasst werden. Als ein Streben nach Nichtsein von Taumel ist es eines nach Nichtsein von Betroffenheit überhaupt. Wenn ich nach jenem strebe, strebe ich auch nach diesem. Ein zweites Bedenken handelte von der Frage, wie wir fühlen können, dass wir widerstreben. Diese Frage nimmt auf eine weit verbreitete alltagspsychologische Überzeugung über das Wachsein Bezug: Wir verstehen es als eine Art Bewusstsein, zu dem gehört, dass ich weiß oder wenigstens fühle, dass ich wach bin, wenn ich es bin. 315 Sich wach zu fühlen ist ein Phänomen, das sich vor allem dann zeigt, wenn wir uns zu wenig oder in ungeeigneter Weise wach fühlen, um etwas zustande zu bringen. Als pathisches Wachsein bedeutet es zu fühlen, dass ich nicht betroffen werden möchte, und das fühlen wir vor allem dann, wenn wir uns als gefährdet erleben, also in stark affektiven Erlebnissen. 316 Aber auch da, wo das Betroffensein nicht so beeindruckend, sondern leiser daherkommt, geschieht uns etwas. Es hat dann vielleicht nur noch den Anhauch des Fremden, NichtEigenen, das ich mir auf Distanz halten will und von dem ich mich abgrenzen möchte. Auch das fühlen wir, wenn auch in stilleren Weisen der Angst, betroffen zu werden. Solche Angst setzt nicht voraus, dass mir etwas bewusst ist, das ich als bedrohlich einschätze und darum fürchte, denn als Angst vor der Wiederkehr des Taumels besteht sie schon, bevor wir durch Widerfahrnisse betroffen werden. Der Taumel ist nicht etwas, das mich betrifft, sondern ein eigener Zustand der Haltlosigkeit und der unbestimmten Gefährdung. Habe ich Angst, er könne wiederkehren, so setzt das kein Widerfahrnis voraus, das ich erleide, vorausgesetzt ist nur, dass ich (wiederholt) getaumelt habe, und dies ist nicht etwas, das von mir verschieden wäre; den Taumel erleide ich nicht, ich bin selbst taumelig. Der eben vergangene Taumel ist meine eigene Vergangenheit. Die Angst vor seiner Wiederkehr ist eine Angst vor einem eigenen vergangenen Zustand, der stets wieder Gegenwart werden könnte. Sie kann bestehen, bevor mir etwas pathisch bewusst wird, und ist nicht darauf angewiesen, dass mich etwas betrifft. Werde ich betroffen, wird diese Angst erfüllt, und zwar durch jede Weise des Betroffenseins. Wenn 314 315 316

Siehe oben S. 129. Siehe oben S. 36. Siehe oben S. 123.

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Pathisches Wachsein

jede die Angst vor der Wiederkehr des Taumels erfüllt, dann wird die Angst vor einem eigenen künftigen Zustand zu einer Furcht vor etwas, das ich nicht bin und das mich betrifft. Die Angst vor der Wiederkehr des Taumels ist eine Angst, in irgendeiner Weise betroffen zu werden. Ein drittes Bedenken galt der Frage, wie wir uns Betroffenheit so denken können, dass durch sie etwas bewusst wird, ohne ein Urteil darüber voraussetzen zu müssen, dass wir betroffen werden. Was pathisch bewusst ist, wird es durch unser Erleiden, und dieses verstehen wir als Frustration des Widerstrebens gegen Widerfahrnisse. Frustration ist das Gefühl, das aufkommt, wenn dieses Widerstreben mit dem Urteil »ich bin betroffen« konfrontiert ist. Wie kommt es zu diesem Urteil? Man möchte sagen, es entsteht, sobald ein Widerfahrnis bewusst wird. Doch dies ist erst der Fall, wenn das Widerstreben frustriert wird, was eben dieses Urteil voraussetzt. Wie können wir diesem Zirkel entkommen? Diesem Problem sind wir schon im Zusammenhang mit der Wiederkehr des Taumels begegnet und haben es dort in den wesentlichen Zügen gelöst. 317 Solange wir die Frustration des Widerstrebens von dem her verstehen, was uns widerfährt, gibt es keine Rettung. Wir müssen von der Wiederkehr des Taumels ausgehen und jedes Betroffensein als etwas verstehen, das ihr ähnlich ist. Sind wir nur wenig betroffen, kann dies leicht übersehen werden, bei starker Betroffenheit wird man geradezu darauf gestoßen. Betroffen zu sein, heißt immer auch, mehr oder weniger zu taumeln. Besonders an stark affektiven Erlebnissen zeigt sich, dass das, was wir zunächst erleben, noch nicht ein Bewusstsein von etwas ist, sondern eine Art Taumel. Die Angst, die mich packt, erlebe ich weitgehend als ein Gepacktwerden, zumindest zu Beginn der Angst gibt es noch keinen Unterschied zwischen dem Gepacktwerden und dem Packenden, das ich erleide. Anfänglich fühle ich mich gepackt und erschüttert und erst dann wird bewusst, was mich packt. Je mehr mich etwas betroffen macht, desto mehr steht zumindest zu Beginn das Erleiden im Vordergrund und damit der wiederkehrende Taumel. Am extremsten dokumentiert dies der Schreck, der nur noch im Leiden besteht, ohne dass sich Gegenständliches abzuheben vermag. Wir haben gesehen, dass die Angst, betroffen zu werden, als Angst vor unbestimmter Gefährdung, wie die Angst vor der Wieder317

Siehe oben S. 134.

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Pathisches Wachsein als notwendige Bedingung pathischen Bewusstseins

kehr des Taumels, bewusst ist. 318 Diese Angst wird durch beliebige Widerfahrnisse erfüllt, sei es durch Vorstellungen oder Gedanken, die mir einfallen, durch auftauchende Gefühle, die mich ergreifen, oder durch Wahrgenommenes. Diese Erfüllung kommt nicht durch ein implizites Urteilen zustande, das man sich wie ein explizites denkt, sondern durch eine Deckung der Sinne. Ich ängstige mich, irgendwie betroffen zu werden, und dann widerfährt mir etwas, dessen Sinn mit dem, wovor ich mich ängstige, insofern zur Deckung kommt, als auch zu ihm Betroffenheit gehört, allerdings eine bestimmte. Diese (teilweise) Deckung beider Sinne weckt die besondere Weise, in der ich betroffen werde, womit diese bewusst wird. Erst jetzt ist ein explizites Urteil, dass ich betroffen werde, möglich. Das Betroffensein beruht nicht auf einem Urteil über mein Betroffensein, sondern auf der Erfüllung der Furcht. Solange man glaubt, Frustration setze immer ein Wissen davon voraus, dass das, was eintritt, das ist, was ich befürchte, kommt man nicht weiter. Es lassen sich genügend Beispiele finden, die zeigen, dass Frustration auch ohne ein solches Wissen auskommt. Gehe ich durch einen dunkeln Wald, mag es vorkommen, dass ein Gefühl der Unheimlichkeit sich breit macht, verbunden mit einer Furcht vor unbekannten Gefahren. Dann lässt mich schon das geringste Geräusch zusammenzucken. Es erfüllt meine Furcht, ohne dass ich wüsste, ob es wirklich Gefahr ankündigt. Das ist nicht unähnlich dem, was sich beim Wiedererkennen von etwas ereignet. Wir können eine Person, die uns begegnet, als eine wiedererkennen, die wir schon einmal gesehen haben. Das geschieht ganz von selbst und nicht aufgrund von Merkmalen, die wir angeben könnten, sondern durch eine Deckung des Sinnes des Gesehenen mit dem einer Erinnerung, die uns als solche nicht einmal bewusst sein muss. Wie in solchen Fällen beruht auch die Erfüllung der Furcht vor Betroffenheit nicht auf einer irgendwie gearteten Identifizierung von etwas, das ich erkannt habe, mit dem, was ich befürchte, statt dessen kommt es zu einer Deckung zweier Sinngehalte: Das, was sich ereignet, deckt sich mit dem, was ich befürchte. Frustration und entsprechend auch Befriedigung müssen nicht zwingend auf einem Urteil darüber beruhen, ob das, was geschieht, das ist, was ich befürchte. Warum kann ein Erlebnis bewusst werden, wenn sich sein Sinn mit dem eines anderen Erlebnisses deckt, das bewusst ist? Auch dazu 318

Siehe oben S. 134

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Pathisches Wachsein

können wir an Bekanntes anknüpfen. Ich denke dabei vor allem an das schon erwähnte Phänomen des »etwas erinnert an etwas«, das uns noch beschäftigen wird, wenn wir zur Frage kommen, wie Vergangenes wieder bewusst werden kann. 319 Ich nehme etwas wahr, und dann erinnert mich das an etwas anderes, das ich in der Vergangenheit erlebt habe. Gewöhnlich erklärt man dieses Phänomen mit Assoziation durch Ähnlichkeit und meint damit: Ist ein bewusstes Erlebnis, das genügend affektive Kraft aufweist, einem andern in irgendeiner Hinsicht ähnlich, so wird dieses gleichfalls bewusst. 320 Etwas Wahrgenommenes kann eine Erinnerung wecken oder eine Erwartung, es kann eine Wunschregung auslösen oder einen Tagtraum. Diese affektive Kraft beschränkt sich nicht auf Wahrgenommenes, auch eine Erinnerung kann andere Erinnerungen oder Phantasien wecken, eine Phantasie kann gedankliche Einfälle auslösen, Gedanken können anschauliche Vorstellungen anregen usw. Damit dieses Phänomen entsteht, müssen zwei Sinngehalte zu einer wenigstens partiellen Deckung kommen. Die Angst vor der Wiederkehr des Taumels erlebe ich bewusst, ihre Bewusstheit ist ein Erbe des ursprünglichen Taumels 321 und kommt noch der Angst zu, nicht betroffen zu werden. Deckt sich der Sinn dessen, wovor ich mich ängstige, mit etwas, so fühle ich mich betroffen. Oben haben wir gesehen, dass die Angst vor der Wiederkehr des Taumels von jeder Art Widerfahrnis erfüllt werden kann, weil jedes Betroffensein uns mehr oder weniger in Taumel versetzt. 322 Während wir vom Taumel sagen können, wir fühlten uns in ihm in unbestimmter Weise gefährdet, unsicher, schwankend und eben taumelig, nimmt das Betroffensein durch etwas, das uns widerfährt, eine bestimmte Qualität an. Die Angst, irgendwie betroffen zu werden, kann durch beliebige Weisen des Betroffenseins erfüllt werden. Sie muss von der Furcht vor bestimmter Betroffenheit unterschieden werden, die ein Modus pathischen Wachseins ist. Wird die Angst vor beliebigem Betroffensein auf bestimmte Weise erfüllt, kommt es gleichfalls zu einer Deckung des Sinnes, denn bestimmtes und unbestimmt-allgemeines Betroffensein haben wenigstens den Sinngehalt des Betroffenseins gemeinsam. Darüber hinaus ist das Be-

Siehe unten S. 332. Husserl spricht im Falle von Vergangenem von »affektiver Weckung« eines bloß noch retentional Bewussten. Siehe Hua XI, S. 127. 321 Siehe oben S. 133. 322 Siehe oben S. 129. 319 320

218 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein als notwendige Bedingung pathischen Bewusstseins

troffensein qualitativ bestimmt und auch dieser Überschuss an Bestimmtheit wird bewusst. Ohne vorhergehende Angst, irgendwie betroffen zu werden, gäbe es keine Erfüllung dieser Angst und damit keine Betroffenheit. Daher ist die Angst vor der Wiederkehr des Taumels und damit auch die, in beliebiger Weise betroffen zu werden, eine notwendige Bedingung für das Bewusstwerden bestimmter Weisen des Betroffenseins. Wenn wir annehmen, jedes Betroffensein sei darum bewusst, weil es die Angst, irgendwie betroffen zu werden, erfüllt, muss doch daran erinnert werden, dass diese Angst meist nur dumpf und hintergründig bewusst ist, so dass man sich fragen muss, ob das hinreicht. um das Betroffensein bewusst werden zu lassen. Wenn wir an das Phänomen des »etwas erinnert an etwas« denken, so ist auch da das, was weckend wirkt, in der überwiegenden Anzahl der Fälle nur hintergründig bewusst. Häufig fällt uns etwas ein und erst hinterher (wenn überhaupt) merken wir, warum uns gerade jetzt das eingefallen ist. Die geringe Bewusstheit des Wachseins allein spricht nicht gegen die These, die Angst, irgendwie betroffen zu werden, sei Voraussetzung dafür, dass das Betroffensein bewusst ist. Das Betroffensein ist bewusst, weil es als wiederkehrender Taumel die Angst vor dieser Wiederkehr erfüllt. Aber ist mit dem Betroffensein auch schon das bewusst, was uns betrifft? Die Angst, der Taumel könne wiederkehren, ist eine Angst, in irgendeiner Weise betroffen zu werden. Aber was mich dann betrifft, betrifft mich nicht auf allgemein-unbestimmte Weise, sondern ganz bestimmt: Etwas schmerzt oder lockt, ergreift oder packt mich oder drängt sich in einer Weise auf, dass ich es für wahr halten muss. Erst diese Bestimmtheit lässt auch das bewusst werden, was mich in dieser Weise betrifft, denn auch hier ist es die Deckung des Sinnes, durch die etwas bewusst wird. Mit dem Bewusstwerden des Betroffenseins wird auch das bewusst, was uns betrifft, und damit verändert sich das Wachsein: Anstelle der Angst, irgendwie betroffen zu werden, tritt die Frustration des Strebens, nicht betroffen zu werden, und damit bin ich wach im Sinne des Bei-Bewusstsein-Seins. Es entsteht aber auch Furcht, weiterhin in ähnlicher Weise betroffen zu werden, wie ich eben betroffen wurde. Die unbestimmt-allgemeine Angst geht in eine spezifische Furcht über, in bestimmter Weise betroffen zu werden, und wir sind in einem je bestimmten Modus pathisch wach. Wenn das Betroffensein mehr als ein kurzes Aufblitzen ist, sondern dauert, dann ist es in einem bestimmten Modus pathischen Wachseins bewusst und mit 219 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

ihm das, was uns betrifft. Davon handelt die spezielle These. Nach der allgemeinen These ist die Angst, irgendwie betroffen zu werden, notwendige (aber nicht hinreichende) Bedingung für pathisches Bewusstsein, nämlich dafür, dass bestimmte Weisen des Betroffenseins entstehen können und mit ihnen bestimmte Modi des pathischen Wachseins. Erst damit kann auch das bewusst werden, was uns betrifft. Auf eines sei in diesem Zusammenhang hingewiesen: Sich zu ängstigen, irgendwie betroffen zu werden, ist nicht nur eine Voraussetzung für das Bewusstwerden des Betroffenseins, sondern auch schon dafür, dass so etwas wie Betroffenheit überhaupt möglich ist, denn durch sie gewinne ich ein Bewusstsein davon, dass ich es bin, der betroffen wird. Die Angst, in beliebiger Weise betroffen zu werden, ist Angst vor der Wiederkehr des Taumels, die darauf beruht, dass wir nach nicht-taumeligem Selbstsein streben, und dieses Streben fühlen wir noch in dieser Angst. Wenn wir es nicht fühlten, könnten wir nicht betroffen werden. Damit ich betroffen werde, damit mir etwas widerfährt, muss ich ein Bewusstsein meiner selbst haben, und das habe ich im Streben nach nicht-taumeligem Selbstsein. Strebe ich danach, wie ich sein möchte, beziehe ich mich unmittelbar und nicht-reflexiv auf mich. 323 Ohne Selbstbeziehung ist Betroffenheit undenkbar, eben weil ich es bin, der betroffen wird. Ich muss mich schon vor jedem Betroffenwerden selbst fühlen, und das geschieht in der Angst vor der Wiederkehr des Taumels und vor Betroffenheit. In ihr fürchte ich, nicht so zu sein wie ich sein möchte. Tritt Taumel auf, geht die Angst in Frustration über und der in der Angst liegende Glaube in Gewissheit. Dann fühle ich nicht nur Betroffenheit, sondern fühle, dass ich es bin, der betroffen wird. Die Angst vor der Wiederkehr des Taumels und damit die, überhaupt irgendwie betroffen zu werden, ist nicht nur Voraussetzung dafür, dass die bestimmte Weise, in der ich betroffen werde, bewusst wird, sondern auch dafür, dass mir bewusst wird, dass ich betroffen bin. Sie ist pathisches Wachsein in einem grundlegenden Sinne, denn ohne sie gäbe es keine unterschiedlichen Modi des pathischen Wachseins. Solche gibt es nur, weil die Angst, irgendwie betroffen zu werden, durch unterschiedliche Widerfahrnisse erfüllt werden kann, so dass unterschiedliche Weisen des Betroffenseins entstehen, die unterschiedliche Modi des pathischen Wachseins bestimmen. Solange wir 323

Siehe unten Kap. II, 6 Pathisches Wachsein als Selbstbeziehung.

220 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein als notwendige Bedingung pathischen Bewusstseins

diese Angst fühlen, können wir in unterschiedlichen Modi pathisch wach sein, und dies auch gleichzeitig.

3.2

Die speziellere These: In jedem Modus des pathischen Wachseins wird das bewusst, was mich in der Weise betrifft, die für diesen Modus bestimmend ist

Oben 324 habe ich die Ansicht aufgegriffen, dergemäß wach zu sein auch insofern als notwendige Bedingung bewussten Erlebens gelten muss, als bestimmte bewusste Funktionen ein bestimmtes Maß an Wachsein erfordern. Dabei denkt man gewöhnlich an aktives Wachsein und meint, man müsse wach genug sein, um präzis zu beobachten, sich genau zu erinnern oder um komplexe Probleme lösen zu können. Entsprechendes gilt jedoch schon für das pathische Erleben. Träume ich, bleibt mir die Welt des Wahrnehmbaren weitgehend verschlossen. Nicht einmal für Tagträume bin ich offen, obschon ich im Traum bewusst erlebe und damit in gewisser Weise wach bin. Hänge ich einem Tagtraum nach, bin ich unfähig, auch nur pathisch aufmerksam wahrzunehmen. Wir sind gewöhnlich der Meinung, im Traum seien wir, wenn überhaupt, entschieden weniger wach als im Tagträumen und in diesem weniger als im Wahrnehmen. Wir mussten aber auch feststellen, dass wir uns vor allem in unterschiedlicher Weise wach fühlen. Einige dieser Qualitäten des Wachseins habe ich unter dem Titel »Modi des pathischen Wachseins« zu fassen versucht. Für sie gilt die speziellere These, wonach ein bestimmter Modus des Wachseins Voraussetzung dafür ist, damit eine bestimmte Klasse von Erlebnissen bewusst erlebt sein kann. Wie kommen wir zu dieser Behauptung? Zunächst und zuvor aber stellt sich die Frage, wie wir in solche Modi des Wachseins hineingeraten. In jeder bestimmten Weise des Betroffenseins sind wir wach im Sinne des Bei-Bewusstsein-Seins, und dadurch ist ein Modus des pathischen Wachseins bestimmt. Sind wir in bestimmter Weise betroffen, so beginnen wir, wie beim ursprünglichen Taumel, zu fürchten, von neuem betroffen zu werden. Dabei fürchten wir nicht, in genau der gleichen Weise betroffen zu werden, denn dann könnte immer nur dasselbe bewusst werden, es käme zu einer Einschränkung des Bewusstseinsfeldes, wie es für Fälle extremen Betroffenseins in der 324

Siehe oben S. 45.

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Pathisches Wachsein

Tat zutrifft. Normalerweise fürchten wir lediglich ähnlich betroffen zu werden, wie wir eben betroffen wurden. Das ist nicht anders, wie wenn wir uns vor drohenden Gefahren fürchten. Werde ich in einer Stadt ausgeraubt, so habe ich Grund zur Furcht, Ähnliches könne sich wieder ereignen, aber ich habe keinen Grund zu fürchten, es könnte mir genau das Gleiche geschehen: Dass dieselben Räuber an derselben Stelle in derselben Weise vorgehen würden. Das wäre unwahrscheinlich. Rationaler ist es, vor solchem auf der Hut zu sein, was dem vergangenen Überfall ähnlich ist. Nicht anders verhält es sich mit der Furcht vor Betroffenheit. Die Furcht, ähnlich betroffen zu werden wie das, was uns eben betroffen hat, lässt einen Spielraum offen, der weit genug ist, damit unterschiedliche Widerfahrnisse diese Furcht erfüllen können, aber doch so eng, damit sie nur solche erfüllen, welche Gemeinsamkeiten mit ihr aufweisen. Dies ist kein Spielraum des Entscheidens, sondern des Betroffenwerdens, ein Spielraum des Einfallens und Aufdrängens. Unterschiedliches kann uns ähnlich betreffen, wenn es aller Unterschiede zum trotz Ähnlichkeiten aufweist, die für die Weise, wie es uns betrifft, relevant sind. Solch strukturelle Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten bestimmen das, was ich einen »Modus des Wachseins« genannt habe. 325 Sind wir betroffen worden, so sind wir in einem bestimmten Modus wach, weil wir immer in bestimmter Weise betroffen werden. Wir können Angst fühlen, irgendwie betroffen zu werden, aber das Betroffensein, das dann eintritt, ist immer bestimmt durch die Struktur des Erlebnisses, das uns betrifft. Werden wir betroffen, so fürchten wir weiterhin in diesem Modus betroffen zu werden und sind in ihm pathisch wach. Damit komme ich zur Frage zurück, warum pathisch wach zu sein eine notwendige Bedingung für pathisches Bewusstsein sei. Dazu müssen wir aufweisen, welche Rolle das pathische Wachsein beim Bewusstwerden von Erlebnissen spielt. Die Frage, wie etwas bewusst werden kann, das zuvor nicht bewusst war, beantworte ich auch hier durch einen Verweis auf eine Deckung der Sinne und sehe dabei von jenen Fällen ab, in denen dieser Weg zum bewussten Erleben aus unbewussten Gründen versperrt ist. Deckt sich ein Sinn mit einem anderen, der bewusst ist, ganz oder teilweise, so wird er gleichfalls bewusst. Die Eigenheit, bewusst zu sein, wird so an anderes weitergegeben. Ursprünglich bewusst ist der ursprüngliche Taumel, aus ihm entsteht zunächst als Angst vor der Wiederkehr des Taumels die 325

Siehe oben S. 142.

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Pathisches Wachsein als notwendige Bedingung pathischen Bewusstseins

Angst, in irgendeiner Weise betroffen zu werden. Darin müssen wir das offenste pathische Wachsein sehen, denn diese Angst kann durch beliebige Weisen des Betroffenseins erfüllt werden. Dabei wird das Betroffensein durch eine partielle Deckung der Sinne bewusst, und zwar in der je besonderen Qualität des Gefühls, in der wir uns betroffen fühlen, und damit das, was einen Modus des pathischen Wachseins bestimmt. Wir fühlen uns unmittelbar örtlich so und so betroffen, ergriffen oder gepackt oder von etwas angelockt usw. Wird diese besondere Weise des Betroffenseins bewusst, verändert sich die Angst: Ich fühle mich nun in bestimmter Weise betroffen und fürchte weiterhin, ähnlich betroffen zu werden. Damit verengt sich das Wachsein: ich bin in einem bestimmten Modus wach, und nur das kann bewusst werden, das diesen Modus erfüllt. Nun wird verständlicher, wie das, was uns in einem bestimmten Modus betrifft, bewusst werden kann. In der Angst, in irgendeiner Weise betroffen zu werden, ängstige ich mich davor, von irgendetwas betroffen zu werden. Aber diese Angst ist viel zu unbestimmt, als dass sie etwas Gegenständliches wecken könnte. Besser steht es, wenn ich befürchte, in bestimmter Weise betroffen zu werden, und wenn zwischen der Weise, in der uns etwas betrifft, und der Struktur dessen, was uns betrifft, ein notwendiger Zusammenhang besteht, der weckend wirken kann, so dass gilt: Was mich so und so betrifft, muss ein Erlebnis von bestimmter Struktur sein, und umgekehrt: Was ich jetzt aktuell erlebe, kann mich nur in einer Weise betreffen, die seiner Struktur entspricht. Gehen wir im Folgenden mit diesen Gedanken die unterschiedlichen Modi des pathischen Wachseins nach solchen Zusammenhängen durch, so dürfte sich in etwa Folgendes ergeben: Leibliches Wachsein haben wir dadurch gekennzeichnet, dass wir uns je nach Empfindung qualitativ unterschiedlich betroffen fühlen, aber immer fühlen wir uns unmittelbar örtlich bestimmt betroffen. In der Furcht vor leiblichem Betroffensein fürchten wir irgendwie, aber immer unmittelbar örtlich bestimmt, betroffen zu werden (an einem »absoluten Ort« im Sinne von Schmitz). Unmittelbar örtlich bestimmt zu sein, kommt aber auch dem zu, was uns betrifft, auch die leiblichen Regungen, die Empfindungen, die Schmerzen sind in dieser Weise lokalisiert. Darin kommt das, was uns betrifft, mit dem, was wir befürchten, zur Deckung. Darüber hinaus betrifft uns eine Empfindung in der Qualität, die für die Art der Empfindung charakteristisch ist. Ein Schmerz betrifft uns genau so, wie er eben schmerzt, eine Kitzelempfindung so, wie es kitzelt. 223 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

Strebungen charakterisieren wir dadurch, dass sie uns zu einem Ziel hin drängen, sie bringen uns dazu, etwas zu tun oder zu unterlassen. 326 Im Betroffensein durch Strebungen fühlen wir uns zu etwas hin gedrängt, manchmal auch mitgerissen. Wir neigen dazu, im Betroffensein dem, was uns betrifft, eine Aktivität zuzuschreiben, deren Auswirkung wir passiv erleben. Drängt uns etwas zu etwas, so deckt sich der Sinngehalt des Drängens nicht mit dem des Gedrängtwerdens. Wollte man das Gegenteil behaupten, wäre das, wie wenn man Prügel zu beziehen für dasselbe hielte wie Prügel zu erteilen. Aber das eine verweist auf das andere, und auch einem solchen Verweis dürfen wir eine weckende Wirkung zuschreiben. Im Gefühl wird ein Streben durch ein Urteilen modifiziert. Befriedigende und auf Befriedigung hoffende Gefühle werden als erleichternd und befreiend gefühlt, frustrierende und Frustration befürchtende Gefühle als lähmend und niederdrückend. Gefühle bewegen sich zwischen Befreiung und Lähmung. 327 Befriedigung erleben wir als befreiend, weil wir nicht mehr an ein Ziel gebunden sind, Frustration als lähmend, weil wir nicht von einem Ziel loskommen, sondern auf das fixiert bleiben, was unerreichbar ist oder es doch zu sein scheint. Im Gefühl ist das Streben noch enthalten, aber eben in modifizierter Form, weil das Ziel nicht mehr nur angestrebt ist, sondern auch beurteilt als erreicht oder nicht zu erreichend, daher das Befreiende oder Lähmende. Ein Gefühl kann uns nicht mehr so betreffen wie ein Streben, aber es vollzieht noch die gleiche Bewegung wie das unmodifizierte Streben: Es kommt wie von außen auf uns zu und entfaltet sich im Innern, nur kann es uns nicht mehr zu einem Ziel hindrängen oder mitreißen, aber es ergreift uns noch, es erfüllt oder packt uns. 328 Entsprechend fühlen wir uns ergriffen und allenfalls gepackt. Das schien uns auch die Weise zu sein, wie uns Gefühle betreffen. Die Furcht, in dieser Weise betroffen zu werden, verweist auf das, was uns in dieser Weise erleiden lässt. Auch dieser Verweis kann weckend wirken. Während das Streben uns dazu drängt, etwas zu tun, lockt Wahrnehmbares und lenkt unsere Aufmerksamkeit und die dazu erforderlichen Bewegungen des Leibes. 329 Wir können Wahrneh326 327 328 329

Siehe oben S. 181. Siehe oben S. 182. Oben S. 183. Vgl. oben S. 150

224 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein als notwendige Bedingung pathischen Bewusstseins

mungen geradezu durch die Eigenheit charakterisieren, dass ihnen ein Locken zugrunde liegt. Nur Wahrnehmbares lockt, was nicht lockt, kann nicht wahrgenommen sein. Zwar kann auch Erinnertes unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, aber das ist doch kein originäres, kein impressionales Locken. Als charakteristisch für das Betroffensein durch Wahrnehmbares galt uns das Angelocktwerden: Wir müssen dem Locken folgen, unsere Aufmerksamkeit muss sich dem zuwenden, was lockt. Auch hier verweist das eine klar auf das andere: Fürchten wir, angelockt zu werden, und wird diese Furcht erfüllt, so kann das, was sie erfüllt, nur etwas sein, das uns anlockt. Auch hier verweist die Weise des Betroffenseins, die befürchtet wird, eindeutig auf das, was uns betrifft, was sich weckend auswirken dürfte. Von den pathischen Vorstellungen meinte ich, sie drängen sich auf, indem sie sich durch Wiederholung festsetzen oder eine Geschichte bilden, in die sie uns hineinziehen und uns in sich aufgehen lassen. Fürchten wir, in dieser Weise betroffen zu werden und wird diese Furcht erfüllt, so wird auch das durch eine Entsprechung der Sinne bewusst, was sich uns in dieser Weise aufdrängt, sei es in ständiger Wiederholung oder im Sich-Entfalten einer Geschichte. Pathische Gedanken betreffen uns derart, dass sie uns mit der Überzeugung einfallen, wahr zu sein. Zumindest im ersten Augenblick müssen wir sie für wahr halten. Wir haben gesehen, dass dieses Fürwahrhalten nicht voraussetzt, dass das, was wir für wahr halten, bewusst sei, denn es ist ein Fürwahrhalten, das zumeist nicht auf Einsicht beruht, sondern eines, zu dem wir gezwungen werden. Im pathischen Denken halten wir einen Gedanken nicht für wahr aufgrund seines Inhalts, vielmehr drängt sich jeder Gedanke in der Weise auf, dass wir ihn für wahr halten müssen. Hier wird nicht geurteilt, sondern gevorurteilt. Beruht das Fürwahrhalten nicht auf Einsicht, sondern auf Zwang, hängt es auch nicht davon ab, ob das bewusst ist, was wir für wahr halten. Dieser Zwang kommt in modifizierter Form auch der Furcht vor Betroffenheit zu: Wir fürchten, dass uns (wieder) etwas betreffen wird, das wir für wahr halten müssen. Der Gedanke, der uns in der befürchteten Weise betrifft, hat mit der Furcht vor dieser Weise, betroffen zu werden, mindestens soviel gemeinsam, dass er als Gedanke gleichfalls auf Wahrheit bezogen ist. Darin besteht die Deckung der Sinne, die den Gedanken bewusst werden lässt. In welchem Sinne sich ein Gedanke auf Wahrheit bezieht, ist unerheblich, wenn er nur auf Wahrheit bezogen ist, denn diese Eigen225 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

heit kommt allen Gedanken zu, den falschen und zweifelhaften ebenso wie den wahren. Gehen wir von der Annahme aus, ein Erlebnis werde bewusst, wenn sich sein Sinngehalt mit dem eines anderen Erlebnisses deckt, so lässt sich aufzeigen, warum pathisches Wachsein eine notwendige Voraussetzung für das Bewusstwerden eines Erlebnisses ist. Wenn es unterschiedliche Modi des pathischen Wachseins gibt, die durch je besondere Qualitäten des Betroffenseins bestimmt sind, so dass wir in jedem Modus fürchten, in bestimmter Weise betroffen zu werden, dann kann das, was uns in der befürchteten Weise betrifft, bewusst werden, wenn sein Sinngehalt wenigstens teilweise mit dem des befürchteten Betroffenseins zur Deckung kommt oder wenn das Betroffensein eindeutig auf das verweist, was uns betrifft. Der Zusammenhang zwischen der Weise, wie uns etwas betrifft, und dem, was uns betrifft, ist nicht zufällig, sondern notwendig. Erlebnisse bestimmter Art, die in bestimmter Weise strukturiert sind, betreffen uns in entsprechend bestimmter Weise, und was uns in einer bestimmten Weise betrifft, muss in entsprechend bestimmter Weise strukturiert sein. Verweist die Furcht, in bestimmter Weise betroffen zu werden, auf ein Erlebnis bestimmter Art, das ich jetzt aktuell erlebe, wird dieses geweckt und bewusst. Die Furcht, in bestimmter Weise betroffen zu werden, ist Voraussetzung dafür, dass diese Weise, betroffen zu sein, bewusst ist, weil das, was ich befürchte, mit dem zur Deckung kommt, was diese Furcht erfüllt. Dabei wird auch das bewusst, was mich betrifft, und zwar durch den Sinnverweis vom Betroffensein auf das, was mich in dieser Weise betrifft. Man kann dies die speziellere These nennen, in der Wachsein eine Voraussetzung für bewusstes Erleben ist. Ihr gemäß kann etwas, das in einem Modus bewusst werden kann, nur bewusst sein, wenn wir in diesem Modus wach sind und d. h. fürchten, diesem Modus entsprechend betroffen zu werden. Die Furcht, in einem bestimmten Modus betroffen zu werden, setzt nicht nur voraus, dass wir schon in dieser Weise betroffen wurden, sondern auch, dass dieses Betroffensein bewusst ist. Bewusst ist es, wenn es die Angst, irgendwie betroffen zu werden, durch eine partielle Deckung der Sinne erfüllt. Die speziellere These setzt die allgemeinere voraus. Die Angst vor der Wiederkehr des Taumels ist nicht nur Voraussetzung für das Wachsein in einem bestimmten Modus, sondern auch dafür, dass wir von einem Modus in einen anderen übergehen und 226 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Gleichzeitiges unterschiedliches pathisches Wachsein

gleichzeitig in unterschiedlichen Modi wach sein können. Wenn wir aufwachen und noch gar nicht in bestimmter Weise betroffen wurden, kann die Angst vor Betroffenheit nur unbestimmt sein. Wird sie in bestimmter Weise erfüllt, gilt die speziellere These: Wenn wir irgendwie betroffen werden, dann fürchten wir, in ähnlicher Weise betroffen zu werden, und dann kann nur solches bewusst werden, das uns in ähnlicher Weise betrifft, wie wir befürchtet haben. Sie benennt nicht nur die Art von Widerfahrnis, die bewusst werden kann, und die Voraussetzung für dieses Bewusstwerden, sie schränkt auch ein: Wenn ich in einem bestimmten Modus wach bin, dann kann nur das bewusst werden, das mich in der befürchteten Weise betrifft. Unser Bewusstseinsfeld wird durch das einmal erfolgte Betroffensein eingegrenzt. Aber auch wenn die noch unbestimmte Angst durch bestimmtes Betroffensein erfüllt wird, verschwindet sie nicht, sondern bleibt bestehen und kann durch weitere und andere Widerfahrnisse erfüllt werden. Sie ist damit nicht nur das grundlegendste, sondern auch das offenste pathische Wachsein, denn jeder bestimmte Modus engt das Feld möglichen Bewusstseins auf eine Klasse von Widerfahrnissen ein, die uns ähnlich betreffen. Nur weil hinter jedem Modus des pathischen Wachseins die Angst vor Wiederkehr des Taumels lauert, können wir, wenn wir in einem Modus wach sind, in einem anderen wach werden und gleichzeitig in mehreren Modi wach sein.

4

Gleichzeitiges unterschiedliches pathisches Wachsein

Die speziellere These hat zur Konsequenz, dass in jedem Modus des pathischen Wachseins nur das bewusst werden kann, das uns in der Weise betrifft, die für diesen Modus charakteristisch ist. Das bedeutet aber nicht, dass wir zu einem Zeitpunkt jeweils nur in einem Modus wach sein könnten. Es ist uns vielmehr ganz selbstverständlich, dass wir gleichzeitig in unterschiedlicher Weise betroffen werden, was bedeutet, dass wir gleichzeitig in unterschiedlichen Modi wach sind. Es scheint dafür allerdings Grenzen zu geben. So mussten wir feststellen, dass es pathisch Bewusstes gibt, das nicht gleichzeitig mit anderem gleichfalls pathisch Bewusstem bestehen kann, und so muss man sich fragen, ob es Modi des pathischen Wachseins gibt, die einander ausschließen. Andererseits schien es uns, es gebe pathisch Bewusstes, das nur bestehen könne, wenn gleichzeitig ein andersartiges Erleben pathisch bewusst ist. Man denke etwa an das Vergegenwärtigen, das 227 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

nur möglich ist, wenn wir gleichzeitig hintergründig wahrnehmen, oder daran, dass wir nur etwas lieben oder hassen (und damit wertschätzen) können, wenn wir es wahrnehmen oder vorstellen oder denken, dass es der Fall sei. Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, ob es Modi des pathischen Wachseins gibt, die mit anderen Modi zusammen bestehen können, und andere, bei denen das nicht der Fall ist, und ob es solche gibt, die das Bestehen anderer Modi voraussetzen. Es lässt sich kaum ernsthaft bezweifeln, dass wir gleichzeitig wahrnehmen, vergegenwärtigen, Gefühle fühlen und denken können und dabei in gewisser Weise gestimmt sind, Zahnschmerzen haben und ein Kitzeln in der Nase verspüren können. Für all das sind wir gleichzeitig wach, nämlich leiblich, wahrnehmungsartig, vorstellungsartig und in Gedanken wach. Zudem sind wir traumartig wach, wenn es denn stimmt, dass wir in Gefühlen in gleicher Weise wach sind wie in Träumen. Dieser Befund deckt sich mit der Annahme, das anfängliche Wachsein bestehe in der Angst vor der Wiederkehr des Taumels, aus der alle besonderen Modi des pathischen Wachseins hervorgehen, sobald diese Angst erfüllt wird und wir uns in bestimmter Weise betroffen fühlen. Wenn wir immer hintergründig Angst fühlen, irgendwie betroffen zu werden, und jede Erfüllung dieser Angst in einem bestimmten Betroffensein besteht, dann kann jeder Modus des pathischen Wachseins gleichzeitig mit jedem anderen bestehen. Gibt es pathische Erlebnisse, die nicht gleichzeitig bewusst sein können, dann kann das nicht daran liegen, dass die Modi des Wachseins, in denen sie bewusst sind, sich gegenseitig ausschließen. Es muss andere Gründe dafür geben. Gewöhnlich sagt man, Wachen und Schlafen schließen sich aus. Wenn wir das Wachen als einen Zustand verstehen, in dem wir bewusst erleben, und Schlafen als einen, in dem das nicht der Fall ist, versteht sich das von selbst. Aber im Unterschied dazu können die Modi des pathischen Wachseins gleichzeitig nebeneinander bestehen, wenigstens solange als nicht Bedingungen auftreten, die das ausschließen. Das müsste auch für die Erlebnisse gelten, die in ihnen bewusst sind. Aber wir haben gesehen, dass dies nicht immer der Fall ist. Wenn die Bewegung des Wahrnehmens zum Stillstand kommt, sei es die Bewegung der Hände und Finger beim Tasten oder die der Augen und des Kopfes beim Sehen, bricht die Intentionalität zusammen und das Wahrnehmen geht in bloßes Empfinden über. Auch wenn das Licht uns blendet oder wenn wir vom Hellen ins Dunkle 228 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Gleichzeitiges unterschiedliches pathisches Wachsein

treten, sehen wir nichts. 330 Das bedeutet freilich nicht, dass wir nicht gleichzeitig wahrnehmen und empfinden oder nicht wahrnehmungsartig und leiblich wach sein könnten, denn all das können wir sehr wohl. Nur jene Empfindungen können nicht gleichzeitig mit dem Wahrnehmen bestehen, die in diesem eine Funktion ausüben. So kann ich nicht etwas ertasten und gleichzeitig den Druck in meinen Fingerkuppen spüren oder etwas sehen und zugleich geblendet sein, obschon ich während des Tastens oder Sehens sehr wohl Schmerzen oder Berührungen verspüren kann, das schließt sich nicht aus. Im Schreck und heftigen Affekten, wie panischer Angst oder unbeherrschbarer Wut, kommt es in einem stärkeren Sinne zu einem Ausschließen. In solchen Fällen wird das ganze Bewusstseinsfeld auf den Schreck oder den Affekt eingeschränkt und nichts anderes kann bewusst werden. 331 Unter diesen Bedingungen können wir nicht noch in einem anderen Modus wach sein, weil diese extreme Weise des Betroffenseins alles andere überdeckt. Schließt ein Modus des pathischen Wachseins einen anderen aus, kann das auch daran liegen, dass er in einem anderen Modus fundiert ist, wie wir z. B. auch wahrnehmungsmäßig wach sein müssen, um vergegenwärtigen zu können. Ein solches Fundierungsverhältnis scheint der Grund dafür sein, warum wir während des Träumens weder empfinden noch wahrnehmen noch vergegenwärtigen können. Das schließt sich aus, weil der Traum ein Bewusstsein während des Schlafes ist, genauer: eines, während der Leib schläft. Schläft der Leib, können wir das alles nicht, weil wir nicht bewusst empfinden können, aber auch nicht wahrnehmen, weil die Sinne nicht bewegt werden können, und schließlich auch nicht vergegenwärtigen, weil dies nur möglich ist bei gleichzeitigem hintergründigem Wahrnehmen. Fehlt dieses, werden aus pathischen Vergegenwärtigungen Träume. Man möchte sagen: Leibliches und traumartiges Wachsein schließen sich aus, aber wenn wir auch in Gefühlen traumartig wach sind, kann das nicht daran liegen, dass es sich um Modi des Wachseins handelt, die nicht gleichzeitig zusammen bestehen können. Sind wir auch in Gefühlen traumartig wach, können wir auch traumartig wach sein, während wir leiblich wach sind. Wenn sich leibliches Wachsein und Träumen ausschließen, muss das andere Gründe haben. Ihnen sind wir schon begegnet: Wenn wir leiblich wach sind, können wir 330 331

Oben S. 77. Siehe oben S. 78.

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Pathisches Wachsein

wahrnehmen, also anschaulich gegenwärtigen, aber dann können wir nicht zugleich illusionär gegenwärtigen, also träumen. Sollte doch Wahrgenommenes (oder Empfundenes) im Traum vorkommen, erscheint es als geträumt, wie umgekehrt illusionär Gegenwärtiges im Wahrnehmen als wahrgenommen erscheint, obschon es halluziniert ist. 332 Können wir nicht träumen, während wir leiblich wach sind, dann nicht deswegen, weil sich leibliches und traumartiges Wachsein ausschließen, sondern weil illusionäres und wirkliches Gegenwärtiges nicht gleichzeitig zusammen bestehen können. Auch Tagträumen und aufmerksames Wahrnehmen schließen sich aus, aber auch das ist nicht im Wachsein begründet, denn wir können gleichzeitig wahrnehmungsartig und vorstellungsartig wach sein und sind es immer, wenn wir vergegenwärtigen, nur können wir uns nicht gleichzeitig in einem Tagtraum verlieren und aufmerksam wahrnehmen. Es scheint mehrere Gründe dafür zu geben, warum wir gewisse Erlebnisse nicht gleichzeitig bewusst haben können, aber wir haben nur einen Fall gefunden, wo das am Wachsein liegt, nämlich dann, wenn ein Modus in einem anderen fundiert ist und der fundierende schläft. Ein Modus kann nur fundierend wirken, wenn wir in ihm wach sind. Ohne Wachsein des Leibes können wir nicht wahrnehmungsartig betroffen werden, es gibt nichts, das lockt, und damit kein Locken, dem wir folgen könnten. Sind wir nicht wahrnehmungsartig wach, können wir auch nicht vorstellungsartig betroffen werden, aber auch viele Gefühle, Strebungen und Wertschätzungen bauen auf wahrnehmungsartigem Betroffensein auf. Der Leib und das leibliche Wachsein fundieren zwar nicht alles Wachsein, aber doch einiges und damit vieles, was wir bewusst erleben. Insofern kommt ihm eine Sonderstellung zu, was darin begründet sein dürfte, dass der Leib die Weise ist, wie wir unseren Körper aus der subjektiven Perspektive erleben. Das leibliche Wachsein ist am innigsten mit dem Körper und seinen physiologischen Prozessen verbunden und damit auch mit dem biologisch bedingten rhythmischen Wechsel von Wachen und Schlafen. Es dürfte sich lohnen zu verfolgen, wie weit das leibliche Wachsein für das übrige pathische Wachsein fundierend ist und wo diese Fundierung endet. Wenn der Leib schläft, schläft auch das Wahrnehmen, weil keine kinästhetischen Bewegungen zustande kommen. Dann sind wir auch 332 Vgl. oben Kap. I, 2.1 Aufwachen aus einem Traum: Wie weiss ich, ob der Wecker wirklich klingelt?

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Quantitäten des pathischen Wachseins. Pathisches Aufwachen und Einschlafen

nicht wahrnehmungsartig wach, weil uns nichts Wahrnehmbares betreffen kann. Aber Strebungen, Gefühle und Träume schlafen nicht, wir bleiben trotz des Schlafs des Leibes traumartig wach. Wie steht es dann mit den Vergegenwärtigungen? Wir haben sie so verstanden, dass in ihnen etwas Nicht-Gegenwärtiges anschaulich bewusst ist. Das ist nur möglich, wenn wir gleichzeitig hintergründig wahrnehmen, weil Nicht-Gegenwärtiges nur vor dem Hintergrund von Gegenwärtigem bewusst sein kann. Das ist ohne Wahrnehmen nicht zu haben. Wir können bei schlafendem Leib und schlafendem Wahrnehmen träumen, aber Traumvorstellungen sind keine Vergegenwärtigungen, sondern Halluzinationen, eben weil das hintergründige Wahrnehmen fehlt. Das Streben und Wünschen schläft nicht, und Wünsche können Halluzinationen anregen, in denen ein Wunsch als erfüllt oder nicht erfüllt dargestellt wird. Die Wunscherfüllungen im Traum sind nicht vorgestellt, und zwar aus zwei Gründen: Weil es ohne hintergründiges Wahrnehmen keine Vergegenwärtigungen geben kann, und weil eine vorgestellte Wunscherfüllung keinen Wunsch erfüllen kann. Was die Vorstellung nicht zu leisten vermag, bringt die Halluzination zustande, wenn auch im Gewand der Fiktion, indem das nicht-Gegenwärtige als gegenwärtig erscheint.

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Quantitäten des pathischen Wachseins. Pathisches Aufwachen und Einschlafen

Gemäß unserem intuitiven Verständnis bildet das Wachsein nicht nur eine notwendige Bedingung bewussten Erlebens, es schien uns auch quantifizierbar zu sein. Was immer wir unter »Wachsein« verstehen, es gibt Grade und allenfalls Stufen davon. Zwar machen wir die Erfahrung, mehr oder weniger wach zu sein, häufiger, wenn wir aktiv wach und intellektuell gefordert sind. Aber auch das pathische Wachsein kennt Phasen geringeren oder gesteigerten Wachseins, wie sich am Beispiel des Schrecks oder heftiger Affekte gezeigt hat. Quantifizierbarkeit setzt eine einheitliche Qualität voraus, von der es mehr oder weniger gibt. Gewöhnlich denkt man sich denn auch das Wachsein als ein Kontinuum von Graden zunehmenden Sich-wacher-Fühlens, das von dunkelster bis zu hellster Wachheit reicht. Gibt es unterschiedliche Qualitäten des Wachseins, so gerät dieses Konzept ins Wanken, ja beides scheint sich auszuschließen. Damit ist das erste Problem formuliert, das uns beschäftigen wird. Das zweite besteht 231 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

darin, dass es uns bisher einleuchtend schien, wir fühlten uns im Betroffensein pathisch wach, da wir etwas erleiden. Wenn wir die Sache unter einem dynamischen Gesichtspunkt betrachten und auf das Zuund Abnehmen des Betroffenseins und des Wachseins achten, muss man sich zunächst fragen, in welchem Sinne hier von einem Mehr oder Weniger an Wachsein gesprochen werden kann. Dazu kommt ein drittes Problem, nämlich die Frage, was unter dem dunkelsten und hellsten Wachsein zu verstehen sei, also was die Extreme sind, zwischen denen sich das Wachsein bewegt. Das eine wird man in den Formen heftigsten, das andere in denen geringster Betroffenheit sehen, und bei dem einen wird man nebst weiteren Erlebnissen heftigen Betroffenseins an den ursprünglichen Taumel denken, beim anderen an eine Befriedigung des Widerstrebens gegen Widerfahrnisse. Einstweilen ist es jedoch ganz unklar, worin diese Befriedigung besteht, und ob es so etwas überhaupt gibt. Vorerst einige Bemerkungen zu dieser letzten Frage. Man darf erwarten, das Widerstreben gegen Widerfahrnisse sei dann befriedigt, wenn wir nicht mehr betroffen werden. Wir fühlen uns nicht betroffen, wenn etwas nicht durch Betroffenheit, sondern auf andere Weise bewusst wird. Wir können uns bewusstes Erleben denken, das nicht auf Betroffenheit beruht, z. B. wenn es möglich sein sollte, dass etwas dadurch bewusst wird, weil wir es bewusst haben wollen. Aber dann ist der Bereich pathischen Wachseins verlassen. Die Befriedigung müsste etwas sein, das uns geschieht, aber wenn sie geschieht, beruht sie auf Betroffenheit und befriedigt das Widerstreben nicht. Nicht betroffen sind wir auch dann, wenn uns nichts bewusst ist. Wir befürchten dann, weiterhin betroffen zu werden, aber ohne dass es dazu kommt. Die Furcht vor Betroffenheit bliebe unerfüllt, und diese unerfüllte Furcht wäre ein leeres Wachsein, in dem wir in der Leere des Bewusstseins nichts weiter als uns selbst fühlten. Ich glaube nicht, dass so etwas unmöglich ist, aber im Rahmen pathischen Wachseins bleibt es doch eine rein theoretische Möglichkeit. Sie besteht darin, nicht mehr betroffen und doch wach zu sein, aber eben das ist pathisch ohne Verlust des Wachseins nicht zu haben, das müsste man wollen. Daraus muss man schließen, eine Befriedigung des Widerstrebens gegen Widerfahrnisse ist höchstens partikular möglich, aber nicht in einem umfassenden Sinne. Wir müssen uns damit bescheiden zu fragen, in welchem pathischen Erleben wir am wachsten sind, aber das setzt eine Lösung des ersten Problems voraus. Eine solche ist ohne Klärung der Frage, was unter einem Mehr oder 232 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Quantitäten des pathischen Wachseins. Pathisches Aufwachen und Einschlafen

Weniger an Wachsein innerhalb eines Modus des Wachseins zu verstehen sei, nicht möglich. Daher müssen wir uns zuerst dieser Frage zuwenden.

5.1

Grade des Wachseins innerhalb eines Modus des pathischen Wachseins

Wir lassen vorerst das Problem des quantitativen Verhältnisses unterschiedlicher Modi des Wachseins zueinander auf sich beruhen und wenden uns der Frage nach den quantitativen Unterschieden des Wachseins innerhalb eines pathischen Modus zu. Wenn das Wachsein in einem Gefühl bestimmter und einigermaßen stabiler Qualität besteht, so kann es mehr oder weniger intensiv sein, es kann zu- oder abnehmen. Das nimmt sich zunächst ganz harmlos aus, aber genauer betrachtet kommen wir damit beim pathischen Wachsein in Schwierigkeiten, denen nicht länger auszuweichen ist. Wir hatten zwei grundlegende Intuitionen über das pathische Wachsein, die sich widersprechen: 1. Etwas ist uns pathisch bewusst, indem es uns betrifft, und in diesem Betroffensein sind wir pathisch wach im Sinne des BeiBewusstsein-Seins. 2. Wir fühlen uns pathisch umso wacher, je weniger wir betroffen werden, und umso weniger wach, je mehr das Betroffensein zunimmt. Nach der ersten Intuition besteht das Wachsein im Betroffensein, dann müssten wir umso wacher sein, je mehr wir betroffen werden, nach der zweiten gilt das Umgekehrte: Wir fühlen uns umso wacher, je geringer das Betroffensein ausfällt. Beides kann nicht zugleich wahr sein. Entweder nimmt das Wachsein mit dem Betroffensein zu, oder es nimmt ab. Wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus? Fürs Erste mag es helfen, wenn wir uns an die zwei Bedeutungen von »Wachsein« erinnern, die wir herausgearbeitet haben, dem Wachsein im Sinne eines Bei-Bewusstsein-Seins und dem im Sinne einer Bereitschaft zu bewusstem Erleben. Wach im ersten Sinne sind wir, wenn wir betroffen werden, denn dann sind wir bei Bewusstsein und im Bewussthaben wach. Dieses Wachsein nimmt in dem Masse zu, wie das Betroffensein zunimmt: Wir sind mehr bei Bewusstsein, es ist uns etwas bewusster, je mehr wir betroffen werden. Starke Affekte z. B. sind uns bewusster als weniger starke. Aber das ist nicht das, was wir gewöhnlich meinen, wenn wir glauben, wacher zu sein. Wenn wir von quantitativen Verhältnissen 233 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

des Wachseins sprechen, beziehen wir uns auf das Wachsein im Sinne der Bereitschaft zu bewusstem Erleben und nicht auf das Bei-Bewusstsein-Sein. Je mehr wir fürchten betroffen zu werden, desto mehr sind wir auf der Hut und wachsam. Wir wappnen uns sozusagen gegen das, was auf uns hereinbrechen könnte. Die Furcht hilft uns, starke Betroffenheit zu ertragen. Wir fühlen uns wacher je mehr wir fürchten, etwas könne uns betreffen. Furcht sammelt uns auf etwas hin, auf eine mögliche Gefahr, oder auf etwas, das uns betreffen könnte. Fürchte ich das Betroffensein mehr als zuvor, dann steigert sich die Bereitschaft, etwas bewusst zu haben, und wir fühlen uns wacher. Dabei korreliert die Intensität der Furcht betroffen zu werden mit der Intensität des befürchteten Betroffenseins: Wir fürchten umso intensiver, je intensiver das Betroffensein ist, das wir befürchten und umgekehrt. Wir können nicht intensiv fürchten, dass uns etwas nur im geringen Maß betrifft. Es ist einerlei, ob wir sagen »wir fürchten uns intensiv, betroffen zu werden« oder »wir fürchten uns, intensiv betroffen zu werden«. Wenn wir fürchten, intensiver betroffen zu werden als zuvor, dann fürchten wir auch intensiver. Dabei müssen wir das Betroffensein, das wir befürchten, streng von dem unterscheiden, das uns wirklich betrifft. Fürchten wir, stark betroffen zu werden, kann es sein, dass wir nur schwach betroffen werden, oder umgekehrt: Wir fürchten nur geringes Betroffensein, und dann trifft es uns hart. Ich bin also pathisch wacher als zuvor, wenn ich intensiver fürchte, betroffen zu werden. Vom pathischen Wachsein im Sinne der Bereitschaft zu bewusstem Erleben sagten wir, es sei eine notwendige Voraussetzung dafür, dass uns etwas bewusst sein könne. Das Feld dessen, was uns jeweils bewusst ist, kann mehr oder weniger umfassen. Je wacher wir sind, umso mehr kann uns bewusst sein, und umgekehrt. Fürchten wir, intensiver betroffen zu werden als zuvor, so kann auch solches bewusst werden, was uns nur in geringen Maß betrifft, was uns stärker betrifft, wird es ohnehin. Fällt die Furcht weniger intensiv aus, muss uns etwas intensiver betreffen, damit es bewusst werden kann. Was jeweils bewusst wird, hängt jedoch nicht allein von der Intensität unserer Furcht betroffen zu werden ab, sondern auch von der Intensität, mit der wir betroffen werden, was sich wieder auf die Intensität auswirkt, mit der wir fürchten, betroffen zu werden. Intensives Betroffenwerden lässt uns fürchten, weiterhin stark betroffen zu werden, während schwaches Betroffenwerden uns weniger fürchten lässt. Das macht die quantitativen Verhältnisse im pathischen Wachsein nicht einfacher. 234 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Quantitäten des pathischen Wachseins. Pathisches Aufwachen und Einschlafen

Nun kann man sagen: Starkes Betroffensein engt das Bewusstseinsfeld auf das ein, was uns stark betrifft, weil wir dann befürchten, ähnlich stark betroffen zu werden. Werde ich weniger stark betroffen, als ich befürchtet habe, weitet sich das Bewusstseinsfeld aus, denn dann kann nicht nur das bewusst werden, was mich stark betrifft, sondern auch das, was mich weniger stark betrifft. 333 Der Grad des Wachseins (im Sinne einer Bereitschaft zu bewusstem Erleben) innerhalb eines Modus bemisst sich nach der Intensität des Betroffenseins, das ich befürchte. Befürchte ich stärker betroffen zu werden, als ich zuvor befürchtet habe, bin ich wacher als zuvor, befürchte ich weniger stark betroffen zu werden, fühle ich mich weniger wach. Dabei hängt die Betroffenheit, die ich befürchte und damit die Intensität meines pathischen Wachseins davon ab, wie intensiv ich wirklich betroffen wurde. Ich befürchte stärker betroffen zu werden als ich zuvor befürchtet habe, wenn ich wirklich stärker betroffen worden bin, und ich befürchte weniger stark betroffen zu werden, wenn ich wirklich weniger stark betroffen worden bin. Starkes oder zunehmendes Betroffensein lässt uns intensives oder intensiveres Betroffensein befürchten, schwaches oder abnehmendes geringes oder geringeres. Das wirkliche Betroffensein verändert unser Wachsein, nicht nur das, welches unserer Furcht, betroffen zu werden, vorangeht, sondern auch das, welches diese Furcht erfüllt. Fürchten wir, stark betroffen zu werden, und werden stark betroffen, bleibt unser Wachsein in etwa gleich, denn wir werden weiterhin fürchten, stark betroffen zu werden. Anders ist es, wenn wir fürchten, stark betroffen zu werden, und das Betroffensein nur schwach ausfällt. Da ermöglicht das intensive Wachsein, dass auch das bewusst werden kann, was uns nur schwach betrifft. Danach fürchten wir, nur noch in geringem Maß betroffen zu werden. Werden wir stattdessen heftig betroffen, ergibt sich ein anderes Bild: Intensives Betroffensein bei nur geringer Furcht, betroffen zu werden, setzt unser Wachsein herab. Man denke nur an das Erschrecken. Erst wenn sich das Betroffensein abgebaut hat, kann wieder Furcht einsetzen. So bildet das pathische Wachsein eine eigentümliche Dynamik aus, in der das jeweilige Wachsein vom vorangegangenen Betroffensein abhängt, sich in der Erfüllung durch erneutes Betroffensein verändert, was erneut Furcht vor Betroffenheit motiviert.

333

Vgl. oben S. 78.

235 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

Diese Dynamik detailliert nachzuzeichnen wäre ein schwieriges Unterfangen und kaum ergiebig. Ich werde mich daher im Folgenden darauf beschränken, für jeden Modus des pathischen Wachseins zu zeigen, dass die ihm eigentümliche Weise des Betroffenseins quantifizierbar ist. In jedem Modus des pathischen Wachseins fürchten wir in der diesem Modus entsprechenden Weise mehr oder weniger betroffen zu werden, also traumartig oder leiblich oder vorstellungsmäßig usw. Wir fürchten nicht, von einer Vorstellung oder einem Gedanken usw. betroffen zu werden, denn dann müsste diese Vorstellung oder dieser Gedanke bewusst sein, aber dazu kommt es erst, wenn wir wirklich betroffen werden. Im traumartigen Wachsein sind uns nicht allein Träume, sondern auch Gefühle bewusst, weil Träume uns ähnlich betreffen wie Gefühle. 334 Von diesen sagten wir, sie betreffen uns so, dass wir uns von ihnen durchdrungen und erfüllt fühlen, allenfalls auch gepackt oder ergriffen. 335 Ähnliches gilt von den Träumen, auch wenn sich der Gedanke, wir könnten dabei wacher oder weniger wach sein, noch fremdartiger ausnimmt als bei Gefühlen. Die Verhältnisse sind hier allerdings auch komplexer, weil das gleichzeitige Bestehen widersprechender Wünsche zum Normalfall des Träumens gehört. In Gefühlen wie in Träumen fühlen wir uns wacher, wenn wir weniger intensiv fürchten, traumartig betroffen zu werden, als zuvor, also fürchten, weniger intensiv gepackt oder ergriffen und weniger vom Gefühl oder Traum durchdrungen zu werden. Umgekehrt fühlen wir uns weniger wach, wenn wir zunehmend betroffen werden. In einem intensiven Angstraum fühlen wir uns mehr gepackt als in einem weniger intensiven. Man mag dazu neigen, das allein der Angst zuzuschreiben, die wir dabei erleben, aber das liegt auch an der Angst auslösenden Situation, die wir träumen. Dass Träume uns mehr oder weniger betreffen können, bestätigt die empirische Traumforschung. Die Unterschiede zwischen Einschlafträumen und den sog. REM-Träumen, die zu den intensivsten Träumen gehören, weisen auf eine deutliche Zunahme des Betroffenseins nach dem Einschlafen hin. Zwar träumen wir nicht selten bereits bei Schlafbeginn, doch finden sich voll ausgebildete Träume signifikant häufiger im REM-Schlaf. 336 Manche hypnagogischen Er334 335 336

Siehe oben S. 208f. Siehe oben S. 183f. Ich beziehe mich im Folgenden auf D. Foulkes: Die Psychologie des Schlafs. Übers.

236 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Quantitäten des pathischen Wachseins. Pathisches Aufwachen und Einschlafen

lebnisse sind nur von momentaner Dauer, oft handelt es sich dabei um hypnagogische Halluzinationen, weitgehend starre Vorstellungen vor allem visueller, manchmal auch akustischer Art, die beim Einschlafen, seltener auch beim Aufwachen auftauchen, und zwar ohne und allenfalls auch gegen unseren Willen, worin noch ein Rest von Betroffenheit gesehen werden muss. 337 Solche Halluzinationen können echte Vergegenwärtigungen, aber auch illusionäre Gegenwärtigungen sein, denn sie erscheinen manchmal mit und manchmal ohne Bewusstsein der aktuellen Situation. Soweit bei ihnen das mentale Wollen ganz ausfällt, gehören sie zu den ersten, noch relativ starren Erlebnissen, die beim Einschlafen im pathischen Wachsein auftauchen. Manchmal bestehen Träume zu Schlafbeginn nur aus mehreren Standbildern, die nacheinander auftreten und so die visuelle Kontinuität ersetzen, die wir aus typischen REM-Träumen kennen. Auf diese Weise kann eine lange Handlungsfolge in eine kurze visuelle Darstellung gedrängt werden. Auffallend ist auch das von manchen Autoren berichtete Zurücktreten der Affekte: diese sind während der hypnagogischen Periode weder so häufig noch so ausgeprägt wie in REM-Träumen. Je mehr wir einschlafen und das pathische Wachsein abnimmt, desto mehr fühlen wir uns vom Geträumten betroffen. Dies wird auch durch empirische Befunde bestätigt. So beschreiben Strauch und Meier den Verlauf des Einschlafens im Rückgriff auf eine Studie von Vogel, Foulkes und Trosman 338 folgendermaßen: »In der ersten Phase kann das Ich auftretende hypnagoge Halluzinationen noch bis zu einem gewissen Grad steuern, jedoch lässt allmählich die Kontrolle der aufsteigenden Bilder nach, gleichzeitig ist aber das Wissen um die Versuchssituation noch vorhanden, der Kontakt mit der Außenwelt ist noch nicht abgebrochen. In der zweiten Phase tritt das Bewusstsein, sich in einer experimentellen Situation zu befinden, in den Hintergrund. Das Ich hat hier vorwiegend die Rolle eines passiven Beobachters und erlebt die Einschlafbilder noch nicht als Traum. Erst in der dritten Phase verliert der von R. Müller-Berghaus, Stuttgart 1969, Kap. 5. Vgl. auch Strauch/Meier, a. a. O., S. 131 ff. 337 Dazu: E. B. Leroy: Les visions du demi-sommeil. Halluzinations hypnagogiques, Vol. 1, Paris, Alcan 1926; M. Spitzer: Halluzinationen. Ein Beitrag zur allgemeinen und klinischen Psychopathologie, Berlin 1988, S. 427 ff.; A. Mavromantis: Hypnagogia. The unique state of consciousness between wakefulness and sleep, London and New York 1987. 338 G. Vogel, D. Foulkes, H. Trosman: Ego functions and dreaming during sleep onset. Archiv of General Psychiatry 14 (1966), S. 238–248.

237 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

Schläfer den Realitätsbezug, nunmehr treten die Träume an die Stelle der Außenwelt, wobei das Ich stärker in das ablaufende Traumgeschehen eingebunden ist.« 339

Umgekehrt möchte man annehmen, müsse es beim Aufwachen zu einem allmählichen Abnehmen des Betroffenseins kommen. Dies dürfte jedoch kaum die Regel sein, schon darum nicht, weil das Aufwachen bekanntlich unter sehr verschiedenen Umständen vor sich gehen kann. Ein ungestörtes allmähliches Aufwachen läuft erheblich anders ab als eines, bei dem wir jäh aus einem Traum herausgerissen werden. Verwirrung stiftet auch ein Ergebnis der Schlafforschung, wonach die Perioden des REM-Schlafs umso länger werden, je länger der Schlaf dauert, wobei auch die Traumhaftigkeit der Träume zunimmt. 340 Da in den REM-Phasen am intensivsten geträumt wird und wir uns am meisten betroffen fühlen, würde das bedeuten, dass gegen das Ende des Schlafes hin die Betroffenheit durch das Geträumte am höchsten ist und wir am meisten eingeschlafen sind, was auch mit der subjektiven Einschätzung übereinstimmt, wonach Schläfer nach dem Aufwachen aus einer REM-Periode den Schlaf als tief empfinden. Es widerspricht jedoch physiologischen Kriterien der Schlaftiefe, nach denen der REM-Schlaf am meisten dem Wachzustand gleicht. 341 Halten wir uns auch hier an das subjektive Erleben, dann geht dem Erwachen aus einem REM-Schlaf keine Zunahme des pathischen Wachseins voraus. Dennoch kann dieses auch allmählich zu- oder abnehmen, wie die hypnagogischen Halluzinationen bezeugen. Solch starre Bilder treten nicht nur beim Einschlafen, sondern auch beim Aufwachen auf, manche Autoren sprechen dann von »hypnopompen Halluzinationen«. Schon diese wenigen oberflächlichen Einblicke in Ergebnisse der Traumforschung machen deutlich, dass wir uns auch im Träumen unterschiedlich stark betroffen fühlen und damit mehr oder weniger wach sein können. Sich Grade leiblichen Wachseins zu denken macht kaum Probleme. Empfindungen können mehr oder weniger intensiv sein, man denke an Schmerzen, Kitzel- oder Lustempfindungen. Intensives Betroffensein besteht in intensivem Empfinden. Wir erleiden Empfindungen oder leiden geradezu an ihnen, wie bei Schmerzen. Wir befürchten leibliches Betroffensein als eines, das uns unmittelbar 339 340 341

Strauch/Meier, a. a. O., S. 132. Foulkes, a. a. O., S. 100. Vgl. ebd., S. 25 ff.

238 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Quantitäten des pathischen Wachseins. Pathisches Aufwachen und Einschlafen

örtlich betrifft. Je intensiver wir diese Weise betroffen zu werden befürchten, desto wacher sind wir. Wahrnehmungsartig wach zu sein setzt voraus, dass der Leib wach ist und Sinne und kinästhetische Bewegung funktionieren. Was nun bewusst werden kann, betrifft uns so, dass es lockt, und diesem Locken folgt die kinästhetische Bewegung, durch die etwas erscheint. Auch was erscheint, lockt, aber das ist kein isoliertes Locken, sondern eines, das auf Weiteres verweist, das gleichfalls lockt. 342 Auch dabei lassen sich quantitative Unterschiede feststellen. Etwas kann stark locken, gleichsam magisch anziehen, vor allem Unbekanntes und Ungewohntes, während das Bekannte weniger lockt. Fürchten wir, mehr angelockt zu werden als zuvor, sind wir wahrnehmungsmäßig wacher, und dies fürchten wir, wenn wir stärker angelockt worden sind als zuvor befürchtet. Folgen wir dem, was lockt, sind wir pathisch auf etwas aufmerksam. Dies lässt fragen, ob wir im (pathisch) aufmerksamen Wahrnehmen wacher sind als im unaufmerksamen. Auch das hängt davon ab, wie sehr wir angelockt werden. Meist lockt das nur nebenbei Wahrgenommene weniger als das aufmerksam Wahrgenommene, es lockt nur hintergründig, aber das kann sich umkehren, nämlich dann, wenn etwas Hintergründiges so sehr lockt (z. B. ein plötzlicher Knall), dass es die Zuwendung auf sich zieht und in den Vordergrund drängt. Vorstellungsartig wach sind wir im Vergegenwärtigen. Darin kann man eine neue Stufe des Wachseins sehen, da wir es nun nicht mehr mit Gegenwärtigem, sondern mit Nicht-Gegenwärtigem, Nicht-Präsentem zu tun haben, sei es mit Vergangenem, Künftigem oder bloß Möglichem. Darüber hinaus mussten wir zwei Arten von Vorstellungen unterscheiden: isolierte Einfälle, die sich wiederholen, und Vorstellungen, die eine Geschichte herausbilden. Die ersten drängen sich auf und binden sich an uns, die zweiten drängen sich gleichfalls auf, aber binden uns an sich, sie ziehen uns in die Geschichte hinein, lassen uns in ihr aufgehen. 343 Beide Weisen der Bindung sind graduierbar. Wir können uns mehr oder weniger fürchten, uns an etwas gebunden zu fühlen, dementsprechend fühlen wir uns wacher, je weniger wir uns gebunden fühlen und umgekehrt. Auch das Wachsein in pathischen Gedanken kennt Grade. Pathische Gedanken betreffen uns in der Weise, dass wir sie für wahr hal342 343

Siehe oben S. 155. Siehe oben S. 161.

239 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

ten müssen. Wenn uns ein Gedanke einfällt, halten wir ihn für wahr, zumindest im ersten Augenblick. Zweifel stellen sich später ein, erst dann, wenn wir etwas anderes für wahr halten. Zuvor sind wir überzeugt, dass der Gedanke, der uns einfällt, wahr sei. Das Betroffensein durch Gedanken ist ein Zwang, sie für wahr zu halten. Vielleicht möchte man meinen, ein Gedanke sei entweder wahr oder falsch, und wenn er wahr ist, könne er nicht wahrer oder weniger wahr sein. Wahrheit ist nicht graduierbar. Aber nicht die Wahrheit von etwas macht uns betroffen, sondern der Zwang, etwas für wahr halten zu müssen, und davon gibt es sehr wohl ein Mehr oder Weniger. In Gedanken, die uns intensiv betreffen, wie Zwangsgedanken, Wahnideen oder Vorurteile, ist dieser Zwang stärker, in anderen kann er schwächer sein, mehr eine Tendenz zum Fürwahrhalten, als wirkliche Überzeugung. Aber auch da, wo dieser Zwang schwächer ist, sind wir nicht überzeugt, dass der Gedanke fraglich oder zweifelhaft sei. Nur das Fürwahrhalten lässt nach, ohne das eine Vermutung aufkommt, das Gedachte könne nicht wahr sein. Wir sind gedankenartig wacher als zuvor, wenn wir uns weniger fürchten, einen Gedanken für wahr halten zu müssen, und weniger wach, wenn diese Furcht zunimmt. Wenn wir von unterschiedlichen Graden der Intensität des Wachseins sprechen, dürfen wir nicht nur an ein kontinuierliches Zu- oder Abnehmen denken. So mögen wir uns gewöhnlich das Einschlafen und Aufwachen vorstellen; das Wachsein in Gefühlen, in Träumen, im Wahrnehmen und Vorstellen hat wenig damit zu tun. Wir mögen für Momente wacher sein, dann ergreift uns etwas oder lockt oder drängt sich auf, dann sind wir weniger wach, bis die Betroffenheit nachlässt und wir wieder offener für anderes werden. Wir können von Graden dieser Weisen, wach zu sein, sprechen, auch wenn es unmöglich ist, sie auf einer Skala zunehmender Wachheit anzuordnen, was überdies ein Unterfangen wäre, das sich gegenüber dem wirklichen Leben reichlich gekünstelt ausnähme.

5.2

Wachere und weniger wachere Modi des pathischen Wachseins

Ist jede Qualität des Wachseins für sich quantifizierbar, ist die Frage, wie wir uns ein Mehr oder weniger an pathischem Wachsein denken können, nur erst zum Teil beantwortet, solange wir nicht wissen, wie sich das Wachsein in unterschiedlichen Modi quantitativ zueinander 240 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Quantitäten des pathischen Wachseins. Pathisches Aufwachen und Einschlafen

verhält. Ohne Klärung dieser Frage bleibt unklar, ob und wie wir das pathische Wachsein trotz unterschiedlicher Qualitäten als eine Art Kontinuum zunehmenden Wachseins denken können. Es so zu denken, entspricht jedenfalls einigen unserer grundlegenden Intuitionen über das Wachsein: Wir glauben sicher zu sein, dass wir im Träumen weniger wach sind als etwa im Wahrnehmen, manche meinen, wir seien im Traum überhaupt nicht wach. Wenn wir urteilen, glauben wir wacher zu sein, als wenn wir wahrnehmen, und wenn wir in Tagträumen versinken, fühlen wir uns weniger wach. Ist das so, und wie ist es zu verstehen? Damit komme ich zur Frage zurück, wie es möglich ist, die Annahme, es gebe Grade des Wachseins, zusammen mit der anderen zu denken, es gebe unterschiedliche Qualitäten des Wachseins. Wenn wir uns das Wachsein als ein Kontinuum von Graden denken, dann kann es nicht von unterschiedlicher Qualität sein, und wenn doch, wird die Kontinuität durchbrochen. Sind beide Intuitionen zutreffend, müssen wir untersuchen, ob es einen Weg gibt, beides zusammen zu denken. Einerseits halten wir das pathische Wachsein für ein Kontinuum von Graden des Sich-wach-Fühlens, das sich von der geringsten Wachheit bis zu den wachsten Zuständen pathischen Wachseins erstreckt, andererseits nimmt es verschiedene Qualitäten an, die den Modi des pathischen Wachseins entsprechen. Jede dieser Qualitäten ist quantifizierbar: Wir fühlen uns mehr oder weniger wach, je nachdem, ob wir auf geringeres Betroffensein hoffen oder ob wir mehr oder weniger intensiv als zuvor fürchten, betroffen zu werden. Daher können wir annehmen, es lassen sich in jedem Modus des pathischen Wachseins Grade des Wachseins unterscheiden und damit auch solche, in denen wir uns am wachsten, und solche, in denen wir uns am wenigsten wach fühlen. Eine Antwort auf die Frage, wie sich unterschiedliche Qualitäten des Wachseins mit dem Gedanken eines Kontinuums von Graden vereinigen lassen, muss sich daran orientieren, wie sich die unterschiedlichen Modi des pathischen Wachseins zueinander verhalten. Dabei ist daran zu erinnern, dass es Modi dieses Wachseins gibt, die gleichzeitig zusammen bestehen können, und andere, die sich gegenseitig ausschließen. So können wir gleichzeitig vergegenwärtigen und (hintergründig) wahrnehmen, dabei Gefühle fühlen und Kitzel oder Schmerzen empfinden. Andererseits gibt es Erlebnisse unterschiedlicher Modi, die nicht gleichzeitig bewusst sein können, insbesondere dann, wenn wir stark betroffen werden. Dazu gehören nicht nur die 241 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

Phänomene des Erschreckens und des intensiven affektiven Betroffenseins, auch Vergegenwärtigen und aufmerksames Wahrnehmen schließen sich aus, wie die Welt des Traums und des Wahrnehmens. 344 Die Welt des Traums bricht zusammen, wenn starke Empfindungen auftreten, aber auch, wenn einzelne Wahrnehmungen im Traum sich zu einer Welt ausweiten und dadurch die Traumwelt ablösen. 345 Hinzu kommt, dass wir nicht nur gleichzeitig in unterschiedlicher Weise wach sind, wenn wir fürchten, in unterschiedlicher Weise betroffen zu werden. Wir sind immer auch in jener grundlegenden Weise wach, in der wir uns ängstigen, in irgendeiner Weise betroffen zu werden, also in der Angst vor der Wiederkehr des Taumels, sonst könnten wir weder in einer Weise pathisch wach werden, in der wir es zuvor nicht waren, noch gleichzeitig in verschiedener Weise wach sein. Bestehen unterschiedliche Modi pathischen Wachseins gleichzeitig nebeneinander, so schließt dies nicht aus, dass wir in ihnen unterschiedlich intensiv wach sein können, nur kompliziert sich nun die Sachlage, weil wir zweierlei Intensitäten unterschiedlichen Wachseins unterscheiden müssen: Wir sind in jedem Modus mit unterschiedlicher Intensität wach, d. h. wir fürchten, mehr oder weniger in der Weise betroffen zu werden, die dem jeweiligen Modus entspricht. Wir können also z. B. fragen, ob wir in einem geringen Grad des Wachseins eines Modus wacher oder weniger wach sind als in einem geringen Grad des Wachseins eines anderen Modus. In einem starken Affekt z. B. haben wir intuitiv den Eindruck, weniger wach zu sein, als wenn uns gleichzeitig einfällt, der Hund müsste noch gefüttert werden. Es ist jedoch keineswegs klar, in welchem Sinn bei solchen Modi übergreifenden Vergleichen des Wachseins von einem Mehr oder Weniger die Rede sein kann. Da mir im Übergang von einem Modus zu einem anderen Neues und Anderes bewusst wird, liegt es nahe anzunehmen, ich sei dann wacher als zuvor, wenn ich qualitativ anderes bewusst haben kann, das ich zuvor nicht bewusst haben konnte. Doch damit kommen wir nicht weit, denn in jedem Modus wird qualitativ anderes bewusst, das allein sagt nichts darüber aus, in welchem ich wacher bin. Ich kann vom Wahrnehmen ins Vergegenwärtigen übergehen und sagen, da wird Neuartiges bewusst, oder umgekehrt vom Vergegenwärtigen ins Wahrnehmen und mit 344 Siehe oben Kap. I, 2.1 Erwachen aus einem Traum: Wie weiß ich, ob der Wecker wirklich klingelt? 345 Siehe oben S. 54.

242 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Quantitäten des pathischen Wachseins. Pathisches Aufwachen und Einschlafen

ebenso gutem Recht dasselbe behaupten. Schließlich gibt es auch Erlebnisse, in denen wir uns ungefähr quantitativ gleich wach fühlen, obschon sie uns in unterschiedlicher Weise betreffen. Auch wenn ein Modus einen anderen aus dem Bewusstsein zu verdrängen vermag, bedeutet das nicht, dass wir in diesem wacher wären als in dem, der verdrängt wird. Ein Traum kann das Wahrnehmen aus dem Feld schlagen, aber das Umgekehrte ist ebenso gut möglich. Wenn wir den Übergang in einen Traum als Einschlafen bezeichnen, dann liegt das am gleichzeitigen Einschlafen des Leibes, für das es auch objektive Kriterien gibt, und nicht daran, dass wir uns im Traum generell weniger wach fühlen als im Wahrnehmen. Fühlen wir uns in einem Modus wacher als in einem anderen, dann darum, weil wir uns weniger stark betroffen fühlen. Aber was soll das heißen? Wenn wir unterschiedliche Weisen des Betroffenseins hinsichtlich der Intensität, mit der wir betroffen werden, vergleichen wollen, dann ist das nur möglich, wenn es bei aller Verschiedenheit des Betroffenseins auch Gleichartiges gibt. Worauf beruht die Intuition, wir seien in einem heftigen Wutanfall weniger wach, als wenn uns ein Gedanke einfällt? Man möchte sagen, ich fühle mich in der Wut mehr an das ausgeliefert, was mir geschieht, als wenn mir etwas einfällt. Mich ausgeliefert und ohnmächtig zu fühlen, gehört zu dem, was ich in der Angst vor der Wiederkehr des Taumels befürchte. Diese Angst ist immer mit dabei, wenn wir in irgendeiner Weise wach sind. Beim beginnenden Aufwachen wird sie durch eine bestimmte Weise des Betroffenseins erfüllt, und danach fürchten wir weiterhin in derselben Weise betroffen zu werden. Dabei bleibt die Angst vor der Wiederkehr des Taumels als Angst bestehen, in irgendeiner Weise betroffen zu werden, und kann durch andere Weisen des Betroffenseins erfüllt werden, aber auch durch dieselbe, denn jede bestimmte Weise des Betroffenseins erfüllt die Angst, irgendwie betroffen zu werden. Werden wir in bestimmter Weise betroffen (und jedes Betroffensein ist bestimmt), dann fürchten wir nicht nur, weiter in dieser besonderen Weise betroffen zu werden, wir fürchten auch, weiterhin in irgendeiner Weise betroffen zu werden, jedenfalls solange keine Störungen des normalen Verlaufs auftreten. Wir haben dann zwei Angsterlebnisse, die beide erfüllt werden. Dann müssten wir uns zweifach betroffen fühlen, und es müsste auch zwei pathisch bewusste Erlebnisse geben, aber es gibt nur eines und nur ein Betroffensein. Beide Angsterlebnisse unterscheiden sich: Zu fürchten, irgendwie betroffen zu werden, ist nicht 243 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

dasselbe wie zu fürchten, ergriffen oder gepackt oder in der Weise des Lockens, des unmittelbaren Lokalisiertseins oder des Fürwahrhaltenmüssens betroffen zu werden. Das alles sind durch ihre unterschiedlichen Gegenstände unterschiedliche Weisen, sich zu fürchten. Wenn wir in bestimmter Weise betroffen werden, wird immer auch die Angst, irgendwie betroffen zu werden, erfüllt, so dass wir zwei Erfüllungen haben. Aber in beiden wird dasselbe bewusst, nämlich dieselbe bestimmte Betroffenheit; und doch weichen beide Erfüllungen voneinander ab. In der einen ist das, was mich betrifft, das, was ich befürchtet habe, in der anderen ist es eine bestimmte Art dessen, wovor ich mich geängstigt habe. Die Erfüllung dieser Furcht ist partiell, und wir sind noch für anderes wach, das ebenfalls bewusst werden könnte. Vielleicht liegt in dieser partiellen Erfüllung der Grund dafür, dass wir uns in unterschiedlichen Modi des Wachseins unterschiedlich intensiv wach fühlen oder doch zu fühlen glauben. In der Angst, irgendwie betroffen zu werden, fürchten wir an das, was uns geschieht, ausgeliefert zu sein. Auch dieses Gefühl des Ausgeliefertseins, der Ohnmächtigkeit, ist quantifizierbar: Ich kann fürchten, mehr oder weniger ohnmächtig zu sein. Jedes bestimmte Widerfahrnis erfüllt diese Angst so, dass ich mich in bestimmter Weise betroffen fühle. In der Folge fürchte ich nicht nur, in gleicher Weise betroffen zu werden, so dass ich im entsprechenden Modus wach bin, ich fürchte immer auch, irgendwie betroffen zu werden, und zwar mehr oder weniger, je nach der Intensität, mit der ich zuvor betroffen wurde. Diese Intensität ist nicht die eines bestimmten Modus des Wachseins, sondern die des Ohnmächtigseins, vor dem ich mich geängstigt habe und mich immer ängstige. Wird diese Angst durch ein bestimmtes Widerfahrnis erfüllt, fühle ich mich nicht nur in bestimmter Weise betroffen, sondern zugleich mehr oder weniger oder gleich ohnmächtig, wie ich befürchtet habe. Das macht es möglich, dass wir uns in einem Modus des Wachseins mehr oder weniger oder gleich betroffen fühlen können als in einem anderen und damit auch mehr oder weniger wach. Merklich wird das meist nur, wenn wir gleichzeitig in unterschiedlicher Weise betroffen werden. Dann kann der Eindruck entstehen, wir seien nicht nur verschieden, sondern auch verschieden stark betroffen und entsprechend mehr oder weniger wach. Nach diesem Maßstab ist ein Übergang in einen anderen Modus ein partielles Aufwachen, wenn wir uns weniger ohnmächtig fühlen als zuvor, und ein partielles Einschlafen, wenn wir uns ohnmächtiger fühlen. 244 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Quantitäten des pathischen Wachseins. Pathisches Aufwachen und Einschlafen

Man kommt jedoch nicht um die Feststellung herum, dass dieser Maßstab nicht die Sicherheit bietet, die man sich wünschen möchte. Es gibt Fälle, wo wir uns entschieden wacher fühlen, und andere, wo wir aus dem Schwanken nicht herauskommen. So möchte man meinen, wir seien in gedankenartigem Wachsein immer wacher als in traumartigem, aber wenn wir daran denken, dass wir auch noch in Gefühlen traumartig wach sind und es pathische Gedanken gibt, die uns stark betreffen (z. B. Zwangsgedanken, die uns mit wiederholendem Einfällen plagen), ist die Sicherheit dahin. Meist fühlen wir uns in Gedanken wacher als in Gefühlen, aber in Extremfällen, wenn es um Gedanken geht, die uns stark, und Gefühle, die uns kaum betroffen machen, kann es auch umgekehrt sein. Was für das Wachsein in Gedanken und Gefühlen zutrifft, gilt für andere Modi nicht weniger. So fühlen wir uns z. B. in vielen Wahrnehmungen wacher als in Gefühlen, aber wenn wir erschrecken, kippt das wieder um und wir fühlen uns entschieden weniger wach als in vielen Gefühlen und etwa gleich wach wie in heftigen Affekten. Vielleicht ist man damit unzufrieden und kann nicht von der Hoffnung lassen, es müsse doch möglich sein, die unterschiedlichen Modi des pathischen Wachseins in eine Reihe zunehmenden Wachseins zu bringen. Dabei könnte man versucht sein, sich des Umstands zu bedienen, dass gewisse Klassen von Erlebnissen andere Klassen von Erlebnissen zur Voraussetzung haben. So können wir nur denken, wenn wir vergegenwärtigen können, und das können wir nur, wenn wir wahrnehmen können, und das nur, wenn wir unseren Leib bewegen können und die Sinnesorgane in Funktion sind. Daraus zu schließen, das Wachsein in Gedanken setze vorstellungsartiges Wachsein voraus und dieses wahrnehmungsartiges, das wiederum nur möglich sei, wenn wir leiblich wach sind, wäre jedoch voreilig. So setzt das Vergegenwärtigen gerade nicht die ganze quantitative Bandbreite des wahrnehmungsartigen Wachseins voraus, denn das Wahrnehmen darf nur hintergründig sein; aufmerksames wahrnehmungsartiges Wachsein würde stören und intensives Betroffensein durch Wahrgenommenes ließe das Vergegenwärtigen zusammenbrechen. Ähnliches gilt vom Wahrnehmen: Wir müssen dazu auch leiblich wach sein, aber das Leibliche muss ganz im Dienst des Wahrnehmens stehen, es darf nicht für sich in Erscheinung treten. Darum schließen sich intensives leibliches Wachsein und Betroffensein durch Wahrnehmbares aus. Dasjenige Wachsein, das auf einem andersartigen Wachsein aufbaut, ist wacher als die Grade jenes Wachseins, die 245 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

es voraussetzt, aber dass es auch wacher sei als die Grade, die es ausschließt, kann nicht behauptet werden. Wir müssen uns wohl von der Idee verabschieden, die verschiedenen Modi des Wachseins ließen sich in einer Reihenfolge zunehmenden Wachseins anordnen. Sie unterscheiden sich durch ihre Qualität, aber man kann nicht mit Sicherheit behaupten, wir fühlten uns in jedem Grad des Wachseins eines Modus wacher oder weniger wach als in jedem Grad eines anderen. Es gibt Grade eines Modus, in denen wir uns wacher, weniger oder etwa gleich wach fühlen als in einem Grad eines anderen Modus. Eine Folge zunehmenden Wachseins ergäbe sich nur, wenn sich die Modi so anordnen ließen, dass der jeweils wachste Grad eines Modus an den am wenigsten wachsten eines anderen anschlösse. Aber davon kann keine Rede sein. Vielleicht ist man als Letztes versucht, zwei Bedeutungen des Wacher-Seins und des Einschlafens und Aufwachens zu unterscheiden. In einem Sinn bezieht man sich auf die Qualität des Betroffenseins, die einen Modus des pathischen Wachseins bestimmt. In diesem Sinn bin ich wacher, je weniger ich in dieser Qualität betroffen werde. In einem anderen Sinn können wir von »Einschlafen« und »Aufwachen« sprechen, wenn es um ein Mehr oder Weniger des Modi übergreifenden Gefühls der Ohnmächtigkeit geht. In diesem Sinn bin ich wacher, wenn ich mich weniger ohnmächtig fühle. Aber das hilft nicht viel, denn wir fühlen uns nun einmal je nach Weise des Betroffenseins in unterschiedlicher Weise ohnmächtig, und das macht es in manchen Fällen unmöglich zu sagen, ob wir uns in der einen Weise des Ohnmächtigseins ohnmächtiger fühlen als in einer anderen. Das Modi übergreifende Gefühl des Ohnmächtigseins lässt uns hier im Stich und offenbart gerade dadurch, was es vermutlich ist: eher ein gedachtes als ein wirkliches Gefühl.

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Pathisches Wachsein als Selbstbeziehung

Zu den Bestimmungen des Wachseins, die sich in der zeitgenössischen psychologischen und philosophischen Literatur zum Thema finden, gehört auch die, Wachsein sei mit einem Gefühl, selbst präsent zu sein, verbunden. 346 Wenn ich wach bin, ist mir bewusst, dass ich es bin, der wach ist. Inwiefern trifft dies auf unser Verständnis des 346

Siehe oben S. 36.

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Pathisches Wachsein als Selbstbeziehung

pathischen Wachseins zu und um was für eine Art Selbstbewusstsein handelt es sich dabei? Der Gedanke, dass ich es bin, der wach ist, findet am pathischen Wachsein gleich mehrere Ansatzpunkte. Zunächst gehört zum Gefühl des Betroffenseins das Bewusstsein, dass ich es bin, der betroffen wird, ein Bewusstsein, das sich auch in seinen Modalisierungen wieder findet, sowohl in der Furcht vor Betroffenheit als auch in der Hoffnung auf geringeres Betroffensein. Das gehört mit zum Phänomenbestand dieser Gefühle. Wenn wir uns im Betroffensein selbst betroffen fühlen, darf man vermuten, schon im Widerstreben gegen Widerfahrnisse sei implizit eine Selbstbeziehung enthalten, denn nur wenn dieses Streben in einem strengeren Sinne je meines ist als andere Strebungen, fühlen wir uns im Betroffensein in einem strengeren Sinne selbst betroffen, als wenn beliebige eigene Wünsche frustriert werden. Oben 347 habe ich dafür plädiert, Wachsein sei als Selbstgefühl zu verstehen. Werde ich betroffen, fühle ich unmittelbar mich betroffen. Dieses Mich-Fühlen darf nicht kognitiv missverstanden werden. Es ist kein (propositionales) Wissen von sich, nicht ein Wissen, dass ich wach bin. Als Wissen müsste es sprachlich verfasst oder doch gedacht sein, es hätte die Form »ich weiß, dass ich φ«, wobei φ für einen Zustand oder ein Erlebnis steht. 348 Natürlich können wir in Sätzen unser Wachsein zum Thema machen, aber wach sein und darüber sprechen sind nicht dasselbe. Das Wachsein selbst ist gewiss nicht sprachlich verfasst, sonst könnten wir nur wach sein, solange wir sprechen, und nur solche Wesen könnten wach sein, die über eine (prädikative) Sprache verfügen. Dass ich im Betroffensein selbst betroffen bin, ist auch nicht durch ein anderes Bewusstsein vermittelt, denn das würde bedeuten, wir wären nur wach, wenn wir auf unser Wachsein reflektierten, was nicht nur von den Phänomenen her unhaltbar wäre, es führte auch in den bekannten Zirkel des Reflexionsmodells: Wir müssten schon wach und unmittelbar mit diesem Wachsein bekannt sein, um es in der Reflexion als unseres erkennen zu können. 349 Wenn Siehe oben S. 131. Vgl. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a. a. O., S. 112 ff. 349 Zur Diskussion um das Scheitern des Reflexionsmodells des Selbstbewusstseins siehe: D. Henrich: Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie. In: Hermeneutik und Dialektik, hg. R. Bubner u. a., Bd. 1, Tübingen 1970; U. Pothast: Über einige Fragen der Selbstbeziehung, Frankfurt a. M. 1971; Tugendhat, a. a. O., S. 50 ff.; M. Frank: Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, Stuttgart 1991, S. 160 ff.; Ders.: 347 348

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Pathisches Wachsein

ich mich wach fühle, bin ich in einer Weise direkt und unmittelbar mit mir bekannt, die eine Voraussetzung für jede Art von Selbsterkenntnis bildet. Denn um etwas als mich selbst zu erkennen, muss ich zuvor wenigstens fühlend oder spürend mit mir vertraut sein, und das bin ich allein schon darum, weil ich pathisch wach bin. Freilich fühle ich dabei nicht, wer ich bin. Ich bin mir nicht als ein identifizierbarer Gegenstand bewusst, was ohnehin ein merkwürdiges Verständnis von »ich« wäre, denn ich bin zwar eine objektiv identifizierbare Person, aber ich, verstanden als das unmittelbare Selbstbewusstsein, das ich im Betroffensein habe, bin keinesfalls objektiv identifizierbar, sondern nur aus der Perspektive der ersten Person fassbar 350 und dies schon im Fühlen meines Widerstrebens gegen Widerfahrnisse. Im Betroffensein und in der Angst davor fühle ich mich ohnmächtig, und in dieser Weise ohnmächtig zu sein, ist ein Zustand meiner selbst, der mir als meiner bewusst ist. Betroffenheit lässt sich als anonyme nicht einmal denken, denn was soll eine Betroffenheit, die niemanden betrifft? Dass gerade ich betroffen bin, ist ein anderer Sachverhalt, als wenn ein anderer betroffen ist. 351 Im Betroffensein fühle ich mich betroffen, weil ich mich ohnmächtig fühle in meinem Widerstand gegen das, was mich betrifft. Dieses Widerstreben fühle ich nicht in der gleichen Weise als meines wie beliebige Strebungen, die in mir auftauchen. Verspüre ich Hunger, sagen wir, dies sei »mein Hunger«, einer, den ich habe und nicht ein anderer. Meiner ist er, weil ich mich von einem Hungergefühl betroffen fühle. Anders das Widerstreben gegen Widerfahrnisse: Von diesem fühle ich mich nicht betroffen, vielmehr fühle ich mich betroffen, wenn es betroffen, also frustriert wird. Eben dies zeichnet dieses Streben gegenüber allen anderen aus. Weil es in einem eminenten Sinne meines ist, so dass man geradezu sagen möchte, es ist nicht eines, das ich habe, sondern eines, das ich bin, nämlich insofern, als ich immer nach nicht-taumeligem Selbstsein strebe, wenn ich wach bin, und nach anderem nur gelegentlich. Wird mein Widerstreben frustriert, so fühle ich mich direkt betroffen, werden meine Wünsche nicht erfüllt, so betrifft mich das auch, aber nur insofern, als ich gerade diese Wünsche habe. Strebun-

Ansichten der Subjektivität, Berlin 2012. Vgl. auch: H. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 1995, S. 201 ff. 350 Siehe dazu Nagel, Das objektive Selbst. In: Th. Nagel, Letzte Fragen, a. a. O., S. 297–330; Ders.: Der Blick von Nirgendwo, a. a. O., S. 97 ff. 351 Siehe oben S. 43.

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gen, die ich habe (und nicht selbst bin), sind solche, die mein Widerstreben gegen Widerfahrnisse frustrieren. Werden sie frustriert, fühle ich mich auch betroffen, aber nur vermittelt: Weil sie mich betreffen, betrifft mich auch das, was sie frustriert. Was für die Betroffenheit gilt, muss auch für ihre Modalisierungen und damit für die anderen Gefühle des pathischen Wachseins gelten, insbesondere für die Furcht vor Betroffenheit und die Hoffnung auf geringeres Betroffensein. Von der Furcht sagen wir gewöhnlich, dass ich mich fürchte, und zwar deshalb, weil die drohende Gefahr mir gilt. In der Furcht, betroffen zu werden, fürchte ich, dass ich betroffen werde. Dies ist kein wirkliches Betroffensein, sondern ein mögliches künftiges, aber nicht eines, das vorgestellt, sondern eines, das in der Furcht oder Hoffnung als wahrscheinlich eintretend gefühlt wird. Ich fühle, dass ich betroffen werden könnte. Auch das mögliche Betroffensein ist eines, in dem ich betroffen werden würde, wenn es einträte. Das wirkliche oder wahrscheinliche Betroffensein weist zurück auf seinen Grund: auf das Widerstreben gegen das Betroffenwerden durch Widerfahrnisse. Wenn wir feststellen mussten, dass wir uns unmittelbar betroffen fühlen, wenn dieses Streben betroffen wird, so muss nun auch danach gefragt werden, warum wir uns geradezu mit diesem Streben identifizieren. Wenn ich in der Frustration dieses Strebens mich betroffen fühle, so muss das daran liegen, dass ich danach strebe, nicht betroffen zu werden, dass dieses Streben von mir ausgeht, während andere Strebungen, die ich habe, zwar meine sind, aber nicht weil sie von mir ausgehen, sondern weil sie dieses mein Streben frustrieren. Warum ist dieses Streben in einem solch eminenten Sinn meines? Alles, was mir widerfährt, wird bewusst, wenn es mein Widerstreben frustriert, nur dieses Widerstreben nicht. Es kann nur betroffen werden, aber es kann weder mich, noch sonst etwas betreffen. Was bedeutet diese Asymmetrie? Auf ihr beruht die Trennung der Welt des pathisch Bewussten in das, was betroffen macht, und das, was betroffen wird. Betroffen wird das Widerstreben, das frustriert wird, bzw. ich, der widerstrebt. Alles andere, was bewusst wird, wird es darum, weil dieses betroffen wird. Dies scheint eine grundlegende Scheidung im pathisch Bewussten zu sein. Dabei geht es weder um die Trennung von Ich und Welt, jedenfalls nicht, wenn wir »Welt«, wie gewöhnlich, als Außenwelt verstehen, weil vieles, was uns betrifft, nicht zur Außenwelt gehört. Auch die Unterscheidung von 249 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein

Subjekt und Objekt trifft diesen Sachverhalt nicht, denn Objekt wird etwas im Bereich des pathischen Wachseins dann, wenn es mich betrifft, also mein Widerstreben frustriert. Aber im Betroffensein ist das Gegenstandsbewusstsein nicht so scharf herausgebildet wie in wacheren Bewusstseinsformen. Es gibt Weisen des Betroffenseins, bei denen sich kein bestimmtes Objekt ausmachen lässt, wie bei Stimmungen, und andere, bei denen sich zwar ein Gegenstand abhebt, aber so, dass von einem Gegenüberstehen von Subjekt und Gegenstand keine Rede sein kann, weil wir zu sehr in das Gegenständliche involviert sind. Ein Gefühl, das mich packt, steht mir nicht als neutraler, zu beobachtender Gegenstand gegenüber, sondern als etwas, das mich ergreift und allenfalls überwältigt. Das Tagträumen hat zwar sehr wohl Gegenstände, aber je mehr ich mich in ihnen verliere, desto mehr müssen wir von einem Ineinander von Subjekt und Objekt statt von einem Gegenüberstehen sprechen. Im Betroffensein bildet das, was erleidet, eine Einheit mit dem, was erlitten wird. Das ist keine ununterschiedene Einheit, denn meine Ohnmacht hebt sich von dem ab, was ich erleide. Sie ist die Ohnmacht meines Widerstrebens, in ihr fühle ich am intensivsten, dass ich es bin, der widerstrebt. Daran, möchte man sagen, zeige sich, dass dieses Streben mir näher steht als alles, was mir widerfährt. Dagegen mag man einwenden, dieses unmittelbare Fühlen, dass ich widerstrebe, wie es im Bewusstsein eigener Ohnmacht deutlich wird, sei keineswegs etwas, was diese Strebung gegenüber anderen auszeichne. Zu jedem Streben, das mich betrifft, sind Urteilsgefühle möglich, in denen ich fühle, dass ich nach etwas strebe, im Hunger nach Sättigung, in der Liebe nach Gemeinschaft mit dem/der Geliebten usw. Dass ich fühle, dass ich es bin, der Widerfahrnissen widerstrebt, also danach strebt, nicht betroffen zu werden, reicht nicht aus, um dieses Streben gegenüber anderem in einem strengeren Sinn als meines auszuzeichnen. Dazu müssen wir noch auf andere Eigenheiten achten, insbesondere ist danach zu fragen, wie sich das Ziel dieses Strebens zu anderen Strebungszielen verhält. Zunächst ist im Auge zu behalten, dass Strebungen, solange wir pathisch wach sind, nichts Willensmäßiges an sich haben. Sie sind zielgerichtet, ihre Ziele drängen sich mit den Strebungen auf. Wir müssen sie von Zwecken, Absichten oder Vorsätzen unterscheiden, die auf Wahl und Entscheidung beruhen. Daher gibt es im pathischen Wachsein weder ein Überlegen, was gut für einen Zweck, noch, was 250 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Pathisches Wachsein als Selbstbeziehung

für ein Zweck gut sei. Das Ziel jeder Strebung ist mit ihrem Auftauchen festgelegt. Im Unterschied zu allen anderen pathischen Strebungen ist das Widerstreben gegen Widerfahrnisse beständiger und sein Ziel umfassender als die Ziele anderer Strebungen. Diese tauchen auf, drängen nach Befriedigung, bauen sich ab und können von neuem wieder auftauchen. Sie entstehen situationsbedingt und verschwinden wieder situationsbedingt. Während andere Strebungen auf- und abtauchen, bleibt das Widerstreben beständiger, obwohl auch es kommt und geht im Aufwachen und Einschlafen. Das Ziel dieses Strebens ist allgemeiner und umfassender als die Ziele anderer Strebungen. Indem es sich auf alles bezieht, was mir widerfährt, bezieht es sich auch auf die Strebungen, die mich betreffen. Andere Strebungen haben bestimmte Ziele: Essen, Trinken, Geschlechtsakte, Aggression gegen andere, Lustempfindungen, Annehmlichkeiten, Genuss, Macht. Das Ziel des Widerstrebens weist über all das hinaus. Es hängt nicht von den jeweils bestehenden Situationen ab, sondern zielt auf eine Weise, wie bewusst zu leben sei. Dieses Ziel, auf nicht-taumelige Weise bewusst zu sein, beruht nicht auf Wahl und Entscheidung, es ist mir zugefallen, ähnlich wie andere Ziele, aber doch nicht in gleicher Weise. Andere Strebensziele drängen sich mit dem Streben auf, d. h. ich fühle mich davon ebenso betroffen wie von diesem. Aber das Streben nach nicht-taumeligem Bewusstsein, das haben wir schon feststellen müssen, betrifft mich nicht wieder. Man kann aber nicht sagen, es gehe wie eine Entscheidung aus mir hervor, so dass ich sein Urheber wäre. Wenn ich sage, dieses Streben ziele auf die Weise, wie ich überhaupt und im Ganzen bewusst leben möchte, so legt solch eine Formulierung nahe, ich hätte die Möglichkeit wenigstens zu wünschen, es könnte anders sein. 352 Diese Möglichkeit besteht nicht, solange ich pathisch wach bin. Das Ziel ist festgelegt, auch wenn es sich nicht aufdrängt. Es ist mir aufgegeben, so habe ich zu sein, da gibt es kein Entrinnen. Dabei fällt auf, dass das Positive dieses Ziels ganz unartikuliert bleibt, deutlich ist es nur im Negativen: nicht so zu sein, wie ich bin, nämlich nicht einer, der betroffen wird. Darin liegt eine Stellungnahme zu meinem bisherigen Bewusstseinsleben, aber nicht eine, die ich vollziehe, sondern eine, die geschieht. Man möchte sagen, die mir geschieht, aber eben 352 Vgl. die obige, zu Missverständnissen Anlass gebende Formulierung über den Taumel: »An diese leere Erwartung möglichen Taumelns kann sich eine Antipathie gegen weiteren Taumel knüpfen: So möchte ich nicht sein.« (Siehe oben S. 128).

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Pathisches Wachsein

das ist fraglich, ob es vor dem Widerstreben so etwas wie »mich« als der, dem etwas geschieht, schon gibt. Wir müssen versuchen, die Frage, warum wir uns mit dem Widerstreben derart identifizieren, dass wir uns betroffen fühlen, wenn dieses frustriert wird, im Rückgang auf die Rekonstruktion seines Entstehens zu beantworten. Im ursprünglichen Taumel fühlen wir uns ungetrennt eins mit dem Taumel. 353 Geht er vorüber, sinkt er in die Vergangenheit ab, bleibt aber noch retentional erhalten, falls es hier so etwas wie ein Zeitbewusstsein überhaupt gibt. Auf diesen vergehenden Taumel richtet sich ein Widerstreben. Aber noch bin ich eins mit dem vergehenden Taumel und vergehe mit ihm. Jedoch nicht ganz: Der Taumel bleibt retentional bewusst, und jede Retention ist Retention der ganzen vergangenen Phase samt der Retention und Protention, die ihr zugehört. Die Protention der letzten Phase des Taumels, in der die nächste erwartet wird, bleibt leer. Diese leere Erwartung verbindet sich mit dem aufkommenden Streben, der Taumel solle nicht sein, zur Angst vor seiner Wiederkehr. 354 Kehrt der Taumel wieder, erscheint er im Licht dieser Angst als Anderes und Fremdes und die Angst als meine. Damit wird alles, was diese Angst erfüllt, zu etwas, das mich betrifft, und das Widerstreben, das in ihr impliziert ist, zu meinem und jedes Streben, das mich betrifft, zu einem fremden. Soviel zur Frage, warum das Widerstreben gegen Widerfahrnisse in einem strengeren Sinn meines ist als andere Strebungen. Tugendhat hat Heidegger interpretierend dafür votiert, die Struktur des Sichzusichverhaltens nicht als Reflexion zu denken, in der ein Subjekt sich selbst zum Objekt hat, sondern so, dass der Mensch sich zu sich verhält, indem er sich voluntativ-affektiv zu seinem Sein verhält. 355 Unser jeweils bevorstehendes Sein ist nicht ein Vorhandenes, das festzustellen wäre, sondern etwas, zu dem wir uns praktisch tätig verhalten. Wir müssen uns praktisch dazu verhalten, das ist notwendig, darum kommen wir nicht herum, aber wie wir uns dazu verhalten ist nicht festgelegt, da gibt es einen Spielraum der Entscheidung und damit der praktischen »Möglichkeit, zu sein oder nicht zu sein bzw. so oder so zu sein oder nicht zu sein.« 356 Anstelle der Reflexion als einem wahrnehmenden Auf-sich-Richten tritt ein 353 354 355 356

Siehe oben S. 125. Oben S. 135. Tugendhat, a. a. O., S. 188 f. Ebd., S. 189.

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entscheidendes und wollendes Verhalten zu sich als dem eigenen Existierenmüssen. So etwas kann es nur geben, wenn wir in einer Weise wach sind, in der ein Entschließen und Wollen möglich ist. Das ist für den Bereich des pathischen Wachseins ausgeschlossen. Dennoch finden sich im pathischen Wachsein Analogien dazu. Schon früher schien uns das Widerstreben gegen Widerfahrnisse kein Endzweck zu sein, sondern Mittel, um auf nicht-taumelige Weise bewusst zu sein. 357 Eigentlich strebe ich schon, wenn ich pathisch wach bin danach, was immer ich bewusst habe, auf nicht-pathische Weise bewusst zu haben. Dann kann man sich fragen, ob nicht das Streben nach einem derartigen Bewussthaben auch eine Beziehung auf mein eigenes künftiges Sein sei, keine voluntative, aber doch eine strebende und fühlende. Es geht, wenn ich pathisch wach bin, nicht darum, über mein eigenes künftiges Sein zu entscheiden, aber es geht doch um mein eigenes künftiges Bewusstseinsleben, von dem ich wünsche, es möge nicht auf Betroffenheit beruhen. Wenn ich mich zu mir selbst verhalte, indem ich mich voluntativ-affektiv zu meinem eigenen künftigen Sein verhalte, so verhalte ich mich auch zu mir selbst, wenn ich mich strebend zu meinem eigenen künftigen Bewusstseinsleben verhalte. Eben das ist der Fall, wenn ich pathisch wach bin und danach strebe, nicht betroffen zu werden. Darin liegt, dass ich einer sein möchte, der nicht betroffen wird. Dann kann man die strebende Beziehung auf mein eigenes künftiges Bewussthaben als eine Selbstbeziehung ansehen und von einer strebend-fühlenden Selbstbeziehung sprechen, die ich in der Betroffenheit und in der Furcht vor ihr fühle. In jedem Betroffensein kehrt der Taumel wieder, und ich fühle von neuem, nicht so zu sein, wie ich sein möchte. In dieser Weise bin ich im Widerstreben und damit im Streben nach nicht-taumelndem Selbstsein auf mich bezogen, nicht auf mich als auf einen gegenwärtigen eigenen Bewusstseinszustand, sondern auf mich als den, der ich sein möchte. So liegt den Selbstgefühlen des Wachseins ein Streben zugrunde, das als Selbstbeziehung angesehen werden kann, aber nicht als eine, in der ich mich als mich selbst erkenne, sondern als eine strebende oder wünschende, in der es nicht um mich geht, wie ich bin, sondern um mich, wie ich sein möchte, oder besser: zu sein habe. Wenn es im Widerstreben um mein eigenes künftiges Sein geht, dann ist das pathische Wachsein ein Sichzusichverhalten, auch wenn es

357

Siehe oben S. 129.

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Pathisches Wachsein

sich nur um eine strebende, nicht um eine praktische Selbstbeziehung handelt. Ziel und damit intentionaler Gegenstand dieses Strebens bin ich selbst als einer, der nicht-taumelig ist und nicht von Widerfahrnissen betroffen wird. Dies ist auch der Gegenstand der Urteilsgefühle dieses Strebens und damit des pathischen Wachseins. Wir sind nicht nur strebend, sondern auch fühlend darauf bezogen, wie wir sein möchten. Hoffe ich, nicht oder in geringerem Maß betroffen zu werden, so hoffe ich, einer zu sein, der nicht betroffen wird; fürchte ich, betroffen zu werden, so fürchte ich, einer zu sein, der betroffen wird. In der Furcht wie im Betroffensein bin ich auf einen Sachverhalt bezogen, der im Gegensatz zu dem steht, den ich anstrebe. Im Betroffensein streiten sich erwünschter und wirklicher Sachverhalt mit dem Resultat, dass ich in der Frustration fühle, nicht so zu sein, wie ich sein möchte. Insofern fühle ich im pathischen Wachsein, wie es um mich steht hinsichtlich des Ziels, das ich anstrebe. Man kann darin eine weitere Ähnlichkeit zu Heidegger sehen, nämlich zu dem, was er »Befindlichkeit« genannt hat. 358 In den Stimmungen erschließt sich dem, was wir selbst sind (dem »Dasein«), »dass es ist und zu sein hat« 359. In ihnen begegnet uns die Notwendigkeit, mit der wir zu sein haben und willentlich unser Leben auf uns nehmen müssen. Sie kann in den gedrückten Stimmungen als Last und damit zu Verneinendes erscheinen, in den gehobenen wird sie bejaht. Solch unterschiedliche Stimmungen sind kein pathisches Wachsein, auch wenn Heidegger meint, die Stimmung mache ein »Sichrichten auf … allererst möglich.« 360 Man darf aber annehmen, dass gewisse Gefühle des Wachseins (z. B. Angst, irgendwie betroffen zu werden) eher Stimmungen als Gefühle sind, während andere (wie ein intensives Betroffensein) nichts von einem stimmungsmäßigen Charakter an sich haben. Ist das pathische Wachsein ein Selbstbewusstsein, dann sind wir im Fühlen des Widerstrebens gegen Widerfahrnisse immer auch unserer selbst bewusst, also im Betroffensein, in der Furcht vor ihm und in der Hoffnung auf geringeres Betroffensein. Diese Weisen, sich seiner selbst bewusst zu sein, stehen für das geradehin dahinlebende Subjekt nicht im Vordergrund. Vordergründig ist ihm das bewusst,

358 359 360

Heidegger, a. a. O., § 29. Ebd., S. 134. Ebd., S. 137.

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was es betrifft; dass es selbst betroffen ist, bleibt zumeist im Hintergrund. Folgen wir Descartes, wissen wir, wenn wir etwas bewusst erleben, nicht nur, was wir erleben, sondern auch, dass wir es erleben. Diese Gewissheit, dass ich denke, ist ein reflexives Bewusstsein. Es stellt sich erst ein, wenn ich zu zweifeln beginne und frage, ob es überhaupt etwas gebe, das zweifellos gewiss sei. Solch ein reflexives Bewusstsein setzt voraus, dass das Bewusstsein schon mit sich vertraut ist. In Sartres Worten: »jedes objektsetzende Bewusstsein ist gleichzeitig nicht-setzendes Bewusstsein von sich selbst.« 361 Es gibt ein »präreflexives Cogito, das die Bedingung des kartesianischen Cogito ist.« 362 Das Bewusstsein von etwas ist zugleich Bewusstsein von sich, ohne sich zum Objekt zu haben. 363 Wie verhält sich dieses präreflexive cogito zum pathischen Wachsein? Zunächst sei daran erinnert, dass das pathische Wachsein ein egologisches Selbstbewusstsein ist, ein Bewusstsein von sich als je ich selbst, während Sartre das präreflexive cogito als eines verstanden hat, welches das (anonyme) Bewusstsein von sich hat. Es fühlt sich für das Bewussthaben irgendwie an, etwas bewusst zu haben, es ist sich dessen inne. Was pathisch bewusst wird, ist bewusst im Betroffensein, und da ist es als mich Betreffendes bewusst. Vom Wachsein her müssen wir das präreflexive Cogito als ein egologisches Selbstbewusstsein deuten, als Bewusstsein davon, dass ich mich von dem, was mir bewusst ist, betroffen fühle. 364

Sartre, Das Sein und das Nichts, a. a. O., S. 21. Ebd., S. 22. 363 Sartre, Conscience de soi et connaissance de soi, in: Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre, hg. von M. Frank, Frankfurt a. M. 1993, S. 383. 364 Ich lehne mich mit dieser Unterscheidung zwischen egologischem und nicht-egologischem (anonymem) Selbstbewusstsein an die Unterscheidung zwischen egologischen und nicht-egologischen Selbstbewusstseinstheorien bei M. Frank an. Siehe: M. Frank: Fragmente einer Geschichte der Selbstbewußtseins-Theorie von Kant bis Sartre. In: Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre, a. a. O., S. 508 f. 361 362

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III. Aktives Wachsein

Ist das pathische Wachsein durch Erleiden und Betroffenheit bestimmt, lässt sich das, was ich vorläufig als »aktives Wachsein« bezeichnet habe, als ein Wachsein verstehen, das zunächst negativ als eines charakterisiert werden kann, in dem wir uns wach fühlen können, ohne betroffen zu werden oder Betroffenheit zu befürchten oder auf geringeres Betroffensein zu hoffen. Positiv gewendet könnte das bedeuten, wir seien in einer Weise wach, in der unser Widerstreben gegen Betroffenheit nicht frustriert, sondern befriedigt wird. Diese Befriedigung dürfte einsetzen, wenn wir nicht mehr betroffen werden. Wie können wir dann noch wach sein? Zumindest aus der Sicht des pathischen Wachseins kann nun nichts mehr bewusst sein, wie sollten wir da noch wach sein, wenn wir, wie bisher, das Wachsein an ein gegenwärtiges oder bevorstehendes bewusstes Erleben knüpfen? Nicht betroffen zu werden bedeutet im Bereich des pathischen Wachseins soviel wie Bewusstlosigkeit. Es scheint vom pathischen Wachsein her keinen Zugang zum aktiven Wachsein zu geben und schon gar kein Verständnis für das, was aktives Wachsein sei, da dieses so ganz anders geartet sein muss als das pathische. Dann ist auch nicht einzusehen, wie wir von diesem ins aktive Wachsein übergehen können, obschon das doch ein ganz alltäglicher Vorgang ist, der sich jedes Mal vollzieht, wenn wir aufwachen. Dennoch fühlen wir uns wirklich aktiv wach, wenn auch nicht immer. Der Weg vom pathischen zum aktiven Wachsein scheint verbaut zu sein, steht aber in umgekehrter Richtung offen: Wir können, wenn wir aktiv wach sind, vom eigenen Erleben her zu erfassen versuchen, worin diese Weise, wach zu sein, besteht, und daraus kann sich ein Zusammenhang mit dem pathischen Wachsein ergeben, indem wir zu verstehen versuchen, wie wir ins pathische Wachsein einschlafen. Wenn wir aktiv wach auf das pathische Wachsein achten, liegt es nahe, das aktive Wachsein aus dem Gegensatz zum pathischen zu bestimmen. Dann stehen wir vor der Frage, was es heißt, nicht-pathisch 257 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

wach zu sein. Die Antwort liegt auf der Hand: Ist etwas pathisch bewusst, wenn es uns betrifft, dann ist etwas nicht-pathisch bewusst, wenn es bewusst ist, ohne dass wir uns betroffen fühlen. Sind wir aktiv wach, wünschen oder wollen wir, dass etwas bewusst sei. Wir sind aktiv wach, wenn etwas nicht von selbst auftaucht und bewusst wird, sondern bewusst ist, weil wir es bewusst haben wollen, und zwar so, wie wir es wollen, wozu auch das willkürliche Umgehen mit dem gehört, was uns bewusst ist. Was dabei unter »Wollen« zu verstehen ist, bleibt einstweilen offen. Dieses Vorverständnis des aktiven Wachseins deckt sich nur teilweise mit dem, was alltagspsychologisch als waches Erleben verstanden wird. Vieles, was wir gewöhnlich so bezeichnen, wie z. B. ganze Bereiche des Wahrnehmens und Vergegenwärtigens, gehört zum pathischen Wachsein, weil wir uns dabei betroffen fühlen. Im aktiven Sinne wach sind wir dann, wenn das, was uns bewusst ist, nicht durch Betroffenheit, sondern darum bewusst ist, weil wir es bewusst haben wollen. Davon möchte ich ausgehen und sehen, wie weit wir damit kommen. Galt uns das pathische Wachsein als notwendige Voraussetzung pathischen Bewusstseins, so darf man erwarten, das aktive bilde in Analogie dazu eine notwendige Voraussetzung für nicht-pathisches Bewusstsein, also von solchen Sinngehalten, die nur durch mentale Aktivität (was immer das sei) bewusst werden. In annähernder und vorläufiger Weise habe ich es als ein »Mich-aktiv-Fühlen« bezeichnet, als die Weise, wie wir uns in absichtlicher Aufmerksamkeit, im willentlichen Erinnern und Phantasieren, im absichtlichen Urteilen und Schließen wach fühlen. Wie wir von einem Wachsein zum anderen kommen, also aufwachen, wirft eine Reihe von Problemen auf, die nach einer Lösung verlangen. Vieles bleibt einstweilen unklar, insbesondere, was wir unter »mentaler Aktivität« verstehen können, und worin es besteht, aktiv wach zu sein und wacher zu werden. Im Nachdenken darüber erscheint der Begriff des aktiven Wachseins zunehmend problematisch, was eine sorgfältige Analyse als umso dringlicher erscheinen lässt.

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Vorläufiges zum aktiven Wachsein

Jeder Mensch kennt aus eigener Erfahrung wie es ist, wacher zu werden oder in einen Zustand verminderten Wachseins hinüber zu gleiten, zu dösen oder ganz einzuschlafen. Eine Theorie des Wachseins 258 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Vorläufiges zum aktiven Wachsein

muss mit diesen Erfahrungen zusammenstimmen und sie verständlich machen. Es ist nicht von vorneherein klar, worauf sich »Aufwachen« und »Einschlafen« beziehen: Auf das Zu- oder Abnehmen des pathischen oder des aktiven Wachseins oder auf den Übergang vom pathischen zum aktiven Wachsein oder umgekehrt. Das Einschlafen als Abnehmen des aktiven Wachseins denken wir uns als ein Schwinden mentaler Aktivität, wodurch wir unfähig werden, unsere Gedanken willkürlich zu führen und zu kontrollieren. Die Aufmerksamkeit entgleitet uns allmählich und wir kippen ins pathische Wachsein hinüber. Das Einschlafen ist im Bereich aktiven Wachseins mit einem Verlust an Fähigkeiten verbunden, im Bereich des pathischen Wachseins mit einer Zunahme des Betroffenseins. Der Übergang vom aktiven ins pathische Wachsein kann in einem stärkeren Sinn als Einschlafen gelten als das Abnehmen des pathischen Wachseins, weil nun jedes Wollen und Tätigsein ausgeschlossen wird. Dies gilt auch im Vergleich mit dem Einschlafen im aktiven Wachsein, denn es geht nun nicht um den Verlust einzelnen Könnens, sondern um den allen Könnens. Im pathischen Wachsein gibt es nichts, was wir auf eigenes Können zurückführen könnten, da alles geschieht, wie es eben geschieht. Schwieriger wird es mit dem Aufwachen. Sind wir pathisch wach, werden wir wacher, wenn die Betroffenheit abnimmt, was uns auf geringeres Betroffensein hoffen lässt. Diese Weise des WacherWerdens bleibt auf das pathische Wachsein begrenzt, weil sie Betroffenheit voraussetzt. Zunehmendes Wachsein in diesem Sinne kann es in aktiver Wachheit nicht geben. Was da bewusst wird, verdankt sein Bewusstwerden nicht einem Widerstreben. Es drängt sich nicht etwas mehr oder weniger auf, sondern wird absichtlich tätig zur Erscheinung gebracht. So scheint es zumindest. Worin besteht so eine Tätigkeit und wie kann sie entstehen, müsste sie doch aus pathischem Wachsein hervorgehen, da ich derselbe bin, der pathisch und aktiv wach ist? Aber wie soll man sich das denken? Kann aus Erleiden Tätigkeit werden? Die früher gemachte Annahme, Wachsein sei Bedingung bewussten Erlebens, führt uns nun aufs Glatteis. Um mental aktiv zu sein, müssen wir entsprechend wach sein. Sind wir nur traumartig wach, können wir nicht in echter Weise urteilen oder schließen, obschon ein illusionäres Gegenwärtigen von Urteilen und Schlüssen im Traum nicht selten vorkommt. Es scheint, wir sind erst dann für ein aktives Bewussthaben wach, wenn wir uns schon mental aktiv fühlen, 259 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

denn pathisches Wachsein reicht dazu nicht aus, eben weil es pathisch ist. Mental aktiv fühlen wir uns erst, wenn wir aktiv sind. Sollte dieses Fühlen Voraussetzung für aktives Bewusstsein sein, wäre mentale Aktivität Bedingung ihrer selbst. Wie kann sie dann entstehen? Sie entsteht aber, in nichts anderem besteht der alltägliche Vorgang des Aufwachens. Klar ist, Aufwachen ist keine Aktivität, wir können es nicht wollen, da wir nicht in der Weise wach sind, in der wir wollen könnten, und wenn wir es wollen könnten, sind wir schon aufgewacht. Das Aufwachen selbst ist etwas, das uns geschieht, es kann allenfalls der Wunsch auftauchen, wach oder wacher zu sein, aber wir können es nicht wollen. Dennoch muss unser aktives Wachsein irgendwie aus dem pathischen entstehen. Unklar ist auch, was unter »mentaler Aktivität« zu verstehen ist. Vorläufig war ich der Meinung, sie sei eine von mir gewollte Tätigkeit, durch die etwas bewusst wird. Man denke an willentliche Aufmerksamkeit, an willentliches Erinnern oder Phantasieren, an absichtliches Urteilen und Schließen. Mentales Wollen schien mir auch das Merkmal zu sein, durch das sich das aktive Wachsein vom pathischen unterscheidet. Mit seinem Auftauchen schlägt pathisches in aktives Wachsein um. Dazu gibt es abweichende Meinungen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, damit klarer wird, was unter »mentalem Wollen« zu verstehen sei und wie das so Verstandene entstehen kann.

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Zum Begriff mentaler Aktivität

Im umgangssprachlichen wie im alltagspsychologischen Sinn deckt sich der Bereich, in dem wir uns wach fühlen und von uns sagen, wir seien wach, weitgehend mit dem des Wahrnehmens. 365 Entsprechend wachen wir auf, wenn wir nicht mehr schlafen oder träumen, sondern beginnen wahrzunehmen. Zuvor sind wir nicht wach. Zu dieser Auffassung gesellt sich eine andere gleichfalls alltagspsychologische Überzeugung, die das Wachsein mit Aktivität zusammenbringt: Wach sind wir tätig oder zumindest fähig, tätig zu sein. Wir können unseren Körper bewegen, handeln und mental aktiv sein. Sind wir wach, können wir überlegen und nachdenken, in einem Dämmerzustand oder im Schlaf, gelingt das nicht. Beide Auffassungen, jene, 365

So schon Aristoteles, wie wir oben S. 47, Anm. 32 gesehen haben.

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Zum Begriff mentaler Aktivität

welche die Grenze zwischen wach und nicht-wach beim beginnenden Wahrnehmen zieht, und jene, welche sie in den Beginn des Tätigseins verlegt, ergänzen sich, fallen aber keineswegs zusammen. Wahrnehmen kann aktiv sein, z. B. als absichtliches Beobachten, aber es ist nie nur aktiv. Um wahrnehmen zu können, muss uns etwas entgegenkommen, das wir gerade nicht hervorgebracht haben. Solange wir wahrnehmend im bloßen Gegenwärtigen verbleiben, sind wir nur pathisch wach. Dies trotz der Aktivität des Leibes, die im Wahrnehmen immer am Werk ist, denn diese verspüren wir solange nicht als unsere, als sie nicht von uns gewollt ist. Wir müssen am Wahrnehmen das, was willentlich ist, von dem unterscheiden, was von selbst, ohne unser Zutun abläuft. Wenn wir uns dennoch gewöhnlich im Wahrnehmen in einem aktiven Sinn wach fühlen, kommt dies daher, dass wir normalerweise kaum bloß wahrnehmend sind, vielmehr ist das Wahrgenommene immer schon mit Vergegenwärtigungen, Begriffen und Urteilen durchsetzt, in denen wir uns entschieden wacher fühlen als im Wahrnehmen allein. Nehmen wir zunächst zur Kenntnis, wie Husserl Wachsein und Aufwachen verstanden hat. 366 Bei ihm ist das Wachsein an die aufmerksame Zuwendung gebunden: »Ein ›waches‹ Ich können wir als ein solches definieren, das innerhalb seines Erlebnisstromes kontinuierlich Bewusstsein in der Form des cogito vollzieht« 367. Damit bringt er das Wachsein in Verbindung mit der Aktualitätsmodifikation intentionaler Erlebnisse. Jedes solche Erlebnis, jedes »cogito«, ist auf einen Gegenstand gerichtet, der aus einem Erfahrungshintergrund heraus erfasst ist. Wir sind dem Gegenstand zugewendet, wobei das, was ihn umgibt, mitbewusst ist, ohne erfasst zu sein. Dieses Mitbewusste bildet einen »Hof« inaktueller Erlebnisse, demgegenüber der Gegenstand der Zuwendung aktuell bewusst ist. Was wir wahrnehmen (oder erinnern oder phantasieren) kann aufmerksam wahrgenommen sein, während anderes nur nebenbei Beachtung findet. Mit einer Wendung der Aufmerksamkeit wird das aktuell Bewusste inaktuell, und zuvor Inaktuelles wird aktuell bewusst. Zum inaktuell Bewusstem gehört das, was im Moment nicht aktuell bewusst ist, sei es solches, das zur mitbewussten Umgebung eines Gegenstandes gehört (Außenhorizont) oder seien es weitere Erscheinungen desselben Gegenstandes, die jetzt nicht thematisch sind (Innenhorizont) oder 366 367

Siehe auch das Kap. IV, 2 Husserls Konzeption von Wachsein und Aufwachen. Hua III/1, S. 73.

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Aktives Wachsein

sei es der zeitliche Horizont mit seinen Verweisungen auf das, was vom Gegenstand eben wahrgenommen wurde, und dem, was eben wahrgenommen werden wird. Ich bin auf das gerichtet, was mir jeweils Gegenstand ist, und zwar als »reines Ich«, sofern ich mich nur als den verstehe, der in jedem Aktvollzug derart gerichtet ist, wobei dieses Gerichtetsein auch passiv sein kann, wie in der Trauer. 368 Wird ein cogito inaktuell, versinkt auch »in gewisser Weise das reine Ich in Inaktualität.« 369 Das schlafende Ich wird dann zu einem, das in keinem Akt vollziehend ist, sondern ganz in Inaktualität übergeht. Es ist ein »völlig dumpfes, ohne einen Unterschied zwischen aktuellem Blickfeld und dunklem Hintergrund. Alles ist nun Hintergrund, alles Dunkel.« 370 Husserl denkt sich den Übergang vom aktuellen Ich ins »Stadium des spezifischen ›Unbewusstseins‹« 371 so, wie den Übergang von der Zuwendung zum Gegenstand ins Dunkel des Horizontbewusstseins. Dem Unbewussten mangelt es wie dem Dunkel an Helligkeit, es ist ein Verlust an Bewusstheit, aber doch nicht völlig unbewusst. Das reine Ich entsteht nicht und vergeht nicht wie die cogitationes, sondern »tritt in Aktion und tritt wieder außer Aktion« 372. Das lässt fragen: Worin besteht dieses Auftreten, wie kann das Ich aufwachen? Husserl unterscheidet das Wachsein als »faktischer Vollzug von Ichakten« vom »Wachsein als Potenzialität, als Zustand des Aktevollziehen-könnens« 373. Das Aufwachen markiert den Übergang von der Potenzialität des Wachseins in den der Aktualität, in den faktischen Vollzug von Ichakten und damit der Zuwendung zu etwas. »Erwachen ist, auf etwas den Blick richten.« 374 Das Ich erwacht, wenn wir ein intentionales Erlebnis vollziehen und uns damit seinem Gegenstand zuwenden. Was nun die Unterscheidung von Passivität und Aktivität bei Husserl betrifft, so versteht er beide nicht als feststehende Begriffe, die man definieren kann, sondern als Mittel der Beschreibung und Kontrastierung, die sich auf die konkrete Situation der Analyse be-

368 369 370 371 372 373 374

Vgl. Hua IV, S. 97. Ebd., S. 99. Ebd., S. 107. Ebd., S. 100. Ebd., S. 103. Husserl, EU, S. 83. Ebd.

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Zum Begriff mentaler Aktivität

ziehen. 375 So kann etwas, das in bestimmter Hinsicht aktiv ist, in anderer Hinsicht als passiv gelten. Es bilden sich aber doch zwei Begriffe von Aktivität heraus, ein engerer und ein weiterer. Im engeren Sinn gilt ein vernunftgemäßes Ichleben als aktiv, wozu rationales Handeln und prädikatives Denken gehören. In einem weiteren Sinn nennt Husserl das ganze wache Ichleben aktiv. Das naive (nichtphänomenologische) Bewusstsein nimmt die Gegenstände immer als fertige, ohne zu sehen, dass sie Resultat vielfacher Erkenntnisleistungen sind. Daher erscheinen ihm das Wahrnehmen als passiv, das Umgehen mit den Dingen und die prädikative Sprache als aktiv. Für den Phänomenologen, der die Konstitution der Dinge zum Gegenstand macht, beschränkt sich dagegen der Begriff der Passivität auf die »rein affektive Vorgegebenheit, de[n] passiven Seinsglauben, in dem noch nichts von Erkenntnisleistung ist: der bloße ›Reiz‹, der von einem umweltlich Seienden ausgeht« 376. Nur den vor jeder Zuwendung liegenden Reiz hält Husserl für passiv, schon die Zuwendung gilt ihm als eine Erkenntnisleistung und damit als Aktivität. 377 Darüber hinaus erklärt er die Rezeptivität zur untersten Stufe der Aktivität: »Das Ich lässt sich das Hereinkommende gefallen und nimmt es auf.« 378 Das hört sich an, als ob das Ich die Wahl hätte, das Hereinkommende aufzunehmen oder nicht, wovon natürlich keine Rede sein kann. Rezeptiv zu sein ist eine Art zu erleiden und kann schwerlich in ein Tun uminterpretiert werden, es sei denn, man nimmt absichtlich zur eigenen Rezeptivität Stellung. Bei all dem betont Husserl, dass von der Aktivität in diesem weiten Sinne jeder Gedanke an ein Wollen ferngehalten werden müsse: »In der Rezeptivität«, erklärt er, »ist das Ich zwar aktiv dem Affizierenden zugewendet, aber es macht nicht seine Erkenntnis und, als Mittel zu ihrer Erzielung, die einzelnen Erkenntnisschritte zum Gegenstand eines Wollens.« Dies ist erst im eigentlichen Erkenntnisinteresse der Fall, wenn Erkenntnis Handlung des Ich geworden und jeder Erkenntnisschritt von einem Willensimpuls geleitet ist. 379

Ebd., S. 119. Ebd., S. 61. 377 Ebd., S. 62. 378 Ebd., S. 83. 379 Vgl. E. Husserl: Fragment mit dem Titel »Das bewusstlose Ich – Schlaf – Ohnmacht« aus dem Ms. A VI 14. Veröffentlicht von J. Linschoten in: Tijdschrift voor Philosophie 14 (1952), S. 261–263. 375 376

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Aktives Wachsein

Wer Wachsein an Aufmerksamkeit bindet, muss sich fragen lassen, welche Aufmerksamkeit er meint: die pathische oder die aktive? Legt er sich auf die Erste fest, ist man schon wach, wenn sich die Aufmerksamkeit (wie etwa in einem Tagtraum) von selbst dahin oder dorthin verschiebt. Denkt er an die Zweite, ist das erst der Fall, wenn man sich absichtlich diesem oder jenem zuwenden kann. Wer die erste Variante bevorzugt, muss darlegen, mit welchem Recht er meint, wir seien nicht wach, wenn uns etwas unaufmerksam bewusst ist. Das nur nebenbei Bewusste ist doch auch bewusst, wie wäre sonst eine Zuwendung möglich? Also kann das Ich nicht gänzlich schlafen, sonst könnte es nicht merken, dass da noch etwas ist, dem man sich zuwenden könnte. Wer die zweite favorisiert und das Wachsein an willentliche Aufmerksamkeit bindet, muss begründen, warum selbst das pathisch Aufmerksame nicht wach erlebt sei. Wenn wir mit der Relativität der Begriffe passiv und aktiv ernst machen, dann ist auch das, was wir als »Aufwachen« bezeichnen, relativ. Es erfolgt nicht aus einem Zustand, der völlig nicht-wach wäre. Wir sind immer schon irgendwie wach, nur anders oder weniger als der Zustand, in dem wir sind, wenn wir aufgewacht sind. Ist von Aktivität oder Passivität die Rede, stellt sich auch die Frage nach ihrem Subjekt. Sicherlich kann man in der Rezeptivität eine Leistung sehen und ebenso in der Zuwendung, auch wenn sie pathisch ist und wir sie erleiden. Aber wer leistet da etwas, wenn nicht wir, und wie können wir leisten, was wir erleiden, wie es doch der Fall sein müsste, wenn Rezeptivität oder pathische Aufmerksamkeit eine Aktivität wären? Wenn wir das »reine Ich« als ein reines transzendentales Bewusstsein verstehen, dann müssen wir ihm diese Aktivitäten zuschreiben, nicht uns, jedenfalls dann, wenn wir sie erleiden. Dann könnte das transzendentale Bewusstsein wach sein, ohne dass wir wach sind. Es fragt sich aber, ob nicht dies »reine Ich« ein rein erdachtes Ich ist, das vom empirischen Subjekt, auch des Phänomenologen, verschieden ist. Nicht nur das naive Bewusstsein nimmt seine Gegenstände passiv hin, auch der Phänomenologe, wenn er auf die Gegebenheitsweise von Gegenständen reflektiert. Husserl scheint von der Frage auszugehen, was alles geleistet werden muss, damit Gegenstände so erscheinen, wie sie uns erscheinen. Aber diese Leistungen sind zu einem guten Teil nicht unsere, sondern solche, die geleistet werden und die wir erleiden. Husserl war nicht blind für die Passivität des Ich: Vielerlei drängt sich ihm auf, es wird ange-

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Zum Begriff mentaler Aktivität

zogen, ist hingegeben, geht in etwas auf. 380 Aber es kommt ihm immer auf die Leistung dieser Passivitäten an, und das legt nahe, sie zu Aktivitäten umzudeuten. Dies führt zu einem weiten Begriff von Aktivität, der kaum geeignet ist, den Phänomenen entsprechend zwischen Aktivität und Passivität zu unterscheiden. Zu vieles, was wir als pathisch erleben, wird als aktiv gedeutet. Ebenso wenig eignet er sich zur Kennzeichnung jenes Bereichs, in dem wir uns wach fühlen, weil mit der Gleichsetzung von Aktivität und Wachsein das Pathische aus dem Blick gerät. Nicht besser ergeht es dem, der dafür plädieren wollte, im Vergegenwärtigen die Grenze zwischen Passivität und Aktivität zu sehen. In der Tat spricht vieles dafür, dass wir uns im Gegenwärtigen zumeist betroffen fühlen, während das Vergegenwärtigen sich immer wieder als eine Voraussetzung für mentale Aktivität erweist. Doch nicht alle Vergegenwärtigungen sind aktiv erzeugt, oft drängen sie sich auf, nicht selten auch gegen unseren Willen. Kann Vergegenwärtigtes auch pathisch bewusst sein, taugt es nicht als Merkmal mentaler Aktivität. Wenn wir nach einer Grenze zwischen mentaler Aktivität und Passivität suchen, die unser Leben in Wachen und Schlafen trennt, ist nicht außer Acht zu lassen, dass sich diese Grenze nicht nur in einer Richtung durchlaufen lässt, nicht nur vom Schlafen zum Wachen, sondern ebenso umgekehrt. Statt zu fragen, wann wir mental aktiv werden, also aufwachen, können wir auch fragen, wann wir einschlafen. Beim Einschlafen werden zunächst die Willensfunktionen herabgesetzt, der Wille wird »matt und müde« und der handelnde Mensch mutiert zum leidenden; dies stellt ein allgemein bekanntes Phänomen dar, auf das in der Literatur immer wieder verwiesen worden ist. 381 Doch wollte man etwa in der Müdigkeit selber eine Bedingung des Einschlafens sehen, würde man sowohl von jenen eines Besseren belehrt, die nicht einschlafen können, obschon sie müde sind, als auch von jenen, die einschlafen, ohne müde zu sein. Man könnte auch daran denken, dass wir uns beim Einschlafen von der Umwelt abwen-

Vgl. z. B. Hua IV, S. 98. Siehe z. B. A. Angyal: Der Schlummerzustand. In: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. 1. Abt. Zs. für Psychologie 103 (1927), S. 67; E. Schmitz: Die Psychologie des Einschlafens in Beziehung zur Schichttheorie. In: Archiv für Psychiatrie und Zeitschrift für die ges. Neurologie 202 (1962), S. 618; Linschoten, Über das Einschlafen, a. a. O., S. 86 ff., 266. 380 381

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Aktives Wachsein

den 382, doch auch dies taugt nicht als Bedingung für das Schwinden mentaler Aktivität, denn solche Abwendung finden wir auch beim absichtlichem Phantasieren oder konzentriertem Nachdenken, die beide zweifellos aktiv sind. Nach Linschoten erfordert das Einschlafen eine Suspension der Zeit, »man soll weder vorwärts noch rückwärts sehen, sondern in diesem Augenblick sich verlieren«. Sich weder um die Zukunft noch um die Vergangenheit zu kümmern, mag ein probates Schlafmittel sein 383, es weist einmal mehr darauf hin, dass wir im bloßen Gegenwärtigen kaum aktiv sind. Die Meinung, wir schlafen ein, wenn wir das Interesse an der Umwelt verlieren, kann auch darum nicht die gesuchte Grenze markieren, weil ein solches Interesse schon während des Einschlafens sehr bald wieder auftaucht, denn der Schlaf ist nicht, wie Husserl meinte, bewusstlos. 384 Die Schlafforschung hat nachgewiesen, dass Versuchspersonen fast immer über irgendwelche Erlebnisse berichten, wenn sie während der Periode des Schlafbeginns geweckt werden. 385 Am Anfang des Einschlafens entgleitet dem Ich die Herrschaft über seine Funktionssysteme, das Aufmerksamkeitsniveau sinkt und die Willensfunktionen werden herabgesetzt. Assoziationen verdrängen zunehmend die Denkoperationen, wobei diese mehr und mehr ihre Abstraktheit verlieren und bildhafter werden. 386 Im weiteren Verlauf gibt es weitreichende individuelle Unterschiede 387, doch wie auch immer die einzelnen Phasen des Einschlafens ablaufen, es ist kein Übergang ins Unbewusste, sondern ein bewusstes Erleben, das zunächst noch in einzelnen Reminiszenzen des Wachbewusstseins besteht, dann sich zunehmend verselbständigt und in Träume übergeht, die ähnlich durchdacht und zusammenhängend wie REM-Träume sind. 388 Spätestens mit ihnen kann sich wieder ein Interesse verbinden, das dem des Wahrnehmens verwandt ist und während des Träumens ähnlich wie dieses empfunden wird. Analoges gilt sicherlich für das Tagträumen. Es fragt sich allerdings, ob man das Interesse, das wir im Träumen und Tagträumen an unseren Gegenständlichkeiten nehmen, als ein Erkenntnisinteresse bezeichnen kann. Nicht 382 383 384 385 386 387 388

Vgl. Linschoten, a. a. O., S. 79 ff. Vgl. ebd., S. 269. Siehe das in Anm. 379 zitierte MS A VI 14, S. 262. Foulkes, a. a. O., S. 111. Vgl. E. Schmitz, a. a. O., S. 618 f. Foulkes, a. a. O., S. 112. Ebd., S. 115.

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Mentales Wollen

weniger fraglich ist auch Husserls Behauptung, schon im Wahrnehmen sei ein solches Interesse am Werk. Das bloße sinnliche Erfahren hat zwar auch seine Interessen, diese sind aber weit eher praktischer Natur und gründen in der Bedürfnis- und Triebstruktur des Subjekts. 389 Wenn wir mit dem Einschlafen das Interesse an der wahrgenommenen Welt verlieren, wird dieser Verlust bald durch ein Interesse an dem, was wir träumen, ersetzt und kann nicht als charakteristisch für das Einschlafen gelten, da das Interesse am Geträumten während des Traums dem am Wahrgenommenen während des Wachens kaum nachsteht. Es macht den Anschein, der Rückgriff auf das Einschlafen sei zur Lösung der Frage nach dem Unterschied zwischen Passivem und Aktivem wenig hilfreich. Dies schon darum nicht, weil in den zitierten Auffassungen das Einschlafen als ein Abwenden von der Umwelt verstanden wird, entsprechend muss das Aufwachen als ein Zuwenden gelten, ein Gedanke, der schon am pathischen Zuwenden scheitert. Dies führt zum Schluss: Weder kann das Zuwenden die Grenze zwischen wach und nichtwach, zwischen Aktivität und Passivität bilden noch das Wahrnehmen und das Vergegenwärtigen. Es sieht ganz so aus, als ob nicht darum herum zu kommen sei, den Bereich der mentalen Aktivität und damit des aktiven Wachseins enger zu fassen: Wir sind aktiv wach, wenn wir etwas wollen. Das muss nicht zu Tätigkeiten und Handlungen führen, auch Wahrnehmen, Erinnern, Phantasieren und Denken können gewollt sein. Damit sind wir bei der Frage, was mentales Wollen sei und wie es aus der Passivität heraus entstehen könne.

3

Mentales Wollen

3.1

Der Begriff des mentalen Wollens

Die Schwierigkeiten, einen Begriff mentaler Aktivität zu bilden, der sich sinnvoll in das mentale Leben eingliedern lässt, haben uns zur Annahme geführt, nur jene Vorkommnisse als aktiv zu bezeichnen, die gewollt sind. Was gewollt ist, kann schon aus begrifflichen Gründen nicht passiv sein. Wenn wir von »wollen« sprechen, denken wir meist an Handlungen, von denen wir sagen, wir wollen sie, das meint, 389

Vgl. Kern, Idee und Methode der Philosophie, a. a. O., § 32.

267 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

wir wollen eine Absicht tätig verwirklichen. Von einem »mentalen Wollen« können wir sprechen, wenn es nicht darum geht, verändernd in die wahrnehmbare Welt einzugreifen, sondern in unsere mentale Welt, die Welt unserer bewussten Erlebnisse. Was kann das heißen, wenn es mehr als eine Übertragung äußeren Handelns ins »Innere« sein soll? Versuchen wir in Analogie zum pathischen einen Begriff aktiven Wachseins zu entwerfen, so müssen wir von Beispielen mentalen Wollens ausgehen. Will ich mir eine Kuh auf einer grünen Weide bildlich vorstellen, so kann dies gelingen oder misslingen. Das Eine befriedigt mein Wollen, das Andere frustriert es. Ohne diese meine Absicht entsteht keine visuelle Phantasie einer Kuh auf grüner Weide, geschieht es doch, geschieht es ungewollt, und die Phantasie ist pathisch, nicht aktiv bewusst. Mentales Wollen bildet eine notwendige Bedingung für das Bewusstwerden gewisser Sinngehalte, aber nicht die einzige. So können wir z. B. keine Summe bilden, ohne zählen zu wollen. Aber dies nur zu wollen ist nicht hinreichend, wir müssen auch wirklich zählen. In vielen Fällen kann mentales Wollen ohne mentale Aktivität, ohne Akte des Phantasierens, Erinnerns, Urteilens, Sprechens, nicht befriedigt werden. Aber Absichten zu haben und sie realisieren zu wollen ist Voraussetzung dafür, dass solche Akte einsetzen und gewollte Akte sind. Geschehen sie ungewollt, sollten wir sie besser Passivitäten als Aktivitäten nennen. Vieles, womöglich das meiste am Wollen, bleibt dunkel. Deutlich bewusst ist nur die Absicht, die wir verwirklichen wollen. Sie kann man dem Ziel eines Strebens vergleichen, mit dem Unterschied, dass Ziel wie Streben in uns auftauchen, während die Absicht des Wollens wiederum gewollt sein kann. Aber auch wenn dies nicht zutrifft, unterscheidet sich ein Wollen vom Streben durch einen eigenartigen Zug: Ein Streben macht sich bemerkbar, indem es uns dazu drängt, etwas zu tun. Sein Ursprung liegt nicht in uns, wogegen wir beim Wollen fühlen, dass es von uns ausgeht. Das weist auf eine Verwandtschaft zwischen Wollen und Streben. Ein Streben taucht auf und drängt uns zu seinem Ziel. Das Wollen scheint gleichfalls eine Art Streben zu sein, aber vermittelt durch Überlegung, Wahl und Entscheidung. Erst dadurch wird das Ziel, nach dem wir streben, explizit als Absicht bewusst. Die Absicht, die wir verwirklichen wollen, ist stets ein Gedanke (eine Proposition): Wir wollen, dass a F sei. Es macht einen Unterschied, ob in mir ein Begehren, eine Neigung, bestimmte Vorstellungen bewusst zu haben, am Werk ist, oder ob ich selbst eine 268 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Mentales Wollen

bestimmte Vorstellung bewusst haben will. Während ein Streben, etwas bewusst zu haben, von selbst auftaucht, sich vielleicht sogar gebieterisch aufdrängt (es drängt mich z. B., eine liebgewordene Szene der Vergangenheit zu erinnern), sagen wir vom Wollen, es gehe von mir aus: ich will. Was kann das heißen? Wir nehmen an, das Ziel hat sich mir nicht aufgedrängt, vielmehr habe ich es gewählt unter mehreren Möglichkeiten und mich dafür entschieden. Zumindest gibt es zwei Möglichkeiten: Etwas tun (oder bewusst zu haben) oder es nicht tun (oder nicht bewusst haben), wenigstens diese Alternative, sich für oder gegen etwas zu entscheiden, muss gegeben sein, sonst kann man nicht von einem Wollen sprechen. Wie es für das Entscheiden, etwas zu tun oder zu lassen, Gründe gibt, so scheint auch die Entscheidung für das Bewussthaben von etwas der Begründung zu bedürfen, die hier wie dort auch implizit sein kann. Zumeist sind diese Gründe wiederum etwas, was ich will. Weil ich wissen will, was das für ein merkwürdiges Geräusch ist, das ich höre, gehe ich in diese Richtung und schaue nach. Weil ich Pilze sammeln will, will ich mich erinnern, an welchen Plätzen ich letztes Jahr welche gefunden habe. Wie meistens ist auch hier das, was wir wollen, ein Mittel für anderes, was wir gleichfalls wollen. Dies lässt die Frage aufkommen, ob es ein grundlegendes mentales Wollen gebe, für welches alles Weitere ein Mittel wäre. Darauf werde ich später zurückkommen. Was das Wollen vor allem anderen auszeichnet ist nicht das Ziel, auch nicht die Wahl unter Möglichkeiten, nicht das Überlegen und Begründen und nicht das Verwirklichen, obschon auch das alles zum Wollen gehört, sondern das Entscheiden. Nur wenn es an mir liegt, wie ich entscheide, bin ich es, der will; und es liegt an mir, wenn ich in einem Spielraum unterschiedlicher Möglichkeiten und Gründe stehe und mich für ein Ziel entscheide, das ich verfolgen will, und allenfalls mich entscheide, mich stärker auf dieses Ziel auszurichten oder allfälligen Wünschen oder Zwängen nachzugeben. 390 Dadurch bin ich es, der will. Auch Strebungen, die passiv in mir auftauchen, sind zielgerichtet, auch das Wählen zwischen verschiedenen Möglichkeiten kann passiv sein, ist dann aber nicht mehr das, was wir gewöhnlich unter »Wählen« verstehen. Überlegen und Begründen sind zwar kaum als ein Geschehen denkbar, aber eine unüberlegte und unbe390 Vgl. dazu: E. Tugendhat: Anthropologie statt Metaphysik, München 2010, S. 75 ff. Auf die damit zusammenhängende Frage der Willensfreiheit gehe ich weiter unten ein. Siehe Kap. III, 9 Aktives Wachsein, Selbstbewusstsein und Freiheit.

269 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

gründete Entscheidung kann immer noch zu einer Absicht taugen, so gut wie eine Entscheidung, die sich später als falsch oder schlecht herausstellt, immer noch eine Entscheidung ist. Das Entscheiden scheint das am Wollen und Urteilen zu sein, was unverzichtbar zu beiden gehört. Durch dieses ist eine Absicht meine. In ihm ist begründet, warum ich mich als Urheber einer Absicht fühle und mich vor mir selbst und vor anderen für verantwortlich halte. 391 Für das mentale Wollen bedeutet dies: Ich habe mich für das, was ich bewusst haben will, entschieden. Darum ist es nicht etwas, das mich betrifft, sondern etwas, an dessen Zustandekommen ich beteiligt bin. Das Entscheiden scheint den gemeinsamen Kern von Wollen und Urteilen auszumachen. 392 Im theoretischen Urteilen entscheiden wir, ob etwas wahr oder falsch ist, im praktischen, was sein soll. Wenn wir ein Urteilen als eigenes empfinden, beruht auch dies darauf, dass es aus einem Entscheiden hervorgegangen ist. Immer wenn ich etwas will, entscheide ich mich in einem Spielraum von Möglichkeiten für eine, die ich verwirklichen will. Für das mentale Wollen heißt das: Ich will, dass etwas bewusst werde; ich will etwas aufmerksam erfassen, erinnern, phantasieren usw. Die Absicht mag gedacht, sprachlich formuliert oder auch nur implizit im Wollen enthalten sein, so dass erst in der Befriedigung klar wird, was ich da eigentlich gewollt habe. Das mentale Wollen ist kein bloßes Wünschen, zu ihm gehört die Beständigkeit des Willens, ein Ziel beharrlich zu verfolgen, was bekanntlich nicht selten auch scheitern kann. Es gibt eine Differenz zwischen dem, was ich will, und dem, was ich erreiche, und damit eine Spannung zwischen Gelingen und Misslingen. Auch hier kann ein passives Urteilen über das Erreichen oder Nichterreichen des Ziels einsetzen: Wird vermutet, das Gewünschte komme nicht zustande, entsteht Furcht, geht die Vermutung in die gegenteilige Richtung, resultiert Hoffnung. Diese Furcht und diese Hoffnung sind jedoch von anderer Qualität als jene des pathischen Wachseins. Es ist nicht Furcht vor Betroffenheit, sondern vor Misslingen, vor Unfähigkeit; und Hoffnung ist nicht Hoffnung auf geringeres Betroffensein, sondern darauf, dass ich zu etwas fähig bin und mir etwas gelingt. In solcher Furcht und solcher Hoffnung fühle ich mein Wollen. Diese Gefühle Siehe dazu unten, dasselbe Kap. III, 9. Ob dies für alle Urteile zutrifft, kann man allerdings unter Hinweis auf Wahrnehmungsurteile in Frage stellen. Vgl. dazu: M. S. Stepanians: Frege und Husserl über Urteilen und Denken, Paderborn 1998, S. 188 f. 391 392

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Mentales Wollen

sind im Gegensatz zum Selbstbewusstsein im Erleiden ein Selbstbewusstsein im Wollen. Wird bewusst, was ich gewollt habe, ist das mentale Wollen befriedigt. Dann kann ein Gefühl der Mächtigkeit, des Verfügenkönnens über Vorstellungen aufkommen. Umgekehrt verspüre ich im Scheitern, in der Frustration meines mentalen Wollens, meine Schwäche und Ohnmacht.

3.2

Aufwachen im prägnanten Sinn: Wie mentales Wollen aus dem pathischen Wachsein entsteht

Wir können versuchen, mentales Wollen zu beschreiben, weil wir es an uns selbst erfahren, aber möglich wird diese Erfahrung erst, wenn wir entsprechend wach sind. Sind wir pathisch wach, können wir nicht wollen, da ist alles, was bewusst ist, durch Betroffenheit bewusst. Wie kann dann, so muss man sich fragen, mentales Wollen entstehen, wie können wir aufwachen? Wenn wir uns ein Lebewesen denken, das nur pathisch wach ist, scheint dies rätselhaft, und zwar schon aufgrund des Begriffs des mentalen Wollens, wie wir ihn bisher verstanden haben. Mentales Wollen kann nicht pathisch sein, es drängt sich nicht auf und wird nicht erlitten, es kann aber auch nicht aktiv sein in dem Sinne, dass es gewollt wäre, denn dann müsste jedes Wollen wieder gewollt sein. Es scheint, wir stehen vor der unerquicklichen Alternative, entweder das Wollen als nicht gewollt und damit als ein passives Geschehen anzusehen, so dass wir sagen müssen, nicht ich will, sondern es will in mir, oder anzunehmen, es sei gewollt, und sich dafür einen unendlichen Regress einzuhandeln. Wir werden sehen, ob sich jenseits dieser Alternative ein Weg öffnet. Wie kann mentales Wollen und überhaupt ein Wollen zustande kommen, wenn wir annehmen, wir seien nur pathisch wach (und bisher nur pathisch wach gewesen) und hätten noch nie gewollt. Es geht dabei nicht um die empirische Frage, wann und in welchen Zusammenhängen sich so etwas ereignet hat, sondern um die prinzipiellere, wie so etwas überhaupt denkbar ist. Versucht man dies zu rekonstruieren und bemüht man sich, sich in eine solche Situation zu versetzen, liegt es nahe, nach Bedingungen zu suchen, die erfüllt sein müssen, damit ein mentales Wollen entstehen kann. Dabei sollten wir uns im Klaren sein, dass wir als wache und reflektierende Subjekte nach solchen Bedingungen fragen; wären wir nur pathisch wach, wären wir dazu nicht in der Lage. Als aktiv wache Menschen fragen wir, 271 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

was in unseren pathisch wachen Zuständen vorbereitet sein muss, damit wir aktiv wach sein können. Wenn ein Wollen nicht gewollt sein kann und wir von einem Zustand ausgehen, in dem wir gar nicht wollen können, bleibt nur übrig anzunehmen, etwas dränge uns dazu zu wollen, und wenn jedes Wollen auf Entscheidung beruht, muss uns etwas zum Entscheiden drängen. Es muss aber auch, und darin besteht eine zweite Bedingung, etwas gegeben sein, das ein Entscheiden herausfordert. Man kann zwei Arten von Entscheidungen unterscheiden: theoretische und praktische. In der theoretischen geht es um die Entscheidung, ob ein Gedanke wahr oder falsch sei, in der praktischen um die Frage, ob etwas sein oder nicht sein soll bzw. ob eine Handlung gut oder schlecht sei. Beide Arten von Entscheidungen können an pathisch Bewusstes anknüpfen: an fraglich gewordene Gedanken und an fraglich gewordenes Bewussthaben. Schließlich erscheint die Möglichkeit, aus dem pathischen Wachsein heraus zu einem Entscheiden zu kommen, ganz ausgeschlossen, solange wir intensiv betroffen sind. Geringes Betroffensein dürfte somit eine weitere Bedingung dafür sein, wollen zu können. Damit kommen wir zur Frage, ob im pathischen Wachsein nicht schon einiges vorbereitet sein müsse, was ein Entscheiden nicht nur ermöglicht, sondern geradezu herausfordert. Gehen wir vom pathisch Bewussten aus, so kann es pathische Gedanken geben, die nach einer Entscheidung verlangen, die zunächst selber pathisch ist, also von selbst geschieht. Sind wir pathisch wach, kann ein Gedanke fraglich werden, wenn ein anderer, widersprechender Gedanke auftaucht, so dass beide einander widerstreiten, da sie nicht zugleich wahr sein können. Kann sich keiner von beiden durchsetzen, stellen sie sich gegenseitig in Frage. 393 Wären wir in entsprechender Weise wach, würden wir merken, dass hier eine Entscheidung gefordert ist, sind wir nur pathisch wach, können wir nicht entscheiden, und wenn es zu einer Entscheidung kommt, dann auf pathische Weise: Jener Gedanke setzt sich als der wahre durch, der stärkeren Zwang ausübt, ihn für wahr zu halten. Ist etwas allein dadurch pathisch bewusst, weil wir es für wahr halten müssen, dürfte ein Bewusstsein von Möglichem oder Fraglichem solange nicht einmal denkbar sein, als der Zwang zum Fürwahrhalten nicht durchbrochen wird und es zu keiner Distanzierung des Bewussthabens vom Bewussten kommt. 393

Siehe oben S. 173.

272 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Mentales Wollen

Denken wir an das Beispiel Husserls, in dem ein Gegenstand einmal als Puppe und einmal als Mensch erscheint. Die Überzeugungen, die sich mir dabei aufdrängen, mögen mehrmals wechseln, so dass es zu einem Hin und Her des Urteilens kommt. Ich halte es für wahr, »dass a F« ist, dann, »dass es G« ist, dann wieder, »dass es F« ist usw. Glaube ich, es sei G, so ist mir noch bewusst, dass ich eben den Gedanken, »a sei F«, für wahr gehalten habe, und wenn ich »a ist F« für wahr halte, weiß ich noch, dass ich eben überzeugt war, »dass a G« sei. Was ich gerade jetzt für wahr halte, habe ich auch schon nicht für wahr gehalten, und was mir jetzt als falsch gilt, hielt ich auch schon für wahr. Dieses Hin und Her der Überzeugungen kann das Fürwahrhalten untergraben, dann werden die Gedanken zweifelhaft und sind nur noch als fragliche oder mögliche bewusst. Aber wie kann ein Gedanke als fraglich bewusst sein, wenn er pathisch bewusst ist und dies darin besteht, ihn für wahr halten zu müssen? Möglich scheint das nur, wenn die Fraglichkeit ihrerseits zum Gegenstand eines Fürwahrhaltens wird, so dass wir überzeugt sind, dass der Gedanke fraglich sei. Es ist ein Fürwahrhalten zweiter Ordnung, in dem wir von der Wahrheit des Gedankens, dass der Gedanke erster Ordnung fraglich sei, überzeugt sind. Dann halte ich es für wahr, dass »a ist F« und »a ist G« beide möglicherweise wahr oder möglicherweise falsch seien, nur können beide nicht zugleich für wahr gehalten werden, denn es sind widersprechende Möglichkeiten. Aber darüber setzt sich das pathische Denken hinweg. Es merkt nicht, dass hier eine Entscheidung gefordert ist, weil »a ist F« und »a ist G« nicht zugleich wahr sein können. – Aber dazu herausgefordert wird nur, wer entscheiden kann, und das kann niemand, solange er nur pathisch wach ist. – Es fragt sich auch, ob ein nur pathisch waches Bewusstsein zu solch reflexiven Überlegungen fähig ist. Während das Urteilen im Entscheiden sein Ziel erreicht, beginnt das Wollen mit dem Entscheiden. Ist die Entscheidung gefallen, steht die Absicht fest, die dann in beständigem Wollen realisiert wird. Was das mentale Wollen betrifft, gehört die Entscheidung, ob ich das, was mir bewusst ist, bewusst haben will oder nicht, zum Einfachsten, was es zu entscheiden gibt. Ein solches Stellungnehmen setzt die Fähigkeit voraus, sich von dem, was bewusst ist, zu distanzieren. Aber dem steht die Eigenheit des pathischen Bewusstseins entgegen, sich aufzudrängen. Dennoch gibt es Erfahrungen im pathischen Wachsein, die zu einer solchen Distanzierung hinführen. Dazu gehört die schon im pathischen Wachsein mögliche Erfahrung, dass etwas, das bewusst 273 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

ist, auch nicht bewusst sein kann. Ein Schmerz z. B. kommt, vergeht und kommt wieder. Daran knüpfen sich pathisch die entsprechenden Urteile: »ich habe Schmerzen«, »ich habe keine«, »ich könnte wieder welche haben« usw. Dabei kommt es zur Erfüllung oder Enttäuschung von Erwartungen. Die Enttäuschung des Urteils »der Schmerz ist« führt zum negativen Urteil »der Schmerz ist nicht«, umgekehrt wird aus der Enttäuschung dieses Urteils das positive »der Schmerz ist«. Das setzt natürlich pathisches gedankenartiges Wachsein voraus, wie auch, dass uns solche Urteile faktisch einfallen, was nahe liegt. Aber bedeutet das, wir bemerken, dass das, was uns bewusst ist, auch nicht bewusst sein kann? Das ist kaum anzunehmen, denn das pathisch wache Bewusstsein erfährt immer nur, was jeweils faktisch der Fall ist, also dass ich Schmerzen habe oder gehabt habe oder jetzt keine habe oder keine gehabt habe. Es kann das jeweilige Bewussthaben nicht als eine Möglichkeit erfahren, die auch nicht sein könnte, und anderes an seiner Stelle bewusst wäre. Und selbst wenn wir ihm das zugestehen, ist es eine pathische Möglichkeit, nämlich etwas, das geschehen oder nicht geschehen kann, nicht eine Möglichkeit, für oder gegen die ich mich entscheide. Dennoch fragt sich, ob es nicht so etwas wie ein pathisches Stellungnehmen zu unserem bewussten Erleben gibt. Schmerzen liefern wieder ein gutes Beispiel. Haben wir sie, wären wir sie gerne wieder los. Nicht anders bei stark sich aufdrängenden Vorstellungen (z. B. einer Ohrwurmmelodie) oder bei Zwangsgedanken. Da kommt es zu keiner Entscheidung und keinem mentalen Wollen, stattdessen tauchen Wünsche auf, nicht nur solche, etwas möge nicht bewusst sein, sondern auch solche, etwas bewusst zu haben; gibt es doch auch Erlebnisse, die wir aus Neigung bevorzugen. Man kann in solchen Fällen natürlich nicht von einem echten Stellungnehmen sprechen, denn nicht ich nehme Stellung, sondern einmal mehr etwas, das von selbst auftaucht, nämlich Wünsche oder Neigungen, die sich durchsetzen. Schließlich kann auch die Alternative, etwas bewusst oder nicht bewusst zu haben, von selbst zur Entscheidung kommen, ohne jeden Beitrag unsererseits. So etwas kann sich ergeben, wenn zwei Erlebnisse gewissermaßen um das Bewusstwerden streiten, z. B. wenn wir zwischen Tagträumen oder Träumen und Wahrnehmen schwanken und sich eines gegen das andere durchsetzt. Natürlich ist auch das kein Stellungnehmen, dennoch darf man annehmen, solche Wechsel und solches Hin und Her im Bewussthaben lockerten die Bindung an das, was jeweils bewusst ist, und trieben das Bewusstsein hervor, dass 274 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Mentales Wollen

das, was mir gerade bewusst ist, auch nicht bewusst sein könne, und anderes an seiner Stelle bewusst wäre, so dass auch hier, ähnlich wie beim Fürwahrhalten, ein Bewusstsein von Möglichkeiten des Bewussthabens entsteht. Aber auch das sind nicht Möglichkeiten des Entscheidens, sondern solche darüber, was geschehen könnte. Wir kommen damit zum Resultat: Das pathisch wache Bewusstsein bringt es bestenfalls zu einem Bewusstsein von Möglichkeiten, nämlich von solchen, bei denen etwas für wahr oder falsch, für bewusst oder nicht bewusst gehalten wird, aber das sind nicht Möglichkeiten, zwischen denen zu entscheiden wäre, sondern solche, bei denen die Entscheidung von selbst geschieht. Das nur pathisch wache Bewusstsein lässt sich dadurch kaum beirren, es dämmert weiter vor sich hin und fühlt sich von dem getragen, was ihm geschieht. Es scheint, darüber ist nur hinauszukommen, wenn es etwas gibt, das zum Entscheiden drängt. Doch woher sollte ein solcher Drang kommen? Sind wir pathisch wach, streben wir danach, nicht betroffen zu werden. Aber dies kann nicht das Endziel dieses Strebens sein, denn das wäre auch erreicht, wenn wir in Bewusstlosigkeit versinken würden, was eher das Gegenteil eines Aufwachens wäre. Wir dürfen vermuten, das eigentliche Ziel bestehe eher in einem Bewussthaben, das nicht auf Betroffenheit beruht. Was unter einem solchen nicht-pathischen Bewusstsein zu verstehen sei, bleibt einsteilen unklar. Was kann es bedeuten, nach nicht-pathischem Bewusstsein zu streben? Sind wir pathisch wach, kommen wir zu keinem deutlichen Bewusstsein dieses Ziels, es liegt implizit im Streben, explizit zeigt es sich erst in der Befriedigung. Das soll uns nicht hindern zu fragen, was damit explizit gemeint sein könne und insbesondere, ob sich seine negative Charakterisierung positiv fassen lässt. Das Ergebnis wird bestätigt, wenn es das Streben nach nicht-pathischem Bewusstsein befriedigt. Wie kann etwas nicht-pathisch bewusst sein? Im pathischen Wachsein kann etwas nur bewusst werden durch Betroffenheit, etwas anderes ist in ihm bestenfalls in einem negativen Sinn dunkel zu erahnen. Ich, der ich jetzt aktiv wach bin, kann sagen, etwas sei dann nicht-pathisch bewusst, wenn es zugleich von mir erstrebt ist, denn das, wonach ich strebe, kann ich nicht erleiden. Ein nur pathisch waches Subjekt kann das nicht einsehen. Es weiß nichts davon, dass es etwas wollen kann. Es fühlt, dass es nach etwas strebt, aber es weiß nicht, dass dieses Streben nach einem Bewusstseinsleben tendiert, das auf Entscheiden und Wollen beruht. 275 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

Sind wir aktiv wach, können wir uns ein nicht-pathisch bewusstes Erleben als eines denken, das wir bewusst haben wollen. Selbst wenn das, was wir da wollen, durch Betroffenheit bewusst sein sollte, so dass wir erleiden, was bewusst ist, ist es doch ein Erleiden, das wir gewollt haben. Nicht-pathisch bewusst ist damit das, was wir bewusst haben wollen, mithin das, für dessen Bewusstsein wir uns entschieden haben. Wollen wir etwas bewusst haben und können wir es, dann befriedigt dies unser Streben nach nicht-pathischem Bewussthaben. Das bestätigt nicht nur, dass das nicht-pathisch bewusst ist, was wir bewusst haben wollen, es zeigt auch, dass das Ziel dieses Strebens nicht bloß darin besteht, nicht betroffen zu werden, sondern darin, etwas bewusst zu haben, weil wir es bewusst haben wollen. Streben wir danach, nicht betroffen zu werden, streben wir nach nicht-pathischem Bewusstsein, und damit drängt es uns implizit zu entscheiden, was bewusst sein soll. Dieser Drang hat nichts Zwanghaftes, weil das Streben nach nicht-pathischem Bewusstsein sich von allen anderen Strebungen dadurch unterscheidet, dass es von mir ausgeht, so dass ich es bin, der strebt. 394 Der Zwang, wenn man dieses Wort gebrauchen will, ist ein Selbstzwang. Auf diese Weise entkommen wir dem Dilemma, ein Wollen müsse entweder wieder gewollt oder pathisch sein. Neigt man zum Ersten, so gerät man in einen unendlichen Regress, beim Zweiten wird das Wollen zu etwas, das uns betrifft, das über uns kommt, wie ein Affekt, statt etwas zu sein, als dessen Urheber wir uns fühlen, wie es dem Phänomen entspricht. Das ursprüngliche mentale Wollen kann nicht etwas sein, das ich will, aber auch nicht etwas, das ohne mein Zutun geschieht. Es muss durch mich sein, aber ohne dass ich mich dafür entschieden habe. Dass ein Bewusstsein, das nicht auf Betroffenheit, sondern auf Entscheidung und Wollen beruht, das eigentliche Ziel des Widerstrebens gegen Widerfahrnisse ausmacht, zeigt sich daran, dass es dieses Streben befriedigt. Dies tritt überall hervor, wo ein mentales Wollen oder überhaupt ein Wollen am Werk ist. Gewöhnlich sind wir befriedigt, wenn das Wollen sein Ziel erreicht. Aber darüber sollte nicht übersehen werden, dass es nicht nur eine Befriedigung des Wollens gibt, sondern dass das Wollen selbst ein Streben nach ihm befriedigt. Entscheiden und Wollen sind selbst schon von Gefühlen der Befriedigung begleitet. Sie beflügeln und tragen uns, daher wohl das Deprimierende, wenn wir kein Wollen zustande bringen. 394

Siehe oben Kap. II, 6 Pathisches Wachsein als Selbstbeziehung.

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Mentales Wollen

Das sind natürlich wieder unsere wachen Überlegungen und nicht die eines bloß pathisch wachen Bewusstseins. Dieses weiß nichts von Möglichkeiten der Entscheidung, nichts von einem Spielraum des Entscheidens und von diesem selbst. Einen Drang zum Entscheiden dürfen wir ihm nicht zuschreiben, nur einen, nicht betroffen zu werden, den es in der Angst, betroffen zu werden, fühlt. Haben wir das zugestanden, müssen wir auch bereit sein anzunehmen, dass es um das Ziel dieses Strebens weiß, jedenfalls soweit, als es nicht betroffen werden möchte, mit der Konsequenz, dass nicht betroffen zu werden heißt, nicht bewusst zu sein. Die für das Aufwachen entscheidende Erfahrung besteht darin, dass dieses Streben wenigstens in Einzelfällen zur Befriedigung kommt. Das pathische Bewusstsein erfährt dabei, dass das, von dem es nicht betroffen werden möchte, tatsächlich aus dem Bewusstsein schwindet. Aber, so wird man gleich einwenden, das reicht nicht, denn man kann jedes faktische Verschwinden aus dem Bewusstsein als eine Befriedigung des Widerstrebens deuten, ohne dass wir deswegen aufwachen. Wir merken bloß, dass nun nicht mehr bewusst ist, was es zuvor noch war, ohne dies in einen Zusammenhang mit dem Widerstreben zu bringen. Eben das müsste der Fall sein, wenn das pathische Bewusstsein sich als aktiv erfahren soll: Das pathisch wache Bewusstsein muss das Widerstreben als das erfahren, das bewirkt, dass etwas, das bewusst ist, es nicht mehr ist. Aber wie soll das möglich sein? Solange das Widerstreben in der Furcht vor Betroffenheit gefühlt wird, ist jede Erfüllung dieser Furcht Frustration und damit Betroffenheit, in der bewusst wird, was uns betrifft. Anders sieht es aus, wenn Hoffnung aufkommt, das, was uns widerfährt, werde uns wahrscheinlich nicht mehr betreffen und nicht mehr bewusst sein. Schwindet es in der Folge aus dem Bewusstsein, erfüllt sich diese Hoffnung, und in diesem Erfüllungsbewusstsein kann dieses Schwinden als eine Folge meines Widerstrebens erscheinen. Die Befriedigung, die ich dabei erlebe, fühlt sich dann wie ein Bemächtigen an: Ich fühle mich als Urheber dieses Geschehens. Macht das pathisch wache Subjekt diese Erfahrung, so erscheint anderes, das noch pathisch bewusst ist, als ein zu Verschwindendes, als eines, das auch nicht bewusst sein kann, und damit als eines, dessen Bewussthaben negiert werden kann, ohne aus dem Bewusstsein zu schwinden. Damit ist es als ein Mögliches bewusst, über dessen Sein oder Nichtsein zu entscheiden ist, denn wenn ich verneinen kann, kann ich auch bejahen. Ist erst einmal ein Bewusstsein davon entstanden, dass das, was bewusst ist, auch nicht bewusst sein 277 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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kann, eröffnet sich ein Spielraum der Wahl und Entscheidung, wenigstens des Bejahens und Verneinens. Ist die Entscheidung gefallen, wird sie zur Absicht eines Wollens und ich strebe danach, das Bewusste weiterhin bewusst oder nicht bewusst zu haben. Das weitere Bewussthaben beruht dann auf Entscheidung, nicht mehr nur auf Betroffenheit, und dies selbst dann, wenn ich mich entschieden habe, etwas pathisch Bewusstes zuzulassen. Ein solches Stellungnehmen ist ein erstes praktisches Entscheiden. Es ist praktisch, weil es sich darum handelt, ob etwas sein oder nicht sein soll, auch wenn das Sein, um das es geht, im Bewusstsein besteht. 395 Das Umschlagen der Angst, betroffen zu werden, in Hoffnung, nicht betroffen zu werden, erscheint nun als die entscheidende Bedingung für das Entstehen mentalen Wollens und für das Aufwachen im prägnanten Sinn. Aber woher kommt diese Hoffnung? Was lässt die Angst vor Betroffenheit in Hoffnung auf einen Zustand ohne Betroffenheit umschlagen? Denken wir an die Gefühlstheorie von Brentano und Meinong, muss dies aus einer Veränderung des impliziten Urteilens verständlich werden. Urteilen wir, das Ziel, nicht betroffen zu werden, werde wahrscheinlich erreicht, kehrt sich das Urteil ins Positive, das Ziel gilt nun als wahrscheinlich erreichbar. Was kann diese Veränderung bewirken? Das pathische Subjekt muss die Erfahrung machen, dass die Angst, betroffen zu werden, nicht erfüllt wird, und das womöglich wiederholtermaßen. Das lässt Hoffnung aufkommen, das Streben, nicht von Widerfahrnissen betroffen zu werden, könne befriedigt werden. Die Hoffnung, nicht betroffen zu werden, schließt die Hoffnung ein, etwas, das bewusst ist, möge nicht bewusst sein, und diese Negativität schafft die Distanz zwischen mir und dem, was mir bewusst ist, ohne die ein Entscheiden über das Bewussthaben nicht möglich wäre. Natürlich stellt sich jetzt die Frage, wie das pathisch wache Subjekt die Erfahrung machen könne, die Angst betroffen zu werden, bleibe unerfüllt. Das dürfte mit dem Abnehmen der Intensität des Betroffenseins zusammenhängen, dem ein zunehmendes Widerstreben entspricht. Es ist nicht einfach, auch nur wenig Licht in das Dunkel dieses Übergangs zu bringen. Dabei dürfte es sich als hilfreich erweisen, jedes Übergehen vom pathischen ins aktive Bewusstsein als ein Aufwachen anzusehen, nicht nur, wenn wir vom Träumen 395 Weiteres zum Übergang vom pathischen zum aktiven Wachsein siehe unten S. 482.

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oder Tagträumen zum aufmerksamen Wahrnehmen kommen, sondern auch, wenn wir vom pathischen ins aktive Wahrnehmen übergehen. Im pathischen Wahrnehmen überlassen wir uns gänzlich dem, was immer geschieht. Wir halten unsere Eigeninitiative nicht zurück, es gibt gar keine. Dies oder jenes lockt und dem folgt unsere Aufmerksamkeit. Was immer geschehen mag, wir sind ihm ganz und gar hingegeben, ähnlich einem Traum, nur fühlen wir uns nicht davon durchdrungen, gehen aber voll darin auf. Solche Episoden hingegebenen Wahrnehmens mögen bei Erwachsenen eher eine Ausnahme bilden, bei kleineren Kindern kann man sie häufiger beobachten. Was geschieht, wenn die Intensität des Betroffenseins nachlässt? Dann gerät der Fluss des Geschehens ins Stocken. Etwas lockt vielleicht noch, hat aber nicht mehr die Kraft, mich anzuziehen, ich gehe nicht wie traumwandlerisch darauf zu und schaue es mir an. Anderes mag gleichfalls locken, aber nicht so sehr, dass ich ihm nachgehe. Es bleibt als unerfülltes Locken und damit als Fragliches stehen und ist zu kraftlos, als dass sich ein Weg zu einer Antwort abzeichnen könnte. Als fraglich erscheint auch das Lockende im funktionierenden pathischen Wahrnehmen, aber da werde ich von einem angelockt und wende mich ihm wahrnehmend zu, dann werde ich davon weggelockt zu anderem hin, dem ich mich nun gleichfalls hingebe. Die Fraglichkeit in diesem Sinne geht vom Betroffensein aus und bestimmt das weitere Geschehen. Das fällt mit dem Rückgang des Betroffenseins weg. Der Lauf des Wahrnehmens, der mich wie selbstverständlich von einem zum anderen führt, stockt und macht orientierungslos. Ich bin nicht mehr in das Geschehen involviert, sondern werde von ihm ausgestoßen und auf mich zurückgeworfen, was wiederum Distanz schafft. Nimmt die Intensität des Lockens ab, bleibt die Furcht, betroffen zu werden, immer wieder unerfüllt. Das lässt hoffen, nicht mehr betroffen zu werden. Damit erscheint das, was noch lockt, als etwas, dem ich mich zuwenden oder nicht zuwenden kann. Die Lockungen sind nun nicht mehr nur Möglichkeiten pathischer Zuwendung, so dass ich ihnen nachgeben muss, sondern Möglichkeiten, zwischen denen zu entscheiden ist. Als solche wecken sie das Streben, entscheiden zu können, und treiben es hervor, indem sie Entscheidung fordern. 396 Dieses Streben ist nicht neu, es ist implizit schon im Wider396 Genaueres zur Frage, wie eine Situation entstehen kann, die eine Entscheidung fordert, findet sich unten S. 497.

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streben gegen Widerfahrnisse enthalten, dessen Ziel darin besteht, nicht betroffen zu werden. Nun tritt hervor, dass dies nur ein Mittel ist für ein nicht-pathisches Bewussthaben, und dieses, so hat sich herausgestellt, ist eines, das auf Entscheidung beruht. Wir wachen nicht erst auf, wenn wir entscheiden können. Wir müssen diesen Wendepunkt schon vorher durchlaufen haben, denn wir müssen in einer Weise wach sein, die es uns ermöglicht, entscheiden zu können. Das Aufwachen beginnt nicht mit dem Entscheiden, sondern schon mit der Hoffnung, nicht betroffen zu werden. Diese kommt auf, wenn die Angst, betroffen zu werden, wiederholt nicht erfüllt wird. Erfüllt sich diese Hoffnung, indem Bewusstes aus dem Bewusstsein schwindet, so erscheint dies als Folge unseres Widerstrebens, während das übrig gebliebene Bewusste durch diese Erfahrung des Verschwindenkönnens als etwas bewusst ist, das auch nicht bewusst sein kann, und damit als ein Mögliches. Erst damit gibt es einem Spielraum von Möglichkeiten des Bewussthabens, in dem ich entscheiden kann, was mir bewusst sein soll. Nehme ich wahr, erscheint im Licht des Hoffens auf Entscheidung das, was lockt, nicht mehr als etwas, das meine Zuwendung gleichsam magisch auf sich zieht und mich betrifft, sondern als etwas, dem ich mich zuwenden oder nicht zuwenden kann; und die Zuwendung ist nicht länger eine Möglichkeit, die geschehen oder nicht geschehen kann, sondern eine, für die oder gegen die ich mich entscheide. Bin ich so weit aufgewacht, kann ich zu dem, was mir pathisch bewusst ist, Stellung nehmen. Denn dann erscheint es als etwas, das verschwindet, wenn ich nur intensiv genug danach strebe, nicht betroffen zu werden. Ob etwas pathisch bewusst ist oder nicht, hängt damit von meiner Entscheidung ab, ob ich es bewusst oder nicht bewusst haben will. Dies ist kein theoretisches, sondern ein praktisches Entscheiden, weil es nicht darum geht, ob etwas wahr oder falsch ist, sondern darum, etwas bewusst oder nicht bewusst zu haben. Stellung nehmen zu dem, was mir pathisch bewusst ist, ist das Erste, worüber ich entscheiden kann; alles übrige Wollen setzt voraus, dass ich entscheiden kann, und das kann ich erst, wenn ich entsprechend aufgewacht bin. Ein Stellungnehmen ist erst möglich, wenn die Betroffenheit soweit nachgelassen hat, dass der Fluss des Geschehens stockt, und das noch pathisch Bewusste Entscheidung fordert, ob ich es bewusst oder nicht bewusst haben will. Sind wir aufgewacht und können entscheiden, was wir bewusst haben wollen, können wir auch anderes wollen. Dann können wir auch darüber entscheiden, was wir 280 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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tun wollen, wie auch darüber, was wahr oder falsch ist. Solche Entscheidungen setzen voraus, dass wir entscheiden können. Aber erst wenn wir entscheiden können, was wir bewusst haben wollen, können wir auch anderes entscheiden. Mentales Wollen ist ursprünglicher als alles andere Wollen, insbesondere als das von Handlungen und Akten des Herstellens, und damit grundlegend für alles übrige Wollen. Denn erst wenn wir etwas bewusst haben wollen können, können wir auch anderes wollen. Es ist genetisch früher, weil das Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung uns dazu motiviert zu entscheiden, was bewusst sein soll, und diese Entscheidung die einzige ist, die dadurch motiviert wird. Andere Entscheidungen mögen durch anderes motiviert sein, aber diese Motivationen greifen erst, wenn ich entscheiden kann, also in einem aktiven Sinn wach bin. Nur das Streben nach nicht-pathischem Bewusstsein drängt zu einem Entscheiden, auch dann, wenn ich noch nicht aktiv wach bin. Sind wir nur pathisch wach, können wir überhaupt nicht wollen, und was wir als erstes wollen können, ist ein Stellungnehmen zu dem, was uns pathisch bewusst ist. Dann können wir dieses bewusst oder nicht bewusst haben wollen, und erst wenn wir das wollen können, können wir auch anderes wollen. Was hier entsteht, oder schon entstanden ist, kann es im pathischen Wachsein nicht geben, wenn auch manches in ihm dafür vorbereitet sein muss. Entscheidungen gibt es auch, wenn wir pathisch wach sind, aber da sind sie etwas, das uns geschieht: Es entscheidet sich, wie etwas ist. 397 Neu ist, dass ich entscheide, überhaupt, dass ich nicht als Erleidender, sondern als Initiator von etwas auftrete. Darin besteht das Aufwachen im prägnanten Sinn. Damit entsteht eine grundlegend neue Weise, wach zu sein, in der ich fühle, dass ich nicht mehr nur nach nicht-pathischem Bewusstsein strebe, sondern nach Entscheidung. Mit der Erfahrung, entscheiden zu können, erfahre ich, dass dieses Streben eines nach Bewusstsein durch Entscheidung ist und damit nach solchem, das ich bewusst haben will. Dieses Aufwachen ist kein vollständiger Bruch, ich bin weiterhin pathisch wach, aber nicht nur. Ich bin auch aktiv wach, ich entscheide und will. Damit tritt eine Fähigkeit auf, die sich von allen bisherigen dadurch unterscheidet, nicht pathisch zu sein. Es ist keine Fähigkeit des Erleidens, sondern eine des Entscheidens, auch wenn es zunächst nur darum geht zu entscheiden, ob etwas pathisch Bewusstes bewusst 397

Siehe oben S. 168.

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oder nicht bewusst sein soll. Die Kontinuität zwischen beiden Weisen des Wachseins ist durch das Streben gegeben, in dessen Urteilsgefühlen ich mich wach fühle. Pathisch wach bin ich im Fühlen des Strebens, nicht betroffen zu werden, aktiv wach im Fühlen des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung. Die Kontinuität zwischen beiden erfahren wir im Aufwachen. Vollständige Befriedigung des Strebens, nicht betroffen zu werden, ist nicht zu haben, weil ein Bewusstsein, das nicht auf Betroffenheit beruht, im pathischen Wachsein gar nicht in den Blick kommt. Dass das Ziel dieses Strebens in einem Bewussthaben besteht, das aus einer Entscheidung hervorgegangen ist, zeigt sich erst, wenn erste Entscheidungen zustande gekommen sind und sie dieses Streben befriedigen. Geschieht dies, so geschieht es durch mich, denn ich bin es, der widerstrebt, und ich bin es, der weiter nach solchem strebt, das nicht durch Erleiden bewusst ist, und ich bin es auch, der entscheidet und will. Jede Befriedigung des Strebens nach nicht-pathischem Bewusstsein ist nur durch mich möglich. Aber diese Befriedigung bleibt immer mehr oder weniger partikulär, schon darum, weil das aktive auf dem pathischen Bewusstsein aufbaut. Dennoch blitzt dieses Gefühl des »Es ist durch mich« bei jeder Entscheidung wenigstens für Momente als ein Gefühl eigenen Könnens auf. 398 Wenn wir mental wollen, wollen wir, dass etwas bewusst sei, handeln wir, geht es darum, etwas in der Welt unserer Absicht gemäß zu verändern. Willentlich etwas bewusst zu haben, dient gewöhnlich als Mittel für anderes, was wir wollen. Wir wollen etwas tun und darum wollen wir etwas genauer ansehen, vergegenwärtigen oder beurteilen. Auch unser Handeln ist nicht immer gewollt. Es kann unabsichtlich oder erzwungen sein, dann ist es nicht etwas, das wir selber tun, sondern etwas, das mit uns geschieht. Und auch hier gilt: Gewollt ist ein Tun dann, wenn wir uns dafür bewusst entschieden haben. Alles andere ist ein Geschehen, sei es durch Zufall oder Zwang. Ein solcher Zwang muss nicht von anderen Personen ausgehen, er kann auch von »innen« her angreifen als Triebimpuls, Sucht u. ä. Verstehen wir eine Handlung als ein Tun, das gewollt ist, und damit aus einer Entscheidung hervorgeht, so muss uns das mentale Wollen als grundlegend für das Handeln gelten. Damit wir etwas 398 Weiteres zu dieser Thematik im Kapitel III, 9 Aktives Wachsein, Selbstbewusstsein und Freiheit.

282 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Mentales Wollen

wollen können, müssen wir entscheiden können, was wir wollen, und dahin bringt uns allein das Streben nach nicht-pathischem Bewusstsein, zusammen mit dem Nachlassen des Betroffenseins und der Erfahrung der Befriedigung unseres Widerstrebens, die das Bewussthaben des noch Bewussten fraglich werden lässt, so dass es uns dazu drängt zu entscheiden, ob wir es bewusst haben wollen oder nicht. Viele Situationen drängen uns zu entscheiden, aber das merken wir erst, wenn wir entscheiden können und aktiv wach sind. Sind wir lediglich pathisch wach, kann ein solcher Drang nach Entscheidung nur entstehen, wenn Hoffnung aufkommt, nicht von Widerfahrnissen betroffen zu werden, so dass das, was uns noch betrifft, als etwas erscheint, das nicht sein soll und zu verneinen ist. Keine andere Situation vermag in gleicher Weise zum Entscheiden drängen. Vielleicht mag man versucht sein, das Entscheiden auf einen Überlebensvorteil zurückzuführen oder vorbringen, wir lernten es im Laufe unserer Sozialisation. Doch wenn es um die philosophische Frage geht, wie wir überhaupt dazu kommen, entscheiden zu können, führen Fragen der Evolution und Sozialisation nicht weit, da man die Frage nur zurück in einen unerforschlichen Urzustand verschiebt. Schließlich könnte man sich bemühen, die Moral als Argument aufzubieten: Gäbe es keine absichtliche Entscheidung, gäbe es keine Verantwortung für das, was man tut, und jeder könnte tun, was ihm passt. Es gäbe keine Moral. Moral setzt voraus, dass man entscheiden kann und entscheiden will, aber sie kann dies nicht bei dem herbeizwingen, der diese Voraussetzungen nicht erfüllt. 399 Auch das Recht bringt uns nicht dazu. Es zwingt, rechtmäßig zu handeln, d. h. es zwingt, uns für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, setzt aber gleichfalls voraus, dass wir entscheiden können. Ähnlich das epistemische Entscheiden: Selbst wenn wir pathischen Gedanken, die fraglich sind, einen Drang zur Entscheidung zuschreiben, ist das ihr Drang, die Sache möge sich von selbst, mithin pathisch entscheiden. Es ist nicht unser Drang. Es scheint nur eine Situation zu geben, in der wir uns entscheiden müssen, und das ist die des Aufwachens. Ohne Entscheidung kommen wir nicht aus dem pathischen Erleben heraus. Das Streben nach nicht-pathischem Bewusstsein ist nur zu befriedigen, wenn wir uns für das entscheiden, was bewusst sein soll. Zwar steht die Flucht ins Pathische immer offen, aber nur um den Preis des Einschlafens 399

Vgl. Kurt Bayertz: Warum überhaupt moralisch sein? München 2006.

283 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

oder der Betäubung. Der Zwang zur Entscheidung ist auch hier nicht unbedingt, die Entscheidung kann ausbleiben, aber dann bleibt auch die Befriedigung aus und mit ihr das Erwachen. In der Situation des Aufwachens, in der wir zur Entscheidung gedrängt werden und zu ihr fähig sind, gründet auch jene Eigenheit, die als charakteristisch für aktives Wachsein gelten muss: die Fraglichkeit. Zwar hat auch das pathische Wachsein seine Fraglichkeiten, wie sie ihm etwa aus widerstreitenden Wahrnehmungsauffassungen zuwachsen, doch dieses Fraglichsein drängt uns nicht zur Entscheidung; es liegt in solchen Fällen nicht an uns, sondern am pathischen Wahrnehmen, die Fraglichkeiten zur Entscheidung zu bringen. Mit der Fähigkeit, entscheiden zu können, entsteht eine neue Art von Fraglichkeit, die uns dazu drängt, nach Antworten zu suchen und zu entscheiden. Was faktisch bewusst ist, muss nicht mehr als Faktum hingenommen werden. Wenn das Bewussthaben in diesem Sinne fraglich wird, erscheint das, was bewusst ist, nicht nur als etwas, das auch nicht bewusst sein könnte, sondern als eines, für dessen Bewussthaben oder nicht Bewussthaben wir uns entscheiden können. Mit dem aktiven Wachsein öffnet sich ein Spielraum der Entscheidung und damit des Fragens und Antwortens. Die Fraglichkeit hinsichtlich des Bewusst- oder Nichtbewussthabens zieht die ganz andere, nicht weniger bedeutsame Fraglichkeit nach sich: die epistemische. Sind Gedanken nicht mehr pathisch bewusst, kann ihre Wahrheit nicht länger in einem Zwang zum Fürwahrhalten bestehen. Indem das Bewussthaben fraglich wird, wird auch die Weise, wie mich etwas ergreift, lockt, sich aufdrängt oder ein Fürwahrhalten erzwingt, gleichfalls fraglich und damit auch die Wahrheit pathischer Gedanken, die sich als wahr aufdrängen. Das macht eine neue Einstellung zur Wahrheit möglich: Wahrheit beruht nicht mehr wie im pathischen Bewussthaben auf Glaube und Fürwahrhalten, sondern wird zu etwas, das uns aufgegeben ist, nach dem wir suchen und das wir durch Einsicht in Gründe zur Entscheidung bringen wollen. Erst im Bewusstsein, etwas könne auch anders sein, kann ein Interesse daran entstehen, zu wissen, wie etwas in Wahrheit ist. Alles in Frage zu stellen, wissen zu wollen, was es mit den Dingen und Ereignissen, den Beziehungen der Menschen untereinander und den gesellschaftlichen Verhältnissen auf sich hat, gilt als charakteristisch für aktives Wachsein. Von daher gesehen erscheint der Übergang in dieses geradezu als einer von einem faktischen Bewussthaben von (angeblich) Faktischem zu einem fraglichen Bewussthaben von Fraglichem. 284 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Mentales Wollen

Natürlich beschränkt sich das aktive Wachsein nicht darauf, angebliche Wahrheiten in Frage zu stellen, es verlangt nach Antworten und den dazu erforderlichen Bewusstseinsakten. Nehme ich Stellung zu dem, was mir bewusst ist, und entscheide mich, ob ich es bewusst haben will oder nicht, entsteht die Absicht meines Wollens. Sie ist ein erstes nicht-pathisches Bewusstes, weil sie durch meine Entscheidung ist und ohne sie nicht wäre. Will ich etwas bewusst haben, so weiß ich, was ich will. Wird dagegen etwas pathisch bewusst, so weiß ich erst hinterher, nachdem es bewusst geworden ist, was es ist. Will ich etwas bewusst haben, muss ich schon vor dem Bewusstwerden wissen, was ich bewusst haben will, sonst könnte ich nicht wollen. Das heißt natürlich nicht, dass ich es in gleicher Weise wissen muss, wie ich es weiß, wenn es bewusst geworden ist. Will ich mich an etwas erinnern, so habe ich dieses nicht so bewusst, wie wenn es erinnert ist, sonst müsste ich mich schon vor dem Erinnern daran erinnert haben. Die Absichten des mentalen Wollens sind Gedanken: Ich will, dass das und das bewusst sei. Sie gehen meist von epistemischen Fragen aus. Ich will etwas aufmerksam beobachten, weil ich wissen will, was da geschieht. Ich will mich erinnern, weil ich wissen will, was damals war. Das explizite Wollen von Mentalem setzt pathische Erfahrungen davon voraus, wie es ist, auf etwas aufmerksam zu sein, mich zu erinnern, zu phantasieren, zu sprechen usw. Solche, vielleicht noch vage Gedanken über derartige pathischen Erfahrungen führen zu Entscheidungen, die ich zu Absichten meines Wollens mache. Bewusst wird etwas allerdings nicht schon dadurch, dass ich es bewusst haben will, dazu ist einiges mehr erforderlich, nämlich Akte des Erinnerns, Phantasierens, der Aufmerksamkeit, des Urteilens, Sprechens usw. Diese sind Mittel für das, was ich will, aber man wird zugeben müssen, es sind weitgehend undurchschaute Mittel. In weiten Bereichen, in denen wir uns mental aktiv fühlen, geht es geradezu »magisch« zu. Wir wollen uns etwas hintergründig Bewusstem zuwenden – und dann geschieht es, ohne dass wir detailliert angeben könnten, wie wir das gemacht haben (falls man hier zu Recht von »machen« sprechen kann). Noch undurchsichtiger ist das beim Erinnern: Ich will mich an etwas erinnern, es fällt mir das und jenes ein, und dann kommt schließlich, was ich wollte, ohne dass ich die Frage »Wie hast du das gemacht?« beantworten könnte. Die Akte, durch die bewusst wird, was wir wollen, sind als Mittel wiederum gewollt, aber ihr Vollzug verläuft in vielen Fällen weitgehend von selbst, auch wenn er den Bahnen der Absicht folgt. Es ist mehr ein Geschehen, 285 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

das wir zulassen, weil wir uns dafür entschieden haben, als eine Tätigkeit, die wir in allen Einzelheiten absichtlich vollziehen. Es scheint, wir müssen den Ausdruck »mentale Aktivität« in einem weiten Sinn verstehen. Das Mindeste, was gegeben sein muss, um von Aktivität sprechen zu können, ist das Entscheiden, Mentales zuzulassen, das dann von selbst erscheint. Dabei sind wir von der Absicht getragen, etwas Bestimmtes bewusst werden zu lassen, das geschieht. Aber es ist ein Geschehen, das sich von pathischem Geschehen dadurch unterscheidet, dass das, was bewusst wird, das ist, was wir bewusst haben wollen. Es frustriert nicht unser Widerstreben, sondern befriedigt unser Wollen, obschon es nicht durch eine Tätigkeit, sondern ein Geschehen bewusst wurde. 400 Wir sind dabei nicht pathisch wach, denn wir entscheiden und wollen, aber wir bringen, was wir wollen, nicht immer tätig zur Erscheinung. Das erfordert weitere Differenzierungen hinsichtlich des Begriffs der mentalen Aktivität. Wir sind nicht nur mental aktiv, wenn unser Wollen die Tätigkeiten motiviert, die notwendig sind, damit das bewusst wird, was wir bewusst haben wollen, wir sind es schon, wenn das Gewollte von selbst erscheint. Weiß ich, was ich tun muss, um das bewusst zu haben, was ich bewusst haben will, so kann ich dieses Tun in einzelne Akte zerlegen, die ich vollziehen will. Daraus ergibt sich ein starker Begriff von Aktivität, dem gemäß das, was wir wollen, Schritt für Schritt von uns gewollt ist. Aber das bleibt auf weniges beschränkt. Regelfolgendes Denken ist vielleicht das eindrücklichste Beispiel. Nicht selten müssen wir uns damit begnügen, dass das, was wir bewusst haben wollen, von selbst bewusst wird. Das Wollen nimmt dann mehr den Charakter eines Wünschens an und ist nur insoweit ein Wollen, als wir Bestimmtes bewusst werden lassen und anderes davon abhalten, bewusst zu werden. Immerhin erlaubt uns das, wenn auch in beschränktem Maß, Herr (oder Frau) im eigenen Haus zu sein. Haben wir erst einmal die Fähigkeit zur Entscheidung gewonnen und ist diese habituell gefestigt, so wird auch das Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung zu einer Möglichkeit, für oder gegen die man sich entscheiden kann. Man will Bewusstsein durch Entscheidung, oder man will es nicht und hängt lieber dem nach, was sich von selbst einstellt. Die Entscheidung, ein willentliches bewusstes 400 Siehe unten Kap. III, 10 Die Phänomene der Passivität in der Aktivität und die Modi des aktiven Wachseins.

286 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Mentales Wollen

Leben führen zu wollen, ist dann grundlegend für jedes bestimmte mentale Wollen. Ich will je Bestimmtes bewusst haben, weil ich über das, was mir bewusst ist und bewusst wird, entscheiden will.

3.3

Bewusstseinsweisen und Aspekte beim mentalen Wollen

Die Absichten unseres Wollens sind Gedanken (Propositionen), denn wir wollen immer, dass etwas der Fall sei, und was der Fall oder nicht der Fall sein, also wahr oder falsch sein kann, ist ein Gedanke. 401 Dies gilt sowohl für unser Handeln, wenn wir tätig etwas in der Welt verändern wollen, wie auch für unser mentales Wollen, wenn wir verändernd in unser Bewusstseinsleben eingreifen, etwas erinnern, phantasieren oder über etwas nachdenken wollen. Allerdings ist die Einteilung des Wollens in mentales und nicht-mentales nicht unproblematisch. Sie orientiert sich am eigenen Erleben und Handeln und berücksichtigt nicht, dass dieses das Erleben und Handeln anderer beeinflusst, so dass auch das Handeln in der Welt mentale Wirkungen haben kann. Jede Form der Kommunikation übergreift »mein« Bewusstseinsleben und macht deutlich, wie unklar der Sinn dieses »mein« ist. Hier ist nicht der Ort, auf diese Problematik einzugehen, wir müssen uns mit einer groben und undifferenzierten Unterscheidung begnügen und uns auf einfache, eindeutige Fälle mentalen Wollens beschränken. Absichten sind Gedanken, und in jedem Gedanken wird einem Gegenstand ein Prädikat zu- oder abgesprochen. Ein Gegenstand kann in verschiedener Weise bewusst sein, und die Weise, wie er dies ist, kann wiederum in verschiedenem Sinn gemeint sein. So kann ein und derselbe Gegenstand in dem Sinne unterschiedlich bewusst sein, als er wahrgenommen, erinnert, phantasiert oder gedacht sein kann. Man könnte in diesen Fällen von unterschiedlichen Gegebenheitsweisen eines Gegenstandes sprechen, wenn nicht auch das mehrdeutig wäre, wie sich gleich zeigen wird. Ich möchte in solchen Fällen lieber von unterschiedlichen Bewusstseinsweisen eines Gegenstandes sprechen, weil es sich dabei um unterschiedliches intentionales Bewusstsein handelt. Ein anderer Sinn von »Gegebenheitsweise« liegt vor, wenn wir uns auf den Umstand beziehen, dass ein Gegenstand in jeder dieser Bewusstseinsweisen noch einmal verschieden gegeben 401

Siehe dazu unten S. 350.

287 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

sein kann. Wahrnehmen können wir einen Gegenstand immer nur aus einer bestimmten Perspektive, die wechselt, wenn wir ihn drehen, wenden oder um ihn herumgehen. Was wir dabei jeweils unmittelbar von einem intendierten Gegenstand erfahren, sehen oder ertasten, können wir einen Aspekt des Gegenstandes nennen. Ein Gegenstand kann immer nur in unterschiedlichen Aspekten wahrgenommen werden, wobei jeder Aspekt implizit auf andere Aspekte desselben Gegenstandes verweist. So ist uns ein und derselbe Gegenstand immer nur in einzelnen Aspekten, aber nie in der Gesamtheit seiner Aspekte wahrnehmbar. Das gilt nicht nur vom Wahrnehmen, sondern von allen Weisen anschaulichen Bewusstseins, also auch dann, wenn wir einen Gegenstand erinnern oder phantasieren. Analog dazu kann man von einer »Aspekthaftigkeit des Denkens« 402 sprechen. Einen und denselben Gegenstand können wir in unterschiedlichen Aspekten denken, was wir sprachlich in Kennzeichnungen ausdrücken. Bekannt ist Freges Beispiel von »Morgenstern« und »Abendstern«, die unterschiedliche Aspekte des Planeten Venus bezeichnen. Beide Ausdrücke referieren mit unterschiedlichem Sinn auf denselben Gegenstand. Auf Napoleon können wir uns mit »Sieger von Jena« oder »Verlierer von Waterloo« beziehen. Was wir uns als Gegenstand im Sinne Freges denken 403, denken wir immer unter einer Kennzeichnung, und jede Kennzeichnung ist darum ein Aspekt, weil sie den Gegenstand in einer bestimmten Hinsicht meint. 404 Denke ich eine Absicht, so kann ich das nicht, ohne einen Gegenstand unter einer bestimmten Kennzeichnung zu denken, und beziehe mich damit auf einen bestimmten Aspekt eines Gegenstandes. Z. B. denke ich an den Hut, den der Mann trug, den ich gestern bei der Überfahrt über den Fluss gesehen habe. An diesen Hut will ich mich erinnern, d. h. ich will den unter einem bestimmten Aspekt gedachten Gegenstand in einer anderen Bewusstseinsweise bewusst haben, in der er mir wieder in einem bestimmten Aspekt (von vorne, von der Seite usw.) erscheint. Was ich in der Absicht, etwas erinnern zu wollen, unanschaulich gedacht habe, sehe ich in der Erinnerung quasi noch einmal vor mir. Es gibt auch ein mentales Wollen, bei

402 C.-F. Graumann: Phänomenologie und deskriptive Psychologie des Denkens. In: R. Bergius (Hg.) Allgemeine Psychologie I. Der Aufbau des Erkennens, 2. Halbbd.: Lernen und Denken, Göttingen 1964, S. 499. 403 Siehe unten S. 356. 404 Graumann, a. a. O., S. 499.

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Mentales Wollen

dem ich einen Gegenstand nicht in einer anderen Bewusstseinsweise, sondern in einem anderen Aspekt bewusst haben will, etwa dann, wenn ich ihn aufmerksam bewusst haben oder unter einem anderen Aspekt denken will. Will ich etwas, das nur nebenbei wahrgenommen ist, aufmerksam bewusst haben, so will ich es weiterhin wahrnehmen, aber nun genauer. Dazu muss ich vielleicht näher herangehen oder ihn drehen oder technische Hilfsmittel beiziehen. Auch dann, wenn ich mir etwas denken will, geht es darum, denselben Gegenstand unter einem anderen Aspekt zu denken. Will ich denken, wie viel 2x2 gibt, so denke ich denselben Gegenstand, den ich in der Absicht als Multiplikation zweier Zahlen gedacht habe, als Produkt dieser Multiplikation. Will ich einen Schluss ziehen, so enthält meine Absicht die Prämissen, das Ergebnis meines Wollens den Schlusssatz. Beide sind Aspekte desselben Gegenstandes. Nicht anders ist es beim Problemlösen: In der Absicht denke ich das Problem, nämlich einen Gegenstand unter einem bestimmten fraglichen Aspekt, in der Lösung denke ich denselben Gegenstand unter dem Aspekt, in dem das Problem gelöst ist. Diese Erörterungen weisen darauf hin, dass zwischen dem mentalen Wollen und dem Handeln im Sinne der Verwirklichung einer Absicht in der empirischen Welt ein Unterschied besteht, der nicht länger unbeachtet bleiben darf. Wollen wir ein Haus bauen, so sind wir erst zufrieden, wenn es so, wie wir es geplant haben, verwirklicht ist. Es geht darum, unsere Absicht, so wie wir sie gedacht haben, zu verwirklichen. Diese Selbstverständlichkeit gilt im mentalen Wollen nicht immer, und zwar nicht darum, weil es hier nicht um eine empirisch konstatierbare Wirklichkeit geht, sondern weil es oft gar nicht darum zu tun ist, den Gegenstand der Absicht in demselben Sinne zu »verwirklichen«, wie er in ihr gedacht wird. Dies trifft nur dann zu, wenn wir den Gegenstand der Absicht in einer anderen Bewusstseinsweise bewusst haben wollen. Ich will z. B. denselben Hut in demselben Sinn anschaulich erinnern, wie ich ihn in der Absicht gedacht habe. Aber wenn es uns darum geht, denselben Gegenstand unter einem anderen Aspekt bewusst zu haben, soll er gerade nicht in demselben Sinn bewusst sein, sondern in einem anderen. Will ich etwas aufmerksam bewusst haben, so will ich es nicht im selben unklaren Sinn bewusst haben wie zuvor, sondern ich will es klar vor mir sehen mit allen Details und damit in einem um vieles erweiterten Sinn. Will ich ein Problem lösen, dann suche ich zu einem Aspekt eines Gegenstandes einen anderen, nämlich den, in dem das Problem gelöst ist. 289 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

Nun wird deutlich, warum beim mentalen Wollen etwas eine zentrale Rolle spielt, das beim Handeln überhaupt nicht vorkommt: das Fragen und Suchen. Beim Handeln gibt es ein Fragen und Suchen nur vor der Absicht, nämlich dann, wenn wir fragen, was in einer Situation am besten zu tun sei. Gehe ich an das Verwirklichen der Absicht, ist es mit dem Fragen und Suchen vorbei, es ist entschieden, wie etwas zu machen ist. Anders beim mentalen Wollen. Da ist zwar entschieden, was bewusst werden soll, aber nur in dem Sinne, als klar ist, was für eine Aufgabe oder was für ein Problem gelöst werden soll. Aber damit wissen wir noch nicht, wie das zu leisten ist. Nur beim Stellungnehmen oder Regelfolgen weiß ich, was gemacht werden muss, jedenfalls dann, wenn sich beide Aspekte nicht unterscheiden, wie es der Fall ist, wenn ich lediglich will, dass das, was jetzt bewusst ist, weiterhin bewusst bleibt. Will ich etwas aufmerksam bewusst haben, so weiß ich noch nicht, wie das, was jetzt nur nebenbei bemerkt ist, aufmerksam bewusst aussieht. Noch weiter voneinander entfernt sind die Aspekte beim problemlösenden Denken. Das in der Absicht formulierte Problem verweist nur in einem sehr unzureichenden Sinne auf die Lösung als dem gesuchten Aspekt derselben Sache. Will ich einen Beweis für etwas führen, so weiß ich, was ich beweisen will, bin aber weit entfernt davon, den Beweis in der Tasche zu haben. Während ich handelnd das tue, was ich will, nimmt das Verwirklichen des mentalen Wollens in vielen Fällen mehr den Charakter eines Fragens und Suchens als eines Tuns an. Die Rede vom »Verwirklichen« hat beim mentalen Wollen wenigstens ein Stück weit denselben Sinn wie bei jedem Wollen: Das, was ich will, soll der Fall sein. Nur ist das, was der Fall sein soll, von ganz anderer Art, als wenn wir verändernd in die Welt eingreifen. Es wird nicht etwas hergestellt, sondern eine Bewusstseinsweise in eine andere oder ein Aspekt in einen anderen übergeführt. Das ist kein Verwirklichen, sondern ein Bewusstwerden.

3.4

Aktives Bewusstsein als Bewusstsein durch Entscheidung

Noch ist nicht genügend klar, was aus diesen Überlegungen zum mentalen Wollen für den Begriff einer mentalen Aktivität und des aktiven Bewusstseins folgt. Es mochte scheinen, schon das bloße mentale Wollen, wie es aus einer Entscheidung resultiert, sei als eine solche Aktivität aufzufassen, und dies selbst dann, wenn das, was wir 290 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Mentales Wollen

bewusst haben wollen, ohne unser Zutun bewusst wird oder schon bewusst ist und nur festgehalten wird, wie beim Stellungnehmen. Dieses erschien uns als das primitivste aktive Bewusstsein, weil wir kaum mehr zu tun haben als zu entscheiden. Immer wenn wir etwas wollen, ist die Absicht aus einer Entscheidung hervorgegangen. Ohne Entscheidung gäbe es keine Absichten. Da jedes Wollen auf Entscheidung beruht und jede Aktivität gewollt ist, gehört ein Entscheiden unabdingbar zu jeder Aktivität, dies kann geradezu als Kriterium für Aktivität und aktives Bewusstsein dienen. Daher muss uns jede Absicht als ein aktives Bewusstsein gelten. Ob das Beabsichtigte auch umgesetzt werden kann, ist eine andere Frage. Wie bei jedem Wollen gibt es auch hier ein Gelingen oder Misslingen. Gelingt, was wir wollen, entspricht das, was entstanden ist, unserer Absicht, was uns sagen lässt, auch dieses gehe auf unsere Entscheidung zurück, selbst dann, wenn das Beabsichtigte ohne unser Zutun bewusst wird. Man denke nur an den nicht seltenen Fall, wo wir uns an etwas erinnern wollen und dann fällt uns das Gewollte ganz von selbst ein. Nur das ist durch Entscheidung bewusst, was ohne sie nicht bewusst wäre. Die Erinnerung hätte mir auch ohne mein Wollen einfallen können, dann wäre sie pathisch bewusst gewesen. Will ich mich an etwas erinnern und fällt mir ein, was ich will, muss uns diese Erinnerung konsequenterweise als aktiv bewusst gelten. Manchmal gelingt nicht, was wir wollen. Das liegt nicht immer an den Umständen, es kann auch an uns liegen. Wir sagen dann, unser Wollen ist zu schwach gewesen, es hat mehr den Charakter eines Wünschens gehabt als eines Wollens. 405 Zum Wollen gehört der beharrliche Wille, die Absicht zu verfolgen, aber im Bereich des mentalen Wollens führt das nicht immer dazu, dass alles, was mir bewusst ist, von mir gewollt und durch meine Aktivität und meine Bewusstseinsakte bewusst geworden ist, obschon es Fälle gibt, welche durchaus nach diesem Muster ablaufen. Will ich z. B. etwas näher betrachten, so bringe ich mich durch geeignete Körperbewegungen näher an das Objekt heran und habe nun das mir Bewusste in einer Weise gegeben, die durch meine Entscheidung bestimmt ist. Sind wir auf etwas absichtlich aufmerksam, so sind die jeweiligen Gegebenheitsweisen nicht ohne unser Wollen, aber was in ihnen gegeben ist, ist pathisch bewusst, auch wenn die Weise seines Gegebenseins durch 405 Zu solch motivational defizienten Wollen siehe: G. Seebaß: Wollen, Frankfurt a. M. 1993, S. 81 ff.

291 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

meine Aktivität verändert wurde. Wir bleiben auf das angewiesen, was sich von sich her zeigt. Wahrgenommenes lässt sich nicht erzeugen wie eine Summe von Zahlen. Dies gilt auch für wachere Leistungen. Für das Phantasieren wird man das leichthin zugeben und darauf verweisen, wir variierten dabei nur, was das Wahrnehmen von sich her bietet. Auch Gedanken sind nicht durchwegs von uns erzeugte Konstrukte. Zwar wird das Denken häufig als anstrengend empfunden und mag daher als ein Tun erscheinen, was es in vielen Fällen auch ist, z. B. dann, wenn wir Regeln folgen wie im Rechnen, auch wenn wir vergleichen, auf Identitäten und Differenzen achten, Schlüsse ziehen u. ä. Aber solche Aktivität setzt Gegebenes voraus, das wir vergleichen können. Auf diese Weise lassen sich neue Inhalte gewinnen, die zuvor nicht bewusst waren, aber wir können nicht allen Inhalt des Denkens erzeugen. Auch verläuft es besonders in den produktiven Phasen nicht selten sprunghaft und mit Einfällen durchsetzt, so dass wir am Ende rückblickend das Ganze noch einmal systematisch und in logische Schritte zerlegt durchdenken müssen. Auch Absichten und Entscheidungen haben ihre pathischen Unter- und Hintergründe. Auffallenderweise erreicht die Trefferquote in den Fällen, wo das mentale Wollen mehr den Charakter eines Wünschens annimmt, erstaunlich hohe Werte, und dies nicht nur beim Erinnern, sondern auch beim Problemlösen. Wir können tagelang an einem Problem herumstudieren, und plötzlich fällt uns die Lösung ein. Das lässt vermuten, das Wollen übe auch hier untergründig einen Einfluss aus, wenn auch auf höchst undurchsichtige Weise. Doch das gilt für manches andere auch. Oft können wir etwas, ohne zu wissen, wie wir es machen, so dass man nicht eigentlich von »machen« sprechen kann. Wenn ich mich frage, wie ich es anstelle, etwas visuell zu phantasieren, gerate ich rasch aufs Glatteis. Ähnliches gilt vom Sprechen. Wir haben uns in einer Situation entschieden, etwas zu einer Sache zu sagen, wir hätten es auch bleiben lassen können. Nun sprechen wir, und wenn uns einer fragte, »wie machst du das?«, könnten wir bestenfalls eine höchst bruchstückhafte Antwort geben, sofern wir nicht gerade Linguisten sind. Da mag es tröstlich sein, daran zu denken, dass wir vieles können, ohne zu wissen, wie wir es machen. Dies gilt nicht nur für mentale Aktivitäten, auch Fahrradfahren ist gewollt, und doch fällt es uns schwer, schon nur detailliert anzugeben, wie wir es machen, dabei das Gleichgewicht zu halten. Wollten wir verlangen, zum Begriff der Aktivität müsse auch solch ein Wissen ge292 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein als Fühlen des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung

hören, bliebe nicht viel übrig, was als bewusste Aktivität zu bezeichnen wäre. 406

4

Aktives Wachsein als Fühlen des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung

Mit der Antwort auf die Frage, wie man sich den Übergang vom Pathischen ins Aktive, vom Erleiden zum Wollen denken kann, bleibt die Frage, was unter aktivem Wachsein zu verstehen sei, und wie aus ihm ein aktives Bewusstsein entstehe, noch weitgehend offen. Die Unsicherheit darüber mag eher zugenommen haben, da wir es nun mit zwei Kandidaten für aktives Wachsein zu tun bekommen: dem Fühlen des Strebens (oder Wollen) nach Bewusstsein durch Entscheidung und dem Fühlen des mentalen Wollens, das aus jenem hervorgeht. Wie immer man sich entscheidet, man wird nicht darum herumkommen, auch das Verhältnis beider zueinander nochmals zu überdenken. Können wir entscheiden, was uns bewusst sein soll, befriedigt das unser Widerstreben gegen Widerfahrnisse und wir erkennen, dass das Ziel dieses Strebens in einem Bewussthaben durch Entscheidung besteht. Dieses Ziel ist weit allgemeiner als das eines mentalen Wollens: Alles, was mir bewusst ist, soll etwas sein, für dessen Bewussthaben ich mich entschieden habe, und d. h. nichts weiter, als dass ich danach strebe, mental zu wollen. Will ich etwas bewusst haben, so will ich etwas je Bestimmtes: Ich will etwas aufmerksam beobachten, etwas erinnern oder phantasieren usw. Beide Ziele sind natürlich nicht unabhängig voneinander: Wenn ich nach Bewusstsein durch Entscheidung strebe, dann will ich auch das bewusst haben, wofür ich mich entschieden habe, und wenn ich etwas bewusst haben will, habe ich mich dafür entschieden, und das Streben nach Entscheidung ist befriedigt, wenn auch nur partiell. Wir haben das pathische Wachsein mit dem Fühlen des Widerstrebens gegen Widerfahrnisse gleichgesetzt. Von daher erscheint es naheliegend, das aktive Wachsein entweder dem Fühlen des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung gleichzusetzen oder dem mentalen Wollen oder beidem zusammen. Gibt man dem Fühlen des men406 Etwas Licht in dieses Dunkel bringt Michael Polanyis »Theory of Tacit Knowing«. Siehe: M. Polany: Implizites Wissen, Frankfurt a. M. 1985.

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Aktives Wachsein

talen Wollens den Vorzug, so kann man sich darauf stützen, dass das Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung ein Bewussthaben zum Ziel hat, das gewollt ist. Das mag Grund genug sein, im Fühlen dieses Wollens das aktive Wachsein zu sehen, allerdings mit der Konsequenz, dass das aktive Wachsein mit jedem erneuten Wollen kommt und mit seinem Dahinschwinden wieder geht. Aktives Wachsein ist kein kontinuierlicher Zustand, sondern von Phasen pathischen Wachseins bis hin zum Tiefschlaf unterbrochen, aber immer übergreift die Dauer des Wachseins die Dauer dessen, was in ihm bewusst ist. Wäre das Fühlen des mentalen Wollens allein aktives Wachsein, wären wir nicht nur jedes Mal, wenn wir etwas anderes wollten, anders wach, das Wachsein zerfiele auch in diskontinuierliche Einheiten, was mit unserem Erleben kaum in Übereinstimmung zu bringen wäre. Diese Bedenken fallen weg, wenn wir das aktive Wachsein als Fühlen des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung verstehen. Dann sind wir schon aktiv wach, bevor wir entscheiden, und das Wachsein hängt nicht davon ab, wie die Entscheidung ausfällt. Dieses Fühlen ist gegenüber dem des mentalen Wollens beständiger. Dafür spricht auch die Kontinuität mit dem pathischen Wachsein: Nachdem wir die Erfahrung des Entscheidens gemacht haben, stellt sich das Streben nach nicht-pathischem Bewusstsein als eines nach Bewusstsein durch Entscheidung heraus, so dass dieses das Streben, nicht betroffen zu werden, auf modifizierte Weise fortsetzt. Man darf dann annehmen, auch das Fühlen dieses Strebens habe sich entsprechend gewandelt, so dass auch das aktive Wachsein als eine Modifikation des pathischen gelten kann. Es gibt noch einen weiteren, tiefer liegenden Grund, das aktive Wachsein mit dem Fühlen des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung gleichzusetzen: Die Entscheidung ist bewusst, und zwar ist sie ein erstes aktives Bewusstsein, wenn auch eines, das sich von anderem aktiv Bewusstem dadurch unterscheidet, dass das Entscheiden anfänglich nicht gewollt und nicht wieder durch Entscheidung bewusst ist. Bewusst ist sie im Streben nach nicht-pathischem Bewusstsein, das im Entscheiden befriedigt wird. Erst die Absicht, die aus ihr hervorgeht, ist ein erstes, das durch Entscheidung bewusst ist. Die Entscheidung selbst kann nicht erst durch das mentale Wollen bewusst sein, denn ohne bewusste Absicht können wir nicht wollen. Erst wenn etwas pathisch Bewusstes im Licht der Hoffnung auf Befriedigung des Widerstrebens als eines erscheint, das nicht bewusst 294 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein als Fühlen des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung

sein soll, kann es zu einem ersten Entscheiden kommen und erst damit werden Absichten möglich. Wären wir erst im Fühlen des mentalen Wollens aktiv wach, wäre nicht einzusehen, wie dieses Wachsein Voraussetzung dafür sein kann, dass Absichten bewusst sind. Damit müssen wir im Fühlen des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung das aktive Wachsein sehen, weil ein mentales Wollen ohne Entscheidung nicht denkbar ist. Wenn das Entscheiden selbst schon aktiv bewusst ist und jedem mentalen Wollen vorhergeht, dann kann es Paradigma für alles sein, was durch mentales Wollen bewusst wird. Wie im Bereich des pathischen Wachseins der ursprüngliche Taumel das Vorbild für seine Wiederkehr liefert und damit für Betroffenheit und Leiden 407, so scheint die Entscheidung so etwas wie ein Urphänomen des aktiv Bewussten, aber auch des aktiven Wachseins zu sein. Die ersten Entscheidungen, zu denen es beim Aufwachen kommt, sind Stellungnahmen zu dem, was pathisch bewusst ist. Zu einem ersten Entscheiden kommt es, wenn das, was mir pathisch bewusst ist, als etwas erscheint, das nicht bewusst sein soll, und damit als etwas, das der Möglichkeit nach auch nicht bewusst sein kann. So etwas fordert eine Entscheidung heraus. Kommt sie zustande, ist sie nicht als etwas bewusst, das mir geschieht, sondern als etwas, das durch mich ist, weil sie mein Streben nach nicht-pathischem Bewusstsein erfüllt. Damit erfahre ich nicht nur, dass ich nach Entscheidung strebe und dass diese nicht durch Betroffenheit bewusst ist, sondern auch, dass sie es durch Erfüllung eines Strebens ist, das in eminentem Sinne meines ist. 408 Besteht das pathische Wachsein im Betroffensein und der Furcht vor ihm, so das aktive in der Entscheidung und der Hoffnung auf sie. Aber damit erschöpft es sich nicht. Ziel des Strebens, das ihm zugrunde liegt, ist nicht allein das Entscheiden, sondern ein Bewusstsein durch Entscheidung. In der Entscheidung wird bewusst, wofür ich mich entschieden habe, und mit der Absicht setzt das Wollen ein, das die Bewusstseinsakte motiviert, in denen bewusst wird, was ich bewusst haben will. Diese Überlegungen führen zur Annahme, aktives Wachsein bestehe im Fühlen des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung und damit in der Befriedigung, in der Hoffnung auf sie, in der Frustration und in der Furcht vor ihr. Wir haben schon früher verfolgt, 407 408

Vgl. Kap. II, 1 Der Taumel und die Angst vor seiner Wiederkehr. Vgl. oben S. 248.

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Aktives Wachsein

wie sich diese Gefühle von denen des pathischen Wachseins unterscheiden. Die Befriedigung wird als ein Können gefühlt, die Frustration als ein Nicht-Können, als Scheitern. Entsprechend ist die Hoffnung auf Gelingen eine Hoffnung, etwas zu können, und die Furcht vor dem Scheitern eine vor Misslingen. Werden Frustrationen nicht mehr als Betroffenheit, sondern als Scheitern erlebt, ist zu fragen, was uns dieses Faktum über den Unterschied zwischen pathischem und aktivem Wachsein verrät. Warum kann ich im pathischen Wachsein nicht scheitern, im aktiven aber sehr wohl? Bin ich pathisch wach, fühle ich mich als jemand, dem alles, was bewusst ist, geschieht, aber auch als jemand, der nicht betroffen werden und doch bewusst erleben möchte. Bin ich aktiv wach, wird dieses Ziel deutlicher. Schon im Verlauf des Aufwachens erfahre ich das, was mir bewusst ist, nicht mehr als etwas, das mich betrifft, sondern als etwas, das von mir die Entscheidung fordert, ob ich es bewusst oder nicht bewusst haben will. Zugleich drängt es mich zu entscheiden. Scheitern kann ich nur an einer Forderung, die an mich ergeht, oder die ich mir selbst stelle. Eben das gibt es im pathischen Wachsein nicht, und mit ihr beginnt das aktive. Ich wache auf, wenn eine Situation entsteht, in der etwas pathisch bewusst ist, das als nicht bewusst sein Sollendes charakterisiert ist. Man möchte entgegnen, das sei nach meinem Dafürhalten im pathischen Wachsein immer der Fall, weil wir immer dem Betroffenwerden widerstreben. Ja, aber solange das Betroffenwerden überwiegt, vermag weder ein Sollen noch ein Fordern sich durchzusetzen. Erst wenn Hoffnung auf Befriedigung des Widerstrebens aufkeimt, erscheint das, was noch pathisch bewusst ist, als etwas, das auch nicht bewusst sein kann. Kann ich das Bewussthaben verneinen, so kann ich es auch bejahen. Nur, ob ich es kann, steht nicht fest, das liegt an mir. Die Forderung, die an mich gestellt wird, kommt aus dem Widerstreben, aber sie kommt im pathischen Wachsein erst zum Zug, wenn sich die Widerfahrnisse auf dem Rückzug befinden und ihre Intensität eingebüßt haben. Das Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung ist erst befriedigt, wenn ich mich entscheide, was und wie ich etwas bewusst haben will, und wenn auch das bewusst ist, was ich bewusst haben will. Diese Befriedigung geschieht in zwei Stufen. Zuerst muss das Streben nach Entscheidung befriedigt werden, aus der Entscheidung ergibt sich die Absicht, etwas bewusst zu haben, und damit das mentale Wollen, das wiederum gelingen oder misslingen kann. Setzt das mentale Wollen ein, bildet dies einen ersten, kaum zu übersehenden 296 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein als Fühlen des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung

Schritt des aktiven Aufwachens. Zwar sind wir schon im Streben nach Entscheidung aktiv wach, denn die Hoffnung, entscheiden zu können, unterscheidet sich qualitativ deutlich von der Furcht, etwas zu erleiden, die das pathische Wachsein beherrscht. Daran, dass er absichtlich etwas bewusst haben oder Bewusstes verändern kann, merkt auch der Stumpfeste, dass er aufgewacht ist. Mit dem mentalen Wollen beginnt das, was man im engeren Sinn als Aufwachen bezeichnen kann. Jetzt gewinnen wir Boden unter den Füßen. Wir erleben das als ein Zu-sich-Kommen, ein SichSammeln aus der Verlorenheit des pathischen Wachseins. Hänge ich einem Tagtraum nach, so gelingt es mir bei nachlassendem Betroffensein vielleicht, mich zu entschließen, diese oder jene Phantasie festzuhalten. Dieses Sich-Sammeln auf ein Ziel hin unterscheidet sich klar vom Gefühl trägen Mitschwimmens und Ausgeliefertseins, von dem ich mich eben noch habe tragen lassen. Es gehört mit zum Gefühl dieser Befriedigung, auf meine Entscheidung zurückkommen und mich auch anders entscheiden zu können. Die Entscheidung ist zwar faktisch so, wie sie ist, aber dieses Faktum hat das Eigenartige, nicht nur anders sein zu können, als es ist, ich fühle auch, dass es, wie sein mögliches Anderssein, durch mich ist. Was das aktiv Bewusste charakterisiert, kommt schon der Entscheidung selber zu; auch sie ist durch mich, und das Bewusste ist nur insoweit durch mich, als es durch Entscheidung ist. 409 Mag sein, dass diese selber kaum explizit bewusst wird, vielleicht ist nur erst angedeutet, was ich bewusst haben will, vielleicht zieht es rasch vorüber, ist nur ein Anflug. Stabiler als das Bewusstsein der Entscheidung ist das Gefühl der Befriedigung, das sie begleitet. Befriedigt bin ich, wenn ich entschieden habe, und das Entscheiden und sein Resultat bilden den ersten bewussten Gehalt, von dem ich fühle, dass er durch mich ist. Es ist ein Gefühl des Fähigseins, des Könnens, ja Beherrschens, wenn auch vorerst auf das Entscheiden beschränkt und oft von dem überdeckt, wofür ich mich entschieden habe. Mit der Entscheidung will ich etwas bewusst haben. Die Befriedigung dieses Wollens macht die zweite Stufe der Befriedigung des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung aus. In ihr fühle ich, wie das, was bewusst wird, von meinem Entscheiden und Wollen abhängt, aber auch von meinen bewussten Leistungen, die dem Suchen und Finden dienen. Das schlägt sich nicht nur in einem Bewusstsein 409

Mehr dazu unten Kap. III, 9 Aktives Wachsein, Selbstbewusstsein und Freiheit.

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Aktives Wachsein

nieder, das Gewollte jederzeit auch nicht wollen zu können, die Entscheidung wieder zurückzunehmen. Auch das Gefühl des Fähigseins, des Könnens und Beherrschens wird in ihr wieder aufgenommen und konkretisiert, da nun deutlich geworden ist, wie ich mich entschieden habe. Die Befriedigung des mentalen Wollens bildet das gerade Gegenteil zur Frustration in der Betroffenheit. Im Betroffensein erleide ich etwas, in der Befriedigung dieses Wollens fühle ich mich tätig und etwas könnend, indem ich in den Fluss des Bewusstseins eingreife, etwas zur Erscheinung bringe oder doch erscheinen lasse. Stellt man so die Befriedigung des mentalen Wollens der Betroffenheit im pathischen Wachsein gegenüber, mag man versucht sein, beides zu parallelisieren und dem Hoffen auf Befriedigung im aktiven Wachsein einen ähnlichen Stellenwert zuzuschreiben wie der Furcht vor Betroffenheit im pathischen. Dabei muss man aber doch im Auge behalten, dass das pathische Bewusstwerden auf Widerfahrnisse angewiesen ist, während das aktive in einem höheren Maß von uns abhängt, von unserem Entscheiden und beharrlichem Wollen. Wir müssen Stellung nehmen zu dem, was uns pathisch bewusst ist, müssen entscheiden, ob wir es bewusst haben wollen oder nicht, oder ob wir an seiner Stelle anderes bewusst haben wollen. Was wir da wollen, drängt sich nicht ohne unser Zutun auf, es ist etwas, wonach wir suchen. Zum Wollen gehört das beharrliche Ausgerichtetsein auf ein Ziel hin, das wir in allen Urteilsgefühlen des Wollens fühlen, nicht nur wenn Hoffnung aufkommt, das Gesuchte werde gefunden, sondern auch wenn wir fürchten, die Suche werde erfolglos bleiben, und noch im Gefühl des Misslingens selbst. Zum Suchen gehören Versuche, probeweises Annehmen von Lösungen, die sich auch als ungeeignet erweisen können und aufgegeben werden müssen, so dass man allenfalls erst auf Umwegen zum Ziel gelangt. Am Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung lassen sich zwei eng aufeinander gebaute Teile unterscheiden. 1. Das Streben nach Entscheidung, dessen Befriedigung eine notwendige Voraussetzung jeden Wollens bildet, da es ohne sie keine Absicht gäbe. Wird dieses Streben frustriert, kommen weder eine Entscheidung noch ein Wollen zustande. Wir bleiben pathisch wach. 2. Das mentale Wollen, das aus dem Streben nach Entscheidung hervorgeht. Misslingt es, wird nicht bewusst, was wir bewusst haben wollen, so liegt das an uns, weil wir zu nachlässig gewollt haben. Aber soweit wir darauf angewiesen sind, dass etwas von selbst erscheint, liegt es nicht nur an uns. Auch im Misslingen bleiben wir noch aktiv wach. Erst wenn 298 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein als Fühlen des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung

wir keine Entscheidung zustande bringen, schlafen wir ins pathische Wachsein ein. Das Streben nach Entscheidung wie das darauf beruhende mentale Wollen sind zu einem Ganzen verbunden und in dessen Gesamtstruktur eingebettet. Dieses Ganze besteht im Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung, denn wir streben nicht erst nach Entscheidung und dann wollen wir das, wofür wir uns entschieden haben, sondern wir wollen oder streben von Anfang an, etwas durch Entscheidung bewusst zu haben. Noch ist genauer zu fragen, worin dieses Ziel besteht. Wir begnügen uns nicht mit einem einmaligen Bewusstsein durch Entscheidung, vielmehr streben wir immer wieder, solange wir aktiv wach sind, danach, ein kontinuierliches Bewussthaben durch Entscheidung zu erlangen. Wäre das Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung befriedigt, wenn das bewusst wird, was wir zu einem Zeitpunkt bewusst haben wollen, dann ginge es zu Ende und wir schliefen wieder ein. So ist es nicht. Das Ziel dieses Strebens reicht über das jeweils Gewollte hinaus: Nicht nur, was ich gerade jetzt bewusst haben will, soll bewusst werden, sondern alles, was bewusst wird, soll etwas sein, das ich willentlich bewusst habe. Das führt nicht in einen illusionären Idealismus, der glaubt, allen Inhalt der Welt aus dem eigenen Wollen hervorzaubern zu können. Denn ein Bewusstsein durch Entscheidung liegt auch dann vor, wenn wir uns entschieden haben, dem Pathischen Raum zu geben und zuzulassen was geschieht. Auch das aktive Wachsein ist weitgehend auf Pathisches angewiesen. Jedes gelingende mentale Wollen befriedigt das Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung, aber diese Befriedigung bleibt stets partikulär. Dies macht deutlich, dass es in diesem Streben um das ganze künftige bewusste Leben geht, nicht um einzelne bewusste Inhalte. Klarer wird das für den, der sich die Frage stellt, wie er leben will, und sich für ein willentliches Leben entscheidet. Diese Entscheidung hat nicht nur die moralische Bedeutung, für sein Handeln Verantwortung zu übernehmen, sie umfasst darüber hinaus das ganze eigene Bewusstseinsleben. Am Phänomen der stets partikulär bleibenden Befriedigung des aktiven Wachseins zeigt sich, dass wir in unserem Bewusstseinsleben immer schon nach dem streben, wovon manche glauben, dass wir es im Handeln sollten, nämlich dass unser bewusstes Erleben wie unser Handeln von unserem Wollen (mit)bestimmt sein soll. Es ist ein Ziel, das aus pathischen Untergründen aufsteigt, aber erst klar bewusst wird, wenn wir uns dafür entscheiden können. 299 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

Dann wird das Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung zu einem expliziten Wollen. Zum Ziel dieses Strebens verhält sich jede Befriedigung eines mentalen Wollens wie ein Teil zum Ganzen. Lässt die Befriedigung nach, geht sie in ein Gefühl der Hoffnung auf weiteres Bewusstsein durch Entscheidung über oder in Furcht vor Misslingen. Das je besondere mentale Wollen ist nicht ein Mittel zum Zweck eines willentlichen Bewusstseinslebens, sondern selbst Teil dieses Lebens. Damit stellt sich die Frage, wie sich das Fühlen des je besonderen mentalen Wollens zum Fühlen des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung verhält. Dieses Streben wäre befriedigt, wenn wir nur noch ein willentliches Bewusstseinsleben führten, wobei jedes gelungene mentale Wollen Teil dieses Lebens ist. Misslingt, was ich mental will, wird auch das Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung frustriert, aber wiederum nur partiell. Auch die Hoffnung, das bewusst haben zu können, was ich jetzt bewusst haben will, ist Teil der Hoffnung, ein willentliches Bewusstseinsleben führen zu können, und entsprechendes gilt für die Furcht, das Wollen könne misslingen. Wenn ich nach Bewusstsein durch Entscheidung strebe, ist noch nicht bestimmt, wie die Entscheidung ausfallen und worin die Absicht des mentalen Wollens bestehen wird. Durch die Entscheidung konkretisiert sich das noch relativ unbestimmte Streben zu einem bestimmten, es entsteht ein bestimmtes, individuelles Wollen von etwas. Dieses gehört mit zum Ziel des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung. Wie die Entscheidung ist auch das Wollen von mir erstrebt, womit das Verhältnis beider nicht nur eines von Allgemeinem und Besonderem, sondern auch von Streben und Erstrebtem ist. Ich will nicht nur entscheiden, sondern auch wollen und tun können, wofür ich mich entschieden habe. Jedes besondere mentale Wollen ist eine je besondere Weise, nach Bewusstsein durch Entscheidung zu streben. Dieses wird mit jedem Wollen individuiert und verallgemeinert sich mit jedem Vergehen des Wollens wieder zu einem Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung. Die Urteilsgefühle des mentalen Wollens unterscheiden sich in mehrerer Hinsicht von denen des pathischen Wachseins, und dies nicht nur, weil nun die Befriedigung als ein Gelingen und Können und die Frustration als ein Scheitern erlebt wird. Mit dem Beginn des mentalen Wollens suche ich nach dem, was ich will, und das, wonach ich suche, ist eine andere Bewusstseinsweise oder ein Aspekt des Gegenstandes, der in der Absicht unter einem anderen Aspekt inten300 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein als Fühlen des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung

diert ist. Manchmal sind beide durch eine unüberbrückbar scheinende Kluft getrennt. Habe ich meine Hausschlüssel verlegt und suche sie, bemühe ich mich zu erinnern, wo ich sie hingelegt haben könnte. Vielleicht versuche ich, mir mögliche Orte vorzustellen, wo sie sein könnten, in der Hoffnung, damit eine Erinnerung zu wecken. Aber niemals ist die Antwort aus der Frage allein herauszuholen. Das lässt fragen: Ist der Gegenstand des Hoffens, etwas so und so Bestimmtes, möge bewusst werden, der Gegenstand, wie er in der Absicht, oder ist es der, wie er in der Befriedigung intendiert ist? Skeptiker werden zum Ersten neigen, aber ganz alltägliche Erfahrungen lassen vermuten, es gebe mehr dazu zu sagen. Liegt zwischen Frage und Antwort die Hoffnung, die Antwort zu finden, dürfte in ihr schon so etwas wie eine mehr oder weniger dumpfe Ahnung der Antwort enthalten sein. Das Hoffen wäre dann mehr als ein Hoffen, das Beabsichtigte möge gelingen, es läge in ihm so etwas wie ein suchendes Erfühlen des Erfragten, das zwar nicht schon die Antwort gibt, aber hilft, sie auf den Weg zu bringen. Das lässt sich durch mancherlei Phänomene stützen. Dazu gehört der nicht seltene Fall, wo ich mich an etwas erinnern will und dabei fühle, der Sache ganz nahe zu sein, aber sie will sich noch nicht einstellen. Oder ich will etwas sagen, aber das passende Wort fällt mir nicht ein. Ich suche mit einem drängenden Gefühl danach, es gleich zu haben, es liegt mir auf der Zunge, und wenn es kommt, weiß ich sofort, dass es das war, was ich sagen wollte. Das Ziel des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung besteht nicht allein darin, das bewusst zu haben, wofür ich mich entschieden habe, auch die Evidenz, dass das Gefundene das Gesuchte ist, gehört mit dazu. Zum Abschluss dieses Kapitels sei noch einmal danach gefragt, wie sich das mentale Wollen zum Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung und damit zum aktiven Wachsein verhält. Dem mentalen Wollen scheint eine Mittlerrolle zwischen dem Entscheiden auf der einen Seite und den Aktvollzügen auf der anderen zuzukommen. Seine Herkunft verweist auf das Entscheiden, sein Resultat auf die Vollzüge des aktiv bewussten Erlebens. Hinsichtlich des Ersten erscheint es als ein Teil des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung und das Fühlen dieses Wollens als ein Teil des Fühlens dieses Strebens und damit als aktives Wachsein. Hinsichtlich des Zweiten drängt sich dagegen der Gedanke auf, es doch auf die Seite des Aktvollzugs und damit dem cogito zuzuschlagen. Gewöhnlich zählen wir die Aktivität des Suchens und Findens und das zugehörige Wollen zur 301 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

Aktivität der bewussten Aktvollzüge und nicht zum Wachsein, und dies nicht zu unrecht. Wenn ich z. B. etwas aufmerksam beobachten will, dann schreiben wir die dazu dienlichen absichtlichen Bewegungen der Augen, des Kopfes, vielleicht des ganzen Körpers, dem aufmerksamen Wahrnehmen zu und nicht dem Wachsein in diesem. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass wir auch in den vielfältigen Weisen des Suchens und Findens wach sind. Aber diese Aktivitäten gehören zum Vollzug der Bewusstseinsakte, sie sind Mittel, damit das bewusst wird, was wir bewusst haben wollen, und sind damit bestimmt durch unser mentales Wollen. Da dieses den Aktvollzug beherrscht, bildet es mit ihm eine Einheit. Aber wenn wir an seine Entstehung denken, stammt es aus dem Entscheiden und dem Streben nach ihm. Wir entscheiden uns dafür, etwas bewusst zu haben, und halten an dieser Entscheidung fest, darin besteht die Festigkeit unseres Wollens. In der Beharrlichkeit, mit der wir am Wollen festhalten, halten wir die Entscheidung aufrecht, deren Bestimmtheit allenfalls weitere Entscheidungen hinsichtlich der Wahl der Mittel fordert. So ist das mentale Wollen nicht bloß ein Resultat des Entscheidens; es bleibt, solange es besteht, an das Entscheiden und das Streben nach ihm gebunden und kann davon nicht getrennt werden. Dies schon darum, weil die Intensität, mit der ich etwas will, nur die Intensität ist, mit der ich noch oder nicht mehr so recht hinter der Entscheidung stehe. Auf der anderen Seite, nach seinem Resultat hin, verweist das mentale Wollen auf den Aktvollzug. Dieser ist nicht ohne jenes denkbar. Die Aktvollzüge sind gewollt, aber ihre Realisierung geht über das Wollen hinaus und gehört zum aktiven Bewussthaben, zu den wirklichen oder imaginären Bewegungen des Leibes, den für die Verwirklichung der Absicht notwendigen Akten der Phantasie, des Erinnerns, Urteilens, Schließens und des Gedankenfassens. Wenn das mentale Wollen weder vom Entscheiden noch von den Aktvollzügen getrennt existieren kann, darf uns das nicht weiter verwundern. Daran zeigt sich nur einmal mehr, wie rasch säuberliches Trennen im Bereich des Erlebens zu haltlosen Abstraktionen führt. Die Aktvollzüge sind gewollt und bestehen nur, weil und solange sie gewollt sind. Sie sind kein Wollen, sondern Gewolltes. Auch das, was in der Befriedigung bewusst wird, ist gewollt, ohne selbst ein Wollen zu sein. Die Befriedigung wiederum ist ein Urteilsgefühl des mentalen Wollens. Sie gehört zum aktiven Wachsein, weil dieses im Fühlen des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung besteht, und die Befriedigung dieses Strebens mit der des mentalen Wollens zusammenfällt. Ist die302 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Modi des aktiven Wachseins

se Befriedigung ein aktives Wachsein, dann auch die Hoffnung auf sie und die Furcht vor Misslingen. Das Fühlen des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung umfasst auch das Fühlen des mentalen Wollens. Das mentale Wollen allein ist kein valabler Kandidat für das aktive Wachsein, und zwar schon darum nicht, weil es getrennt vom Entscheiden gar nicht bestehen kann. Es ist nicht nur Resultat einer Entscheidung: Solange es besteht, besteht es nur, wenn die Entscheidung, aus der es hervorgeht, aufrechterhalten wird. Zum Fühlen des mentalen Wollens gehören nicht nur seine Urteilsgefühle, nicht nur das Hoffen, das möge bewusst werden, was ich bewusst haben will, oder das Fürchten, dies werde nicht gelingen, oder die Befriedigung darüber, dass es gelungen ist, sondern immer auch das Gefühl, dass ich mich entschieden habe, dies zu wollen und weiterhin so entschieden bin. Das ist das Gefühl der Befriedigung eines Strebens nach Entscheidung. Das aktive Wachsein umfasst nicht nur die Urteilsgefühle des mentalen Wollens, sondern auch die des Strebens nach Entscheidung. Wäre das Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung bloß eines nach Entscheidung, wären wir immer in derselben Weise aktiv wach, denn Unterschiede in der Weise des Wachseins ergeben sich erst, wenn wir uns entschieden haben und Bestimmtes bewusst haben wollen. Dann geht es nicht nur ums Entscheiden, sondern darum, unterschiedliche Weisen des Könnens zu realisieren, wie aufmerksam zu sein, zu erinnern, zu phantasieren oder zu denken. Dies führt uns zur Thematik der unterschiedlichen Modi des aktiven Wachseins.

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Modi des aktiven Wachseins

Etwas ist aktiv bewusst, wenn wir es bewusst haben wollen. Die Zwecksetzungen des mentalen Wollens beruhen anfänglich auf Erfahrungen, die wir im pathischen Erleben gemacht haben. Pathische Aufmerksamkeit, pathisches Erinnern, Phantasieren oder Urteilen sind Typen mentalen Geschehens, für die wir uns entschieden haben und sie zu Absichten unseres Wollens machen. So knüpft vieles, was wir wollen, an pathisches Geschehen an, ohne dieses bloß zu wiederholen. Wir wissen aus dem pathischen Erleben grob, wie das ist, was wir erinnern, und orientieren uns daran, wenn wir uns erinnern wollen. Was dann abläuft, unterscheidet sich offensichtlich vom pathischen 303 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

Erleben. Pathisch bewusst wird etwas, wenn es uns betrifft. Wir erleiden es. Je nach Qualität des Betroffenseins können wir verschiedene Qualitäten des Erleidens und entsprechend unterschiedliche Qualitäten des Fühlens des Widerstrebens gegen Widerfahrnisse und damit verschiedene Modi des pathischen Wachseins unterscheiden. Anders das aktiv Bewusste: Dieses ist nicht durch Betroffenheit, nicht in der Frustration eines Widerstrebens, sondern in der Befriedigung eines mentalen Wollens bewusst. Wie kann es dann Modi des aktiven Wachseins geben? Im pathischen Wachsein bildet ein bestimmter Modus des Wachseins, nämlich die Furcht auf bestimmte Art betroffen zu werden, eine notwendige Voraussetzung für das Bewussthaben von etwas, das uns in dieser Art betrifft, und nur das kann bewusst werden, was diese Furcht erfüllt. 410 Analog darf man für das aktive Wachsein erwarten: Damit ein bestimmtes mentales Wollen befriedigt werden kann und das, was wir bewusst haben wollen, bewusst wird, müssen wir in entsprechender Weise wach sein, nämlich so, dass wir hoffen, das zu können, was wir können müssen, um das bewusst zu haben, was wir bewusst haben wollen. Das Hoffen bezieht sich auf das, was wir wollen, und seine Intensität hängt vorwiegend davon ab, wie sehr wir etwas wollen und nach dem suchen, was wir wollen. Konnten wir im Bereich des pathischen Wachseins feststellen, wie bestimmte Weisen, betroffen zu sein, die Furcht motivieren, in gleicher Weise betroffen zu werden, so können wir für den Bereich des aktiven Wachseins nichts Ähnliches erwarten, da es hier nicht um Betroffensein, sondern um Können geht, nicht um Frustration, sondern letztlich um Befriedigung. Dennoch gibt es Entsprechungen. Wenn ein Modus des pathischen Wachseins durch die Weise des Betroffenseins bestimmt ist, so ist anzunehmen, dass es auch Modi des aktiven Wachseins gibt, die davon abhängen, was wir können müssen, damit unser mentales Wollen befriedigt wird. Die verschiedenen Weisen, betroffen zu werden, haben wir als unterschiedliche Formen der Frustration des Strebens gegen Widerfahrnisse gedeutet. Sie bestimmen jeweils einen Modus des pathischen Wachseins. Analog dazu möchte man für das aktive Wachsein annehmen, die Befriedigung des mentalen Wollens bestehe im Gefühl, etwas zu können, und dieses Gefühl sei kennzeichnend für einen Modus des aktiven Wachseins. Das Können, um das es dabei geht, 410

Siehe oben S. 221.

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Modi des aktiven Wachseins

besteht darin, das bewusst haben zu können, was ich bewusst haben will, und dazu gehört alles, was notwendig ist, um dieses Ziel zu erreichen. Entsprechend müsste es verschiedene Weisen geben, wie es sich anfühlt, etwas zu können. Kann man etwas absichtlich vergegenwärtigen, fühlt sich das anders an, als wenn man auf etwas aufmerksam sein, oder etwas absichtlich denken kann. Nehmen wir an, es gebe solche unterschiedlichen Weisen zu fühlen, dass man etwas kann, und weiter, wir fühlten das in den Urteilgefühlen des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung. Sehen wir zu, wie weit wir damit kommen. Gemäß dieser Annahme beruht ein Modus des aktiven Wachseins auf einem bestimmten Können, das ich zu aktualisieren hoffe. Von einem solchen Modus nehmen wir weiter an, in ihm wach zu sein, sei Bedingung dafür, dass das Können, das ihn bestimmt, aktualisiert werden kann, womit das bewusst wird, was zu seinem Bewusstwerden ein solches Können erfordert. Das würde z. B. heißen: Damit ich mich an das erinnern kann, woran ich mich erinnern will, muss ich hoffen, überhaupt erinnern zu können, und zuvor muss ich auch schon gehofft haben, entscheiden zu können. Dann fragt sich allerdings, wozu wir denn hoffen sollen, ein Können bestimmter Art aktualisieren zu können, wenn wir schon etwas Bestimmtes erinnern wollen und hoffen, es zu können. Die Annahme solcher Modi des Wachseins scheint überflüssig, wenn die Absicht, etwas bewusst zu haben, schon alles leistet, was wir dem Modus des Wachseins zuschreiben wollten. Wir wollen z. B. etwas Bestimmtes erinnern, dann wird das, was wir erinnern wollen bewusst, wenn sein Sinn sich mit dem der Absicht deckt. In dieser Vermutung mag man sich noch bestärkt fühlen, wenn man sich einen Unterschied zum pathischen Wachsein vor Augen hält, demgemäß es sich im aktiven Wachsein umgekehrt verhält wie im pathischen. Bin ich pathisch wach, fürchte ich, in bestimmter Qualität betroffen zu werden, ich fürchte nicht, von dem betroffen zu werden, was dann bewusst wird, denn das kann ich nicht, weil ich gar nicht wissen kann, was mich betreffen wird. Bin ich aktiv wach, weiß ich schon durch meine Absicht, was ich bewusst haben will. Das Wollen und Hoffen ist daher nicht in gleicher Weise unbestimmt wie das Widerstreben und die Angst vor Betroffenheit im pathischen Wachsein. Das ist allerdings schon nach dem, was wir bisher wissen, in mehrerer Hinsicht falsch. So hat sich der Begriff der Absicht als mehrdeutig erwiesen: Eine Absicht des mentalen Wollens besteht 305 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

nicht in einem Gedanken, den man realisieren will, sondern in einem Gedanken als einem Aspekt eines Gegenstandes, der sich auf einen anderen Aspekt oder eine andere Bewusstseinsweise desselben Gegenstandes bezieht, der bewusst werden soll. 411 Was ich in der Absicht bewusst habe, ist nicht das, wonach ich suche, und von dem ich hoffe, dass es bewusst werde, sonst müsste ich nicht danach suchen. Das Erhoffte des aktiven Wachseins ist vor der Befriedigung des mentalen Wollens so wenig bewusst wie das Befürchtete des pathischen Wachseins, bevor ich betroffen werde. Daher kann man das mentale Wollen nicht auf das Haben einer Absicht reduzieren und schon gar nicht auf das Haben eines Gedankens. Dies nicht nur darum, weil der Begriff der Absicht mehrdeutig ist, sondern auch darum, weil dem Wollen eine motivierende Kraft innewohnt, die der Absicht im Sinne eines bloßen Gedankens fehlt. Was nun die Absicht betrifft, so haben wir oben die Frage vorweggenommen, die hier die entscheidende ist: »Ist der Gegenstand des Hoffens auf Befriedigung des Wollens der Gegenstand, wie er in der Absicht, oder ist es der, wie er in der Befriedigung intendiert ist?« 412 Natürlich hoffen wir, den Sinn des Gegenstandes zu finden, nach dem wir suchen, und nicht den, den wir schon haben. Der letztere umschreibt den ersteren, indem er gewisse Bedingungen angibt, die das erfüllen muss, nach dem wir suchen. So soll z. B. dasselbe vergangene Ereignis visuell erinnert werden, das die Absicht kennzeichnet, oder in einer Problemlösung soll der durch einen Gedanken gekennzeichnete Gegenstand so gedacht werden, dass er gewisse Bedingungen erfüllt, welche gleichfalls zur Absicht gehören. Diese Bedingungen, die das Gesuchte erfüllen muss, sind zwar gegeben, und insofern ist das Gesuchte bestimmt: Es gibt nur eine oder einige wenige Lösungen der Aufgabe bzw. des Problems, aber diese sind mit der Absicht nicht gegeben, sie müssen gesucht werden. Die Hoffnung, die Lösung zu finden, bezieht sich nicht auf den Aspekt des Gegenstandes, den wir bewusst haben, sondern auf den, den wir suchen, also auf das, was wir erinnern oder phantasieren oder denken wollen. Ob ich den jeweils gesuchten Aspekt des Gegenstandes oder die gesuchte Bewusstseinsweise finde und damit bewusst haben kann, steht nicht fest. Will ich mich an ein Ereignis erinnern, suche ich 411 412

Siehe oben Kap. III, 3.3 Bewusstseinsweisen und Aspekte beim mentalen Wollen. Oben S. 301.

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Modi des aktiven Wachseins

danach, und das Hoffen, mich erinnern zu können, motiviert dieses Suchen. Dazu kommt, dass ich mehr oder weniger wollen kann. Wie sehr ich etwas will, hängt von mir ab, und je mehr ich etwas können will, umso mehr hoffe ich auch, es zu können. Zum Suchen nach einer Erinnerung gehört es, mir versuchsweise vorzustellen, was gewesen sein könnte. Dabei fühle ich, ob ich der Sache näher komme oder nicht, vielleicht tauchen auch schon erste Erinnerungen auf, die mit dem Gesuchten zusammenhängen und schließlich zu ihm hinführen. Mit der Absicht ist noch nicht bewusst, wonach ich suche. Dazu bedarf es der Mittel, die ich gleichfalls will. Um bewusst haben zu können, was ich bewusst haben will, muss ich über das dazu erforderliche Können verfügen. Dieses besteht zum einen in der Aktivität des Suchens, andererseits gehört zu dieser Aktivität auch eine Passivität, eine Empfänglichkeit für das, was mir entgegenkommt und mir geschieht. In der Aktivität sensibel zu sein und zu bleiben, nicht nur für das, was man sieht und hört, sondern auch für das, was einem zu dem einfällt, was wir suchen, gehört gleichfalls zu dem, was wir in vielen Fällen können müssen, um ans Ziel zu gelangen. Das Pathische liegt nicht nur dem Aktiven zugrunde, es taucht innerhalb des aktiven Wachseins in veränderter Form wieder auf als etwas, das durch unser Wollen und Hoffen geweckt wird. Will ich etwas bewusst haben, so muss ich dieses Können aktualisieren können. Das kann ich nicht schon darum, weil ich eine Absicht habe. Ich kann sehr wohl eine Absicht haben und gleichzeitig fühlen, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Dies fühle ich in der Furcht zu scheitern. Damit kommen wir wieder zur anfänglichen Annahme zurück, wonach ein Modus des aktiven Wachseins durch das Können bestimmt ist, das nötig ist, um die in der Absicht formulierte Aufgabe oder das in ihr gestellte Problem zu lösen. Das mentale Wollen und mit ihm das Hoffen auf Befriedigung zielen darauf, das Gesuchte zu finden. Je nach Aufgabe oder Problem ist ein bestimmtes Können gefordert, das ich zu aktualisieren hoffe. Hoffe ich, dasjenige aktuell zu können, was ich können muss, um das bewusst zu haben, was ich bewusst haben will, kann ich auch anderes bewusst haben, das ein gleichartiges Können erfordert. Die Hoffnung, A erinnern zu können, unterscheidet sich durch diesen intentionalen Bezug auf A von der Hoffnung, B erinnern zu können. Doch diese Bestimmtheit hat keinen Einfluss auf mein Wachsein, denn wenn ich in einer Weise wach bin, um A erinnern zu können, kann ich auch B erinnern. Es 307 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

genügt, wenn ich hoffe, erinnern zu können. Mein Hoffen bezieht sich nicht nur auf das, was ich erinnern will, sondern auf alles, was ein ähnliches Können erfordert. Ob ich mich an dies oder jenes erinnern will, ist für die Weise des Wachseins unerheblich, entscheidender scheint, dass ich mich erinnern und nicht phantasieren oder urteilen will. Sobald ein andersartiges Können erfordert wird, reicht das bisherige Wachsein möglicherweise nicht mehr aus, dann scheitere ich, wenn ich nicht in einem den neuen Anforderungen entsprechenden Modus wach sein kann. Es gibt unterschiedliche Modi des aktiven Wachseins. Sie sind nicht durch unterschiedliche Weisen des Betroffenseins bestimmt, sondern durch unterschiedliche Arten des Könnens. Will ich etwas bewusst haben, so will ich auch das dafür notwendige Können als ein Mittel, um mein Ziel zu erreichen. Das Fühlen dieses Wollens bildet einen Modus des aktiven Wachseins. In jedem dieser Modi hoffe ich, das zu können, was diesen Modus bestimmt, oder fürchte, es nicht zu können. Das Hoffen setzt ein, wenn ich mich entschieden habe, was ich bewusst haben will, und es endet, wenn das Gesuchte bewusst wird. Dann steht auch fest, dass ich das dazu nötige Können wirklich kann. Was heißt es nun zu fühlen, ich könne dieses Können aktualisieren? Ich habe dies als ein Gefühl der Hoffnung bezeichnet, ein arg pauschalisierender Ausdruck, der die Sache allenfalls an der Oberfläche streift. Immerhin gewinnen wir damit eine Abgrenzung gegen die Furcht vor Misslingen, in der wir fühlen, dass wir das erforderliche Können nicht zu aktualisieren vermögen. Das Eigentümliche dieses Hoffens tritt erst hervor, wenn wir daran denken, welche Rolle es im Prozess des Suchens und Findens spielt. Was diese Rolle betrifft, muss man sich zunächst klar machen, dass dieser Prozess, je nachdem wonach wir suchen, sehr unterschiedliche Wege einschlagen kann. Es gibt Fälle, wo wir kaum von einem Suchen sprechen mögen, nicht weil wir schon wüssten, worin das Gesuchte bestünde, sondern weil sich die Lösung der Aufgabe aus einem regelgeleiteten Verfahren ergibt. Da reduziert sich das Suchen auf ein Regelfolgen, wie beim Rechnen oder logischem Schließen, und ermöglicht es, zielsicher auf das Resultat zuzusteuern. Kennen wir die Regeln und sind sie eingeübt, verfügen wir über ein Können, das allenfalls auch automatisiert ablaufen kann. Entsprechend bewegt sich das Hoffen in sicheren Bahnen. Anders wenn es zu einem wirklichen Suchen kommt, was nicht 308 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Modi des aktiven Wachseins

erst auf das problemlösende Denken zutrifft, sondern schon auf das Erinnern und selbst auf das Phantasieren. Wenn ich der Meinung war, das, wonach wir in solchen Fällen suchen, bestehe in einer Leerstelle, die nur indirekt durch bekannte Bedingungen bestimmt sei, so schlägt das auch auf das Können durch, das notwendig ist, um das Gesuchte zu finden. Wir wissen in einer für das tägliche Leben hinreichenden Weise, was eine Erinnerung ist. Dennoch fällt es uns schwer, in auch nur annähernd befriedigender Weise anzugeben, was wir machen müssen, um uns erinnern zu können. Sich Erinnern heißt, sich etwas in der Vergangenheit Erlebtes zu vergegenwärtigen. Wenn ich nach einer Erinnerung suche, weiß ich nicht mehr, was oder wie das war, was ich erinnern will, aber ich weiß, es ist etwas Bestimmtes gewesen. Auch wenn ich die Bestimmungen, nach denen ich suche, nicht mehr kenne, kenne ich andere, die ein Bezugnehmen auf das Gesuchte möglich machen. Was für das Erinnern gilt, gilt vom problemlösenden Denken nicht weniger. Man kann keine allgemeinen Regeln angeben, wie Probleme zu lösen sind, man kann höchstens aufgrund von Analogien Ratschläge geben. Was wir können müssen, hängt von der jeweiligen Problemstellung ab. Das Hoffen, das zu können, was wir können müssen, um sich zu erinnern oder ein Problem zu lösen, büßt gegenüber dem regelgeleiteten Suchen erheblich an Sicherheit ein. Nicht selten gleicht es mehr dem Hoffen eines Wünschens als dem eines Wollens. Umso bedeutender nimmt sich die Rolle aus, die es beim Suchen spielt. Das Hoffen motiviert das Suchen, und es motiviert umso mehr, je beständiger wir das Gesuchte finden wollen. Zum Suchen gehören probeweise Versuche, was das Gesuchte sein könnte. Vermag ich mich nicht an das zu erinnern, was ich suche, kann ich versuchen, mich an anderes zu erinnern, was damit zusammenhängt, um mich so über Umwege heranzutasten. Vielleicht tauchen dabei zunächst nur Fragmente von Erinnerungen auf, die mehr oder weniger auf das Gesuchte verweisen. Oder bei einer Problemlösung kann ich mir mögliche Lösungen einfallen lassen und probieren, ob sie die Bedingungen der gesuchten Lösung erfüllen. Solch annäherungsweise Lösungen gehen aus zunächst noch diffusen Ahnungen über das hervor, was das Gesuchte sein könnte. 413 Fragt man, wie es zu solchen Einfällen und Ahnungen kommt, durch die das Suchen zu einem Fin413 Zum Begriff der Ahnung vgl. W. Hogrebe: Ahnung und Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1996.

309 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

den wird, so scheint mir ein Zusammenhang mit dem Bewussthabenwollen und dem Hoffen, es zu können, unabweisbar. Das Hoffen motiviert nicht nur das Suchen, es geht ihm voran und führt es, dank seiner weckenden Kraft, die Einfälle bewusst machen kann, seien es Vorstellungen, wie das Vergangene gewesen sein könnte, oder Gedanken als mögliche Problemlösungen. Bleibt die Frage, ob auch das Fühlen des mentalen Wollens je nach Art des Könnens anders sei. Ist die Hoffnung, mich erinnern zu können, verschieden von der Hoffnung, urteilen zu können? Gewiss, insofern ich jeweils etwas anderes erhoffe. Das Fühlen ist intentional auf das bezogen, was ich will. Dazu gibt es in pathischem Wachsein keine Parallele, da hoffe ich immer dasselbe, nämlich nicht betroffen zu werden. Auch im aktiven Wachsein hoffe ich immer auf dasselbe: auf Bewusstsein durch Entscheidung; aber sobald es zur Entscheidung gekommen ist, wird das Hoffen differenzierter. Dann hoffe ich, dass das bewusst werde, wofür ich mich entschieden habe, und dass ich das dazu nötige Können aktualisieren kann. Dabei bleibt die Gefühlsqualität des Hoffens nicht unbeeinflusst von dem, was wir uns erhoffen. Es gibt nicht so etwas wie eine gleich bleibende Qualität des Hoffens, so dass ein Hoffen vom andern nur darum unterschieden wäre, weil es sich auf einen anderen Gegenstand bezieht. Die Hoffnung, das große Los zu gewinnen, unterscheidet sich von der Hoffnung, gesund zu werden, wenn ich krank bin, nicht nur durch den Gegenstand. Das Hoffen fühlt sich jeweils unterschiedlich an. Ähnlich steht es mit anderen Gefühlen. Die Furcht, einen geliebten Menschen zu verlieren, fühlt sich anders an als die Furcht vor einer Maus. Die unterschiedlichen Gegenstände schlagen sich in der Gefühlsqualität nieder. Dies gilt, obschon wir solche Gefühlsnuancen wie unterschiedliche Geschmacknuancen verschiedener Weine 414 nur über die Gegenstände identifizieren können, auf die sie sich beziehen. Dies dürfte auf viele Gefühle zutreffen, nicht zuletzt auch auf die Hoffnung, erinnern oder urteilen oder ein Problem lösen zu können. Je nachdem, was wir bewusst haben wollen, lassen sich mehrere typische Gefühlsqualitäten unterscheiden, die das Hoffen, etwas bewusst haben zu können, bestimmen. Dementsprechend können wir diesen Qualitäten unterschiedliche Modi des aktiven Wachseins zuordnen. Aber wir können auf diese Qualitäten nur indirekt auf dem Umweg über das Können, das wir erhoffen, Bezug nehmen. In einem Modus des akti414

Vgl. Tugendhat, Selbstbewußtsein, a. a. O., S. 111.

310 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Modi des aktiven Wachseins

ven Wachseins wach zu sein, besteht in einer bestimmten Gefühlsqualität des Hoffens, etwas von bestimmter Art bewusst haben zu können. Will ich etwas bewusst haben, so ist das Entscheiden das Mindeste, was ich können muss, und das Mindeste, was ich hoffen darf, ist entscheiden zu können. »Entscheiden« hatte bisher den Sinn, aus vorgegebenen Möglichkeiten jene zu wählen, welche bewusst oder bevorzugt bewusst sein soll. Können wir das, dann können wir auch solches, das ihm ähnlich ist, z. B. entscheiden, etwas in anderer Weise bewusst zu haben, als es jetzt bewusst ist, vielleicht etwas aufmerksam bewusst zu haben, das vorher nur nebenbei bewusst war. Wollen wir das, dann hoffen wir auch, es zu können. Etwas anderes ist es, etwas bewusst haben wollen, das zuvor unter einem anderen Aspekt bewusst war. Von dieser Art ist das Erinnern-Wollen, PhantasierenWollen, das Denken- und Urteilen-Wollen, das absichtliche Regelfolgen und Problemlösen. In diesen Fällen geht es um ein Bewusstwerden neuer Inhalte, man möchte von einem Zur-Erscheinung-bringen sprechen, wenn da nicht der Verdacht wäre, mit diesem Ausdruck eine Aktivität zu unterstellen, die ihm in vielen Fällen nur bedingt zukommt. Es wird sich nämlich zeigen, dass wir uns im Bearbeiten, Verändern und zueinander in Beziehung Setzen von schon Bewusstem am aktivsten und wachsten fühlen, wogegen das Zur-Erscheinung-kommen von zuvor nicht Bewusstem zwar absichtlich geschieht, aber doch oft mehr einem Geschehen gleicht, das wir zulassen, als einem Tun im Sinne eines Herstellens.

5.1

Das Wachsein im Stellungnehmen

Das Einfachste und Primitivste, was wir mental wollen können, besteht darin, etwas, das pathisch bewusst ist, bewusst oder nicht bewusst haben zu wollen. Das Wachsein im aktiven Stellungnehmen ist das ursprünglichste aktive Wachsein. Wir sind aus dem pathischen Wachsein aufgewacht, wenn wir entscheiden können, was wir bewusst haben wollen, und das Einfachste, worüber wir entscheiden können, besteht darin, ob wir etwas, das pathisch bewusst ist, bewusst oder nicht bewusst haben wollen. Man kann dies als ein nachträgliches Bejahen bzw. Verneinen des Bewussthabens ansehen und insofern von einem Stellungnehmen sprechen. In dieser Weise können wir uns in einem ursprünglichen Sinne nur auf das beziehen, was 311 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

uns pathisch bewusst ist. Denn zu dem, was wir absichtlich bewusst haben, haben wir schon Stellung genommen, weil wir es bewusst haben wollen. Wir können dazu jederzeit sekundär Stellung nehmen, uns anders entscheiden und das zuvor Gewollte aufgeben. Dies kommt einem negativen Stellungnehmen gleich: Wir wollen etwas nicht mehr bewusst haben. Stellung nehmen können wir zu einem Bewusstseinsfeld, das sich öffnet oder gegenüber Einzelnem, das sich in einem Feld als Abgehobenes aufdrängt. Dem Bejahen eignet eine Tendenz zum SichVerbinden und Einlassen auf das Bewusste bis hin zum Sich-Verlieren und Aufgehen darin, dem Verneinen eine des Trennens und Abhaltens. Dieses Sich-Verlieren und Aufgehen in etwas ist uns vom pathischen Wachsein bekannt, besonders bei Gehalten, die uns intensiv betreffen, wie bei starken Affekten, die immer damit verbunden sind. Es kann aber auch gewollt sein als eine Einstellung, die wir pathisch Bewusstem gegenüber einnehmen, oder mit dem mentalen Wollen schon eingenommen haben. Dann begleitet es andere absichtliche Bewusstseinsakte, wie absichtliches Phantasieren, Erinnern oder Denken. Von diesem Sich-Verlieren in dem, was bewusst ist, müssen wir das Festhalten im Bewusstsein unterscheiden. Dieses ist ein auf Dauer angelegtes Bewussthabenwollen, in dem ich etwas für kürzere oder längere Zeit als dasselbe bewusst haben will. Das ist nur im Vergegenwärtigen möglich, so dass wir nur pathisch Vergegenwärtigtes festhalten können. Man kann das Sich-Verlieren zunächst als eine Steigerung des Bewussthabenwollens verstehen, während das Festhalten immer mit einem negativen Stellungnehmen einhergeht, durch das ich anderes davon abhalten will, sich an die Stelle des Festzuhaltenden zu setzen. Solches Stellungnehmen ist kein für wahr oder falsch Halten, was nur bei propositionalen Gehalten möglich ist, sondern lediglich ein (allenfalls emphatisches) Bejahen oder Verneinen bewussten Inhalts, sei es ein Schmerz, eine Strebung, ein Gefühl, etwas Wahrgenommenes (dieser penetrante Lärm da) oder Vorgestelltes. Was bejaht oder verneint wird, muss sich irgendwie von anderem abheben. Ob es dazu schon aufmerksam bewusst sein muss, oder ob es ausreicht, wenn es auffällt, ohne dass ich mich ihm eigens zuwende, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls tun wir gut daran, Stellungnehmen von Aufmerksamkeit zu unterscheiden. Zu dieser gehört immer ein Herausheben von 312 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Modi des aktiven Wachseins

etwas aus einem Umfeld, das hintergründig mitbewusst bleibt. Das positive Stellungnehmen ist dagegen bestimmt durch eine Einengung des Bewusstseinsfeldes, was sich besonders an seinen gesteigerten Formen zeigt. Ich will nur noch dieses Eine bewusst haben, in das ich mich verlieren will. Ergreift mich ein Gefühl, kann ich mich voll und ganz darauf einlassen, mich darin vertiefen und selbstverloren in ihm aufgehen. Das ist nicht dasselbe, wie wenn ich auf das Gefühl achte, mich ihm zuwende und es zum Gegenstand meiner Aufmerksamkeit mache. Dem Ersten fehlt die Distanz, die das Zweite kennzeichnet. Positives Stellungnehmen bedeutet: Ich will das, was mir bewusst ist, bewusst haben, will es erleben, allenfalls mich absichtlich in ihm versenken, vielleicht sogar darin aufgehen, wie es etwa beim Hören ungewohnter Musik vorkommen mag, wenn ein Sich-einlassen und -vertiefen nicht eingefleischten Vorlieben folgt und sich von selbst einstellt, sondern willentlich herbeigeführt wird. Das ist immer in Gefahr, ins Pathische abzugleiten, doch so lange wir uns anders entscheiden können, sind wir noch aktiv wach. Negatives Stellungnehmen ist ein Nichtbewussthabenwollen und Unterdrücken bewussten Erlebens, Triebunterdrückung mag hierfür paradigmatisch sein. Man sollte aber darüber anderes ähnlicher Art nicht außer Acht lassen, das in die gleiche Richtung weist. Z. B. will ich nicht, dass mir immer wieder dieselbe Ohrwurmmelodie einfällt, oder ich will nicht an eine unangenehme Sache denken, die ich erledigen muss, mir aber noch für eine Weile vom Hals halten will. Man könnte in solchen Fällen von absichtlicher Verdrängung sprechen: Ich will bewusst und absichtlich von etwas nichts wissen. Kann sein, dass das gelingt, sei es auch nur für einige Zeit, und wenn es gelingt, wissen wir nicht recht wie. Aber wir wissen, dass dies unsere Absicht war, für die wir uns entschieden haben. Eben dies unterscheidet absichtliches Stellungnehmen von unabsichtlichem, von pathischem Aufgehen in etwas, wie von pathischem oder unbewusstem Verdrängen. Ich erlebe das Stellungnehmen nicht als etwas, was mir geschieht, sondern als etwas, das auf meiner Entscheidung beruht, auf die ich jederzeit zurückkommen kann. Stellungnehmen setzt voraus, dass das, zu dem ich Stellung nehmen will, bewusst ist und sich gegen anderes wenigstens so weit abhebt, damit ein Absehen von anderem und Zulassen dieses einen möglich wird. Auf die Frage, wie ich das mache, möchte man antworten: Ich bejahe beim positiven Stellungnehmen, dass das Bewusste 313 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

mir bewusst ist, indem ich mich mit ihm verbinde, mich darin vertiefe, mich versenke, darin aufgehe. Doch worin besteht der Unterschied zwischen »ich gehe in etwas auf« und »ich will in etwas aufgehen«? Glaubt man, die Verschiedenheit beschränke sich darauf, das Stellungnehmen geschehe einmal ohne meine Zustimmung und einmal mit ihr, so sieht man darüber hinweg, dass sich beide durchgehend unterscheiden. Es ist nicht ein und derselbe Vorgang, den ich einmal zulasse und einmal nicht. Im positiven pathischen Stellungnehmen ergreift mich ein Erleben, es überwältigt mich, zieht mich in sich hinein, während das aktive, weil es auf meiner Entscheidung beruht, von mir ausgeht: ich will mich in das versenken, was mich ergreift, will darin aufgehen usw. Wie mache ich das? Wie kann ich wollend so etwas herbeiführen? Am Anfang steht die Kenntnis pathischen Stellungnehmens aus eigener Erfahrung. Aus der pathischen Erinnerung daran entspringt die Absicht meines Wollens: so etwas, wie das, was ich erlebt habe, wieder zu erleben, nur soll die Initiative jetzt von mir ausgehen. In etwas aufgehen wollen ist nicht ohne Paradoxie. Es erfordert Hingabe, ich will meinen Willen zurückhalten, für eine gewisse Zeit sistieren, will loslassen und mich selbstverloren dem überlassen, was auf mich zukommt, statt lenkend und bestimmend einzugreifen. Im Entscheiden bin ich aktiv wach, im vernehmenden Hingeben scheint das Pathische überhand zu nehmen, womit nicht gesagt ist, ich sei nur noch pathisch wach, das wäre erst der Fall, wenn ich nicht mehr anders könnte, also mich nicht anders entscheiden kann. Solange diese Option offen steht, bin ich noch aktiv wach. Anders das negative Stellungnehmen. Hier geht es nicht um ein vernehmendes Einlassen auf anderes, sondern um Distanz. Etwas vom Bewusstsein und Bewusstwerden abzuhalten bedeutet auch, für anderes offen zu sein. So sehr wir das positive Stellungnehmen von der zuwendenden Aufmerksamkeit unterscheiden mussten, so wenig können wir das negative mit der abwendenden gleichsetzen. Das Abwenden ist ein Nicht-Zuwenden, ein Abwenden der Zuwendung, und setzt diese ursprünglich voraus. 415 Anders beim Stellungnehmen: Ich muss nicht erst in etwas versenkt sein, damit ich das Bewussthaben verneinen kann. Dennoch sind positives und negatives Stellungnehmen Gegensätze. Im negativen will ich mich gerade nicht auf das einlassen, was auf mich eindringt, will nicht darin aufgehen, sondern im Gegenteil 415

Vgl. Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, a. a. O., S. 139.

314 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Modi des aktiven Wachseins

mich seiner Zudringlichkeit entziehen. Das negative Stellungnehmen erschöpft sich jedoch nicht darin, bloß Negation des positiven zu sein: Ich will mich nicht nur nicht in etwas versenken, ich will es schon gar nicht bewusst haben. Das ist mehr als eine Sistierung positiven Stellungnehmens: Ich will den störenden Lärm gar nicht erst hören oder den Triebimpuls unterdrücken, der mich von etwas abzuhalten droht, das ich tun will. Das Ziel meines Wollens stimmt anfänglich mit dem des Widerstrebens gegen Widerfahrnisse weitgehend überein, aber das Widerstreben verändert sich, wenn es absichtlich wird. Auch das Ziel ist nicht mehr dasselbe, es geht jetzt nicht mehr darum, generell nicht betroffen zu werden, sondern darum, etwas Bestimmtes nicht bewusst zu haben. Im positiven Stellungnehmen will ich etwas bewusst haben und mich allenfalls darin versenken, im negativen will ich, dass etwas nicht bewusst sei. In ihm muss ich das Gegenteil von dem können, was ich im positiven kann: nicht mich an etwas hingeben, sondern es ablehnen und allenfalls unterdrücken. Positives und negatives Stellungnehmen sind immer zusammen im Spiel, wobei das negative meist als Mittel des positiven dient. Will ich etwas weiterhin bewusst haben, muss ich verhindern, dass anderes an seine Stelle tritt. Das ist ohne negatives Stellungnehmen nicht zu machen. Ob dieses wieder absichtlich sein muss, mag man zu Recht bezweifeln, denn wenn wir etwas im Bewusstsein festhalten wollen, stellt sich das dazu erforderliche negative Stellungnehmen meist von selbst ein. Dies gilt auch dann, wenn sich das positive Stellungnehmen zu einem Versenken und Aufgehen in etwas steigert. Darin liegt ein Anspruch auf Ausschließlichkeit: Ich will nur noch dieses Eine bewusst haben und nichts anderes. Das ganze Bewusstseinsfeld engt sich auf dieses ein, was nur möglich ist, wenn ich von allem anderen absehe. Wollte ich auch noch dieses Eine nicht mehr bewusst haben und gelänge dies, so wäre mir nichts mehr bewusst. Vermutlich würde ich in der Folge einschlafen. 416 Positives Stellungnehmen scheint nicht ohne negatives möglich zu sein, wogegen das negative sehr wohl ohne das positive auskommt. Natürlich setzt auch dieses voraus, dass mir etwas bewusst ist, aber nicht, dass ich zu ihm positiv Stellung nehme. Hinsichtlich des Könnens unterscheiden sich beide Weisen des 416 Dies dürfte der Normalfall sein. Ob es durch geeignete Meditation möglich ist, wach zu sein, ohne etwas bewusst zu haben, möchte ich hier offen lassen. Vgl. dazu: G. Böhme: Bewusstseinsformen, München 2014.

315 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

Stellungnehmens. Was zunächst das Festhalten-Wollen betrifft, so können wir etwas nur dann als dasselbe im Strom des Bewusstseins festhalten wollen, wenn es pathisch vergegenwärtigt ist. Positives Stellungnehmen kann Verschiedenes bedeuten, aber was ich dabei jeweils können muss, besteht in Variationen desselben Könnens. Immer will ich mich mit etwas verbinden, das schon pathisch bewusst ist. Ich will also nur einen bereits bestehenden Zustand des Bewussthabens aufrechterhalten oder in seiner Intensität steigern, also mich in das versenken, was mir bewusst ist. Dieses Sich-Versenken und Sich-Verlieren unterscheidet sich vom einfachen positiven Stellungnehmen nur durch die Intensität des Sich-Verbindens. Es bleiben damit zwei entgegengesetzte Weisen des Stellungnehmens, das positive und das negative. Im einen will ich mich mehr oder weniger mit dem verbinden, was mir bewusst ist, im anderen will ich mich davon trennen oder es von mir abhalten. Im positiven und negativen Stellungnehmen können wir Verschiedenes, dennoch möchte man sagen, diese Verschiedenheit beschränke sich darauf, im einem zu bejahen, was wir im anderen verneinen, so dass wir, wenn wir das eine können, auch das andere können. Aber das ist schon darum falsch, weil wir im positiven Stellungnehmen nicht einfach das pathische Bewussthaben bejahen, das schon besteht, und es im negativen nicht einfach verneinen. Indem ich entscheide, etwas pathisch Bewusstes bewusst haben zu wollen, bleibt dieses nicht pathisch bewusst, vielmehr ändert sich die Weise, wie ich es bewusst habe. Wäre das bloß ein Bejahen, bliebe alles beim Alten. Ich hätte weiterhin etwas pathisch bewusst, aber eben das ist nicht der Fall. Etwas pathisch bewusst haben wollen ist kein pathisches Bewussthaben. Und was ich da will, ist paradox: Ich will etwas erleiden, will von ihm betroffen werden. Wie ist es, in dieser paradoxen Weise wach zu sein, und was geschieht dabei mit dem pathischen Wachsein? Denken wir uns ein Beispiel dazu: Ich sehe unter mir eine Landschaft mit Hügeln und Tälern, in denen feine Nebelschwaden hängen, die durch den Wind ihre Lage verändern, wie es manchmal nach einem Regen eintritt, wenn es wieder aufklart. Ich will nicht beobachten, was da geschieht, sondern es in einer ästhetischen Einstellung auf mich wirken lassen. Ich lasse alles so, wie es ist, ohne dem irgendetwas beizufügen. Ich bin in einer Haltung hingegebenen Zulassens. Zunächst unterscheidet sich dieses Bewussthaben von einem pathischen nur dadurch, dass ich einen Bewusstseinszustand aufrecht316 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Modi des aktiven Wachseins

erhalten will, der ohne mein Wollen rasch vorüberginge und von anderem, das sich vordrängt, verdrängt würde. Ich will, dass geschieht, was geschieht, ich will es zulassen, dafür habe ich mich entschieden, d. h. ich habe Stellung dazu genommen. Das verändert das pathische Wachsein: Ich fühle mich nicht mehr betroffen, denn wenn ich betroffen werden will, erfüllt das Betroffensein mein Wollen ohne mein Widerstreben merklich zu frustrieren. Das gewollte Betroffensein frustriert auch mein Widerstreben, aber diese Frustration ist gewollt, sie erfüllt mein Wollen und befriedigt es. Dieses Gefühl der Befriedigung ist ein Gefühl zweiter Ordnung. Ich genieße absichtlich die Weise, in der sich die Landschaft und das, was in ihr geschieht, sich mir aufdrängen. Im Gefühl der Befriedigung dieses Wollens müssen wir das Wachsein im positiven Stellungnehmen sehen, genauer: das Wachsein im Sinne des Bei-Bewusstsein-Seins. Entsprechend sind wir im Sinne der Bereitschaft zu bewusstem Erleben wach, wenn wir hoffen, in dieser Weise positiv Stellung nehmen zu können, oder fürchten, es nicht zu können. Ob dieses Hoffen aufkommt, hängt, wie sich noch zeigen wird, von der Festigkeit meines Wollens ab, denn im Hoffen müssen wir einen Indikator für die Intensität des Wollens sehen. 417 Behält man im Auge, was oben über die motivierende und weckende Rolle des Hoffens gesagt wurde, wird man sich darüber nicht mehr allzu sehr wundern. Diese Weise, wach zu sein, ist nur im positiven Stellungnehmen möglich, das negative ist befriedigt, wenn das, was mir pathisch bewusst ist, nicht mehr bewusst ist. Was ich da kann, wenn es gelingt, ist etwas ganz anderes als beim positiven Stellungnehmen. Das negative Stellungnehmen ist nicht die Verneinung des positiven. Ich kann zu jedem bewussten Gehalt negativ Stellung nehmen, ich muss nicht zu ihm positiv Stellung genommen haben. Wenn es gelingt, ist das Bewussthaben nicht bloß verneint, es besteht nicht mehr. Wir müssen im negativen Stellungnehmen eine eigene Weise des Könnens sehen, die sich vom positiven eben dadurch unterscheidet, dass auf seine Initiative hin ein bestehendes Bewusstsein von etwas verschwindet. Man muss allerdings zugeben, dass sich dieses Können nicht in einem Machen realisiert: Wie das positive Stellungnehmen darin besteht, zuzulassen, was mich betrifft, so beschränkt sich das negative darauf, etwas pathisch Bewusstes nicht bewusst haben zu 417

Siehe unten S. 412 ff.

317 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

wollen, und zu hoffen, dass das gelinge. Wird dieses Hoffen erfüllt, so ist auch das etwas, das geschieht, aber auch dieses Geschehen ist eines, das wir gewollt haben, so dass man annehmen kann, es sei durch das Wollen induziert. Aber ob es gelingt, liegt nicht in unserer Macht, und wenn es gelingt, verdankt sich das oft weniger dem Umstand, dass wir etwas nicht bewusst haben wollen, als dem anderen, dass wir an seiner Stelle etwas anderes bewusst haben wollen, und das negative Stellungnehmen nur dazu dient, dies zu ermöglichen. Der Modus des Wachseins im Stellungnehmen ist damit durch ein zweifaches Können bestimmt: Im positiven Stellungnehmen können wir etwas bewusst haben, es festhalten und uns darin versenken; im negativen können wir etwas nicht bewusst haben. Das Können, welches das negative Stellungnehmen bestimmt, kann mit noch weniger Recht als das des positiven als ein Können im Sinne eines Machens verstanden werden, da es nicht durch ein Tun, sondern durch ein Geschehen realisiert wird. Dies ist nicht zufällig, sondern gehört notwendig zu dem, was ich da will, da das negative Stellungnehmen auf keine andere Weise erfüllt werden kann. Darum ist diese Weise der Erfüllung bestimmend für das Wachsein im Sinne des Bei-Bewusstsein-Seins im negativen Stellungnehmen. Das negative Stellungnehmen wird befriedigt, wenn das nicht mehr bewusst ist, was ich nicht bewusst haben will. Dabei fühle ich, dass diese Erfüllung nicht mein Verdienst ist. Dieses Nicht-Bewussthaben ist keine Leere an Bewusstsein, sondern ein abklingendes retentionales Bewusstsein des eben Vergangenen. Das Wachsein im Sinne der Bereitschaft zu bewusstem Erleben müssen wir im Hoffen sehen, negativ Stellung nehmen zu können, oder in der Furcht, es nicht zu können.

5.2

Aufmerksamkeit im Allgemeinen

Vom absichtlichen Stellungnehmen müssen wir die absichtliche Aufmerksamkeit unterscheiden. Aufmerksam können wir auf solches sein, das in sehr unterschiedlicher Weise bewusst ist, nicht nur auf Wahrgenommenes, auch auf Vorgestelltes und Gedachtes, auf Gefühle, Stimmungen und Schmerzen. Waldenfels zählt die Aufmerksamkeit zu den »nomadischen Begriffen, die nirgends recht sesshaft werden.« 418 Sie habe etwas von einem Geschehen, einem Ereignis, einem 418

B. Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, a. a. O., S. 9.

318 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Modi des aktiven Wachseins

Akt, einer Disposition, einem Können, einer Pflicht und einem Geschenk. Auf all dies einzugehen ist hier nicht der Ort. Es scheint mir jedoch unumgänglich, die absichtliche Aufmerksamkeit gegen die unabsichtliche und gegen das Stellungnehmen abzugrenzen. Beruht die pathische Aufmerksamkeit beim Wahrnehmen darauf, dass etwas Wahrgenommenes lockt und die Aufmerksamkeit diesem Locken folgt, ohne von mir gelenkt zu werden, so bewegt sich auch die aktive Aufmerksamkeit auf einem Untergrund von pathisch Bewusstem. Sie ist nicht ein beliebiges da- oder dorthin Blicken, wie das beliebte Bild vom Scheinwerfer suggeriert. Darauf angewiesen, dass ihr etwas entgegenkommt, das wahrgenommen, gefühlt, phantasiert oder gedacht wird, geht auch sie, wie das Stellungnehmen, von etwas aus, das mir auffällt, nur folgt nun nicht ein tendenzielles SichVersenken, sondern ein Aufmerken. Schon die pathische Aufmerksamkeit enthält eine Art Antwort auf das, was mir entgegenkommt, aber eine, die noch nicht durch Absichten bestimmt ist. Zu ihr gehören Erwartungen, die selber pathisch sind und erfüllt oder enttäuscht werden. Im Unterschied dazu ist die aktive Aufmerksamkeit kein Geschehen, das wir mehr oder weniger zu erleiden haben. Sie frustriert nicht ein Widerstreben gegen Widerfahrnisse, sondern befriedigt ein mentales Wollen. Wir wollen etwas unaufmerksam Bewusstes aufmerksam bewusst haben. Allerdings hängt auch hier das Gelingen nicht allein von unserem Wollen und Können ab, sondern ebenso von dem, was uns entgegenkommt. Das Auffällige zieht an oder stößt ab. Dem entspricht beim Aufmerken ein Zuwenden oder Abwenden. Wie Waldenfels bemerkt, ist das Auffälligwerden so wenig ein bloß objektiver Vorgang wie das Zu- oder Abwenden ein nur subjektiver Erkenntnis- oder Willensakt. Diese sind nicht nur Selbstbewegungen, sondern auch Fremdbewegungen, wie die Eigenbewegung zugleich ein Bewegtwerden bedeutet. »Mein Machen ist ein Mitmachen, und dies nicht nur dort, wo ich Verlockungen nachgebe, sondern auch dort, wo ich ihnen mein Nein entgegensetze.« 419 Dabei besteht die entscheidende Ichstärke nach Waldenfels darin, dass ich Fremdes aushalte und an mich heranlasse. Das ist nicht ein Überwältigtwerden durch ein Widerfahrnis, sondern ein willentliches Herankommenlassen und Eingehen auf das, was auf mich zukommt. Mal liegt in diesem Mitmachen die Be-

419

Ebd., S. 100.

319 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

tonung mehr auf dem Mit, mal mehr auf dem Machen, ein bloß Gemachtes kann das aufmerksam Bewusste bei aller Aktivität nicht sein. Dieses Eingehenwollen auf das, was auf mich zukommt, nimmt sich jedoch anders aus als beim positiven Stellungnehmen. Ich will nicht in etwas aufgehen, sondern etwas bemerken und beachten. Das führt zu einem anderen Zusammenspiel mit dem, was mir widerfährt, als beim Stellungnehmen. Ich will etwas vorziehen und anderes zurückstellen, was der Aufmerksamkeit einen ausschließenden Charakter verleiht: Sie hebt etwas aus einem Bewusstseinsfeld heraus, macht es zum alleinigen Gegenstand zuwendenden Bewusstseins und sieht von anderem ab. Dem Stellungnehmen fehlt dieser ausschließende Charakter. Entweder ist das, zu dem ich Stellung nehme, schon von anderem abgehoben, oder es ist solches, das nebenher bewusst ist und dann oft als störend empfunden wird, so dass ich es von mir abhalten will. Sowohl beim positiven Stellungnehmen wie bei der Aufmerksamkeit will ich etwas bevorzugt bewusst haben. Nehme ich positiv Stellung, will ich es allein bewusst haben, mich allenfalls darin versenken. Bin ich auf etwas aufmerksam, will ich es durch Zuwendung und beim Wahrnehmen durch die ihm folgenden kinästhetischen Bewegungen aus meinem Bewusstseinsfeld hervorheben. Dieser Zug des Abhebens gegen anderes fehlt dem Stellungnehmen, wogegen das absichtliche Zu- und Abwenden ein positives und negatives Stellungnehmen enthält. Ich will etwas bevorzugt bewusst haben und anderes von diesem bevorzugten Bewussthaben ausschließen. Nur geht das Erstere nicht in ein Versenken über, sondern in ein Näherbestimmen und Erfassen des Gegenstandes, wie am aufmerksamen Wahrnehmen deutlich wird. Da verbinde ich mich nicht nur mit dem Wahrgenommenen und sehe von anderem ab, ich nehme jetzt erst eigentlich willentlich wahr, indem ich eine Vielzahl absichtlicher kinästhetischer Bewegungen vollziehe. Ich will auf das hinblicken, was mir auffällt, will darauf zugehen, es drehen oder wenden oder darum herumgehen. Das erfordert offensichtlich ein anderes Können, als sich mit etwas Wahrgenommenem zu verbinden, und so dürfen wir vermuten, wir seien im aufmerksamen Wahrnehmen in anderer Weise wach als im Stellungnehmen. Nicht nur hintergründig Bewusstes kann aufmerksam bewusst werden, sondern alles, was zum Horizont eines Dinges gehört, also auch seine ungesehenen, bloß leer vermeinten Seiten 420, ebenso das, 420

Vgl. Hua III/1, S. 57.

320 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Modi des aktiven Wachseins

was den zeitlichen Horizont ausmacht, wie die protentionalen leeren Vorzeichnungen des eben Kommenden. 421 Wahrgenommenes wie Vergegenwärtigtes enthalten eine Vielzahl solcher Verweise. Einen Gegenstand wahrnehmend kann ich eine jetzt nicht sichtbare Seite sichtbar werden lassen, indem ich ihn drehe, wende oder um ihn herumgehe. Ich kann aus einer Vielzahl protentionaler Ansätze auswählen, mich entscheiden, was ich weiter verfolgen oder auf sich beruhen lassen will. Was immer an solchen Verweisungen mit dem Wahrgenommenen verbunden ist, kann durch Zuwendung aufmerksam bewusst werden. Husserl hat Aufmerksamkeit als intentionale Modifikation verstanden, als »attentionale Wandlung« 422, was voraussetzt, dass ein Sinn schon konstituiert ist, der sich wandeln kann. Durch Zuwendung hebt sich das Konstituierte gegen anderes ab und kann, soweit es noch leer vermeint ist, im Fortgang des Wahrnehmungsprozesses zur Erfüllung gebracht werden. Wollen wir leer Vermeintes zu anschaulicher Gegebenheit bringen, müssen wir es absichtlich und aufmerksam wahrnehmen im Vollziehen absichtlicher kinästhetischer Bewegungen. Weil ich wissen will, was das ist, was dort in der Zimmerecke liegt, gehe ich hin, hebe es auf, drehe es nach allen Seiten usw. Was dabei jeweils erscheint, geschieht mir. Aufmerksames Wahrnehmen ist kein schöpferischer Prozess, es ist rezeptiv. Doch was erscheint, erscheint so, wie es erscheint, weil wir es so erscheinen lassen, und das willentlich. Erst hier, und nicht schon beim pathischen Erscheinen, enthält die Rezeptivität einen Zug des Zulassens. Dieses Wollen ist beständig dabei, es motiviert die Kinästhesen, die Mittel sind, damit das zur Erscheinung kommt, was wir erscheinen lassen wollen. Dabei nimmt es sich ähnlich paradox aus, wie das Wollen beim Stellungnehmen: Ich will, dass mir etwas geschieht, das und das soll erscheinen (die Rückseite, das, was als nächstes sich ereignet usw.), aber es erscheint nur, wenn ich meinen Leib absichtlich in dienlicher Weise bewege. Mein Wollen motiviert beständig kinästhetische Bewegungen, das macht die willentliche Seite der aktiven Aufmerksamkeit aus. Die andere ist insofern paradox, als ich will, etwas möge sich von sich her zeigen. Ich will nicht etwas erzeugen, sondern zur Erscheinung bringen. Man möchte meinen, Aufmerksamkeit sei so wenig produktiv 421 422

Vgl. Hua I, § 19. Hua III/1, S. 211.

321 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

wie das Stellungnehmen, denn was in ihr bewusst wird, ist es schon zuvor gewesen, nur eben unaufmerksam, d. h. als Teil eines Ganzen, ohne aus diesem hervorgehoben zu sein. Betrachte ich ein Gemälde, so kann ich es zunächst als Ganzes auf mich wirken lassen und mich dann diesem oder jenem Teil zuwenden. In diesem Zuwenden-wollen wirkt sich dieselbe Sympathie aus, die schon im Stellungnehmenwollen am Werk war. Gleichzeitig nehme ich zum Übrigen negativ Stellung, sehe davon ab. Das setzt voraus, dass schon im Betrachten des Ganzen einzelne Teile sich voneinander abheben. Dies gilt nicht weniger für die Fälle, wo die Aufmerksamkeit auf etwas geht, das nur beiläufig nebenher bewusst ist und zum Hintergrund eines Dinges gehört. Auch da muss sich das, dem wir unsere Aufmerksamkeit schenken wollen, wenigstens andeutungsweise schon gegen anderes abheben, sich irgendwie bemerkbar machen und auffällig werden. Das geschieht pathisch und macht erst ein Aufmerken möglich. 423 Aufmerksamkeit hat ihre Voraussetzungen. Sie kann aber auch mehr, als nur das zur Klarheit zu bringen, was unaufmerksam, vielleicht bloß nebenher bewusst ist. Dies kommt in den Blick, wenn das Gegeneinanderspielen von mentalem Wollen und Widerfahrnis den Charakter eines Suchens und Findens annimmt. Das Suchen geht von einer Frage aus, die im Finden ihre Antwort erfährt. Die Antwort enthält mehr als die Frage, sonst würden wir immer nur finden, was wir zuvor schon gewusst haben. Aufmerksamkeit bereichert unser Wissen, aber nicht, weil sie etwas schafft oder erzeugt, sondern weil sie dem, was uns begegnet, nachzuspüren weiß. Zu Recht weist Waldenfels darauf hin, man könne in dieser Hinsicht eine primäre oder kreative von einer sekundären oder repetitiven Form von Aufmerksamkeit unterscheiden. 424 Zur ersten gehört kreative Sinnstiftung und damit Erfahrung, die über das hinausgeht, was wir eh schon wissen. Sie macht Anderes und Weiteres möglich, das nicht bereits potentiell angelegt ist. Die zweite verwirklicht nur, was in Programmen, Deutungsschemata oder Kategorien vorgezeichnet ist. Ihr entspricht das Bild vom Scheinwerfer, der auf das gerichtet wird, was wir genauer sehen wollen. Darauf darf aktive Aufmerksamkeit nicht beschränkt werden, zu ihr gehört auch der hingebende, hinblickende Zug, der nicht von bestimmten Erwartungen gelenkt wird. 423 Vgl. Husserl, EU, S. 80, 86; dazu: Waldenfels, Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 66. 424 Waldenfels, a. a. O., S. 117.

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Modi des aktiven Wachseins

Was machen wir, wenn wir auf etwas aufmerksam sein wollen, was müssen wir dazu können und wie unterscheidet sich das vom Können des Stellungnehmens? Beide Mal kann ich etwas anderes. Wenn ich mich auf etwas einlasse und mich darin vertiefe, so intensiviert sich das Erleben, aber ich erfahre nicht mehr als ohne Stellungnahme. Anders beim Aufmerksamsein, da kann es Neues geben, solches das zuvor nicht bewusst war. In kognitiver Hinsicht können wir mehr als beim positiven Stellungnehmen, dafür können wir in diesem etwas anderes als im Aufmerksamsein. Das Bejahen von etwas und Aufgehen in ihm erfolgt, wie das aufmerksame Wahrnehmen, nicht ohne meinen Willen, auch wenn beides auf Pathisches angewiesen ist. Im Stellungnehmen kann ich etwas, was ich, wenn ich auf etwas aufmerksam bin, nicht kann, und umgekehrt. Allerdings sei daran erinnert, dass zum Aufmerken ein Stellungnehmen gehört. Wir müssen Stellung nehmen können, damit wir aufmerksam sein können, denn im Zuwenden will ich etwas bewusst haben, im Abwenden etwas nicht bewusst haben. Erst das weitergehende Sich-versenken in etwas schließt Aufmerksamkeit aus. Wenn wir auf etwas aufmerksam sein können, können wir auch zu etwas Stellung nehmen. Aber gilt auch das Umgekehrte? Aufmerksames Wahrnehmen erfordert absichtliche Kinästhesen, und die bringen wir nicht zustande, wenn wir bloß Stellung nehmen können. Zudem kann ich mich nur in etwas versenken, das selbst erscheint und anschaulich gegeben ist, bei bloß leer Vermeintem kann das nicht gelingen. Unanschauliches lässt sich durch bloßes Stellungnehmen nicht zu anschaulicher Gegebenheit bringen. Eben dies vermag die Aufmerksamkeit, jedenfalls im Wahrnehmen. Leeren Verweisungen folgend kann ich durch entsprechende kinästhetische Bewegungen das leer Vermeinte anschaulich werden lassen. Im Zuwenden der Aufmerksamkeit können wir entschieden mehr als im Stellungnehmen. Will ich mich etwas Gegebenem zuwenden, so will ich es zunächst bewusst haben. Insofern schließt dies positives Stellungnehmen ein, aber Aufmerksamkeit geht darüber hinaus. Auf etwas aufmerksam sein, ist kein vertieftes Bewussthaben, sondern eines, in dem ich etwas gegenüber anderem bevorzuge. Vielleicht soll etwas Undeutliches deutlich bewusst werden, etwas Verschwommenes sich klar gegen anderes abheben oder eine zuvor ungesehene Seite soll zur Gegebenheit kommen. Dies ist mehr als das, was ich kann, wenn ich mich in etwas Bewusstes versenke. Absichtliches Aufmerksamsein unterscheidet sich aber schon darum vom absichtlichen Stellungneh323 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

men, weil bei ihm der Gegenstand des Wollens in zwei Aspekten bewusst ist: In der Absicht ist er anders intendiert, als wenn die Absicht erfüllt wird. Der erste Aspekt fungiert als Wegweiser, der zum zweiten führt, den wir suchen. Darum gibt es im Gegensatz zum Stellungnehmen auch ein Suchen und Finden und in gewissen Umfang auch Regeln für das, was zu tun ist, wenn wir etwas aufmerksam bewusst haben wollen. Fällt mir etwas in meinem Sehfeld auf, das nur undeutlich bewusst ist, so kann ich mich ihm zuwenden wollen, d. h. ich will es gegenüber seiner Umgebung hervorheben und zu klarem Bewusstsein bringen. Dazu muss ich allenfalls den Blick wenden, vielleicht auch näher herangehen usw. Analoges gilt modifiziert auch für die entsprechenden imaginären Bewegungen im imaginären Raum der Erinnerung. So verlockend es sein mag, das für das Aufmerksamsein erforderliche Können in echten oder quasi kinästhetischen Bewegungen zu sehen, so kann man doch nicht darüber hinwegsehen, dass damit die Rezeptivität übergangen und die Aufmerksamkeit auf das absichtliche Wahrnehmen und Vergegenwärtigen beschränkt würde, so dass die des unanschaulichen Meinens und Denkens keine Berücksichtigung fände. Wollen wir auch diese einbeziehen, müssen wir uns darauf besinnen, dass die kinästhetischen Bewegungen und unter ihnen insbesondere die »Blickwendungen« paradigmatisch für Intentionalität im Allgemeinen sind. So fasst Husserl Aufmerksamkeit als »ein zur Wesensstruktur eines spezifischen Aktes des Ich […] gehöriges Tendieren des Ich auf den intentionalen Gegenstand hin, auf die immerfort im Wechsel der Gegebenheitsweise ›erscheinende‹ Einheit, und zwar als ein vollziehend-Tendieren.« 425 Dieses Tendieren auf den Gegenstand hin versteht er als eine Tendenz zu zunehmender Erfüllung. »Der Anfang hat also einen intentionalen Horizont, er weist über sich hinaus in einer leeren, erst in nachkommenden Verwirklichungen anschaulichen Weise« 426. Aufmerksamkeit dient nicht nur dazu, einen Gegenstand aus einem Hintergrund hervorzuheben, sondern auch dazu, sich auf einen intentionalen Gegenstand unter unterschiedlichen Aspekten und in unterschiedlichen Akten nicht nur des Wahrnehmens, sondern auch des Vergegenwärtigens und Denkens zu beziehen. Versucht man einen allgemeinen Begriff der Aufmerksamkeit zu 425 426

Husserl, EU, S. 85. Ebd.

324 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Modi des aktiven Wachseins

fassen, so muss man sie als eine besondere Weise der Intentionalität verstehen. Danach sind wir dann aufmerksam auf einen Gegenstand gerichtet, wenn er uns über eine Zeitspanne hinweg in Akten zunehmender Erfüllung gegeben ist. Das sind Akte absichtlichen Wahrnehmens, Erinnerns, Phantasierens oder Denkens, und so muss man sich fragen, ob das, was wir in absichtlicher Aufmerksamkeit wollen, sich von dem unterscheidet, was wir in den genannten Akten wollen. Mir scheint, beides falle zusammen: Absichtlich auf etwas aufmerksam sein, heißt soviel wie absichtlich etwas wahrnehmen, vergegenwärtigen oder denken. Aktives Bewusstsein ist immer aufmerksam. Will ich etwas wahrnehmen, so ist das Wahrzunehmende in der Absicht unter einem bestimmten Aspekt intendiert und damit von anderem unterschieden. Beim Vergegenwärtigen und Denken ist das nicht anders. Will ich etwas erinnern, so ist es durch die Absicht so weit bestimmt, dass ich mich eindeutig darauf beziehen kann. Will ich einen Gedanken fassen, so ist dieser durch einen Aspekt bestimmt, den ich in der Absicht festhalte. Immer will ich ein so und so Bestimmtes in diesen Akten bewusst haben. D. h. aber: Was immer wir bewusst haben wollen, wir wollen es aufmerksam bewusst haben, und nicht als ein bloß nebenbei Bewusstes oder leer Vermeintes. Das ist vorerst nur eine Behauptung, wir müssen sehen, welche Gründe dafür sprechen. Etwas ist aufmerksam bewusst, wenn es gegen anderes, einen »Hintergrund«, abgehoben ist. Das gilt aber, wie wir gesehen haben, in einem gewissen Sinn, auch für das unaufmerksam Bewusste, nämlich dann, wenn es unsere Aufmerksamkeit erregt und auffällig wird. So ist es noch nicht aufmerksam bewusst oder höchstens in einem ganz anfänglichen Sinne. Ist etwas aufmerksam bewusst, kann es pathisch oder aktiv bewusst sein. In beiden Fällen gilt: Wenn etwas aufmerksam bewusst ist, gibt es anderes, das unaufmerksam bewusst ist, und umgekehrt: Wenn etwas unaufmerksam bewusst ist, gibt es wenigstens etwas, das aufmerksam bewusst ist. Was bedeutet das für die willentliche Aufmerksamkeit? Will ich etwas unaufmerksam Bewusstes (im obigen relativen Sinne von »unaufmerksam«) aufmerksam bewusst haben, muss es anderes geben, das aufmerksam bewusst ist. Dieses kann pathisch oder aktiv bewusst sein. Ist es aktiv bewusst, wie steht es dann um das zugehörige unaufmerksam Bewusste, ist dieses ebenfalls aktiv bewusst? Gibt es unaufmerksam Bewusstes, das aktiv bewusst ist? Kann es das geben? Wenn das aktiv bewusst ist, für dessen Bewussthaben wir uns entschieden haben, muss die Antwort »nein« lauten. Was zum hin325 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

tergründig bewussten Hof eines aufmerksam Bewussten gehört, kann nicht etwas sein, dessen Bewussthaben gewollt ist. Wohl können wir es bewusst haben wollen, aber vor der Zuwendung ist es in einer Weise bewusst, die nicht gewollt ist. Das unaufmerksam Bewusste ist pathisch bewusst, auch wenn das zugehörige aufmerksam Bewusste aktiv bewusst ist. Will ich es aufmerksam bewusst haben, muss ich es bewusst haben wollen. Das ist nicht nur ein »Verschieben« der Aufmerksamkeit, sondern ein absichtliches Bewussthaben. Will ich etwas nur nebenbei Bemerktes aufmerksam wahrnehmen, so will ich es wahrnehmen, und etwas wahrnehmen (oder vergegenwärtigen oder denken) wollen heißt, etwas Bestimmtes wahrnehmen (oder vergegenwärtigen oder denken). Eine Absicht muss so weit bestimmt sein, damit klar ist, was wir da überhaupt wollen. Dieses muss gegen anderes abgegrenzt sein. D. h.: Wenn wir etwas bewusst haben wollen, wollen wir es aufmerksam bewusst haben. Absichtlich aufmerksam sein können wir nicht in einem Erleben, das nur pathisch möglich ist, also weder im Traum noch im Tagtraum, auch nicht in Strebungen und Gefühlen, sondern nur im Wahrnehmen, Erinnern, Phantasieren und Denken. Aber da fällt das Aufmerksamsein-Wollen mit dem Wahrnehmen-, Erinnern-, Phantasierenoder Denken-Wollen zusammen. Nehme ich etwas willentlich wahr, so ist es mir aufmerksam bewusst. Will ich die Aufmerksamkeit auf etwas nebenbei Bemerktes, das lockt, verschieben, so will ich das, was lockt, wahrnehmen. Die willentliche Verschiebung der Aufmerksamkeit beim Wahrnehmen ist nichts anderes als ein erneutes willentliches Wahrnehmen. Das ist beim Erinnern, Phantasieren und Denken nicht anders. Das lässt uns annehmen, es gebe keinen eigenen Modus des Wachseins in absichtlicher Aufmerksamkeit. Dieser fällt mit den Modi des Wachseins im absichtlichen Wahrnehmen, Vergegenwärtigen oder Denken zusammen.

5.3

Das Wachsein im absichtlichen Wahrnehmen

Da wir im absichtlichen Wahrnehmen immer auch auf etwas aufmerksam sind, ist zu diesem Thema im letzten Kapitel schon einiges gesagt worden. Im Folgenden geht es vor allem darum hervorzuheben, wodurch sich das willentliche vom unwillentlichen, also pathischen Wahrnehmen, unterscheidet, und wie das Verhältnis beider zu326 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Modi des aktiven Wachseins

einander bestimmt ist. Weiter ist auch hier der Frage nachzugehen, worin das Können besteht, das für den Modus des Wachseins im absichtlichen Wahrnehmen kennzeichnend ist. Das für das aktive Stellungnehmen maßgebende Können hat sich als eines herausgestellt, das mehr einem Geschehen als einem Können gleicht. Für das aktive Wahrnehmen ist Ähnliches zu erwarten, da auch dieses sich nicht in einem bloßen Machen realisiert. Wer es sich zur Aufgabe macht, dieses Können zu bestimmen, sieht sich bald mit der Schwierigkeit konfrontiert, das Wahrnehmen gegen andere Bewusstseinsweisen abzugrenzen, die kein Wahrnehmen sind. So erscheint es als reichlich lebensfern, ein auf das bloße aktive Wahrnehmen beschränktes Können herausfiltern zu wollen. Im alltäglichen Leben ist das Wahrnehmen durch die ganze Bandbreite aktiven Bewusstseinslebens mitbestimmt: Es ist mit Vergegenwärtigungen, Begriffen, Urteilen und Schlüssen durchsetzt. Aktives Wahrnehmen ist nicht, wie das pathische, ein von selbst ablaufendes Geschehen, es beruht auf Entscheidungen und Absichten und unterliegt mehr oder weniger unserer Kontrolle. Die Absichten, die wir dabei haben, sind durch Begriffe bestimmt und hängen von prädikativen Urteilen und Schlüssen ab. Wir wollen z. B. etwas Bestimmtes beobachten, weil das ein Mittel für anderes ist, das wir gleichfalls wollen usw. Wenn wir annehmen, wir seien im bloßen sinnlichen Wahrnehmen in anderer Weise wach als im Vergegenwärtigen oder Denken, dann müssen wir das aktive Wahrnehmen aus der Verflochtenheit mit diesen künstlich lösen. Das ist eine Abstraktion, die nur dem Zweck dient, verschiedene Weisen des aktiven Wachseins unterscheiden zu können, die im wirklichen Leben immer zusammenspielen. Denken wir uns ein Bewusstsein, das nur soweit aktiv wach ist, als es Stellung nehmen und absichtlich wahrnehmen kann, dem aber die Fähigkeit zu vergegenwärtigen und prädikativ zu denken abgeht, so stehen wir vor einem noch schwerwiegenderen Problem: Ein solches Bewusstsein für sich isoliert zu denken, wäre nicht nur lebensfern, es fragt sich auch, ob es ohne Vergegenwärtigung und Urteilen überhaupt funktionieren könnte. Das aktive Wahrnehmen ist wie das pathische ein Wahrnehmen, d. h. ein Bewusstsein originärer »leibhaftiger« (wie Husserl sagt) Gegebenheit. Aber im Unterschied zum pathischen ist das aktive mit absichtlicher Aufmerksamkeit verbunden: Wir können uns willentlich zuwenden oder abwenden. Wenn in einem Sehfeld Verschiedenes lockt, so kann ich mich entscheiden, welchem ich mich zuwenden will, bin ich nur pathisch wach, ist das 327 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

nicht möglich. Bloßes Angelocktwerden kann man freilich noch kein Wahrnehmen nennen. Folgen wir Husserl, muss das, von dem ein Reiz ausgeht, erst als etwas aufgefasst werden. Erst das intentionale originäre Gegebensein von etwas als etwas ist ein Wahrnehmen. Dieses Auffassen, durch das auch das pathische Wahrnehmen erst zu einem Wahrnehmen wird, ist kein prädikatives Urteilen, sondern gehört der »vorprädikativen Erfahrung« 427 an, einer Erfahrung, die noch ohne explizites Urteilen auskommt. In ihr erscheint ein Gegenstand, der in bestimmter Weise vermeint ist: Etwas ist ein Baum, ein Blatt, eine Laus. Dem muss keine besondere Erkenntnisleistung zugrunde liegen, die meisten Dinge, mit denen wir es zu tun haben, sind uns bekannt, ehe ein aktives Erkennen einsetzt. Wir haben ein »Vorwissen« von ihnen, das unbestimmt sein mag, aber doch nie ganz leer ist. 428 Wenn ein Ding als so und so vermeintes erscheint, dieses Haus da z. B., so erscheint es immer in einer bestimmten Perspektive. Es stellt sich in einer Mannigfaltigkeit möglicher Erscheinungen dar, wobei jede dieser »Abschattungen« einseitig ist. Wir sehen das Haus immer nur von einer Seite, die anderen sind nicht-originär bewusst, sondern bloß mitgemeint. So hat, was eigentlich erscheint, seinen intentionalen Leerhorizont als eine auszufüllende Leere, als bestimmbare Unbestimmtheit. Eine anfängliche Erfahrung verweist auf weitere mögliche Erfahrungen durch Aufdecken der Horizonte, indem wir diesen Verweisungen aufmerksam nachgehen. Dies kann pathisch oder willentlich vor sich gehen. Erfolgt es absichtlich, so ist es zumeist von expliziten Fragestellungen und Begründungen geleitet. Von diesen müssen wir absehen, wenn wir das Können herausarbeiten wollen, das für ein bloß aktives Wahrnehmen notwendig ist. Ein solches, auf das aktive Wahrnehmen beschränktes Subjekt kann zwischen mehreren Lockungen und Verweisungen wählen und sich entscheiden, welchen es weiter nachgehen will, und die dazu notwendigen kinästhetischen Bewegungen des Leibes vollziehen. Aber ist es in seinen Entscheidungen nicht völlig orientierungslos, wenn es nicht über begriffliches Denken verfügt? Diese Bedenken sind insofern berechtigt, als man zugeben muss, dass wir in der Erkundung der Dinge in der Regel ohne Denken nicht so weit kommen wie mit ihm. Aber gänzlich orientierungslos wären wir doch nicht. Schon im pathischen Wahrnehmen ist vieles vorgegeben, was das 427 428

Husserl, EU, S. 21. Ebd., S. 27.

328 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Modi des aktiven Wachseins

Entscheiden und die Aufmerksamkeit unterstützt. Husserl hat gezeigt, dass das bloß sinnlich Gegebene kein chaotisch Mannigfaltiges ist, sondern eine Struktur besitzt, deren Ordnung es dem Entscheiden ermöglicht, sich an ihr zu orientieren. So ist ein Sinnesfeld nicht unstrukturiert, sondern ein Feld, aus dem Einzelnes hervorsticht, das die Wahrnehmung auf sich ziehen kann. Etwas hebt sich gegen anderes ab, z. B. rote Farbflecken gegen einen weißen Hintergrund. Gleichfarbige Flecken kommen miteinander zur Deckung und kontrastieren gegen Andersfarbiges. So scheidet sich Verwandtes und Fremdes. 429 Solche Deckungssynthesen bezeichnet Husserl als »Assoziation« und meint, das »Phänomen der assoziativen Genesis« beherrsche die Sphäre der passiven Vorgegebenheit. 430 Etwas erinnert an etwas und weist so auf anderes hin. Dies ersetzt in diesem Bereich das positive Urteil, das negative hat seinen Vorläufer in der Abgehobenheit gegen anderes. Das pathische Wahrnehmen folgt diesen Abgehobenheiten und assoziativen Verbindungen von selbst. Das aktive kann sich an diesen Strukturen orientieren und sich immer wieder entscheiden, welche Richtung die weitere Erkundung nehmen soll. Solche Verknüpfungen haben nicht die Dignität apodiktischer Urteile, aber der Hinweis auf sie zeigt doch, dass ein aktives Wahrnehmen ohne Vergegenwärtigung und Denken nicht völlig hilflos wäre. Das bedeutet nicht, dass das aktive Wahrnehmen gänzlich ohne Urteile möglich wäre, denn als ein aktives entscheidet es, welchen Verlauf das Wahrnehmen nehmen soll, und Entscheiden ist ein Urteilen. Aber es kann ohne Urteile über das Was-sein dessen, was ihm widerfährt, auskommen. Worin besteht nun das gesuchte Können? Es folgt den Verweisungen des pathisch Gegebenen mit absichtlicher Aufmerksamkeit und orientiert sich dabei an den Abgehobenheiten und assoziativen Verknüpfungen, die schon dem pathisch Bewussten zukommen. Zu diesem Können, das den Modus des absichtlichen Wahrnehmens bestimmt, kommt die Fähigkeit zu dienlichen kinästhetischen Bewegungen hinzu, die dazu führen, dass die Absichten unseres willentlichen Wahrnehmens erfüllt werden. Das Zuwenden ist hier ein buchstäbliches Hinblicken, das Abwenden ein Wegblicken. Wir können mit dem Blick Bewegungen verfolgen und an etwas näher herangehen, um etwas herumgehen oder etwas drehen und

429 430

Ebd., S. 76 f. Ebd., S. 77.

329 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

wenden. Damit unsere Absichten erfüllt werden, müssen wir alle Arten willkürlicher kinästhetischer Bewegungen vollziehen können, durch die anschaulich wird, was wir anschaulich bewusst haben wollen. Wollen wir leer Vermeintes zu anschaulicher Gegebenheit bringen, müssen wir es (oder uns) in eine Situation bringen, in der wir es absichtlich und aufmerksam wahrnehmen können im Vollziehen kinästhetischer Bewegungen. Weil ich wissen will, was das ist, was dort in der Zimmerecke liegt, gehe ich hin, hebe es auf, drehe es nach allen Seiten usw. Aufmerksames Wahrnehmen ist anfänglich pathisch, weil es mit solchem beginnt, das nur nebenbei und hintergründig, und damit noch nicht absichtlich bewusst ist. Aber auch als aktives ist es kein schöpferischer Prozess, sondern rezeptiv. Indem wir entscheiden, welchen Verweisungen es folgen soll, ist das, was erscheint, nicht mehr pathisch bewusst, sondern aktiv. Wir wollen, dass es erscheint, und sein Erscheinen erfüllt unser Wollen und ist darin bewusst. Was erscheint, erscheint so, wie es erscheint, weil wir es so erscheinen lassen, und das willentlich. Dieses Wollen ist beständig dabei. Es ist ähnlich paradox, wie das Wollen beim Stellungnehmen: Ich will, dass mir etwas geschieht, das und das soll erscheinen (die Rückseite oder das, was als nächstes sich ereignet usw.), aber was ich will, erscheint nur, wenn ich meinen Leib absichtlich in dienlicher Weise bewege. Einerseits motiviert mein Wollen beständig kinästhetische Bewegungen, andererseits will ich, dass sich darin etwas von sich her zeigt. Dazu gehört die Fähigkeit, sich auf das, was entgegenkommt, einzulassen, und zwar wiederum willentlich. Dieses Können geht über das des Stellungnehmens hinaus. Es ist nicht Ziel des Wahrnehmens, sich in das zu vertiefen, was pathisch bewusst ist, sondern die Horizonte des Wahrgenommen willentlich und aufmerksam aufzudecken im Vollziehen der dazu dienlichen kinästhetischen Bewegungen und das dabei Wahrgenommene hinzunehmen, wie es sich gibt. Zu diesem Wie gehört auch die volle affektive Kraft des Gegenwärtigens. Was immer wahrnehmend erscheint, betrifft uns und wird pathisch bewusst, aber nun wollen wir es pathisch bewusst haben. Dieses Erleiden hat auch hier das Eigenartige, dass wir es erleiden wollen, insofern ist es doch nicht nur pathisch Darin gleicht es dem positiven Stellungnehmen und unterscheidet es sich vom pathischen Wahrnehmen. Wir wollen etwas Bestimmtes wahrnehmen, und dieses Wollen erfüllt sich im Erleiden des Gewollten. Können wir das, so ist uns etwas in absichtlichem Wahrnehmen bewusst, und dann sind wir in diesem Können 330 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Modi des aktiven Wachseins

wach im Sinne des Bei-Bewusstsein-Seins; wollen wir es können, so fühlen wir dies im Hoffen zu können, was wir da wollen, und im Fürchten, es nicht zu können. Darin besteht das Wachsein im Sinne der Bereitschaft zu bewusstem Erleben.

5.4

Das Wachsein im absichtlichen Vergegenwärtigen

Vom absichtlichen Wahrnehmen unterscheidet sich das willentliche Vergegenwärtigen. Ich will etwas bewusst haben, das nicht gegenwärtig ist, sondern gegenwärtig war oder es sein könnte. Dazu müssen wir uns von dem, was uns gegenwärtig bewusst ist, abwenden und etwas nicht-Gegenwärtigem zuwenden können. Damit schwindet das Gegenwärtige nicht völlig aus dem Bewusstsein, es bleibt hintergründig bewusst; aufmerksam bewusst ist nur das, was nicht gegenwärtig ist. Wir wenden uns vom Gegenwärtigen ab, wenn wir uns Nicht-Gegenwärtigem zuwenden, und so stehen wir vor der Frage, wie wir dazu kommen, Nicht-Gegenwärtiges bewusst zu haben. Was zunächst das willentliche Erinnern betrifft, stellen sich vorab zwei Fragen: Wie ist mir das bewusst, was ich erinnern will? Und: Wie komme ich vom Erinnern-Wollen dazu, mich wirklich zu erinnern? Die erste fragt nach der Absicht meines Wollens, die zweite nach der Tätigkeit (oder doch vermeintlichen Tätigkeit), durch welche die Erinnerung zustande kommt, und damit nach dem, was ich können muss, um mich zu erinnern. Will ich etwas erinnern, geht dieses Wollen von einer Frage aus, womit das Erinnern den Charakter der Suche nach einer Antwort annimmt. Will ich mich an den Hut erinnern, den der Mann trug, dem ich gestern begegnet bin, so folge ich einer Frage, die eine Antwort fordert. Vielleicht erinnere ich mich dann an den Mann, aber nicht an seinen Hut. Diese Erinnerung enthält einen leeren Verweis auf etwas, was da noch war, und diesem will ich folgen und das fehlende Stück erinnern. Es fällt nicht schwer zu sagen, wie ich das mache. Ich erinnere mich bereits an den Mann, sehe ihn gleichsam noch einmal vor mir und brauche nur noch quasi an die Stelle zu blicken, an der ein Hut zu erwarten ist. Dieses Verschieben der Aufmerksamkeit vom Mann auf den Hut gleicht der Verschiebung der Aufmerksamkeit im Wahrnehmen, nur nehme ich nicht wahr, sondern erinnere mich. Weil das Erinnerte so bewusst ist, wie ich es in der Vergangenheit wahrgenommen habe, nehme ich es gleichsam noch einmal wahr. Die Frage, wie ich es anstelle, mich an 331 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

den Mann zu erinnern, und vor allem, wie ich mich an weit Zurückliegendes erinnern kann, ist damit natürlich nicht beantwortet. Wie können wir uns an etwas erinnern, das wir vergessen haben? Bei dieser Frage kann uns das bekannte Phänomen nichtsprachlichen Erinnerns weiterhelfen, das uns manchmal widerfährt, wenn uns etwas an etwas anderes erinnert. Zumeist erinnert etwas Wahrgenommenes an etwas Vergangenes, aber auch Erinnertes oder Phantasiertes kann diese Rolle übernehmen. So hat mich einmal ein Geruch an einen längst vergangenen Geruch aus der Kindheit erinnert, ohne dass ich wusste, was es war, was da so gerochen hat. Wie ist das zu verstehen? Das Phänomen läuft zunächst pathisch ab, aber dann will ich wissen, was es war, was da so gerochen hat, und mache dies zur Absicht meines Wollens. Die Absicht geht auf etwas Bestimmtes, auf den gleichen Geruch, wie der, den ich jetzt rieche, aber sie lässt mich ohne jeden Hinweis darauf, wie ich das Gesuchte finden kann. Merkwürdigerweise gelingen solche Erinnerungen, bei denen man sich bloß auf höchst rudimentäre Anhaltspunkte stützen kann, immer wieder, und zwar ohne dass damit das Bewusstsein einer Aktivität und eines Könnens besonderer Art verbunden wäre. Wenn die Erinnerung überhaupt auftaucht, erfahre ich ihr Bewusstwerden als etwas, das mir geschieht, mit dem Unterschied zum gewöhnlichen pathischen Bewusstsein allerdings, dass das, was mir da widerfährt, das ist, was ich gewollt und wonach ich gesucht habe. Wir müssen zwei Fälle des Sich-Erinnerns unterscheiden. Im einen befinden wir uns bereits in einem Erinnerungsbewusstsein und wollen nun weitere Einzelheiten erinnern, die damit zusammenhängen. Es geht also um Aufmerksamkeit in der Erinnerung und damit auch um das Verfolgen intentionaler Verweise in ihr. Es fällt leichter, sich an Weiteres zu erinnern, wenn man bereits in einer vergangenen Geschichte Fuß gefasst hat, als wenn man aus dem Gegenwärtigen heraus etwas Vergangenes wieder gegenwärtig haben will. Im Unterschied zur Aufmerksamkeit in der Erinnerung sind wir kaum fähig anzugeben, wie wir aus der Gegenwart in eine bestimmte Vergangenheit hineinfinden können, was daran liegen dürfte, dass wir hier nur wenig machen, stattdessen sind wir (wenn es gut geht) in der nicht unwillkommenen Lage, dass uns das einfällt, was wir bewusst haben möchten. Zumindest das anfangende Erinnern scheint fast durchwegs ein Geschehen zu sein. Die ersten Erinnerungen stellen sich von selbst ein, vielleicht nur als Bruchstücke einer Vergangenheit, die der Er332 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Modi des aktiven Wachseins

gänzung bedürfen. Erst danach kommt so etwas wie ein gezieltes Fragen und Antworten auf. Einmal in einer bestimmten Vergangenheit angelangt, kann ich nach diesem oder jenem suchen, mich gleichsam umsehen, kann willentlich diesen oder jenen Verweisungen folgen und das anfänglich noch rudimentäre Bild vervollständigen. Allmählich bekomme ich die Sache in den Griff und gewinne an Sicherheit. Was lässt mich derart in einer Vergangenheit Fuß fassen, so dass ich mich gleichsam in ihr verankern kann? Wollen wir verstehen, wie wir uns an etwas erinnern können, stellt sich nicht nur die Frage, wie wir zu dem Vergangenen gelangen, das wir wieder bewusst haben möchten, es ist auch zu fragen, wie das Vergangene, obschon nicht mehr präsent, doch noch irgendwie erreichbar ist. Die Antwort, die darauf zumeist gegeben wird, verweist auf Theorien des Gedächtnisses als einem Speicher, aus dem Erinnerungen abgerufen werden können. Husserl hat im Rückgriff auf entsprechende Phänomene eine andere Antwort gegeben. Für ihn ist die Möglichkeit, auf das Vergangene zuzugreifen, im ursprünglichen Zeitbewusstsein begründet. Zu jedem Jetzt gehört nicht nur das Bewusstsein der aktuellen Gegenwart, die »Urimpression«, sondern auch das des soeben Gewesenen, die »Retention«, sowie das des soeben Kommenden, die »Protention«. Geht ein Jetztmoment vorüber und sinkt in die Vergangenheit, so bleibt es in der Retention der nachfolgenden Phase noch bewusst, und zwar nicht als Vergegenwärtigung des Vergangenen, vielmehr ist das Vergangene in ihr »erschaut« 431, es ist wahrgenommen, wir sehen in der Retention das Vergangene. 432 Auch dieses Jetzt geht vorüber und ein neues tritt an seine Stelle, dessen Retention nicht nur Retention der vergangenen Urimpression, sondern auch der vergangenen Retention ist, und so alle vergangenen Momente eines Zeitobjekts (z. B. eines Tons) in sich enthält. Jedes aktuelle Jetzt wandelt sich in Retention und die vergangene Retention in Retention der Retention und diese in Retention dritter Stufe usw. Jede Retention trägt so in Form einer Abschattungsreihe »das Erbe der Vergangenheit« in sich, 433 so dass in jeder Urimpression ihre ganze Vergangenheit mit wahrgenommen ist. Allerdings: Je weiter zurück das retentional Bewusste in der Vergangenheit liegt, desto leerer ist es. Das Absinken in die Vergangenheit ist 431 432 433

Hua X, S. 34. Ebd., S. 41. Ebd., S. 29.

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Aktives Wachsein

mit einem Verlust an Anschaulichkeit verbunden; was ursprünglich wahrgenommen war, wird zunehmend unklarer, die Unterscheidungen und Abgehobenheiten verlieren sich, Husserl spricht von einem »Prozess der Vernebelung« 434. Demgegenüber zeichnet sich die lebendige Gegenwart nicht nur durch Anschaulichkeit, sondern auch durch ihre »affektive Kraft« aus. Affektion versteht er als »den bewusstseinsmäßigen Reiz, den eigentümlichen Zug, den ein bewusster Gegenstand auf das Ich übt« 435. Dieser Zug verlangt nach Zuwendung und weiter nach selbstgebender Anschauung. So kann Affektion zu Aufmerksamkeit führen. Was affektiv ist, ist merklich 436 und wird bewusst; was in der ferneren Vergangenheit liegt, ist dagegen unbewusst. 437 Entsprechend gibt es eine »Gradualität der Lebendigkeit«, wobei das Unbewusste »das Null dieser Bewusstseinslebendigkeit« bezeichnet und damit den Verlust an affektiver Kraft. 438 Entsprechend nennt er die Vergangenheit das »affektive Nullgebiet«, weil in der retentionalen Abschattung zwar immer dasselbe bewusst ist, da es aber immer weiter in die Vergangenheit absinkt, wird es immer unklarer und leerer, bis nur noch »die inhaltsleer bewusste Vergangenheit dessen [bleibt], was in seiner neuen und neuen Gegenwart noch im konstitutiven Werden ist« 439. Der gegenständliche Sinn bleibt erhalten, aber verarmt an inneren Unterschieden, seine Affektivität nimmt ab, bis nur noch eine Einheit übrig bleibt, deren vielfältiger Sinn implizit geworden ist. 440 Sich an Vergangenes erinnern, bedeutet nach dieser Konzeption: der implizite retentional erhaltene Sinn muss explizit werden, was nur möglich ist, wenn er wieder affizieren kann. Der verborgene Sinn ist nicht mehr lebendig, doch auch nicht geradezu tot, sondern schlafend 441 und kann geweckt werden durch Zufuhr affektiver Kraft, wodurch Einzelnes wieder unterscheidbar wird. Diese Weckung erfolgt von der impressionalen Sphäre lebendiger Gegenwart her mittels Assoziation durch Ähnlichkeit. »Eine Farbe kann eine verborgene Farbe

434 435 436 437 438 439 440 441

Hua XI, S. 169. Ebd., S. 148. Ebd., S. 166. Ebd., S. 154, 167. Ebd., S. 167. Ebd., S. 170. Ebd., S. 171. Ebd., S. 178.

334 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Modi des aktiven Wachseins

wecken, ein offener Ton einen verborgen gewordenen Ton.« 442 Diese weckende Ähnlichkeit ist die des »aneinander Erinnerns«. Ähnlichkeit ist allerdings nicht die einzige Bedingung, damit dieses Phänomen zustande kommt, Husserl nimmt an, dass zusätzlich emotionale Motive ins Spiel kommen. Er denkt dabei an »Interessen im weiten gewöhnlichen Sinn, ursprüngliche oder schon erworbene Wertungen des Gemüts, instinktive oder schon höhere Triebe usw.« 443 Mit dem Gewecktwerden wird der Sinn wieder affektiv, es blitzt etwas aus der Vergangenheit auf, tritt gleichsam aus dem Nebel hervor. Dies ist noch keine anschauliche Vergegenwärtigung, sondern Wahrnehmung eines Vergangenen, freilich eine noch weitgehend unklare Wahrnehmung, aber doch eine, die uns in der Vergangenheit Fuß fassen lässt. Die Weckung kann durch die affektive Kraft des bereits Geweckten fortschreiten, so dass auch anderes sich abzuheben beginnt wie rohe Konturen im sich lichtenden Nebel. 444 Klarer wird das erst, wenn eine Wiedererinnerung einsetzt, in der die leeren Retentionen anschauliche Fülle gewinnen. Erinnert mich etwas an etwas, so kann ich mich von der Gegenwart abwenden und in die geweckte Vergangenheit versetzen und so gleichsam noch einmal wahrnehmen, was ich damals wahrgenommen habe. Ich stehe dann quasi noch einmal in der Küche jener Tanten, die ich als Kind öfters besucht habe, und in der es immer so gerochen hat, wie es jetzt riecht. Bin ich erst einmal da hinein gekommen, kann ich mich absichtlich gleichsam umsehen: Ich sehe den alten Feuerherd in der Ecke stehen, sehe die messingglänzenden Pfannen oben auf dem Regal und die gestrengen Tanten in ihren steifen Schürzen hochaufragend vor mir stehen, wie sie mir in der Kindheit erschienen sind. Nach diesem Verständnis unseres Bewusstseins des Vergangenen können wir uns nur erinnern, wenn wir schon in einem Erinnerungsbewusstsein sind, und zwar in einem, das die Vergangenheit nicht vergegenwärtigt, sondern in dem sie für Momente selbst gegenwärtig ist. Dieses Bewusstsein lässt sich nicht willentlich herstellen, es stellt sich von selbst ein, wenn Vergangenes durch assoziative Weckung aufblitzt. Ist das Geweckte affektiv geworden, lockt es, wir sind in ihm wahrnehmungsartig wach. Heißt das auch, wir sind im Augenblick des Weckens für Mo442 443 444

Ebd., S. 179. Ebd., S. 178. Ebd., S. 182.

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mente pathisch wach? Wir nehmen das Vergangene wahr, wenn auch nur für einen Augenblick, aber das ist ein aktives Wahrnehmen, denn wir sind nicht absichtslos einem Geschehen ausgeliefert, wir haben die Absicht, etwas Bestimmtes erinnern zu wollen. Wir können hoffen, dass sich das Gewollte einstellt, aber viel mehr können wir dafür nicht tun. Das ist kein pathisches Wachsein, denn wenn sich das Erhoffte einstellt, frustriert das nicht unser Widerstreben, sondern erfüllt unser Hoffen, was sich an der Gewissheit zeigt, mit der wir ausrufen möchten: »Aha, das ist es!« Was da aufblitzt, ist zwar mehr oder weniger hell, aber doch nur für einen Augenblick, dann fällt es wieder ins Dunkel der Vergangenheit zurück und ist für uns verloren, wenn es nicht in einer Wiedererinnerung reproduziert wieder auftaucht. Das Vergangene fällt uns nicht zufällig ein, denn es ist nicht nur in der Absicht unter einem Aspekt intendiert, wir hoffen auch, es möge bewusst werden, und wenn es gut geht, erfüllt sich diese Hoffnung. So etwas gibt es im pathischen Wachsein nicht. Das Phänomen des »etwas erinnert an etwas« erstreckt sich über das Wahrnehmen hinaus auf andere Erscheinungen. So dürfte, was man in der Gedächtnispsychologie als »stimmungskongruenten Abruf« bezeichnet, gleichfalls hierher gehören. Emotional verstimmten Menschen fällt es leichter, negative Erfahrungen zu erinnern, während es solchen in glücklicher Stimmung eher gelingt, angenehme Erfahrungen abzurufen. 445 Auch dies kann man auf assoziative Weckung zurückführen, welche über die Ähnlichkeit der vergangenen mit der gegenwärtigen Stimmung verläuft. Analoges lässt sich bei Patienten mit chronischen Schmerzen beobachten. Fragt man sie, wie viel Schmerzen sie in früheren Episoden empfunden haben, so hängt ihre Antwort von der Stärke der gegenwärtigen Schmerzen ab. 446 Es ist nun allerdings zu bedenken, dass das zugrunde gelegte Phänomen des »etwas erinnert an etwas« geradezu ein Musterbeispiel pathischen Erinnerns abgibt und als solches noch wenig über die Möglichkeit willentlichen Erinnerns aussagt. Bekanntlich können zwei Dinge einander in verschiedener Hinsicht ähnlich sein, etwa der

445 D. L. Schacter: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit, dt. von H. Kober, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 341, mit Verweis auf: G. H. Bower: How might emotions affect learning? In: S.-A. Christianson (Hg.): The handbook of emotion and memory: research and theory, Hillsdale N.J. 1992. 446 Schacter, a. a. O., S. 343.

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Farbe, der Form oder dem Geruch nach. Ist etwas einem anderen der Form nach ähnlich, kann es anderem der Farbe nach ähnlich sein, so dass die Assoziation durch Ähnlichkeit verschiedene Wege einschlagen kann. Das ist weiter nicht von Belang, solange wir im Bereich pathischen Erinnerns verbleiben. Geht es aber um absichtliches Erinnern, wird gerade dies entscheidend. Wollte man sich auch hier bloß auf Assoziation durch Ähnlichkeit stützen, müsste man damit rechnen, nicht dorthin zu kommen, wohin man möchte. Willentliches Erinnern muss zielstrebiger sein, wir müssen das eindeutig identifizieren können, woran wir uns erinnern wollen. Sehe ich ein Ei, erinnert mich das wiederum an eine Kindheitsepisode: Ich musste jemandem ein Ei bringen und umklammerte es in der Jackentasche mit der Hand. Allmählich dachte ich nicht mehr an das, was ich da in der Hand hielt, machte die Hand zur Faust und das Ei zerbrach. Ich hätte beim Anblick des einen Eis ebenso gut an ein anderes Ei aus meiner Lebensgeschichte denken können. Vermutlich bin ich auf dieses Ei gekommen, weil es sich wegen des damit verbundenen Missgeschicks tief eingegraben hat. Will ich mich an das Ei dieser Geschichte erinnern, genügt es nicht, an irgendein Ei zu denken, zu sehr gleicht ein Ei dem andern. Zum Ei gehört der Kontext, in den es in der Vergangenheit gestellt ist. Die Absicht muss den Gegenstand oder das Ereignis, das ich erinnern will, eindeutig identifizieren. Das ist eine Bedingung für das Gelingen willentlichen Erinnerns. Die Absicht vermeint das zu Erinnernde in leerer, unanschaulicher Weise, so dass der Vorfall mir als vergangener bewusst ist und ihm zur eigentlichen Erinnerung nur die Anschaulichkeit fehlt. Was ich derart bewusst haben will, kann wiedererinnert werden, wenn meine Absicht die Kraft hat, die entsprechenden Retentionen zu wecken. Aber woher soll diese Kraft kommen? Wahrgenommenes hat sie durch seine Impressionalität, doch der Absicht fehlt es an Anschaulichkeit, die dem Wahrgenommenen diese Kraft verleiht. Aber auch hier darf man nicht übersehen, dass die Absicht kein bloßer Gedanke, sondern die Absicht eines Wollens ist, und je mehr wir darauf drängen, das Gesuchte zu finden, umso mehr kann das Wollen weckend wirken, was im Hoffen, das Beabsichtigte werde zustande kommen, fühlbar wird. Dem aktiven Wachsein kommt eine weckende Kraft zu. Anders liegt der Fall, wenn wir uns an etwas erinnern wollen, das nur sehr unzulänglich bestimmt ist, etwa durch eine Zeitangabe. Frage ich mich, was ich vorletzten Samstagabend gemacht habe, so ist mir der Zeitraum bekannt, an den ich mich erinnern will, aber nicht 337 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

die Inhalte, die zu ihm gehören. Weder inhaltliche Ähnlichkeit noch ein Verhältnis von Intention und Erfüllung helfen mir weiter. Zwar wird das zu Erinnernde leer intendiert, aber die Intention ist zu unbestimmt, als dass das Auftauchen einer Erinnerung noch als Erfüllung verstanden werden könnte. Es scheint, der Abruf müsse erst weiter spezifiziert werden, wozu allerlei Wissen über uns selbst und unsere Gewohnheiten dienen kann. Mit wem könnte ich wo gewesen sein? Ich kann die möglichen Personen und Orte durchgehen, indem ich (unanschaulich) Möglichkeiten phantasiere über das, was gewesen sein könnte. Ich könnte im Kino oder Theater gewesen sein oder zu Besuch oder jemand war zu Besuch bei mir usw. Auch hier kann eine Assoziation durch Ähnlichkeit leer Retentionales wecken, falls das Phantasierte wenigstens in einem Punkt das Vergangene berührt. Dann blitzen undeutlich und verschwommen vereinzelte Bruchstücke auf, wenig mehr als bloße Andeutungen, aber meist genügt das als Grundlage für ein Urteil, wie ich den Abend verbracht habe. Im Unterschied zum Phänomen des »etwas erinnert an etwas« stoße ich nicht zufällig auf das, was eine weckende Wirkung auf Vergangenes ausübt, sondern ich phantasiere absichtlich Möglichkeiten, was ich an diesem Abend getan haben könnte. Nicht nur die lebendige Gegenwart, auch anschaulich Phantasiertes kann Vergangenes wecken, sofern es zur Absicht eines mentalen Wollens wird. Das allzu Allgemeine meiner Absicht muss spezifiziert werden, und Phantasien dienen als Mittel dazu. Das kann schief gehen, sei es, weil ich mich allen Möglichkeiten zum Trotz nicht zu erinnern vermag, sei es, weil mich die Assoziationen auf falsche Fährten lenken. Ich glaube mich zu erinnern, im Theater gewesen zu sein, doch das war am Samstag zuvor. 447 Wenn wir mit solchen und weiteren Tricks uns bemühen, dem Vergangenen auf die Spur zu kommen, mögen wir uns darüber hinweg täuschen, dass das anfängliche Bewusstwerden des Vergangenen nicht in unserer Macht liegt. Wir sind dabei weitgehend einem Geschehen ausgeliefert, aber doch nicht ganz. Wenn etwas, das mir begegnet, eine Erinnerung auslöst, so ist das ein pathisch bewusstes Geschehen, das ohne mein Wollen abläuft. Anders ist es, wenn wir uns an etwas Bestimmtes erinnern wollen. Stellt sich die gesuchte

447 Zu irreführenden Erinnerungen findet sich Erhellendes bei Husserl. Siehe Hua XI, S. 192 ff.

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Erinnerung ein, so ist das kein Vorgang, den wir machen, aber wir dürfen doch annehmen, dass auch hier eine Assoziation durch Ähnlichkeit mit ins Spiel kommt, so dass unsere Absicht eine Bedingung dafür ist, dass das bewusst wird, was wir bewusst haben wollen. Wir können das Auftauchen des Gesuchten weder machen noch sonst wie erzwingen, wir müssen es geschehen lassen. Dabei unterscheidet sich dieses Geschehenlassen deutlich von dem des positiven Stellungnehmens. Wie wir am Beispiel des Betrachtens einer Landschaft in ästhetischer Einstellung gesehen haben, will ich mich beim Stellungnehmen ganz auf das einlassen, was mir entgegenkommt. Ich überlasse mich dem pathisch bewussten Geschehen, will mich ihm hingeben, mich darin verlieren, was immer es sei. Im aktiven Erinnern beziehe ich mich nicht auf etwas, was schon pathisch bewusst ist, sondern suche nach etwas, das noch gar nicht bewusst ist, und hoffe, dass es von selbst bewusst werden wird. Was im Moment des ersten Erinnerns aufblitzt, kann nicht von Dauer sein, es bleibt vereinzelt, sporadisch, ohne sich zu einem zusammenhängenden Ganzen auszubilden. Wohl kann es neben der wahrgenommenen Welt bestehen, da es als vergangen bewusst nicht zu ihr gehört; aber flüchtig, wie es ist, schwindet es dahin und ist nur noch retentional bewusst. Dann will ich das eben noch höchst undeutlich Bewusste oder vielleicht bloß Angedeutete zur Klarheit bringen, will wieder bewusst haben, was ich damals erlebt habe, will dieses Vergangene reproduzieren, quasi noch einmal erleben, was gewesen ist. Die Absicht ist nun entschieden spezifischer als zu Beginn: Ich will genau das, was eben aufgeblitzt ist, wieder bewusst erleben und so das Vergangene reproduzieren. Die Wiedererinnerung, in der sich das realisiert, taucht von selbst auf. Kann ich erinnern, was ich erinnern wollte, so ist diese Erinnerung nicht allein durch mein Tun entstanden. Zwar habe ich mich für das entschieden, was bewusst geworden ist, aber dies Entscheiden bleibt doch darauf angewiesen, dass das Gesuchte oder etwas damit Zusammenhängendes aufblitzt. Dennoch kann man nicht sagen, es sei pathisch bewusst, da das, was bewusst wird, kein Widerstreben frustriert, sondern mein Wollen befriedigt. Pathisches Wiedererinnern ist anders: Es entsteht, wenn irgendetwas gegenwärtig Erfahrenes durch eine Deckung der Sinne eine vergangene Retention weckt. Beim aktiven Erinnern dagegen weckt die Absicht das Vergangene, dann bekomme ich, was ich wollte, wenn auch nicht allein durch mein Zutun. Das Gefühl der Befriedigung, das dabei entsteht, gleicht denn 339 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

nicht selten mehr der Freude über eine Wunscherfüllung als der über ein gelingendes Tun. Hat das Wiedererinnern erst einmal begonnen, kann es weiter laufen durch Aufdecken der Horizonte. Anders als das erste Auftauchen des Vergangenen geht es hier nicht mehr nur um etwas, das uns geschieht, sondern auch um ein Tun, denn nun wissen wir nicht nur, was wir wollen, sondern auch, was wir machen müssen, um es zu bekommen. Wie wir wahrnehmend die Aufmerksamkeit wandern lassen können, so können wir sie in der Erinnerung auf dieses oder jenes lenken, das zuvor nur hintergründig mitbewusst war. Erinnere ich mich an den Besuch bei Freunden, so kann ich gleichsam den Blick durchs Wohnzimmer schweifen lassen, dabei dieses oder jenes genauer vergegenwärtigen und so die anfänglich rudimentäre Erinnerung um manche Details bereichern. Diese Aktvollzüge folgen dem, was ich will. Da war doch ein Ofen im Zimmer, ich will ihn visuell verdeutlichen. Wie sah er aus? Dann sehe ich ihn gleichsam dort in der Ecke stehen, d. h. ich reproduziere mein vergangenes Sehen des Ofens. Wie die Aufmerksamkeit auf Wahrgenommenes ein aufmerksames Wahrnehmen, so ist die Aufmerksamkeit auf Erinnertes (bzw. Phantasiertes) ein aufmerksames Erinnern (bzw. Phantasieren). 448 Die Erfüllung des Wollens geschieht nun zu einem guten Teil durch ein Tun im Vollziehen von quasi-kinästhetischen Bewegungen. Ich sehe mich gleichsam im erinnerten Raum um, gehe gleichsam dorthin, von wo aus ich das Gesuchte gleichsam sehen kann. Dieses Tun ist nicht erinnert, es ist ein aktuelles Tun im Erinnern, durch das weiteres Vergangenes reproduziert wird. Dadurch nimmt das Gefühl der Befriedigung eine andere Färbung an. Es ist nicht nur Befriedigung darüber, bekommen zu haben, was ich wollte, sondern auch eine darüber, etwas zu können. Wollen wir etwas erinnern, durchlaufen wir unterschiedliche Phasen des Wachseins. Am Beginn steht die Entscheidung darüber, was wir erinnern wollen, dann phantasieren wir Möglichkeiten, was gewesen sein könnte, dann blitzt etwas Vergangenes auf und ein Wiedererinnern setzt ein. Erst auf diesem Boden können wir, ähnlich dem absichtlichen aufmerksamen Wahrnehmen, willentlich etwas wiedererinnern und absichtlich Stück für Stück die Horizonte in weiteren Wiedererinnerungen anschaulich werden lassen, indem wir uns entscheiden, welchen Verweisungen wir folgen wollen. 448

Vgl. Hua XXIII, S. 344.

340 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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Wenn es einen für das willentliche Wiedererinnern typischen Modus des Wachseins gibt, dann vor allem für diese letzte Phase. Erst hier entspricht dem Wollen ein stabiles Können. Was wir bewusst haben wollen, stellt sich nicht von selbst ein, sondern erst dann, wenn wir bestimmte, absichtliche quasi-Kinästhesen vollziehen. Ich sehe mich gleichsam im erinnerten Zimmer um, folge mit dem Blick der Wand entlang zur Zimmerecke, wo, wie ich vermute, der Ofen stehen muss. Dann sehe ich ihn gleichsam. Da haben wir nicht nur etwas bewusst, sondern wissen, was wir gleichsam tun müssen, um es bewusst haben zu können. Mit diesem Tun stellt sich das Gefühl der Sicherheit ein, etwas zu können, über eine Fähigkeit zu verfügen, die weitgehend von meinem Willen abhängt, aber nicht nur. Indem ich den Verweisungen in quasi-kinästhetischen Bewegungen folge, wird weiteres Vergangenes geweckt, das von selbst erscheint. Die Erinnerung an das Vergangene mache ich so wenig wie das, was sich zeigt, wenn ich den Verweisungen von Wahrgenommenen folge. Ich stelle nur die Bedingungen her, damit das gesuchte Vergangene erscheinen kann. Trotz dieser Einschränkungen müssen wir im Fühlen des Erinnern-Wollens eine neue Weise, wach zu sein, sehen, in der wir absichtlich auf Vergangenes aufmerksam sind. Wenn wir etwas erinnern wollen, besteht der erste Schritt darin, das zu Erinnernde abzurufen, und das geschieht durch Assoziation durch Ähnlichkeit zwischen der Absicht und einer ins Dunkel der Vergangenheit abgesunkenen Retention. Dazu müssen wir eine Absicht haben, welche die gesuchte Erinnerung möglichst genau bestimmt. Das ist nicht immer einfach, wie wir gesehen haben. Unter Umständen müssen wir dazu Möglichkeiten darüber phantasieren, wo etwas gewesen sein könnte, das wir verloren haben, oder was wir oder andere in einem bestimmten Zeitraum der Vergangenheit gemacht haben könnten. In jedem Fall müssen wir eine Absicht haben können, und d. h. wir müssen entscheiden können, was wir erinnern wollen. Das Weitere geschieht von selbst. Der zweite Schritt besteht darin, dass wir das unklar Aufgeblitzte gleichsam noch einmal erfahren möchten; wir wollen es wiedererinnern. Dieser Schritt ist einfacher als der erste, denn die Absicht dazu ergibt sich aus dem, was im ersten Schritt vom Gesuchten bewusst geworden ist. Dann taucht eine erste Wiedererinnerung auf, und damit kommen wir zum dritten Schritt: dem Aufdecken der Horizonte des wiedererinnerten Gegenstandes. Dazu müssen wir entscheiden können, welchen Verweisungen wir folgen wollen, und müssen die entsprechenden quasi Bewe341 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

gungen vollziehen können. Auch das Erinnern ist rezeptiv wie das Wahrnehmen, nur nicht in gleicher Weise. Es ist nicht originär gebend wie das Wahrnehmen, es gibt so, wie wenn ich wahrnehmen würde, doch fehlt ihm die affektive Kraft des Wahrnehmens, es sei denn, sie kommt ihm aus einer anderen Quelle zu. Wenn ich erinnern will, was da auch noch war, bin ich darauf angewiesen, dass das Gesuchte erscheint, wenn ich den Verweisungen folge. In allen drei Schritten kann ich etwas, aber dieses Können reicht nicht aus, um bewusst zu haben, was ich bewusst haben will. Es ist nur ein notwendiges, kein hinreichendes Können und misslingt, wenn nicht das geschieht, was geschehen muss, damit sich das erfüllt, was ich will. Dieses Geschehen ist nicht pathisch, ich erleide es nicht, denn es ist (wenn es gelingt) das, was ich will. Mir bleibt nur zu hoffen, dass es eintritt, und es hinzunehmen. Aber selbst das erfordert noch ein eigentümliches Können: Ich muss mein Wollen zurücknehmen und mich dem überlassen, was mir zu meinen Absichten einfällt. Die Schritte bauen aufeinander auf, aber ungeachtet dessen sind wir in gleicher Weise wach, weil wir in allen das Gleiche wollen, nämlich etwas erinnern. Jeder gelungene fundierende Schritt motiviert den nächsten: Wenn das Gesuchte aufblitzt, hoffe ich, es im Wiedererinnern verdeutlichen zu können, und wenn eine Wiedererinnerung zustande kommt, hoffe ich, den Horizonten ihres Gegenstandes in weiteren Wiedererinnerungen nachgehen zu können. Willentliches Phantasieren: Husserl hielt die Phantasie für eine Neutralitätsmodifikation der setzenden Vergegenwärtigung, also der Erinnerung. 449 In der Erinnerung ist das Erinnerte als wirklich seiend gewesen charakterisiert, wogegen das Phantasierte als neutral gegenüber jeder Art von Seinssetzung erscheint. Es gilt weder als gegenwärtig noch als vergangen noch als künftig, sondern bloß als möglich seiend. 450 Während die Erinnerung das Vergangene durch den Bezug zur aktuellen Gegenwart in der Zeit situiert, kennt das Phantasierte keinen derartigen Zeitbezug. Das jetzt Phantasierte ist intentional weder auf vergangene noch auf künftige, sondern lediglich auf mögliche Erfahrung bezogen. Die These, Phantasie sei eine Neutralitätsmodifikation, meint nicht, jede Phantasie gehe auf eine Erinnerung zurück oder sei in 449 450

Hua III/1, § 111. Siehe Hua XXIII, S. 546 ff.

342 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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einer solchen fundiert. Gemeint ist lediglich, jeder Erinnerung entspreche als möglicher Parallele eine Phantasie als ihre Neutralitätsmodifikation. Damit ist das Erinnern nicht ursprünglicher als das Phantasieren, und nach allem, was wir bisher dazu erfahren konnten, dürfte eher das Umgekehrte zutreffen. Phantasie ist mögliche Erfahrung, weil in ihr eine Reflexion möglich ist, die aufzeigt, dass in ihr nicht nur eine Phantasiewelt, sondern auch ein sie gebendes Wahrnehmen phantasiert wird. Phantasieren wir etwas, so phantasieren wir es so, als ob wir es wahrnehmen würden. Aktives (willentliches) Phantasieren unterscheidet sich vom pathischen durch die Entscheidung, was und wie ich phantasieren will. Ich beschränke mich im Folgenden auf das willentliche anschauliche Phantasieren. Auch dieses ist, wie das willentliche Erinnern, mehrfach auf ein geschehendes Phantasieren angewiesen und kommt erst durch mehrere Entscheidungen zustande. Wie immer, wenn wir etwas bewusst haben wollen, beginnt auch das absichtliche Phantasieren mit einer Absicht, dieses oder jenes phantasieren zu wollen. Will ich eine blaue Kuh auf einer gelben Wiese phantasieren, so besteht die Absicht in der Frage, wie es aussehen könnte, wenn eine blaue Kuh auf einer gelben Wiese steht. Ich weiß, wie eine Kuh und eine Wiese ungefähr aussehen, auch Blau und Gelb vorzustellen ist mir geläufig, doch damit steht das noch keineswegs anschaulich vor mir. Etwas anschaulich zu phantasieren dürfte ähnlich wie beim Erinnern nur gelingen, wenn ich mir zu dem, was ich phantasieren will, Bilder einfallen lasse und mich für die entscheide, die mit meiner Absicht am besten zusammenstimmen. Wie beim positiven Stellungnehmen im Sinne eines Sich-Versenkens in etwas, gebe ich meine willentliche Kontrolle auf und überlasse mich dem auftauchenden Bilderstrom. 451 451 Vgl. dazu: Kunz, Die anthropologische Bedeutung der Phantasie, a. a. O., Bd. 2, S. 25 f.: »[…] im Phantasieren erfährt sich das Ich – wenigstens für Augenblicke – vergleichsweise als passiver Zuschauer dessen, was ›in‹ ihm, genauer: ›im‹ ihm angehörenden ›Selbst‹ geschieht, im geordneten Denken dagegen als betonte aktive Instanz des ›ich denke‹. Zwar vermag es in der Regel während des Wachens – in der Ermüdung, im Schlaf und in pathologischen Ausnahmezuständen liegen die Verhältnisse anders – den Verlauf der Phantasmen wie ihren Inhalt weitgehend zu dirigieren, selbst zu unterdrücken, und zwar mit einer deutlichen Aktivität. Das In-Gang-bringen des Phantasierens indessen entzieht sich schon eher seiner Macht insofern, als es gerade umgekehrt seine Aktivität zurückdrängen muss, um in einer erzwungenen Passivität dem phantasierenden Strömen Raum zu gewähren. Kurz und überspitzt formuliert: das Ich kann das Phantasieren hinsichtlich seiner Inhalte leiten und bis zu einem gewissen Grade anhalten, aber nicht im gleichen Sinne produzieren.«

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Kommt auf diese Weise eine visuelle Phantasie zustande, kann ich sie weiter phantasieren, indem ich Details und geeignete Horizonte dazu phantasiere und so die Kuh in einer Umgebung und einer Geschichte situiere. Was macht sie auf der Wiese, was wird sie weiter tun, was hat sie vorher getan? Was kommt hinzu? Was geschieht dann? Solche Fragen stehen für Absichten, die wieder Bilder hervorrufen von dem, was geschehen oder getan werden könnte, Möglichkeiten davon, was die Kuh tut oder was ihr begegnet. Auch hier kann ich auswählen und mich für bestimmte Varianten entscheiden. So gesehen bringe ich mental wollend keine Phantasien hervor, eher greife ich lenkend und auswählend in den bilderschaffenden Prozess des geschehenden Phantasierens ein. Damit stehen wir wieder vor der Frage, wie dieser Prozess bewusst ist: pathisch oder aktiv? Wäre er pathisch bewusst, müsste er unerwartet über uns kommen. Doch das ist nicht der Fall, im Gegenteil: Wir wollen etwas Bestimmtes Phantasieren und diese Absicht weckt assoziativ ähnliche Bilder, aus denen ich die auswählen kann, die ich für meine Zwecke für geeignet halte. Die Bilder kommen von selbst, aber es kommen vor allem solche, die mit dem zu tun haben, was ich phantasieren will. Das ist ähnlich wie beim Erinnern: Ich will etwas erinnern, und dann fällt mir ein, wie etwas gewesen ist. Hier wie dort muss ich mich mit meinem Wollen zurücknehmen und mich dem überlassen, was kommt. Auch beim Phantasieren können wir, wie beim Erinnern, verschiedene Phasen des Wachseins und des Könnens unterscheiden. Eine blaue Kuh auf gelber Wiese phantasieren zu wollen, mag vielleicht auf pathischen Einfällen beruhen, die ich zuvor hatte oder auf anderen Anregungen. Dabei bin ich in pathischen Gedanken wach. Dann wähle ich aus und entscheide mich für die blaue Kuh. Im Hoffen, entscheiden zu können, und im Entscheiden selbst bin ich aktiv wach. Damit ich das visuell phantasieren kann, was ich will, muss ich mein Wollen zurücknehmen und mich den Bildern überlassen, die mir zu meiner Absicht einfallen. Dann wähle ich einzelne aus und entscheide, mit welchen ich weitermachen will. Jetzt sehe ich quasi die Kuh auf der gelben Wiese stehen und phantasiere visuell, was ich gewollt habe. Wäre das Bild, das ich gleichsam vor mir sehe, eine Erinnerung, so könnte ich ihren Horizonten nachgehen, die von der Vergangenheit her bestimmt sind. Die Kuh wäre Teil einer Geschichte, die geschehen ist. In der Phantasie dagegen sind die Horizonte offen, dies 344 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Modi des aktiven Wachseins

oder jenes könnte sein oder noch geschehen. 452 Die Kuh ist alt und wird geschlachtet oder besucht den Bauern und schaut zum Fenster hinaus. Die Näherbestimmung der Horizonte geschieht nicht durch Quasi-Vollziehen kinästhetischer Bewegungen, indem ich mir gleichsam etwas genauer ansehe, stattdessen muss ich mir dies oder jenes einfallen lassen. Zu diesen Einfällen, sie mögen anschaulich oder unanschaulich sein, kann ich Stellung nehmen, mich für oder gegen sie entscheiden, sie gleichsam auswischen und andere sich an ihre Stelle setzen lassen. Im Unterschied zum Erinnern, wo die Horizonte feststehen und nur der Aufdeckung bedürfen, muss ich im Phantasieren alle Näherbestimmungen laufend neu erfinden, indem ich mich immer wieder zwischen Möglichkeiten entscheide. Wenn es beim Erinnern eine Phase gibt, wo ich weiß, was ich tun muss, um etwas Bestimmtes erinnern zu können, nämlich willkürliche kinästhetische Quasi-Bewegungen vollziehen, so ist das nur darum möglich, weil die Horizonte zwar leer, d. h. unanschaulich, aber dennoch bestimmt sind. Es ist schon leer vorgezeichnet, was etwas ist und was es noch gibt, was eben zuvor gewesen war oder eben sein wird. Folge ich solchen Verweisungen, so habe ich schon erinnert, was ich erinnern will, es muss nur noch anschaulich werden. In der Phantasie dagegen sind die Horizonte nicht nur leer, sondern unbestimmt und damit beliebig bestimmbar. Verweist etwas Phantasiertes auf anderes, dann nicht auf Bestimmtes, sondern auf offene Möglichkeiten. Es gibt nur die Option, mein Wollen zurückzunehmen und abzuwarten, was mir dazu einfällt. Dann kann ich mich dafür entscheiden, einen Einfall in meine Geschichte aufzunehmen oder nicht. Man möchte sagen, das Phantasieren hänge mehr von meinem Willen ab als das Erinnern, obschon auch dieses durch meinen Willen bestimmt ist, nur sind in ihm auch die Horizonte festgelegt, während das Phantasieren mich darin frei lässt. Freilich weiß ich auch beim freien Phantasieren, was ich tun muss, nämlich mich mit meinem Wollen zurücknehmen und auf die Bilder achten, die mir zu etwas einfallen, und mich dann entscheiden, welche ich beibehalten und welche ich fallen lassen will. Ähnlich machen wir es beim Erinnern, nur ist der Gesichtspunkt zur Auswahl der Bilder anders und beschränkter. Was wir im willentlichen Erinnern und Phantasieren können müssen, ist bei beiden im Wesentlichen dasselbe. Das Erinnern unterscheidet sich vom Phantasieren vor allem durch seinen Bezug zur 452

Vgl. Hua XXIII, S. 551; 562.

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Vergangenheit, insofern ist das Erinnern kein freies Phantasieren, sondern eines, das an die Vergangenheit gebundenen ist. Daher können wir phantasieren, wenn wir erinnern können, aber nicht umgekehrt. In beiden kommt es zu einem komplexen Zusammenspiel von geschehendem und aktivem Vergegenwärtigen, das von der Absicht, etwas Bestimmtes vergegenwärtigen zu wollen, geleitet wird. Was wir dabei können müssen, kann in folgende Schritte zusammengefasst werden: 1. Am Anfang steht die Absicht, etwas erinnern oder phantasieren zu wollen. Sie muss möglichst genau das umfassen, was ich will. Für das Erinnern kann das bedeuten, dass ich Möglichkeiten phantasieren muss, was gewesen sein könnte. 2. Ich muss an meinem Wollen festhalten und meine Aktivität zurücknehmen, um dem Assoziieren Raum zu geben, sei es, um die passende Retention zu wecken, sei es, um die Einbildungskraft anzuregen Bilder zu produzieren, die zu meiner Absicht passen. 3. Blitzt das gesuchte Vergangene auf, wird eine Wiedererinnerung an etwas geweckt, dann muss ich ihre Horizonte aufmerksam aufdecken können. Liefert die geschehende Einbildungskraft Bilder, muss ich diejenigen auswählen, die zu meiner Absicht passen und deren Horizonte mit weiteren passenden Einfällen erfüllen. Gelingt das für diese Schritte erforderliche Können, so bin ich im Modus des Vergegenwärtigens wach im Sinne des Bei-BewusstseinSeins, hoffe ich, dass dies gelingt, bin ich wach im Sinne der Bereitschaft zu bewusstem Erleben. Mit jedem Schritt hoffe ich, auch der nächste möge gelingen, so dass sich auch hier das Urteilsgefühl meines Wollens und damit das Wachsein an den bisherigen Schritten orientiert, die zum Ziel meines Wollens hinführen. Mit jedem gelungenen Schritt stellt sich das Gefühl partieller Befriedigung ein, ich fühle mich fähig, willentlich phantasieren oder erinnern zu können, und komme dem Gesuchten näher. Mit jedem misslungenen Schritt entferne ich mich davon, es kommt zu partieller Frustration und ich fühle mich unfähig, das Gesuchte zu finden. Mit zu diesem Modus des Wachseins gehören alle Weisen absichtlichen Vergegenwärtigens, auch das absichtliche (vorsprachliche) Wiedererkennen, wenn ich z. B. etwas wahrnehme und mich an ein Gleiches erinnern will, das ich schon einmal wahrgenommen habe. So kann ich nicht nur Individuen wiedererkennen, sondern auch Allgemeines. Dieser Pilz da z. B. ist von derselben Art wie jener, den ich letzten Herbst schon einmal gesehen habe. So kann ich Allgemeines 346 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Modi des aktiven Wachseins

identifizieren, und zwar auch dann, wenn ich ein Exemplar zum ersten Mal sehe, ich brauche mir nur vorzustellen, dieselbe Art sei auch anderswo zu finden. 453 Hierher gehört auch das unanschauliche willkürliche Vorstellen, was man gewöhnlich »sich etwas bloß denken« nennt. Es handelt sich dabei um ein bloßes Vorstellen ohne Anspruch auf Wahrheit und damit um ein Denken, das sich des Urteilens enthält.

5.5

Das Wachsein im absichtlichen Denken

Gibt es ein mentales Können, das über das Bisherige hinausreicht und insbesondere gegenüber dem Vorstellen als eine andere, neue Art des Könnens gelten muss? Man möchte dabei an das Denken denken, wenn wir mit dem Wort Präziseres verbinden könnten als jenen weiten und vagen Begriff, der nicht selten geradezu synonym mit »Meinen« oder »Vorstellen« gebraucht wird. Dieses Verständnis des Denkens haben wir dem Modus des Wachseins im absichtlichen Vergegenwärtigen zugeordnet. Wenn wir nach weiteren Modi des aktiven Wachseins Ausschau halten, muss es uns um einen Begriff des Denkens gehen, der sich von dem des Vorstellens grundlegend unterscheidet. Stellen wir die Frage, wie es ist, im Denken wach zu sein, und verstehen wir das Wachsein als ein Sich-wach-Fühlen, so müssen wir es aus der Perspektive der ersten Person zu fassen suchen. Ein sprachanalytisches Verständnis des Denkens, bei dem syntaktische und semantische Regeln im Vordergrund stehen, und dem das Denken als ein lautloses »inneres Sprechen« gilt, 454 dürfte für dieses Ansinnen wenig hilfreich sein. Für uns muss die Frage, wie wir das Denken und das Wachsein in ihm erleben, im Vordergrund stehen, was nicht heißt, dass wir von den objektiven Aspekten absehen könnten, von denen das Denken wesentlich bestimmt ist. Wir werden das Denken vom bewussten Erleben her angehen und annehmen, es unterscheide sich durch gewisse Eigenheiten von anderen Erlebnissen. Vom unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmen ist es schon durch das Fehlen eines Gegenwartsbezuges abgegrenzt. Ein Vgl. dazu: I. Kern: Idee und Methode der Philosophie, a. a. O., S. 201. Zum Verhältnis von Sprache und Denken siehe: G. Seebaß: Das Problem von Sprache und Denken, Frankfurt a. M. 1981. 453 454

347 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

Gedanke ist nicht etwas, das im Fluss des Gegenwärtigens selbstpräsent gegeben wäre. Was nicht gegenwärtig und doch bewusst ist, von dem dürfen wir annehmen, es sei vergegenwärtigt. Dann wäre das Denken eine Vorstellung. Aber eine Erinnerung ist es nicht, dazu fehlt ihm der Bezug zur Vergangenheit. Ein Gedanke reproduziert nicht Vergangenes, obschon er sich auf solches beziehen kann. Verstehen wir Phantasiertes als möglich Seiendes, so scheint es dem Denken näher zu stehen, aber wieder müssen wir sagen: Das Denken kann sich zwar auf möglich Seiendes beziehen, aber es reproduziert es nicht anschaulich. Gedanken sind nicht anschaulich. Aber unanschauliche Leervorstellungen beliebiger Möglichkeiten sind sie auch nicht. Es gibt Gesetzmäßigkeiten der Logik, denen das Denken folgt. Gedanken können mithin nicht beliebige Möglichkeiten sein. Vielleicht hilft es, zur Bestimmung des Denkens vom Urteilen auszugehen und dabei Brentanos Unterscheidung zwischen Urteilen und Vorstellungen zu folgen. 5.5.1

Brentanos Unterscheidung von Vorstellen und Urteilen

Es ist vor allem das Verdienst Brentanos, den Unterschied von Urteilen und Vorstellen herausgearbeitet zu haben. 455 Nach ihm gehören Vorstellung und Urteil zu verschiedenen Grundklassen psychischer Phänomene und sind zwei ganz verschiedene Weisen des Bewusstseins von einem Gegenstand. Brentano versteht »Vorstellung« in einem weiten Sinne. Vorgestellt ist alles, wo immer uns etwas erscheint. 456 Dazu zählt er nicht nur Vergegenwärtigtes, sondern auch Wahrgenommenes. Immer, wenn wir uns auf etwas seelisch beziehen, muss das, worauf wir uns beziehen, vorgestellt sein. Das Urteilen dagegen gilt ihm als ein »(als wahr) Annehmen oder (als falsch) Verwerfen.« 457 Urteilend beziehen wir uns auf einen Gegenstand, und dazu muss dieser erst vorgestellt sein. Das Urteilen hat (wie auch das Begehren) die Vorstellung eines Gegenstandes zur Voraussetzung, und wie im Begehren ein vorgestellter Gegenstand geliebt oder gehasst wird, so wird er im Urteilen für wahr oder für falsch gehalten. 458 Nach Brentano besteht das Wesentliche des Urteilens nicht in einer 455 456 457 458

Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, a. a. O., Bd. 2, Kap. 7. Ebd., S. 34. Ebd. Ebd., S. 38.

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Modi des aktiven Wachseins

Verbindung von Vorstellungen, sondern in einer Beziehung zu einem vorgestellten Gegenstand, durch die dieser anerkannt oder verworfen wird. 459 Er begründet dies zum einen damit, dass man eine Verknüpfung von Vorstellungen auch vorstellen kann, ohne zu urteilen: So enthält das Urteil »diese Kuh ist blau« eine Verknüpfung der Merkmale Blau und Kuh, aber diese finden wir auch in der Vorstellung einer blauen Kuh verknüpft. Zum andern gibt es Urteile, die gar keine Verknüpfung enthalten, etwa wenn wir urteilen »A ist« oder »A ist nicht«. Das Eigentümliche des Urteilens kommt nach Brentano dadurch zum Vorschein, dass jeder kategorische Satz sich in einen Existenzialsatz umformen lässt. 460 Damit wird offenbar, dass mit jedem Urteil die Existenz oder Nichtexistenz des Vorgestellten behauptet wird. Im Urteilen entscheiden wir zwischen Sein oder Nichtsein, Wahrheit oder Falschheit des Vorgestellten, über das wir urteilen. 5.5.2

Gedanke und Denken bei Frege

Mit Brentanos Unterscheidung von Vorstellen und Urteilen können wir einen Begriff des Denkens gewinnen, der sich von dem des Vorstellens klar unterscheidet, jedoch auf das Urteilen beschränkt bleibt. Allerdings stellen sich bald Zweifel ein, ob diese Auffassung auch stimmig sei. Wenn wir urteilen »Diese Kuh ist blau«, dann tun wir das aufgrund der Vorstellung (im Sinne Brentanos) einer blauen Kuh. Bevor wir urteilen, stellen wir die blaue Kuh vor und behaupten mit dem Urteil, dass eine blaue Kuh existiert. Das mag den Eindruck erwecken, Wahrheit entstehe erst durch unser Urteilen, und da liegt der Einwand nahe, es gehöre zum Verständnis von Wahrheit, dass das, was wahr (oder falsch) ist, es ohne unser Zutun ist. Was wahr ist, ist wahr, unabhängig davon, ob jemand seine Wahrheit einsieht oder nicht. Es ist auch überzeitlich, es ist und bleibt wahr, unabhängig vom Lauf der Dinge. Von einem derart starken Wahrheitsverständnis ist Frege ausgegangen und wie Brentano zum Schluss gekommen, das, was wahr oder falsch sein kann, könne keine Vorstellung sein. Dabei ist er nicht vom Gegensatz des Vorstellens und Urteilens ausgegangen, sondern von dem, was wahr oder falsch sein kann. 461 Was ist es, dem wir im Urteil Wahrheit oder Falschheit zuerken459 460 461

Ebd., S. 63. Ebd., S. 56 f. Vgl. dazu vor allem: Der Gedanke, Beiträge zur Philosophie des deutschen Idealis-

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Aktives Wachsein

nen? Urteilen wir »Diese Kuh ist blau«, so behaupten wir, es sei wahr, dass diese Kuh blau ist. Dasjenige, was für einen Ausdruck der Form »dass p« steht, wobei »p« irgend ein Urteil (eine Aussage) meint, ist das, was wahr oder falsch sein kann. Husserl und Wittgenstein nannten diesen Gegenstand »Sachverhalt«, Frege sprach von »Gedanken«, heute ist dafür der Ausdruck »Proposition« geläufiger. Frege hat deutlich gemacht, dass Gedanken in diesem Sinn keine Vorstellungen sind, da Vorstellungen nicht wahr oder falsch sein können. Ohne damit eine Definition geben zu wollen, charakterisiert er Gedanken als »etwas, bei dem überhaupt Wahrheit in Frage kommen kann« 462. Wahrheit selbst hält er für undefinierbar, erklärt aber, es komme der Logik zu, »die Gesetze des Wahrseins zu erkennen«, die stets von denen des Fürwahrhaltens oder Denkens zu unterscheiden sind. In diesen Gesetzen wird die Bedeutung des Wortes »wahr« entwickelt. 463 Wenn Frege derart die Wahrheit vom subjektiven Fürwahrhalten abhebt, stimmt er mit unserem gewöhnlichen Verständnis von »Wahrheit« überein, wonach dem, was als wahr gilt, unabhängig von unserem Meinen und unabhängig von unserem Bewusstseinsleben objektive Geltung zukomme. Entsprechend merkt er an: »Ich verstehe unter Gedanken nicht das subjektive Tun des Denkens, sondern dessen objektiven Inhalt, der fähig ist, gemeinsames Eigentum von vielen zu sein.« 464 Das bedeutet nicht, dass es nur wahre Gedanken gebe. Sind Gedanken als das bestimmt, was wahr oder falsch sein kann, können sie auch falsch sein. Sprachlich gesehen ist der Gedanke der Sinn eines Satzes. Der Satz drückt einen Gedanken aus, aber nicht jeder Sinn eines Satzes ist ein Gedanke. 465 Befehlssätze z. B. haben einen Sinn, aber dieser kann nicht wahr oder falsch sein. Mit Wunsch- oder Bittsätzen steht es ebenso. Anders die Fragesätze, auf sie können wir mit »ja« oder »nein« antworten. »Ja« bedeutet dabei soviel wie ein Behauptungssatz, da die Bejahung den Gedanken als wahr hinstellt, der schon im Fragesatz enthalten ist. Nicht nur Bemus I (1918–19), S. 58–77. Abgedr. in G. Frege, Logische Untersuchungen, hg. G. Patzig, Göttingen 1966. 462 Ebd., S. 60. Ich zitiere die kleineren Schriften Freges in der in der Ausgabe von Patzig am Rand angegebenen Originalpaginierung. 463 Ebd., S. 59. 464 Über Sinn und Bedeutung, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, NF 100 (1892), S. 25–50. Abgedr. in G. Frege, Funktion, Begriff, Bedeutung, hg. G. Patzig, Göttingen 1975, S. 32, Anm. 5. 465 Frege, Der Gedanke, a. a. O., S. 61.

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hauptungssätze, auch Fragesätze enthalten einen Gedanken. Aber der Behauptungssatz behauptet darüber hinaus noch etwas, während der Fragesatz nebst dem Gedanken eine Aufforderung zu antworten enthält. Im Fragesatz ist ein Gedanke ausgedrückt, ohne als wahr oder falsch zu gelten, aber er kann wahr oder falsch sein. Im Behauptungssatz kommt zu diesem die Behauptung hinzu. Entsprechend unterscheidet Frege: »1. das Fassen des Gedankens – das Denken, 2. die Anerkennung der Wahrheit eines Gedankens – das Urteilen, 3. die Kundgebung dieses Urteils – das Behaupten.« 466 Denken unterscheidet sich vom Urteilen. Denken nennt er das Fassen von Gedanken, also von Sinngebilden, die wahr oder falsch sein können, deren Wahrheit aber noch untersucht werden muss. Urteilen ist das Erkennen der Wahrheit, die in der Behauptung in Form eines Behauptungssatzes »p« ausgesprochen wird. Fragesatz und Behauptungssatz haben denselben Sinn, sie drücken denselben Gedanken aus. Die Behauptung gehört nicht zum Sinn, sondern kommt zu ihm hinzu. Dem Gedanken, der durch »dass p« ausgedrückt wird, fehlt das Behauptungsmoment, das in »p« enthalten ist. Der Satz »der Gedanke, dass 5 eine Primzahl ist, ist wahr« ist gleichbedeutend mit dem Satz »5 ist eine Primzahl« 467. Der Gedanke allein liefert keine Erkenntnis. Eine solche liegt erst vor, wenn wir wissen, ob er wahr oder falsch ist. Gedanken sind nach Frege sowohl von den Dingen der Außenwelt, den wahrgenommenen Dingen, verschieden, wie auch von dem, was zur Innenwelt gehört, den Vorstellungen. Was das Erste betrifft, so sind sie unsinnlich, denn sinnlich wahrnehmbare Dinge können nicht wahr sein, da Wahrheit nicht eine Eigenschaft ist, die einer besonderen Art von Sinneseindrücken entspricht. Ein wahrnehmbares Ding hat wahrnehmbare Eigenschaften wie rot, bitter oder fliederduftend, von denen sich die Wahrheit scharf unterscheidet. Dem Einwand, wir sehen doch, dass die Sonne aufgeht, und damit auch, dass dies wahr ist, setzt Frege entgegen: »Dass die Sonne aufgegangen ist, ist kein Gegenstand, der Strahlen aussendet, die in mein Auge gelangen, ist kein sichtbares Ding wie die Sonne selbst. Dass die Sonne aufgegangen ist, wird auf Grund von Sinneseindrücken als wahr erkannt, dennoch ist das Wahrsein keine sinnlich wahrnehmbare Eigenschaft.« 468 Freilich gibt er zu bedenken, dass wir an keinem Ding 466 467 468

Ebd., S. 62. Frege, Über Sinn und Bedeutung, a. a. O., S. 34. Frege, Der Gedanke, a. a. O., S. 61.

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eine Eigenschaft erkennen können, ohne damit zugleich den Gedanken, dass diesem Ding diese Eigenschaft zukomme, für wahr zu halten. Gedanken sind nicht konkrete Dinge, da Wahrheit keine Eigenschaft von Dingen sein kann. Daraus zu schließen, sie seien abstrakte Entitäten, geht ebenso fehl, denn wenn wir ausgehend von wahrnehmbaren Dingen durch Abstrahieren zu Gedanken kämen, dann müssten diese doch irgendwie in jenen enthalten sein, was Frege als unmöglich ablehnt. Was nun die Vorstellungen betrifft, von denen sich die Gedanken gleichfalls unterscheiden, so versteht Frege darunter alles, was zu unserer Innenwelt gehört, mit Ausnahme der Entschlüsse. Die Innenwelt ist die Welt der Sinneseindrücke, der Schöpfungen der Einbildungskraft, der Empfindungen, der Gefühle und Stimmungen, Neigungen, Wünsche und Entschlüsse. 469 Vorstellungen unterscheiden sich von den Dingen der Außenwelt durch vier Eigenheiten: Erstens können sie nicht gesehen, nicht getastet, weder gerochen, noch geschmeckt, noch gehört werden. Zweitens: Ich habe meine Vorstellungen. Ich habe Empfindungen, Gefühle, Stimmungen, Neigungen, Wünsche. Sie gehören zum Inhalt meines Bewusstseins. Ich sehe meine Sinneseindrücke nicht, ich habe sie. Drittens: Vorstellungen bedürfen eines Trägers, Dinge der Außenwelt nicht. Die Dinge, die ich sehe, sind da, ob ich sie sehe oder nicht, aber die Sinneseindrücke, die ich habe, bestehen nur durch mich, ich bin ihr Träger. Ein Schmerz, eine Stimmung, ein Wunsch sind nicht ohne ein Subjekt denkbar, das sie hat. Viertens: Jede Vorstellung hat nur einen Träger. Zwei Menschen können nicht dieselbe Vorstellung haben. Sie können dieselben Dinge sehen, aber sie sehen sie mittels unterschiedlicher Vorstellungen, denn jeder hat dabei seine eigenen Sinnesempfindungen. 470 Vorstellungen unterscheiden sich von wahrnehmbaren Dingen, aber auch von Gedanken. Gedanken sind keine Vorstellungen, weil sie keines Trägers bedürfen, so lautet das Hauptargument Freges gegen die Gleichsetzung beider. »Wenn der Gedanke, den ich im pythagoreischen Lehrsatz ausspreche, ebenso von andern wie von mir als wahr anerkannt werden kann, dann gehört er nicht zum Inhalte meines Bewusstseins, dann bin ich nicht sein Träger und kann ihn trotz-

469 470

Ebd., S. 66 f. Ebd., S. 67.

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dem als wahr anerkennen.« 471 Wäre dem nicht so, dann hätte der Satz des Pythagoras für jeden einen anderen Sinn, dann hätte ich meinen Gedanken dieses Satzes und ein anderer seinen. Beide wären wie Sinnesempfindungen Inhalte des je eigenen Bewusstseins. Man könnte dann auch nicht sagen, mein Gedanke des pythagoreischen Lehrsatzes sei wahr, der des anderen falsch, da die Worte »wahr« und »falsch« nur auf das eigene Bewusstsein anwendbar wären, weil es nichts gibt, das Gegenstand unterschiedenen Bewusstseins sein und zugleich wahr oder falsch sein könnte. Wenn jeder Gedanke zum Bewusstseinsinhalt eines Trägers gehörte, dann wäre er Gedanke dieses Trägers, und zwei Menschen könnten nicht denselben Gedanken denken, sondern allenfalls einen gleichartigen, so wie sie gleichartige Gefühle, Wünsche oder Schmerzen haben können. Es gäbe keine Wissenschaft, welche vielen gemeinsam wäre, sondern jeder hätte seine eigene, die sich mit den Inhalten seines Bewusstseins beschäftigte. Die Absurdität dieser Konsequenzen führten Frege zur Überzeugung, dass Gedanken keine Vorstellungen sind. Da sie auch nicht Dinge der Außenwelt sein können, müsse ein »drittes Reich« anerkannt werden, das der Gedanken. Gedanken sind wie Vorstellungen nicht sinnlich wahrnehmbar, bedürfen aber wie die wahrnehmbaren Dinge keines Trägers. Ein Gedanke ist wahr, unabhängig davon, ob jemand ihn für wahr hält. 472 Was ich als wahr anerkenne, von dem urteile ich, dass es unabhängig von meiner Anerkennung der Wahrheit wahr sei, auch unabhängig davon, ob ich daran denke. 473 Gedanken sind zeitlos und unveränderlich. Dies mag man für Gesetzmäßigkeiten wie den Satz des Pythagoras zugeben, doch gibt es nicht auch Gedanken, die heute wahr, zu einem anderen Zeitpunkt aber falsch sind? Nach Frege gehört zu einem Gedanken über Zeitliches auch die Zeitbestimmung, sonst wäre er unvollständig. Dann ist auch ein Gedanke über ein zeitlich begrenztes Ereignis zu jeder Zeit wahr. Dass Cäsar an den Iden des März 44 v. Chr. ermordet wurde, ist und bleibt wahr, auch wenn dies Ereignis längst vorbei ist. Gedanken rücken damit geradezu in die Nähe platonischer Ideen, auch wenn sie von geringerer Dignität sein mögen. Ihr ontologischer Status bleibt bei Frege allerdings dunkel. Wie immer es um ihre 471 472 473

Ebd., S. 68. Ebd., S. 69. Ebd., S. 74.

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Seinsweise bestellt sein mag, sie sind für ihn bewusstseinstranszendent, das Gegenteil käme einem unhaltbaren Psychologismus gleich. Natürlich wissen wir von Gedanken nur, soweit sie uns bewusst sind, aber ihre Wahrheit gilt unabhängig vom Bewusstsein, das wir von ihnen haben. Ein Sinneseindruck ist so, wie er bewusst ist, ein Schmerz, ein Gefühl so, wie es sich anfühlt. Ein Gedanke dagegen ist nicht dadurch bestimmt, dass er mir bewusst ist. Wenn ich einen Gedanken denke, erzeuge ich ihn nicht, denn als etwas, das unabhängig von mir und meinem Bewussthaben wahr sein kann, kann er nicht durch mich sein. Das Bewusstsein, das wir von Gedanken haben, ist anders als das von Dingen oder Vorstellungen. Wir nehmen sie nicht wahr, und wir haben sie nicht. Nach Frege »fassen« wir Gedanken. Diesem Fassen entspricht die Denkkraft als ein besonderes geistiges Vermögen, und dieses setzt einen Denkenden voraus, der Träger des Denkens, aber nicht des Gedankens ist. Das Denken ist dasjenige »im« Bewusstsein, das auf den Gedanken hinzielt. 474 Das Fassen eines Gedankens ist von seinem Fürwahrhalten zu unterscheiden, auch wenn beides zusammenfallen kann. 475 Wie wir gesehen haben, enthält schon ein Fragesatz einen Gedanken, denselben, der in einem Behauptungssatz ausgedrückt wird. Dieses Fürwahrhalten beruht auf Einsicht. Ich halte den Satz des Pythagoras für wahr, wenn ich einsehe, dass sein Beweis von wahren Prämissen ausgeht und folgerichtig ist. Ich urteile, dass jetzt die Sonne aufgeht, aufgrund von Sinneseindrücken, und dass Cäsar an den Iden des März 44. v. Chr. ermordet wurde, durch Rückgriff auf historische Quellen. Das Denken, welches zum Fürwahrhalten führt, kann man rechtfertigend nennen. Es geht dabei darum, die Wahrheit eines Gedankens, der schon gefasst ist, auszuweisen. Dem Fassen von Gedanken möchte man dagegen eher zutrauen, Neues zu erfahren. Nach Frege erzeugen oder erfinden wir Gedanken nicht, wir entdecken sie. 476 Dies geschieht vor allem, wenn wir Fragen stellen. Wer eine Frage stellt, fasst damit einen Gedanken. Wir können auch falsche Gedanken fassen, die gleichwohl zu Erkenntnissen führen, z. B. in einem indirekten Beweis. 477 Sofern die Gedanken, die wir rechtfer-

Ebd., S. 75. Vgl. M. S. Stepanians: Frege und Husserl über Urteilen und Denken, Paderborn 1998, S. 190 ff. 476 Vgl. Frege, Der Gedanke, a. a. O., S. 74. 477 Die Verneinung. Beiträge zur Philosophie des deutschen Idealismus 1(1918–19), 474 475

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tigen, nicht pathisch sind, geht dem rechtfertigenden Denken stets ein fragendes und suchendes Denken voraus. Wenn wir fragen, was wir können, wenn wir denken, müssen wir fragen, was wir machen, wenn wir einen Gedanken fassen und weiter danach, was dem Denken eines Gedankens logisch zugrunde liegt. Was meint Frege, wenn er vom Gedanken sagt, er sei das, »bei dem überhaupt Wahrheit in Frage kommen kann« 478? Obschon sich erst im Urteil entscheidet, ob ein Gedanke wahr oder falsch ist, sind Gedanken auch ohne Urteil auf Wahrheit bezogen. »Ein von uns gefasster Gedanke«, erklärt er, »drängt immer auf die Beantwortung der Frage nach seinem Wahrsein.« 479 Jeder Gedanke enthält einen Anspruch auf Wahrheit, der im Urteilen anerkannt oder verworfen wird. Das Urteilen bestätigt oder verwirft nur, was der Gedanke ausdrückt, nämlich, dass es wahr ist, dass p. Gehört der Anspruch, wahr zu sein, zu jedem Gedanken (auch zu den falschen, denn diese sind Negationen wahrer Gedanken), dann bedeutet der Gedanke, »dass p«, soviel wie »dass es wahr ist, dass p«, und wer denkt, »dass p«, der denkt, »dass es wahr ist, dass p«. 480 Woran liegt es, dass nur Gedanken Wahrheit beanspruchen, Vorstellungen z. B. nicht? In der Tradition der Logik wird ein Gedanke oder ein Urteil oft als eine Synthese von Begriff und Gegenstand angesehen, wobei auch Begriffe nicht selten als etwas Gegenständliches verstanden werden. Nach dieser Ansicht wäre etwa der Gedanke, dass die Kuh blau ist, aus Kuh und Blau zusammengesetzt, wobei offen bleibt, wie man sich solch eine Synthese zu denken habe. Dem hat Frege eine Alternative entgegengesetzt, wonach Begriffe analog zu mathematischen Funktionen verstanden werden können. 481 Vergleicht man die Zahlenausdrücke 2 · 13+1, 2 · 43+4, 2 · 53+5, so kann man als ihr Gemeinsames die Funktion 2 · x3+x für die Argumente 1, 4, 5, erkennen. Genauer besteht die Funktion in dem, was in 2 · x3+x außer dem x vorhanden ist, was man als 2 · ( )3+( ) schreiben kann. Das Argument x gehört nicht zur Funktion, sondern bildet mit dieser zusammen ein vollständiges S. 143–157. Abgedr. in G. Frege, Logische Untersuchungen, hg. G. Patzig, Göttingen 1966, S. 145. 478 Frege, Der Gedanke, a. a. O., S. 60. 479 Frege, Nachgelassene Schriften, Hamburg 1969, S. 183. 480 Vgl. Stepanians, a. a. O., S. 89. 481 Vgl. dazu insbesondere den Vortrag »Funktion und Begriff«, gehalten in der Sitzung vom 9. 1. 1891 der Jenaischen Gesellschaft für Medizin und Naturwissenschaft. In: G. Frege, Funktion, Begriff, Bedeutung, hg. G. Patzig, Göttingen 1975, S. 1–31.

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Ganzes, während die Funktion allein unvollständig, ergänzungsbedürftig oder ungesättigt ist. Für jedes Argument hat die Funktion einen bestimmten Wert. Für das Argument 1 ergibt die obige Funktion den Wert 3, für das Argument 5 den Wert 255. Führt man das Gleichheitszeichen ein, so kann man auch Gleichungen wie z. B. x2=1 als Funktion verstehen, muss aber bald feststellen, dass die Gleichung nur für die Argumente –1 und 1 stimmt und für alle anderen falsch ist. Für gewisse Argumente ist die Funktion wahr, für andere falsch. Frege nennt die Werte einer solchen Funktion »Wahrheitswerte« und unterscheidet die Werte des Wahren bzw. Falschen, wobei je nach Argument das Ganze von Funktion und Argument das Wahre oder Falsche ergibt. Jetzt fällt die Analogie zu den Gedanken ins Auge: Das Ganze von Funktion und Argument ist der Gedanke, der wahr oder falsch sein kann, und ein Begriff ist eine Funktion, deren Wert immer ein Wahrheitswert ist. 482 Jeder Gedanke enthält damit zwei Teile, von denen einer in sich abgeschlossen, der andere ergänzungsbedürftig ist. Der Erstere heißt »Gegenstand« der Letztere »Funktion« oder »Begriff«. Ein Begriff ist nichts Selbständiges, er ist kein Gegenstand, sondern immer auf etwas anderes bezogen. Er ist, wie Frege sagt, wesentlich prädikativ, 483 damit ist er ergänzungsbedürftig und darum kein Gegenstand. Gegenstand dagegen ist alles, was nicht Funktion ist, also alles, dessen Ausdruck keine Leerstelle enthält. Wenn der Gedanke, dass a F ist, beansprucht, wahr zu sein, so prätendiert er, dass der Gegenstand a unter den Begriff F fällt oder dass a den Begriff F zu einem Gedanken ergänzt. Dabei kann sich ein Begriff nicht nur auf Gegenstände, sondern auch auf einen Begriff beziehen, es handelt sich dann um einen Begriff zweiter Stufe. 484 Wenn Begriffe notwendig auf Gegenstände bezogen sind, so dass der durch den Gegenstand ergänzte Begriff, also der Gedanke, wahr oder falsch ist, so kann man die Gegenstände in solche einteilen, für die der Gedanke wahr und in solche, für die er falsch ist. 485 Mittels Begriffen klassifizieren wir Gegenstände (Eigenschaften, Ereignisse, Situationen), indem ein Begriff eine Regel oder Gesetzmäßigkeit an die Hand Ebd., S. 15. G. Frege, Über Begriff und Gegenstand. Vjschr. für wissensch. Philosophie 16 (1892), S. 192–205. Abgedr. in: G. Frege: Funktion, Begriff und Bedeutung, hg. G. Patzig, Göttingen 1975, S. 193; 201. 484 Vgl. Frege, Funktion und Begriff, a. a. O., S. 26 f. und Über Begriff und Gegenstand, a. a. O., S. 201. 485 Vgl. Frege, Funktion und Begriff, a. a. O., S. 20. 482 483

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gibt, wonach wir Gegenstände, die F sind, von solchen, die nicht F sind, unterscheiden können. Jeder Begriff enthält eine Gesetzmäßigkeit (z. B. eine Regel, welche angibt, welche Merkmale ein Gegenstand haben muss, um F zu sein), sonst wäre eine Klassifikation nicht zu leisten, denn diese setzt ein Kriterium voraus, das anzugeben erlaubt, welche Gegenstände unter einen Begriff fallen und welche nicht. Ein Begriff ist eine Klassifikationsregel und ein (Fregescher) Gedanke eine (probeweise) Klassifikation, die ich urteilend für wahr oder für falsch halten kann. Von diesem Begriff des Gedankens können wir versuchen, zu einem für das Verständnis des absichtlichen Denkens hinreichend klaren Begriff des Denkens zu kommen. Frege verstand Denken als »Fassen von Gedanken« und hat es vom Urteilen als der »Anerkennung der Wahrheit eines Gedankens« unterschieden. 486 Wenn wir die Frage stellen, was wir können, wenn wir absichtlich denken, und ich bisher »Denken« in dem weiten Sinne verstanden habe, in dem beides dazugehört, das Fassen von Gedanken und das Urteilen, so ist zu fragen: Was können wir, wenn wir Gedanken fassen, und was, wenn wir urteilen? Diese Fragen werden uns im Folgenden beschäftigen. Es wird sich zeigen, dass wir dazu Verschiedenes und verschieden Schwieriges können müssen, aber es ist keineswegs ausgemacht, welches von beiden das Grundlegendere sei. Zwar scheint es als sicher zu gelten: Ohne einen einfachen Gedanken absichtlich fassen zu können, entzieht sich die Welt der Gedanken unserem Zugriff. Einfachste Gedanken fassen zu können scheint das Mindeste zu sein, was man können muss, um denken und urteilen zu können. Aber das ist vom aktiven Denken her gedacht. Es gibt auch pathische Gedanken und pathische Urteile, über die wir urteilen können. Das Gedankenfassen wäre nur dann grundlegender, wenn sich alle pathischen Gedanken auf ein aktives Gedankenfassen zurückführen ließen, aber das ist keineswegs ausgemacht. Leichter lässt sich die Frage beantworten, was wir beim Aufwachen aus dem pathischen Wachsein zuerst können, einen Gedanken fassen oder urteilen. Im pathischen Wachsein verläuft das Fassen von Gedanken pathisch, d. h. sie fallen uns ohne unser Zutun ein. Erst wenn wir aktiv wach sind, können wir über die Wahrheit dieser Gedanken urteilen. Das aktive Urteilen kann sich auf pathisch oder aktiv gefasste Gedan486

Vgl. oben S. 351.

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Aktives Wachsein

ken beziehen. Wollen wir das absichtliche Denken in seinen Anfängen aufgreifen, nämlich da, wo es erwacht, so müssen wir an das Aufwachen im prägnanten Sinn anknüpfen. 487 Wachen wir aus dem Wachsein in pathischen Gedanken auf, so stellt sich die Frage, was wir zuerst können: aktiv urteilen oder aktiv Gedanken fassen? Pathisches Wachsein schlägt in aktives um, wenn die Angst vor Betroffenheit zur Hoffnung auf einen Zustand ohne Betroffenheit geworden ist, dann erscheint das pathisch Bewusste als eines, das nicht sein soll, als eines, dessen Bewussthaben verneint werden kann. 488 Damit wird es zu einem Möglichen unter anderem Möglichen, es entsteht ein Spielraum der Wahl, wenigstens des negativen oder positiven Stellungnehmens, der Entscheidung fordert, in dem es fraglich ist, ob das, was bewusst ist, bewusst sein soll oder nicht. Für die pathischen Gedanken, deren Bewussthaben im Fürwahrhaltenmüssen besteht, wird damit auch fraglich, ob sie wahr sind. So zieht die Fraglichkeit des Bewussthabens von Gedanken die ihres Wahrseins nach sich. Die Unruhe dieser epistemischen Fraglichkeit treibt dazu, die Wahrheit pathischer Gedanken zu überprüfen, indem wir sie zum Gegenstand absichtlichen Urteilens machen. Das Erste, was wir können, wenn wir aus dem Wachsein in pathischen Gedanken aufwachen, ist urteilen, ob ein Gedanke wahr oder falsch ist. Dem schließt sich das Fassen von Gedanken an: Stellt sich heraus, dass ein Gedanke falsch ist, so dass a nicht F ist, dann fragt sich, was a denn sonst sei. Jetzt geht es nicht nur um die Überprüfung der Wahrheit pathischer Urteile, sondern um ein absichtliches Fassen von Gedanken. Nun lautet die Absicht nicht, zu fragen »ist a F?«, sondern »was ist anstelle von F wahr?«. Wir fragen nach dem, was a in Wahrheit ist, welche Eigenschaften es hat, in welchen Beziehungen es zu anderem steht und warum es so und so ist. Dies führt zu Gedanken, die zunächst wiederum fraglich sein mögen, so dass über ihre Wahrheit ein Urteil noch aussteht. Man kann daher ein rechtfertigendes von einem fragenden und suchenden Denken unterscheiden. Beim ersten geht es darum, Gedanken auf ihre Wahrheit hin zu untersuchen, das zweite besteht darin, absichtlich einen Gedanken zu fassen, über dessen Wahrheit noch nicht entschieden ist.

487 488

Siehe oben S. 284ff. Vgl. oben S. 279.

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Modi des aktiven Wachseins

5.5.3

Rechtfertigendes Denken. Der Begriff der Evidenz

Fragt man sich, was wir zuerst können, Gedanken rechtfertigen oder Gedanken fassen, mag man versucht sein, davon auszugehen, man müsse erst einen Gedanken fassen, bevor man ihn rechtfertigen könne. Aber wenn es Gedanken gibt, die schon vor allem absichtlichen Fassen pathisch bewusst sind, und fraglich werden, wenn wir aus dem pathischen Wachsein aufwachen, dann gibt es ein Rechtfertigen von Gedanken, das kein (absichtliches) Fassen von Gedanken voraussetzt. Wir können also Gedanken rechtfertigen, ohne Gedanken fassen zu können. Daher wollen wir uns zuerst dem Rechtfertigen von Gedanken zuwenden. Dabei stellt sich allerdings nochmals und eindringlicher die Pilatusfrage. Verstehen wir Gedanken als Sinngebilde, die wahr oder falsch sein können, so kommen wir nicht darum herum, uns zuerst darüber zu verständigen, was Wahrheit sei, und wie wir feststellen können, ob ein Gedanke wahr ist. Von einem phänomenologischen Standpunkt aus kann Wahrheit nur in einer ausgezeichneten Gegebenheitsweise bestehen, jener der Evidenz. Husserl hat Evidenz als »Einheit einer Vernunftsetzung mit dem sie wesensmäßig Motivierenden« 489 verstanden. Nehme ich z. B. etwas wahr, so motiviert dies leibhafte Erscheinen eines Dinges die Urteilssetzung über dieses, sie ist Rechtsgrund dafür. Ähnliches gilt vom Urteil 2+1=1+2. Wir können es in einsichtiger Weise vollziehen, dann ist der Sachverhalt originär gegeben, es kann aber auch »in ›blinder‹ Weise« prädiziert werden, z. B. wenn wir gedankenlos früher Gelerntes reproduzieren. 490 Beim ersten Beispiel handelt es sich um eines bloß assertorischer Evidenz (was wir wahrnehmen ist so, wie es ist, es könnte aber auch anders sein), beim zweiten um eines von apodiktischer Evidenz, welche ein Anderssein ausschließt. Bei all dem kann Evidenz nicht als beinhartes Kriterium der Wahrheit gelten. Bekanntlich hat ihr Ruf nicht erst in jüngerer Zeit gelitten, notorisch ist der Vorwurf, sie sei dem Irrtum und der Täuschung ausgesetzt, damit bloß subjektiv und für die Wissenschaft ohne Wert. 491 Zu all diesen Kontroversen muss doch bemerkt werden, dass wir beim Erkennen nicht nur nicht

Hua III/1, S. 316. Ebd., S. 315. 491 So zum Beispiel Popper. Siehe K. R. Popper: Logik der Forschung, Tübingen 1973, S. 20. Vgl. dazu W. Stegmüller: Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft, Berlin, Heidelberg, New York 1969, S. 162 ff. 489 490

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Aktives Wachsein

auf evidente Einsichten verzichten können 492, ohne sie könnten wir mit dem Erkennen nicht einmal anfangen. Evidenz ist unverzichtbar, auch wenn wir in ihr nicht das Kriterium der Wahrheit sehen können, das wir uns wünschen. Eines dürfte klar sein: Eine Bedingung dafür, dass ein Gedanke als evident wahr erscheint, besteht darin, dass er wahr ist. Ebenso ist die Falschheit eines Gedankens Bedingung dafür, dass er evident falsch ist. Der Logiker mag davon ausgehen, dass es wahre Gedanken und damit Tatsachen gibt, und Gott mag sie wissen. Aber das ist nicht unsere menschliche Perspektive, die nun einmal darin besteht, dass wir von Tatsachen erst wissen, wenn wir sie erkannt haben. Aus dieser Sicht ist Wahrheit nicht eine Vorgabe, sondern ein Resultat des Erkennens. Ob ein Gedanke wahr oder falsch ist, zeigt sich letztlich daran, dass er als evident wahr oder evident falsch erscheint. Dazu mag es notwendig sein, komplexe Gedanken in einfache zu zerlegen, wobei diese Zerlegung wiederum dem Kriterium der Evidenz untersteht. Evidenz kann täuschen, aber die Täuschung kann nur entdeckt werden durch neue Evidenz. 493 Sind wir in absichtlicher Weise wach, bleibt uns der Trost, eine Evidenz durch andere Evidenzen überprüfen zu können, wenn wir wollen. Damit dürfte die Absicht, die wir im absichtlichen Urteilen haben, klarer geworden sein. Sie besteht darin, einen Gedanken zur Evidenz kommen zu lassen. Urteilen wir einsichtig über einen wahrnehmbaren Gegenstand, fällen wir ein evidentes Wahrnehmungsurteil, urteilen wir über einen Begriff, geht es darum, ein Begriffsurteil zur Evidenz zu bringen. Wenn Wahrheit dasjenige ist, wodurch sich Gedanken von anderen Erlebnissen unterscheiden, dann sind nur Gedanken wahrheitsfähig, andere Erlebnisse nicht. Zwar kann es auch bei Wahrnehmungen zur Erfüllung von Intentionen kommen, man denke nur an die protentionalen Erwartungen, aber Protentionen sind keine Gedanken und ihre Erfüllung kein Wahrsein im überzeitlichen Sinne. Dass Gedanken wahr oder falsch sein können, trifft auch auf pathische Gedanken zu, was fragen lässt, ob auch sie evident sein können und wie sich diese Evidenz von der im absichtlichen Wachsein unterscheidet. Dazu insbes. Stegmüller, a. a. O. So auch Husserl: »Die Möglichkeit der Täuschung gehört mit zur Evidenz der Erfahrung und hebt ihren Grundcharakter und ihre Leistung nicht auf, obschon das evidente Innewerden der Täuschung die betreffende Erfahrung oder Evidenz selbst ›aufhebt‹.« Dies gilt auch für eine sich als apodiktisch ausgebende Evidenz. Hua XVII, S. 164. 492 493

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Modi des aktiven Wachseins

Dabei möchte ich auf zwei Aspekte das Gewicht legen. Zum einen denken wir uns Evidenz als ein Offenbarwerden: Etwas wird von sich selbst her einsichtig; zum anderen kann auch Evidenz aktiv oder passiv sein. Was den ersten Aspekt angeht, so war ich der Ansicht, dass pathische Gedanken uns immer in einer Weise betreffen, dergemäß wir sie für wahr halten müssen. Dieser Zwang zum Fürwahrhalten schien mir unvereinbar mit Einsicht. 494 Was sich aufdrängt, verstellt die Sicht auf das, was ist. In bestimmten Fällen kann aber auch dieses zwanghafte Fürwahrhalten noch von Einsicht begleitet sein, nämlich dann, wenn sich Gedanken, die uns einfallen, direkt auf Wahrgenommenes oder Erlebtes beziehen. Das Bemerken, dass es regnet, mag dafür als Beispiel dienen. Da haben wir nicht zuerst die Frage, ob es regnet, und dann die Bestätigung durch den wahrgenommenen Regen, sondern umgekehrt: Das Wahrnehmen des Regens führt das evidente Urteil herbei, in dem der Regen als selbstgegeben dasteht. Abgesehen von solchen Weisen sinnlicher Gewissheit kann auch jedes bewusste Erleben als Rechtsgrund für ein evidentes Urteil über dieses Erleben dienen. Leide ich Schmerzen, so stellt sich für gewöhnlich auch das Urteil ein, dass ich Schmerzen habe, und das mit Evidenz. Was von Schmerzen gilt, gilt auch von anderen Empfindungen und Gefühlen, aber auch von allen intentionalen Erlebnissen. Erinnere ich mich an etwas, so kann mir ohne jede Absicht das reflexive Urteil einfallen »ich erinnere mich« (oder glaube mich zu erinnern), und auch das mit Evidenz. Es scheint also durchaus Fälle pathischer Gedanken zu geben, die mit Evidenz auftreten, aber sie bleiben auf sinnliche Gewissheit und eigenes Erleben beschränkt, und es ist eine Evidenz, die ganz und gar pathisch ist und sich, wie sich noch zeigen wird, von der absichtlichen Evidenz mit einiger Klarheit unterscheiden lässt. Nicht zuletzt mag man dem noch den Gedanken anfügen, dass es auch im pathischen Wachsein Evidenz geben müsse, denn gäbe es keine, müsste man sich darüber wundern, wie wir dazu kämen, absichtlich einen Gedanken zur Evidenz bringen zu wollen. Wie sollte eine solche Absicht entstehen, wenn sie nicht im pathischen Erleben vorgebildet wäre? Was nun den zweiten Aspekt der Evidenz angeht, ihre Aktivität oder Passivität, so müssen wir zunächst festhalten, dass alle Evidenz sich von selbst ergibt. Wahrheit kann nicht etwas sein, das wir machen. Evidenz ist wesentlich etwas, das geschieht, denn durch sie soll 494

Siehe oben S. 172ff.

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Aktives Wachsein

sich zeigen, was ist, unberührt von unserem willkürlichen Tun. Die Absicht, einen Gedanken zur Evidenz zu bringen, mag vielerlei Aktivitäten zur Folge haben, die aber nur dem Zweck dienen, die Bedingungen herbeizuführen, durch die etwas zur Evidenz kommt. Stellt sie sich ein, so sind die Bedingungen von uns erzeugt, aber nicht die Evidenz. Will ich z. B. wissen, ob ein Gegenstand so und so ist, muss ich näher an ihn herangehen, worauf sich zeigt, ob meine Vermutung zu Recht besteht. In anderen Fällen sehe ich die Wahrheit eines Gedankens ein, wenn ich ihn aus anderen Gedanken, die mir evident sind, beweisen kann. Auch das ist eine Weise, die Evidenz eines Gedankens herbeizuführen, und auch dabei wird sie nicht hergestellt, sondern ermöglicht: Sie stellt sich ein, wenn ich dem Beweis mit Verständnis zu folgen vermag, sonst nicht. Evidenz ist ihrem Wesen nach pathisch. Auch die Evidenz im aktiven Wachsein erzeugen wir nicht, unser Tun beschränkt sich darauf, etwas geschehen zu lassen, und doch ist es ein Unterschied, ob sich etwas als wahr aufdrängt oder ob ich etwas erwarte und zulasse, wie es der Fall ist, wenn ich die Absicht habe, etwas möge zur Evidenz kommen. Beide Mal ist etwas selbstgegeben, aber dieses Selbstgegebene unterscheidet sich wenigstens durch zwei Eigenheiten: Was unabsichtlich evident ist, stellt sich unvermittelt ein, während im absichtlich Evidenten auch das zur Evidenz kommen kann, was durch anderes vermittelt werden muss, sei es durch kinästhetische Bewegungen wie beim Wahrnehmen oder durch Schlüsse wie beim Beweisen. Auch wo die absichtliche Evidenz ohne solche vorbereitende Aktivität zustande kommt, unterscheidet sie sich von der unabsichtlichen allein schon dadurch, dass ihr eine Absicht vorhergeht. Fällt mir mit Evidenz ein, dass a F ist, so geschieht dies unerwartet. Frage ich dagegen, ob a F sei, fordere ich die Entscheidung, die mit der Evidenz verbunden ist, gewissermaßen heraus, ich bin auf sie eingestellt; sie kommt, wenn sie kommt, jedenfalls nicht unerwartet. Man kann den Unterschied beider Evidenzen im Rückgriff auf Husserls Beispiel verdeutlichen, ob etwas von Ferne Gesehenes eine Puppe oder ein Mensch sei. 495 Was ich sehe, scheint einmal ein Mensch, dann wieder eine Puppe zu sein, es drängen sich zwei sich streitende Gedanken auf: Einmal überzeugt der eine, und der andere tritt in den Hintergrund, dann wieder der andere. Schließlich gewinnt einer das Übergewicht, und ich halte ihn für wahr. Die Entscheidung 495

Siehe oben S. 168.

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Modi des aktiven Wachseins

zwischen beiden Möglichkeiten geschieht und ist als ein Faktum hinzunehmen. Bin ich dagegen aktiv wach und will den fraglichen Gedanken, ob das, was ich sehe, eine Puppe oder ein Mensch sei, zur Entscheidung bringen, so leite ich aus dieser Absicht weitere Absichten ab, die eine Entscheidung ermöglichen könnten: näher herangehen, allenfalls betasten und ansprechen. Daraus ergeben sich Wahrnehmungen, in denen meine Frage zur Entscheidung kommt. Evidenz ist im pathischen wie im aktiven Wachsein ein Geschehen, aber im aktiven stellen wir die Bedingungen her, damit sie eintreten kann. Hier setzt die Einsicht Absicht voraus: Wenn ich die Absicht habe, einsehen zu wollen, ob ein Gedanke wahr oder falsch sei, kann ich aus ihr weitere Absichten ableiten, wie ich eine Situation herbeiführen kann, durch die einsichtig wird, ob der fragliche Gedanke wahr oder falsch ist. Bin ich nur pathisch wach, ist dies schon darum unmöglich, weil ich keine Absichten haben kann. Bin ich aktiv wach, so kann ich wollen, dass ein Gedanke evident wird. Dem entspricht ein Unterschied im Bewussthaben der Evidenz. Wollen wir einen Gedanken zur Evidenz bringen und gelingt dies, so befriedigt das unser Wollen. Die Evidenz pathischer Gedanken erfüllt dagegen kein Wollen, sie ist etwas, das uns betrifft. Wir sehen ein, dass es regnet oder dass wir Schmerzen haben. Aber diese Einsicht überfällt uns, während die Einsicht im aktiven Wachsein etwas ist, was wir erhoffen und was unsere Hoffnung erfüllt. Der Unterschied ist fühlbar: Die aktive Evidenz ist von einem Gefühl der Befriedigung begleitet, erreicht zu haben, was wir wollen, so dass das, was bewusst wird, uns als ein von uns Gewolltes entgegenkommt, während das Evidente des pathischen Wachseins, selbst dann, wenn es einen Wunsch erfüllt, uns doch als ein Fremdes entgegensteht. Im pathischen Wachsein fehlt natürlich auch die Möglichkeit zur Kontrolle und Überprüfung der Evidenz. Im Gefühl der Befriedigung, das sich bei der Evidenz im aktiven Wachsein einstellt, wird nicht nur deutlich, dass das Erhoffte ist (wie bei einer Wunscherfüllung), sondern auch, dass es mir gelungen ist, die Gelegenheit herbeizuführen, durch die diese Evidenz eintreten kann. Ich fühle, dass ich das Können aktualisieren kann, das notwendig ist, um zu erreichen, was ich will, und genau das haben wir unter einem Modus des aktiven Wachseins verstanden. Das für den Modus des Wachseins im absichtlichen Urteilen entscheidende Können besteht darin, die Gelegenheit herbeizuführen, durch die das evident werden kann, was ich will, und diese Evidenz zuzulassen, d. h. die 363 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

eigene Aktivität zurückzunehmen und darauf zu achten, ob der Gegenstand unter den Begriff fällt bzw. ob das Begriffsurteil sich aus dem Inhalt der Begriffe ergibt, und dabei alles auszuschließen, was dieses Geschehen stört. Das Urteilsgefühl dieses Urteilenwollens ist ein Gefühl des Wachseins im absichtlichen Urteilen. Es ist weniger ein Gefühl des Überzeugtseins als eines, das aus der Achtsamkeit auf das, was geschieht, hervorgeht, wenn ein Gedanke fragend mit dem konfrontiert wird, das ihn bestätigt oder widerlegt, oder wenn ein Begriff probeweise zu einem anderen in Beziehung gesetzt wird. Um dieses Gefühl des Wachseins zu verstehen, müssen wir danach fragen, woran sich das im Bewussthabenwollen implizierte pathische Urteilen über das Erreichen oder Nichterreichen des Ziels orientieren kann. Halten wir uns zunächst an das Wahrnehmungsurteil, so kommt dieses zur Evidenz, wenn das Wahrgenommene unter den Begriff fällt oder, wie Frege sagt, den Begriff sättigt. Es ist eine Evidenz, die nicht apodiktisch ist wie jene analytischer Urteile. Ich muss erst feststellen, ob das Wahrgenommene die Merkmale des Begriffs aufweist. Diese sind nicht selten verborgen und müssen zur Sichtbarkeit gebracht werden, was Aktivitäten des Beobachtens, vielleicht auch des Experimentierens erfordert. Dadurch kann etwas zur Evidenz kommen, wobei diese Aktivitäten dies nur vorbereiten, ohne es herbeizuführen. Sie sind erste Schritte auf das Ziel hin und können Hoffnung auf ein Gelingen auslösen, allenfalls auch Furcht vor Misslingen. Kommt es zur Evidenz, leuchtet mir ein, dass das Gegebene den Begriff erfüllt, so geschieht mir das, aber es geschieht nicht ohne mein Zutun. Es ist eine Passivität in der Aktivität 496, ein auf Antwort abzielendes Fragen und Erlauschen der Antwort. Ich bin auf sie gespannt, und dann kommt sie, sei es bestätigend oder verneinend. In dieser Weise fragend auf Antwort achtend und sie hinhorchend vernehmen, macht das aus, was ich kann, wenn ich ein evidentes Wahrnehmungsurteil fälle. Ich sehe ein, dass ein Sachverhalt so ist, wie ich es gedacht habe. Die Evidenz geschieht mir, aber so, dass sie die Intention meines fragenden Suchens erfüllt. Nicht das Können, um das es hier geht, macht das Wachsein im evidenten Urteilen aus, sondern das Fühlen, dass ich dies kann. Doch schon bevor wir können, was wir wollen, sind wir in diesem Modus wach in den vorbereitenden Schrit496 Ein Ausdruck, den Husserl verwendet, um einen Unterschied hinsichtlich der Aktivität und Passivität der Zeitkonstitution zu bezeichnen. Siehe EU, S. 119.

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Modi des aktiven Wachseins

ten und im fragenden, auf eine Antwort hinzielenden Wahrnehmen. Immer will ich dabei einen Gedanken zur Evidenz bringen, und jeder Schritt auf dieses Ziel hin bedeutet eine partielle Befriedigung dieses Wollens. Darin ist das Urteilenwollen noch nicht befriedigt, aber Hoffnung auf Befriedigung stellt sich ein, die sich mit der Annäherung ans Ziel intensiviert, wenn sie nicht ins Stocken gerät und in Furcht vor Misslingen umschlägt. Von der Evidenz der Begriffsurteile gilt Ähnliches, freilich mit dem Unterschied, dass die Fragen nicht durch ein entsprechendes Wahrnehmen eine Antwort finden, sondern durch eine Analyse von Begriffen, wodurch evident wird, ob die Begriffe eines Gedankens im fraglichen Verhältnis zueinander stehen oder nicht. Fragt man (mit Frege), ob die Zahl Eins ein Ding ist, muss sich das aus den Begriffen Eins und Ding beantworten lassen. Doch liegt die Antwort nicht auf der Hand, sondern ergibt sich, wenn überhaupt, erst aus einer Auslegung dieser Begriffe. Auch hier liegen zwischen Frage und Antwort mehrere Schritte, an denen sich das im Wollen implizierte Urteilen über das Erreichen oder Nichterreichen des Ziels orientieren kann. Was wir jeweils können müssen, um ein Wahrnehmungs- oder Begriffsurteil zur Evidenz zu bringen, besteht im einen Fall im fragegeleiteten Achten auf Merkmale des Wahrgenommenen, im anderen im gleichfalls fragegeleiteten Erfassen von Begriffsverhältnissen. Der Unterschied ist jedoch hinsichtlich des Könnens nicht so groß, wie es zunächst scheinen mag. Gewiss erfordert das evidente Wahrnehmungsurteil aufmerksames Wahrnehmen, aber das können wir ohnehin, wenn wir urteilen können. Was wir in beiden Arten des Urteilens können müssen, läuft in beiden Fällen auf dasselbe hinaus: Im Wahrnehmungsurteil geht es um die Frage, ob das Wahrgenommene unter den Begriff fällt oder nicht, im Begriffsurteil darum festzustellen, ob ein Begriff erster Stufe unter einen Begriff zweiter Stufe fällt oder nicht oder ob dies nur teilweise der Fall ist. Von daher möchte man vermuten, es gebe nur einen Modus des Wachseins im rechtfertigenden Denken, den, in dem ich fühle, dass ich evident urteilen kann, bzw. hoffe, es zu können. Dabei gilt es festzuhalten, dass wir darin nur eine Weise des Wachseins in absichtlichen Gedanken sehen können, da es wenigstens noch eine weitere gibt: die des absichtlichen Fassens von Gedanken. Von daher möchte man annehmen, es gebe zwei Modi des Wachseins im absichtlichen Denken, einen des Rechtfertigens und einen des Fassens von Gedanken. Beides lässt sich unterscheiden, obschon im wirklichen Denken eines ins andere über365 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

geht. Das gilt im Grunde schon für einfache Urteile. Schaue ich aus dem Fenster und sehe, dass es regnet, so fasse ich zugleich den Gedanken, dass es regnet. Dabei fallen das Fassen des Gedankens und das Erleben seiner Evidenz zusammen. Dies kommt auch dann vor, wenn wir einen Gedanken aus anderen Gedanken rechtfertigen wollen. Wir können zwar beides unterscheiden und auseinander halten, aber nicht selten spielt beides ineinander. Geht es darum, einen Gedanken aus anderen, die als wahr gelten, herzuleiten, so müssen wir nicht selten einen oder mehrere andere Gedanken beweisen, die wir noch nicht haben, sondern erst fassen müssen. Oft kommen wir nur dann weiter, wenn wir aus dem zu beweisenden Gedanken einen (noch fraglichen) Gedanken ableiten und zeigen, dass beide äquivalent sind. Dann können wir den neuen anstelle des alten Gedankens beweisen. Möchte man z. B. beweisen, dass es unendlich viele Primzahlen gibt, so steht man vor der Frage, wie man etwas Unendliches beweisen kann. Das Problem löst sich, wenn man die Unendlichkeitsbehauptung durch die Behauptung ersetzt, dass zu jeder beliebigen Primzahl stets eine größere existiert. 497 In mathematischen Beweisen folgt das zu Beweisende meist nicht offensichtlich aus den Voraussetzungen, es bedarf der Zwischenschritte, die erst gefunden werden müssen. Das Fassen von Gedanken dient dabei als Mittel des rechtfertigenden Denkens, und das logische Herleiten von fraglichen Gedanken aus anderen fraglichen Gedanken ist selbst eine Weise, Gedanken zu fassen. Spätestens bei komplexeren Beweisen zeigt sich, wie rechtfertigendes Denken und Fassen von Gedanken ineinander greifen und das Fassen von Gedanken oft als Mittel zur Wahrheitsfindung dient. Es arbeitet dem rechtfertigenden Denken zu, das in solchen Fällen nicht auf eigenen Füssen steht, sondern auf das Gedankenfassen angewiesen ist, und zwar umso mehr, je weniger es sich auf ausgetretene Pfade verlassen kann. Obschon im wirklichen Denken Rechtfertigen und Gedankenfassen zusammenspielen, hilft es der Orientierung, wenn wir beide getrennt untersuchen. Dabei möchte ich mich zunächst einfachen Fällen des Gedankenfassens zuwenden und erst dann dem Gedankenfassen in Rechtfertigungszusammenhängen und damit dem Beweisen.

497

K. Duncker: Zur Psychologie des produktiven Denkens, Berlin 1935/1974, S. 70.

366 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Modi des aktiven Wachseins

5.5.4

Gedankenfassen und problemlösendes Denken

Wenn wir absichtlich denken, können wir nicht nur über die Wahrheit eines Gedankens urteilen, wir können auch Gedanken fassen, ohne zu entscheiden, ob sie wahr oder falsch sind. Man kann dieses Denken heuristisch nennen und es dem prüfenden und rechtfertigenden an die Seite stellen. Dabei setzt das rechtfertigende nicht in jedem Fall heuristisches Denken voraus, weil wir auch pathische Gedanken rechtfertigen können. Davon abgesehen stehen wir vor der Frage, wie wir zu fraglichen Gedanken kommen, die uns nicht bloß einfallen, weil ihrem Bewusstwerden die Absicht vorhergeht, sie bewusst zu haben. Ob wir die Gedanken, die bewusst werden, irgendwie erzeugen oder ob sie, wie Frege meinte, schon sind und wir sie lediglich erfassen, lasse ich einstweilen dahingestellt. Fragen wir, was es heißt, absichtlich einen Gedanken fassen zu wollen, so können wir uns am absichtlichen Vergegenwärtigen orientieren. Wollen wir uns an etwas Vergangenes erinnern, so beziehen wir uns auf dieses in der Absicht mittels eines Gedankens als eines Aspekts des Vergangenen, zu dem wir einen anderen Aspekt suchen, in dem das Vergangene anschaulich vergegenwärtigt wird. Haben wir die Absicht, einen Gedanken zu fassen, so enthält unsere Absicht gleichfalls einen Gedanken, in dem wir einen Begriff auf einen Gegenstand beziehen. Auch hier suchen wir nach einem anderen Gedanken über denselben Gegenstand. Es gibt eine Tradition, nach der diejenigen Gedanken den Begriff eines Gegenstandes bilden, die von ihm immer wahr sind, wie sehr er sich auch verändern mag. Sehe ich z. B. eine Mondfinsternis, so ist dieser sich verfinsternde Mond der Gegenstand, den ich begreifen möchte. Mit dem Gedanken, dass sich jetzt der Mond verfinstert, habe ich noch nicht begriffen, was eine Mondfinsternis ist. Ich darf nicht bei der bloßen Veränderung stehen bleiben, sondern muss zu dem vordringen, was in ihr unveränderlich bleibt, und das finde ich nur, wenn ich über den erscheinenden Mond hinaus den Zusammenhang berücksichtige, der zur Verfinsterung führt. Ich muss, wie Aristoteles sagt 498, die Ursache mit einbeziehen: Der Mond verfinstert sich immer, wenn er in den Erdschatten tritt. Was ich sehe, verändert sich, was sich gleich bleibt, sehe ich nicht, nämlich die Gesetzmäßigkeit, dergemäß immer dann, wenn der Mond in den Erdschatten gerät, eine Mondfinsternis 498

Aristoteles, Metaphysik VIII, 4; 1044b.

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entsteht. Haben wir nur den sinnlichen, veränderlichen Gegenstand, so stehen wir vor dem Problem, wie wir den Zusammenhang und die Gesetzmäßigkeiten finden, welche die Veränderung herbeiführen. Unschwer erkennt man auch hier wieder zwei Aspekte, unter denen der Gegenstand intendiert wird, nämlich zuerst als sich verfinsternder Mond und dann als Mond, der um die Erde kreist und dabei den Erdschatten durchquert. Was zunächst isolierter Gegenstand war, ist jetzt Teil eines Ganzen. Der fragende und der antwortende Gedanke sind beide Aspekte desselben Gegenstandes, der Verfinsterung des Mondes. Die Antwort liegt nicht auf der Hand. Wir müssen einiges über die Beziehungen von Erde, Mond und Sonne wissen, um sie geben zu können. Einfacher ist es, wenn wir uns beim Suchen nach einem Gedanken auf unser Gedächtnis stützen können. Menschen legen sich im Laufe ihres Lebens einen Vorrat an Gedanken zu, auf den sie jederzeit zurückgreifen können, wenn es darum geht, nach einem Gedanken zu suchen. Dieser Vorrat geht auf eigene vergangene Erfahrung oder auf die Erfahrung anderer zurück. Beides ist kein ursprüngliches Gedankenfassen mehr, verweist aber auf ein solches. Neue Gedanken zu fassen, um damit Probleme zu lösen und die Lösungen auf ihre Wahrheit hin zu überprüfen, ist vordringlich die Aufgabe der Wissenschaften. Geht es darum, Gedanken zu fassen, die für uns neu sind, können wir uns auf Erinnern und Hörensagen nicht verlassen. Wir müssen in einem ursprünglicheren Sinne Gedanken fassen, nämlich solche, die zumindest für den Denkenden neu und ungewohnt sind. Dies ist die Situation, in die wir geraten, wenn wir nach einem Gedanken fragen und die Frage nicht sogleich eine Antwort findet, sondern mühsam gesucht werden muss und für einige Zeit ohne Antwort bleibt. Dann haben wir ein Problem. Mit Problemen und damit der Frage, wie wir zu neuen Gedanken kommen, hat sich insbesondere die Denkpsychologie beschäftigt und verdient gemacht. Mit jeder Frage ist ein Problem bestimmt, das man lösen will. Denkpsychologen unterscheiden zwischen Aufgaben und Problemen. Bei beiden gibt es einen Ausgangs- und einen Zielzustand. Lässt sich der Ausgangszustand (er wird manchmal auch »Situation« genannt) durch Abrufen der Problemlösung aus dem Gedächtnis in den Zielzustand überführen, so spricht man von einer Aufgabe. Ein Problem liegt dann vor, wenn sich der Lösung Hindernisse in den Weg stellen, und sie nicht allein im Rückgriff auf ver368 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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gangene Erfahrung gefunden werden kann. 499 Probleme lösen wir, indem wir Gedanken fassen. Dies gilt für praktische Probleme nicht weniger als für theoretische, so dass man geradezu »Denken« und »Problemlösen« synonym verwenden kann. 500 Vor einem theoretischen Problem stehen wir nicht nur, wenn wir fragen, was ein Gegenstand oder ein Ereignis ist oder was mit einem Begriff eigentlich gemeint ist, sondern manchmal auch dann, wenn es darum geht, einen Gedanken aus anderen Gedanken herzuleiten und zu beweisen. Mit der Psychologie des problemlösenden Denkens haben sich zuerst die Gestaltpsychologen beschäftigt. Ihre Ansätze gelten als Klassiker und werden immer noch diskutiert. Um einen Einblick in ihre Sicht des problemlösenden Denkens zu gewinnen, möchte ich mich an zwei Beispielen aus den Wissenschaften orientieren, und zwar zunächst an Wertheimers immer noch eindrücklicher Rekonstruktion von Galileis Entdeckung des Trägheitsgesetzes 501, und dann, Duncker folgend, an einem Beispiel aus der Arithmetik. Ein Problem geht immer von Fragen aus. Die Fragen, die Galilei umgetrieben haben, waren solche nach der Bewegung und der Geschwindigkeit fallender Körper. Die Schwierigkeiten, welche sich aus den Versuchen ergaben, brachten ihn auf den Gedanken, den freien Fall als Grenzfall einer schiefen Ebene zu verstehen, auf der man Kugeln rollen lässt. Dabei zeigte sich, dass die Beschleunigung mit dem Neigungswinkel regelmäßig zunimmt. Darauf hat er nicht nur den freien Fall und das Herunterrollen auf einer schiefen Ebene als Teil eines größeren Ganzen aufgefasst, sondern auch den Wurf nach oben und das Hinaufrollen auf der schiefen Ebene. Erfolgt beim Hinabrollen und dem freien Fall eine Zunahme der Beschleunigung, so beim Hinaufrollen und beim senkrechten Wurf nach oben eine negative Beschleunigung, eine Verzögerung: Der Körper wird immer langsamer. Dabei zeigte sich, dass auch die negative Beschleunigung mit der Abnahme des Neigungswinkels abnimmt. Was mit dem freien Fall begonnen hat, hat sich zu einem Ganzen vervollständigt, von dem dieser nur noch ein Teil ist. Doch damit ist das Bild noch unvollständig: Wir haben den Fall nach unten und den Wurf nach oben, das Hinunter- und Hinaufrollen, aber es fehlt das, was dazwischen liegt, Vgl. W. Hussy: Denken und Problemlösen, Stuttgart 21998, S. 20. So Hussy, a. a. O. 501 Siehe M. Wertheimer: Produktives Denken. Übersetzt von W. Metzger, Frankfurt a. M. 1964, Kap. VI. 499 500

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das Rollen auf einer horizontalen Ebene. Positive und negative Beschleunigung nehmen mit dem Kleinerwerden der Winkel ab, bis es weder eine Beschleunigung noch eine Verlangsamung gibt, und der Körper sich auf der horizontalen Ebene ohne Beschleunigung mit gleichförmiger Geschwindigkeit fortbewegt. Das ist nur konsequent und doch ein völlig neuer Gedanke. Ein Körper, der sich mit gleichmäßiger Geschwindigkeit bewegt, kommt nie zur Ruhe, solange keine Kräfte auf ihn wirken. Wie ist Galilei zu diesem überraschenden Resultat gekommen? Am Anfang gab es die Frage, was geschieht, wenn ein Körper fällt oder abwärts rollt, und den Willen, eine Antwort zu finden. Die Versuche mit unterschiedlichen Neigungswinkeln brachten die Beschleunigung und ihre Abhängigkeit vom Neigungswinkel ins Zentrum der Überlegungen. Dazu kam die Idee, darin nur einen Teil eines größeren Ganzen zu sehen: Es gibt einen zweiten, zum ersten komplementären Teil, der sich zu diesem symmetrisch verhält. Zum Fall nach unten gehört der Wurf nach oben, zum Herab- das Hinaufrollen und zur positiven Beschleunigung die negative. Es sind zwei Hälften eines Ganzen, die sich strukturell entsprechen und ergänzen. Am Übergang der einen zur anderen gibt es weder positive noch negative Beschleunigung: Der Körper bewegt sich auf horizontaler Ebene mit gleichförmiger Geschwindigkeit. Die Ruhe ist damit gleichbedeutend mit gleichmäßiger geradliniger Bewegung und nur ein Spezialfall von ihr. Es ist nicht zu leugnen, das Resultat beantwortet die Ausgangsfrage. Es erscheint unvorhersehbar und überraschend, weil der Kontext, in dem die Antwort steht, nicht mehr jenem der Ausgangsfrage entspricht. Das Problemfeld, das sich zunächst nur auf fallende Körper bezog, hat sich erweitert bis zu entgegengesetzten Vorgängen hin. Das ließ die Bedeutung des Bewegungsbegriffs nicht unverändert. Ein Körper ist nicht nur dann bewegt, wenn eine Kraft auf ihn wirkt, und die Bewegung hört nicht auf, wenn die Kraft nicht mehr wirkt. Einmal in Bewegung versetzt, bewegt sich ein Körper auch ohne Krafteinwirkung unaufhörlich weiter. Verlangsamt sich seine Bewegung dennoch und kommt zum Stillstand, so liegt das an der Reibung und dem Luftwiderstand. Dieses Beispiel zeigt sehr schön, wie ein neuer Gedanke, hier jener der gleichförmigen Geschwindigkeit, eine neue Sichtweise auf ein Gebiet eröffnet und den gewohnten Begriffen eine neue Bedeutung verleiht. Es gehörte zum gewohnten Verständnis vorgalileischer 370 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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Physik, dass ein Körper fällt, weil er der Erde zustrebt, und dass er sich eine Zeitlang auf einer Ebene fortbewegt, wenn er gestoßen wird, und zur Ruhe kommt, wenn die stoßende Kraft nachlässt. Eine neue Sichtweise entsteht, wenn sich der Brennpunkt der Problematik verschiebt: Stand am Anfang die auf den Körper wirkende Kraft im Zentrum, so ist es am Ende eine Bewegung ohne Beschleunigung. Diese Verschiebung folgt aus der Erweiterung des Problemfeldes, sie führt dazu, dass sich von der Struktur des Ganzen her ein neues Verständnis der Teile ergibt. Denkpsychologen sprechen in solchen Fällen von einer »Umzentrierung« 502. Hat man vor Galilei die Ruhe und gewisse »natürliche« Kreisbewegungen von allen anderen Bewegungen unterschieden und ihnen entgegengesetzt, wird jetzt die Ruhe mit der gleichförmig geradlinigen Bewegung zusammen als strukturell gleichbedeutend gesehen und von allen positiv oder negativ beschleunigten Bewegungen unterschieden. Damit erhalten auch die anderen Begriffe eine neue Bedeutung: Steigen und Fallen von Körpern werden zusammen gesehen als Fälle von Beschleunigung, und das Verlangsamen beruht nicht auf dem Aufhören einer beschleunigenden Kraft, sondern auf Reibung, die der Beharrung entgegenwirkt. Das Beispiel macht deutlich, dass es dann zu einer Lösung kommt, wenn es gelingt, das Problem auf eine neue Weise zu sehen, was oft erst dann möglich wird, wenn es als Teil eines größeren Ganzen aufgefasst werden kann. Damit tritt die Frage ins Zentrum des Interesses, wie es zu einer Umstrukturierung des Problems kommt, welche die Lösung einsichtig werden lässt. Dazu mag ein Beispiel aus der Arithmetik hilfreich sein, das übersichtlicher ist, da es ohne Beobachtungen und Experimente auskommt. Mathematische Beweise werden dann zu einem Problem, wenn eine Behauptung nicht offensichtlich aus den Voraussetzungen folgt, sondern erst auf dem Umweg über neue, zuvor unbekannte Gedanken bewiesen werden muss. Duncker hat viel mit der sog. »13«-Aufgabe experimentiert, die er in die Frage zusammenfasst, »inwiefern sind alle Zahlen von der Form 276276, 591591, 112112 durch 13 teilbar?« 503 Eine seiner Versuchspersonen gibt zu Protokoll: »Es muss aus einem verborgenen gemeinsamen Bauprinzip folgen – das erste Tripel ist zehnmal das zweite, 591591 ist 591 mal 11, nein: mal 101 (Vl: so?) nein: mal 1001. Ob

502 503

Ebd., S. 191. Duncker, a. a. O., S. 37.

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1001 durch 13 teilbar ist?« 504 Die Versuchsperson beginnt mit einer Zielanalyse, d. h. hier einer Analyse der Behauptung: Die behauptete Teilbarkeit durch 13 muss auf einer gemeinsamen Eigenschaft von Zahlen der Form abcabc beruhen. Dann sucht sie nach einer solchen Eigenschaft, indem sie eine Situationsanalyse, d. h. hier eine Analyse der Voraussetzungen vornimmt und dabei auf ein Bauprinzip dieser Zahlen achtet. Diese bestehen aus zwei gleichen Zahlentripeln. Man könnte sich dabei auf die Aussage beschränken, Zahlen der Form abcabc entstünden dadurch, dass man zwei gleiche Zahlentripel aneinanderfügt. Aber in einer solchen Zahl bedeutet das erste Tripel etwas anderes als das zweite, nämlich die Anzahl der Tausender, während das zweite die der Einer nennt. Die Zahl 591591 ist aus 591000 und 591 zusammengesetzt und damit 1001-mal größer als 591. Folglich sind alle Zahlen der Form abcabc durch 1001 teilbar. Hat man dies eingesehen, stellt sich nur noch die Frage, ob 1001 durch 13 teilbar ist, was sich rasch bestätigt, womit das Problem gelöst ist. Entscheidend für die Lösung ist der erste Schritt, durch den die Frage »sind Zahlen der Form abcabc durch 13 teilbar?« zur Frage wird »sind Zahlen der Form abc mal 1001 durch 13 teilbar?« Diese Umzentrierung des Problems führt zu seiner Lösung. Sie herbeizuführen macht denn auch die Hauptschwierigkeit aus, an der die meisten Versuchspersonen Dunckers gescheitert sind, sie waren überrascht, dass alle diese Zahlen durch 1001 teilbar seien. Ziel dieses Problems war herauszufinden, warum jede Zahl der Form abcabc durch 13 teilbar ist. Die Antwort, jede Zahl dieser Form sei durch 1001 und 1001 sei durch 13 teilbar, liefert die Begründung für das Ziel. Dies lässt Duncker sagen: »Eine Lösung als Lösung verstehen heißt somit: die Lösung als Grund des Ziels verstehen.« 505 Keine Problemlösung kommt ohne Ziel- und Situationsanalyse aus. Die Zielanalyse beginnt mit der Frage »was bedeutet das eigentlich, was da gezeigt werden soll? – wie wäre das noch anders zu fassen? – was folgt aus der Behauptung, woraus zugleich rückwärts die Behauptung bewiesen werden könnte?« 506 Entscheidende Lösungsphasen entstehen oft als Folgerungen aus der Behauptung, sie sind »Umzentrierungen« des Aufgabenziels. Dabei kann es nicht darum gehen, irgendwelche Folgerungen zu ziehen, sondern eine, welche es ermög504 505 506

Ebd. Ebd., S. 56. Ebd., S. 52.

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licht, die Behauptung mit den gegebenen Voraussetzungen zu beweisen. Auch die Situationsanalyse erfolgt unter dem Gesichtspunkt der Aufgabe bzw. der Behauptung. Die Lösung entsteht durch sukzessive Problemumformungen, welche als partielle Problemlösungen angesehen werden können, durch die man sich der endgültigen Lösung annähert. Sind die jeweils entscheidenden Schritte Begründungen des Ziels und damit Grund-Folge-Beziehungen, stellt sich die Frage, was wir machen, wenn wir Folgerungen ziehen. Für Duncker ist das eine psychologische Frage. Er fragt, wie es das Denken zuwege bringe, »einem Sachverhalt einen anderen (neuen) einsichtig abzusehen?« 507 Anders gesagt: Wie kommen wir dazu, aufgrund eines Gedankens einen anderen (neuen) zu fassen? Dabei geht es Duncker nicht um analytische Urteile im Sinne Kants, bei denen das Prädikat zum Subjekt gehört als etwas, das in diesem in versteckter Weise schon enthalten ist 508, sondern um Gedanken, die an anderen synthetisch abgelesen werden können. Was ist damit gemeint? Duncker nennt eine Verknüpfung zweier Gegebenheiten a und b »total einsichtlich«, »wenn unmittelbar aus a entnommen werden kann, dass, wenn a, dann auch b und genau b gilt.« 509 Gewöhnlich ist man der Meinung, dies sei dann der Fall, wenn b in a schon enthalten sei. Doch dies könne Verschiedenes bedeuten. Es kann sich um ein konstitutives Mitenthaltensein handeln, dann ist dies Mitenthaltene konstitutiv für den Begriff, in dem es mit enthalten ist. Daraus ergeben sich analytische Urteile im üblichen Sinne wie »Der Rappe ist schwarz« oder »Eine Gerade ist durch zwei Punkte bestimmt«. 510 Wir können uns einen Rappen nicht anders denken, denn als schwarzes Pferd, und eine Gerade nicht anders als durch zwei Punkte bestimmt, womit sowohl »schwarz«, wie »durch zwei Punkte bestimmt« konstitutiv für den Begriff des Rappens bzw. der Gerade sind. Das Mitenthaltensein kann aber noch einen anderen, nicht-konstitutiven Sinn annehmen, nämlich den einer Konsequenz aus den übrigen Momenten des Ganzen. Aus Ebd., S. 56. Die Frage, »was es denn psychologisch heiße: ›aus etwas folgern‹« dürfte bei Duncker kaum in einem bloß empirisch verallgemeinernden Sinne gemeint sein, sondern als Frage nach den notwendigen Schritten, die vollzogen werden müssen, wenn wir Folgerungen ziehen. 508 Kant, Kritik der reinen Vernunft, Einleitung. Werke in sechs Bänden, hg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1966, Bd. 2, S. 52. 509 Ebd., S. 56. 510 Ebd., S. 58. 507

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a>b>c folgt a>c, aber dass a>c, ist nicht konstitutiv für den Sachverhalt, dass a>b>c. Das ist durchaus »psychologisch« gemeint. Was »größer« heißt, kann ich an allerlei Paaren von Gegenständen verdeutlichen, dann kann ich erläutern, dass a größer als b, und b größer als c sein kann. Dazu muss ich nicht wissen, dass a größer als c ist, aber ich kann dies aus dem Sachverhalt, dass a>b>c ablesen, ohne dass es für diesen Sachverhalt konstitutiv ist. Analytisch im gewöhnlichen Sinn wäre das Urteil »b ist größer als c«, denn das ist in a>b>c konstitutiv mitenthalten. Die Ablesung eines nicht-konstitutiv mitenthaltenen Moments nennt Duncker »synthetische Ablesung«. 511 Dabei ist für ihn klar, dass produktives Denken ohne synthetische Einsicht psychologisch nicht möglich ist. Wie ist synthetische Einsicht möglich? Duncker führt sie darauf zurück, »dass ein Sachverhalt sich in der Regel durch weniger Momente (Aspekte) aufbauen lässt als nachher – vermöge neuer ›Betrachtungsweisen‹ – von ihm abgelesen werden können.« 512 Synthetische Evidenz beruht damit auf der »Aspektstruktur der Denkgegenstände« 513: Ein Gegenstand bzw. Sachverhalt wird unter einem Aspekt gedacht und kann, wenn er so gedacht wird, auch unter anderen Aspekten gedacht werden, so dass gilt: wenn a, dann b. Schneiden sich zwei Linien mehr als einmal, dann müssen sie gekrümmt sein. Ist a größer als b, dann muss b kleiner als a sein. Bei jedem Aspektwechsel bleibt etwas bestehen, der Denkgegenstand. Darunter ist kein unbestimmtes x zu verstehen: Der Denkgegenstand ist durch einen Aspekt gegeben, aber nur als ein Moment dieses Aspekts, das im Wechsel der Aspekte erhalten bleibt. Z. B. kann ein Punkt durch seinen Abstand von einer Geraden gegeben sein, zugleich liegt er innerhalb eines Quadrats. Beides sind Aspekte desselben Gegenstands, aber was sich im Wechsel dieser Aspekte als Identisches erhält, ist nicht bloß der Punkt als numerisch identischer, sondern sein Ort, der in einem Aspekt durch den Abstand von der Geraden, im anderen durch seine Lage innerhalb des Quadrats bestimmt ist. Das »Fundament« der Ablesung ist das, was in der für beide Aspekte fundamentalen Hinsicht identisch bleibt. Es besteht in einer durch die erste Gestaltung konstituierten Eigenschaft, die erhalten bleiben muss, damit in der neuen, die neue Funktion einsichtig abgelesen werden kann. Damit ist für 511 512 513

Ebd., S. 59. Ebd., S. 62. Ebd.

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Duncker die Frage, wie synthetische Einsicht möglich sei, geklärt. Sie »ist dadurch möglich, dass von einem in bestimmter Gestaltung gegebenen und durch bestimmte Funktionen (Aspekte) charakterisierten Sachverhalt bei identisch festgehaltenen Fundamenten neue, d. h. zur Charakterisierung nicht mitverwendete Funktionen (Aspekte) vermöge neuer Gestaltungen (Betrachtungsweisen) ablesbar sind.« 514 Ist ein Aspekt gegeben, kann meist vielerlei daraus abgelesen werden, wovon sich aber vieles für die Problemlösung als unerheblich erweist. Nur Ablesungen, die vom Gesichtspunkt der Problemstellung her erfolgen, also von der Absicht meines Wollens her, sind erfolgsversprechend. Will man beweisen, dass es unendlich viele Primzahlen gibt, so lässt sich an diesem Ziel ablesen, dass es dann zu jeder Primzahl eine größere gibt. Man hätte ebenso gut auch anderes ablesen können, doch für die Problemlösung ist es entscheidend, die Unendlichkeitsbehauptung in eine endliche Behauptung verwandeln zu können, wenn sie beweisfähig sein soll. 515 Im Fall der 13-Aufgabe war die Ablesung, dass alle Zahlen der Form abcabc als abc mal 1001 darstellbar sind, durch den Gesichtspunkt bestimmt, dass nach einem gemeinsamen Teiler dieser Zahlen gesucht werden muss, wenn sie alle durch 13 teilbar sein sollen. Man hätte auch anderes ablesen können, das diesen Zahlen gleichfalls gemeinsam zukommt, z. B. sind die erste und die letzte von jeweils vier Ziffern einander gleich, was jedoch in keiner Beziehung zum Ziel steht. 516 Welche Ablesungen jeweils zum Ziel führen, hängt vom jeweiligen Problem ab, zu dem das Abgelesene in Beziehung stehen muss, denn letztlich soll das Ziel von der Lösung »einsichtig« abgelesen werden können. Damit sind wir genügend vorbereitet, um der Frage nachzugehen, was wir können, wenn wir einen neuen Gedanken fassen. Diese Frage hat sich inzwischen zur Frage zugespitzt, was wir können, wenn wir eine problemlösungsrelevante synthetische Ablesung vornehmen. Die Absicht meines Wollens besteht darin, ein Problem zu lösen, d. h. bei theoretischen Problemen, auf die ich mich beschränken möchte, die Begründung für das Ziel (die Behauptung) zu finden. Ein theoretisches Problem hat immer die Form »es gibt das und das, welches die Eigenschaft X hat. Warum hat es X?« Es gibt Körper im freien Fall, die beschleunigt werden. Warum werden sie beschleunigt 514 515 516

Ebd., S. 65. Vgl. ebd., S. 70. Ebd., S. 38.

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und in welchem Maß? Es gibt Zahlen der Form abcabc und sie sind durch 13 teilbar. Warum sind sie das? Solche Probleme wollen wir als gegeben hinnehmen und unterstellen, sie könnten allenfalls auch pathisch auftreten. Die Frage »warum?« leitet ein Suchen nach Gründen ein. Von ihr und damit von der Absicht, das Problem lösen zu wollen, geht alles Weitere aus. Dazu muss ich die notwendigen Ablesungen vollziehen können. Aber das Ablesen von Aspekten setzt ein Suchen nach Aspekten voraus, denn nicht beliebige, sondern nur die Aspekte führen zur Lösung, die einen Bezug zum Ziel aufweisen. Diese Suche kann beim Ziel (der Behauptung) oder bei der Situation (den Voraussetzungen) ansetzen. Sie beginnt mit der Frage, warum etwas so ist, wie es festgestellt wurde. Geht die Suche von der Behauptung aus, so frage ich, was gegeben sein muss, wenn die Behauptung wahr ist. Das führt zu einer ersten synthetischen Ablesung, was ein bestimmtes Fragen voraussetzt, das auf einer vorausgehenden Ablesung beruht. Im Falle der 13-Aufgabe beginne ich mit der Frage »Warum ist jede Zahl der Form abcabc durch 13 teilbar?« und lese daraus analytisch ab, dass Zahlen dieser Form einen gemeinsamen Teiler haben müssen, wenn es wahr ist, dass sie durch 13 teilbar sind. Das ist kaum ein neuer Gedanke. Zu neuen Gedanken komme ich erst, wenn ich das Gegebene auf seinen Grund hin transzendiere und damit auf etwas hin, was noch nicht gegeben ist. Alles Suchen setzt voraus, dass ich etwas will, und dann suche ich nach Mitteln, um dieses Ziel zu erreichen. Das Suchen beginnt damit, dass ich einen Gedanken bewusst haben will. Das für das Fassen (neuer) Gedanken spezifische Können setzt voraus, dass ich nach dem Grund von etwas fragen kann und damit ein Ablesen von Gedanken in Gang bringe. Die ersten Gedanken, die ich beim Problemlösen ablese, bieten kaum Neues. Sie beruhen auf analytischen Ablesungen im engeren Sinne (analytisch im Sinne Kants). Ich habe schon einen Gedanken, nämlich die Behauptung, und darin liegt das und das. Wenn Duncker von einem »Ablesen« spricht, betont er, was ohnehin zum Finden eines Gesuchten gehört, nämlich das in einem Feld von Gegebenem aufzufinden, nach dem wir suchen. Dadurch unterscheidet es sich von einem zufälligen Fund. Das Gefundene wie das Gesuchte sind beide Aspekte desselben Gegenstandes. Zunächst ist das Gefundene oft ein selbst noch fraglicher Gedanke. »Gibt es einen gemeinsamen Teiler der Zahlen abcabc?« Diese Frage wird wiederum zur Absicht eines Wollens und Suchens, das sich nun auf die Voraussetzungen richtet. Geht es gut, so lässt sich aus ihnen ein gemeinsamer Teiler ablesen. 376 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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Die Entdeckung, dass Zahlen der Form abcabc durch 1001 teilbar sind, ist zumindest für mathematisch Unbeholfene eine Überraschung. Gleichzeitig wird das Entdeckte einsichtig, also evident abgelesen. Es ist der entscheidende Gedanke, der zu einer Umzentrierung des Problems führt. Das einsichtige Auffinden eines solchen Gedankens wird von Denkpsychologen oft als »Aha-Erlebnis« beschrieben. 517 Die Lösung wird nicht allmählich erreicht, sondern durch Umstrukturierung und plötzliche Einsicht. Damit soll nicht gesagt sein, ein solches Erlebnis bilde einen unabdingbaren Bestandteil jeden Problemlösungsprozesses. Stellt es sich bei dramatischen Umstrukturierungen ein, weist es auf einen Unterschied zwischen Suchen und Finden hin, der uns schon beim Erinnern begegnet ist: Suchen ist ein sich über eine gewisse Dauer hin erstreckendes kontinuierliches absichtliches Unternehmen, das im Absuchen eines vergegenwärtigen Feldes auf bestimmte Eigenschaften hin besteht, während das Finden instantan geschieht. Entsprechend wird das einsichtig Abgelesene auf eine Weise bewusst, die an pathische Gedanken mahnt: Es taucht plötzlich auf, manchmal geradezu überwältigend, besonders dann, wenn ich mir im ersten Moment noch gar nicht klar darüber bin, dass es das ist, wonach ich gesucht habe. 518 Man kann jedoch nicht sagen, das derart Abgelesene sei pathisch bewusst, denn es erfüllt mein Wollen und ohne Suchen hätte ich es nicht gefunden. Schon weil wir eine Absicht haben, sind wir aktiv, aber auch hier machen wir die Erfahrung, ähnlich wie beim Erinnern, dass wir es mit einer Passivität in der Aktivi517 Ein Ausdruck von Karl Bühler. K. Bühler: Die geistige Entwicklung des Kindes, Jena 1921, S. 19. 518 Vgl. dazu, was Oerter zu Einsichten dieser Art schreibt: »Die ›Erhellung‹ des Sachverhaltes vollzieht sich gewissermassen nicht als allmähliches Hellwerden, sondern als plötzliches Einschalten des Lichtes. In den Fällen, in denen die Lösungsfindung in dieser Weise erlebt wird, spricht man von Einfall, Eingebung, Inspiration, Intuition, Erleuchtung. Es entsteht beim Denkenden der Eindruck, als sei ihm der Einfall zugeflogen und nicht das Ergebnis der Aktivität des Ich. Daher rührt das Überraschtsein und das Erlebnis der Ichferne. […] Neben der Ichferne sollte man als phänomenologisches Kriterium noch das Moment der Passivität hervorheben. Die neue Struktur drängt sich einem förmlich auf, man gleitet zwangsläufig in sie hinein. Vermutlich hängt damit das Evidenzerlebnis bei manchen Lösungen zusammen. Man hat den Eindruck, gerade infolge des ›Gezogenwerdens‹ in die neue Struktur, dass diese richtig sein muss. Zudem wird das Auffinden der Lösung von einem Gefühl der Entspannung, Erleichterung, Befriedigung begleitet.« R. Oerter: Psychologie des Denkens, Donauwörth 1971, S. 163 f.

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tät zu tun bekommen, einem Geschehen, das unserer Absicht entgegenkommt oder sie geradezu erfüllt. Auch hier dürfte hinter dem plötzlichen Auftauchen des Gesuchten ein Weckungsphänomen stecken, das ausgelöst wird, wenn wir der Lösung näher kommen. Was kann ich, wenn ich suche, und was muss ich allenfalls noch können, um das Gesuchte zu finden? Die ganze Last scheint nun auf dem Suchen zu liegen, denn um das Gesuchte zu finden, muss ich suchen können, kann ich das, so stellt sich das Gesuchte von selbst ein. Natürlich kann ich auch finden, ohne zu suchen, aber das wäre ein Zufallsfund und gehört nicht hierher. Das Suchen besteht darin, zu einem gegebenen Gedanken (sei es der Voraussetzungen oder der Behauptung) als einem Aspekt eines Denkgegenstandes einen anderen Aspekt zu suchen, der für die Lösung relevant ist. Das kann nur gelingen, wenn ich mich vom ersten Aspekt lösen kann. Oft gerät das Problemlösen ins Stocken und die erforderliche Umstrukturierung gelingt nicht, weil man an bestimmte Situationsmomente gebunden bleibt und nicht davon loskommt. Dies wurde insbesondere bei praktischen Problemen beobachtet: Denkpsychologen sprechen in solchen Fällen von »funktionaler Gebundenheit«. 519 Manchmal sind wir so stark an eine bestimmte Funktion eines Gegenstandes gewöhnt, dass wir kaum darauf kommen, ihn für anderes zu gebrauchen. Ein Bohrer dient zum Bohren, ein Hammer zum Hämmern, eine Schachtel zum Aufbewahren, und dabei bleibt es. Die Dinge könnten auch andere Funktionen übernehmen als gewöhnlich, doch eben das kommt nicht in den Blick. Solche Gebundenheit des Denkens macht sich auch bei mathematischen Problemen hindernd bemerkbar. 520 Wird ein Sachverhalt in bestimmter Strukturierung eingeführt, bleibt er nicht selten an diese Struktur gebunden, was es erschwert oder sogar verunmöglicht, ihn in anderer Strukturierung aufzufassen. Das sind die Stellen, an denen »der Faden reißt« 521 und das Problemlösen ins Stocken gerät. 522 An ihnen wird denn auch Frustration fühlbar und die Neigung, das Problem beiseite zu lassen und sich anderem zuzuwenden. Interessanterweise ist in manchen Fällen das Problem damit nicht abgetan: Nicht selten erweist sich die Zeit, in der es liegen

Vgl. etwa Duncker, a. a. O., S. 102 ff.; Hussy, a. a. O., S. 95 ff. Duncker, a. a. O., S. 123 ff. 521 Ebd., S. 131. 522 Das Konzept der Fixation ist nicht unumstritten. Siehe z. B. J. Funke: Problemlösendes Denken, Stuttgart 2003, S. 56; Hussy, a. a. O., S. 121 ff. 519 520

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bleibt, als fruchtbar. Greifen wir es nach einer Pause wieder auf, hat sich nicht selten die Fixierung gelöst und die Umstrukturierung gelingt. 523 Fixierungen zu lockern ist Voraussetzung für das Suchen nach weiteren Aspekten und damit nach neuen Gedanken. Wir suchen dann das vergegenwärtigte Ziel bzw. die Situation auf bestimmte Merkmale hin ab, die der gesuchte Aspekt haben muss, wenn er zur Lösung etwas beitragen soll. Die Problemlösung erfolgt in Schritten, wobei jeder gelungene Schritt als Teil der Lösung eine notwendige Bedingung für den nächsten Schritt bildet. Jeder wird als partielle Befriedigung erlebt und lässt Hoffnung entstehen, auch die restlichen Schritte mögen zustande kommen. Der Modus des Wachseins im Problemlösen und damit dem absichtlichen Fassen (neuer) Gedanken ist durch das Können bestimmt, das erforderlich ist, um den für die Lösung des Problems unerlässlichen Aspekt eines Denkgegenstandes abzulesen, der durch einen anderen Aspekt gegeben ist. Von dem Gefühl des Wachseins im Suchen als einem Hoffen, das Gesuchte zu finden, müssen wir das Gefühl der Evidenz unterscheiden, das wir im Finden der Problemlösung erleben. Auch im Finden sind wir wach, doch dieses Wachsein fühlt sich anders an. Suchend hoffen wir zu finden, was auch in Furcht, das Gesuchte nicht zu finden, umschlagen kann. Das Suchen verläuft kontinuierlich, das Finden unterbricht diese Kontinuität: Plötzlich taucht etwas auf, das uns im ersten Augenblick überrascht, so dass wir manchmal für Momente in pathisches Wachsein absinken. Dann stellt sich die Gewissheit ein: Das ist es, wonach ich gesucht habe, und damit die Befriedigung, es gefunden zu haben. Dem mögen sich in der Folge Zweifel anschließen, ob es auch wirklich das sei, wonach gesucht wurde. Dann können wir den Gedankengang nochmals durchgehen und Schritt für Schritt rechtfertigen. Finden wir den Gedanken, den wir suchen, bekommen wir mehr, als wir wollten. Wir wollten einen Gedanken fassen, und der hätte auch fraglich sein können, was wir finden, ist einer, der als evident erscheint. Offenbar sind uns Gedanken, auch wenn wir absichtlich nach ihnen suchen, zuerst einsichtig gegeben, Zweifel sind auch hier 523 Manche Denkpsychologen sprechen in solchen Fällen von einer »Phase der Inkubation«. Siehe: Funke, a. a. O., S. 48; dazu auch: J. Dorfman, V. A. Shames, J. F. Kihlstrom: Intuition, incubation and insight: implicit cognition in problem solving. In: Implicit cognition. Ed. by G. Underwood, Oxford 1996, S. 278 ff.

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das Spätere. Das erinnert an pathische Gedanken, die, wenn sie uns einfallen, zumindest anfänglich als wahr erscheinen. Im Unterschied zu diesem subjektiven Überzeugtsein, das meist mehr einem Zwang zum Fürwahrhalten gleicht, wird die Wahrheit absichtlich gefasster Gedanken einsichtig erlebt. Das Gedankenfassen terminiert, wie das rechtfertigende Denken, im evidenten Gegebensein eines Gedankens, aber die Ausgangssituationen unterscheiden sich erheblich. Die Absicht des Rechtfertigens enthält denselben Gedanken in fraglicher Weise, der am Ende als evident erscheint. Anders das Gedankenfassen: Auch hier ist der Gedanke in der Absicht intendiert. Ich suche nach einem Aspekt eines Denkgegenstandes, der mir durch einen anderen Aspekt gegeben ist, und zwar suche ich nach einem solchen, der durch den Kontext eines Problems bestimmt ist und damit durch ein Ziel, für welches das Gedankenfassen als Mittel dient. So suche ich in der 13-Aufgabe nach einem gemeinsamen Teiler von Zahlen der Form abcabc, indem ich untersuche, wie diese Zahlen gebildet sind. Gemeinsamer Teiler zu sein, ist ein Aspekt dieser Zahlen, die durch ihre Form gegeben sind, und zwar ist es der Aspekt, nach dem in der Problemstellung gefragt wird. 1001 ist dieser Teiler, dass er dies ist, ist mir im Finden evident gegeben. Fragt man, was man können muss, um einen Gedanken zu rechtfertigen oder zu fassen, mag die Antwort nahe liegen, das laufe in beiden Fällen auf dasselbe hinaus, denn beide Mal müssen wir einen Gedanken evident bewusst haben können. Aber beim Gedankenfassen geht es nicht darum, einen fraglichen Gedanken evident bewusst zu haben, sondern darum, einen neuen Gedanken zu finden, durch den mein Problem gelöst ist. Das erfordert denn auch ein anderes Können als das Rechtfertigen. Die Entscheidung, was von beiden schwieriger sei, fällt für das Fassen von Gedanken aus, obschon es Gedanken gibt, deren Rechtfertigung schwieriger ist als das Fassen einfacher Gedanken. Dies trifft vor allem dann zu, wenn das Rechtfertigen das Fassen zuvor unbekannter Gedanken einschließt. Wenn uns das Gedankenfassen schwieriger als das Rechtfertigen vorkommt, dürfte das an den Hindernissen liegen, die überwunden werden müssen, um ein Problem lösen zu können. Zu diesen gehört vor allem die funktionale Gebundenheit, die Fixierung an eingeschliffene Bahnen des Denkens. Sie kommt beim Schlussfolgern kaum vor, daher fehlt beim Rechtfertigen auch die Phase der Inkubation. Der Schlusssatz ist denn auch nicht in gleichem Maß überraschend wie die Umstruktu380 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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rierung einer Problemlösung, es kommt zu keinem Aha-Erlebnis, auch ist man nicht auf ein geschehendes Denken angewiesen. Wir müssen nur logische Regeln korrekt anwenden, auf Fixierungen, die zu überwinden wären, stoßen wir kaum. Insgesamt müssen wir zwei Modi des Wachseins im absichtlichen Denken unterscheiden: den des Wachseins im rechtfertigenden Denken und den des Wachseins im Fassen von Gedanken. Der erste ist durch das Können bestimmt, das nötig ist, um die Gelegenheit herbeizuführen, durch die ein Gedanke evident einsichtig wird. Im Wahrnehmungsurteil geht es darum am wahrgenommenen Gegenstand die Begriffsmerkmale aufzuweisen, im Begriffsurteil darum, die infrage stehenden Begriffe so zu analysieren, damit das behauptete Begriffsurteil einsichtig wird. Schlussfolgerndes Denken kann man als ein regelfolgendes Denken verstehen, ein Können, das auch für das mathematische Denken unabdingbar ist. Im regelfolgenden Denken fühlen wir uns in einem ausgezeichneten Sinne aktiv, denn da hängt das Bewusstwerden des Gesuchten allein von uns ab, nämlich davon, ob wir in richtiger Weise den Regeln folgen können. Im rechtfertigenden Denken kommen wir mit diesem Können ziemlich weit, stoßen aber an eine Grenze, wenn wir für eine Beweisführung einen neuen Gedanken fassen müssen. Im Modus des rechtfertigenden Denkens sind wir wach im Sinne des Bei-Bewusstsein-Seins, wenn wir aktuell Regeln folgen, wach im Sinne der Bereitschaft zu bewusstem Erleben sind wir im Hoffen, dies zu können. Was das Wachsein im Gedankenfassen betrifft, so schien uns das Problemlösen ein Paradigma für ein Gedankenfassen im ursprünglichen Sinn zu sein. Gelingt die Umzentrierung eines Problems, fassen wir nicht nur einen entscheidenden neuen Gedanken, dieser wirft nicht selten auch ein neues Licht auf alte, die dadurch eine neue Bedeutung gewinnen. Das Ziel wird sowohl beim rechtfertigenden wie beim problemlösenden Denken in einer Abfolge von Schritten erreicht. Dabei können sich beide, wie sich gezeigt hat, unter Umständen miteinander verschränken, nämlich dann, wenn wir erst ein Problem lösen müssen, um etwas beweisen zu können. Auch für Problemlösungen müssen wir Schlussfolgern können, und die Lösung besteht gleichfalls aus einer synthetischen Ablesung aus einer Kette von Schlüssen. Darüber hinaus sind wir auf die Fähigkeit angewiesen, Fixierungen lösen zu können. Ich muss mich von Lösungswegen trennen können, die sich als nicht gangbar erwiesen haben, um offen für andere zu sein. Das dazu erforderliche Können läuft darauf 381 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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hinaus, mich von der eigenen Bewusstseinsvergangenheit zu befreien, denn es sind die vergangenen vergeblichen Lösungsversuche und die eingeschliffenen Denkgewohnheiten, die mich hindern, ein Problem zu lösen. Eine Problemlösung kann bei den Voraussetzungen oder beim Ziel einsetzen und daraus Schlussfolgerungen ziehen. Aber da sich daraus vielerlei folgern lässt, kommt es auf jene Schlüsse an, die uns der Lösung näher bringen. Man sieht aber nicht immer von vorneherein, welche das sind. Nicht selten kann ein guter Einfall uns vom Herumstochern erlösen. Es spielt dann ein Geschehen mit, das hinter unserem Rücken abläuft, und auch hier dürfte es darin bestehen, dass die Absicht unseres Wollens einen Gedanken weckt, der zur Lösung hinführt. Das Fassen von Gedanken erfolgt in Schritten, jeder davon ist gewollt und kann gelingen oder misslingen. Jeder hat seine Urteilsgefühle, in denen wir uns im Gedankenfassen wach fühlen. Der Modus des Wachseins im Gedankenfassen ist komplexer als alle anderen Modi des aktiven Wachseins, weil das, was wir können müssen, mehr und verschiedenartigere Schritte erfordert als die anderen Modi. Im Suchen hoffen wir Verschiedenartiges zu können, wie Ziel und Voraussetzungen zu analysieren und synthetische Ablesungen vorzunehmen, was jeweils gelingen oder misslingen kann. Im Finden der Umzentrierung des Problems fühlen wir uns befriedigt, ebenso im Finden der Problemlösung selbst und der Einsicht, dass es die Lösung ist. Sind wir im Gedankenfassen wach, durchlaufen wir eine Abfolge von Urteilsgefühlen des mentalen Wollens, die schließlich im Finden des gesuchten Gedankens terminieren.

5.6

Die Modi des aktiven Wachseins. Zusammenfassung

Ein Modus des aktiven Wachseins ist nicht, wie die Modi des pathischen Wachseins, durch eine Qualität des Betroffenseins bestimmt, sondern durch ein je besonderes Können. Dies lässt erwarten, dass sich die Modi des aktiven Wachseins vielfältiger ausnehmen, weil man meist nicht nur eines, sondern mehreres können muss, um ein Ziel zu erreichen. Diese Erwartung hat sich bestätigt. Im Folgenden möchte ich die wichtigsten Züge des Könnens zusammenfassen, das je einen Modus des aktiven Wachseins bestimmt. Können wir, was wir jeweils können müssen, sind wir wach im Sinne des Bei-Bewusstsein382 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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Seins, hoffen wir, es zu können, oder fürchten wir, es nicht zu können, sind wir wach im Sinne der Bereitschaft zu bewusstem Erleben. 1. Im absichtlichen Stellungnehmen will ich etwas, das mir pathisch bewusst ist, weiterhin bewusst oder nicht mehr bewusst haben. Etwas weiterhin bewusst haben wollen kann heißen: Ich will es im Bewusstsein behalten oder ich will mich darin versenken und in ihm aufgehen. Verstehen wir dies als eine Intensivierung des positiven Stellungnehmens, so bleiben zwei Ziele: das positive und das negative Stellungnehmen. Im positiven Stellungnehmen will ich bewusst haben, was mir bewusst ist. Ist es ein ursprüngliches Stellungnehmen, bezieht es sich auf solches, das pathisch bewusst ist, dann will ich es erleiden, ich will betroffen werden. Dieses Betroffensein frustriert nicht mein Widerstreben, sondern erfüllt mein Wollen. Gelingt es mir das, was pathisch auf mich zuströmt, zuzulassen und mich ihm mehr oder weniger hinzugeben, so gerate ich in eine eigenartig paradoxe Einstellung: Ich will betroffen werden. Darin bin ich wach im Sinne des Bei-Bewusstsein-Seins. Wach im Sinne der Bereitschaft zu bewusstem Erleben bin ich, wenn ich hoffe, das gelinge, oder fürchte, es gelinge nicht. Das negative Stellungnehmen erfordert ein anderes Können. Ich will nicht etwas pathisch Bewusstes aktiv bewusst haben, ich will es nicht (mehr) bewusst haben. Dieses Wollen ist befriedigt, wenn ein pathisches Bewussthaben abbricht. Das dafür erforderliche Wollen motiviert keine Tätigkeit, sondern bleibt auf ein beharrliches Wollen beschränkt. Wenn es erfüllt wird, können wir uns dies kaum als Verdienst zurechnen. Es geschieht, wenn es geschieht, von selbst. Geschieht es, handelt es sich, wie beim positiven Stellungnehmen, um ein Geschehen, das unser Wollen befriedigt. Von einem Können im Sinne eines Machens kann hier noch weniger die Rede sein als beim positiven Stellungnehmen. Das Können beschränkt sich auf ein beharrliches Wollen. Darin müssen wir die Bedingung dafür sehen, dass das, was ich will, eintritt, und das reicht aus, um den Modus des Wachseins im negativen Stellungnehmen zu bestimmen, denn dass das, was ich will, geschieht, gehört mit zu dem, was ich da will. Das negative Stellungnehmen ist befriedigt, wenn das, was ihm bewusst war, aus dem Bewusstsein schwindet. In dieser Befriedigung besteht das Wachsein im Sinne des Bei-Bewusstsein-Seins. Wach im Sinne der Bereitschaft zu bewusstem Erleben sind wir, wenn wir hoffen, etwas nicht mehr bewusst zu haben, oder fürchten, es werde dennoch bewusst sein. 383 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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2. Im absichtlichen Wahrnehmen wollen wir etwas Bestimmtes aufmerksam wahrnehmen, das zum Horizont von etwas aufmerksam Wahrgenommenen gehört oder aus anderen Gründen nur erst pathisch mitbewusst ist. Willentlich wahrnehmen können wir, wenn wir das, was wir wahrnehmen wollen, in der Weise aufmerksam wahrnehmen können, wie wir es wollen. Dazu müssen wir den eigenen Leib in dienlicher Weise bewegen können, damit das zu Erscheinung kommt, was wir bewusst haben wollen. Wollen wir etwas genauer ansehen, müssen wir die entsprechenden kinästhetischen Bewegungen vollziehen können. Aber damit nehmen wir noch nicht wahr. Wir müssen uns dem, was erscheint, in hingebender und aufmerksamer Weise zuwenden können. Dazu bedarf es einer rezeptiven Hingabe ähnlich jener, die wir vom Stellungnehmen kennen. Die kinästhetischen Bewegungen dienen nur dazu, die Gelegenheit herbeizuführen, damit das, was wir wahrnehmen wollen, so erscheinen kann, wie wir es wollen. Zum Erscheinen selbst tragen wir nichts bei, wir lassen nur zu, was immer erscheint. Das Können, das diesen Modus bestimmt, ist einerseits ein Tun-Können: Wir führen durch leibliche Bewegungen die Gelegenheit herbei, durch die das erscheinen kann, was wir wahrnehmen wollen. Andererseits gehört zu diesem Können etwas, das nicht als ein Tun gelten kann: Das, was in diesen Bewegungen erscheint. Das Erscheinen selbst machen wir nicht, vielmehr enthalten wir uns unseres Tuns und nehmen auf, was immer kommen mag. Können wir das, so können wir willentlich wahrnehmen. In der Befriedigung dieses Wollens sind wir wach im Sinne des Bei-Bewusstsein-Seins, in der Hoffnung, es zu können, oder der Furcht, es nicht zu können, sind wir wach im Sinne der Bereitschaft zu bewusstem Erleben. 3. Das Wachsein im Modus des absichtlichen Vergegenwärtigens ist durch ein Können bestimmt, das in drei Schritten aktualisiert wird. Zuerst muss ich die Absicht meines Wollens ausreichend genau bestimmen. Dazu gehört beim Erinnern unter Umständen das Phantasieren von Möglichkeiten, wo oder wann etwas gewesen sein könnte. Dann geht es beim Erinnern darum, eine zu meiner Absicht passende Retention zu wecken, beim Phantasieren darum, passende Bilder anzuregen. Für beides muss ich am Wollen festhalten, meine Aktivität zurücknehmen können und dem Assoziieren Raum lassen. Wenn das gesuchte Vergangene aufblitzt, weckt es eine Wiedererinnerung an etwas, dann muss ich dessen Horizonte aufmerksam weiter aufdecken können. Liefert die Einbildungskraft passende Bilder, so 384 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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muss ich auswählen und entscheiden können, mit welchen ich weiterphantasieren will. Das Können, das diesen Modus des Wachseins bestimmt, hat eigentlich aktive Anteile und mehr passive, die nur zu erfüllen sind, wenn ich meine Aktivität zurücknehme und aufnehme, was sich von sich her zeigt. Will ich mich an etwas Bestimmtes erinnern, so kann ich nicht viel mehr dazu tun, als die Absicht möglichst genau zu bestimmen. Dann muss ich mich dem überlassen, was mir einfällt, bis etwas Vergangenes aufblitzt, das mit dem zu tun hat, wonach ich suche. Daran schließt sich eine Wiedererinnerung an. Auch diese mache ich nicht, sie stellt sich ein. Erst jetzt, wenn ich in der Wiedererinnerung angekommen bin, kann ich aktiv werden und mich in der Erinnerung diesem oder jenem zuwenden und den Verweisungen auf Weiteres in quasi-kinästhetischen Bewegungen nachgehen. 4. Im absichtlichen Bewussthaben von Gedanken kann man zweierlei Weisen, wach zu sein, unterscheiden: das Wachsein im rechtfertigenden Denken und das im Fassen von Gedanken. Das Erste zerfällt in das Rechtfertigen von Wahrnehmungsurteilen einerseits und von Begriffsurteilen andererseits. Um Wahrnehmungsurteile zu rechtfertigen, müssen wir am wahrgenommenen Gegenstand nachweisen, ob ihm die Merkmale des Begriffs zukommen oder nicht. Bei Begriffsurteilen muss ich beide Begriffe, deren Verhältnis zu beurteilen ist, so analysieren können, dass das behauptete Begriffsurteil einsichtig wird. Für beides muss ich Schlussfolgern und damit Regeln folgen können. Im regelfolgenden Denken fühlen wir uns in einem ausgezeichneten Sinn aktiv, weil das Bewusstwerden des Gesuchten allein von uns abhängt, nämlich davon, ob wir in richtiger Weise den Regeln folgen können. Beim bloßen Regelfolgen sind wir nicht darauf angewiesen, dass sich ein für das Finden des Gesuchten notwendiges Geschehen einstellt, weil das, wonach wir suchen, schon implizit in der Absicht enthalten ist. Für das Fassen von Gedanken reicht das Regelfolgen allein nicht aus, es kommt wieder ein Geschehen ins Spiel. Es geht nun nicht darum, einen schon bekannten Gedanken zu rechtfertigen, sondern einen neuen in originärer, ursprünglicher Weise zu fassen. Paradigmatisch steht dafür das problemlösende Denken. Wir formulieren ein Problem mit Gedanken, die wir kennen, und suchen nach einem Gedanken als Lösung des Problems, den wir nicht kennen. Das für das Finden der Lösung zentrale Können besteht, wenn wir den Denkpsychologen folgen, in einer Umzentrierung des Problems. Wir müssen 385 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

ein Problem auf eine neue Weise sehen können, nämlich so, dass etwas anderes im Zentrum steht als zuvor, und zwar etwas, das uns der Lösung näher bringt. Damit sich eine neue Sichtweise eröffnet, müssen wir uns von bestehenden Fixierungen lösen können. Ein Lösungsversuch kann von den Voraussetzungen oder dem Ziel des Problems ausgehen und daraus Schlussfolgerungen ziehen, aber es sind viele Schlüsse möglich, so dass man sich auf die beschränken muss, die zur Problemlösung etwas beitragen. Dabei besteht immer die Gefahr, stecken zu bleiben. Manchmal fällt uns auch der entscheidende Gedanke, der zur Umzentrierung führt, von selbst ein. In solchen Fällen scheint, wie beim Erinnern, die Absicht unseres Wollens einen Gedanken zu wecken, der uns der Lösung näher bringt. Auch das Fassen von (neuen) Gedanken hängt in vielen Fällen von einem Geschehen ab, das wir mit unserem Suchen induzieren, über das wir aber nicht verfügen können. Für das Fassen neuer Gedanken müssen wir nicht nur Schlussfolgern können, wir müssen uns auch von gewohnten Sichtweisen eines Problems befreien und auf Einfälle achten, die zu einer Lösung hinführen könnten.

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Die Beziehungen zwischen pathisch und aktiv Bewusstem

Die bisherigen Überlegungen zum pathischen und aktiven Wachsein gingen ursprünglich davon aus, es handle sich dabei um zwei unterschiedene und voneinander getrennte Sphären. Im pathischen Wachsein fühlen wir uns betroffen oder fürchten, es zu werden, im aktiven fühlen wir, etwas zu können und zu beherrschen, oder hoffen darauf. Diese Ansicht müssen wir entschieden revidieren, denn es hat sich nicht nur gezeigt, dass das aktive Wachsein auf dem pathischen aufbaut, die Befriedigung des mentalen Wollens und damit das Wachsein im Sinne des Bei-Bewusstsein-Seins besteht auch in manchen Fällen nicht darin, etwas tun zu können, stattdessen geschieht das, was wir wollen. Dies ist kein zufälliges Geschehen, das uns betrifft, sondern eines, das unserem Wollen entgegenkommt, es erfüllt und befriedigt. Wir mussten feststellen, dass sich das mentale Können, wenn wir es als eines verstehen, von dem wir wissen, was wir machen müssen, um es zu können, sich vor allem auf das Regelfolgen beschränkt. Typische Beispiele dafür sind das Rechnen mit Zahlen, das Befolgen 386 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Die Beziehungen zwischen pathisch und aktiv Bewusstem

algebraischer oder geometrischer Regeln und das schlussfolgernde Denken. Auch die kinästhetischen Bewegungen im Dienst der Aufmerksamkeit können wir dazuzählen, jedenfalls soweit wir wissen, welche Bewegungen wir machen müssen, um zu erreichen, was wir wollen. Dabei ist es gleichgültig, ob es sich um wirkliche Bewegungen des Leibes oder um Quasi-Bewegungen in der Vergegenwärtigung handelt; in beiden Fällen entsteht ein aufmerksames Bewusstsein von etwas. Was dann aufmerksam bewusst wird, wird es nicht allein durch unsere Tätigkeit, denn dieses Tun dient nur dazu, die Gelegenheit herbeizuführen, damit das erscheinen kann, was wir bewusst haben wollen. Das Erscheinen selbst geschieht. Dieses Geschehen ist nicht pathisch, wir erleiden es nicht, denn durch dieses erfüllt sich, was wir wollen. Soweit es bewusst ist, müssen wir es aktiv bewusst nennen, denn als aktiv bewusst galt uns bisher das, was nicht pathisch bewusst ist und unser mentales Wollen befriedigt. 524 Wir müssen einsehen, dass das, was ich aktiv bewusst genannt habe, oftmals nicht nur durch unsere Aktivität zustande kommt, sondern in gewissen Fällen durch Widerfahrnisse, die uns vielleicht noch in geringem Maß betreffen und dennoch unser Wollen erfüllen, in anderen durch ein Geschehen, das uns nicht betrifft und gleichfalls von uns gewollt ist. Dabei enthalten wir uns allen willkürlichen Eingreifens und wollen etwas geschehen lassen, zu dem wir eine passive, hingebende, darin aufgehende Einstellung einnehmen. Absichtlich etwas geschehen zu lassen ist ein willentliches Sichbeziehen auf das, was von selbst geschieht. 525 Das wache wollende Leben steht im Zeichen des Suchens und Findens. Blicken wir auf die unterschiedlichen Modi des absichtlichen Wachseins zurück, so fallen einige Phänomene auf, die unerwartet und bemerkenswert sind. Wir haben angenommen, mentales Wollen werde befriedigt, wenn das, was wir bewusst haben wollen, bewusst wird, und es werde frustriert, wenn das nicht zutrifft. Es war dann einigermaßen überraschend zu erfahren, dass es ein Bewusstsein durch Betroffenheit gibt, das zugleich unser Wollen befriedigt. In dieses merkwürdige Verhältnis von Aktivität und Passivität gerät

Vgl. oben S. 258. Dass sich passiv und aktiv Bewusstes gegenseitig beeinflussen, ist natürlich längst bemerkt worden. Bezüglich des Denkens siehe z. B. J. Cohn: »Ich denke« und »es denkt«. Untersuchungen an spontanen Denkverläufen über die Struktur des Seelenlebens. Acta Psychologica 2 (1937), S. 66 ff. 524 525

387 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

man schon beim positiven Stellungnehmen. Positiv Stellung nehmen können wir nur zu solchem, das uns pathisch bewusst ist, denn das aktiv Bewusste wollen wir bewusst haben, zu ihm haben wir schon Stellung genommen. Nehme ich zu etwas pathisch Bewusstem positiv Stellung, so will ich es bewusst haben, und zwar so, wie es bewusst ist. Ich will betroffen sein. Ich verhalte mich zu dem, was ich erleide, und stimme zu. Das ist kein ursprüngliches, naives pathisches Erleben mehr. Dieses Erleiden-Wollen kann so weit gehen, dass ich mich geradezu darin versenke, ja darin aufgehen will. Indem ich mich derart zu meinem pathischen Bewusstseinsleben verhalte, bin ich aktiv wach, ich habe mich dafür entschieden und kann mich jederzeit anders entscheiden. Es ist ein aktives Bewusstsein, das auf einem pathischen aufbaut. Anders das negative Stellungnehmen. Nehme ich zu pathisch Erlebtem negativ Stellung, will ich es nicht mehr bewusst erleben, aber für die Verwirklichung dieser Absicht kann ich nicht viel tun. Tritt ein, was ich da will, ist es nicht mein Verdienst, es geschieht, und man kann annehmen, es sei durch die Absicht meines Wollens initiiert worden, aber mehr habe ich dazu kaum beigetragen. Dieses Geschehen mache ich nicht, es ist keine Aktivität meinerseits, aber da ich will, dass es geschehe, kann es auch nicht pathisch genannt werden. Während wir beim positiven Stellungnehmen etwas erleiden und uns willentlich dazu verhalten, geschieht hier etwas, das wir nicht erleiden, höchstens noch als abnehmendes Betroffensein. Wir erleiden es nicht, weil es genau das ist, was wir wollen. Positives wie negatives Stellungnehmen beziehen sich (primär) auf ein Erleben, das pathisch bewusst ist. Im positiven erleiden wir dieses Erleben und bejahen das Erleiden. Im negativen wollen wir es nicht erleiden. Beide Mal geschieht die Erfüllung des Wollens von selbst. Auch das aktive Wahrnehmen ist auf Pathisches bezogen. Es setzt ein, wenn wir etwas nebenbei Bewusstes aufmerksam wahrnehmen wollen. Solch bloß Mitbewusstes, das zum Horizont von aufmerksam Wahrgenommenem gehört, ist als ein ungewollt Bewusstes pathisch bewusst. Entscheiden wir, welchen Lockungen des Horizonts wir folgen wollen, setzt ein erneutes Wahrnehmen ein. Nun wollen wir etwas nebenbei Bemerktes aufmerksam wahrnehmen und wollen auch die dafür notwendigen kinästhetischen Bewegungen vollziehen. Gelingt das, erscheint das, was wir wahrnehmen wollen. Dieses Erscheinen machen wir nicht, jedenfalls nicht so, wie wir die Bewegungen des Leibes machen. Wir führen nur die Gelegenheit herbei, damit 388 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Die Beziehungen zwischen pathisch und aktiv Bewusstem

erscheinen kann, was wir wollen. Das Erscheinen lassen wir zu, dafür haben wir uns entschieden, aber weiter können wir nichts dazu beitragen. Es geschieht uns, und ist, weil es unser Wollen erfüllt, aktiv bewusst. Erscheint etwas anderes, als wir erscheinen lassen wollen, frustriert es unser Wollen und ist pathisch bewusst. Auch das vergegenwärtigende Bewusstsein setzt, wie das absichtliche Wahrnehmen, Pathisches voraus. Wir wenden uns vom gegenwärtig Wahrgenommenen weg und Nicht-Gegenwärtigem zu. Das, wovon wir uns wegwenden, ist nicht mehr absichtlich wahrgenommen, sondern nur noch nebenbei mitbewusst und damit pathisch. Dieser pathische Hintergrund muss während des Vergegenwärtigens weiter bestehen, sonst beginnen wir zu träumen. Erinnern und Phantasieren lassen sich nicht allein auf eigene Aktivität zurückführen. Schon um zu dem hinzukommen, was wir erinnern wollen, können wir nicht viel mehr tun, als eine Absicht fassen, an ihr festhalten und hoffen, das zu Erinnernde möge sich von selbst einstellen. Fällt uns ein, wonach wir suchen, ist auch dies kein pathisches Bewusstsein. Es geschieht, was wir wollen, und man darf annehmen, das Festhalten an der Absicht wecke das Vergangene durch eine Deckung der Sinne. Darüber hinaus tun wir nicht viel; was wir wollen geschieht weitgehend von selbst. Auch die daran anschließende Wiedererinnerung taucht von selbst auf. Erst wenn wir uns in ihr gewissermaßen festgesetzt haben, können wir uns willentlich diesem oder jenem zuwenden, und erst darin kann man eine eigene Leistung sehen. Auch das absichtliche Phantasieren ist darauf angewiesen, dass uns das auf anschauliche Weise einfällt, was in leerer Weise in der Absicht bewusst ist. Zwar können wir das Weiterphantasieren durch erneute Entscheidungen beeinflussen und steuern, aber das ist kein Machen, das wir uns voll zurechnen könnten, denn es bleibt darauf angewiesen, dass das von selbst erscheint, was wir phantasieren wollen. Auch dieses Geschehen ist nicht bloß pathisch, wenn es gelingt. Erst im Bewussthaben von Gedanken können wir hervorbringen, was wir bewusst haben, jedenfalls dann, wenn wir allein durch Regelfolgen das erzeugen, was wir bewusst haben wollen. Auf diese Weise rechnen wir oder ziehen Schlüsse. Im Schlussfolgern können wir aus wahren Prämissen ein weiteres wahres Urteil gewinnen, aber damit machen wir nur explizit, was implizit schon in den Prämissen enthalten ist. Neue Gedanken und damit ein ursprüngliches Gedankenfassen kommen so nicht zustande. Auch setzt sich vieles, was wir 389 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

im alltäglichen Leben denken, aus Gedanken zusammen, die uns bekannt sind. Sie sind nicht neu gedacht, sondern von anderen oder aus dem Fundus unseres Gedächtnisses übernommen und damit nicht originär gedacht, sondern vergegenwärtigt. Das alltägliche Leben bietet selten Gelegenheiten, bei denen wir uns gänzlich neuen Situationen stellen müssen, meist haben wir Ähnliches auch schon erlebt und können auf bewährte Lösungen zurückgreifen. Was beim originären Gedankenfassen abläuft, ist phänomenologisch schwer zu fassen. Auf methodisch sichererem Gelände bewegt man sich, wenn man sich am problemlösenden Denken orientiert. An ihm lässt sich recht gut verfolgen, wie wir dazu kommen, Gedanken zu fassen, die für uns neu sind. Haben wir ein Problem, können wir nach einer Lösung suchen, indem wir aus den Voraussetzungen oder dem Ziel Schlüsse ziehen. Aber nur jene bringen uns weiter, die etwas zur Problemlösung beitragen, wobei es schwer abzusehen ist, welche das sind, da man die Lösung noch nicht kennt. Manchmal fällt uns der entscheidende Gedanke, der zur Umzentrierung führt, von selbst ein. Wir wissen dann sofort, ähnlich wie beim Erinnern, dass das, was uns einfällt, das ist, wonach wir suchen. Auch hier erfüllt sich das, was wir wollen, nicht selten durch ein Geschehen, das kaum zufällig sein kann, denn ein anderer Einfall hätte nicht zur Lösung geführt. Das lässt annehmen, dass auch hier, wie beim Erinnern, der Absicht unseres Wollens eine weckende Wirkung zukommt, die den passenden Einfall auslöst. Sehen wir vom positiven Stellungnehmen ab, das weitgehend auf pathischem Bewusstsein aufbaut, und ebenso vom regelfolgenden Denken, das ganz auf unserem Tun beruht, kommt in allen übrigen Weisen aktiven Bewussthabens ein Geschehen ins Spiel, das nicht pathisch ist, weil es durch unser Wollen ausgelöst wird und es erfüllt. Misslingt, was wir wollen, und wird an seiner Stelle etwas anderes bewusst, ist es pathisch bewusst, denn es ist nicht von uns gewollt. Das passive Geschehen, dem sich das willentliche Erinnern, Phantasieren oder Gedankenfassen weitgehend verdankt, erfüllt unser Wollen, kann es zugleich aber auch frustrieren, nur nicht in der gleichen Hinsicht, in der sie es befriedigt. So ist das Vergangene, das aufblitzt, in vielerlei Hinsicht unklar, seine Horizonte sind leer, vieles ist mehr angedeutet als anschaulich gegeben. Ist das Gesuchte, das mir einfällt, ein Gedanke, so erscheint auch er instantan: In einem Moment überblicke ich ein Ganzes von Zusammenhängen, wovon 390 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Die Beziehungen zwischen pathisch und aktiv Bewusstem

aber vieles undeutlich und mehr erahnt als wirklich gegeben ist. Es ist nicht zu fassen, entzieht sich meinem Zugriff und übt eine Macht über mich aus, indem es mich fasziniert, ähnlich wie manchmal pathische Gedanken. Die Befriedigung, die dabei entsteht, ist in mancher Hinsicht auch unbefriedigend. Aber gewiss nicht in derselben, in der sie befriedigt, nämlich darin, dass das Gefundene das Gesuchte ist. Es mag flüchtig sein, unklar und mehr erahnt als wirklich erfasst, aber dennoch weiß ich, dass es das ist, wonach ich suche. In dieser Hinsicht ist mein Wollen befriedigt, in anderer nicht, weil wir das Gesuchte in voller Klarheit bewusst haben wollen. Was uns einfällt, ist nicht nur etwas, das auftaucht und das wir bewusst haben wollen; es ist ein Gesuchtes, ohne Suchen wäre es mir nicht eingefallen. Man mag einwenden, dies hätte auch ohne Suchen geschehen können, umso mehr, als es Fälle gibt, wo der entscheidende Einfall sich erst einstellt, nachdem wir die Suche ausgesetzt haben. Vielleicht fühlt man sich dadurch in der Überzeugung bestätigt, das Suchen und mit ihm das aktive Wachsein seien für das Bewusstwerden ohne Belang und bloß als Epiphänomene einzuschätzen. Jeder kennt Erinnerungen, die ihm ohne Suchen eingefallen sind, nur nehmen wir für diese nicht in Anspruch, aktiv bewusst zu sein. Kann man das auch von Problemlösungen behaupten? Aber was wäre eine Problemlösung, die mir einfällt, ohne dass mir ein Problem bewusst wäre, dessen Lösung sie ist? Eine Erinnerung ist als solche schon als vergangen charakterisiert und gibt sich damit als Teil meines vergangenen Lebens, aber eine Problemlösung, die mir ohne vorhergehendes Suchen einfallen würde, wäre einfach unverständlich und könnte keinesfalls als Lösung eines Problems erkannt werden. Wenn ein Einfall einen Suchprozess befriedigt, ist er als Teil dieses Prozesses aktiv bewusst, weil er von uns gewollt ist. Allerdings haben solche Einfälle wie Janus zwei Gesichter: Sie sind aktiv, weil sie bringen, wonach ich suche, sie sind aber auch passiv, weil mein Suchen das Faktum, dass mir gerade das einfällt, nicht voll und ganz zu erklären vermag. Ich bin mir im Moment des Einfalls sicher, dass es das ist, wonach ich suche, trotzdem kommt er überraschend. Natürlich ist nicht alles aktiv Bewusste in dieser Weise janusköpfig; das diskursive Denken z. B., wenn wir es dem Einfall als dem intuitiven gegenüberstellen dürfen, ist es nicht. Wenn der Einfall, der das Gesuchte bringt, unser Wollen nur teilweise befriedigt, so dürfte dies mit der Weise zusammenhängen, wie er bewusst wird. Da gibt sich etwas, entzieht sich aber zugleich. 391 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

Mit dem Augenblicklichen solcher Einfälle hängt viel Unbefriedigendes zusammen: das Unausgeführte, bloß Angedeutete, das Unklare und Undeutliche, das Implizite und Verdichtete. Bei Gedanken kommt noch hinzu, dass sie für die Person, die sie denkt, neu sind. Gedanken, die wir früher schon gedacht haben, können uns sehr wohl auch einfallen, doch tun sie es nur dann in solch dramatischer Weise, wenn sie emotional aufgeladen sind. Erinnerungen sind dagegen niemals neu, höchstens in dem Sinne, dass es uns manchmal gelingt, etwas zu erinnern, das in der Vergangenheit unbeachtet geblieben ist. Vielleicht möchte man eher in der Unklarheit den Hauptgrund für die Enttäuschung sehen, die das Wollen manchmal erfährt. Im ersten Moment überwiegt die Befriedigung, endlich gefunden zu haben, wonach man gesucht hat, doch dann zeigt sich rasch, wie vieles unklar ist und der Korrektur bedarf. Woher kommt dieses Ideal von Klarheit, welches uns bei instantanen Einfällen unbefriedigt lässt? Das, was da aufblitzt, ist nur momentan bewusst, es ist gegenwärtig, aber es ist eine Gegenwart ohne Dauer. Das gegenwärtige Jetzt geht nicht in ein neues über, es setzt sich nicht fort. In einem solchen Momentanbewusstsein lässt sich, wenn auch nur in beschränktem Maß, nur das räumliche Nebeneinander erfassen, in dem vieles gleichzeitig als voneinander abgehoben gegeben ist. Eine einfache Figur kann ich auf einen Schlag überblicken, ich kann Unterschiede sehen, wie der zwischen Figur und Hintergrund. Was zeitlich ausgedehnt ist oder der Zeit bedarf, um erfasst zu werden, kann in einem Augenblick weder zu Klarheit noch zu Deutlichkeit kommen. Das Vergangene, das aufblitzt, kann nicht mehr als eine Andeutung sein, alles muss hinterher im Nacheinander des Vergegenwärtigens zur Klarheit gebracht werden. Das ist Husserls »Wiedererinnerung«. Analog dazu können wir beim Problemlösen von einem Wiederdenken sprechen: Das momentane intuitive Erfassen eines Gedankens ist auf den gegenwärtigen Augenblick beschränkt, in dem ich ein Ganzes von Zusammenhängen mit einem Schlag überblicke. Aber eben nur für einen Moment, so dass ich hinterher diesen verdichteten Gedanken sukzessiv und diskursiv auseinanderlegen muss, um ihn zur Klarheit zu bringen. Ähnlich hat Cohn in Bezug auf die wissenschaftliche Arbeit die »produktiven Vorstadien einer Arbeit« und die »Ausführung« unterschieden. Die ersten sind dadurch gekennzeichnet, »dass das Wollen sich auf die allgemeine Einstellung und auf den nachwirkenden Entschluss beschränkt, beim Auftauchen von Einfällen aus diesem Gebiet alles An392 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Die Beziehungen zwischen pathisch und aktiv Bewusstem

dere zurückzudrängen. Dagegen habe ich es zurzeit nicht in der Hand, eine ganz bestimmte Denkrichtung vorzuschreiben. Vielmehr ist der Einfall ›da‹ und von ihm aus ›entwickelt sich‹ das Denken.« 526 Bei der Ausführung dagegen »stelle ich mich willentlich auf jedes Stück der Arbeit ein (erst auf die Disposition, dann auf jeden Teil), wobei der eingestellte Teil gleichsam hell beleuchtet ist, das andere in mehr oder minder dichtem Dämmerschein liegt.« 527 Im instantanen Bewusstwerden müssen wir den tieferen Grund dafür sehen, warum die intensiv gesuchte Problemlösung unser Wollen nicht nur befriedigt, sondern in anderer Hinsicht auch frustriert. Weiteres, gleichfalls Unbefriedigendes, ergibt sich als Folge davon. Damit stehen wir vor der Frage, warum solch intensiv gesuchte Gedanken oder auch Erinnerungen instantan bewusst werden. Für die Erinnerungen hat sich eine Antwort gefunden: Das noch retentional Bewusste blitzt für einen Moment auf, wenn es mittels Assoziation durch Ähnlichkeit geweckt wird. 528 Bei den Gedanken dürfte etwas ausschlaggebend sein, das wir auch schon berührt haben: Gedanken, welche in dieser Weise instantan auftreten, wie etwa die Umstrukturierung eines Problems, sind für den Denker neu und allenfalls originell. Bei einer solchen Umstrukturierung erscheint ein oft komplexer Zusammenhang aus einer ganz anderen Perspektive als bisher. Wir geben die Grundbegriffe und Regeln, die eben noch leitend waren, zugunsten anderer auf, so dass sich die ganze Problemstellung verändert (vgl. das Beispiel von Galileis Fallgesetz). Das ist absichtlich kaum zu leisten, da wir mit unseren Absichten an dem kleben, was ist und gewesen ist; dadurch ist es uns so oft verwehrt, ein Problem ganz neu zu sehen. Zwischen der bisherigen Weise, ein Problem zu denken, und seiner Umstrukturierung klafft ein Abgrund, den wir nicht zu überbrücken vermögen. In solchen Fällen taucht die Umstrukturierung von selbst auf, und dies mit einem Schlag, weil der Zusammenhang mit dem bisherigen Denken zerrissen ist. Nun sind die Teile untereinander und mit dem Ganzen ganz anderes verknüpft, als wir es zu denken gewohnt waren. Die Plötzlichkeit, mit der das auftritt, lässt nicht zu, es ebenso instantan zu erfassen. Das braucht Zeit, weil wir die Zusammenhänge erst nach und nach wieder erarbei526 Cohn, a. a. O., S. 38 und ähnlich W. Stern: Allgemeine Psychologie, Den Haag 1950, S. 395, Anm. 1. 527 Cohn, a. a. O., S. 38. 528 Siehe oben S. 333.

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Aktives Wachsein

ten müssen. Der Bruch mit der bisherigen Perspektive, also ein Perspektivenwechsel, erzwingt das plötzlich geschehende Bewusstwerden. Uns fehlen die geeigneten Absichten und die gezielten Fragen, um zu einer neuen Sicht des Problems zu gelangen. Zu Neuem und Originellem kommen wir zumeist nur, wenn wir das Ganze eines Zusammenhangs instantan zu überblicken vermögen. 529 Solche Phasen instantaner Einsicht gibt es nicht nur beim Erinnern und Problemlösen, sondern auch beim Phantasieren. Folgt man Hume, bringt die Phantasie nichts Neues hervor, sie kann lediglich Teilstücke der Erfahrung auf eine Weise zusammenstellen, die sich in dieser nicht findet. So kommen wir zur Vorstellung eines goldenen Bergs oder einer Chimäre. Solches weist gegenüber der Erfahrung wenig Neuigkeitswert auf. Dieser scheint davon abzuhängen, wie einfach oder komplex die Elemente sind, welche der Phantasierende der Erfahrung entnimmt. Der Tonkünstler holt aus ihr die Töne, alles Übrige phantasiert er, und das lässt viel Raum für Kreativität. Auch Maler können sich bekanntlich so weit von der Erfahrung emanzipieren, ihr nur noch die Farben zu entnehmen und diese als Elemente ihrer Phantasie zu nutzen. Ebenso steht der Schriftsteller, der von fiktiven Geschehnissen berichtet, vor unerschöpflichen Variationsmöglichkeiten, und obwohl vieles davon erfahrbar ist, schränkt das seine Phantasie kaum ein. Für sie gilt vielleicht noch mehr als für das Problemlösen: Wir können nicht kreativ sein wollen. Das Schöpferische ist nicht herbeizuzwingen. Stellt es sich ein, dann nicht selten ähnlich wie eine Problemlösung erst nach einer längeren Zeit der Vorbereitung. Über all den Einfällen sollte nicht vergessen werden, dass ihnen eine Phase des Suchens vorhergeht. Sie haben wir noch zu wenig gewürdigt, vor allem fragt sich, wie das Suchen zum Finden führt. Dass dabei dem Suchen nicht nur die Rolle zierenden Beirats zukommt, haben wir schon bemerkt. Gesuchtes und Gefundenes intendieren den in der Absicht enthaltenen Denkgegenstand unter verschiedenen Aspekten. Sie sind aber auch voluntativ verknüpft: Ich will das Gesuchte finden. Dem Wollen müssen wir, wie dem, was uns betrifft, die Möglichkeit zugestehen, etwas bewusst werden zu lassen. Nicht der Absicht, sondern dem Wollen der Absicht kommt 529 Man denke hier an das Diktum Wertheimers, das Denken sei nicht nur sukzessiv wie die Sprache, sondern könne das Ganze vor den Teilen fassen. Siehe: Wertheimer, Produktives Denken, a. a. O., S. 102.

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eine weckende Kraft zu: Es weckt das, was dem, was es will, in irgendeiner Hinsicht ähnlich ist. Das wirkt selbst über die Phasen hinaus, in denen wir etwas absichtlich wollen, und reicht bis in den Tagtraum oder den Traum hinein. 530 Wie sich dabei das Wollen und das, was geschieht, zueinander verhalten, mag im Einzelnen schwer auszumachen sein, dennoch möchte ich versuchen, wenigstens für das Problemlösen in groben Umrissen eine Antwort zu geben. Die Ergebnisse dürften sich auch auf das Erinnern übertragen lassen, da dieses in der hier relevanten Hinsicht dem Problemlösen gleicht. Wollen wir ein Problem lösen, liegt es nahe, probeweise unterschiedliche Lösungswege zu versuchen. Die Absicht, das Problem zu lösen, konkretisiert sich, wenn sie auf einen bestimmten Lösungsweg eingeschränkt wird. Geht dieser fehl, wird unser Wollen frustriert und wir versuchen es auf andere Weise. Dabei können wir stecken bleiben und die Suche aufgeben. Greifen wir das Problem erneut auf, kann sich die Bindung an herkömmliche Lösungswege gelockert haben. Wenn das Problem eine Lösung hat, gibt es auch einen Weg zu ihr, und dieser besteht in einem Gedanken, den es zu fassen gilt. Er kann aus der Problemstellung abgelesen werden, aber nur, wenn es mir gelingt, mich ohne vorgefasste Meinungen mit einer offenen, hinhorchenden Haltung in es zu vertiefen. Das kann einen Aspekt des Problems wecken, der zuvor unbemerkt geblieben ist. Das Suchen muss aus der Problemstellung durch Analyse des Ziels und der Situation den Lösungsweg entnehmen. Das erfordert eine offene umsichtige Einstellung auf das Problem, welche das Fassen des Gedankens vorbereitet. Das Finden des für die Lösung der 13er-Aufgabe entscheidenden Schritts hebt an, wenn die Eigentümlichkeiten der Bildung von Zahlen der Form abcabc ins Auge gefasst werden. Dann sieht man sofort, dass sie alle durch 1001 teilbar sind. Diese offene suchende Haltung gegenüber der Problemstellung entspringt unserem, nach einer Problemlösung suchenden Wollen, das sich bemüht, seine Absicht zu spezifizieren. Wir suchen im Suchfeld, in unserem Fall in der Problemstellung, nach einem Aspekt, der uns einer Lösung näher bringt. Gerät etwas solchermaßen in den Blick, wird es geweckt. So kann das mentale Wollen, das wir im Wachsein fühlen, Gedanken wecken und damit bewusst machen, und zwar nicht nur schon bekannte, sondern auch solche, die für uns neu sind. Den Gegensatz 530

Vgl. Cohn, a. a. O., S. 32.

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Aktives Wachsein

zu dieser suchenden Haltung bildet das an die Umstrukturierung anknüpfende Wiederdenken. Habe ich eine neue Sicht auf das Problem gewonnen, so steht diese den alten Denkweisen und Begriffen, in denen ich es früher gefasst habe, entgegen. Handelt es sich um ein komplexeres Problem, so müssen erst die Konsequenzen, welche die neue Sicht des Ganzen für das Einzelne hat, herausgearbeitet werden. Wenn Galilei Beschleunigung nicht nur als das verstanden hat, was mit einem Körper geschieht, wenn er gestoßen wird, sondern auch, wenn er frei fällt, nach oben geworfen wird und auf einer schiefen Ebene herunter- und heraufrollt, so muss nach den Folgen gefragt werden, die das für den Begriff der Bewegung hat. Was neu ist am umstrukturierten Problem, muss herausgearbeitet werden. Dazu bedarf es, wie zur Beantwortung der in der Problemstellung enthaltenen Fragen, des systematischen Anwendens von Regeln. Habe ich gefunden, dass Zahlen der Form abcabc durch 1001 teilbar sind, so kann ich aus der Problemstellung, ob diese Zahlen durch 13 teilbar sind, die Frage ableiten, ob 1001 durch 13 teilbar ist, was sich durch Anwenden der entsprechenden Regeln beantworten lässt. Im Wiederdenken folgen wir bekannten Regeln und Mustern und sind, nach den bisherigen Kriterien am aktivsten und wachsten, aber kaum am innovativsten. Wenn das Problemlösen uns eines gelehrt hat, dann dieses: Es gibt neben dem regelgeleiteten Denken auch ein geschehendes Denken, das nicht aus pathischen Einfällen besteht, sondern gewollt ist, und doch von selbst geschieht. Wie beim absichtlichen Wahrnehmen und Vorstellen können wir absichtlich Bedingungen herzustellen suchen, die es möglich machen, dass ein gesuchter Gedanke sich einstellt. Aber er muss sich nicht einstellen, das lässt sich nicht erzwingen. Zu diesen Bedingungen gehört nicht nur die Analyse des Ziels und der Situation, sondern auch das Fühlen, dass ich die Lösung finden will, also das Hoffen, was ich will, bewusst zu haben, und das ist ein Gefühl des Wachseins.

7

Aktives Wachsein als eine notwendige Bedingung aktiven Bewusstseins

Wenn bisher vom aktiven Wachsein die Rede war, habe ich immer wieder durchblicken lassen, etwas werde aktiv bewusst, wenn es unser Bewussthabenwollen befriedigt. Eine Rechtfertigung dieser An396 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein als eine notwendige Bedingung aktiven Bewusstseins

nahme steht noch aus und muss nachgeliefert werden. Dies sei im Folgenden versucht. Gelingt dieser Nachweis, wäre auch begründet, warum das aktive Wachsein eine notwendige Bedingung dafür bildet, dass etwas aktiv bewusst ist. Pathisches Wachsein schien uns eine notwendige Bedingung pathischen Bewusstseins zu sein. Für das aktive Wachsein dürfen wir hinsichtlich des aktiven Bewusstseins Gleiches erwarten. Wie beim pathischen Wachsein nimmt diese Erwartung eine allgemeinere und eine speziellere Form an, womit sie sich in eine allgemeinere und eine speziellere These kleiden lässt. Etwas wird aktiv bewusst, wenn es mein Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung befriedigt. Dabei müssen wir, wie sich gezeigt hat, zwei Stufen der Befriedigung unterscheiden. 531 Das anfängliche Streben, etwas soll durch Entscheidung bewusst sein, wird durch die Entscheidung befriedigt, in der wir ein erstes aktives Bewusstsein sehen müssen. Mit ihr wird das Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung zu einem bestimmten mentalen Wollen. Was unsere Absicht realisiert oder Antwort auf unsere Frage gibt, wird gleichfalls aktiv bewusst. Durch diese Zweistufigkeit der Befriedigung ist das Fühlen des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung und damit das aktive Wachsein in einem zweifachen Sinne Voraussetzung für aktives Bewusstsein. In einem ersten allgemeineren Sinne ist es Voraussetzung für alles aktive Bewusstsein, weil es ohne Fühlen, dass ich nach Entscheidung strebe, zu keiner Entscheidung kommen kann, geschweige denn zu einem mentalen Wollen. In einem zweiten, spezielleren Sinne, sind je besondere Weisen des Fühlens dieses Wollens, nämlich je besondere Modi des Wachseins, Voraussetzung dafür, dass bestimmte Arten des Erlebens bewusst werden können. Allgemein gilt: Jedes aktive Bewusstsein setzt aktives Wachsein voraus. Um etwas aktiv bewusst zu haben, müssen wir aktiv wach sein, wir müssen aufwachen und zum Entscheiden kommen. Die speziellere These zielt auf die Frage, in welchem Modus des aktiven Wachseins man wach sein muss, damit eine bestimmte Art aktiven Bewusstseins zustande kommt.

531

Siehe oben S. 296.

397 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

7.1

Die allgemeinere These: Das Fühlen des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung ist eine notwendige Bedingung für alles aktive Bewusstsein

Etwas ist aktiv bewusst, wenn es nicht pathisch bewusst ist, also nicht durch Betroffenheit und Erleiden. Positiv gewendet bedeutet dies: Es ist etwas, für dessen Bewussthaben ich mich entschieden habe, etwas, das ich bewusst haben will. Dabei bedeutet »wollen« nicht bloß, wünschen, dass etwas sei, sondern ich will, dass es durch mich ist, so dass mein Wollen eine notwendige Bedingung für die Existenz des Gewollten bildet. Ohne dieses und damit ohne meine Entscheidung wäre es nicht. Wir können nicht wollen, ohne zu wissen, was wir wollen. In der Absicht setzen wir dem Wollen ein Ziel, indem wir uns entscheiden, was wir wollen. Jedem Wollen geht eine Entscheidung vorher. Diese muss nicht immer explizit sein, die Absicht kann sich auch wie selbstverständlich einstellen, aber auch dann liegt ihr implizit eine Entscheidung zugrunde, die wir hinterher explizit machen können. Insofern beginnt das Wollen mit dem Entscheiden. Im Entscheiden müssen wir eine erste grundlegende Voraussetzung für alles aktive Bewusstsein sehen, weil wir dieses als eines bestimmt haben, das auf Entscheidung beruht. Soweit ist das trivial. Weniger trivial nimmt sich die Frage aus, ob wir auch in gewisser Weise wach sein müssen, um entscheiden zu können. Wir haben versucht nachzuzeichnen, wie das aktive Wachsein aus dem pathischen hervorgeht. 532 Zuerst nimmt die Intensität, mit der uns etwas betrifft, ab, was ein Gefühl der Hoffnung aufkommen lässt, das Widerstreben gegen Widerfahrnisse könne befriedigt werden. 533 Durch diese Hoffnung erscheint das, was pathisch bewusst ist, als etwas, das nicht bewusst sein soll, als eines, dessen Bewussthaben zu verneinen ist. Damit fordert es eine Entscheidung für oder gegen das pathische Bewussthaben heraus. Ein solches Stellungnehmen zu meinem Bewussthaben ist ein erstes praktisches Entscheiden. Es hat wachstes pathisches Wachsein zur Voraussetzung. Mit ihm beginnt das Aufwachen. Das noch pathisch wache Bewusstsein macht dabei nicht nur die Erfahrung, über sein Bewussthaben entscheiden zu können, es erfährt auch, dass das eigentliche Ziel des Widerstrebens ein 532 Siehe oben Kap. III, 3.2 Aufwachen im prägnanten Sinn: Wie mentales Wollen aus dem pathischen Wachsein entsteht. 533 Vgl. oben S. 278.

398 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein als eine notwendige Bedingung aktiven Bewusstseins

nicht-pathisches Bewusstsein ist und dieses eines, das auf Entscheidung beruht. In diesem Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung fühlen wir uns aktiv wach. Sind wir so weit aufgewacht, können wir entscheiden, und in der Folge wird das Entscheiden durch Habitualisierung zu einer Fähigkeit, die solange aktualisiert ist, als wir aktiv wach sind. Implizit liegt dieses Ziel, ein Bewusstsein durch Entscheidung zu erreichen, schon im Widerstreben. Aber aktiv wach fühlen wir uns erst, wenn Hoffnung auf Befriedigung des Widerstrebens aufkommt und vor allem, wenn es uns zum Entscheiden drängt und wir dieses Drängen in seinen Urteilsgefühlen fühlen. Dann gilt, was man für die allerersten Entscheidungen beim Aufwachen noch nicht behaupten kann: Aktives Wachsein ist eine notwendige Voraussetzung für aktives Bewusstsein. Was spricht für diese Behauptung? Vom pathischen Wachsein sagten wir, es sei eine Voraussetzung für pathisches Bewusstsein, weil etwas dann pathisch bewusst wird, wenn es die Angst vor Betroffenheit erfüllt. Ohne diese Angst könnte das, was uns betrifft, nicht bewusst werden. Entsprechendes dürfte für die Entscheidung gelten: Eine Entscheidung wird bewusst, wenn sie das Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung befriedigt. Dies wäre dann der Fall, wenn das im Streben nach Entscheidung implizit enthaltene pathische Urteilen zum Resultat kommt, dass entschieden wird. Aber das setzt voraus, dass das Entscheiden bewusst ist, dann kann es nicht erst durch dieses Urteilen bewusst werden. Wir geraten dabei in den gleichen Zirkel, der uns schon bei der Frustration des Widerstrebens begegnet ist. 534 Soll etwas durch Befriedigung bewusst werden, und setzt Befriedigung ein Urteil darüber voraus, ob das Erstrebte bewusst geworden ist, drehen wir uns hoffnungslos im Kreis. Wie die Frustration des Widerstrebens nicht immer durch ein Urteil zustande kommt, ob Betroffenheit besteht, so die Befriedigung des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung nicht nur, wenn wir urteilen, ob das bewusst geworden ist, was wir bewusst haben wollen. Wie wir die Frustration auf Erfüllung der Furcht, so müssen wir die Befriedigung auf Erfüllung der Hoffnung, entscheiden zu können, zurückführen. Wenn wir nach Entscheidung streben und hoffen, entscheiden zu können, und es kommt zur Entscheidung, so deckt sich der Sinn des Erhofften mit dem des Entscheidens. Durch diese Deckung der Sinne wird das Entscheiden bewusst und damit auch sein Resultat, die Absicht meines Wollens. Aber so einfach kom534

Siehe oben S. 216f.

399 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

men wir nicht davon. Eine Deckung der Sinne kann das Bewusstwerden eines Sinngehaltes nur verständlich machen, wenn einer der beiden Sinngehalte bewusst ist, nur dann kann der andere geweckt werden. In unseren Fall bedeutet dies: Das was erhofft wird, also die Entscheidung, die ich hoffe leisten zu können, muss im Hoffen als Erhofftes bewusst sein. Dann stehen wir vor der Frage, wie das möglich ist, wenn wir annehmen, wir erwachen eben aus dem pathischen Wachsein und hätten noch nie entschieden. Wir konnten die Bewusstheit des Betroffenseins nur darum auf die Angst, irgendwie betroffen zu werden, zurückführen, weil wir diese Angst als eine vor der Wiederkehr des Taumels interpretiert haben und damit als Angst vor einem vergangenen eigenen Zustand, dessen Bewusstheit nicht weiter erklärbar schien. 535 Wie also kann der Gegenstand des Hoffens auf Entscheidung bewusst sein? Wie können wir auch nur eine Ahnung davon haben, was Entscheidung sei, wenn wir noch nie entschieden haben? Eine Antwort auf diese Frage muss an das Aufwachen aus dem pathischen Wachsein anknüpfen. Geht das Hoffen, entscheiden zu können, jeder Entscheidung vorher und ist das aktive Bewusstsein als eines bestimmt, das durch Entscheidung bewusst ist, dann kann dieses Hoffen nicht aktiv bewusst sein. Auf ein pathisches Entscheiden kann man es auch nicht zurückführen, denn solche Entscheidungen geschehen von selbst und sind damit etwas, das mir geschieht, und nicht etwas, das von mir ausgeht. Ich habe versucht, die erste Erfahrung eines Entscheidens, die wir im Aufwachen aus pathischem Wachsein machen, auf eine Forderung zurückzuführen, die an uns ergeht, wenn Hoffnung entsteht, das Widerstreben gegen Widerfahrnisse könne befriedigt werden. Diese Hoffnung tritt auf, wenn wir die Erfahrung machen, dass einzelnes Bewusstes infolge einer Verminderung des Betroffenseins aus dem Bewusstsein schwindet. Die Hoffnung, nicht betroffen zu werden, zielt darauf, dass kein pathisches Bewusstsein bestehe. Aber das Abnehmen der Betroffenheit führt zu divergierenden Gefühlen: nicht nur zur Hoffnung, nicht betroffen zu werden, sondern auch zu Furcht vor Bewusstlosigkeit. Im Licht des einen Gefühls erscheint das noch pathisch Bewusste als etwas, das nicht sein soll und zu verneinen ist, im Licht des anderen als etwas, das sein soll und zu bejahen ist. Beides kann nicht zugleich der Fall sein. Diese Situation fordert eine Entscheidung. Damit entsteht ein 535

Vgl. oben Kap. II, 1 Der Taumel und die Angst vor seiner Wiederkehr; und S. 216f.

400 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein als eine notwendige Bedingung aktiven Bewusstseins

Streben nach Entscheidung oder, wie man wohl treffender sagen muss: Ein solches Streben wird durch diese Herausforderung geweckt und explizit bewusst. Einmal entstanden, ist das Ziel dieses Strebens in seinen Urteilsgefühlen bewusst, also auch in der Hoffnung, entscheiden zu können. Damit hat sich die Frage geklärt, wie ein allererstes Entscheiden bewusst werden kann: Es wird bewusst, indem es die Hoffnung, entscheiden zu können, erfüllt. Ist das Streben, entscheiden zu können, einmal entstanden, wird das Streben, nicht betroffen zu werden, zu einem nach Bewusstsein durch Entscheidung. Dieses drängt uns zu entscheiden, aber es drängt nicht zu einer bestimmten Entscheidung. Wie ich entscheide, bleibt bis zur Entscheidung offen. Das gilt auch für überlegtes Entscheiden, wenn ich Gründe und Gegengründe abwäge. Ich strebe nicht danach, dass eine Entscheidung geschehe, sondern dass ich selbst entscheide. Dass ich (wie auch immer) entscheide, erfüllt die Hoffnung, Entscheiden zu können, und verwirklicht die Absicht zu entscheiden, wenn sich eine solche herausgebildet hat. Aber wie ich entscheide, verwirklicht keine Absicht, sonst hätte ich mich schon zuvor entschieden. Insofern müssen wir im Entscheiden so etwas wie einen ursprünglichen eigenen Akt sehen. Bin ich aufgewacht und ist das Entscheiden habituell geworden, so aktualisiert jede Entscheidung dieses Können. Eine jede kann, wie bisher angenommen, aus dem Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung hervorgehen, ich kann sie aber auch, wenn ich entscheiden kann, absichtlich wollen. Dann habe ich mich entschieden, entscheiden zu wollen, was ich bewusst haben will, und dies gegen die andere Möglichkeit, nicht darüber zu entscheiden, sondern dem, was von selbst bewusst wird, nachzufolgen. In manchen Fällen wollen wir sehr überlegt entscheiden, welches die besten Mittel sind, um das bewusst zu haben, was wir bewusst haben wollen, oder aus irgendwelchen dunkeln Quellen wünschen, dass es bewusst sei. Wir können uns die Entscheidung, selbst entscheiden zu wollen, was uns bewusst sein soll, oder uns treiben zu lassen auch grundsätzlicher denken, nämlich so, dass wir immer dann, wenn ein entsprechender Spielraum des Entscheidens offen steht, selbst entscheiden wollen, was wir bewusst haben wollen. Dann wird das Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung zu einem beständigen Wollen. Die Alternative, gegen die wir uns dabei entscheiden, wäre die, uns immer treiben zu lassen, was in etwa bedeutet: In jeder Situation, in der es zu einer Entscheidung darüber kommen kann, was bewusst sein soll, gibt es Möglichkeiten, 401 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

die näher liegen als andere, und nicht selten springt uns etwas durch assoziative Verknüpfung selbst gegen unseren Willen ins Bewusstsein. Wir verlieren uns dann in den »zufällig sich andrängenden Möglichkeiten« 536. Was so bewusst wird, wird es nicht durch Entscheidung, sondern pathisch durch Betroffenheit. Wir können uns eine Entscheidung zwischen den Möglichkeiten denken, sich immer entscheiden zu wollen oder sich immer treiben zu lassen, und es mag Leute geben, die sich da wirklich entscheiden; häufiger dürfte hier gar nichts entschieden werden und man gerät von Fall zu Fall in die eine oder andere Möglichkeit. Natürlich ist es mit dem Entscheiden allein nicht getan. Haben wir uns entschieden, was wir bewusst haben wollen, ist noch nicht bewusst, was wir wollen. Erst durch ein beständiges, anhaltendes Wollen werden Akte des Aufmerkens, Erinnerns, Phantasierens Urteilens usw. motiviert, durch die das Gewollte zustande kommt. Solche Akte geschehen nicht nur, sie sind von uns gewollt und sind, weil wir uns für sie entschieden haben. Das wird nicht falsch, wenn wir zugeben müssen, es laufe in manchen Fällen darauf hinaus, zuzulassen, was geschieht. Möchte ich z. B. urteilen, muss ich in der Weise wach sein, damit ich es kann, und das bin ich sicher nicht, wenn ich nicht etwas wollen und nicht einmal entscheiden kann. Wie wir gesehen haben, können wir im Traum nicht urteilen, wir können auch nicht absichtlich erinnern oder phantasieren, denn was so aussieht, als ob wir urteilten, erinnerten oder phantasierten, bilden wir uns nur ein. Wir können nicht wirklich urteilen oder andere Formen aktiven Bewusstseins ausüben, weil wir in traumartigem Wachsein nicht wirklich wollen können. Zwar können wir träumen, etwas zu wollen, aber auch das ist bloß ein illusionäres Gegenwärtigen eines Wollens. Erst wenn Hoffnung aufkommt, nicht betroffen zu werden, beginnen wir aus dem pathischen Wachsein aufzuwachen, denn erst dann kann es zu ersten Entscheidungen kommen, womit das Streben gegen Betroffenheit zu einem nach Bewusstsein durch Entscheidung wird. Nur wenn wir in der Hoffnung, entscheiden zu können, fühlen, dass wir nach Entscheidung streben, kann die Entscheidung durch eine Deckung der Sinne bewusst werden, und erst dann können wir das bewusst haben wollen, wofür wir uns entschieden haben. Auch hier ist die allgemeinere These eine Voraussetzung der spezielleren.

536

Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 264.

402 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein als eine notwendige Bedingung aktiven Bewusstseins

7.2

Die speziellere These: In einem Modus des aktiven Wachseins wach zu sein, ist eine notwendige Bedingung für absichtliches Bewussthaben

Bleibt die Frage, ob und warum ein Modus des absichtlichen Wachseins Voraussetzung dafür sein soll, dass etwas, das in diesem Modus bewusst sein kann, bewusst wird. Erinnern wir uns auch hier daran, wie sich diese Frage beim pathischen Wachsein beantworten ließ. Bin ich in einem bestimmten pathischen Modus wach, fürchte ich, von etwas in bestimmter Qualität betroffen zu werden oder hoffe auf geringeres Betroffensein dieser Qualität. Dann kann nur solches bewusst werden, das mich gleichartig betrifft wie das, was ich befürchte. Bewusst wird es, wenn es meine Furcht erfüllt und damit mein Widerstreben gegen Widerfahrnisse frustriert. 537 Durch einen Modus des pathischen Wachseins ist bestimmt, wie mich das betrifft, was in diesem Modus bewusst werden kann und was vom Bewusstwerden ausgeschlossen ist. Das Bewusstwerden selbst ist durch und durch ein Geschehen. Dagegen ist das aktive Wachsein gekennzeichnet durch Suchen und Finden. Das Suchen als Bewussthaben-Wollen ist Voraussetzung für das Finden des Gesuchten. Ein Finden ohne vorhergehendes Suchen wäre zufällig, jedenfalls kein Finden von etwas, wonach ich gesucht habe. Wie im pathischen Wachsein das Widerstreben Voraussetzung für das Bewusstwerden von Widerfahrnissen ist, so sind Entscheiden und Wollen, etwas möge bewusst werden, Voraussetzungen dafür, dass es bewusst wird. Werden Widerfahrnisse durch Frustration eines Widerstrebens bewusst, so das, was wir bewusst haben wollen, durch Befriedigung dieses mentalen Wollens. In dieser Befriedigung wird evident, dass das Gefundene das Gesuchte ist. Ohne ein vorhergehendes Bewussthabenwollen könnten wir es nicht in dieser Weise bewusst haben. Aber mit dem Wollen allein wird es auch nicht bewusst, denn zu jedem Wollen gehört ein entsprechendes Können, das auch implizit sein kann, so dass wir nicht immer wissen, was zu tun ist, um es zu realisieren, und es trotzdem können. Wollen wir etwas bewusst haben, so ist dies nur zu erreichen, wenn wir das tun können, was wir 537 Siehe oben Kap. II, 3.2 Die speziellere These: In jedem Modus des pathischen Wachseins wird das bewusst, was mich in der Weise betrifft, die für diesen Modus bestimmend ist.

403 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

können müssen, um das bewusst zu haben, was wir bewusst haben wollen. Wir müssen erinnern, überlegen, beweisen können. Ein amnestischer Patient z. B. kann sich nicht erinnern, auch wenn er noch so sehr will. Wer nicht unter einer Amnesie leidet, kann sich erinnern, und das meint, normalerweise erinnert er sich, auch wenn sein Erinnerungsvermögen ihn dann und wann im Stich lässt. In diesem Sinne heißt »Können«, die Fähigkeit haben, etwas zu tun, was man gewöhnlich dadurch beweist, dass man es wirklich tut. Wir können Holz hacken oder Tango tanzen, wenn wir öfters Holz gehackt oder Tango getanzt haben. Will ich Tango tanzen, ohne es zu können, muss ich es lernen. Dann stellt sich wieder die Frage, ob ich es lernen kann, ob ich die Fähigkeit dazu habe, was wiederum von gewissen Bedingungen abhängt, z. B. davon, ob ich zwei Beine habe, die ich willentlich bewegen kann. Entsprechend ist es nur sinnvoll, etwas zu wollen, wenn die Bedingungen dafür erfüllt sind. Es ist wenig sinnvoll, mit lahmen Beinen Tango tanzen zu wollen, so sehr man es wünschen mag. Nicht anders verhält es sich beim mentalen Wollen. Es geht nicht darum, bloß etwas zu haben oder zu bekommen, sondern etwas zu können. Wir können sinnvollerweise nur solches bewusst haben wollen, das wir bewusst haben können, und das können wir, wenn die dafür nötigen Bedingungen gegeben sind. Dazu gehört nicht nur die Fähigkeit, die dafür nötigen Bewusstseinsakte vollziehen zu können, ich muss auch in entsprechender Weise wach sein. Im Unterschied zum pathischen Bewusstsein müssen wir das, was aktiv bewusst ist, bewusst haben wollen. Dies ist eine notwendige Bedingung, damit etwas aktiv bewusst wird. Sie hat drei zentrale, eng zusammenhängende Aspekte: Wir müssen das Können aktualisieren können, das notwendig ist, damit das bewusst wird, was wir wollen. Dazu müssen wir es intensiv und beharrlich wollen, sonst kann es nicht gelingen. Schließlich muss das Wollen bewusst sein. Wir müssen fühlen, dass wir etwas wollen, sonst wird nicht bewusst, was wir wollen. Das Phänomen, mich nicht in der richtigen Weise wach zu fühlen, um etwas zu tun, das ich sonst für gewöhnlich sehr wohl tun kann, belehrt uns darüber, dass das aktive Wachsein selbst zu den Bedingungen gehört, die notwendig sind, damit ich etwas tun kann. Und zwar geht es nun nicht darum, überhaupt aktiv wach zu sein, d. h. nicht darum, entscheiden zu können, denn dies habe ich schon dadurch unter Beweis gestellt, dass ich etwas Bestimmtes will. Aber 404 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein als eine notwendige Bedingung aktiven Bewusstseins

ich fühle mich für das, was ich da bewusst haben will, zu wenig oder nicht in der geeigneten Weise wach. Vielleicht will ich mich an etwas erinnern, aber es gelingt nicht, ich fühle mich zu verschlafen, jedenfalls nicht so wach, dass ich es könnte. Typisch für dieses Phänomen ist es, dann aufzutreten, wenn ich etwas nicht kann, das ich unter anderen Umständen sehr wohl kann; ich kann es jetzt nur deshalb nicht, weil ich nicht entsprechend wach bin. Ich kann, was ich dazu können muss, es fehlt nur am erforderlichen Wachsein, und das äußert sich darin, dass ich mich nicht auf das Ziel meines Wollens konzentrieren kann, nicht bei der Sache bleibe, sondern von dem, was sich gerade aufdrängt, ablenken lasse. Aktives Bewusstsein ist gewollt und damit beabsichtigt. Ich muss aber auch fühlen, ob ich auch jetzt kann, was ich können muss, um das bewusst zu haben, was ich bewusst haben will. Das fühle ich im Hoffen, es möge gelingen, oder im Fürchten, es misslinge. Darin besteht das aktive Wachsein im Sinne der Bereitschaft zu bewusstem Erleben. Hier ist in einem zweifachen Sinn von »Können« die Rede. Zum einen geht es um das, was ich können muss, um bewusst zu haben, was ich bewusst haben will. Dieses Können hängt von meiner Absicht ab. Jedes Mal, wenn ich ein Erlebnis bestimmter Art bewusst haben will, ist dazu das gleiche Können erforderlich. Doch eben dieses Können bringe ich nicht immer zustande. Ob ich es zu einem Zeitpunkt wirklich kann, macht den zweiten Sinn von »Können« aus, der hier mit im Spiel ist. Das Können im ersten Sinn ist eines im Sinne einer Disposition, beim zweiten geht es um die Frage, ob ich diese Disposition zu einem bestimmten Zeitpunkt aktualisieren kann, also um die Frage, ob ich das, was ich sonst kann, auch jetzt kann. Das letztere Können zeigt sich daran, dass sich Hoffnung einstellt, es zu können, oder Furcht zu scheitern. Beides ist meinem Belieben entzogen, es sind Gefühle, die sich aus passiven Urteilen, ob ich mein Ziel erreichen werde, herausbilden. Damit ein mentales Wollen gelingt, müssen wir können, was wir wollen, und wenn dieses Können habituell geworden ist, müssen wir es aktualisieren können, d. h. wir müssen entsprechend wach sein. Wenn wir vom Stellungnehmen zu dem, was uns bewusst ist, absehen, liegt zwischen dem Bewussthabenwollen und der Realisierung dieses Wollens ein Prozess des Suchens und Findens. Wir müssen nach dem, was wir bewusst haben wollen, suchen und es finden können. Zum Suchen gehört alles, was wir tun müssen, um das Gesuchte zu finden. Das Finden besteht in unserem Fall im Bewusstwerden des 405 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

Gesuchten. Wir sind beim Aufweisen der unterschiedlichen Modi des aktiven Wachseins auf verschiedene Wege des Suchens gestoßen und auf verschiedene Möglichkeiten des Findens, d. h. des Bewusstwerdens des Gesuchten. Wenn ich im Folgenden darauf zurückkomme, werde ich mich bemühen, beides auseinander zu halten, obschon es sachlich eng zusammengehört. Ich wende mich zunächst dem Suchen zu, danach dem Finden. Dabei strebe ich keine Vollständigkeit an; wir werden uns mit typischen Beispielen begnügen müssen. Von der Absicht des mentalen Wollens sagten wir, sie bestehe in einem Gedanken als einem Aspekt des Gegenstandes, zu dem ein anderer Aspekt gesucht wird. Dieser kann wieder ein Gedanke sein, z. B. wenn nach dem Grund eines Ereignisses gefragt wird, oder danach, ob alle Zahlen der Form abcabc durch 13 teilbar sind. Der gesuchte Aspekt kann auch eine Erinnerung oder eine Phantasie sein, etwa wenn ich frage, wie der Hut aussah, den der Mann trug, mit dem ich gestern über den Fluss fuhr. Das Suchen besteht darin, von dem in der Absicht gegebenen Aspekt ausgehend zum gesuchten Aspekt zu kommen. Das geschieht in einem Prozess der Annäherung. Wollen wir etwas nur nebenbei Bewusstes aufmerksam wahrnehmen, besteht das Suchen in einem Annähern im wörtlichen Sinne, in anderen Fällen geht es um ein metaphorisches Annähern, so z. B. wenn ich Möglichkeiten phantasiere, wo die Schlüssel sein könnten, die ich verlegt habe. Einfachste Beispiele des Suchens liefert die Aufmerksamkeit. Im Wahrnehmen aufmerksam zu sein, erfordert willkürliche Suchbewegungen des Näherkommens, des Drehens, Wendens oder Herumgehens. Im Vergegenwärtigen vollziehen wir entsprechende QuasiBewegungen in einem Erinnerungs- oder Phantasiefeld. Aufmerksamkeit im Denken kann meinen, sich konzentriert bemühen, einen Gedanken zu fassen, einen Gegenstand zu identifizieren oder sich seinen möglichen Prädikaten zuzuwenden. Anders nimmt sich das Suchen beim Vergegenwärtigen aus. Hier gibt es bekanntlich erhebliche Unterschiede hinsichtlich des Könnens. Enthält die Absicht eine hinreichend genaue Bestimmung dessen, woran wir uns erinnern möchten, stellt sich die Erinnerung mit Leichtigkeit ein, so z. B. bei Namen uns bekannter Personen oder geläufigen Wörtern einer Fremdsprache. In solchen Fällen kommt es kaum zu einem Suchen. Schwieriger wird es, wenn wir nicht wissen, wo wir suchen müssen (z. B. bei einem verlorenen Gegenstand) oder wenn es um die Frage geht, was wir in einem vergangenen Zeitraum 406 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein als eine notwendige Bedingung aktiven Bewusstseins

gemacht haben. Hier können sich Phantasien als hilfreich erweisen, indem wir uns vorstellen, wo das Gesuchte sein könnte oder was wir im fraglichen Zeitraum getan haben könnten. Dadurch können wir uns dem Gesuchten soweit annähern, dass uns plötzlich aufgeht, was der Fall war. Große Unterschiede hinsichtlich des Schwierigkeitsgrades gibt es auch beim Denken. Die einfachsten Wege des Suchens sind hier die, wo das Können sich auf ein Regelfolgen beschränkt und das Gesuchte nach bekannten Regeln und Mustern generiert wird. Beide sind durch Erinnern bewusst oder auf längst nicht mehr eruierbaren Wegen internalisiert worden. Folgere ich nach logischen Regeln aus Gedanken andere Gedanken, so erlebe ich das nicht als Einfall: Das Gefolgerte ist schon in den Prämissen enthalten und wird nach bestimmten Regeln aus ihnen abgelesen. Der Abgrund zwischen Gesuchtem und Gefundenem wird nicht durch eine Assoziation durch Ähnlichkeit überbrückt, sondern durch ein Regelfolgen, durch das erzeugt wird, was ich bewusst haben will. Wenn ich eine Rechenaufgabe lösen will, wende ich die Regeln an, die ich gelernt habe, und komme so zum Resultat. Wenn ich Schlussfolgerungen ziehe, tue ich das nach logischen Regeln, ohne dazu Logik studiert zu haben. Ich folge dabei Regeln, die ich nicht zu kennen brauche, und doch anwende. So machen wir es meist. Dass das nicht schon das Letzte ist, was sich dazu sagen lässt, haben wir schon gesehen. Die Regeln des Rechnens lassen sich weiter begründen, logisches Schließen kann auf evidentes Ablesen zurückgeführt werden, so dass nicht das äußere Regelfolgen, sondern Einsicht in einen Sinnzusammenhang dasjenige ist, was schließlich das Gesuchte bewusst werden lässt. Wenn wir denken, dass a>b und b>c, so sehen wir ein, dass a>c sein muss. Diesen Zusammenhang einsehen und ihn bewusst haben sind eins. Das rechtfertigende Denken und das Lösen von Aufgaben, das bekannten Regeln und Mustern folgt, sind weitgehend durch ein Regelfolgen bestimmt. Anders das Denken im Sinne eines Fassens von Gedanken. Auch hier müssen wir Regeln folgen können, und soweit es um bekannte Gedanken geht, müssen wir sie erinnern können. Aber wenn wir neue Gedanken fassen wollen, kommen wir damit nicht weit, wie sich exemplarisch am problemlösenden Denken gezeigt hat. Hier kann sich das Suchen nicht auf bekannte Lösungswege verlassen, von solchen müssen wir uns vielmehr loslösen und uns bemühen, ein Problem auf neue Weise zu sehen, so dass es zu einer Umstrukturierung kommt, aus welcher die Lösung einsichtig wird. 407 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

Nun ist zu fragen: Inwiefern ist das Wollen, etwas mental zu können, und insbesondere das Gefühl dieses Wollens, eine Voraussetzung für das Zustandekommen des Könnens, das wir wollen? Wollen wir etwas bewusst haben und müssen wir dazu etwas können, so wollen wir dieses Können aktualisieren. Das Wollen dieses Könnens und das Hoffen, es zu können, wirken motivierend. Ohne beständiges Wollen kommen weder Suchen noch Finden zustande. Das Suchen terminiert im Finden. Zum Können, das notwendig ist, um etwas bewusst zu haben, das wir bewusst haben wollen, gehört nicht allein das Suchen nach dem, was wir wollen, sondern auch das Finden. Und das besteht in unserem Zusammenhang darin, dass das bewusst wird, was wir bewusst haben wollen. Erst dann können wir, was wir wollen. Wenn wir sagten, etwas werde pathisch bewusst, wenn es die Furcht in bestimmter Weise betroffen zu werden erfüllt, liegt es nahe, anzunehmen, etwas werde aktiv bewusst, wenn es die Hoffnung erfüllt, das bewusst zu haben, was man bewusst haben will. Das ist eine nur erst oberflächliche und formale Antwort auf die Frage, was abläuft, wenn etwas aktiv bewusst wird, denn zu solcher Erfüllung kann es nur kommen, wenn ich finde, wonach ich suche. Vielleicht ist es hilfreich, sich daran zu erinnern, wie wir das pathische Bewusstwerden verstanden haben. Sind wir in einem bestimmten Modus pathisch wach, so fürchten wir, in bestimmter Weise betroffen zu werden, worauf das, was diese Furcht erfüllt, bewusst wird. Dieses Erfüllungserlebnis besteht in einer vollständigen oder teilweisen Deckung der Sinne: Die Weise des Betroffenseins, die befürchtet wird, deckt sich (ganz oder teilweise) mit dem Sinn dessen, was uns betrifft. Oder es besteht zwischen beiden ein enger Verweisungszusammenhang, wie im Fall des Wahrnehmbaren, das lockt, und der Furcht, angelockt zu werden. 538 Wir dürfen annehmen, das Phänomen des »etwas erinnert an etwas«, die Assoziation durch Ähnlichkeit, welche die pathischen Einfälle regiert, sei auch dann am Werk, wenn etwas durch ein Können (worin auch immer es besteht) bewusst wird. Denken wir zunächst an das Regelfolgen, bei dem der Zusammenhang zwischen Können und Bewusstwerden am offensichtlichsten ist. Im Befolgen von Regeln, die auch implizit sein können (wie häufig beim Rechnen und regelmäßig beim Sprechen) erzeugen wir, was bewusst wird. Beim Rechnen oder Beweisen sind zwei Aspekte eines Gegenstandes 538

Siehe oben S. 224.

408 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein als eine notwendige Bedingung aktiven Bewusstseins

durch eine Gesetzmäßigkeit aufeinander bezogen, so dass der, der die Regel kennt, den zu findenden Aspekt aus dem in der Absicht gegebenen herleiten kann. Dabei ist das Herleiten eines, das Bewusstwerden des Hergeleiteten ein anderes. Der Aspekt, den wir aus dem anderen herleiten, ist mit diesem nicht durch Ähnlichkeit, sondern durch eine Regel verknüpft, was vermuten lässt, auch das Wecken und damit das Bewusstwerden laufe über das Regelfolgen. Wenn man aber bedenkt, dass die Regeln häufig implizit sind und das Regelfolgen nicht bewusst verläuft, treten Zweifel auf. Sie verstärken sich, wenn wir uns an das Phänomen des »etwas erinnert an etwas« erinnern, das nur auftritt, wenn der weckende Sinn genügend affektive Kraft aufweist und bewusst ist. Soll das Regelfolgen weckend wirken, muss ihm eine affektive Kraft zukommen. Anders ist nicht zu verstehen, warum das, was wir nach Regeln generieren, in zuverlässiger Weise bewusst wird. Diese Kraft kann nicht von den Regeln ausgehen, wohl aber vom Wollen, mit dem wir ihnen folgen wollen, und das wir im Hoffen auf Gelingen fühlen. Einer Regel zu folgen, ist kein Geschehen, sondern etwas, das wir wollen und absichtlich tun, jedenfalls solange es noch nicht automatisiert ist. Was wir nach Regeln erzeugen, wird bewusst, weil wir im Hoffen, einer Regel folgend zum Resultat zu kommen, wach sind. Das gilt auch, wenn die Regeln implizit sind, denn auch dabei wirkt das Wollen motivierend auf das automatisierte Regelfolgen, und das so gewonnene Resultat erfüllt unser Hoffen, zu finden, wonach wir suchen, und wird durch eine Deckung der Sinne bewusst. Eine andere Weise des Bewusstwerdens als beim Regelfolgen liegt bei evidenter Einsicht vor. Einsicht in die Wahrheit eines Gedanken scheint indessen nur möglich, wenn er bewusst ist. Das bedeutet aber nicht, dass der Gedanke vor der Einsicht in seine Wahrheit bewusst sein müsse, beides kann zugleich erfolgen, wenn die Grundlagen, aus denen der Gedanke einsichtig wird, zuvor bewusst sind. Wenn uns bewusst ist, dass a>b und b>c, dann ist evident, dass a>c. Mit der Einsicht in diesen Zusammenhang ist auch der gesuchte Gedanke bewusst. Wir sehen aus dem Zusammenhang zweier Gedanken ein, dass ein dritter wahr sein muss. Hier wollen wir etwas anderes als blind einer Regel folgen, nämlich wissen, was noch wahr ist, wenn zwei Gedanken wahr sind. Und wieder ist es unser Wollen, das weckend wirkt, sofern es im Hoffen gefühlt wird. Kennt das pathische Wachsein nur eine Weise, wie etwas bewusst werden kann, nämlich durch Assoziation durch Ähnlichkeit 409 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

und damit durch Deckung der Sinne, stehen dem aktiven Wachsein dank seiner Absichtlichkeit dafür mehrere Wege offen. Anstelle der Identität oder Teilidentität der Sinne können auch Regelfolgen oder einsichtiges Ablesen treten. Beim absichtlichen Erinnern und beim Problemlösen leisten beide gute Dienste, aber oft kommen wir damit allein nicht zum Ziel. Nicht selten fällt uns ein, wonach wir suchen, und auch dann wird es durch eine Deckung der Sinne bewusst: Die Absicht unseres Wollens ist bewusst und bildet den einen Aspekt des Gesuchten, zu dem wir einen anderen suchen. So sind das nebenbei Bewusste und das aufmerksam Bewusste Aspekte desselben Gegenstandes, und ebenso der Gegenstand, an den ich mich erinnern will, und der Gegenstand, wie er erinnert ist. Auch der Gedanke, den ich fassen will, und derjenige, den ich fasse, bilden zwei Aspekte desselben Gegenstandes. Ein Aspekt eines Gegenstandes kann einen anderen Aspekt desselben Gegenstandes bewusst werden lassen. Das kann von selbst geschehen, aber nicht, ohne dass wir es wollen. Es wird aktiv bewusst, aber durch eine Passivität in der Aktivität. Die gesuchte Erinnerung blitzt plötzlich auf, weil wir beim Suchen auf einen Aspekt gestoßen sind, der über eine Assoziation durch Ähnlichkeit das Vergangene weckt. In ähnlicher Weise kommen wir durch Schlussfolgerungen aus einer Problemstellung auf einen Gedanken, der mittels einer solchen Assoziation einen anderen Gedanken aufscheinen lässt, der zur Umstrukturierung des ganzen Problems führt. Aber nicht jeder Sinn kann einen ihm ähnlichen wecken. Auch hier gilt: Der weckende Sinn muss genügend affektive Kraft aufweisen und bewusst sein, damit er wecken kann, und auch hier kommt die affektive Kraft davon, wie sehr wir nach etwas suchen und wie intensiv wir etwas bewusst haben wollen. Wie kommt es, dass einiges, das wir bewusst haben wollen, über einen nur momentanen Einfall bewusst wird, anderes aber Schritt für Schritt durch Regelfolgen oder durch Aufdeckung der Horizonte? Eine Antwort hat sich schon gefunden: Was uns einfällt, kann nur instantan bewusst werden in einem nur momentanen Erfassen, das keine Dauer kennt. 539 Der Grund dafür ist bei Erinnerungen ein anderer als bei Gedanken. Ursprüngliche Erinnerungen werden anders als Wiedererinnerungen instantan bewusst, weil das leer retentional Bewusste nur für einen Moment aufblitzten kann und dann wieder

539

Siehe oben S. 392.

410 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein als eine notwendige Bedingung aktiven Bewusstseins

im Dunkel der Vergangenheit verschwindet. Bei den Gedanken handelt es sich immer um solche, die für den Denkenden neu und ungewohnt sind. Das Wiedererinnern dagegen, in dem ich das in der Weckung durch das mentale Wollen wieder gefundene vergangene Wahrnehmen reproduziere und seine Horizonte aufdecke, folgt dem, was implizit im schon Gefundenen enthalten ist. Nicht anders beim Wiederdenken: Nicht jeden Gedanken muss ich so mühsam suchen wie die entscheidende Umstrukturierung eines Problems. Das Denken jener Gedanken, die sich als Konsequenzen dieser Umstrukturierung ergeben, folgt bekannten Regeln und Denkmustern. Ähnliches gilt für Erinnerungen: Was nicht zum Horizont bekannter, leicht abrufbarer Erinnerungen gehört, kann nicht durch Aufdeckung dieser Horizonte nach bekannten Mustern gefunden werden. Es stellt sich (wenn überhaupt) mit Hilfe probeweisen Phantasierens und einigem Glück von selbst ein. Ob das, wonach wir suchen, Schritt für Schritt erreicht wird, wie im absichtlichen Wahrnehmen, Wiedererinnern oder Wiederdenken, oder durch Einfälle, ändert nichts daran, dass dies alles aktiv bewusst wird, sofern der Einfall etwas zu dem beiträgt, was wir bewusst haben wollen. Beide Wege des Bewusstwerdens setzen nicht nur voraus, dass ich etwas bewusst haben will, sondern auch, dass ich im Hoffen, zu können, was ich will, fühle, dass ich es will. Manchmal sind die Wege des Bewusstwerdens verschlungen, und man gerät in Zweifel, ob das, was wir bewusst haben wollen (oder wollten) aktiv oder pathisch bewusst wird. Man denke an den nicht seltenen Fall, wo wir uns vergeblich an etwas erinnern wollen. Geben wir in der Folge dieses Ansinnen auf und kümmern uns um anderes, fällt uns plötzlich und in ganz anderen Zusammenhängen ein, was wir erinnern wollten. Was hat diese Erinnerung geweckt? Waren es die vergangene Entscheidung und das vergangene Wollen, oder war es etwas an den gegenwärtigen Zusammenhängen, die mich jetzt beschäftigen? Das dürfte in manchen Fällen schwierig zu beantworten sein, was eine Zuordnung zum aktiven oder passiven Bewussthaben nicht immer einfach macht. Auch kann man kaum behaupten, wir wollten etwas immer nur solange, als uns bewusst ist, dass wir es wollen. Etwas zu wollen kann den Charakter einer Disposition annehmen, die in bestimmten Situationen wieder aktualisiert wird. Dann wird bewusst, dass wir etwas immer noch wollen. Das trifft besonders auf Fälle zu, wo wir mit unserem Wollen gescheitert sind. Wir lassen es auf sich beruhen, aber die Bereitschaft, es wieder zu versuchen, bleibt beste411 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

hen. In solchen Fällen dürfte dem Wollen immer noch eine weckende Kraft zukommen. Die spezielle These lautet: In einem bestimmten Modus aktiv wach zu sein, ist eine notwendige Bedingung dafür, dass das, was in diesem Modus bewusst werden kann, bewusst wird. Wenn ich etwas Bestimmtes bewusst haben will, genügt es nicht, bloß zu wünschen, etwas möge bewusst werden, wie das Phänomen des Sich-nicht-richtig-wach-Fühlens zeigt. Es reicht nicht, die entsprechende Absicht zu haben, denn die habe ich auch, wenn ich sie bloß denke. Ich muss das, was ich beabsichtige, beständig realisieren wollen, wobei dieses Wollen unterschiedlich intensiv sein kann. Wir haben schon gesehen, dass es an mir liegt, wie sehr ich etwas will. Ich kann mehr oder weniger zielstrebig wollen und fühle dabei auch, wie sehr ich etwas will. Ich kann mich zusammenreißen oder es bleiben lassen. Wie sehr ich etwas will, fühle ich in den Urteilsgefühlen des mentalen Wollens. Bin ich im entsprechenden Modus aktiv wach, fühle ich, dass ich das können will, was notwendig ist, damit bewusst wird, was ich bewusst haben will. Die affektive Kraft des Wollens kann nur weckend wirken, wenn sie stark genug ist. D. h. wir müssen nicht nur das Können aktualisieren wollen, das notwendig ist, um das bewusst zu haben, was wir wollen, wir müssen es auch beharrlich wollen und fühlen, dass wir es wollen. Wie sehr wir etwas wollen, zeigt sich an den Urteilsgefühlen des Wollens. Freilich nicht an allen: an der Befriedigung nicht, weil in ihr schon bewusst ist, was wir bewusst haben wollen, an der Frustration nur da, wo sie nicht endgültig ist, also dann, wenn sich z. B. ein Lösungsweg als nicht gangbar erweist und noch andere offen stehen. Es ist vor allem das Hoffen auf Gelingen und die Furcht vor Misslingen, welchen die Rolle von Indikatoren für die Stärke und Beharrlichkeit des Wollens zufällt. An ihnen merke ich nicht nur, wie sehr ich etwas will, sie wirken auch motivierend auf das Wollen. Fühle ich, dass ich wahrscheinlich kann, was ich will, fühle ich mich angespornt. Fühle ich, dass ich es vielleicht nicht kann, kann das dazu führen, dass ich mich mehr anstrenge. Erst wenn ich fühle, dass ich mit hoher Wahrscheinlichkeit scheitern werde, kommt Frustration auf. Kann man etwas wollen, ohne zu hoffen, es werde gelingen oder ohne zu fürchten, es werde misslingen? Mir scheint, ein Wollen, ohne zu fühlen, dass ich will und wie sehr ich will, und ohne ein Hoffen, zu erreichen, was ich will, und allenfalls ohne ein Fürchten, es nicht zu erreichen, ist nicht einmal denkbar. Will ich nur wenig, so fühle ich 412 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein als eine notwendige Bedingung aktiven Bewusstseins

das, indem nur geringe Hoffnung besteht, es zu können, oder schon Furcht aufkommt, es nicht zu können. Würde ich mehr wollen, würde ich mehr hoffen, und hoffte ich mehr, würde ich mehr wollen, und dann könnte ich es. Beides kann sich gegenseitig hoch-, aber auch tiefschaukeln, wenn Furcht aufkommt, nicht zu können, was ich will. Will ich zu wenig, fallen die dafür notwendigen Akte zu wenig zielstrebig aus und mein Wollen scheitert. Ich kann mehr wollen als bisher, wenn ich mich dafür entscheide und mich anstrenge. Dieses Entscheiden kann von Gefühlen des Wachseins veranlasst sein oder von absichtlichen Einschätzungen ausgehen, wie leicht oder schwierig das sei, was ich noch können muss, um das, was ich will, zu erreichen. Das Hoffen orientiert sich nicht nur an der Intensität des bisherigen Wollens, sondern auch an den bisher erfolgten Schritten des Suchens. Zwar kann unser Wollen, obschon wir auf Befriedigung hoffen, dennoch scheitern, das zeigt aber nur, dass dieses Hoffen für ein Gelingen nicht hinreichend sein kann. Aber ganz ohne Hoffnung geht es auch nicht. Ein gänzlich hoffnungsloses Wollen muss scheitern, weil wir zu verzagt sind, als dass wir noch motivierend und weckend wirken könnten. Das schließt Perioden der Furcht vor Misslingen, ja selbst des partiellen Scheiterns nicht aus. Das Scheitern muss nicht endgültig sein, nicht selten führt es letztendlich doch zum Ziel, denn wenn sich ein Weg als nicht gangbar erwiesen hat, eröffnen sich andere. Zu hoffen, das Gesuchte möge bewusst werden, bildet eine notwendige Voraussetzung für dieses Bewusstwerden. Wollen wir etwas, ohne zu hoffen es werde gelingen, und kommt nicht einmal Furcht vor Misslingen auf, so wollen wir nicht wirklich, wir sind zu mutlos oder machen uns (und anderen) nur etwas vor. Worauf kann sich solches Hoffen oder Fürchten stützen? Beides schien mir von der Intensität des Wollens abzuhängen, aber auch von dem, was ich bisher zum Finden des Gesuchten beigetragen habe. Das lässt einige Fragen offen. Wie wissen wir, wie sehr wir etwas wollen? Von der Intensität pathischer Strebungen meinte ich, wissen wir dadurch, dass es uns zu etwas hindrängt. 540 Das lässt sagen, ein Streben sei umso intensiver, je mehr es uns zu etwas drängt, und das ist eine Weise des Betroffenseins. Das Wollen betrifft uns nicht, dennoch fühlen wir es als Mächtigkeit oder Ohnmächtigkeit, als ein Gefühl des Könnens oder Nichtkönnens. Mein Wollen fühlt sich intensiver an, wenn ich glaube, das zu können, was ich will und umgekehrt. Dann fällt das Fühlen der 540

Siehe oben S. 180.

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Aktives Wachsein

Intensität meines Wollens mit dem Hoffen zu können, was ich will, zusammen, denn in diesem ist schon der Glaube enthalten, dass ich wahrscheinlich kann, was ich will. Und wovon hängt dieses Hoffen ab? Es bezieht sich auf Zukünftiges, aber wenn es darum geht, unser künftiges Können einzuschätzen, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns an dem zu orientieren, was wir in der Vergangenheit gekonnt haben. Was ich zu einem Zeitpunkt kann, lässt mich hoffen, auch das zu können, was ich noch können muss, um mein Ziel zu erreichen. Wenn ich beginne, etwas zu wollen, habe ich schon etwas gekonnt: ich habe mich für das entschieden, was ich zu meiner Absicht gemacht habe. Daher ist der Anfang eines Wollens meist von Zuversicht geprägt. Bin ich verzagt und fürchte, es möge nicht gelingen, fühle ich mich zu wenig wach und gebe auf. Will ich weiterhin und gelingt der erste Schritt auf das Ziel hin, so stützt sich das Hoffen darauf und damit auf eine erste partielle Befriedigung, dann auf die nächste, bis das Ziel erreicht ist. Mit jeder partiellen Befriedigung nähere ich mich dem Ziel, und mit jeder nimmt die Hoffnung zu, besonders dann, wenn es schwer zu überwindende Schritte waren, denen gegenüber der verbliebene Rest als einfach zu bewältigen erscheint. Dem entspricht die Erfahrung, dass wir uns mit zunehmendem Gelingen unseres mentalen Wollens wacher fühlen. Ob wir zu einem Zeitpunkt hoffen oder fürchten, das Ziel werde erreicht bzw. nicht erreicht, und wie sehr wir hoffen oder fürchten, hängt davon ab, wie wir das einschätzen, was wir eben hinter uns gebracht haben und was uns noch bevorsteht. Wie intensiv wir etwas können wollen, fühlen wir im Hoffen, es zu können, und dieses Hoffen, ein mentales Können aktualisieren zu können, ist aktives Wachsein im Sinne der Bereitschaft zu bewusstem Erleben. Darin müssen wir eine notwendige Voraussetzung für aktives Bewusstsein sehen. Dieser These scheint die Annahme im Weg zu stehen, es gebe unbewusste Affekte, die weckend wirken. Aber dies braucht uns nicht zu kümmern, weil solche Vorkommnisse nicht aktiv bewusst werden können, sondern nur pathisch. Sie mögen störend in das aktive Bewusstsein eingreifen, aber aktiv bewusst sind sie nicht. Es ist anzunehmen, dass die Widerfahrnisse, die uns betreffen, aus verschiedenen Quellen stammen, nicht zuletzt aus dem dynamisch Unbewussten im Sinne Freuds.

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Mehr oder weniger aktiv wach sein

8

Mehr oder weniger aktiv wach sein

Unserem intuitiven Verständnis gemäß müssen wir nicht nur wach sein, damit wir bewusst erleben können, Wachsein scheint auch quantifizierbar zu sein: Wir können mehr oder weniger wach sein. Für das aktive Wachsein dürfte es ebenso Grade geben, wie für das pathische. Wenn es in jedem Modus des pathischen Wachseins Grade des Wachseins gibt, die durch abnehmende Furcht vor Betroffenheit und zunehmendes Hoffen auf geringere Betroffenheit bestimmt sind, so ist für die Modi aktiven Wachseins Ähnliches zu erwarten, nur handelt es sich dabei um Grade der Hoffnung auf Gelingen und der Furcht vor Misslingen. Zudem ist auch hier zu fragen, ob wir nicht nur in einem Modus des Wachseins mehr oder weniger wach sind, sondern auch, ob es Modi gibt, in denen wir uns generell wacher fühlen als in anderen, so dass der Übergang von einem in einen anderen Modus einem Aufwachen bzw. Einschlafen gleichkommt. Glaubt man, das bejahen zu können, steht man vor der Frage, woran sich ein solches Mehr oder Weniger orientieren könnte.

8.1

Mehr oder weniger wach sein innerhalb eines Modus aktiven Wachseins

Was kann man unter einem Mehr oder Weniger an Wachsein innerhalb eines Modus aktiven Wachseins verstehen? Gehen wir vom pathischen Wachsein aus, so fühlen wir uns umso weniger wach, je mehr wir betroffen werden, und umso wacher, je weniger dies der Fall ist. Bei geringstem Betroffensein ist das pathische Wachsein am intensivsten, da können wir schon zu ersten Entscheidungen gedrängt werden und anfangen, aus dem pathischen Wachsein aufzuwachen. Will man diese Linie zunehmenden Wachseins über das Entscheiden hinaus weiterziehen, so müsste anstelle der abnehmenden Betroffenheit eine zunehmende Abhängigkeit des Bewussten von uns selbst treten, genauer: von unserem Entscheiden. Man muss aber bald einsehen, dass es über das Entscheiden hinaus keine Steigerung der Abhängigkeit von uns geben kann, weil das Entscheiden in einer Weise von uns abhängt, über die hinaus nichts auszumachen ist, das mehr von uns abhinge. 541 541

Das ist Thema des nächsten Kapitels.

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Aktives Wachsein

Vergleichen wir das Entscheiden mit dem mentalen Wollen, das aus ihm hervorgeht, so hängt das Wollen von unserem Entscheiden ab. Diese Weise der Abhängigkeit von mir ist nicht zu über-, wohl aber zu unterbieten. Das Wollen kann sich gewissermaßen vom Entscheiden entfernen, es kann nachlässiger werden und an Durchsetzungskraft verlieren. Es gibt das Phänomen, dass wir etwas wollen und das auch tun, aber ohne so richtig dahinter zu stehen, auch wissen wir nicht recht, warum wir das eigentlich wollen. Vielleicht ist es selbstverständlich und zu Gewohnheit geworden. Noch mehr als das Wollen kann sich das Tun von mir entfernen: Ich tue etwas und stimme dem, wenn man mich fragen würde, auch zu, aber eigentlich bin ich nicht mehr dabei. Es ist zu einer Sache geworden, die ich mechanisch erledige. Diese Distanz zu mir kann sich weiter zu dem steigern, was einmal unter dem Titel »Entfremdung« zum Thema gemacht wurde. Der Gegenstand, den das eigene Tun produziert, tritt ihm »als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber.« 542 Das Wollen und Tun kann sich von mir entfernen, aber ich habe die Möglichkeit, sie wieder zu mir zurückzuholen, indem ich mich auf meine Entscheidung zurückbesinne, sie erneuere oder verwerfe. Wenn wir im Moment des Entscheidens aktiv am wachsten sind, so fragt sich, was das für das weitere Wollen bedeutet. Die Entscheidung schwindet wie alles Gegenwärtige in die Vergangenheit. Zwar bleibt uns in der Folge bewusst, dass und wie wir uns entschieden haben, aber sich an eine Entscheidung zu erinnern, ist kein aktuelles Entscheiden. Die vergangene Entscheidung mag der Absicht noch retentional anhängen, verliert aber zusehends an Frische. Die Intensität des Wollens lässt tendenziell nach, was erneute Anstrengung erfordert. Sich selbst wieder zu etwas ermuntern, bedeutet nicht nur, sich das Ziel wieder vor Augen zu halten, vielmehr muss die Absicht erneut in den Prozess des Entscheidens zurückgeholt werden. Dazu reicht es nicht, sich zu erinnern, wie man sich entschieden hat, ich muss mir von neuem Rechenschaft geben, dass ich mich richtig entschieden habe oder mich besser anders entscheiden sollte. Hinzu kommt, dass das Wollen dauernd pathischen Anfechtungen ausgesetzt ist. Wünsche bedrängen mich und bringen mich vom geraden Weg zum Ziel ab. 542 K. Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844). Marx/Engels Werke, Ergänzungsband 1, Berlin 1968, S. 511.

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Mehr oder weniger aktiv wach sein

Demgegenüber erneuert neues Entscheiden den Willensimpuls und lässt uns aufwachen. Haben wir einmal zugestanden, dass das Wollen auf Entscheidung beruht, so beruht es immer darauf, solange wir wollen. Wir können uns jederzeit nicht nur entscheiden, etwas anderes zu wollen, sondern auch, ob wir etwas mehr oder weniger wollen als bisher. Mit dem nachlassenden oder erneuerten Wollen verändern sich seine Urteilgefühle. Will ich nur noch nachlässig, nimmt die Hoffnung auf Gelingen ab oder die Furcht vor Misslingen zu, denn bei nachlassender Intensität des Wollens tendiert das implizite Urteilen zur Annahme, es sei weniger wahrscheinlich als zuvor, dass das Ziel erreicht werde, und wahrscheinlicher, dass es misslinge. Dabei fühle ich mich weniger wach. Erneuert sich dagegen das Wollen in erneutem Entscheiden, nimmt die Hoffnung auf Gelingen zu oder die Furcht vor Misslingen ab; wir fühlen uns wacher als zuvor. Dies gilt unabhängig davon, was wir jeweils können müssen, um zu erreichen, was wir wollen, und damit für jeden Modus des aktiven Wachseins. Damit dürfte im Prinzip deutlich geworden sein, in welchem Sinn beim aktiven Wachsein von einem Mehr oder Weniger an Wachsein gesprochen werden kann. Im Einzelnen bleiben manche Fragen offen, u. a. die, wie es um das Wachsein bei den Phänomenen der »Passivität in der Aktivität« steht, die beim Erinnern 543 und nicht selten beim Problemlösen 544 vorkommen. Wir nehmen dabei unsere Aktivität zurück, phantasieren keine Möglichkeiten mehr, was gewesen sein könnte, probieren auch keine Lösungsversuche mehr aus, sondern konzentrieren uns auf das, was wir suchen. Dabei halten wir uns offen für das, was kommt, und hoffen, das Gesuchte möge uns einfallen. Geschieht dies, ist der Einfall nicht pathisch bewusst, und zwar darum nicht, weil wir darauf gehofft haben, er möge geschehen, und die Hoffnung erfüllt worden ist. Auch war das Gesuchte schon in der Absicht intendiert, wenn auch unter einem anderen Aspekt. So etwas gibt es im pathischen Wachsein nicht, da ist das, was uns einfällt, immer unerwartet. Ob wir im Moment des Einfalls wacher oder weniger wach sind als zuvor, ist schwer zu entscheiden. Halten wir uns an das Phänomen des Sich-wach-Fühlens, gewinnt man den Eindruck, wir seien im Suchen wacher als im Finden. Das mag daran

543 544

Siehe oben S. 336. Siehe oben S. 378.

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Aktives Wachsein

liegen, dass im Finden die Intensität des Wollens nachlässt und in der Befriedigung emotionale Elemente sich stärker geltend machen. Wir kommen zu dem Schluss, dass wir uns in jedem Modus des aktiven Wachseins mehr oder weniger wach fühlen und dass dieses Mehr oder Weniger von der Intensität unseres mentalen Wollens abhängt. Die Intensität des Wollens hat die Tendenz abzuschlaffen, kann aber durch erneutes Entscheiden wieder an Intensität gewinnen. Solche Intensitätsschwankungen fühlen wir im verstärkten Hoffen, das bewusst haben zu können, was wir wollen, oder im Nachlassen dieses Hoffens oder in zu- oder abnehmender Furcht, nicht zustande zu bringen, was wir wollen.

8.2

Ob es wachere und weniger wache Modi des aktiven Wachseins gibt. Der Übergang von einem aktiven Modus in einen anderen

Nebst der Frage, ob wir uns innerhalb eines Modus des aktiven Wachseins mehr oder weniger wach fühlen, ist auch hier zu fragen, wie sich unterschiedliche Modi in dieser Hinsicht zueinander verhalten. Gibt es Modi, in denen wir uns generell wacher oder weniger wach fühlen als in anderen? Kann man sie womöglich in einer Reihenfolge zunehmenden Wachseins anordnen? Die entsprechende Frage bezüglich des pathischen Wachseins, ob es Modi des pathischen Wachseins gebe, in denen wir uns wacher oder weniger wach fühlen als in anderen, ist ohne Antwort geblieben, da wir dafür kein sicheres Kriterium ausmachen konnten. Nun ist zu sehen, wie es damit hinsichtlich der Modi des aktiven Wachseins steht. Dazu sei zunächst untersucht, ob sich der Maßstab für das Wachersein in einem Modus des aktiven Wachseins auch auf den Übergang von einem Modus des aktiven Wachseins in einen anderen anwenden lässt. Wenn dies zuträfe, müsste Folgendes gelten: Ich bin in einem Modus des aktiven Wachseins wacher als in einem anderen, wenn das mentale Wollen mehr von mir und meiner Entscheidung abhängt. Das dürfte darauf hinauslaufen, dass ich in dem Modus wacher bin, in dem ich entschiedener und intensiver etwas bewusst haben will, und das auch fühle im Hoffen, zu können, was ich will. Das scheint zutreffend, nur ist die Intensität, mit der ich etwas will, nicht mit dem verknüpft, was ich will, also in unserem Fall nicht mit dem Können, das ich in einem Modus realisieren will. 418 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Mehr oder weniger aktiv wach sein

Muss ich in einem Modus mehr können als in einem anderen, so muss ich mich mehr anstrengen und intensiver wollen, um es zu erreichen. Einmal abgesehen davon, wie ich wissen kann, ob ein Modus mehr Können erfordert als ein anderer, hängt die Intensität, mit der ich etwas will, nicht davon ab, was ich können muss. Das müsste aber der Fall sein, wenn wir in einem Modus immer wacher wären als in einem anderen. Das wirkliche Wollen entspricht oft nicht dem Wollen, das für etwas notwendig ist. So können wir etwas, das mit geringerem Aufwand erreicht werden kann, intensiver wollen, als etwas, das schwieriger ist, mit dem Resultat, dass wir uns in einem Modus, der geringeres Können erfordert, wacher fühlen als in einem, der zusätzliches Können verlangt. Das wäre auch nicht weiter bedenklich, wenn es nicht die Möglichkeit zuließe, dass ich mich einmal in einem bestimmten Modus wacher fühle als in einem anderen, ein andermal aber umgekehrt. Wir wollen nicht immer in dem Maß, in dem wir wollen sollten, um das zu erreichen, was wir wollen. Das hat zur Konsequenz, dass wir schwerlich behaupten können, in einem bestimmten Modus immer wacher zu sein als in einem anderen. Vielleicht hilft es, wenn wir von der Intensität des faktischen Wollens absehen und eine Intensität des Wollens supponieren, die notwendig wäre, um das Können zu realisieren, durch das ein Modus des aktiven Wachseins bestimmt ist. Dann stehen wir vor der Frage, wann wir in einem Modus mehr können müssen als in einem anderen. Da jeder Modus ein anderes Können erfordert als ein anderer, bedeutet ein Mehr an Können nicht ein Mehr von dem, was ich im vorhergehenden Modus können musste, sondern ein zusätzliches Können anderer Art. Damit stehen wir vor einer Schwierigkeit, die uns schon beim pathischen Wachsein in ähnlicher Weise vorgekommen ist: Zwar können wir im Modus B etwas, das wir im Modus A nicht können, aber das Umgekehrte gilt ebenso. Wir können auch hier versuchen, dem abzuhelfen, indem wir uns auf Modi beschränken, die zueinander in einem Fundierungsverhältnis stehen. Aber sind Fundierungen von aktiv bewussten Erlebnissen überhaupt möglich? Ein Erlebnis kann nur in einem anderen fundiert sein, wenn das fundierende nur hintergründig bewusst ist. Ein Erlebnis kann nicht aktiv und zugleich nur hintergründig bewusst sein, denn als aktiv bewusstes ist es immer auch aufmerksam bewusst, damit taugt es nicht zu Fundierungen. Aktiv bewusste Erlebnisse können in anderen fundiert sein, aber sie können nicht wieder andere fundieren. Das bedeutet nicht, es sei unmöglich, gleichzeitig auf verschiedene Weise 419 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

aktiv wach zu sein. So können wir ohne Weiteres zugleich aktiv wahrnehmen und urteilen, oder etwas vergegenwärtigen und darüber nachdenken. Die Aufmerksamkeit mag dabei nicht gleichmäßig auf beides verteilt sein, aber das spricht nicht gegen diese Möglichkeit. Damit müssen wir die Behauptung, es gebe Übergänge von einem Modus des aktiven Wachseins in einen anderen, in denen wir uns immer wacher oder weniger wach fühlen, fallen lassen. Es bleibt jedoch unbestritten, dass es Übergänge in andere Modi gibt. Dazu muss ein Modus des Wachseins sich abbauen und ein anderer sich aufbauen; es kann aber auch zu einem bestehenden Modus ein weiterer hinzukommen. Ein Modus des aktiven Wachseins schwindet dahin, wenn die Intensität, mit der wir wollen, nachlässt, und keine gleichartige Entscheidung ein gleichartiges Wollen wieder entstehen lässt. Dann schlafen wir partiell ein. Ein neuer, andersartiger Modus baut sich auf, wenn wir uns entscheiden, etwas bewusst haben zu wollen, das ein andersartiges Können verlangt. Nimmt die Intensität dieses Wollens zu, so wachen wir in diesem neuen Modus partiell auf. Ein Modus baut sich ab, wenn sich die Hoffnung auf Gelingen erfüllt und in Befriedigung übergeht, also wenn bewusst geworden ist, was wir bewusst haben wollen, oder wenn das Hoffen zu Furcht vor Misslingen wird und die Furcht zu Frustration. Ein Modus vergeht nur, wenn keine neue Entscheidung gefällt wird, etwas bewusst zu haben, das ein gleichartiges Können erfordert. Der Übergang von einem aktiven Modus in einen anderen kommt dadurch zustande, dass wir uns neu entscheiden und etwas anderes bewusst haben wollen. Das scheint selbstverständlich, aber wenn wir an ein Subjekt denken, das in einen Modus übergehen will, in dem es zuvor noch nie wach war, ist es mit der Selbstverständlichkeit vorbei. Jetzt wollen wir etwas können, was wir zuvor noch nie gewollt, geschweige denn gekonnt haben, und stehen vor der Frage: Wie können wir Absichten haben, die sich auf ein gegenüber dem bisherigen Können neuartiges Können beziehen, wenn wir annehmen, wir hätten dieses Neuartige noch nie gekonnt? Das ist allerdings eine Frage, die zu stellen wir im wirklichen Leben kaum mehr Gelegenheit haben werden. Sie geht aus einer phantasierten Situation hervor, in der wir im Verlauf unserer geistigen Entwicklung wirklich einmal gewesen sein müssen, wenn wir annehmen, das Können, das den Modi des aktiven Wachseins zugrunde liegt, habe sich zumindest in den Grundzügen bereits in der frühen Kindheit ausgebildet. Darüber, wie das entstanden ist, wollen wir nicht spekulieren und diese 420 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Mehr oder weniger aktiv wach sein

Frage der Entwicklungspsychologie überlassen. Es stellt sich aber nicht nur die Frage nach der Entstehung, Stabilisierung und Verfestigung dieses Könnens; ihr geht noch die andere vorher, wie wir dazu kommen, Absichten zu haben, deren Verwirklichung ein neuartiges Können erfordert. Kann unser Verständnis des Wachseins dazu etwas beitragen? Da muss man daran erinnern, dass sich unsere mentale Aktivität nie im Leeren bewegt. Hinter ihr liegt der Reichtum pathischen Erlebens, auf den wir zurückgreifen können. Was wir jeweils können wollen, kennen wir wenigstens der Art nach aus dem pathischen Wachsein, wir müssen es nur ins Aktive wenden. Das aktiv Bewusste ist nicht völlig neuartig, es hat seine Vorläufer im Pathischen. Wir kennen z. B. das Wahrnehmen aus dem pathischen Wachsein, aber wenn wir aktiv wach sind, wollen wir darüber entscheiden, was wir wahrnehmen und den Prozess des Wahrnehmens willentlich steuern. Analoges gilt für das Vergegenwärtigen und Denken. Alle drei weisen ähnliche Strukturen auf wie die entsprechenden pathischen Vorgänge, nur geschehen sie nicht von selbst. Wir bringen sie willentlich zur Erscheinung oder lassen sie geschehen. Was von einem vorhergehenden aktiven Modus aus gesehen als neu erscheint, ist zwar etwas, was über den Horizont dieses Modus hinausgeht, aber dennoch nur eine Modifikation von schon Bekanntem, die aber nur möglich ist, wenn wir zu aktivem Wachsein aufgewacht sind. Wir kommen von einem Modus des aktiven Wachseins zu einem anderen im Rückgriff auf den entsprechenden pathischen Modus, aus dem wir gewisse Elemente für die Bildung der Absicht unseres mentalen Wollens entnehmen. Es ist nicht von vorneherein klar, worin dieser Rückgriff besteht und wie er möglich ist. Es dürfte nicht ausreichen, sich an ein vergangenes pathisches Erleben zu erinnern. Dennoch geben solche Erinnerungen Beispiele dafür ab, was wir bewusst haben wollen. Damit ich eine Absicht des mentalen Wollens bilden kann, muss ich wenigstens soviel über das pathische Erleben wissen oder vermuten, als dafür nötig ist. Das willentliche Wahrnehmen geht gewöhnlich vom pathischen Wahrnehmen aus, indem ich etwas, das zum Horizont von etwas Wahrgenommenen gehört, aufmerksam wahrnehmen will. Will ich mich dagegen an etwas erinnern, muss mir bewusst sein, dass ich nicht etwas Gegenwärtiges bewusst haben will, sondern etwas Vergangenes, und zwar will ich es so bewusst haben, wie ich es wahrgenommen habe, also in gleicher Weise, wie es mir in einem pathischen Erinnern bewusst wäre. Nur ist das nun nicht ein Geschehen, 421 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

das ich erleide, sondern eines, von dem ich will, dass es geschieht. Auch hier können wir uns bei der Bildung der Absicht am entsprechenden pathischen Erleben orientieren. Beim Denken kann die Orientierung am pathischen Denken auch in die Irre führen, weil das Eigentümliche des Denkens und der Gedanken erst im aktiven Wachsein zum Vorschein kommt. Wenn ich einen Gedanken rechtfertigen will, muss ich wenigstens eine Ahnung davon haben, was ein Gedanke ist und worin eine Rechtfertigung besteht. Meiner Erfahrung mit pathischen Gedanken kann ich entnehmen, dass Gedanken Gebilde sind, die auf Wahrheit bezogen sind, genauer: die wir für wahr halten müssen. Mit dem Denken tritt eine gegenüber dem Erinnern oder Phantasieren völlig neue Dimension auf, die nicht aus diesen herzuleiten ist. Wie das zu Vergegenwärtigende nicht im Gegenwärtigen zu finden ist, so wenig das, was wahr oder falsch sein kann, im Erinnerten oder Phantasierten. Wir kämen nie darauf, dass es Wahres oder Falsches gebe, wenn wir nicht Gedanken hätten, die uns pathisch zufließen. Auch hier muss sich die Absicht, einen Gedanken fassen oder rechtfertigen zu wollen, pathische Gedanken zum Vorbild nehmen. Will man aber aus dem Rekurs auf den pathischen Bezug auf Wahrheit etwas für den aktiven gewinnen, darf man nicht darüber hinwegsehen, dass es zwischen der Wahrheit im pathischen und der im aktiven Wachsein erhebliche Differenzen gibt. 545 Unterschiedlich ist schon, was jeweils unter »wahr« verstanden wird, obschon es auf den ersten Blick scheint, wir verstehen in beiden Weisen des Wachseins dieses Prädikat so, dass es dem zukommt, was unabhängig vom Subjekt zeitlos gilt. Doch was heißt »subjektunabhängig« in pathischem Wachsein? Sind wir pathisch wach, erscheint das als subjektunabhängig, was unsere Wünsche erfüllt und insbesondere das, was sie nicht erfüllt. Vor allem im Phänomen der Enttäuschung zeigt sich die Härte subjektunabhängigen Seins. Das besagt zunächst nur, dass es etwas gibt, das unabhängig von unseren Wünschen und Erwartungen besteht, aber nicht, dass es wahr ist. Immerhin findet sich im pathischen Fürwahrhalten so etwas wie Zeitlosigkeit, denn ich bin überzeugt, dass das, was mir als wahr erscheint, immer wahr ist. Allerdings ist diese Überzeugung subjektiv, sie beruht nicht auf Einsicht, sondern auf Zwang, etwas für wahr halten zu müssen. Dahinter

545

Siehe oben S. 360.

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Mehr oder weniger aktiv wach sein

dürfte noch der Wunsch nach einem festen Halt stehen, wie er der Angst vor der Wiederkehr des Taumels entspricht. Allerdings, wenn die Zeitlosigkeit der Wahrheit mehr auf einem Wunsch als auf Einsicht beruht, steht dies dem Merkmal der Subjektunabhängigkeit entgegen. So ist die Wahrheit im pathischem Wachsein nicht ohne Widerspruch. Mit dem Aufwachen aus dem pathischem Wachsein verlieren die Gedanken ihre affektive Kraft. Sie betreffen uns nicht mehr, und da sie uns in der Weise betroffen haben, sie für wahr halten zu müssen, fehlt ihnen nun die Wahrheit, die sie auszeichnete und die nur eine pathische sein konnte. Damit werden die Gedanken fraglich. In dieser Fraglichkeit kann man das grundlegende Merkmal aktiver Gedanken sehen. Gedanken sind immer noch etwas, das auf Wahrheit bezogen ist, aber erst jetzt sind sie etwas, das wahr oder falsch sein kann. Erst mit dem Aufwachen aus dem pathischen Wachsein eröffnet sich die Dimension des Wahren und Falschen, die zwar schon im pathischen Wachsein aufschien, aber nicht als eine reale Möglichkeit, weil das Entscheiden nicht zu dem gehört, was ich kann, wenn ich nur pathisch wach bin. In dieser Fraglichkeit kann man das grundlegende Merkmal aktiv bewusster Gedanken sehen. Sie führt eine Unruhe bei sich, die im Gegensatz steht zur Ruhe und Beharrlichkeit (aber auch Zwang) pathischer Gedanken. Sie hat kein Vorbild im Pathischen und geht allein aus dem Aufwachen hervor. Sie fordert Entscheidung, hat aber auch die Tendenz, jede Entscheidung wieder in Frage zu stellen, so dass jede Beruhigung nur vorübergehend sein kann. Woran kann sich eine Entscheidung über Wahrheit oder Falschheit orientieren? Sie kann weder einem Zwang noch der Beliebigkeit überlassen werden. Ein Rückgriff auf das pathische Wachsein erscheint nun mehr als fraglich, und doch sind wir auf Fälle gestoßen, die wir zum Vorbild nehmen könnten. Gemeint sind jene, bei denen sich der Zwang des Fürwahrhaltens mit Einsicht in den Sachverhalt verbunden hat, wie bei unmittelbarer sinnlicher Gewissheit (»es regnet jetzt«) oder bei Urteilen über eigene Erlebnisse (»ich habe Schmerzen«). 546 Daran kann sich das rechtfertigende Denken orientieren. Wir müssen die Gelegenheit herbeiführen, damit der fragliche Sachverhalt sich auf eine Weise zeigt, in der die Fraglichkeit zur Entscheidung kommt.

546

Siehe oben S. 361.

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Aktives Wachsein

Pathische Evidenz wird als Betroffenheit erlebt. Gedanken, die mir einfallen, fallen mir immer als wahr ein. Zweifelhaft werden sie erst, wenn sich andere, widersprechende Einfälle einstellen. Sind wir aktiv wach, geht der Evidenz die Absicht vorher, einen Gedanken zur Evidenz zu bringen. Evidenz wird nicht länger als etwas erlebt, das mich betrifft, also mein Widerstreben gegen Widerfahrnisse frustriert, sondern als etwas, das mein Wollen befriedigt, indem es die Intention meines fragenden Suchens erfüllt. Wahrheit beruht damit auf der Einsicht in die Gründe, warum etwas faktisch so ist, wie es ist, oder warum es nicht anders sein kann. Um mich entscheiden zu können, einen Gedanken rechtfertigen zu wollen, genügt es nicht, mich an pathischen Gedanken zu orientieren, ähnlich wie wir uns im aktiven Vergegenwärtigen auf pathische Vergegenwärtigungen stützen. Aber wenn wir aktiv wach sind und entscheiden können, sind uns Gedanken bewusst, die kaum mehr affektive Kraft aufweisen und sich nicht mehr in der Weise des Fürwahrhaltenmüssens aufdrängen, sondern fraglich geworden sind. Sie verlangen nach Rechtfertigung und werden zu Vorbildern für die Bildung der Absicht, einen Gedanken rechtfertigen zu wollen. Beruht die aktive Einstellung zur Wahrheit auf Einsicht statt auf Fürwahrhalten, so geht auch das Fassen von (neuen) Gedanken letzten Endes darauf zurück, dass uns ein Sachverhalt als evident einleuchtet. Will ich einen Gedanken fassen, besteht die Absicht in einem Gedanken als einem Aspekt eines Denkgegenstandes, zu dem ein anderer gesucht wird: der, welcher bei einem Problem die Lösung bringt. Auch dafür gibt es keine Vorbilder im pathischen Wachsein. Der entscheidende Schritt besteht in der Umzentrierung des Problems. In ihr kommt ein Gedanke zur Evidenz, der uns das Problem auf eine neue Weise sehen lässt. Dabei beschränkt sich das, was wir machen können, darauf, die Gelegenheit herbeizuführen, durch die ein solcher Gedanke evident einsichtig wird. Dazu müssen wir die gewohnten Pfade verlassen und uns von Fixierungen befreien. Die Frage, ob es Modi des aktiven Wachseins gebe, die so verfasst sind, dass wir uns in ihnen immer wacher fühlen als in anderen, hat uns zur Frage geführt, wie wir von einem Modus in einen anderen übergehen können, wenn dieser ein neues, noch nicht vertrautes Können erfordert. Ein neues Können kann sich im Rückgriff auf pathisches Erleben aufbauen. Dieses erscheint im Rückblick aus der Sicht aktiven Wachseins anders, als wenn wir nur pathisch wach sind. Das pathische Erleben hat schon viel an affektiver Kraft eingebüßt 424 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Mehr oder weniger aktiv wach sein

und ist meist nur noch in der Erinnerung in abgeblasster Form zugänglich. Dafür kann man mit ihm willentlich umgehen, wozu das affektionslos gewordene pathisch Erlebte geradezu herausfordert. Wahrgenommenes treibt nicht mehr von selbst zu anderem fort, Gedanken werden fraglich, wenn sie sich nicht mehr als wahr aufdrängen, und verlangen nach Rechtfertigung. Aus solchem Material kann sich ein neues mentales Können aufbauen. Es ist anzunehmen, dass der Übergang in einen neuen Modus schwer zu meistern sein dürfte, solange er noch unvertraut ist. Es genügt ja nicht, eine Absicht für ein neuartiges mentales Wollen zu bilden, denn dazu gehört auch ein neuartiges Können, das erst einmal erlernt und eingeübt werden muss. Das geschieht in Situationen, die wir als Erwachsene längst hinter uns haben. Mit zunehmender Vertrautheit fällt das Können leichter und wird mit der Zeit automatisiert. Von erwachsenen Menschen kann man kaum mehr behaupten, ein bestimmter Modus des aktiven Wachseins erfordere generell mehr Willenskraft als ein anderer. Das schließt nicht aus, dass man in einem Modus wacher sein kann als in einem anderen. Aber wenn wir in einem wacher sind, liegt das nicht am Modus, in dem wir wach sind, sondern an der Aufgabe, die wir bewältigen, oder am Problem, das wir lösen wollen. Die Annahme, wir seien in bestimmten Modi des aktiven Wachseins immer wacher als in anderen, scheitert daran, dass das Maß, mit dem wir etwas wollen, nicht nur von dem abhängt, wie sehr das dazu erforderliche Können eingeübt und vertraut geworden ist, sondern auch davon, wie sehr wir jeweils etwas bewusst haben wollen. Wir haben in diesem Kapitel einige Fragen klären können und sind um einige Illusionen leichter geworden. So müssen wir von der Annahme Abstand nehmen, es gebe Modi des aktiven Wachseins, in denen wir allein durch das Können, das sie erfordern, wacher seien als in anderen. Auch davon, dass sich die Modi des aktiven Wachseins in einer Stufenfolge zunehmenden Wachseins bringen ließen, kann keine Rede sein. Dennoch gibt es Übergänge von einem aktiven Modus in einen anderen und manchmal ist damit auch ein partielles Einschlafen oder Aufwachen verbunden. Das liegt aber mehr an dem, was wir jeweils bewusst haben wollen, als am Modus, in den wir übergehen.

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Aktives Wachsein

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Aktives Wachsein, Selbstbewusstsein und Freiheit

Wach zu sein ist nicht nur eine Voraussetzung bewussten Erlebens, es ist, wenn auch beschränkt, quantifizierbar und ein unmittelbares, nicht-reflexives Bewusstsein meiner selbst. Das Letztere gilt zumindest für das pathische Wachsein. Ob es auch auf das aktive zutrifft, bedarf der genaueren Analyse, wobei auch zu klären ist, wie sich das Selbstbewusstsein im aktiven von dem im pathischen Wachsein unterscheidet. Die Antwort auf die Frage, ob wir auch im aktiven Wachsein unmittelbar und nicht-reflexiv unserer selbst bewusst seien, muss auch hier lauten, dass wir dies allein darum sind, weil wir aktiv wach sind. Dabei zeigen sich Parallelen zwischen dem Selbstbewusstsein im pathischen und dem im aktiven Wachsein, aber auch Unterschiede, darunter solche, die zu Problemen führen, welche die Philosophie seit langem beschäftigen. Dazu gehören Fragen, wie die nach der Willensfreiheit, ist es doch keineswegs ausgemacht, was es heißt, selbst zu entscheiden; und die nach der Identität der Person, denn unter anderem stellt sich die Frage, ob wirklich dasselbe Selbst sich im pathischen wie im aktiven Wachsein seiner selbst bewusst ist. 547 Insbesondere geht es in Anlehnung an das pathische Wachsein um die Klärung folgender Fragen: 1. Ist das Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung, wie das Widerstreben gegen Widerfahrnisse, ein auf mich selbst bezogenes Streben, in dem ich danach strebe, einer zu sein, der über sein Bewusstseinsleben entscheiden kann? 2. Kann man sagen: So wie ich im Betroffensein unmittelbar mich betroffen fühle, so fühle ich in der Befriedigung des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung unmittelbar, dass ich befriedigt bin? Das aktive Wachsein bestünde dann, wie das pathische, in einer strebenden und einer fühlenden Selbstbeziehung. Und: Wenn ich entscheiden kann, bedeutet das, dass ich selbst es bin, der entscheidet? Lässt sich aus dem aktiven Wachsein womöglich ein Kriterium für freies Entscheiden gewinnen? Betroffenheit und Entscheiden differieren in einer Hinsicht, die für die Freiheit des Entscheidens Konsequenzen hat: Das Betroffensein lässt keinen Raum für Zweifel, dass ich es bin, der betroffen 547 Dieser Frage werde ich unten im Kap. VI, 3 Subjektivität, Wachsein und Identität der Person nachgehen.

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Aktives Wachsein, Selbstbewusstsein und Freiheit

wird. Dagegen kann ich daran zweifeln, ob ich selbst es bin, der entscheidet, ob meine Entscheidung selbstbestimmt ist und damit frei von Zwang. Ohne mich auf die ganze damit verbundene Problematik freier Entscheidung einlassen zu können, möchte ich doch ein Stück weit der Frage nachgehen, was sich aus der Perspektive des Wachseins dazu sagen lässt. Zu 1.: Wir haben das aktive Wachsein als Nachfolger und Fortsetzer des pathischen kennen gelernt. Daher scheint es sinnvoll, unsere Untersuchung an jene Überlegungen anzuknüpfen, in denen sich das pathische Wachsein als ein Selbstbewusstsein erwiesen hat. Dieses kann in zweierlei Sinn als ein solches gelten: Zum einen fühle ich im Betroffensein unmittelbar, dass ich betroffen bin, dass ich erleide, was mir begegnet; zum andern bin ich selbst der intentionale Gegenstand des Wachseins, nicht als der, der ich bin, sondern als der, der ich sein möchte. Ich strebe danach, nicht-taumelig zu sein, das ist Ziel und intentionaler Gegenstand dieses Strebens und seiner Urteilsgefühle und damit des Wachseins. Wir sind nicht nur strebend, sondern auch fühlend darauf bezogen, wie wir sein möchten. Wenn ich hoffe, nicht oder wenigstens weniger betroffen zu werden, hoffe ich, einer zu sein, der in geringerem Maß betroffen wird als bisher. Fürchte ich, betroffen zu werden, fürchte ich, einer zu sein, der betroffen werden wird. So kann man das pathische Wachsein als eine wünschende Selbstbeziehung verstehen, in der ich strebend mich auf mich als künftig Betroffener beziehe. Unübersehbar wird das im Gefühl der Frustration, in der ich auf einen Sachverhalt bezogen bin, der in Gegensatz zu dem steht, den ich anstrebe. Erwünschter und wirklicher Sachverhalt widerstreiten sich, der eine besteht in dem, wie ich sein möchte, der andere in dem, wie ich bin. In der Frustration und damit im Betroffensein bin ich in doppelter Weise auf mich bezogen: wünschend, im Streben nicht betroffen zu werden, und fühlend im Betroffenwerden, was einer wünschenden und einer epistemischen Selbstbeziehung gleichkommt. Dabei beruht die epistemische nicht auf Reflexion oder so etwas wie Selbstwahrnehmung, sondern in der Erfüllung der Furcht vor Betroffenheit. In ihr fühle ich, dass ich es bin, der betroffen ist. Das aktive Wachsein weist Parallelen dazu auf, aber auch bedeutsame Unterschiede. Im pathischen Wachsein fallen Betroffenheit und Frustration des Widerstrebens zusammen: Wenn dieses frustriert wird, fühle ich mich betroffen und umgekehrt. Dagegen unterscheiden sich im aktiven Wachsein das Entscheiden und die Befriedi427 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

gung des Strebens nach Entscheidung: Entscheiden ist weder ein Geschehen noch ein Gefühl, wie die Befriedigung, es setzt die Möglichkeit einer Wahl voraus und damit einen offenen Spielraum des Entscheidens, wenigstens einen des Bejahens oder Verneinens. Es ist eine Aktivität, die gelingen oder misslingen kann, und sie ist nicht ohne ein Streben nach ihr zu denken, das durch sie befriedigt wird. Es drängt mich zu entscheiden, und dies Entscheiden ist eines, das ich selbst zu vollziehen habe. Die Sache verkompliziert sich, weil das Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung, das wir im Wachsein fühlen, zwei Phasen durchläuft: Zuerst kommt es zur Entscheidung, dann wollen wir das bewusst haben, wofür wir uns entschieden haben. Der Übersichtlichkeit halber möchte ich zuerst der Frage nachgehen, ob wir das Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung analog zum Streben, nicht betroffen zu werden, als eine strebende Selbstbeziehung verstehen können. Dann stellt sich die Frage, ob das auch vom mentalen Wollen gilt. Was zunächst das Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung betrifft, so streben wir auch hier danach, in bestimmter Weise zu sein, nämlich solche, die entscheiden können. Es drängt mich zu entscheiden, was ich bewusst haben möchte, aber wie ich entscheide, hängt nicht von diesem Drängen ab, dem es nur darum geht, dass ich entscheide. Dieses Streben wird durch jede Entscheidung befriedigt, wie immer sie ausfallen mag. Aber jede befriedigt nur partiell, was zeigt, dass das Ziel des Strebens über einzelne Entscheidungen hinausreicht und sich auf das Leben im Ganzen bezieht: Ich will nicht nur dann und wann, sondern immer wieder einer sein, der darüber entscheidet, was er bewusst haben will. Auch in dieser Hinsicht besteht eine Parallele zum pathischen Wachsein. Dieses beruht nicht auf einem Widerstreben gegen dieses oder jenes Widerfahrnis, sondern gegen alles, was mir widerfährt. Sind wir aktiv wach, streben wir nicht nur danach, von Widerfahrnissen frei zu sein, sondern auch, solche zu sein, die selbst entscheiden können, was bewusst sein soll. Dieses Ziel fühlen wir in allen Formen aktiven Wachseins: Wir hoffen, solche zu sein, und fürchten, es nicht zu sein, wir fühlen es auch in der Befriedigung und in der Frustration, obschon (oder weil) beide stets nur partiell sind. Wie immer ich aktiv wach bin, immer strebe ich danach, einer zu sein, der entscheiden kann, und bin mir in allen Urteilsgefühlen dieses Strebens (bzw. Wollens) als das bewusst, was ich sein will. Hat sich dieses Streben zu einem Können entwickelt und habituell verfestigt, so können wir (aber müssen nicht) zu ihm Stellung 428 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein, Selbstbewusstsein und Freiheit

nehmen und uns für oder gegen es entscheiden, dann drängt es uns nicht mehr, zu entscheiden, dann wollen wir entscheiden. Zu fühlen, dass ich einer sein will, der selbst entscheidet, kann man ein praktisches Selbstbewusstsein nennen: Ich fühle, dass ich will, dass alle meine künftigen Willensbildungen aus eigener Entscheidung hervorgehen, und dies nicht nur, wenn es um mentales Wollen geht, sondern uneingeschränkt bei allen Entscheidungen. Dieses Selbstbewusstsein beruht nicht auf Reflexion auf mein Streben oder Wollen, sondern lediglich auf dem Fühlen, in welcher Weise ich mein Bewusstseinsleben leben möchte; eben dies fühle ich in der Hoffnung, entscheiden zu können, und den anderen Gefühlen des aktiven Wachseins. Gilt uns das Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung insofern als eine Selbstbeziehung, weil ich mich auf mich beziehe, nicht wie ich bin, sondern wie ich sein und d. h. leben möchte, so kann man dasselbe vom mentalen Wollen allein nicht behaupten. In ihm will ich bewusst haben, wofür ich mich entschieden habe. Damit stellt sich die Frage, ob auch die Urteilsgefühle des mentalen Wollens als eine Selbstbeziehung verstanden werden können. Haben wir uns entschieden, was wir bewusst haben wollen, dann wollen wir es bewusst haben. Zum Wollen gehört immer die Möglichkeit, sich anders zu entscheiden. Tun wir das nicht, halten wir entschieden an der bisherigen Entscheidung fest, so gehört dieses Festhalten mit zum Wollen und macht seine Beständigkeit aus. Daher mussten wir feststellen, dass das mentale Wollen nicht getrennt vom Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung sein kann und zum Fühlen des mentalen Wollens auch das Gefühl, entschieden zu sein, gehört. Könnte man das mentale Wollen davon trennen, wäre es kein Wollen mehr, so dass wir uns allein in den Urteilsgefühlen des mentalen Wollens auch nicht wach fühlen können. 548 Das können wir nur, wenn im mentalen Wollen das Streben nach Entscheidung mit am Werk ist, so dass wir im entschiedenen Wollen die Befriedigung dieses Strebens mitfühlen. Dann können wir sagen, wir sind auch im Fühlen dieses Wollens wach. Aber sind wir auch unserer selbst bewusst? Im Unterschied zur ersten Phase, in der wir nach einem bewussten Leben durch Entscheidung streben, haben wir uns im mentalen Wollen für etwas entschieden. Insofern beziehen wir uns nicht mehr auf unser ganzes künftiges Leben, sondern nur auf einzelne, meist kürzere Sequenzen 548

Siehe oben S. 303.

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Aktives Wachsein

oder Ereignisse. Vielleicht will ich eine blaue Kuh phantasieren oder einen Apfel essen, aber beides sicher nicht ein Leben lang. Wenn ich einen Apfel essen will, will ich auch ein Apfelessender sein. Das ist ein Zustand meiner selbst, aber doch ein höchst ephemerer, von dem kaum behauptet werden kann, er sei in irgendeiner Weise für mich wesentlich. Dennoch fühle ich, dass ich es bin, der will. Das ist zuzugeben, aber dieses Gefühl ist nichts weiter als das Gefühl, entschieden zu sein, dieses oder jenes bewusst haben zu wollen. Es ist das Gefühl des befriedigten Strebens nach Entscheidung, das mein Wollen ständig begleitet und mich fühlen lässt: Ich will jetzt das, aber ich könnte mich jederzeit anders entscheiden und anderes wollen. Mit dem Entscheiden und Aufkommen des mentalen Wollens bricht das Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung nicht ab. Das Streben wird immer nur partiell befriedigt und bleibt aufrecht erhalten bis wir ins pathische Wachsein einschlafen. Wie in diesem das Streben, nicht betroffen zu werden, weiter besteht, wenn wir betroffen werden, so auch das Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung, wenn wir entscheiden und etwas bewusst haben wollen. In einem Streben oder Wollen beziehe ich mich auf mich, wenn das, was ich will, etwas ist, das mich in einer für mich wesentlichen Weise angeht, wenn es etwas ist, das ich für mein Leben als Ganzes, d. h. für mein ganzes künftiges Leben will. Tugendhat hat dafür plädiert, dass die grundsätzlich gestellte praktische Frage, die Frage, wie zu leben gut sei, unser Handeln und damit unser Leben im Ganzen betrifft. 549 Strebe ich danach, einer zu sein, dem nur solches bewusst ist, für dessen Bewussthaben ich mich entschieden habe, so ist dies eine mögliche Antwort auf die Frage, wie zu leben gut sei, und auch sie bezieht sich auf mein ganzes künftiges Leben. Ich will einer sein, der rational handelt. Habe ich mich entschieden, was ich bewusst haben will, und geht es nur noch darum, es bewusst haben zu wollen, ist das keine Selbstbeziehung. Wenn es kein Selbstbewusstsein ist, einen Apfel essen zu wollen, weil es sich dabei um ein partikuläres Wollen handelt, dann ist auch die Entscheidung dazu ebenso wenig eines, und dies gilt auch für Entscheidungen über Mentales. Sie sind je einzeln und bestimmt, beziehen sich auf einzelne Episoden meines Lebens, aber niemals auf das Ganze. Jeder besonderen Entscheidung über das, was wir bewusst haben wollen, liegt das Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung zugrunde, das sich auf mein Leben im Ganzen 549

Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, a. a. O., S. 193.

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bezieht, und über jede partikuläre Entscheidung hinaus weiter besteht. Aber auch eine partikuläre Befriedigung befriedigt mich, und so fragt sich, ob wir, wie im Betroffensein, auch im Entscheiden unserer selbst bewusst sind. Zu 2.: Eine weitere Parallele zum pathischen Wachsein zeigt sich, wenn wir die partielle Befriedigung des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung mit der gleichfalls partiellen Frustration des Widerstrebens gegen Widerfahrnisse vergleichen. Wird dieses frustriert, fühle ich mich betroffen und umgekehrt: Wird das Streben nach Entscheidung befriedigt, fühle ich mich befriedigt. Das eine ist so gut ein Selbstbewusstsein wie das andere. Dass dem so ist, fühlen wir in der Befriedigung des einen Strebens und in der Frustration des andern. Im Ersteren fühle ich nicht nur, dass ich entscheiden kann, sondern auch, dass ich es bin, der entscheidet. Dieses Gefühl, das Entscheiden ist durch mich, ich selbst entscheide, begleitet regelmäßig unsere Entscheidungen. Im Gefühl, dass es mir jetzt in diesem einen Fall gelungen ist, selbst zu entscheiden, weiß ich (oder glaube doch zu wissen), dass ich einer bin, der entscheiden kann. Auch dieses Wissen beruht nicht auf Reflexion, sondern auf der partiellen Erfüllung der Hoffnung, entscheiden zu können. Es ist ein bekanntes und weithin anerkanntes Phänomen. 550 Dagegen wird man einwenden, auf dieses Gefühl sei kein Verlass. Ich mag subjektiv überzeugt sein, selbst zu entscheiden, aber ob wir auch in einem objektiven Sinne Urheber unserer Entscheidungen sind, ist damit noch lange nicht ausgemacht. Es ist aber doch zu bedenken, ob man mit dieser Argumentationsweise nicht rasch an einen Punkt kommt, an dem man das Kind mit dem Bad ausschüttet. Man muss sich dann die Frage gefallen lassen, ob es denn Entscheidungen in einer objektiven Welt überhaupt geben könne und ob das Entscheiden in einer vollständig objektiven Weltbeschreibung a priori so wenig enthalten sei, wie die Tatsache, dass ich RR bin oder die, dass gerade ich betroffen bin. 551 Umgekehrt wird man sich fragen müssen, ob eine Weltbeschreibung, in der es für solch subjektive Tatsachen keinen Platz gibt, vollständig sei. 552 Damit rühren wir nicht bloß an das alte Problem der Willens550 Vgl. U. Pothast: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Seminar: Freies Handeln und Determinismus, Frankfurt a. M. 1978, S. 9. 551 Vgl. oben S. 43f. 552 Vgl. neuerdings: Th. Nagel: Geist und Kosmos, Berlin 2013, bes. S. 82 ff.

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freiheit, sondern auch an das nicht weniger ehrwürdige Leib-SeeleProblem. Bin wirklich ich es, der frei darüber entscheiden kann, was ich will, oder gibt es äußere oder innere Zwänge bewusster oder unbewusster Art, die dafür ausschlaggebend sind, so dass ich zwar glauben mag, ich hätte meinen Willen frei gebildet, dabei ist mein Entscheiden in einer Weise bestimmt, die ich kaum erahne. 553 Die Frage, ob unser Wille frei sei, ist für das mentale Wollen nicht weniger bedeutsam als für das Handeln. Sie betrifft die freie Willensbildung und damit das Entscheiden. Ohne voreilig auf eine Lösung zu hoffen, sei doch die Frage gestellt, ob nicht das alte Problem vom Wachsein her in neuer Perspektive erscheint. Bedenkt man, dass »frei« im gewöhnlichen Sprachgebrauch soviel wie »ungehindert« bedeutet und Willensfreiheit in der philosophischen Tradition vorherrschend als Freiheit von Zwang verstanden wird, 554 so rückt der Gegensatz von zwanghaft und frei in die Nähe des anderen von pathisch und nichtpathisch. Äußere Zwänge wie Krankheiten, Notlagen, soziale Nötigung oder Erpressung erlebe ich als etwas, von dem ich mich betroffen fühle, und dasselbe ist von inneren Zwängen wie Sucht, Affekte, fixe Ideen, Gewohnheiten usw. zu sagen. Einmal mehr weckt das den Verdacht, es sei einfacher anzugeben, was etwas nicht ist, als was es ist. Der Wille ist nicht frei und die Entscheidung nicht unsere, wenn sie erzwungen sind. Zumindest dafür könnte das Wachsein ein Kriterium liefern: Fühlen wir uns im Entscheiden pathisch wach, entscheiden wir nicht, sondern erleiden etwas, allenfalls auch ein Entscheiden. Auch bei einer pathischen Entscheidung kommt etwas zur Entscheidung, aber auf pathische Weise. Die Entscheidung wird mir aufgedrängt und ist als erzwungene nicht meine. Wenn das Streben nach Entscheidung zum Ziel hat, dass ich selbst entscheide, dann ist es nicht nur frustriert, wenn es zu keiner Entscheidung kommt, sondern auch dann, wenn ich nicht frei, sondern unter Zwang entscheide. Dass wir tatsächlich nach diesem Ziel streben, hielten wir schon darum für

Aus der Fülle der in den letzten Jahren erschienenen Literatur zum Problem der Willensfreiheit seien erwähnt: G. Seebaß: Handlung und Freiheit. Philosophische Aufsätze, Tübingen 2006, insbes. Aufsatz 8; ders.: Willensfreiheit und Determinismus, Bd. I, Die Bedeutung des Willensfreiheitsproblems, Berlin 2007; E. Tugendhat: Anthropologie statt Metaphysik, München 2010, Kap. 3; J. Nida-Rümelin: Über menschliche Freiheit, Stuttgart 2005. G. Keil: Willensfreiheit, Berlin, New York 22012. 554 Seebaß, Handlung und Freiheit, a. a. O., S. 208. 553

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gerechtfertigt, weil es das einzige zu sein schien, das verständlich macht, wie etwas nicht-pathisch bewusst sein kann. Damit stehen wir vor der Frage, ob das Wachsein hält, was es zu versprechen scheint, nämlich so etwas wie ein Kriterium dafür zu sein, ob eine Entscheidung wirklich meine und damit frei ist oder nicht. Man mag versucht sein, sich die Sache so zurechtzulegen, dass die Klasse der freien Entscheidungen mit jenen Entscheidungen zusammenfällt, in denen ich mich aktiv, und die der unfreien (erzwungenen) Entscheidungen mit jenen, in denen ich mich pathisch wach fühle. In jeder Entscheidung müsste ich mich dann entweder pathisch oder aktiv wach fühlen, tertium non datur. Aber es ist fraglich, ob sich auch die Phänomene derart dichotomisch verhalten. Natürlich gibt es eindeutige Fälle, wo sich eine Entscheidung in merklicher Weise aufdrängt oder von uns vollzogen wird. Aber das schließt Zwischentöne nicht aus. Auch wenn wir von Fällen unbewussten Zwangs absehen, die allenfalls erst in einer Psychoanalyse Aufklärung finden, können Entscheidungen derart subtil erzwungen sein, dass wir den Zwang kaum merken und uns nicht pathisch wach fühlen, allerdings auch nicht aktiv, denn für ein herzhaftes aktives Wachsein fehlt in solchen Fällen denn doch der Impetus. Dies trifft etwa zu, wenn mir zwar mehrere Möglichkeiten bewusst sind, aber die unterschwellige Vorliebe zu einer von ihnen ein freies Abwägen und Entscheiden verunmöglicht. Zu denken wäre auch an Problemlösungsbemühungen, die wegen funktionaler oder struktureller Gebundenheit stecken bleiben. Wir haben es dann mit einem eingeschränkten Spielraum von Möglichkeiten zu tun. Möglichkeiten, welche die Problemlösung voranbringen würden, kommen nicht in den Blick, weil ich zwanghaft immer dieselbe Entscheidung fälle, die nicht weiter führt. In solchen Fixierungen müssen wir gleichfalls eine Art Zwang sehen, er mag verhaltener sein, ist aber nicht weniger effektiv als in offensichtlicheren Fällen. Dabei fühlen wir uns anfänglich kaum pathisch wach, erst nach wiederholten vergeblichen Lösungsversuchen schlägt sich das Zwanghafte im Wachsein nieder. Zu behaupten, unser Wachsein irre sich in solchen Fällen, ginge wohl zu weit, denn wir fühlen uns nicht aktiv wach, wo wir uns pathisch wach fühlen müssten. Eher handelt es sich um indifferente Fälle: Der Zwang reicht zu pathischen Wachfühlen nicht aus, aber ein aktives mag auch nicht aufkommen. Fühlen wir uns im Entscheiden weder eindeutig aktiv noch eindeutig pathisch wach, so bleibt unbestimmt, ob es frei oder erzwungen ist. Abgesehen von solchen Grenzfällen fühlen wir uns entweder 433 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

auf die eine oder die andere Weise wach. Aber es bleibt die Frage, ob das, was wir da fühlen, auch dem entspricht, was ist. Können wir uns darauf verlassen, dass eine Entscheidung, in der wir uns aktiv wach fühlen, wirklich eine ist, in der wir selbst, also frei entscheiden? Gefühle sind von zweifelhafter epistemischer Verlässlichkeit. Die Forderung scheint berechtigt, die Frage, ob wir wirklich frei entscheiden können, müsse durch ein einsichtiges Urteil, nicht durch ein Gefühl entschieden werden. Beim Betroffensein dagegen verhält es sich anders. Betroffen zu sein ist selbst ein Gefühl von je bestimmter Qualität. Es ist genau so, wie es sich eben anfühlt und nichts außerdem. Daher gibt es hier keinen Raum für Täuschung. Entscheiden ist dagegen kein Gefühl, sondern seiner Struktur nach eine Handlung, die das Gefühl auslöst, selbst zu entscheiden. Wie kommt es zu diesem Gefühl? Es ist ein Urteilsgefühl des Strebens nach Entscheidung, das aus dem Streben, nicht betroffen zu werden, hervorgegangen ist. Entscheide ich, wird dieses Streben befriedigt. Aber muss wirklich ich entscheiden, damit es zur Befriedigung kommt, oder genügt es, wenn etwas Fragliches, z. B. ob dieses Bewusste bewusst oder nicht bewusst sein soll, entschieden wird. Eine Entscheidung kann auch pathisch sein; auch dürfen wir annehmen, wir seien in manchen Fällen schon zufrieden, wenn etwas überhaupt zur Entscheidung kommt. Dann fühlen wir, dass sich etwas entschieden hat, aber nicht, dass wir selbst entschieden haben. Es sei denn, wir lassen uns täuschen. Denken wir an die nicht seltenen Fälle, wo wir etwas bewusst haben wollen, und dann fällt uns von selbst ein, was wir wollen. Da war ich der Meinung, wir seien dennoch aktiv wach, weil wir uns entschieden haben und wollen und bekommen, was wir wollen. Warum dann das Insistieren, das Entscheiden dürfe nicht von selbst geschehen und müsse von mir ausgehen? Wenn ich nicht selbst entschieden habe, kann ich auch nicht selber wollen. Etwas wollen steht im Gegensatz zu dem, was von selbst geschieht. Ob das, was ich will, durch mich oder von selbst zustande kommt, kann mir in vielen Fällen gleichgültig sein, aber nicht, wenn es um die Frage geht, ob ich selbst es bin, der entscheidet und will. Da geht es um mein Selbstverständnis, um die Weise, wie ich sein und leben möchte. Ich möchte nicht einer sein, der immerzu dem ausgeliefert ist, was geschieht, sondern einer, der über das, was mich angeht, selbst entscheiden kann. Letztlich verstehen wir uns eben als solche, die danach streben, selbst entscheiden zu können, und zwar zunächst über das, was wir bewusst haben wollen. Das Streben nach Entscheidung ist eines, 434 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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selbst zu entscheiden. Dann ist auch die Befriedigung dieses Strebens eine darüber, selbst entscheiden zu können. Selbst entscheiden zu können scheint zumindest für Menschen (für Personen überhaupt) essentiell zu sein. Das schlägt sich auch in der Weise nieder, wie wir uns im Entscheiden wach fühlen. In der Befriedigung des Strebens nach Entscheidung fühlen wir, dass wir selbst entscheiden können, und im Hoffen, entscheiden zu können, fühlen wir, dass wir wahrscheinlich selbst entscheiden können. Das fühlt sich anders an als ein Fühlen, etwas entscheide sich von selbst. Dass das Entscheiden von uns ausgeht, kann man sich verdeutlichen, wenn man sich nochmals vergegenwärtigt, wie diese Fähigkeit entstanden ist und wie wir dazu aufgewacht sind. Ein Entscheiden kann es nur geben in einem Spielraum von Möglichkeiten, wenigstens in einem des Stellungnehmens zu etwas. Sind wir entsprechend wach, kann ihm ein Überlegen und Abwägen von Gründen und Gegengründen vorausgehen, aber bei einfachsten Formen des Entscheidens, wenn wir erst zum Entscheiden aufwachen, wird man ohne dergleichen auskommen müssen. Ein Bewusstsein von Möglichkeiten, zwischen denen man wählen kann, kann es im pathischen Wachsein nicht geben. Da gibt es allenfalls Möglichkeiten von solchem, das geschehen oder nicht geschehen kann. Bevor wir entscheiden können, müssen wir uns vom Pathischen distanzieren und aus dem pathischen Wachsein aufwachen. 555 Dieser Thematik müssen wir uns nochmals zuwenden, wobei der Fokus auf der Frage liegen soll, ob wir im Rückgang auf das Aufwachen Argumente dafür oder dagegen finden, dass wir selbst es sind, die entscheiden. Wir haben gesehen, dass eine solche Distanz dann entsteht, wenn wir ein Bewusstsein unserer selbst gewinnen, das nicht-pathisch ist, eines, in dem ich mir nicht als Betroffener bewusst bin, sondern als einer, der etwas kann. Dieses erste, anfängliche Können ist nicht etwas, das wir wollen, denn etwas zu wollen setzt voraus, dass wir uns dafür entschieden haben, und eben das können wir nicht, wenn wir nur pathisch wach sind. Aus dem pathischen Wachsein kommen wir nur heraus, wenn wir etwas können, und das kann nur ein Können sein, das ein Streben erfüllt, das schon besteht, auch wenn wir nur pathisch wach sind. Dieses Streben muss eines sein, 555 Siehe oben S. 277ff. Weiteres zum Aufwachen aus dem pathischen Wachsein siehe unten S. 482ff. und 490.

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das von uns ausgeht, denn eines, das uns betrifft, kann es nicht sein, sonst kommen wir nicht aus dem pathischen Wachsein heraus. Dafür kommt nur das Streben, nicht betroffen zu werden, in Frage. Dieses ist befriedigt, wenn etwas pathisch Bewusstes uns nicht mehr betrifft und aus dem Bewusstsein schwindet. Ein Bewusstsein eigenen Könnens kann jedoch erst entstehen, wenn wir dieses Schwinden mit unserem Streben, nicht betroffen zu werden, in Verbindung bringen. Ich muss die Erfahrung machen, dass etwas pathisch Bewusstes dann aus dem Bewusstsein schwindet, wenn ich danach strebe, nicht betroffen zu werden. So entsteht ein erstes Bewusstsein eigenen Könnens. Ich muss merken, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Hoffnung, nicht betroffen zu werden, und dem Umstand, dass das, was mir pathisch bewusst ist, aus dem Bewusstsein schwindet, wenn ich diese Hoffnung fühle. Für uns, die wir aktiv wach sind, mag dieser Zusammenhang plausibler werden, wenn wir an andere Fälle mentaler Wirksamkeit denken, die uns beim willentlichen Erinnern, Phantasieren oder Problemlösen begegnet sind. Die wiederholte Erfahrung, dass unser mentales Wollen allein durch die Intensität des Wollens bewirken kann, wonach wir streben (nicht immer, aber immer wieder), lässt uns annehmen, dass auch ein Streben, das nicht auf Entscheidung beruht, genügend affektive Kraft aufbringt, um Bewusstes aus dem Bewusstsein zu drängen. Wird das Streben, nicht betroffen zu werden, befriedigt, müssen wir dieses Gefühl der Befriedigung ebenso als eine Weise, wach zu sein, ansehen, wie die übrigen Urteilsgefühle dieses Strebens. Wie im Betroffensein sind wir uns auch in der Befriedigung unserer selbst bewusst, nur nicht als Betroffene, sondern als solche, die etwas können. Auch wenn das zunächst nur darin besteht, etwas, das pathisch bewusst ist, aus dem Bewusstsein zu drängen. Damit haben wir uns nicht völlig vom Pathischen abgenabelt, aber statt nur Geschehendes zu erleiden, können wir nun etwas, das, auch wenn es nur negativ ist, doch den Boden abgibt, von dem aus wir entscheiden können. Man muss aber zugeben, dass das Gefühl, etwas aus dem Bewusstsein drängen zu können, täuschen kann. Was ich da kann, ist nicht ein Tun, von dem ich angeben könnte, wie ich es mache, sondern ein Geschehen, von dem ich hoffe, es möge sich ereignen. Mein Hoffen, etwas pathisch Bewusstes möge aus dem Bewusstsein schwinden, und das Zutreffen des Erhofften, bestehen gleichzeitig, aber diese Gleichzeitigkeit garantiert nicht, dass dieses die Wirkung meines 436 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein, Selbstbewusstsein und Freiheit

Strebens und Hoffens wäre, so dass zu Recht von einem »Können« die Rede sein kann. Das pathisch Bewusste kann auch von selbst, ohne mein Zutun aus dem Bewusstsein schwinden. Hoffe ich gleichzeitig, es möge schwinden, kann das auch ein zufälliges Zusammentreffen sein. Dieser Fall unterscheidet sich von den oben genannten Fällen, in denen wir nach etwas suchen, und es bewusst haben wollen. Da haben wir es mit einem Wollen zu tun, das wir als mehr oder weniger intensiv fühlen, und das zudem an die Erfahrung geknüpft ist, dass wir ohne intensives Suchen auch nichts finden. Solche Erfahrungen müssten auch mit dem Streben, nicht betroffen zu werden, möglich sein, damit das Gefühl, etwas zu können, an Plausibilität und Sicherheit gewinnt. Das Streben, nicht betroffen zu werden, muss sich spezifizieren, so dass ich danach strebe, etwas Bestimmtes, das sich aufdrängt, aus dem Bewusstsein zu drängen. Das ist noch kein Wollen und setzt keine Entscheidung voraus. Es genügt, dass etwas pathisch Bewusstes sich in den Vordergrund drängt. Dieses möchte ich loswerden und hoffe, es möge gelingen. Mache ich wiederholt die Erfahrung solchen Gelingens, so entsteht ein einigermaßen stabiles Können, das habituell werden kann, und zwar eines, das dem Entscheiden vorhergeht. Können wir dies, so sind wir uns als solche bewusst, die etwas pathisch Bewusstes aus dem Bewusstsein drängen können. Das ist ein erstes nicht-pathisches Selbstbewusstsein, durch das wir uns vom pathisch Bewussten distanzieren. In der Befriedigung dieses Strebens fühle ich mich nicht mehr betroffen, sondern fühle, dass ich etwas kann, auch wenn dies nur darin besteht, etwas, das vordergründig pathisch bewusst ist, aus dem Bewusstsein zu drängen. Bin ich mir als einer bewusst, der etwas aus dem Bewusstsein drängen kann, so trete ich in Gegensatz zu dem, was mir noch pathisch bewusst ist, aber auch zu mir, soweit ich mir noch als hintergründig Betroffener bewusst bin. Ich distanziere mich vom Pathischen und von mir, soweit ich Erleidender bin. Diese Distanz wird als Befreiung erlebt. Sie trägt mit dazu bei, dass wir uns im Entscheiden als unabhängig und frei vom Pathischen fühlen. Wenn wir uns im Unterdrücken von pathisch Bewusstem gegen das Pathische durchsetzen können, dann können wir das auch im Entscheiden, was nicht heißt, dass es immer gelingt. Immerhin liegt es nahe anzunehmen, es sei möglich, pathische Einflüsse auf das Entscheiden zurückzudrängen, und dieses von jenen zu befreien. Um dieser Spur nachzugehen, sollten wir weiter verfolgen, wie wir aus dem pathischen Wachsein zum Entscheiden aufwachen. 437 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

Die Distanz, die wir im Aufwachen gegenüber dem Pathischen gewinnen, mag befreiend sein, sie ist aber auch beängstigend. Wir haben gesehen, dass mit der Befriedigung des Strebens, nicht betroffen zu werden, Angst vor Bewusstlosigkeit auftritt. Diese kann nicht auf dem Streben, nicht betroffen zu werden, beruhen, denn dieses führt zur Angst, betroffen zu werden, nicht zu der, nicht betroffen zu werden, und damit in Bewusstlosigkeit zu versinken. Dieser Angst muss ein gegenteiliges Streben zugrunde liegen, eines nach Betroffenheit. Dabei dürfte das Streben, nicht betroffen zu werden, das ursprünglichere sein, weil erst die Erfahrung des Schwindens des pathischen Bewusstseins die Angst aufkommen lässt, alles könnte verschwinden. Das Streben, nicht betroffen zu werden, geht von mir aus. Es ist durch meine Initiative, auch wenn ich mich nie dafür entschieden, sondern immer schon danach gestrebt habe. Daher fühle ich mich von ihm nicht betroffen, wie von anderen Strebungen, sondern fühle, dass ich es bin, der strebt. Das gilt auch für alle möglichen Partialstrebungen, die auf dieses zurückgehen, so auch für das Streben, etwas Bestimmtes aus dem Bewusstsein schwinden zu lassen. Die Behauptung, das Streben, nicht betroffen zu werden, gehe von mir aus, bedeutet nicht, es sei ungehindert und insofern frei. 556 Zumeist ist das Gegenteil der Fall: Solange ich pathisch wach bin, stellen sich diesem Streben Widerfahrnisse in den Weg, so dass ich mich betroffen fühle. Erst in der Befriedigung kommt ein Gefühl des Freiseins auf. Auch das Streben, betroffen zu werden, geht von mir aus. Angetrieben von der Angst, in Bewusstlosigkeit zu versinken, strebt die aufwachende Subjektivität wieder dem Pathischen zu. Beide Strebungen widerstreiten sind. Setzt sich das Streben, betroffen zu werden, durch, schlafen wir ins Pathische ein; kommt das Streben, nicht betroffen zu werden, zu partieller Befriedigung, gewinne ich ein nicht-pathisches Selbstbewusstsein, das mich in Distanz zum Pathischen versetzt. Keine der beiden Strebungen kann sich auf Dauer durchsetzen, und keines ihrer Ziele ist attraktiv: weder das Versinken im Pathischen noch Bewusstlosigkeit. Aber ein nur pathisches Bewusstsein kennt nichts anderes. Wir, die wir aktiv wach sind, sind mit einem Bewusstsein vertraut, das nicht-pathisch ist: Eines, für dessen Bewussthaben wir uns entschieden haben. Das pathische Bewusstsein kann aufwachen und lernen zu entscheiden. Dazu gehört, dass es in der Befriedigung des 556

Zu dieser Gleichsetzung siehe: Seebaß, Handlung und Freiheit, a. a. O., S. 208.

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Aktives Wachsein, Selbstbewusstsein und Freiheit

Strebens, nicht betroffen zu werden, ein nicht-pathisches Selbstbewusstsein gewinnt, durch das es sich vom Pathischen distanziert. Dann ist es sich nicht mehr als eines bewusst, das betroffen wird, sondern als eines, das etwas kann, nämlich etwas aus dem Bewusstsein drängen. Wie entsteht daraus das Entscheiden? Zweierlei schien mir dazu notwendig: Es muss aus dem pathischen Erleben heraus wenigstens eine Ahnung entstehen, dass Alternativen zu einer Entscheidung kommen können 557, und es muss eine Situation entstehen, die Entscheidung fordert. Eine solche ergibt sich aus den beiden erwähnten gegenteiligen Strebungen. Hoffen wir, etwas Pathisches zurückdrängen zu können, so erscheint das, was noch pathisch bewusst ist, als etwas, das aus dem Bewusstsein gedrängt werden soll. In der Angst, nicht betroffen zu werden, dagegen, erscheint es als etwas, das bestehen bleiben soll. Beide Gefühle bestehen gleichzeitig und fordern ein gegenteiliges Verhalten: zum Verschwinden bringen oder stehen lassen. Im Streben, nicht betroffen zu werden, wird das pathisch Bewusste verneint, im Streben, betroffen zu werden, wird es bejaht. Beides kann nicht zugleich bestehen. Das fordert eine Entscheidung, und ich kann dieser Forderung entsprechen, weil ich nicht mehr im Bewusstsein lebe, einer zu sein, der betroffen wird, sondern einer, der Pathisches aus dem Bewusstsein drängen kann. Daher kann ich in der Situation des Stellungnehmens verneinen, was mir bewusst ist, und damit auch bejahen. Das Gefühl, selbst zu entscheiden, hängt nun nicht mehr in der Luft. Es bringt den Umstand zum Ausdruck, dass wir schon vor dem Entscheiden aufgewacht sind und uns vom Pathischen emanzipiert haben. D. h. nicht, dass wir nicht mehr betroffen werden, sondern, dass wir uns gegen das Pathische durchsetzen können, nicht nur, indem wir es wegdrängen, sondern auch, indem wir uns für etwas entscheiden, das wir bewusst haben wollen. Das schließt Täuschung nicht aus. Werden wir nur in geringem Maß betroffen, kann das Gefühl aufkommen, selbst zu entscheiden, dabei geschieht die Entscheidung ohne uns. In solchen Grenzfällen können wir uns täuschen, aber es gibt vom Wachsein her keinen Grund zu Annahme, dass uns dieses Gefühl immer und systematisch täusche.

557

Siehe oben S. 272.

439 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Aktives Wachsein

10 Die Phänomene der Passivität in der Aktivität und die Modi des aktiven Wachseins Unsere bisherigen Untersuchungen führten uns zu zwei grundlegenden Arten des Wachseins: das pathische und das aktive. Beide schließen einander aus: Aktiv wach zu sein ist kein pathisches Wachsein und umgekehrt. Aber wenn wir aktiv wach sind, sind wir zugleich auch pathisch wach. Das Umgekehrte gilt nicht ebenso, denn wir können pathisch wach sein, ohne aktiv wach zu sein, wie im Traum oder Tagtraum. Jede dieser Arten des Wachseins gliedert sich weiter in unterschiedliche Modi. Und nun stehen wir vor der Frage: Ist das alles? Was die Modi des Wachseins betrifft, dürfen wir annehmen, mit etwas mehr Sorgfalt ließen sich noch weitere unterscheiden. Bei den beiden grundlegenden Arten des Wachseins mag sich der Eindruck festgesetzt haben, der Gegensatz des Pathischen und Aktiven sei disjunktiv: Weitere grundlegende Weisen, wach zu sein, gebe es nicht. Allerdings hat sich das Verhältnis des pathischen zum aktiven Wachsein als komplexer erwiesen als man auf den ersten Blick hin annehmen möchte. 558 So setzt das aktive pathisches Wachsein voraus, denn nur wenn wir beständig hintergründig danach streben, nicht von Widerfahrnissen betroffen zu werden, können wir nach Bewusstsein durch Entscheidung streben. Auch dürfen wir jene Phänomene nicht vergessen, in denen Passives als ein Mittel des mentalen Wollens dient, nämlich als eines, durch das bewusst wird, was man bewusst haben will. Insofern kann man von einer »Passivität in der Aktivität« sprechen. Solche Phänomene sind uns u. a. beim aktiven Erinnern und Phantasieren und beim Problemlösen begegnet. 559 Ist das Wachsein entweder pathisch oder aktiv, dann ist alles, was bewusst wird, entweder bewusst durch Betroffenheit oder durch Befriedigung eines mentalen Wollens und damit durch die Erfüllung des Hoffens, das bewusst haben zu können, was ich bewusst haben will. Ein Drittes gibt es nicht. Ob dem wirklich so ist, steht nicht fest und bedarf der Untersuchung. Eine Disjunktion kann in zweierlei Hinsicht unterlaufen werden: nach innen und nach außen. Nach innen wird sie aufgeweicht, wenn sich die Grenzen zwischen den Alternativen verwischen. Im 558 559

Siehe oben Kap. III, 6 Die Beziehungen zwischen pathisch und aktiv Bewusstem. Siehe oben S. 335 und 378.

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Phänomene der Passivität in der Aktivität und die Modi des aktiven Wachseins

Allgemeinen gilt: Entweder ist etwas pathisch oder aktiv bewusst. Pathisch bewusst ist es durch Betroffenheit, aktiv durch Befriedigung eines mentalen Wollens. Aber es gibt Grenzbereiche des Betroffenseins, in denen sich beides nicht mehr klar unterscheiden lässt. Dies mussten wir schon beim Aufwachen und Einschlafen feststellen, wenn das Betroffensein so weit nachlässt, dass es kaum mehr bemerkt werden kann, und ein Entscheiden noch nicht zustande gekommen ist. Gelten Betroffenheit und Entscheidung als Kriterien für pathisches oder aktives Bewusstsein, dann ergibt sich eine Grauzone, sobald das eine uns nicht mehr gefangen hält und das andere noch nicht voll entfaltet ist. Mit einer solchen Grauzone könnten wir es auch dann zu tun haben, wenn Pathisches in das aktive Wachsein hineinragt. Um diese seltsamen Phänomene der Passivität in der Aktivität zu klären, sollten wir den verschiedenen Arten von Aktivität nachgehen, die uns bis jetzt begegnet sind. »Aktivität« verweist auf »actus« und weiter auf »actor« als Vollzieher des actus. Am Ausgangspunkt jeder menschlichen Aktivität stehen das wollende Subjekt und mit ihm die Entscheidung, was zu tun sei. Das gilt auch von jeder mentalen Aktivität. Dazu gehört als reinster Form einer Tätigkeit das willentliche Generieren von Inhalten. Regelfolgendes Denken galt uns darum geradezu als Paradigma für aktives Bewusstsein. Zähle ich Zahlen zusammen, wende ich die Regeln des Addierens an und erzeuge eine Summe. Das ist ganz und gar Aktivität: Was dabei entsteht, beruht auf meiner regelfolgenden Tätigkeit, die bewusst ist im fortlaufenden Erfüllen meines Wollens. Wir können in solchen Fällen auf die Frage »Wie machst du das?« eine klare Antwort geben. 560 Solch reine Aktivität kommt in anderen Formen aktiven Bewusstseins nur zusammen mit Pathischem vor. So beschränkt sich im aktiven Wahrnehmen die Aktivität auf die kinästhetischen Bewegungen, die dazu dienen, die Gelegenheit herbeizuführen, damit das (pathisch) erscheinen kann, was wir bewusst haben wollen. Diese Bewegungen sind gewollt und bestehen in wirklichen Bewegungen des Leibes, die auch bewusst sein können. Das, was wir vordringlich bewusst haben wollen, nämlich etwas Bestimmtes aufmerksam wahrzunehmen, wird pathisch bewusst. Unsere Aktivität ist hier nur Bedingung, damit das erscheinen kann, was wir 560 Im »selbsttätigen« Erzeugen von Zahlen und Theorien hat auch Husserl Musterbeispiele der Aktivität gesehen. Ihnen hat er das passiv Vorgegebene gegenübergestellt, das nur in Akten der Rezeptivität erfahrbar ist. Siehe Hua XI, S. 291.

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Aktives Wachsein

bewusst haben wollen. Wieder anders ist die Tätigkeit im aktiven Vergegenwärtigen. In der Wiedererinnerung können wir in quasi-kinästhetischen Bewegungen die Horizonte des Erinnerten aufdecken, wir können gleichsam da- oder dorthin blicken und uns in einem Erinnerungsfeld bewegen. Diese Tätigkeiten sind nicht wirkliche körperliche Bewegungen, sondern vorgestellte: Ich stelle mir vor, ich würde in einem vorgestellten Raum da oder dorthin gehen, um dieses oder jenes genauer anzuschauen. Solches quasi-Wahrnehmen verhält sich analog zu einem wirklichen Wahrnehmen, nur ist das, was erscheint, nicht gegenwärtig, sondern vergegenwärtigt. Von diesen Tätigkeiten ist das, was wir mit »Passivität in der Aktivität« meinen, deutlich unterschieden. Damit es zu den QuasiBewegungen des Erinnerns kommen kann, müssen wir erst einmal in dem Vergangenen, nach dem wir suchen, Fuß gefasst haben. Dies geschieht durch eine Assoziation durch Ähnlichkeit vermittelst der Übertragung affektiver Kraft. Wollen wir etwas Vergangenes erinnern, so haben wir in der Absicht einen Aspekt des Gesuchten bewusst. Wollen wir intensiv genug, so kann die affektive Kraft des Wollens das gesuchte Vergangene wecken, worauf auch dieses bewusst wird. 561 Sollen wir auch das als eine Tätigkeit bezeichnen? Immerhin sind wir es, die wollen und durch unser Wollen etwas bewirken, auch wenn dieses Wirken unbewusst verläuft. Ähnliches gilt vom freien Phantasieren: Wir wollen uns etwas visuell vorstellen und es weiter ausmalen, aber dazu müssen sich erst Phantasien einstellen, die sich auf das beziehen, was wir wollen. Unser Wollen weckt Bilder, die etwas mit unserer Absicht zu tun haben, worauf wir absichtlich Horizonte des Geweckten dazu phantasieren können. Ähnlich wie beim Erinnern geht es uns beim Problemlösen. Wir suchen nach einem Gedanken, der etwas zur Lösung beitragen könnte, von dem wir einen Aspekt in der Absicht unseres suchenden Wollens bewusst haben. Wie das zu Erinnernde fällt uns der für die Problemlösung entscheidende Gedanke von selbst ein, wobei wir sogleich wissen (oder zu wissen glauben), dass dieser die Lösung bringt. Der Einfall ist nicht pathisch, wir fühlen uns nicht betroffen, wir sind nicht frustriert, sondern befriedigt. Dennoch stellt sich die Frage, ob solche Einfälle nicht doch pathisch bewusst sind. Immerhin ähnelt die Überzeugung, sie seien entscheidend für die Lösung des Problems,

561

Siehe oben S. 333ff.

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Phänomene der Passivität in der Aktivität und die Modi des aktiven Wachseins

fatal der Weise, wie pathische Gedanken bewusst werden. Denkt man daran, muss man sich fragen, wie es kommt, dass uns nicht selten gerade das einfällt, wonach wir suchen, und nicht anderes. Das nährt den Verdacht, das Wollen bringe auf assoziativen Wegen das zu Bewusstsein, was wir wollen. Wie können wir diese merkwürdigen Prozesse des Bewusstwerdens einordnen? Sind sie pathisch oder aktiv bewusst oder sind sie weder das eine noch das andere und bilden eine eigene dritte Art des Bewussthabens? Beim Erinnern wie beim Problemlösen wollen wir etwas bewusst haben. Wir nehmen auch an, wir wollen das nicht nur beiläufig, sondern streben es intensiv suchend an. Aber wir wollen nicht tätig sein, um das Angestrebte zu erreichen, wir wüssten nicht einmal, worin eine solche Tätigkeit bestehen könnte. Vielmehr geschieht, was wir wollen, durch einen Vorgang, den wir nicht wollen, zumindest nicht explizit. Als nicht gewollt sperrt er sich gegen die Umdeutung in eine Tätigkeit. Zwar bewirkt unser Bewussthabenwollen, dass das bewusst wird, was wir wollen, denn ohne dieses würde uns kaum gerade das einfallen, was wir wollen. Aber was diesen Einfall bewirkt, ist keine Tätigkeit, die wir willentlich und bewusst vollziehen, so dass wir angeben könnten, wie wir es machen, sondern ein Vorgang, den wir zwar wollen, der aber doch geschieht. Es sind Ereignisse wie die, denen Husserl unter dem Titel »Assoziation« nachgegangen ist und gezeigt hat, wie ein Sinn, dem affektive Kraft zukommt, einen anderen, der ihm in gewisser Hinsicht ähnlich ist, wecken, d. h. bewusst machen kann. 562 Was das Wollen auf solche Weise bewirkt, ist keine Tätigkeit, aber auch kein Geschehen, das uns betrifft, also nicht eines, das unser Wollen frustriert, sondern eines, das es befriedigt. In dieser Befriedigung ist auch bewusst, was wir bewusst haben wollen, aber das bedeutet nicht, dass es im gleichen Sinne aktiv bewusst wäre, wie das Resultat eines Regelfolgens, denn es ist nicht durch eine beabsichtigte Tätigkeit bewusst, sondern durch ein Geschehen, das zwar unser Wollen erfüllt, aber ohne unser Zutun. Der Befriedigung fehlt denn auch das Gefühl, etwas zu können, sie enthält keine Spur eines Bemächtigens, schon eher stellt sich ein Gefühl der Dankbarkeit darüber ein, dass sich etwas von dem zeigt, wonach wir suchen. Dies alles lässt vermuten, wir haben es dabei mit einem Bewusstsein zu tun, das weder pathisch noch aktiv ist. 562

Vgl. Hua XI, S. 117 ff. insb. S. 163; und unten S. 465 ff.

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Aktives Wachsein

Manchmal geraten wir im Suchen nach einer Lösung in eine Art meditativen Zustand, in dem wir eine hingebende, suchende Haltung einnehmen, das Gesuchte möge sich einstellen. Es ist eine Haltung die vielleicht am ehesten einem angestrengten aufmerksamen Hinhorchen in die Stille gleicht. Wir wollen nach wie vor etwas bewusst haben, aber dieses Wollen motiviert keine Tätigkeit. Im Gegenteil: Wir wollen uns jeden Tuns enthalten. Dies kann man schwerlich als eine Tätigkeit bezeichnen, es ist eine Einstellung, die nicht aktiv sein kann, aber pathisch ist sie auch nicht, denn wir wollen etwas bewusst haben, und wenn bewusst wird, was wir wollen, fühlen wir uns nicht betroffen, sondern befriedigt. – Aber, so könnte man einwenden: Sich der Tätigkeit enthalten ist als solches keine Tätigkeit. Wenn wir jedoch »Tätigkeit« so verstehen wie bisher, nämlich als Vorgang, den wir selbst vollziehen, als Mittel, um einen selbst gesetzten Zweck zu realisieren, dann wollen wir das Nicht-Tätigsein als ein solches Mittel, so dass wir in ihm doch eine Tätigkeit sehen müssen. Damit tauchen jedoch Zweifel anderer Art auf: Kann man wollen, nicht-tätig zu sein? Kann man es in gleicher Weise wollen wie eine Tätigkeit? Ich kann aufhören, tätig sein zu wollen, und wenn das gelingt, hört die Tätigkeit auf. Wollen wir eine Tätigkeit ausführen, so wird dieses Wollen im Ausführen dieser Tätigkeit erfüllt. Das Wollen, nicht tätig zu sein, bezieht sich auf das Aufhören einer (oder jeder) Tätigkeit und wird eben dadurch erfüllt, dass die Tätigkeit aufhört. Das ist keine Tätigkeit, habe ich mich doch entschieden, gerade nichts zu tun. Andererseits muss man zugeben, ich habe mich für etwas entschieden, ich habe es gewollt und das Gewollte ist eingetreten. Ich höre mit einem Tun auf, indem ich es nicht mehr will, weiter gibt es da nichts zu tun. Das Gewollte stellt sich von selber ein. Damit kommen wir doch wieder dahin zu sagen, sich jeder Tätigkeit enthalten, ist keine Tätigkeit. Es bleibt also dabei: In dieser Einstellung sind wir weder pathisch noch aktiv. Heißt das nun auch, wir sind weder aktiv noch pathisch wach? Nein: Wir können nur sagen, es wird etwas bewusst, und dieses Bewusstwerden verläuft weder aktiv noch passiv, weil wir weder betroffen werden noch tätig sind, da wir außer unserem Wollen nichts zum Bewusstwerden beitragen. Das alles bezieht sich aber nur auf die zweite Stufe des aktiven Bewusstwerdens: auf das mentale Wollen. Mental etwas wollen heißt: Wir haben uns entschieden, etwas bewusst haben zu wollen; und Sich-Entscheiden ist eine Aktivität. Die Phänomene der Passivität in der Aktivität tragen ihren Namen zu 444 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Phänomene der Passivität in der Aktivität und die Modi des aktiven Wachseins

Recht. Sie sind solche des aktiven Wachseins, weil ich in ihnen entschieden bin, etwas bewusst haben zu wollen. Wir haben es also nicht mit einer grundlegend neuen Weise des Wachseins zu tun, sondern mit einer Variante des aktiven Wachseins, die unsere bisherige Einteilung der Modi des aktiven Wachseins ergänzt. Die Phänomene, um die es geht, sind uns beim Stellungnehmen, beim aktiven Wahrnehmen, beim Erinnernwollen, Phantasierenwollen und beim problemlösenden Denken begegnet. In diesen Modi des Wachseins findet sich ein gemeinsames Können: Wir wollen etwas bewusst haben, aber statt etwas zu tun, um zu erreichen, was wir wollen, enthalten wir uns jeden Tuns und hoffen, dass das geschehe, was wir wollen. Ob wir dieses Können als Teil des Könnens der bisher untersuchten Modi auffassen oder an eine neue Einteilung der Modi des aktiven Wachseins denken, ändert an der Sache selbst wenig. Die genannten Phänomene bilden ein eigentümliches Können, das für die Erfüllung gewisser Weisen des mentalen Wollens unabdingbar ist. Was wir bewusst haben wollen, geschieht oder fällt uns ein, aber es wäre uns kaum eingefallen, wenn wir nicht gewollt hätten, dass es uns einfällt. Fällt es uns ein, sind wir befriedigt und das Gesuchte wird durch Erfüllung unseres Hoffens, das bewusst zu haben, was wir bewusst haben wollen, bewusst. Wird an seiner Stelle etwas anderes bewusst, kann es nur pathisch bewusst sein. Zwar geschieht uns etwas, aber es geschieht auf unsere eigene Initiative hin. Diese besteht lediglich darin, etwas Bestimmtes bewusst haben zu wollen und es zuzulassen. Es ist ein hingegebenes Zulassen, das ein Geschehen hervorlockt.

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IV. Wachsein und Subjektivität

Die Frage, wie es ist, wach zu sein, von der wir ausgegangen sind, hat sich als überaus facettenreich erwiesen. Sie hat uns auf vielfache Zusammenhänge geführt, die weiter zu verfolgen unumgänglich schien, auch auf die Gefahr hin, dabei einigen zu weit, anderen zu wenig weit gegangen zu sein. Anderes blieb liegen, dem nachzugehen auch verlockend gewesen wäre. In diesem letzten Teil geht es mir darum der Verzettelung entgegenzuwirken und die Vielfalt des Sich-wach-Fühlens im Verhältnis zu dem Zentrum zu betrachten, auf das sie von sich aus bezogen ist. Dieses Zentrum ist die agierende und erleidende Subjektivität. Die Frage nach dem Verhältnis von Wachsein und Subjektivität bildet das Hauptthema dieses letzten Teils. Sie führt uns auch zur Frage, welchen Stellenwert dem Wachsein innerhalb der Philosophie zukommt. Bevor ich darauf eingehe, scheint es sinnvoll, das Erreichte zusammenzufassen und es mit unseren lebensweltlichen selbstverständlichen Überzeugungen über unser Wachsein zu konfrontieren. Dabei zeigen sich Übereinstimmungen, aber auch erhebliche Differenzen. Davon handelt das erste Kapitel. Wünschen würde man sich auch eine Konfrontation mit anderen phänomenologischen Theorien über dieses Thema, aber dazu findet sich nicht eben viel. Am ausführlichsten hat sich Husserl mit dem Wachsein und dem Aufwachen auseinandergesetzt. Das ist Thema des zweiten Kapitels. Das dritte stellt das Verhältnis von Wachsein und Subjektivität ins Zentrum. Obschon eng aufeinander bezogen, müssen wir beides streng unterscheiden: Subjekt zu sein ist wesentlich dadurch bestimmt, etwas bewusst zu haben; wach zu sein dadurch, Zustand eines Subjekts zu sein, der Bedingung dafür ist, dass es etwas bewusst haben kann, also fähig ist, Subjektfunktionen ausüben zu können. Das Wachsein des Subjekts wandelt sich, und damit wandelt sich auch das Bewusstsein, welches das Subjekt in seinen Wachheitszuständen von sich hat. Dabei drängt sich die Frage nach der Einheit der Person in den Vordergrund, denn 447 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Wachsein und Subjektivität

wenn wir auf verschiedene, ja gegensätzliche Weisen wach sein können, droht das Subjekt in Fragmente zu zerfallen. Mit dem Wandel seiner Wachheitszustände wandelt sich das Subjektsein, doch ungeachtet dessen fühlt sich das Subjekt immer als dasselbe. Ich habe diese Wandlungen mit den Metamorphosen der griechischen Mythologie verglichen, in denen ein Gott oder Mensch sich grundlegend verwandelt und doch derselbe bleibt. Davon handelt das vierte Kapitel. Das fünfte und letzte knüpft an die Metamorphose des Einschlafens und Aufwachens an. Das Aufwachen aus dem pathischen Wachsein wird als Befreiung von der Bindung an das pathisch Bewusste gedeutet. Entsprechend kann man das Einschlafen als eine Bindung an das Pathische verstehen. Aber im aktiven Wachsein binden wir uns erneut, nicht an Pathisches, sondern an die einmal getroffene Entscheidung. Ohne diese Bindung können wir nicht wollen. Sie unterscheidet sich von der Bindung ans Pathische dadurch, dass wir uns jederzeit von ihr lösen und uns anders entscheiden können. Diese Bindung an eine Entscheidung ist nicht nur eine notwendige Bedingung, damit wir etwas wollen können, im Wollen kann sie auch weckend wirken, so dass das, was wir bewusst haben wollen, bewusst wird. In diesem Zusammenhang müssen wir noch einmal das merkwürdige Phänomen der Wiederkehr des Pathischen im aktiven Wachsein bedenken. Das aktive Wachsein ist nicht nur in mehrfacher Hinsicht auf das pathische angewiesen, es ist auch in seinen höchsten Leistungen kein Machen, sondern ein Geschehen, aber nicht eines, das uns geschieht, sondern eines, das unser Wollen erfüllt.

1

Die Gefühle des Wachseins und die Lebenswelt

Für die geradehin lebende lebensweltliche Subjektivität ist das Wachsein kein Thema. Es gehört mit zu den selbstverständlichen Grundlagen des menschlichen Lebens, die wir immer schon als seiend voraussetzen. Dies gilt von unserer Lebensumwelt ebenso wie für uns selbst und für andere. Selbstverständlich sind wir überzeugt, in ihr zu leben, sie zu erfahren und sie tätig zu bearbeiten. Selbstverständlich bewegen wir unseren Leib zweckmäßig im Dienst des Wahrnehmens und der praktischen Betätigung. Wir können andere Sprecher hörend verstehen und uns anderen verständlich machen, ohne zu wissen, wie wir das können. Wie anderes verborgenes Subjektives ist auch das Wachsein in allem Leben fungierend dabei, ohne be448 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Die Gefühle des Wachseins und die Lebenswelt

griffen zu sein. 563 Thematisch wird es allenfalls dann, wenn wir in unseren praktischen oder theoretischen Lebensvollzügen nicht zum Ziel kommen und nach den Gründen dieses Scheiterns fragen. Solche Erfahrungen verdichten sich zu Überzeugungen, in denen ein alltägliches Verständnis davon aufscheint, wie es ist, wach zu sein. Lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten auf den Grund zu gehen, war schon immer das Geschäft der Philosophie, von daher erscheint es legitim, das Wachsein zu ihrem Thema zu machen. Im Folgenden möchte ich einige zentrale Ergebnisse dieser Arbeit mit unseren lebensweltlichen Überzeugungen über unser Wachsein konfrontieren, mit dem Ziel aufzuzeigen, dass die Gefühle, die ich als solche des Wachseins verstanden habe, darum Gefühle des Wachseins sind, weil sie unsere lebensweltlichen Überzeugungen über das Wachsein verständlich machen. Zunächst mag auffallen, dass es zwischen den Ergebnissen dieser Untersuchung und dem lebensweltlichen und alltagssprachlichen Verständnis des Wachseins Differenzen, aber auch Übereinstimmungen gibt. Scheitern wir in unserer lebensweltlichen Praxis, kann davon die Rede sein, wir seien mehr oder weniger wach, hellwach oder nur in dumpfer Weise wach. Manchmal sagen wir auch, wir fühlen uns mehr oder weniger wach oder nicht wach genug, um etwas zu können. Vielleicht möchte ich einen anspruchsvollen Text weiter lesen, aber die Aufgabe entgleitet mir, sie erscheint zu anstrengend, ich fühle mich ihr nicht gewachsen, sondern stehe ihr ohnmächtig gegenüber. Ich habe diesen Gedanken, Wachsein als eine Art Gefühl zu verstehen, aufgegriffen und weiter verfolgt. Dabei handelt es sich nicht um ein beliebiges Gefühl, sondern um ein besonderes, das sich ähnlich dem Gefühl der Evidenz von anderen Gefühlen unterscheidet. Damit überschreiten wir das lebensweltliche Verständnis, aber wenn die Rede von »sich wach Fühlen« einen Sinn haben soll, dann weist er in diese Richtung. Verstehen wir Evidenz als das Gefühl, das entsteht, wenn mir ein Gedanke als wahr einleuchtet, so können wir das Wachsein als das Gefühl bestimmen, das darin besteht, dass mir etwas bewusst ist bzw. dass ich bereit bin, etwas bewusst zu haben. Während wir alltagssprachlich Grade des Wachseins unterscheiden und davon sprechen, wach oder nicht wach und mehr oder weniger wach zu sein, mussten wir feststellen, dass es qualitative Unter-

563

Vgl. Hua VI, S. 114.

449 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Wachsein und Subjektivität

schiede gibt, die schwerer wiegen als die quantitativen. 564 Vor allem mussten wir zwei Weisen des Wachseins unterscheiden, die durch unterschiedliche, ja gegensätzliche Qualitäten bestimmt sind: das pathische und das aktive. Im pathischen Wachsein ist mir etwas bewusst durch Erleiden. Etwas widerfährt mir und ich fühle mich dem mehr oder weniger ausgeliefert und betroffen. Dabei wird das, was mir widerfährt, bewusst. In diesem Bewusstsein von etwas bin ich wach im Sinne des Bei-Bewusstsein-Seins. Ich habe das Betroffensein im Rekurs auf die Brentano-Meinongsche Gefühlstheorie als ein Urteilsgefühl interpretiert, und zwar als Frustration eines Widerstrebens gegen Widerfahrnisse. Wir streben nach ungefährdetem Selbstsein und erleben, was uns widerfährt, als eine Gefährdung unserer selbst, auch wenn diese meist nur unterschwellig bewusst ist. Dass wir nach so etwas streben, zeigt sich insbesondere dann, wenn der normale Verlauf dieses Strebens gestört wird. Alltagssprachlich sagen wir nicht nur, wir seien wach, wenn wir etwas bewusst erleben, wir verstehen den Zustand des Wachseins auch als eine Bereitschaft dazu. In diese Richtung zielen Reden wie: »Wenn du nicht geschlafen hättest, sondern wach gewesen wärest, hättest du merken müssen usw.« Auch dieses Verständnis des Wachseins im Sinne einer Bereitschaft zu bewusstem Erleben haben wir als ein Urteilsgefühl interpretiert: als Angst, betroffen zu werden. Aktiv wach im Sinne des Bei-Bewusstsein-Seins sind wir, wenn wir fühlen, dass wir etwas bewusst haben, das wir bewusst haben wollen. Was so bewusst ist, betrifft uns nicht, sondern befriedigt unser Wollen. Dies ist kein Gefühl der Ohnmacht, sondern eines des Mächtigseins, ein Gefühl, etwas zu können. In dieser Befriedigung fühlen wir uns aktiv wach im Sinne des Bei-Bewusstsein-Seins. Sind wir aktiv wach, wollen wir etwas bewusst haben. Das Wollen habe ich als Modifikation eines Strebens verstanden. Während ein Streben (wie das nach ungefährdetem Selbstsein) ohne unser Zutun in uns auftaucht oder schon immer am Werk ist, geht das Wollen aus unserer Entscheidung hervor. Ist es uns nicht darum zu tun, etwas in der Welt zu verändern, sondern etwas bewusst zu haben, sprechen wir von einem mentalen Wollen. In diesem Wollen sind wir aktiv wach 564 Bergson ist in dieser Hinsicht noch weiter gegangen, wenn er erklärt hat, alle scheinbar quantitativen Unterschiede der Intensität von Empfindungen, Gefühlen oder Willensanstrengungen seien eigentlich qualitativer Natur. Siehe: H. Bergson: Zeit und Freiheit, Meisenheim am Glan 1949, Kap. 1.

450 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Die Gefühle des Wachseins und die Lebenswelt

im Sinne einer Bereitschaft, nach dem zu suchen, was wir bewusst haben wollen. Auch dieses Wachsein kann wie das pathische als ein Urteilsgefühl verstanden werden: nicht als Angst vor Betroffenheit, sondern als Hoffnung auf Gelingen oder Furcht vor Misslingen. Gelegentlich treten auch diese Formen aktiven Wachseins bei Störungen des lebensweltlichen Dahinlebens an die Oberfläche. Wiederum zeigt sich das besonders an den Vorwürfen, die man dabei zu hören bekommt: »Hättest du dich mehr angestrengt, hättest du es gefunden.« »Du warst nicht richtig bei der Sache.« Gelingt es uns nach längerem Bemühen wieder, uns an etwas zu erinnern, können sich eindrückliche Gefühle der Befriedigung einstellen oder beim Problemlösen so etwas wie ein Aha-Erlebnis. Zum aktiven Wachsein gehören jedoch nicht nur die Urteilsgefühle des mentalen Wollens. Wollen wir etwas, so ist das kein Geschehen, das ohne uns abläuft. Es beruht auf Entscheidung, aber wenn wir das Wollen auf Entscheidung zurückführen, kann das Entscheiden nicht wieder gewollt sein. Es beruht auf einem Streben, das schon dem Widerstreben gegen Widerfahrnisse zugrunde liegt: dem nach ungefährdeten Selbstsein. Die Weise zu sein, die wir anstreben, ist nicht unbewusst; es ist ein bewusstes Sein und Erleben, aber eines, das nicht pathisch ist. Wir widerstreben nicht nur dem Betroffenwerden, sondern streben nach nicht-pathischem Bewusstsein, nach einem Bewusstsein, das auf unserer Initiative beruht und unserer Kontrolle unterliegt, statt sich uns gegenüber zu verselbständigen, wie Träume, Gefühle, Tagträume oder Einfälle. Wie weit uns dies gelingt, sei dahingestellt. Immerhin können wir es dazu bringen, zu entscheiden, was wir bewusst haben wollen. Auch dieses Streben nach nicht-pathischem Bewusstsein kann in seinen Urteilsgefühlen merklich bewusst sein: Im Entscheiden fühlen wir uns befriedigt, im Streben danach hoffen wir, entscheiden zu können, oder fürchten, es nicht zu können. So sind wir nicht erst im Entscheiden, sondern schon im Streben danach aktiv wach. Auch das Entscheiden gehört der lebensweltlichen Praxis an, und auch dieses wird erst thematisch, wenn es nicht so läuft, wie man möchte. Dann tritt auch ansatzweise hervor, dass wir uns fürchten, nicht entscheiden zu können, und befriedigt sind, wenn es dann doch gelingt. Mit dieser Übersicht über die Gefühle des pathischen und aktiven Wachseins bleiben wir noch weitgehend an der Oberfläche. So konnten wir feststellen, dass es ein Gefühl der Angst, betroffen zu werden, gibt, als eine Angst, irgendwie betroffen zu werden, im Ver451 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Wachsein und Subjektivität

gleich zu der jedes wirkliche Betroffenwerden immer qualitativ bestimmt ist. So konnten wir eine Reihe von Weisen des Betroffenseins unterscheiden, die jeweils einen Modus des pathischen Wachseins bestimmen. Das Gefühl, betroffen zu sein, also das Wachsein im Sinne des Bei-Bewusstsein-Seins, nimmt eine bestimmte Qualität an: Wir fühlen uns von etwas durchdrungen oder ergriffen oder von etwas angelockt oder etwas drängt sich in Wiederholung auf oder zwingt uns, es für wahr zu halten. Damit wird die Angst, irgendwie betroffen zu werden, zur Furcht, in je besonderer Weise betroffen zu werden. Diese bestimmte Angst wirkt selektiv: Nur das kann mich betreffen und bewusst werden, was sie erfüllt. Wird gleichzeitig anderes bewusst, das nicht in diesem Modus bewusst werden kann, müssen wir auch in dem Modus wach sein, in dem dieses andere bewusst sein kann. So sind wir meist in mehreren Modi wach, was aber nicht bedeutet, dass alle zugleich zusammen bestehen können. 565 Im aktiven Wachsein entspricht der Angst, irgendwie betroffen zu werden, die Hoffnung auf Entscheidung. Diese ist ein Urteilsgefühl des Strebens nach Entscheidung: Ich hoffe, entscheiden zu können, was offen lässt, wie am besten zu entscheiden sei. Jede Entscheidung befriedigt dieses Streben. Der Betroffenheit korrespondiert die Entscheidung, die gleichfalls nur eine bestimmte sein kann. Dann wollen wir dieses Bestimmte bewusst haben. Das schließt natürlich das Wollen der Mittel ein, die notwendig sind, um das bewusst zu haben, was ich bewusst haben will. Diese Mittel bestehen in dem, was ich dazu können muss. Nicht immer lässt sich genau angeben, worin dieses Können besteht. Am einfachsten ist es da zu bestimmen, wo wir das, was wir bewusst haben wollen, durch Regeln aus etwas generieren können, was schon bewusst ist. Wir mussten feststellen, dass bei bestimmten Absichten (z. B. wenn wir etwas erinnern oder ein Problem lösen wollen) schon das beharrliche Wollen allein ein Geschehen auslösen kann, das uns dem Ziel ein Stück näher bringt. Hier reicht schon das konzentrierte aufmerksame Suchen, um zu können, was wir wollen. Den Weisen des Betroffenseins im pathischen Wachsein entsprechen im aktiven Weisen des Könnens. Sie bestimmen die Modi des aktiven Wachseins. Können wir, was wir können müssen, um das bewusst zu haben, was wir bewusst haben wollen, so stellt sich Befriedigung ein. Als eine Befriedigung darüber, dass ich kann, was ich will, nimmt dieses Gefühl je nach Modus eine 565

Vgl. Kap. II, 4 Gleichzeitiges unterschiedliches pathisches Wachsein.

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Die Gefühle des Wachseins und die Lebenswelt

anders gefärbte Qualität an. Die Befriedigung darüber, einer Regel folgen zu können, fühlt sich anders an, als die Befriedigung, die sich einstellt, wenn ich etwas erinnern oder aufmerksam beobachten kann. Es ist eine Qualität, die schon dem Hoffen, zu können, was ich können will, zukommt, wenn auch erst in der Weise des Hoffens, nicht des Befriedigtseins. Gegen diese Auffassung mögen sich Bedenken einstellen. Sind diese Gefühle, die ich »Gefühle des Wachseins« nenne, wirklich solche des Wachseins? Ist das Gefühl, etwas Bestimmtes bewusst haben zu können, ein Gefühl des Wachseins, ist es nicht einfach ein Gefühl des Befriedigtseins, weil mir gelingt, was ich will? Warum sollte ich in diesem Gefühl des Befriedigtseins wach sein, in der Befriedigung, dass es mir gelungen ist, einen Kopfstand zu machen, aber nicht? Analoge Fragen stellen sich natürlich auch beim pathischen Wachsein. Mit welchem Recht gilt das Erleiden von mentalen Widerfahrnissen als Wachsein, das Erleiden von äußerem Zwang nicht? Dasselbe müssen wir vom Wachsein im Sinne der Bereitschaft zu bewusstem Erleben fragen: Warum ist nur diese Bereitschaft Wachsein, die Bereitschaft, einen Kopfstand zu machen, und entsprechend die Hoffnung, es zu können, aber so wenig, wie die Furcht, gefangen genommen zu werden? Die Antwort auf diese Fragen führt uns zur Behauptung zurück, die Gefühle des Wachseins seien besondere Gefühle, die sich von allen anderen unterscheiden. Wir haben uns nochmals und eindringlich zu fragen, ob sich dieser Gedanke durchhalten lässt. Andere Gefühle, für die wir nicht den Anspruch erheben, Gefühle des Wachseins zu sein, sind meist gleichfalls Urteilsgefühle, die auf impliziten Urteilen darüber beruhen, ob ein Strebensziel erreicht oder nicht erreicht werde. Sie sind Gefühle der Lust oder Unlust, der Befriedigung oder der Frustration. Als solche sind sie Gefühle beliebiger Strebungen. Die Gefühle des Wachseins dagegen beruhen auf einem Streben, nicht betroffen zu werden, oder auf einem mentalen Wollen: dem Wollen, das bewusst zu haben, wofür ich mich entschieden habe und immer noch entschieden bin. Aber mit welchem Recht nennen wir die Urteilsgefühle dieser Strebungen Gefühle des Wachseins? Die naheliegendste Antwort lautet: Weil durch sie die Erlebnisse, die uns betreffen bzw. die wir bewusst haben wollen, bewusst werden. Wachheit schien uns eine notwendige Bedingung für bewusstes Erleben zu sein. Wären die Gefühle des Wachseins allein darum solche, weil durch sie Erlebnisse bewusst werden, so müssten sie die einzigen sein, 453 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Wachsein und Subjektivität

die das bewirken. Dies ist jedoch nicht der Fall. Wir sagten, etwas werde bewusst, wenn es uns betrifft, also wenn es die Angst vor Betroffenheit erfüllt bzw. die Hoffnung, dass das bewusst werde, was wir bewusst haben wollen. Dieses Bewusstwerden geschieht durch eine Deckung der Sinne: Der bewusste Sinn des Gefürchteten bzw. Erhofften deckt sich wenigstens teilweise mit dem, was in dieser Deckung bewusst wird. Solche Deckungen ergeben sich aus einer »Assoziation durch Ähnlichkeit«, die Husserl als »Weckung« bezeichnet hat. Assoziation ist für Husserl das »universale Prinzip der passiven Genesis für die Konstitution aller […] Gegenständlichkeiten« 566. Sie ist nicht an bestimmte Gefühle geknüpft, sondern ein viel allgemeineres Phänomen. Durch affektive Weckung kann Verborgenes, »in impliziter Intentionalität Eingehüllte[s]« geweckt werden 567, wie wir es am Beispiel des »etwas erinnert an etwas« gesehen haben. Nicht nur Wahrnehmungen können längst Vergangenes wecken, auch Gefühle können das. Trauere ich um den Verlust einer geliebten Person, so kann die Trauer Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse wecken. Geben wir das zu, so können sich die Gefühle des Wachseins vor anderen Gefühlen nicht allein dadurch auszeichnen, dass durch sie andere Erlebnisse bewusst werden. Es muss ihnen wenigstens noch eine Eigenheit zukommen, die anderen, gleichfalls weckenden Erlebnissen fehlt; und zwar muss es eine Eigenschaft sein, die für unser alltägliches Verständnis des Wachseins zentral ist. Gewöhnlich halten wir das Wachsein für eine wesentliche Eigenschaft einer Person. Eine Person muss fähig sein, bei Bewusstsein zu sein, sie muss bewusst erleben können und damit wach sein. Meist fügt man die Fähigkeit zu entscheiden und damit verantwortlich zu sein hinzu. Aber wenn jemand nicht (mehr) in der Lage ist zu entscheiden und verantwortlich zu handeln, ist das zumeist kein Grund, ihm das Personsein abzusprechen. Erst wenn jemand irreversibel in Bewusstlosigkeit versinkt, glauben wir allenfalls dazu berechtigt zu sein. Wir können uns Personen denken, die unfähig sind, gewisse Arten von Erlebnissen zu erleben, sie sind vielleicht blind oder taub oder beides zusammen oder noch Schlimmeres, aber erst wenn sie gar nichts mehr bewusst erleben können, stellen wir ihr Personsein in Frage. Dann fällt auch die Möglichkeit, sich wach zu fühlen, dahin. Diese gehört wesentlich zu unserem Status als Personen. 566 567

Hua I, S. 113. Hua XI, S. 173.

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Husserls Konzeption von Wachsein und Aufwachen

Gefühle des Wachseins zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass in ihnen etwas bewusst ist oder bewusst werden kann, sie sind auch Gefühle, die mir als Person und damit jeder Person notwendig zukommen. Ich habe diesen Gedanken durch die Redewendung ausgedrückt, sie seien in einem Sinne meine, wie kein anderes Gefühl meines ist. Sie sind Urteilsgefühle eines Strebens, nicht betroffen zu werden oder entscheiden zu können, bzw. eines mentalen Wollens. Diese Strebungen zeichnen sich dadurch aus, in einem eminenten Sinn meine zu sein, weil sie mich im Gegensatz zu anderen Strebungen in keiner Weise betreffen. Daher das Gefühl, sie gehen von mir aus, und daher erscheinen die Angst, betroffen zu werden, und die Hoffnung, das bewusst haben zu können, was ich bewusst haben will, als Bereitschaften, in denen ich bereit bin, etwas bewusst zu erleben. Darum sind Betroffenheit wie Befriedigung des mentalen Wollens meine, und was in ihnen bewusst wird, ist mir bewusst. Daher sind wir in beliebigen Gefühlen, auch wenn sie andere Erlebnisse zu wecken vermögen, nicht wach. Natürlich ist auch ein Erlebnis, das durch ein anderes geweckt wurde, mir bewusst. Aber das liegt nicht am weckenden Erlebnis, sondern daran, dass es mich betrifft.

2

Husserls Konzeption von Wachsein und Aufwachen

Die Behauptung, wir seien nicht nur im Vollzug von Bewusstseinsakten, sondern auch im Erleiden von Widerfahrnissen wach, mag zumindest in den Augen jener als Zumutung erscheinen, welche das Wachsein allein an Aktivität zu knüpfen gewohnt sind, eine Gewohnheit, die schon durch die Untätigkeit nahegelegt wird, die den Schlaf vor dem Wachen auszeichnet. Folgt man diesem Gedanken und beschränkt das Wachsein auf den Bereich des aktiven Bewusstseins, führt dies zu gravierenden Ungereimtheiten, was die Vermutung aufkommen lässt, man sei einem hartnäckigen Vorurteil aufgesessen. Diese Ungereimtheiten hängen mit dem Phänomen des pathischen Wachseins zusammen. Ein nicht zu vernachlässigender Anteil unseres bewussten Erlebens läuft unwillentlich, ohne unser Zutun, selbst gegen unseren Willen ab. Das ist insofern richtig, als wir zu seiner Konstitution nichts absichtlich beitragen, diese verläuft gänzlich passiv, aber völlig unbeteiligt sind wir denn doch nicht. Immerhin ist uns dieses passiv Konstituierte bewusst, und zwar so, dass wir es als ein Widerfahrnis erleben und uns betroffen fühlen. Wollte man 455 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Wachsein und Subjektivität

das ausblenden, würde das passiv Bewusste zu etwas, das niemandem bewusst wäre, was nicht nur eigenartig, sondern auch phänomenwidrig wäre, denn wir erleben es, soweit es überhaupt merklich bewusst wird, als etwas, das uns bewusst ist. Versteht man das passive Bewusstsein als anonym, handelt man sich ein weiteres Problem ein: Man wüsste dann nicht recht zu sagen, wie etwas auf passive Weise bewusst werden kann und worin das passive Bewussthaben besteht. Ein Wahrnehmen setzt ein, wenn uns etwas affiziert. Bei aller Passivität muss ich irgendwie empfänglich sein für das, was entgegenkommt, ich muss es aufnehmen können, auch wenn ich dabei weiterhin passiv bleibe. Ein Bewusstsein, das niemandes Bewusstsein ist, ist widersinnig. Auch im passiven Bewusstseinsleben bin ich wenigstens als Bewussthaber dabei, wenn auch nur als erleidendes Subjekt. Dann steht man vor der Frage, worin das pathische Bewussthaben besteht und wie ein passives Subjekt aufwachen und aktiv werden kann. Solchen Fragen musste sich auch Husserl stellen, als er das passive Bewusstseinsleben zum Thema machte. Seine Arbeiten zur passiven Konstitution gehören zu den feinsinnigsten Teilen seines Werks, in denen er scharfsichtig noch den leisesten Regungen des Bewusstseins nachgeht. Fragt man sich, wie diese passiven Bildungen bewusst sein können, so weist das Adjektiv »passiv« darauf hin, dass das Ich an ihrer Konstitution nicht beteiligt ist. Dennoch ist das passiv Konstituierte bewusst: Das Ich wird davon affiziert, obschon es nach Husserls Meinung während der passiven Konstitution nicht wach ist, sondern schläft. Wach wird es erst, wenn die Affektionen so stark sind, dass es erwacht und damit aktiv wird. Dann fragt sich nicht nur, wie passiv Konstituiertes bewusst sein kann, obschon das Ich nicht wach ist, sondern auch, wie das passiv Konstituierte eine weckende Kraft ausüben und das Ich wecken kann. Diesen Fragen möchte ich im Folgenden nachgehen. Es wird sich zeigen, dass die Auffassung, wir seien nur in der Sphäre der aktiven Konstitution wach, eine Lücke hinterlässt, welche mit der Annahme, es gebe auch ein pathisches Wachsein, wieder geschlossen werden kann. Der spätere Husserl unterscheidet zwischen statischer und genetischer Phänomenologie. 568 Die statische Phänomenologie geht vom Leitfaden bestimmter Gegenstandsarten aus und analysiert, wie sich 568 Ich folge hier der Darstellung in: R. Bernet, I. Kern, E. Marbach: Edmund Husserl, Darstellung seines Denkens, a. a. O., Kap. 7.

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Husserls Konzeption von Wachsein und Aufwachen

diese Gegenstände im Bewusstsein von ihnen konstituieren. Die genetische Phänomenologie macht dagegen die Genesis dieser Konstitution zum Thema. Entscheidend dafür ist ein Wandel im Verständnis des »Ich«. Dieses gilt nicht mehr als leerer »Identitätspol« intentionaler Erlebnisse, das seinen »Ichblick« dahin oder dorthin senden kann 569, sondern als ein Ich, das seine Vermögen, Stellungnahmen und Überzeugungen besitzt, in denen die Welt als ein Horizont des Könnens vorgegeben ist. Diese Stellungnahmen und Überzeugungen verweisen auf frühere Erfahrungen und Setzungen; sie sind vom Ich erworbene Habitualitäten, von denen jede ihre Geschichte hat. Untersucht die statische Phänomenologie fertige Korrelationssysteme, fragt die genetische nach dem Ursprung und der Genesis solcher Systeme und der darin konstituierten Gegenstandsart. 570 Halten wir uns zunächst an das Wachsein innerhalb der auf das Statische beschränkten Phänomenologie. Gemäß den »Ideen I und II« gehört das reine Ich als »Ichpol« zur Struktur jeden intentionalen Erlebnisses. Jedes aktuelle »vollzogene« intentionale Erlebnis ist auf sein Objekt gerichtet, das in bevorzugter Weise bewusst ist, indem es sich von einem Hof von inaktuell Bewusstem abhebt. Dieses nebenbei und unbemerkt Mitbewusste kann durch eine Wendung des »Ichblickes« aufmerksam bewusst werden. An derart vollzogenes Gerichtetsein knüpft Husserl den Begriff des Wachseins: »Ein ›waches‹ Ich können wir als ein solches definieren, das innerhalb seines Erlebnisstromes kontinuierlich Bewusstsein in der spezifischen Form des cogito vollzieht« 571. In jedem Aktvollzug liegt ein »Strahl des Gerichtetseins«, der vom Ich ausgeht und sich auf das Gegenständliche richtet. 572 In gewissen Fällen geht dieses Gerichtetsein vom Ich aus, in anderen kommen ihm gleichsam »Gegenstrahlen entgegen«: »So finde ich mich im Begehren von dem begehrten Objekt angezogen, ich bin darauf gerichtet, aber so, dass ich zu ihm hinstrebe« 573. Als ähnlich passiv (und doch auch aktiv) beschreibt Husserl dieses Gerichtetsein im Falle liebender Hingabe, in der abstoßenden Weise des Hua III, § 37. E. Marbach hat darauf hingewiesen, dass sich die Auffassung des Ich als eines Ausstrahlungszentrums der Aufmerksamkeit einer Analogie zum Leib als Zentrum der sinnlichen Phänomene verdankt. Siehe E. Marbach: Das Problem des Ich in der Phänomenologie Husserls, Den Haag 1974, § 25. 570 Vgl. dazu Bernet, Kern, Marbach, a. a. O., S. 182 ff. 571 Hua III/1, S. 73. 572 Hua IV, S. 97 f. 573 Ebd., S. 98. 569

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Wachsein und Subjektivität

Hassens oder in der Trauer. 574 Das Wachsein bezieht sich vorrangig auf das Gerichtetsein der Akte und nicht ausschließlich auf Aktivitäten, wie dem diskursiven Denken, dem Wollen und Handeln. Das Ich ist in seinen aktuell vollzogenen Akten wach, gleichgültig ob sie aktiv oder passiv sind. 575 Nicht alle intentionalen Erlebnisse sind aktuell vollzogen. Aber auch als nicht vollzogene sind sie intentional auf Gegenständliches gerichtet, es fehlt ihnen nur die wahrnehmende, denkende oder wertende usw. Ichzuwendung. 576 Von dieser Art ist z. B. der mitbewusste Hintergrund einer aktuellen Dingwahrnehmung. Er ist ein »potentielles Wahrnehmungsfeld«, dessen Gegenständen sich das Ich in weiteren cogitationes zuwenden kann. Ähnlich hintergründig können »Gefallensregungen, Urteilsregungen, Wunschregungen usw.« sein, in die sich das Ich einleben kann, so dass es sich darin »lebendig betätigt« oder »aktuell ›leidet‹«. 577 Wenn ein cogito in Inaktualität versinkt, »versinkt auch das Ich in gewisser Weise in Inaktualität. Es zieht sich aus dem betreffenden Akt zurück, es ist nicht mehr in ihm vollziehendes und möglicherweise überhaupt in keinem Akte vollziehendes Ich.« 578 Als inaktuelles ist es ein »sozusagen verborgenes Ich«, »es erfährt, es wirkt, es leidet nicht aktuell« 579. Auch das inaktuelle Erlebnis hat eine Ichstruktur, das »Ich im Stadium des spezifischen ›Unbewusstseins‹, der Verborgenheit« ist nicht leere Potenzialität, sondern ein Moment der Struktur der Erlebnisse. 580 Entsprechend unterscheidet Husserl ein »waches« und ein »schlafendes« Bewusstsein. 581 Im schlafenden ist alles inaktuell, es gibt keinen Unterschied zwischen aktuellem Blickfeld und dunklem Hintergrund. 582 In dieser Weise »ichverlassen«, nämlich verlassen vom aktuellen, vollziehenden Ich, sind der Horizont des aktuellen Erlebens, aber auch die Perioden des Schlafs. Die Modifikation der Aktualität in Inaktualität und umgekehrt, die dem Einschlafen und Aufwachen eines Erlebnisses entspricht, ist 574 575 576 577 578 579 580 581 582

Ebd. Vgl. auch S. 213. Hua III/1, S. 188. Ebd., S. 189. Hua IV, S. 99. Ebd., S. 100. Ebd. Ebd., S. 107. Ebd.

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eine Modifikation der Ichstruktur intentionaler Erlebnisse. Das Ich kann sich durch Zuwendung in ein inaktuelles Erlebnis einleben, das zu seinem Horizontbewusstsein gehört. Dann wird z. B. das Hintergrunderlebnis eines Wahrnehmens zu einem aktuellen Hinblicken auf etwas. Das ist verständlich, wenn ein aktuelles Ich am Werk ist. Schläft das Bewusstsein, ist eine Zuwendung solange unmöglich als das Ich sich im Zustand der Verborgenheit befindet. Möglich wird sie erst, wenn es aufwacht. Aber wie kann es das? Darüber erfahren wir wenig. Geht das Ich von einem aktuellen in ein nichtaktuelles Erlebnis über, so wird dieses aktuell und das vormals aktuelle nichtaktuell. Aber wo ist das Ich während einer Periode schlafenden Bewusstseins? Als reines Ich, erklärt Husserl, als cogito im Sinne Descartes, existiert es notwendig, es kann nicht verschwinden, sondern nur auftreten oder abtreten. 583 Schläft das Bewusstsein, so bleibt vom Ich nur die Ichstruktur der Erlebnisse. Schläft der ganze Bewusstseinsstrom, tritt das Ich erst wieder auf, wenn es wieder zu aktuellen Erlebnissen kommt. Das inaktuelle Ich kann wieder aktuell werden. »Das Ich, das da aktuell wird, ist nichts von außen Hineingesetztes oder Hinzugesetztes, nichts was im Moment des aktuellen Auftretens allererst wird, um dann wieder ins Nichts zu verschwinden.« 584 Zu jedem durchaus dumpfen Bewusstsein, erklärt Husserl, gehört »wie zu jedem Bewusstsein überhaupt die unbedingte Wesensmöglichkeit, dass es zum wachen werden kann, dass ein aktueller Ichblick sich an einer beliebigen Stelle desselben etabliere in Form eines […] cogito« 585. Ein schlafendes Erlebnis kann wieder aufwachen, aber wie es das kann und ob es Bedingungen der Möglichkeit des Aufwachens gibt und worin diese bestehen, erfahren wir nicht, jedenfalls nicht, solange wir im Bereich der statischen Phänomenologie verbleiben. Innerhalb der genetischen Phänomenologie unterscheidet Husserl zwischen aktiver und passiver Genesis. 586 In der aktiven fungiert das Ich konstituierend durch Ichakte. Die konstituierten Gegenstände sind seine Erzeugnisse, wie Mengen, Zahlen, Teile, Prädikate, Schlüsse, überhaupt Allgemeines und seine idealen Gegenstände. Solch aktive Genesis setzt passiv Konstituiertes voraus. Von den verschiedenen Bedeutungen, die der Begriff der Passivität bei Husserl angenom583 584 585 586

Ebd., S. 103. Ebd., S. 108. Ebd. Vgl. Hua I, § 38.

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Wachsein und Subjektivität

men hat 587, ist für unsere Zwecke vor allem einer ausschlaggebend, jener, demgemäß unter Passivität ein Bereich der Erfahrung verstanden wird, in dem das Ich nicht aktiv ist, nicht schöpferisch an der Sinnkonstitution teilnimmt oder sich aktiv auf diese ausrichtet. 588 An die Stelle der konstituierenden Ichaktivität tritt die Assoziation als universales Prinzip der passiven Genesis. 589 Dabei versteht Husserl Assoziation nicht im Sinne der empirischen Psychologie, sondern als tranzendental-phänomenologischen Grundbegriff. Ein Beispiel einer solchen Assoziation haben wir kennen gelernt: Immer wenn etwas Wahrgenommenes an Vergangenes erinnert, handelt es sich um eine Assoziation durch Ähnlichkeit. Solche Weckungsphänomene finden sich nicht nur in der Sphäre der Reproduktion, sondern auch in der des Gegenwärtigen. Zu jeder Wahrnehmung gehören Leervorstellungen, die mit dem Wahrgenommenen synthetisch verknüpft sind, so dass dieses auf anderes gleichfalls Wahrzunehmendes verweist. Es handelt sich um Bewusstseinssynthesen, die in reiner Passivität ohne Beteiligung des Ich verlaufen. 590 Assoziation spielt auch bei der Konstitution von Gegenständlichkeiten mit. Sind innerhalb einer strömenden Gegenwart immanente Gegenstände (z. B. Farb- oder Tondaten) konstituiert, so können sich Synthesen der Ähnlichkeit bzw. Gleichheit und der Nichtähnlichkeit bilden. Solch Abgehobenes wirkt affektiv auf das Ich, dieses wendet sich ihm zu oder auch nicht. 591 Affektion nennt Husserl »den bewusstseinsmäßigen Reiz, den eigentümlichen Zug, den ein bewusster Gegenstand auf das Ich übt – es ist ein Zug, der sich entspannt in der Zuwendung des Ich und von da sich fortsetzt im Streben nach selbstgebender, das gegenständliche Selbst immer mehr enthüllender Anschauung – also nach Kenntnisnahme, nach näherer Betrachtung des Gegenstandes.« 592 Kommen solche Affektionen beim Ich an, wird dieses geweckt. Damit stoßen wir auf den Punkt, an dem sich für Husserl passive und aktive Genesis scheiden. Die passive Genesis verläuft ohne Beteiligung des Ich. Erst wenn dieses geweckt wird, kann es aktiv werden und Bewusstseins587 Vgl. A. J. Steinbock: Affektion und Aufmerksamkeit. In: Die erscheinende Welt. Festschrift für K. Held, hg. von H. Hüni und P. Trawny, Berlin 2002, S. 242 ff. 588 Ebd., S. 243. 589 Hua I, § 39; XI, S. 117 ff. 590 Hua XI, S. 76. 591 Ebd., S. 129 ff. 592 Ebd., S. 148 f.

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Husserls Konzeption von Wachsein und Aufwachen

akte vollziehen. Das entspricht der oben angegebenen Definition des Wachseins aus den »Ideen I«, aber auch der früher schon zitierten aus »Erfahrung und Urteil«, die ich hier nochmals vollständig angebe: »Das Vollziehen der Zuwendung ist es, das wir als Wachsein des Ich bezeichnen. Genauer gesprochen ist zu unterscheiden das Wachsein als faktischer Vollzug von Ichakten und das Wachsein als Potenzialität, als Zustand des Akte-vollziehen-könnens, der die Voraussetzung für ihren faktischen Vollzug bildet. Erwachen ist, auf etwas den Blick richten. Gewecktwerden heißt eine wirksame Affektion erleiden; ein Hintergrund wird ›lebendig‹, intentionale Gegenstände kommen von da dem Ich mehr oder minder nahe, dieser oder jener zieht das Ich wirksam zu ihm selbst hin. Es ist bei ihm, wenn es sich zuwendet.« 593 Damit dürfen wir von einer Affektion, die das Ich weckt, erwarten, etwas darüber zu erfahren, wie das Ich erwachen und sich in ein inaktuelles Erlebnis einleben kann. Die Grenze, durch die Husserl den Zustand des Wachseins von dem des Nichtwachseins scheidet, deckt sich nicht mit der, die ich zwischen aktiv und pathisch wach gezogen habe. Meiner Meinung nach werde ich aktiv wach, wenn ich entscheiden kann, nach Husserl wacht das Ich auf, wenn es fähig wird, sich dem, was affiziert, zuzuwenden. Diese Zuwendung muss nicht willentlich sein, es scheint zu genügen, dass das Ich »eine wirksame Affektion erleidet« und das Ich ihr Folge leistet. Es wäre jedenfalls aufschlussreich zu erfahren, ob das Ich nach Husserl der Affektion Folge leisten muss oder ob es auch nicht folgen kann, wie es einige Stellen nahe legen. 594 Folgt man dem Kapitel über Affektivität in den »Analysen zur passiven Synthesis« hängt das Folgeleisten des Ich von mehreren Bedingungen ab, zu denen eine freie Wahl nicht gehört. Eine Bedingung kann man in der relativen Stärke der Affektion sehen. Affektion ist graduell und diese Gradualität hängt von der Stärke des Kontrastes ab, mit der sich etwas von anderem in einem Bewusstseinsfeld abhebt. 595 Ein gleicher Kontrast kann einmal wirklich einen Reiz ausüben, ein anderes Mal nicht. Das liegt daran, dass Kontraste mit anderen Kontrasten konkurrieren, damit konkurrieren auch die affektiven Tendenzen, die von ihnen ausgehen. Starke Affekte können schwächere überdecken: 593 594 595

Husserl, EU, S. 83. Z. B. Hua XI, S. 131. Ebd., S. 149.

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Wachsein und Subjektivität

»Z. B. einzelne farbige Figuren, sich wohl abhebend, affizieren uns, zugleich Geräusche, wie Wagenrollen, Töne eines Liedes, abgehobene Gerüche u. dgl. Das alles zugleich, wobei das Lied insofern siegt, als wir ihm allein im Zuhören zugewendet sind. Aber das übrige reizt doch. Wenn aber ein gewaltiger Krach hereinbricht, wie von einer Explosion, so löscht er nicht nur die affektiven Besonderheiten des Gehörfeldes aus, sondern auch die aller anderen Felder.« 596

Husserl spricht von einem beständig wechselndem »affektiven Relief«, welches die ganze lebendige Gegenwart annimmt. 597 Nicht alles, was uns affiziert, affiziert merklich. Was affiziert, ist in seiner affektiven Kraft von anderem abhängig, das gleichfalls affiziert. 598 Gehen die Grade einer Affektion gegen Null, kann etwas noch affizieren, ohne merklich zu sein. Eine weitere Bedingung dafür, dass das Ich einer Affektion Folge leistet und damit aufwacht, sieht Husserl in bevorzugenden sinnlichen Gefühlen und instinktiven triebmäßigen Bevorzugungen. 599 Z. B. ertönt eine Melodie ohne erhebliche affektive Kraft, vielleicht ohne überhaupt einen Reiz auszuüben, dann kommt ein besonders schmelzender Ton, eine die sinnliche Lust oder Unlust erregende Wendung. Dies affiziert lebhaft und hebt die ganze Melodie hervor. 600 Was nun unsere Frage betrifft, ob das Ich einer Affektion Folge leisten muss oder ob das Folgeleisten und damit Aufwachen vom Ich ausgehen kann, so wird die Antwort lauten müssen: Wenn das Ich stark und merklich affiziert wird und (oder) die Affektion stark gefühlsmäßig besetzt ist, so wird es dem Reiz folgen und sich zuwenden müssen. Andernfalls bleibt die Zuwendung aus. Das Folgeleisten hängt nur von der Stärke und Merklichkeit der Affektion ab, hinge es in irgendeiner Weise vom Ich ab, wäre die Genesis dieses Folgeleistens und damit des Aufwachens nicht mehr passiv. Die Grenze, die Husserl zwischen passiver und aktiver Genesis zieht, liegt damit innerhalb des Bereichs, der bei meiner Konzeption des Wachseins der pathische ist. Damit komme ich zur Frage, wie das Ich aufwachen, sich in ein inaktuelles Erleben einleben und dieses wecken kann. In der Sphäre der passiven Synthesis werden Erlebnisse passiv konstituiert, also 596 597 598 599 600

Ebd., S. 149 f. Ebd., S. 164. Ebd., S. 150. Ebd. Ebd., S. 155.

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Husserls Konzeption von Wachsein und Aufwachen

ohne Beteiligung des Ich. Diese Erlebnisse haben den »Charakter der spezifischen ›Intention‹, d. h. des Richtungs-ziel-seins, des Intendiertseins, Vermeintseins, […] das Vorstellen ist nicht bloß vorstellendes Bewusstsein von seinem Gegenstand, sondern in sich selbst auf seinen Gegenstand gerichtet.« 601 Dabei betont Husserl, dass »es sich nicht um diejenige sehr übliche Bedeutung von meinen, gerichtet sein, intendieren handelt, die sich auf das Ich und seinen Aktus bezieht, wobei das Ich, und in einem total anderen Sinn, Ausstrahlungspunkt einer Richtung, eines Sich-richtens auf den Gegenstand ist.« Er spricht deshalb »in Ermangelung brauchbarer Worte« von »passive[r] Intention« 602. In ihr richtet sich das Ich nicht auf den Gegenstand, sonst wäre es ihm zugewendet und damit wach. Aber es gelingt Husserl nicht, deutlich zu machen, worin diese passive Intention eigentlich besteht. Obschon das Ich nicht wach ist, nimmt Husserl an, es sei auch im Bereich der Passivität anwesend, wenn auch inaktiv. Dennoch kann es affiziert werden; es kann Reize empfangen, nur nicht darauf reagieren. 603 Ob es erwacht, hängt von der affektiven Kraft des Reizes ab, der es ausgesetzt ist. Die Affektivität wird merklich, wenn sie »das Ich trifft, excitiert, zur Aktion sozusagen aufruft, weckt und ev. wirklich aufweckt.« 604 Bereits vor der Zuwendung kann ein Reiz merklich sein. So nimmt »ein schwaches, immer lauter werdendes Geräusch […] eine wachsende Affektivität an, seine Bewusstseinslebendigkeit wächst. Darin liegt: Es übt auf das Ich einen wachsenden Zug aus. Schließlich wendet das Ich sich zu.« 605 Schon vor der Zuwendung verändert sich die Affektion modal: »Bei einer gewissen unter den gegebenen affektiven Umständen wirksamen Stärke hat der vom Geräusch ausgehende Zug das Ich so recht eigentlich erst erreicht, es ist im Ich zur Geltung gekommen, sei es auch nur im Vorzimmer des Ich. Das Ich hört es nun schon in seiner Besonderheit heraus, obschon es noch nicht darauf hinhört in der Weise aufmerksamer Erfassung. Dieses ›schon heraushören‹ besagt: Im Ich ist eine positive Tendenz, sich dem Gegenstand zuzuwenden, geweckt, sein ›Interesse‹ ist erregt – es wird zu aktuell betätigtem Interesse in der Zuwendung, in der diese positi-

601 602 603 604 605

Ebd., S. 76 Ebd. Vgl. z. B. XI, S. 148 f.; 162; 166. Ebd., S. 166. Ebd.

463 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Wachsein und Subjektivität

ve, vom Ichpol auf das Geräusch hingehende Tendenz sich strebend erfüllt.« 606

Diese Tendenz zur Zuwendung ist noch keine Zuwendung, noch keine Aktion, und doch wird man den Verdacht nicht los, hier werde das, was passiv geschieht, nach dem Vorbild der Aktivität gedeutet. Jedenfalls wundert man sich, zu welchen Leistungen ein Ich fähig ist, das in keiner Weise wach ist. Nicht nur Gegenstände können affizieren, es genügt, dass sich in einem Sinnesfeld etwas durch Verschmelzung und Kontrast von etwas anderem abhebt, wie z. B. eine Lichterkette in der Abenddämmerung. 607 Das Ich ist an der Konstitution solcher Gegenständlichkeiten nicht beteiligt, aber ganz unbeteiligt kann es nicht sein, denn die Affektionen sind nicht nur, sie kommen auch beim Ich an. Erwacht das Ich, wenn die affektive Kraft der Reize zunimmt, dann hängt die Antwort auf die Frage, wie das Ich aufwachen kann, von der Frage ab, wie eine Affektion überhaupt beim Ich ankommen kann. Urimpression hält Husserl für den »Urquell« der Affektion. 608 Die Bedingung dafür, damit etwas in der impressionalen Sphäre affektiv wirkt, besteht in der »Abhebung durch inhaltliche Verschmelzung unter Kontrast.« 609 Muss es nun nicht auch auf der Seite des Subjekts Bedingungen dafür geben, dass Reize bei ihm ankommen, auch wenn es schläft? Und müsste das nicht bedeuten, dass das Ich auch in der Sphäre der passiven Konstitution wach wäre, wenn auch auf ganz andere Weise als in der aktiven? Anstelle solcher Erwägungen und der Suche nach entsprechenden Phänomenen bringt Husserl ein, wie ich es nennen möchte, tranzendentalphilosophisches Argument ins Spiel: »Die Leistung der Passivität und darin als unterster Stufe die Leistung der hyletischen Passivität« erklärt er, »ist es, für das Ich immerfort ein Feld vorgegebener und in weiterer Folge eventuell gegebener Gegenständlichkeiten zu schaffen.« Und er fährt fort: »Was sich konstituiert, konstituiert sich für das Ich, und es soll sich schließlich eine voll-wirkliche Umwelt konstituieren, in die das Ich hineinlebt, hineinwirkt, von der es andererseits beständig motiviert ist.« 610 Nun leben wir in einer wirklichen Umwelt, in die wir hinein606 607 608 609 610

Ebd., S. 166. Ebd., S. 154. Ebd., S. 168. Ebd., S. 149. Ebd., S. 162.

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Husserls Konzeption von Wachsein und Aufwachen

wirken, wer möchte das leugnen? Dazu muss sich die Umwelt konstituieren und zuunterst ein Feld vorgegebener Gegenständlichkeiten, d. h. solcher, die passiv konstituiert sind und einen Reiz ausüben, und gegebener Gegenständlichkeiten, d. h. solchen, denen sich das Ich aufmerkend und erfassend zugewendet hat. Husserl fährt fort: Damit »sich in der Subjektivität überhaupt eine Gegenstandswelt konstituieren kann«, müssen sich affektive Einheiten konstituieren. Als abgehobene Einheiten »sind sie eo ipso auch für das Ich, es affizierend.« 611 Man möchte ergänzen: Sie müssen für das Ich sein, sonst hätte es keine Umwelt, in die es sich hineinleben könnte. Soweit das, was ich das transzendentale Argument nennen möchte, von dem her verständlich werden soll, wie das Ich etwas bewusst haben kann, auch wenn es nicht wach ist. Andere Überlegungen Husserls gehen in eine andere Richtung. So erwägt er: »Wirklich merkliche Affektion haben wir doch nicht immer.« 612 Dennoch glaubt er, auch Unmerkliches könne noch affizieren. Zur Begründung stützt er sich auf den Relativismus der Affektionen, »wonach Merkliches unmerklich und Unmerkliches merklich werden kann« 613 sowie auf die Fortpflanzung der Affektion. Damit ist gemeint, dass eine schwache Affektion durch eine starke geweckt werden kann. Das aber setzt nach Husserl voraus, dass schon die schwache Affektion irgendwie für das Ich ist, denn das Phänomen der Fortpflanzung der Affektion »tritt uns in Evidenz entgegen als Phänomen der Abwandlung vorhandener Affektion.« Eine weckende Affektion kann eine schwache Affektion verstärken, aber sie kann nicht Affektion an etwas weitergeben, das nicht selbst schon affektiv ist: »Dass […] etwas affizierende Kraft überhaupt gewinnen soll, wo nichts an dergleichen vorhanden war, dass etwas, das für das Ich überhaupt nicht da war, ein pures affektives Nichts, allererst zu einem affektiven Etwas werden soll, das ist nicht eben verständlich.« 614 Affektion kann nicht aus Nichtaffektivem entstehen. Etwas ist eo ipso affektiv oder eben nicht, und affektiv zu sein bedeutet, dass das Affektive für das Ich ist. Nur ist das nicht eben verständlich, wenn das Ich in keiner Weise wach ist. Dennoch meint Husserl: »Nach diesem

611 612 613 614

Ebd. Ebd., S. 163. Ebd. Ebd.

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Wachsein und Subjektivität

methodischen Prinzip schreiben wir also jedem für sich abgehobenen Datum einen affektiven Reiz auf das Ich zu.« 615 Meine Frage ist nicht, ob schwache Affekte für das Ich noch bewusst sind, sondern wie Affektivität überhaupt (oder Betroffenheit) bewusst sein kann, wenn das Ich nicht empfänglich dafür und damit nicht wach ist. Dieser Punkt bleibt ungeklärt, denn das, was ich als »tranzendentalphilosophisches Argument« bezeichnet habe, wollen wir nicht gelten lassen, solange das, was notwendig ist, um zeigen zu können, wie etwas Wirkliches möglich ist, nur erdacht und nicht phänomenologisch aufgewiesen ist. Der irritierende Umstand, dass das passive Ich bewusst erlebt, ohne wach zu sein, tritt in »Erfahrung und Urteil« noch deutlicher zutage. Da heißt es etwa: Das, was sich in einem Sinnesfeld heraushebt, »fällt auf«, »entfaltet eine affektive Tendenz auf das Ich hin«, es ist »mehr oder minder aufdringlich«, »es drängt sich mir auf«. 616 Dieses »Aufdrängen« bezeichnet Husserl als »die Tendenz als Reiz des intentionalen Hintergrunderlebnisses« mit ihren verschiedenen Stärkegraden. 617 Diese Tendenz auf das Ich hin hat zwei Seiten: »a) das Eindringen auf das Ich, den Zug, den das Gegebene auf das Ich ausübt, b) vom Ich aus die Tendenz zur Hingabe, das Gezogensein, Affiziertsein des Ich selbst.« 618 Hier gesteht Husserl zu, dass vom Ich aus etwas dem Affektiven entgegenkommen müsse, es muss sich hingeben, muss empfänglich sein. Ist damit nicht gesagt, es müsse in einem gewissen Sinn wach sein? Rezeptivität schreibt er allerdings erst dem wachen Ich zu, sie besteht darin, dass das Ich »in der Zuwendung aufnimmt, was ihm durch die affektiven Reize vorgegeben ist« 619. Rezeptivität setzt Zuwendung voraus und gilt damit als »unterste Stufe der Aktivität«. »Das Ich lässt sich das Hereinkommende gefallen und nimmt es auf.« 620 Warum diese Beschränkung auf das aktive, wache Ich, wenn auch das passive Ich sich das Hereinkommende gefallen lässt und es aufnimmt? Husserl bringt hier einen weiteren Aspekt ins Spiel, indem er argumentiert, das Hereinkommende sei für das schlafende und für das wache Ich nicht gleichartig, das eine Mal sind es Erscheinungen, das andere Mal Gegenstände: »So unterscheiden wir unter 615 616 617 618 619 620

Ebd. Husserl, EU, S. 80. Ebd., S. 81 f. Ebd., S. 82. Ebd., S. 83. Ebd.

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Husserls Konzeption von Wachsein und Aufwachen

dem Titel Wahrnehmen einerseits das bloße Bewussthaben in originalen Erscheinungen (welche Gegenstände in originaler Leibhaftigkeit darstellen). In dieser Art ist uns je ein ganzes Wahrnehmungsfeld vor Augen gestellt – schon in purer Passivität. Andererseits steht unter dem Titel Wahrnehmen die aktive Wahrnehmung als aktives Erfassen von Gegenständen, die sich in dem über sie hinausreichenden Wahrnehmungsfelde abheben.« 621 Das passiv wahrnehmende Ich erlebt eine Vielfalt von Erscheinungen, durch die das wache Ich mittels Identifikation ein und denselben Gegenstand wahrnimmt. 622 Schon das passive (schlafende) Ich nimmt wahr, aber nur beschränkt: Es kann nur Erscheinungen bewusst haben, keine intentionalen Gegenstände. Aber warum soll nur das aktiv wahrnehmende Ich »wach« sein, das erlebende nicht? Beide erleben bewusst, das eine beschränkter als das andere, aber die Eigenheit des Bewussthabens kommt beiden zu, wenn auch nicht in gleicher Weise. Für Husserl scheint es von vorneherein ausgemacht, dass nur ein aktives, der Zuwendung fähiges Ich wach sein kann, nicht aber ein bloß hinnehmendes und erleidendes Ich. Nach allem, was wir gesehen haben, wirkt diese Annahme wenig überzeugend. Die Phänomene zeigen etwas anderes, nämlich ein reiches pathisches Bewusstseinsleben, das auf eigene Weise wach ist und wie das aktive Wachsein in unterschiedlichen Weisen des Bei-Bewusstsein-Seins und der Bereitschaft zu bewusstem Erleben gefühlt wird. Es geht dabei nicht nur um eine terminologische Frage, ob wir dem pathischen Ich das Prädikat »wach« zuschreiben wollen oder nicht. Denn wenn das Wachsein fix mit Aktivität konnotiert ist, dann kann ein inaktives Ich nicht wach sein, und dann muss man zeigen können, wie ein nicht-waches Ich aufwachen kann. Husserl meint, es wache auf, wenn es eine Affektion erleide, die bewusst wird. Dann muss es ihr Folge leisten und sich dem Affizierenden zuwenden. Aber es wird nicht deutlich, wie ein nichtwaches Ich eine Affektion erleiden kann. Es hilft auch wenig, wenn man dem Ich potentielle Zuwendung zuschreibt und das Aufwachen als Aktualisierung dieser Potenz versteht. Man müsste schon zeigen können, worin diese Potenz besteht und wie sie aktualisiert werden kann. Einen Versuch dazu habe ich in dieser Arbeit unternommen. Man kann diese potenzielle Zuwendung als Bereitschaft verstehen, Affektionen zu erleiden, und versuchen, diese Bereitschaft im Phäno621 622

Ebd., S. 83 f. Vgl. ebd., S. 85; Hua XI, S. 110.

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Wachsein und Subjektivität

men der Angst, betroffen zu werden, aufzuweisen. Aber das ist kein Zustand, der gar nicht wach ist, er ist nur nicht aktiv wach. Husserl gelingt es nicht, dem Aufwachen wirklich auf die Spur zu kommen. Das mag damit zusammenhängen, dass er sowohl das Bewussthaben wie das Wachsein vorwiegend funktional bestimmt. So heißt es vom Merklichwerden einer Affektion, dass diese das Ich »zur Aktion sozusagen aufruft, weckt und eventuell wirklich aufweckt« 623, und vom Wachsein, es bestehe im »Vollziehen der Zuwendung« 624. Das Wachsein des Ich wird dem Ausüben von Funktionen gleichgesetzt und gilt nicht als ein Zustand eines Subjekts, dessen es sich fühlend inne ist. Damit ist der Zugang zu einem pathischen Wachsein verbaut. Zwischen dem passiven schlafenden Ich und dem wachen aktiven gibt es keine Verbindung, die von einem zum anderen hinführen könnte. Husserl sieht, dass das Ich bei aller Unbeteiligtheit das passiv Konstituierte bewusst erlebt, ja dass es sich aufdrängt, aber es gelingt ihm nicht, es in einen Zusammenhang mit dem Aufwachen bringen. Wenn es einen Übergang vom schlafenden zum wachen Ich geben soll, müssen beide etwas gemeinsam haben. Dieses Gemeinsame kann nicht in einer Funktion bestehen, die das Subjekt ausübt, damit wäre das schlafende Ich überfordert. Aber es wird affiziert und fühlt das auch. Sich affiziert fühlen ist ein Zustand des schlafenden, d. h. pathisch wachen Subjekts, dem im wachen ein Sich-aktiv-Fühlen entspricht. Beiden gemeinsam ist ein Selbstgefühl, in dem ich mich pathisch oder aktiv als dieselbe Person fühle.

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Subjektivität, Wachsein und Identität der Person

Die Frage, wie man das Wachsein beschreiben und verstehen könne, hat uns lange genug beschäftigt, jetzt muss unsere Sorge der Frage gelten, wie es sich in den Zusammenhang der ganzen Person eingliedert. Ich war der Meinung, wir seien nicht in einer qualitativ einheitlichen Weise wach, man müsse vielmehr unterschiedliche Weisen, wach zu sein, unterscheiden. Solche Modi des Wachseins können gleichzeitig nebeneinander bestehen, aber auch ineinander übergehen. Diesen Übergängen möchte ich mich im Folgenden zuwenden. Dabei drängt sich die Frage nach der Einheit der Person in den Vordergrund. 623 624

Hua XI, S. 166. Husserl, EU, S. 83.

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Subjektivität, Wachsein und Identität der Person

Wenn wir im Wachsein unserer selbst bewusst sind und dieses sich qualitativ verändern kann, so dass wir gleichzeitig unterschiedlich wach sein können, so fragt sich, ob das nicht zwangsläufig eine Fragmentierung der Persönlichkeit zur Folge haben müsste. Aber auch die Stellung des Wachseins zu unserem Subjektsein muss überdacht werden. Das Wachsein erschien uns darum als eine notwendige Voraussetzung für bewusstes Erleben, weil es uns als das Medium galt, durch das etwas bewusst wird. Das lässt auf eine enge Verbindung zwischen Wachsein und Subjektsein schließen und mag dazu verführen, beide geradezu gleichzusetzen. Das wäre freilich vorschnell, denn es zeigt sich rasch, dass diese Annahme in die Irre führt. Die These, Subjektivität bestehe im Wachsein, ließe sich etwa folgendermaßen stützen: Wenn das als Subjekt gilt, dem etwas bewusst ist, dann gibt es ein Subjekt erst, wenn Angst vor der Wiederkehr des Taumels entstanden ist, denn erst dann tritt der Gegensatz von Selbst und Anderem und damit von so etwas wie Subjekt und Objekt auf. Diese Angst ist auf etwas gerichtet, vor dem man sich ängstigt, auch wenn es noch so unbestimmt sein mag. Wenn mich etwas betrifft, fühle ich mich betroffen, weil die Angst betroffen zu werden erfüllt wird, worauf gleichfalls durch eine Deckung der Sinne auch das bewusst wird, was mich betrifft. So scheint das Wachsein selbst Subjekt zu sein, dem etwas bewusst ist. Die These, Subjektivität sei nichts anderes als Wachsein, mag zusätzlich durch das einseitige Verständnis von Subjektivität als Aktivität oder Aktivitätspol (Husserl) motiviert sein, das durch das pathische Wachsein zu erweitern und zu ergänzen ist. Diese einseitige Auffassung von Subjektivität geht auf eine lange Tradition in der neuzeitlichen Philosophie zurück, wonach, etwas salopp gesagt, das als Subjekt gilt, was als zentrale Instanz Bewusstseinsakte vollzieht, die Aufmerksamkeit dahin oder dorthin lenkt, wahrnimmt, sich erinnert, phantasiert, urteilt, will und nicht will und sich für seine Taten verantwortlich hält. Kurz: das Subjekt oder »Ich« wird als aktiv wach verstanden. Was ihm geschieht, was es erleidet, gilt als Beschränkung seiner Macht, die als ein Kontinuum gedacht wird, das von geringster bis zu höchster Verfügungsgewalt reicht. Das, was uns geschieht, was uns als Anderes, Fremdes entgegenkommt und womöglich unsere Absichten durchkreuzt, erscheint als Begrenzung der Subjektivität und nicht als etwas, das ihr ebenso wesentlich zukommt. Knüpft man so das Wachsein an aktive Leistungen, wird es unter der Hand mit diesen identifiziert. Aber das Wachsein leistet 469 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Wachsein und Subjektivität

nichts; es ist ein Gefühl und als solches eine, allerdings notwendige, Voraussetzung für den Vollzug von Leistungen. Macht man das aktive Wachsein zum Thema, sieht man sofort, dass die Subjektivität nicht im Wachsein bestehen kann. Sind wir aktiv wach, können wir entscheiden, aber das Wachsein entscheidet nicht, es besteht im Gefühl, dass ich entscheide bzw. dass ich entschieden bin. Ein Gefühl kann nicht entscheiden. Auch das Gefühl, dass ich entscheide, entscheidet nicht. Vielmehr bin ich es, der entscheidet, und im Entscheiden fühle ich, dass ich entscheide. Auch das pathische Wachsein setzt mich als Subjekt voraus, weil es auf einem Streben nach nicht-taumeligem Selbstsein beruht. Ohne ein Widerstreben gegen Betroffenheit gibt es kein pathisches Wachsein; dieses besteht im Fühlen dieses Strebens, und das ist kein Streben, das mir widerfährt, sondern eines, das von mir ausgeht, andernfalls müsste ich mich von ihm betroffen fühlen. Ohne Subjekt, das strebt, ist nicht auszukommen. Die Urteilsgefühle dieses Strebens bilden die verschiedenen Weisen, wach zu sein, die Zustände dieses Subjekts sind. Dieses ist auch an der Konstitution der intentionalen Erlebnisse beteiligt, denn das Wachsein selbst kann nichts leisten; in ihm wird lediglich bewusst, was sich konstituiert. Ich bin der, welcher wahrnimmt, die Aufmerksamkeit lenkt, sich erinnert, phantasiert, urteilt, will oder nicht will. Die Orientierung am Wachsein korrigiert die Einseitigkeiten, die so oft dem Verständnis des Subjektseins anhaften. Das Subjekt ist nicht nur aktiv, es ist auch pathisch, und dieses Pathische kann nicht nur als Privation des Aktiven verstanden werden, sondern muss als eine Qualität eigener Dignität gelten. Die unterschiedlichen Qualitäten des Wachseins sind Zustände des Subjekts, Weisen, wie das Subjekt sich in seinem Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung fühlt. Das wache Subjekt ist kein gleich bleibender Empfänger oder stets bereiter Akteur. Seine Bereitschaft, etwas bewusst zu haben, wandelt sich. Die Modi des Wachseins sind nicht nur Zustände des Subjekts, sondern unterschiedliche Weisen, sich als Subjekt zu fühlen. Im Entscheiden fühle ich in anderer Weise, Subjekt zu sein, als wenn ich betroffen werde. Und in den unterschiedlichen Weisen, betroffen zu sein, fühle ich mich auf unterschiedliche Weise als Subjekt: wutentbrannt anders als in einer melancholischen Stimmung und wieder anders, wenn mir eine passende Idee zu etwas einfällt. Ähnliches lässt sich von den Modi des aktiven Wachseins sagen, auch in ihnen fühle ich mich auf unterschiedliche Weise als Subjekt: Im an470 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Subjektivität, Wachsein und Identität der Person

gestrengten Suchen nach einer Erinnerung oder einer Problemlösung fühle ich, in anderer Weise Subjekt zu sein, als wenn ich etwas aufmerksam beobachte oder Zahlen multipliziere oder beim Geschichtenerzählen auf eine Pointe zusteuere. In allen pathischen oder aktiven Modi des Wachseins fühle ich mich als dasselbe Subjekt, aber auch, dass ich auf verschiedene Weise dasselbe Subjekt bin. Subjekt zu sein besteht nicht nur im Haben unterschiedlicher Zustände oder dem Ausüben verschiedener Funktionen (dies macht sozusagen die Außenseite des Subjektseins aus), sondern auch darin, dass ich mich in diesen unterschiedlichen Zuständen und Funktionen in unterschiedlicher Weise als Subjekt fühle. Subjekt sind wir nur, wenn wir wach sind; nur dann können wir Subjektfunktionen ausüben und damit Subjekt sein. Unterschiedliche Arten von Erlebnissen bewusst zu haben, ist in unterschiedliche Weisen des Wachseins eingebettet, und dabei sind wir über alle diese Weisen des Wachseins hinweg auf verschiedene Weise dasselbe Subjekt. Man ist versucht, das Verhältnis von demselben Subjekt zu den unterschiedlichen Weisen, in denen es sich als Subjekt fühlt, mit der archaischen Vorstellung einer Metamorphose zu vergleichen. Wenn in den Mythen der Alten Götter, Halbgötter oder Menschen vorübergehend oder für immer sich in Tiere, Pflanzen oder Steine verwandelten oder verwandelt wurden, so blieb doch Apollo auch als Habicht er selbst, und Daphne blieb Daphne, auch wenn sie in einen Lorbeerbaum verwandelt wurde. 625 In Analogie dazu möchte ich von Metamorphosen des Subjektseins sprechen. Das sind zugleich Metamorphosen des Wachseins, denn ein Subjekt ist in seinen Subjektfunktionen Subjekt, und diese kann es nur als ein Subjekt ausüben, das entsprechend wach ist und sich in seinen Zuständen und Funktionen als Subjekt fühlt. Wir können wenigstens drei Arten solcher Metamorphosen unterscheiden: eine durch Erfüllung, eine durch den Übergang von einem Modus des Wachseins in einen anderen und eine durch Einschlafen und Aufwachen. Die erste Art von Metamorphose orientiert sich am Paradigma der Erfüllung von Leerintentionen. So geht das Wachsein als Angst vor Betroffenheit in Betroffenheit über, das Streben nach Entscheidung in Entscheidung und das Bewussthabenwollen ins Bewussthaben. Das kann man als Erfüllung deuten. Es geht dabei um den 625 Vgl. J. Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte, 2. Band. Gesammelte Werke, Bd. VI, Basel 1970, S. 7 ff.

471 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Wachsein und Subjektivität

Übergang des Wachseins als Bereitschaft zu bewusstem Erleben zum Wachsein als Bei-Bewusstsein-Sein. Von anderer Art ist der Übergang von einem Modus des Wachseins in einen anderen. Zu dieser Metamorphose kommt es im pathischen Wachsein, wenn wir andersartig betroffen werden als zuvor. Damit verändert sich unser Bei-Bewusstsein-Sein, aber auch die Furcht, betroffen zu werden. Im aktiven Wachsein kommt es zu diesem Übergang, wenn ich etwas Andersartiges bewusst haben will und damit auch andersartiges können muss als bisher. Ich hoffe dann auch, das zu können, was ich können muss, um das bewusst zu haben, was ich will. Im pathischen Wachsein geht diese Metamorphose von dem aus, was mich betrifft, im aktiven von meiner Entscheidung. Vom Übergehen eines pathischen Modus in einen anderen pathischen Modus oder von einem aktiven in einen anderen aktiven Modus müssen wir den Übergang von einem pathischen in einen aktiven Modus und umgekehrt unterscheiden. Diese Metamorphose ist einschneidender und gründlicher als die anderen, denn hier bekommen wir es mit einem Einschlafen und Aufwachen in einem qualitativen Sinne zu tun. Wir fühlen uns im aktiven Wachsein generell wacher als im pathischen, weil wir entscheiden können, was wir tun und bewusst haben wollen, und unser Bewusstseinsleben kontrollieren können, während im pathischen Wachsein alles, was sich verändert, uns geschieht. Aufwachen in diesem Sinn bedeutet nicht wacher zu sein als zuvor, sondern in einer grundlegenden Weise anders wach zu sein. Entsprechendes gilt vom Einschlafen. Die unterschiedlichen Weisen des Wachseins sind Zustände des Subjekts, und zwar solche, in denen sich dieses seiner selbst bewusst ist. Muss das nicht zu merkwürdigen, ja unhaltbaren Konsequenzen führen? Wenn wir von einem Modus des Wachseins in einen anderen übergehen, sind wir uns auch in anderer Weise unserer selbst bewusst als zuvor. Müssen wir da nicht mit wechselndem Selbstbewusstsein zu Proteus werden? Und wenn wir gleichzeitig in verschiedener Weise wach sind, z. B. im Vergegenwärtigen vorstellungsartig und zugleich (hintergründig) auch wahrnehmungsmäßig, und wenn wir dann noch denken, gedankenartig, so fragt sich, ob wir uns in solchen Fällen gleichzeitig auf verschiedene Weise unserer selbst bewusst sind oder ob wir uns als Verschiedene bewusst sind; im letzteren Fall wären wir nicht nur wie Proteus, sondern auch wie multiple Persönlichkeiten. Dem steht die ganz alltägliche Erfahrung entgegen, dass wir normalerweise das Bewusstsein haben, eine einheitliche Person zu 472 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Subjektivität, Wachsein und Identität der Person

sein, die in allen ihren Subjekt- und Wachheitszuständen identisch dieselbe bleibt. Wie ist dieser Befund zu deuten? Was zunächst das Betroffensein angeht, so konnten wir verschiedene Weisen, betroffen zu sein, ausmachen. Menschen werden in verschiedener, aber jeweils ähnlicher Weise betroffen. Allgemein könnte man das Betroffensein dadurch bestimmen, dass uns etwas widerfährt. Aber genauer besehen ist das Widerfahren in dieser Allgemeinheit nur gedacht und nicht wirklich. Uns (im Sinne eines beliebigen Subjekts) widerfährt nie etwas, weil nur je einzelne bestimmte Individuen betroffen werden können. Jedes Betroffensein ist ein je individuelles Ereignis, das darin besteht, dass je ich selbst betroffen bin. Zu jedem Betroffensein, sagten wir, gehöre die Gefühlsnuance, dass gerade ich betroffen bin. Man kann diese Gefühlsqualität vielleicht am ehesten mit einer Bewegungsrichtung vergleichen, was auch im Wort noch nachklingt: Es ist ein Gefühl ähnlich demjenigen, das wir erleben, wenn etwas im Raum auf den eigenen Körper zukommt (ein Ball z. B.). Jedes Betroffensein ist ein je momentanes Ereignis, aber eines, das sich wiederholt und in der Wiederholung einen identischen Kern ausbildet. Wiederholt sich die Erfahrung, selbst betroffen zu sein, führt das zu einem Vertrautsein mit sich über die Zeit hinweg und zum Bewusstsein, eine einheitliche Person zu sein. Dass je ich betroffen bin, ist ein Gehalt, der nicht nur jedem Betroffensein eignet, sondern auch dem Wachsein im Sinne der Angst bzw. Furcht vor Betroffenheit. Wenn ich fürchte, betroffen zu werden, fürchte ich, dass ich betroffen werde. Dieser Gehalt gehört nicht allein zum pathischen Wachsein im Sinne des Bei-BewusstseinSeins, sondern auch zum Wachsein als Bereitschaft zu bewusstem Erleben. Nur ich selbst kann fürchten, dass ich betroffen werde. Jeder Mensch erlebt sein pathisches Wachsein als je sein eigenes. Das gilt unabhängig davon, in welchem Modus jemand wach ist, und auch dann, wenn wir gleichzeitig in unterschiedlichen Modi wach sind. Diese Gefühle machen mein Wachsein aus, weil ich mich betroffen fühle, und wenn sie gleichzeitig bestehen, bin ich gleichzeitig auf verschiedene Weise wach. Dabei fühle ich mich auf unterschiedliche Weise als mich selbst, nämlich auf verschiedene Weise betroffen, wobei diese Betroffenheiten insofern zur Deckung kommen, als ich als Betroffener immer derselbe bleibe. Die Frage, wie es möglich ist, sich das ganze Leben hindurch und über Perioden des Tiefschlafs hinweg als numerisch identische Person 473 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Wachsein und Subjektivität

nicht zu wissen, aber doch zu fühlen, führt uns wieder auf diesen Gehalt, dass gerade ich betroffen bin, zurück. Wenn ich morgens aufwache, ist mir normalerweise gewiss, dass ich derselbe bin wie der, der zuvor eingeschlafen ist. Diese selbstverständliche Gewissheit beruht weder auf Überlegung noch auf Erinnerung. Wenn ich mich beim Aufwachen betroffen fühle, fühle ich, dass ich derselbe bin, der sich beim Einschlafen als derselbe betroffen gefühlt hat und sich schon in früheren weiter zurückliegenden Weisen des Betroffenseins so gefühlt hat. Dass gerade ich es bin, der betroffen wird, ist mir durch die ständige Wiederholung derart vertraut, dass ich jedes Betroffensein nicht nur als je meines erlebe; der Sachverhalt, dass gerade ich betroffen bin, ist durch dieses Vertrautsein schon als derselbe charakterisiert, wie der, den ich früher immer wieder erlebt habe. Die Jemeinigkeit des Betroffenseins wiederholt sich in jedem Betroffensein, so dass jedes als ein Wiederbetroffensein erlebt wird, und das auch über Perioden des Tiefschlafs hinweg. Auch im aktiven Wachsein fühlen wir uns als Subjekt, und zwar als dasselbe, als das wir uns im pathischen Wachsein fühlen. Aber nun bin ich nicht mehr nur im Betroffensein und in der Furcht vor ihr Subjekt, sondern auch in der Hoffnung, entscheiden zu können, im Entscheiden und in der Hoffnung, dass das bewusst werde wofür ich mich entschieden habe. Schon das Entscheiden haben wir als eine Aktivität verstanden, es ist im Unterschied zum Betroffensein nicht ohne unser Zutun, und das fühlen wir auch im Gefühl des Wachseins: In groben Zügen kann man es als ein Gefühl des Mächtigseins und des Könnens bezeichnen. Es ist ein Gefühl, das auch noch das mentale Wollen begleitet, und je nach dem erforderlichen Können sich in unterschiedliche Modi des aktiven Wachseins ausdifferenziert. Besteht unser Subjektsein nicht nur im Entscheiden, sondern auch im Bewussthabenwollen, und gibt es in dieser Hinsicht unterschiedliche Modi des Wachseins, so sind wir auch im aktiven Wachsein in unterschiedlicher Weise Subjekt, womit sich auch hier die Frage stellt, wie wir in diesen unterschiedlichen Weisen, Subjekt zu sein, doch dasselbe Subjekt bleiben. Gibt es im aktiven Wachsein, ähnlich dem pathischen, einen Kernbestand, wodurch alle Modi des aktiven Wachseins Modi meines Wachseins sind und ich in ihnen allen wach bin? Die Analogie zum pathischen Wachsein legt nahe: So wie der Sachverhalt, dass gerade ich betroffen bin, den Kernbestand pathischen Wachseins ausmacht, so bildet der Sachverhalt, dass ich es bin, der entscheidet, den Kernbestand des aktiven Wach474 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Subjektivität, Wachsein und Identität der Person

seins. Dieser Sachverhalt bleibt auch im Bewussthabenwollen und damit in den unterschiedlichen Modi des aktiven Wachseins bestehen, denn wenn ich das bewusst haben will, wofür ich mich entschieden habe, so halte ich an dieser meiner Entscheidung fest, solange ich mich nicht anders entscheide. Wir sind, wenn wir aktiv wach sind, immer zugleich auch pathisch wach, weil das aktive Wachsein nicht ohne pathische Untergründe auskommt. Wir sind also, wenn wir überhaupt wach sind, zumeist pathisch und aktiv wach, außer wenn der Leib schläft und wir träumen. Folgen wir dem bisherigen Gedankengang, so kommen uns in unserem ganz alltäglichen Wachsein zwei höchst gegensätzliche Kernbestände unserer Persönlichkeit zu. Den einen kann man darauf zurückführen, dass ich betroffen werde, den anderen darauf, dass ich entscheide. Beide haben dasselbe Subjekt, nämlich mich. Was hat das zu bedeuten? Wie kann ich als der, welcher aktiv wach ist und entscheidet, derselbe sein, wie der, welcher pathisch wach ist und betroffen wird? Diese Frage verweist auf den Zusammenhang beider Weisen des Wachseins und damit auf das Aufwachen und Einschlafen im Übergang von einem Wachsein zum anderen. 626 Beide Weisen, wach und Subjekt zu sein, setzen voraus, dass uns etwas gegeben ist. Betroffenheit gibt es nicht ohne etwas, das uns betrifft, und Entscheiden nicht ohne etwas, das Entscheidung fordert. Betroffenheit schien uns auch nur möglich, wenn es eine Bereitschaft gibt, betroffen zu werden; diese haben wir in der Angst vor der Wiederkehr des Taumels gefunden. Betroffenheit besteht in der Erfüllung dieser Angst. Auch das Entscheiden hat seine Voraussetzungen. Vor allem müssen wir, wenn wir nicht schon aktiv wach sind, sondern erst dazu aufwachen, in einem hohen Maß pathisch wach sein, und d. h. wir dürfen höchstens kaum noch merklich betroffen werden. Es muss uns auch aus pathischen Untergründen heraus zum Entscheiden drängen. Ich habe das ein »Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung« genannt, und dieses schien mir die Fortsetzung jenes Strebens zu sein, das schon der Angst vor der Wiederkehr des Taumels zugrunde liegt, dem Streben, nicht taumelig und damit nicht betroffen zu sein. Das eigentliche Ziel dieses Strebens hat sich als eines herausgestellt, dem es nur vordergründig darum geht, nicht betroffen zu werden, denn das wäre auch durch Bewusstlosigkeit zu erreichen. 626 Vgl. Kap. III, 3.2 Aufwachen im prägnanten Sinn: Wie mentales Wollen aus dem pathischen Wachsein entsteht.

475 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Wachsein und Subjektivität

Das Streben, nicht betroffen zu werden, ist eines nach nicht-pathischem Bewussthaben. Nicht-pathisch bewusst ist etwas, wenn ich mich entschieden habe, es bewusst haben zu wollen. Dann strebe ich, wenn ich danach strebe, nicht betroffen zu werden, nach nicht-pathischem Bewussthaben und damit implizit nach Entscheidung. Dann sind das Streben, nicht betroffen zu werden, und das Streben nach Entscheidung ein und dasselbe Streben, weil ich in beiden nach Bewusstsein durch Entscheidung strebe. Nur wird mir das im pathischen Wachsein nicht bewusst, weil ich erst aktiv wach sein muss, um einzusehen, dass das Streben, nicht betroffen zu werden, ein Mittel ist, auf nicht-taumelige Weise zu sein. Es geht darum, das aus dem Weg zu räumen, was einem Bewusstsein durch Entscheidung entgegensteht. Jetzt können wir auf unsere beiden Kernbestände zurückgreifen. Der eine besteht darin, dass ich mich betroffen fühle. Dann wird die Angst vor Widerfahrnissen erfüllt und das Streben, nicht betroffen zu werden, frustriert. Wir haben schon früher bemerkt, dass ich mich betroffen fühle, wenn dieses Streben frustriert wird, und umgekehrt, und daraus geschlossen, dass es von mir ausgeht, so dass ich es bin, der dem Betroffensein widerstrebt. Den anderen Kernbestand haben wir darin gesehen, dass ich es bin, der fühlt, dass ich entscheiden kann. Wenn das Streben, nicht betroffen zu werden, frustriert wird, fühle ich mich betroffen, und wenn das Streben nach Entscheidung befriedigt wird, fühle ich, dass ich entscheide. Ich bin als Betroffener nicht ein anderer als der, der entscheidet, ich bin nur anders wach. Der Sachverhalt, dass ich betroffen werde, und der, dass ich entscheide, kommen darin zur Deckung, dass ich in beiden, sowohl als Betroffener wie als Entscheidender, derselbe bin. Das geht auch daraus hervor, dass ich sowohl danach strebe, nicht betroffen zu werden, wie auch danach, zu entscheiden, da das eine Streben das andere fortsetzt. Gibt es einen solchen Kernbestand des Wachseins, der darin besteht, dass gerade ich es bin, der sich betroffen fühlt, und ich es bin, der fühlt, dass ich entscheiden kann, so sind beide Urteilsgefühle ein und desselben Strebens, auf nicht-taumelige Weise zu sein. Dieses Streben ist kein Wachsein, sondern eine Subjektfunktion neben anderen. Nur ist es kein Streben wie andere Strebungen, weil ich fühle, dass es von mir ausgeht, da ich mich betroffen fühle, wenn es frustriert wird, und ich fühle, dass ich entscheide, wenn es im Entscheiden befriedigt ist. Das Subjekt übt vielerlei Subjektfunktionen aus; es fühlt, nimmt wahr, erinnert sich, urteilt usw. Jede dieser Funktionen setzt voraus, 476 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Metamorphosen der Subjektivität

dass wir in bestimmter Weise wach sind. Mit dem Übergang einer Weise, wach zu sein, in eine andere können andere Subjektfunktionen als zuvor aktualisiert werden und es fühlt sich anders an, wach zu sein. Und doch erhält sich durch diese Metamorphosen hindurch etwas als dasselbe: ich fühle, dass ich in all diesen Wandlungen derselbe bin, derjenige, der in unterschiedlichen Zuständen des Wachseins dieses eine Leben lebt. Der Rückgang auf das Wachsein ermöglicht es, die Einheit der Subjektivität besser zu verstehen. Das Wachsein verbindet nicht nur das aktiv Bewusste mit dem, was pathisch bewusst ist; es bildet auch den Kitt, der die unterschiedlichen Bewusstseinszustände zusammenhält und es möglich macht, von einem in einen andern überzugehen.

4

Metamorphosen der Subjektivität

Ich habe im vorangegangenen Kapitel auf einen Kernbestand unseres Wach- und Subjektseins hingewiesen, der das ganze Leben hindurch unverändert bleibt und darin besteht, dass gerade ich es bin, der wach ist. Wie unterschiedlich wir auch immer wach sein mögen, dieser Sachverhalt ändert sich nicht. Das Wachsein dagegen hat sich als überaus wandelbar erwiesen. Seine Modi haben wir als unterschiedliche Weisen, sich als Subjekt zu fühlen, verstanden. Solche Modi können nicht nur nebeneinander bestehen, sie können auch ineinander übergehen. Vom Übergehen eines pathischen Modus in einen anderen oder eines aktiven Modus in einen anderen müssen wir die Übergänge der pathischen Modi in aktive und umgekehrt unterscheiden, weil sie einschneidender sind als die anderen. Wieder anders ist der Übergang von der Angst vor Widerfahrnissen ins Betroffensein und die weiteren Übergänge, die ich unter dem Titel »Metamorphosen der Erfüllung« zusammengefasst habe. Es lassen sich wenigstens drei solcher Metamorphosen unterscheiden: eine durch Erfüllung, eine durch den Übergang von einem Modus des Wachseins in einen anderen und eine durch Aufwachen und Einschlafen. Natürlich kann es in jedem Modus des Wachseins zu Erfüllung (oder Entleerung) kommen, aber diese Modifikation ist von der durch ein Übergehen in einen anderen Modus zu unterscheiden. In jeder dieser Metamorphosen verändert sich das Gefühl, wach zu sein.

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Wachsein und Subjektivität

1. Die Metamorphose durch Erfüllung: Jedes Bewussthaben ist Erfüllung eines Wachseins als Bereitschaft, etwas bewusst zu haben. Solche Erfüllungen finden wir beim Übergang der Angst vor Betroffensein ins Betroffensein und ins Bewussthaben dessen, was uns betrifft, aber auch beim Übergang vom Streben nach Entscheidung ins Entscheiden und ins Bewussthaben dessen, wofür wir uns entschieden haben. Alle diese Übergänge lassen sich als Erfüllung verstehen, weil in ihnen etwas, das zunächst in einer leereren oder unbestimmteren Weise intendiert ist, durch die Selbstpräsenz des so Intendierten erfüllt wird. So wird die Angst, irgendwie betroffen zu werden, erfüllt, wenn mich etwas betrifft. Wenn ich diese Angst fühle und es betrifft mich etwas, fühle ich mich von etwas betroffen und das Betroffensein wird durch eine Deckung der Sinne bewusst. Durch diesen Übergang vom Wachsein als Bereitschaft zu bewusstem Erleben ins BeiBewusstsein-Sein fühle ich mich auf andere Weise als Subjekt als zuvor. Auch das Entscheiden erfüllt ein Streben nach ihm, wenn es gelingt. Kommt ein solches Streben auf und hoffe ich, entscheiden zu können, so erfüllt sich die Hoffnung, wenn ich entscheide, und die Entscheidung wird bewusst durch eine Deckung der Sinne des Erhofften mit dem des Erfüllenden. Was nun diese Metamorphose durch Erfüllung angeht, so sind wir zunächst in der Hoffnung, entscheiden zu können, wach, dann im Entscheiden selbst und im Bewusstsein dessen, wofür wir uns entschieden haben, also in der Absicht des mentalen Wollens. Das ist kein Aufwachen im eigentlichen Sinn, kein Übergang eines pathischen Wachseins in ein aktives, denn ein Streben nach Entscheidung kann nur erfüllt werden, wenn es entstanden ist, und dann sind wir schon in ihm aktiv wach. Hier interessiert uns allein die Modifikation, die das Hoffen, entscheiden zu können, durch das Entscheiden erfährt. Natürlich geht auch dabei (analog zur Erfüllung der Angst vor Betroffenheit) das Wachsein als Hoffen, entscheiden zu können, ins Gefühl, entscheiden zu können, über. Das, wofür ich mich entschieden habe, ist ein Gedanke, aber es muss nicht ein aktiv bewusster Gedanke sein, d. h. einer, den ich durch Suchen gefunden oder durch Anwendung von Regeln generiert habe. Er kann auch als pathisch bewusster Gedanke schon vor der Entscheidung als eine Möglichkeit bewusst sein, nur habe ich mich noch nicht entschieden. Durch das Entscheiden verändert sich mein Verhältnis zu ihm. Sich für einen Gedanken entscheiden und ihn zur Absicht eines Wollens zu machen, ist eine Weise, sich ihn anzueig478 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Metamorphosen der Subjektivität

nen. Er ist nun nicht mehr meiner als ein Gedanke, der mich betrifft, sondern als einer, für den ich mich entschieden habe. Habe ich mich entschieden, will ich bewusst haben, wofür ich mich entschieden habe. Dieses Wollen wird erfüllt, wenn etwas präsent wird, dessen Sinn mit dem Erhofften wenigstens partiell zur Deckung kommt. Auch das ist eine Metamorphose durch Erfüllung. Sie lässt sich am besten durch den Gegensatz zur Betroffenheit charakterisieren. Im pathischen Wachsein verändert sich die Weise, sich als Subjekt zu fühlen, sobald ich anders betroffen werde als bisher, denn ich bin in meinem Subjektsein wesentlich durch die Weise des Betroffenseins bestimmt. Damit kann nur solches bewusst werden, das mich in der Weise betrifft, die dem Modus entspricht, in dem ich wach bin, aber dieser Modus ist durch das bestimmt, was mich zuvor betroffen hat, hängt also nicht von mir, sondern von anderem ab. Auch im aktiven Wachsein kann etwas nur bewusst werden, wenn ich in der entsprechenden Weise wach bin. Aber ob ich das bin, beruht auch darauf, wie sehr ich etwas bewusst haben will. Ich kann mich beim Wollen mehr oder weniger anstrengen. 627 Zum aktiven Wachsein gehört die Intention, etwas bewusst zu haben, dem pathischen Wachsein fehlt sie, ihm kommt lediglich die Intention zu, nicht betroffen zu werden. Wollen wir etwas bewusst haben, wollen wir an der einmal getroffenen Entscheidung festhalten (sofern wir uns nicht anders entscheiden). Wir verfolgen dann beharrlich ein Ziel und das fühlen wir in den Urteilsgefühlen des Wollens, in der Hoffnung, zu können, was wir wollen, und der Furcht, es nicht zu können. Die Metamorphose durch Erfüllung besteht hier darin, dass ich mich in der Befriedigung des mentalen Wollens auf andere Weise als Subjekt fühle als im mentalen Wollen: nicht als fürchtendes oder hoffendes Subjekt, sondern als befriedigtes. 2. Die Metamorphose im Übergang von einem pathischen Modus in einen anderen pathischen Modus bzw. von einem aktiven Modus in einen anderen aktiven Modus: Ein pathischer Modus geht in einen anderen pathischen Modus über (oder ein anderer kommt zu einem bestehenden Modus hinzu), wenn ich auf andere Weise betroffen werde als zuvor. Dieser Übergang geschieht, wenn die Angst, betroffen zu werden, auf andere Weise erfüllt wird als bisher. Aber nun

627

Siehe oben S. 269.

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Wachsein und Subjektivität

interessiert uns nicht der Übergang dieser Angst ins Betroffensein, sondern die Wandlung des Sich-als-Subjekt-Fühlens im Übergang der vorherigen Weise, betroffen zu werden, in die nachfolgende. Der Übergang von einem Modus des aktiven Wachseins in einen anderen gleichfalls aktiven Modus vollzieht sich nicht durch eine andersartige Erfüllung meines Wollens, sondern wenn ich mich entscheide, etwas bewusst haben zu wollen, das ein andersartiges Können erfordert als das, was ich zuvor können musste. Während eines Abendspaziergangs nehme ich vielleicht aufmerksam meine Umgebung wahr, dann sehe ich etwas vorbeifliegen und frage mich, was es sei: eine Fledermaus oder ein in der Dämmerung aufgescheuchter Vogel? Eine Antwort darauf erwarten wir von einem (wenn möglich einsichtigen) Urteil. Ich will also urteilen und habe mich damit auch schon dafür entschieden und hoffe, es zu können. Zudem motiviert mein Urteilenwollen weitere Beobachtungen als Grundlage für mein Urteil. Im Urteilen bin ich in einem anderen Modus wach als zuvor. Dabei geht das Hoffen, etwas Bestimmtes zu können, der Einsicht, dass ich es kann, vorweg, wogegen ein neuer pathischer Modus mit einer neuen Weise des Betroffenseins anhebt, dem die Furcht, in der gleichen Weise betroffen zu werden, nachfolgt. Im Übergang von einem Modus des aktiven Wachseins in einen anderen wandeln sich die Weisen, wie ich wach bin, und damit mein Subjektsein. Im obigen Beispiel war ich zunächst in der Weise aktiven Wahrnehmens wach, dann in der aktiven Urteilens. Ich bin durch diesen Übergang in anderer Weise Subjekt geworden als zuvor. Dies ist der günstige Fall, in dem wir wissen, was zu tun ist, um das bewusst zu haben, was wir bewusst haben wollen. Wir stehen vor einer Aufgabe, die wir nach bekannten Mustern oder durch Befolgen von Regeln lösen können. Es schien uns, dass wir damit in nicht wenigen Fällen zum Ziel kommen, auch zeigt sich nicht selten, dass sich das erforderliche Können längst eingeschliffen und automatisiert hat. Dem stehen die Fälle gegenüber, in denen wir mit unserem Wollen scheitern, sowie jene, in denen uns das, was wir bewusst haben wollen, von selbst einfällt. Diese »Passivität in der Aktivität« ist schon darum von Interesse, weil es dabei nicht um solches geht, das wir implizit schon wissen, sondern um ein Bewussthaben von Neuem. 628

628 Vgl. Kap. III, 10 Die Phänomene der Passivität in der Aktivität und die Modi des aktiven Wachseins.

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Metamorphosen der Subjektivität

Ich will mich z. B. an etwas Vergangenes erinnern, bin zunächst erfolglos, bleibe aber konzentriert bei dem Aspekt des Vergangenen, nach dem ich suche. Plötzlich fällt mir das Gesuchte ein. Dieser Einfall wird nicht pathisch bewusst, ich fühle mich nicht betroffen. Der gesuchte Aspekt einer Sache wird durch den in der Absicht bewussten Aspekt derselben Sache geweckt. Das Können, das diesem Bewusstwerden zugrunde liegt, ist kein Tun, ich bin aber auch nicht betroffen. Ich will mich geradezu aller Tätigkeit enthalten und mich ganz darauf konzentrieren, dass das, was ich bewusst haben will, zur Erscheinung komme. Ich habe das mit einem Hinhorchen in die Stille verglichen. Erfüllt sich die Hoffnung, das Gesuchte möge sich finden, so ist das ein Geschehen, aber ich fühle mich nicht betroffen, weil das geschieht, was ich gewollt habe. Obschon die Initiative von mir ausgeht, stellt sich kein Gefühl, etwas zu können, ein, wohl aber eines, dass das, was mir entgegenkommt, mit dem zusammenstimmt, was ich will. Auch dieser Modus des Wachseins ist aktiv, wir haben uns entschieden, etwas bewusst haben zu wollen, aber er fordert doch ein ganz andersartiges Können als ein regelfolgendes Tun. Anstelle der Aktivität im Sinne eines Machens oder Beherrschens einer Fähigkeit tritt ein Suchen, das keine Aktivität im Sinne eines Regelfolgens ist. Ich will das Gesuchte nicht erzeugen, sondern hoffe, dass es mir entgegenkommt. Das ist kein beiläufiges Hoffen, sondern eines, das mit einem konzentrierten Hinzielen auf das Gesuchte verbunden ist. Ich nehme meine Aktivität zurück und überlasse mich dem, was mir an Erinnerungen oder Gedanken zuströmt. Auch darin müssen wir eine Metamorphose des Subjektseins sehen, denn ich bin nun auf andere Weise Subjekt als zuvor: nicht einer Regel folgend, sondern achtsam auf das, was sich von selbst einstellt. 3. Die Metamorphose im Übergang von einem pathischen Modus in einen aktiven Modus des Wachseins. Das Aufwachen im prägnanten Sinn: Den Übergang vom pathischen zum aktiven Wachsein haben wir bisher unter zwei Gesichtspunkten thematisiert: zunächst im Zusammenhang mit dem Entstehen des mentalen Wollens und dann wieder bei der Frage, ob wir selbst es sind, die entscheiden und uns als solche bewusst sind, die selbst entscheiden. Jetzt geht es um die Frage, wie sich die Subjektivität beim Aufwachen ins aktive Wachsein wandelt. Der Übergang vom pathischen ins aktive Wachsein geht mit einer Veränderung der Subjektfunktionen einher, die unübersehbar 481 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Wachsein und Subjektivität

ist. Ist das pathische Wachsein durch Betroffenheit bestimmt, gilt uns die Fähigkeit, entscheiden zu können, als charakteristisch für das aktive Wachsein. Wenn wir hoffen, entscheiden zu können, sind wir aktiv wach und jede Periode unseres Bewusstseinslebens, in der wir dazu fähig sind oder hoffen, es zu sein, ist eine des aktiven Wachseins. Während die Qualität des pathischen Wachseins von dem abhängt, was uns betrifft, weisen die Phänomene darauf hin, dass die Gefühlsqualität des aktiven in dem Sinne von uns selbst bestimmt ist, als sie sich nach unserer Entscheidung richtet. Das Entscheiden ist durch Voraussetzungen motiviert, aber wie ich entscheide, ist damit nicht festgelegt. Im Aufwachen eine Metamorphose des Subjekts zu sehen, entspricht einer langen Tradition, dergemäß das Aufwachen an die Fähigkeit, entscheiden zu können und tätig zu sein, geknüpft ist. 629 Ihr gemäß sind wir erst im aktiven Wachsein wirklich wach und umso wacher, je besser wir auch schwierige Entscheidungen meistern. Fragt man nach dem Ort, an dem das pathische Wachsein in das aktive umschlägt, schien es zunächst naheliegend, auf das Entscheiden zu verweisen, denn wenn wir entscheiden können, sind wir aktiv wach. Es schien mir aber fraglich, ob damit der gesuchte Punkt des Umschlags wirklich getroffen ist, denn um entscheiden zu können, müssen wir schon aktiv wach sein. Ein nur pathisch waches Subjekt kann dies nicht leisten. Wenn das Entscheiden ein Streben nach ihm erfüllt, dann wachen wir schon auf, wenn ein solches Streben aufkommt, das im Hoffen, entscheiden zu können, bewusst ist. Wäre es unbewusst, könnte es nicht zum Entscheiden motivieren. Ich habe oben 630 zu zeigen versucht, wie ein solches Streben als eines nach nicht-pathischem Bewusstsein aus dem Streben, nicht betroffen zu werden, hervorgeht. Implizit existiert es schon, während wir pathisch wach sind, aber explizit wird es erst, wenn wir zu hoffen beginnen, dass wir entscheiden können. Damit ist das Aufwachen schon voll im Gang. Nun möchte ich verfolgen, wie sich die Subjektivität im Verlauf des Aufwachens verändert. Dabei dürften einige Vorgänge verständlicher werden, weil wir inzwischen mit den Möglichkeiten des aktiven Bewusstseins vertrauter geworden sind. Es schien uns, es müssten drei Bedingungen erfüllt sein, damit wir aufwachen können, wobei alle drei zusammenwirken 631: 629 630 631

Vgl. oben S. 260. Kap. III, 3.2 Aufwachen im prägnanten Sinn. Vgl. oben S. 271.

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Metamorphosen der Subjektivität

1. 2.

Etwas drängt uns dazu, zu entscheiden. Es muss eine Situation entstehen, in der pathisch Bewusstes eine Entscheidung herausfordert. 3. Wir werden nur noch in geringem Maß betroffen. Zu 1.: Sind wir pathisch wach, streben wir danach, nicht betroffen zu werden. Das kann heißen, nichts soll mehr bewusst sein, aber auch: Nur solches soll bewusst sein, das nicht durch Betroffenheit bewusst wird. Letzteres können wir uns nur denken als etwas, für dessen Bewussthaben wir uns entschieden haben, und das wir bewusst haben wollen, denn dann betrifft es uns nicht, sondern befriedigt unser Streben, nicht betroffen zu werden. Darin muss denn auch letztlich das Ziel des Strebens, nicht betroffen zu werden, bestehen, denn als Entscheidende fühlen wir uns weder betroffen noch bewusstlos. Das Streben nach Entscheidung ist ebenso ein Mittel für dieses Ziel, wie schon das Widerstreben gegen das Betroffensein. Dieses wird zu einem Streben nach Entscheidung, wenn das pathisch wache Subjekt zum aktiven aufwacht. Uns, die wir fragen, wie ein nur pathisch waches Subjekt aufwachen könne, mag das einleuchten, diesem selbst aber kaum. Dies hat uns zur Frage geführt, welche Erfahrungen ein nur pathisch waches Subjekt machen muss, damit es einsehen kann, es müsse selber darüber entscheiden, was ihm bewusst und was nicht bewusst sein soll. Zu 2. und 3.: Es hat sich gezeigt: Damit ein pathisch waches Bewusstsein entscheiden kann, muss eine Situation entstehen, die Entscheidung fordert. Solche Situationen sind uns geläufig, wenn wir aktiv wach sind. Anders ist es, wenn die Forderung zu entscheiden an ein Bewusstsein ergeht, das nicht aktiv wach ist und nicht entscheiden kann. Dieses muss Erfahrungen machen, die dazu führen, dass etwas bewusst wird, das eine Entscheidung herausfordert und das noch schlummernde Streben nach Entscheidung weckt. Entscheiden zu können schien uns einen Spielraum von Möglichkeiten vorauszusetzen zwischen denen man wählen und entscheiden kann. Solche Möglichkeiten müssen dem Subjekt aber erst aus dem pathischen Wachsein heraus zuwachsen. In diesem gibt es nur pathisch Bewusstes, das auftaucht, anhält und verschwindet. Konkurrieren mehrere Widerfahrnisse um das Bewusstwerden, wird sich dasjenige durchsetzen, das die stärkste affektive Kraft aufweist, die anderen werden in den Hintergrund gedrängt oder verschwinden ganz. Eine starke Affektion kann die affektive Kraft anderer Widerfahrnisse

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Wachsein und Subjektivität

hemmen. 632 Etwas tritt auf und bringt anderes zum verschwinden. Von daher gesehen erscheint jedes pathisch Bewusste als eines, das auch nicht bewusst sein kann, wobei dieses »Können« nur besagt, dass etwas von selbst verschwindet, und nicht, dass das Subjekt es zum Verschwinden bringt. Wenn pathisch Bewusstes aus dem Bewusstsein schwindet, taucht doch immer wieder neues auf, das eine Weile dauert und dann vergeht. Daran kann man nicht aufwachen. Dazu muss erst eine Distanz entstehen zwischen dem, was bewusst ist und dem Subjekt, dem es bewusst ist. Sind wir pathisch wach, ist alles, was bewusst ist, bewusst durch Betroffenheit, und wir selbst sind uns bewusst als das, was betroffen wird. Eine Distanz zum pathisch Bewussten kann, wie wir gesehen haben, 633 nur entstehen, wenn es gelingt, ein Selbstbewusstsein zu gewinnen, das nicht davon abhängt, ob wir betroffen werden. Ein solches dürfte erst aufkommen, wenn das Streben, nicht betroffen zu werden, befriedigt wird. Doch das allein wird nicht hinreichen, denn wir fühlen uns auch dann nicht betroffen, wenn etwas von selbst aus dem Bewusstsein schwindet. Dabei bewegen wir uns in einem Grenzbereich des Betroffenseins: Wir fühlen uns nicht mehr betroffen, haben aber noch kein aktives Selbstbewusstsein gewonnen. Entsprechend sind wir immer noch pathisch und nicht aktiv wach, wenn auch sozusagen in einer Null-Sphäre des Betroffenseins. Damit wir aufwachen können muss die Intensität des Betroffenseins merklich abnehmen. Nur so kann sich die Erfahrung einstellen, dass pathisch Bewusstes aus dem Bewusstsein schwindet. Dagegen scheint zu sprechen, dass wir nicht selten aus stark affektiver Betroffenheit aufwachen, vielleicht auf dem Höhepunkt eines schreckhaften Albtraums. Zumindest glauben wir aufzuwachen, aber wir wachen in solchen Fällen nicht in aktives Wachsein auf. Zwar träumen wir nicht mehr, wir können wahrnehmen, aber dieses Wahrnehmen ist (noch) nicht aktiv. Wir sind noch ganz benommen und noch immer in die schreckhaften Gefühle verstrickt. Deutlich abnehmende Betroffenheit scheint eine Bedingung für das Aufwachen zu sein, wobei Einzelnes ganz aus dem Bewusstsein schwinden kann. Die Erfahrung, dass das, was pathisch bewusst ist, auch nicht bewusst sein kann, löst divergierende Gefühle aus. Zur Angst, betroffen zu werden, kommt die Hoffnung, nicht mehr betroffen zu wer632 633

Vgl. oben S. 461 Siehe oben S. 435.

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Metamorphosen der Subjektivität

den, denn was aus dem Bewusstsein schwindet, kann uns nicht mehr betreffen. Wie wir gesehen haben, kann dieselbe Erfahrung auch Angst auslösen, nicht mehr betroffen zu werden und in Bewusstlosigkeit zu versinken. Betrifft mich nur noch solches, dem kaum mehr affektive Kraft zukommt, gerät der Fluss des Geschehens ins Stocken 634, was die Hoffnung stärkt, nicht mehr betroffen zu werden, aber auch die Angst vor Bewusstlosigkeit. Verschwindet Einzelnes ganz aus dem Bewusstsein, kann das als Erfüllung der Hoffnung, nicht mehr betroffen zu sein, erlebt werden. D. h. zunächst nur: Was ich erhoffe, geschieht. Es hat sich gezeigt, dass das nicht ausreicht, damit ein nicht-pathisches Selbstbewusstsein entstehen kann. Dazu muss ich ein Bewusstsein davon gewinnen, dass etwas darum aus dem Bewusstsein schwindet, weil ich danach strebe, dass dies geschehe. Statt nur danach zu streben, nicht betroffen zu werden, muss ich danach streben, etwas bestimmtes pathisch Bewusstes aus dem Bewusstsein zu drängen. 635 Damit entsteht das Bewusstsein eines eigenen mentalen Könnens und ein erstes, anfängliches Selbstbewusstsein, das nicht-pathisch ist, aber auch eine Distanz zwischen uns und dem, was noch pathisch bewusst ist. Wir, die wir aktiv wach sind, können dieses aufkeimende Bewusstsein eines Könnens mit anderen Vorkommnissen des aktiven Wachseins in Verbindung bringen, nämlich solchen, bei denen wir etwas bewusst haben wollen, und dann das geschieht, was wir wollen. Nach allem, was wir über das aktive Bewusstsein erfahren haben, wird man dies kaum mehr für bloßen Schein halten oder als Rückfall in magisches Denken abtun. Davon kann keine Rede sein, solange wir in der Immanenz des Bewusstseins verbleiben. Es scheint einen Zusammenhang zwischen unserem Streben, nicht betroffen zu werden, und dem, was geschieht, zu geben, den wir nicht kennen. Wir können mit unserem Streben und Wollen allein nichts in der Welt bewirken, aber in unserem Bewusstseinsleben schon, wie sich vor allem am Erinnern- und Phantasieren-Wollen gezeigt hat. Suche ich z. B. verzweifelt nach einem Wort in einer Fremdsprache, fällt es mir nicht selten von selbst ein und wäre mir kaum eingefallen, wenn ich nicht danach gesucht hätte. Warum sollen wir unserem Streben oder Wollen nicht auch das Umgekehrte zutrauen, nämlich etwas aus dem Bewusstsein schwin634 635

Vgl. oben S. 279. Siehe oben S. 437.

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Wachsein und Subjektivität

den zu lassen? Die Fälle, die eine Wirksamkeit des mentalen Wollens nahelegen, sind allerdings solche affektiver Weckung: Ein stark affektiver Sinn überträgt die Affektivität auf einen ähnlichen Sinn und demonstriert dadurch seine weckende Kraft. In unserem Fall geht es aber um das Gegenteil: Einem Sinn soll die Kraft, betroffen zu machen, genommen werden. Aber auch das ist mit dem Wecken eines Sinnes verbunden, denn wenn ein Sinn geweckt wird, tritt er in den Vordergrund und anderes in den Hintergrund. Besonders gut zeigt sich das an konkurrierenden Affekten. In solchen Fällen kann sich der stärkste Affekt durchsetzen und die anderen in den Hintergrund drängen. Gute Beispiele dafür liefern Tagträume: Eine stark affektiv besetzte Erinnerung fällt mir ein, ich versinke tagträumend in sie und verliere mich in dem vergangenen Geschehen, das sich mir phantasierend weiter ausmalt. Dadurch wird laufend die wahrgenommene Umgebung in den Hintergrund gedrängt. Ein stark affektives Erlebnis drängt sich in den Vordergrund, indem es andere Affektionen hintergründig werden lässt und damit schwächt. Können wir das auch dem Streben, nicht betroffen zu werden, zutrauen? Vielleicht möchte man antworten: Ja, wenn es durch irgendeine Affektion stark besetzt ist. Aber dann wären nicht wir es, die danach streben, nicht betroffen zu werden, sondern etwas in uns. Das Resultat gliche eher einer Verdrängung als einem Schwinden aus dem Bewusstsein. Es scheint, wir können nur aufwachen, wenn unser Streben, nicht betroffen zu werden, die nötige affektive Kraft selbst aufbringt, etwas aus dem Bewusstsein schwinden zu lassen. Anders kommen wir aus dem pathischen Wachsein nicht hinaus. Wir müssen die defensive Haltung dieses Strebens aufgeben und offensiv werden, indem wir beginnen, vordergründig pathisch Bewusstes sozusagen wegzustreben. Wenn wir dies im Hoffen, nicht betroffen zu werden, fühlen, setzt eine tief greifende Metamorphose des Subjekts ein. Bringt es dies zustande und schwindet ein pathisches Erlebnis aus dem Bewusstsein, wird dies als Erfüllung der Hoffnung, nicht betroffen zu werden, erlebt. Ich erfahre, dass mein Widerstreben im Reich des pathischen Wachseins etwas bewirken kann und fühle mich als Urheber des Schwindens des Betroffenseins. Damit tritt das Gefühl auf: Etwas ist durch mich. Wenn oben davon die Rede war, die Betroffenheit müsse generell abnehmen, damit ein pathisch waches Subjekt aufwachen kann, so steht das nicht im Widerspruch zu dem Umstand, dass das Subjekt sich für den Urheber des Verschwindens einzelner Bewusstseinserlebnisse halten kann. Vielmehr ist die Abnahme der 486 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Metamorphosen der Subjektivität

Betroffenheit eine Voraussetzung für dieses Dafürhalten. Ohne sie käme keine Hoffnung auf, nicht betroffen zu werden, und ohne Hoffnung keine Erfüllung. Der Punkt, an dem das pathische Wachsein beginnt in das aktive umzuschlagen, dürfte da zu lokalisieren sein, wo die Hoffnung, nicht betroffen zu werden, erfüllt wird. In diesem Zustand können wir noch nicht entscheiden, auch nicht hoffen, entscheiden zu können. Um etwas hoffen zu können, muss man schon einigermaßen mit dem vertraut sein, was man erhofft, was in unserem Fall Erfahrung davon voraussetzt, wie es ist, entscheiden zu können. Ein Subjekt, das noch nie entschieden hat, kann nicht hoffen, entscheiden zu können. Es muss erst lernen zu entscheiden, und erst wenn es entscheiden kann und das dazu erforderliche Können habituell geworden ist, kann es auch hoffen, entscheiden zu können. Das pathisch wache Subjekt hofft nicht, entscheiden zu können, es kann nur hoffen, nicht betroffen zu werden. Diese Hoffnung wird erfüllt, wenn sie sich auf bestimmte pathisch bewusste Inhalte richtet und diese aus dem Bewusstsein schwinden. Bedeutet das nicht, dass wir dieses Erfüllungsbewusstsein als ein aktives Bewusstsein deuten müssen? Nein: Ein schwindendes pathisches Bewusstsein betrifft uns immer noch. Die Intensität des Betroffenseins mag gegen Null gehen, aber was jeweils bewusst ist, ist pathisch bewusst. Man muss aber zugeben, etwas aus dem Bewusstsein schwinden zu lassen, ist ein mentales Können, wenn auch ein negatives: Wir können damit nicht etwas bewusst haben, nur etwas nicht bewusst haben. Dennoch dürfen wir annehmen, es sei etwas vom Ersten, wenn nicht das Erste, was wir mental können. Können wir das und erfüllt sich die Hoffnung, nicht mehr betroffen zu werden, erscheint das, was noch pathisch bewusst ist, als etwas, das verschwinden soll. Wir haben gesehen, dass die Hoffnung, nicht betroffen zu werden, nur eines von zwei widersprechenden Gefühlen ist, die aufkommen, wenn die Intensität des Betroffenseins schwindet. Das andere ist die Angst vor Bewusstlosigkeit. Durch sie erscheint das, was noch pathisch bewusst ist, als etwas, das bewusst sein soll. Damit entsteht eine Situation, die Entscheidung fordert. Das Entscheiden kann gelingen oder misslingen. Es besteht anfänglich in einem Stellungnehmen zu dem, was pathisch bewusst ist. Soll dieses weiterhin bewusst sein oder nicht? Das Entscheiden im Stellungnehmen ist nebst der Erfüllung der Hoffnung, nicht betroffen zu werden, ein anfängliches mentales Können und muss eingeübt 487 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Wachsein und Subjektivität

werden. Dann kann ich nicht nur darüber entscheiden, ob etwas bewusst oder nicht bewusst sein soll, sondern auch darüber, ob ich etwas bewusst haben will, das nicht selbst präsent ist, sondern nur durch Kennzeichnungen oder leere Verweisungen. Dazu kommt das absichtliche Eingreifen in Bewusstseinsabläufe und ihre Steuerung. Das alles ermöglicht dem aktiv wachen Subjekt, auf pathischem Bewusstsein aufbauend, in einer Weise zu sein, über die es selber bestimmen kann, wenn auch vom Gefühl begleitet, durch jederzeit mögliches Betroffenwerden gefährdet und auf Geschehendes angewiesen zu sein. Der Übergang vom pathischen zum aktiven Wachsein hebt sich von den bisher beschriebenen Metamorphosen als eine ab, durch die wir uns am meisten auf uns selbst gestellt fühlen, auch wenn wir den Verstrickungen in das, was uns geschieht, nicht entkommen. Immerhin hängt nun der Verlauf unseres Bewusstseinslebens auch von unseren Entscheidungen ab, durch die wir etwas in Gang setzen oder in Gang Gesetztes kontrollieren oder beeinflussen können. Im Entscheiden und im Bewussthabenwollen von etwas sind wir aktiv wach. Ist das Entscheiden eingeübt und habituell geworden, hoffen wir, entscheiden zu können, denn nun wissen wir, was wir wollen. Durch diese Hoffnung erscheint das, was noch pathisch bewusst ist, als ein Mögliches, über dessen Bewusst- oder Nichtbewussthaben entschieden werden kann. Hinsichtlich unserer Gedanken führt dies zu einer epistemischen Fraglichkeit 636: Wird das Bewussthaben von pathischen Gedanken fraglich, wird ihre Wahrheit fraglich, denn ihr Bewussthaben besteht im Fürwahrhaltenmüssen. Auch diese Fraglichkeit fordert Entscheidung, aber solche Entscheidungen verlangen ein Suchen nach dem, was als Grundlage für eine Entscheidung dienen kann. Das Bewusstsein, etwas, das bewusst ist, könne auch nicht bewusst sein, führt bei Gedanken zum Bewusstsein, etwas sei anders als gedacht. Wahrheit ist damit nicht länger etwas, das feststeht, sondern etwas, das es zu suchen und zu finden gilt. Erst damit kommt ein Interesse an Wahrheit auf. Im Aufwachen zum aktiven Wachsein und entsprechend im Einschlafen zum pathischen wandelt sich unser Subjektsein grundlegend. Nun ist uns nicht nur solches bewusst, das uns widerfährt und uns betrifft. Wir können uns von dem, was wir erleiden, distan-

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Siehe oben S. 284.

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Aufwachen als Befreiung, Einschlafen als Bindung

zieren, uns aus der Abhängigkeit vom Pathischen lösen und solches bewusst haben, für dessen Bewussthaben wir uns entschieden haben. Jede Aktualisierung dieses Könnens ist ein Aufwachen, nicht in dem Sinne, dass wir mehr von dem können, was wir können, wenn wir pathisch wach sind, sondern weil uns Möglichkeiten offen stehen, die ein nur pathisch waches Subjekt nicht zu erahnen vermag. Mit jedem Einschlafen geht dieses Können wieder in Inaktualität über. Dabei muss daran erinnert werden, dass dies nicht die einzige Metamorphose ist, die das Subjekt durchmacht, es ist nur die tiefgreifendste einer Reihe. Im Verfolgen dieser Metamorphosen zeigt sich das Subjekt als eines, das nicht bloß unterschiedliche Funktionen ausübt, sondern als eines, das sich mit dem Ausüben einer neuen Art von Funktion selbst verändert. Um eine bestimmte Funktion ausüben zu können, muss das Subjekt entsprechend wach sein, und wach zu sein ist ein Zustand seiner selbst. Verändert sich das Wachsein, verändert sich der Zustand des Subjekts und mit ihm seine Seinsmöglichkeiten.

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Aufwachen als Befreiung, Einschlafen als Bindung. Zur philosophischen Bedeutung des Wachseins

Man kann das Aufwachen aus dem pathischen Wachsein als einen Prozess der Ablösung und Befreiung deuten. Bin ich aktiv wach, hängt mein Selbstbewusstsein nicht mehr von dem ab, was mir geschieht, ich fühle mich nicht als erleidendes, nicht als pathisches Subjekt, sondern als eines, das entscheiden und damit etwas in Gang bringen kann, sei es ein technisches Herstellen, eine Handlung oder einen Prozess des Bewusstwerdens. Darin eine Befreiung aus einer Abhängigkeit zu sehen, ist nicht von der Hand zu weisen. Im pathischen Wachsein ist unser Selbstbewusstsein an das gebunden, was uns betrifft, denn es besteht im Sich-betroffen-Fühlen. Sind wir aktiv wach, können wir unserer selbst bewusst sein, ohne betroffen zu werden, wir können uns von dem distanzieren, was uns betrifft, und uns davon befreien. Dann lösen wir uns von der Gebundenheit an das, was uns geschieht, und schlafen im Sich-Binden an das Pathische wieder ein. Wollen wir diesen Gedanken weiter verfolgen, muss zunächst klarer werden, von was für einer Abhängigkeit wir uns da befreien, denn es dürfte deutlich geworden sein, dass wir, auch wenn wir aktiv wach sind, in vielfältiger Weise von Pathischem, jedenfalls von Geschehendem abhängig bleiben. Dann müssen wir uns noch einmal 489 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

Wachsein und Subjektivität

damit auseinandersetzen, wann und warum diese Befreiung einsetzt und welche Phasen sie durchläuft. Die Abhängigkeit, aus der wir uns im Aufwachen aus dem pathischen Wachsein befreien, besteht im Gebundensein des Subjekts an das Betroffenwerden. Im Betroffensein oder in der Furcht, betroffen zu werden, sind wir pathisch wach und unserer selbst pathisch bewusst; im Betroffensein als Betroffene, in der Furcht vor ihm als solche, die wahrscheinlich betroffen werden. Diese Gebundenheit an das Pathische bildet keine ununterscheidbare Einheit: Das Subjekt kann sehr wohl zwischen dem eigenen Betroffensein und dem, von dem es betroffen wird, unterscheiden. Dennoch bleibt es vom Betroffenwerden abhängig, weil es sein Selbstbewusstsein darin findet, selbst betroffen zu sein bzw. wahrscheinlich selbst betroffen zu werden, und ohne betroffen zu werden, nicht seiner selbst bewusst sein könnte. Die Befreiung setzt ein, wenn zwischen dem Subjekt und dem Bereich des pathischen Erlebens eine Distanz entsteht, was voraussetzt, dass wir auf eine nicht-pathische Weise wach sind, schon bevor wir entscheiden können. Erst dann können wir uns zum Pathischen verhalten und erst dann können wir entscheiden und kann sich eine Situation herausbilden, welche Entscheidung fordert. Befreiung allein bleibt steril, wenn sie nicht zu Entscheidungen führt, und mit jeder Entscheidung binden wir uns an das, wofür wir uns entschieden haben und damit an das, was wir bewusst haben wollen. Ein Subjekt wird aktiv wach und kann entscheiden, wenn es sich aus der Abhängigkeit vom Pathischen löst. Dazu genügt es nicht, sich von dem unterscheiden zu können, was bewusst ist, es muss sich seiner selbst auf eine Weise bewusst sein, die nicht davon abhängt, ob es betroffen wird. Das ist im Entscheiden der Fall, aber ohne Distanz zum Pathischen kann das Subjekt nicht entscheiden. Es muss schon zuvor ein Selbstbewusstsein gewinnen, das ohne Entscheiden und Wollen auskommt und doch nicht auf Betroffenheit beruht. Wir haben gesehen, dass uns nicht erst das Entscheiden vom Pathischen befreit, die Befreiung geht ihm voraus, sie beginnt, wenn das Subjekt in der Erfüllung des Hoffens, nicht betroffen zu werden, fühlt, dass es etwas pathisch Bewusstes aus dem Bewusstsein drängen kann. Damit ist es sich nicht mehr als Erleidendes, sondern als eines bewusst, das etwas kann. Dass es danach strebt, nicht betroffen zu werden, fühlt es schon im Betroffenwerden und in der Angst vor ihm. Aber damit es aufwachen kann, muss ein implizites Urteilen entstehen, das nicht 490 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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nur ein Schwinden des pathisch Bewussten konstatiert, sondern dieses Schwinden auf ein eigenes Können zurückführt. Es muss ein Bewusstsein der Wirksamkeit mentalen Strebens aufdämmern, zunächst einmal der Wirksamkeit des Strebens, nicht betroffen zu werden, und das ist schon ein Bewusstsein eigenen Könnens. Kommt es dazu, muss man in der Befriedigung des Strebens, nicht betroffen zu werden, den Beginn der Befreiung vom Pathischen sehen. Wir fühlen uns befriedigt, weil wir einzelne Ereignisse des Betroffenseins sozusagen weggestrebt haben. Das ist ein Bewusstsein eigenen Könnens. In ihm stellen wir uns in Gegensatz zur gesamten Sphäre des Pathischen. Damit ist die Distanz entstanden, die das Herausbilden einer Situation ermöglicht, welche Entscheidung fordert. Die Befriedigung des Strebens, nicht betroffen zu werden, wie auch die Hoffnung darauf, sind ebenso Urteilsgefühle dieses Strebens wie die Frustration im Betroffensein und die Furcht, betroffen zu werden. Damit sind sie, wie diese, Gefühle des Wachseins. Ich habe alle Urteilsgefühle dieses Strebens pauschal als solche des pathischen Wachseins bezeichnet. Das ist nicht falsch, weil das Streben, das befriedigt wird, immer noch das Streben ist, nicht betroffen zu werden, und nicht eines nach Entscheidung. Aber die Befriedigung dieses Strebens und die Hoffnung auf sie sind insofern Grenzfälle, als wir uns in der Befriedigung dieses Strebens nicht betroffen fühlen, sondern das Gefühl haben, etwas zu können, nämlich etwas aus dem Bewusstsein schwinden zu lassen. Darum sind beide nicht Gefühle des pathischen Wachseins, wie die anderen Urteilsgefühle dieses Strebens, denn soweit wir dabei das Gefühl haben, etwas zu können, müssen wir sie zum aktiven Wachsein zählen, auch wenn wir noch nicht entscheiden und etwas durch Entscheidung bewusst haben können. Auf diese Weise wach zu sein, ist eine notwendige Bedingung für die Entstehung der Fähigkeit, entscheiden zu können, was wir bewusst haben wollen, wie auch für das willentliche Eingreifen in Bewusstseinsabläufe und das Entscheiden darüber, was wir tun und lassen sollen. Ein nicht-pathisches Selbstbewusstsein und damit eine Distanz zum Pathischen kann nur erreicht werden, wenn es gelingt, auf solche nicht-pathische Weise wach zu sein. In der Freiheit und insbesondere in der Freiheit des Geistes etwas spezifisch Menschliches sehen zu wollen, ist ein alter Topos der Philosophie. Ich habe in diesen Untersuchungen zu zeigen versucht, dass die Freiheit des Denkens und Handelns nur möglich ist, wenn wir uns im Wachsein aus den Bindungen an das Betroffensein lösen können. 491 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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Diese Befreiung ist ein Aufwachen, durch das sich Horizonte eröffnen, die dem pathischen Wachsein verschlossen bleiben. Was wir gewöhnlich für das spezifisch Menschliche ansehen, dasjenige, wodurch Personen als Personen bestimmt sind, setzt Distanz zum pathischen Erleben voraus. Das ist kein Plädoyer für eine völlige Unabhängigkeit vom Pathischen, denn in der Distanz, die wir durch diese Befreiung gewinnen, sind wir noch auf das Pathische bezogen: Negativ, indem wir es dauernd von uns abhalten müssen, aber auch positiv, indem es auch im aktiven Wachsein noch als Geschehendes bemerkbar und wirksam bleibt. Aktiv wach hängen wir in vielfältiger Weise vom Pathischen ab: Im aktiven Wahrnehmen ist dies ohnehin der Fall, aber auch im aktiven Vergegenwärtigen. Einerseits, weil wir dabei hintergründig pathisch wahrnehmen müssen, andererseits, weil aktives Vergegenwärtigen und Denken auf ein geschehendes Vergegenwärtigen und Denken angewiesen sind, wie es sich zeigt, wenn uns einfällt, was wir vergegenwärtigen oder denken wollen. Frei von Pathischem sind wir nur, wenn wir das, was bewusst wird, tätig erzeugen, wie im Rechnen oder schlussfolgerndem Denken, aber selbst da nicht ganz, weil auch das nur im Vergegenwärtigen möglich ist. Sich aus der Betroffenheit zu lösen, wird als Befreiung erlebt. Es ist dann nur konsequent, umgekehrt das Einschlafen in pathisches Wachsein als ein Sichbinden zu verstehen. Dieses Einschlafen ist sowenig aktiv und gewollt wie das Aufwachen. Das gilt auch von der Bindung ans Pathische. Mit dem Einschlafen wird das Selbstbewusstsein wieder pathisch und wir schlafen, weil wir nur noch pathisch wach sind. Damit tritt einmal mehr die Relativität der Begriffe des Schlafens und Wachens hervor. Wir schlafen, wenn wir eingeschlafen, d. h. von einem wacheren in einen weniger wachen Zustand übergegangen sind. Ich habe das pathische Wachsein »wach« genannt im Vergleich zu einem Zustand relativer Bewusstlosigkeit, aus dem heraus wir in pathisches Wachsein aufwachen. Im Vergleich zum aktiven Wachsein schlafen wir. Das pathisch wache Subjekt ist an das gebunden, was ihm bewusst ist, und kommt nur schwerlich davon los. Diese Gebundenheit nimmt unterschiedliche Qualitäten an, die denen des Betroffenseins entsprechen, welche die Modi des pathischen Wachseins bestimmen. Wir lösen uns von diesen Bindungen, wenn wir aufwachen und in der Befriedigung des Strebens, nicht betroffen zu werden bzw. entscheiden zu können, wach sind. Wir schlafen ein, wenn die Distanz zwischen Selbstbewusstsein des Subjekts und dem pathisch Bewussten wieder schwindet. Nach dieser Auffassung schla492 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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fen wir nicht erst, wenn der Leib schläft und wir unfähig sind, willkürlich den Körper zu bewegen, und die Sinnesempfindungen ausfallen. Wir schlafen schon, wenn wir bei noch wachem Leib unaufmerksam passiv wahrnehmen oder ganz Erinnerungen, Phantasien oder Gedanken hingegeben sind, die uns einfallen. Das ist so wenig ein Tiefschlaf wie der Schlaf des Leibes. Im Vergleich zu noch dumpferen Zuständen können wir auch sagen, wir seien wach, genauer: pathisch wach, weil es eben noch wachere Zustände gibt. Bloße Befreiung wird steril, wenn sie in Negativität verharrt, ohne neue Bindungen aus Freiheit einzugehen. Auf solche Weise binden wir uns im Entscheiden. Entscheiden wir uns dafür, etwas zu tun oder bewusst haben zu wollen, so binden wir uns an die Absicht, für die wir uns entschieden haben. Diese Bindungen sind von ganz anderer Art als die pathischen. Wir sind sie aus Freiheit eingegangen und können sie aus Freiheit wieder lösen, denn sie beruhen allein auf unserer Entscheidung. Im Wollen, etwas zu realisieren oder bewusst zu haben, setzen sie sich fort. Solange wir aktuell etwas wollen, können wir eine Entscheidung wieder in Frage stellen. Damit trennen wir uns von der vergangenen Bindung, was eine neue Entscheidung und erneute Bindung möglich macht. Von der Bindung durch das Betroffensein distanzieren wir uns durch das Streben, nicht betroffen zu werden, von der Bindung durch das Entscheiden durch erneutes Entscheiden. Eine Bindung durch Entscheidung besteht wenigstens solange, als ich entschieden bin, eine Absicht zu verfolgen. Sie unterscheidet sich von den pathischen Bindungen nicht nur dadurch, dass sie durch bloßes Infragestellen gelöst werden kann, sondern auch durch ihre Qualität. Besteht die Gebundenheit im pathischen Wachsein im Betroffensein, dessen unterschiedliche Qualitäten allesamt pathisch sind und in eben diesem Wachsein gefühlt werden, so setzt sich die Gebundenheit des aktiven Wachseins im Wollen der Absicht fort. Je beharrlicher wir etwas wollen, desto stärker sind wir an das Gewollte und damit an die Entscheidung gebunden. Um eine Absicht zu realisieren, sagten wir, muss man das dazu notwendige Können aktualisieren können. Wollen wir eine Absicht verwirklichen oder etwas bewusst haben, wollen wir auch das dazu notwendige Können. Insofern sind wir nicht nur an die vergangene Entscheidung gebunden, sondern auch an ein Können, das wir erst aktualisieren müssen. Die Bindung an das Gewollte ist notwendig, damit ein Wollen zustande kommt. Wir können nicht wollen, ohne das, was wir wollen, bewusst 493 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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zu haben, und zwar, wenn wir beharrlich wollen, solange bis es befriedigt ist oder in Frustration umschlägt. Wenn wir uns im Einschlafen an etwas binden und im Aufwachen davon lösen, dann schlafen wir umgekehrt zumindest bei gewissen Weisen des Sich-Bindens ein. Dazu gehört sicherlich das SichBinden im Betroffensein. Aber schlafen wir auch ein, wenn wir uns durch Entscheiden binden? Das kann nicht sein, denn das Gebundensein an die Entscheidung ist von ganz anderer Art als das im pathischen Wachsein. In diesem ist die Distanz aufgehoben, die in jenem besteht. Das Gebundensein im aktiven Wachsein ist, obschon für ein Wollen notwendig, in das Belieben des Subjekts gestellt, das sich jederzeit davon lösen und etwas anderes wollen kann. Wir können es im Vergleich zur pathischen eine aktive Bindung nennen. Wollten wir es dennoch als eine Art Schlaf verstehen, müssten wir fragen, welcher Zustand im Vergleich dazu der wachere wäre. Es müsste ein noch ungebundenerer Zustand sein, und dafür käme wohl nur der Prozess der Entscheidungsfindung selbst in Frage, bevor die Entscheidung gefallen ist. In der Unruhe dieses Prozesses sind noch mehrere Möglichkeiten offen, im Entscheiden bindet man sich an eine, was man als ein Einschlafen deuten kann, wenn man denn will. Aber was wäre das für ein merkwürdiger Schlaf, aus dem man jederzeit willentlich aufwachen kann? Er stünde im Widerspruch zu allen Erfahrungen, die wir mit Schlaf machen, wie auch zu den grundlegenden Eigenheiten, die wir ihm zuschreiben. Was immer wir unter Schlaf verstehen, darüber dürfte Einigkeit herrschen, dass es ein Zustand ist, den wir weder willentlich herbeiführen noch willentlich verlassen können. Im Sichbinden an eine Entscheidung schlafen wir nicht ein, weil wir immer noch entscheidungsfähig bleiben. Solche Bindungen sind notwendig, damit aktive Subjektfunktionen zustande kommen. Können wir entscheiden und etwas bewusst haben wollen, so können wir mit dem, was bewusst geworden ist, nach Regeln anderes erzeugen, was wir noch nicht bewusst haben. Wir können aus Prämissen Schlüsse ziehen und Beweise führen, wir können rechnen und berechnen, Figuren und Pläne konstruieren. Wir erzeugen aus dem, was uns bewusst ist, anderes, das durch unser konstruierendes Tun gleichfalls bewusst wird. Wären wir nur aktiv wach und beschränkten sich unsere Subjektfunktionen auf das, was wir selber konstruieren, verlören wir mit der Befreiung von der Gebundenheit ans Pathische auch den Kontakt zum eigenständig Seienden, das uns begegnet. Subjektunabhängiges ist uns ursprünglich nur pathisch zugänglich als 494 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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das, was sich unserem Wollen widersetzt und unser Streben frustriert. Es begegnet uns zunächst im Wahrnehmen als etwas, das sich von sich her zeigt, aber auch im aktiven Wachsein in jenen merkwürdigen Einstellungen, die ich als »Passivität in der Aktivität« bezeichnet habe. 637 Statt eine Tätigkeit in Gang zu setzen und zu motivieren, wirkt mein Wachsein weckend auf das, was ich bewusst haben will. Wenn es gelingt, finde ich in der Folge das, wonach ich suche, sei es ein Vergangenes oder ein Gedanke, der mein Problem löst. Das ist ein geschehendes Erinnern oder ein geschehendes Denken, ohne dieses wären Wiedererinnerungen bloße Konstrukte. So bleibt uns auch im aktiven Wachsein noch eigenständig Seiendes zugänglich, aber nur, wenn Geschehendes in unser Suchen einbricht. Verstehen wir das Aufwachen in aktives Wachsein als Befreiung, dürfen wir nicht vergessen, was ihm vorangegangen ist. In ihm befreien wir uns von der Bindung ans Pathische. Aber auch das pathische Bewusstsein ist entstanden und hat seine Geschichte, die ich zu rekonstruieren versucht habe. 638 Ist Wachsein im weitesten Sinne Bereitschaft zu bewusstem Erleben, dann müssen wir auch im Entstehen dieser Bereitschaft ein Aufwachen sehen. Wir haben angenommen, der Zustand, aus dem wir in diesem Sinne aufwachen, sei nicht unbewusst, aber was uns dabei bewusst ist, ist lediglich ein undifferenziertes, chaotisches Taumeln. Dieses Aufwachen ist ein Übergang vom Zustand des Taumelns in den der Angst vor der Wiederkehr des Taumels als der Angst, irgendwie betroffen zu werden. Diese Angst ist ein pathisches Wachsein im Sinne der Bereitschaft zu bewusstem Erleben. Ich stelle die Frage, mit welchem Recht wir auch diesen Übergang als ein Aufwachen bezeichnen, vorerst zurück und beschränke mich darauf, noch einmal diesen Übergang nachzuzeichnen. Wie Herodot die Welt durch zunehmende Differenzierung aus dem Chaos entstehen ließ, so ergeben sich aus dem ursprünglichen Taumel Unterschiede, freilich nicht durch das Wirken der Götter, sondern, zumindest anfänglich, aus der Wiederholung des Taumels. 639 Der ursprüngliche Taumel schien mir ein noch ganz undiffe637 Siehe oben Kap. III, 10 Die Phänomene der Passivität in der Aktivität und die Modi des aktiven Wachseins. 638 Siehe oben Kap. II, 1 Der Taumel und die Angst vor seiner Wiederkehr. 639 Vgl. E. Angehrn: Die Überwindung des Chaos. Zur Philosophie des Mythos, Frankfurt a. M. 1996. Angherns Thema ist der Mythos als Vorgeschichte der Metaphysik. Dabei zeichnen sich einige Parallelen zwischen dem mythischen Denken und unserer Thematik ab, so z. B. zwischen Chaos und ursprünglichem Taumel (S. 133 ff.),

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renziertes Bewusstsein zu sein. Es ist eine Art Schwindel am Rande zur Ohnmacht. In ihm kann ich mich weder von anderem unterscheiden noch kann sich etwas von anderem abheben. 640 Würden wir bloß taumeln, käme kein pathisches Bewusstsein zustande, das intentional ist. Der erste Schritt dazu schien mir die Wiederholung des Taumels zu sein. So können wir beim Einschlafen oder Aufwachen des Leibes wiederholt durch den Taumel gehen, wenn wir in (mehr oder weniger) bewusstlosen Schlaf sinken und aus ihm wieder erwachen. Im Vergehen des Taumels entsteht die Angst, er könne wiederkehren. Damit stoßen wir auf einen ersten, ursprünglichen Unterschied: Den zwischen mir, der ich mich ängstige, und dem, wovor ich mich ängstige. Diese Angst ist ein erstes intentionales Bewusstsein. In ihr fühle ich mich als einer, der nach ungefährdetem Selbstsein strebt, und den wiederkehrenden Taumel als etwas Fremdes, das mich in meinem Selbstsein bedroht. Darin kann man schon ein pathisches Wachsein im Sinne der Bereitschaft zu bewusstem Erleben sehen, wenn auch eines, das noch nicht voll ausgebildet ist. Erfüllt sich diese Angst und geraten wir ins Taumeln, so taumeln wir nicht in gleicher Weise wie im ursprünglichen Taumel, denn wir fühlen uns nicht mehr in undifferenzierter Weise mit ihm eins. Jetzt ist der Taumel etwas, das über uns kommt. Er betrifft uns und in diesem Betroffensein unterscheidet sich das Betroffenwerden von dem, was uns betrifft. Damit sind wir pathisch wach im Sinne des Bei-Bewusstsein-Seins. Der wiederkehrende Taumel ist, wie der ursprüngliche, noch ganz undifferenziert. Es gibt in ihm kein distinktes Bewusstsein von etwas, das wäre erst möglich, wenn sich etwas von etwas anderem abhebt. Eben das kann der wiederkehrende Taumel nicht leisten. Er füllt mein Bewusstseinsfeld zur Gänze aus, außer ihm gibt es nur noch mich, der ich mich betroffen fühle. Vergeht er, können wir wieder erneut in Taumel geraten, ohne dass sich dieser vom vorhergehenden unterscheidet, denn ein Taumel ist so undifferenziert wie der andere. Es gibt immer nur den sich wiederholenden Taumel, aber durch bloße Wiederholung kann kein differenziertes Bewusstsein entstehen. der Angst vor dem Chaos und der Angst vor der Wiederkehr des Taumels (S. 142 ff.) und der Überwindung des Mythos und dem Aufwachen aus dem pathischen Wachsein (S. 181 ff.). 640 Vgl. oben S. 125.

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Es scheint, der wiederkehrende Taumel trage nur insofern etwas zum Aufwachen bei, als er die Gelegenheit herbeiführt, die Angst vor dem Taumel entstehen lässt. Ich habe diese Angst als ein Wachsein im Sinne der Bereitschaft zu bewusstem Erleben gedeutet, nicht weil durch sie der Taumel bewusst würde, denn das ist er als Wiederholung des ursprünglichen Taumels ohnehin. Der Grund dafür ist ein anderer: Ist diese Angst erst einmal entstanden, dann kann alles bewusst werden, was sie zu erfüllen vermag. Das kann nur solches leisten, was mich wenigstens annäherungsweise in Taumel versetzt, und das kann es nur, wenn es affektive Kraft aufweist, sei es, weil sich in ihm etwas von etwas anderem abhebt oder weil es ein Streben oder ein Gefühl ist, das mich ergreift. Damit erfahren wir die Angst vor der Wiederkehr des Taumels als eine Angst, betroffen zu werden. Erst wenn wir nicht durch Taumel, sondern durch etwas betroffen werden, das wenigstens insofern in sich unterschieden ist, als sich in ihm etwas gegen einen Hintergrund abhebt, entsteht ein intentionales Bewusstsein. Erst da sind wir endgültig in pathisches Wachsein aufgewacht. Mit welchem Recht nennen wir auch das ein Aufwachen? Aufwachen kann man in seiner ursprünglichen Bedeutung als ein WachWerden verstehen. Insofern ist das Entstehen des pathischen Wachseins aus dem ursprünglichen Taumel ein Aufwachen in diesem ursprünglichen Sinn. Das Aufwachen in aktives Wachsein ist dagegen nicht gleich ursprünglich. Im Übergehen ins aktive Wachsein fühlen wir uns intuitiv wacher, obschon das aktive Wachsein keine Steigerung des pathischen ist, sondern eine andere Qualität des Wachseins. Wenn wir uns im aktiven Wachsein wacher fühlen als im pathischen, dann darum, weil wir uns nicht mehr an Pathisches gebunden fühlen und aktiv in unser Bewusstseinsleben eingreifen können. Oben habe ich diesen Übergang als die »einschneidenste und gründlichste Metamorphose der Subjektivität« bezeichnet und von einem »Aufwachen in prägnanten Sinn« gesprochen, dabei sollten wir nicht vergessen, dass ihm ein anderer Übergang vorausgeht, der nicht weniger drastisch ausfällt: der vom ursprünglichen Taumel in das pathische Wachsein. Das ist freilich keine Metamorphose der Subjektivität, da in ihm Subjektivität erst entsteht. Wenn wir das Wachsein nicht einseitig von der Aktivität her verstehen, sondern als Gefühlszustand, der das ganze Subjekt sowohl in seiner Pathizität, wie in seiner Aktivität umfasst, wirft das ein neues Licht auf das Verhältnis beider zueinander. Beschränken wir 497 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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das Wachsein allein auf die Aktivität, so erscheint im Gegensatz dazu das Pathische als dumpf, leidenschaftlich und primitiv, das Aktive dagegen als Ausdruck der Vernunft. Ist das nicht falsch, so ist es doch einseitig. Aktivität kann auch in schematischen Leerlauf absinken, während das, was uns geschieht, nicht immer unserem Wollen im Weg steht, sondern dieses auch erfüllen kann. Das Pathische umfasst eben nicht nur Träume, Tagträume, Gefühle und Stimmungen, auch Weisen des geschehenden Erinnerns, Phantasierens und Denkens gehören dazu. Besonders das Denken wird zumeist als Aktivität verstanden, was es weitgehend ist, aber es gibt auch ein geschehendes Denken, auch eines, das nicht von Vorurteilen geleitet ist und dem aktiven Denken ergänzend zur Seite steht. Meist ist das noch suchende, ein Thema erst angehende Denken mehr geschehend als dasjenige, das nachdenkend das schon Gedachte überblickt und systematisiert. Wir werden durch ein zweifaches Aufwachen zu den Subjekten, als die wir uns fühlen, und verstehen, wenn wir aktiv wach sind. Die Frage, was Wachsein sei, hat uns ins Zentrum des je eigenen individuellen Menschseins geführt und auf dem Weg einer Art philosophischer Archäologie zu seinen letzten noch erfahrbaren Ursprüngen. Wenn wir auf diesem Weg auf ein Taumeln gestoßen sind, das in diffuser Weise bewusst ist, und in dem sich nichts voneinander unterscheidet, so wirft das mehr Fragen auf, als es Antworten gibt. Der ursprüngliche Taumel ist ein Letztes, auf das wir im Bemühen, die Herkunft der Bewusstheit unseres Erlebens aufzuklären, gestoßen sind. Dahinter zurückgehen zu wollen hieße, Bewusstsein aus Nichtbewusstsein verstehen zu wollen, ein Unterfangen, von dem sich kaum sagen lässt, wie es möglich sein soll. Wenn die Philosophie mit dem Staunen über die selbstverständlichen Dinge des Lebens anhebt, so müssen wir das Wachsein zu den selbstverständlichsten Selbstverständlichkeiten zählen, und dies nicht zuletzt darum, weil es uns näher steht als alles andere. Die Frage, was Wachsein sei, zählt mit gleichem Recht zu den philosophischen Fragen wie andere, die aus dem Staunen über alltägliche Selbstverständlichkeiten hervorgehen, und sie führt wie diese mitten ins Zentrum unseres Menschseins. Dies liegt nicht nur daran, dass das Wachsein eine notwendige Bedingung allen bewussten Erlebens ist, es bildet darüber hinaus auch das Medium, in dem und durch das uns etwas bewusst ist. Was bliebe von uns übrig, wenn wir immer im Tiefschlaf verharren müssten? Wir müssen wach sein, um bewusst erleben zu 498 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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können, und aktiv wach, um Fragen stellen und Antworten geben zu können. Was immer bewusst wird, ist es im Betroffensein oder in der Befriedigung unseres mentalen Wollens, das auf unserer Entscheidung beruht. Es ist eingebettet in die Gefühle des Wachseins, die unser Bewusstseinsleben zusammenhalten und Übergänge auch zwischen Weisen des Bewusstseins ermöglichen, die einander ausschließen. Man mag das zugeben und doch bestreiten, dass dem Wachsein philosophische Relevanz zukommt, indem man dafür plädiert, nur das fungierende Wachsein sei grundlegend für unser Menschsein, nicht aber die Reflexion darauf, in der dieses thematisch ist. Das Wissen, was Wachsein ist, ist kein Wachsein. Im Wissen um das Wachsein bin ich auch wach, aber dieses Wissen und das Wachsein, in dem es bewusst ist, sind nicht dasselbe. Das Wissen, was Wachsein ist, ist für unser alltägliches Leben kaum von Bedeutung, aber für unser Wissen, was wir als Menschen sind, schon. Unser Subjektsein vollzieht sich im Medium eines Wachseins, das sich von dem anderer Lebewesen unterscheiden dürfte. Dies zu wissen, kann für das Wissen, was und wie wir sind, nicht bedeutungslos sein. Was immer wir für wesentlich für unser Menschsein halten, es bleibt ohne deskriptive Erfassung unseres Wachseins unvollständig. Eine vollständige Beschreibung menschenmöglichen bewussten Erlebens muss die Tatsache enthalten, dass jedes bewusste Erleben in einem Modus des Wachseins eingebettet ist, in dem es bewusst ist. Ich habe zu zeigen versucht, wie das Wachsein einem Streben nach ungefährdetem Selbstsein entspringt, von dem wir annehmen dürfen, es sei kaum auf den Menschen beschränkt. Beim Menschen wurzelt dieses Streben in der Bedrohung durch äußere Gefahr, aber auch in der Haltlosigkeit des eigenen Seins in den Grenzsituationen des Taumelns. Dasselbe Streben hat nicht nur zum Ziel, nicht betroffen zu werden, es strebt darüber hinaus nach nicht-pathischem Bewussthaben und implizit nach Entscheidung und Bewusstsein durch Entscheidung. Damit umfasst das Fühlen dieses Strebens den ganzen Bereich des menschlichen Wachseins. Es ist ein Streben, das uns nicht betrifft, es steht uns nicht wie ein Fremdes gegenüber. Wird es frustriert, fühlen wir uns betroffen. Das weist darauf hin, dass nicht nur dieses Streben, sondern auch das Fühlen dieses Strebens und damit das Wachsein uns in einer Weise nahe stehen, wie nichts anderes. Andere Strebungen oder Wünsche tauchen auf, so dass wir uns betroffen fühlen. Dieses dürfte (nebst dem Wollen) das einzige Streben 499 https://doi.org/10.5771/9783495808023 .

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sein, das uns nicht betrifft. Wir mussten einsehen, dass das Wachsein nicht mit dem Subjektsein zusammenfällt, weil es als ein Gefühl nur zu Leistungen motivieren kann, ohne selbst etwas zu leisten. 641 Dasselbe muss man auch vom Streben nach Bewusstsein durch Entscheidung sagen: Dieses kann weder entscheiden noch Absichten realisieren. In ihm ist uns bewusst, dass wir danach streben, solche zu sein, die darüber bestimmen, was uns bewusst sein soll. Was strebt, ist immer ein konkreter Mensch in seinem Subjektsein. Wir selbst sind es, die nach Bewusstsein durch Entscheidung streben, die entscheiden und wollen, Bewusstseinsakte vollziehen und handeln. In den Urteilsgefühlen dieses Strebens fühlen wir uns wach. Im alltäglichen Leben brauchen wir uns um das Wachsein nicht zu kümmern, es bildet das selbstverständliche hintergründige Medium, in dem etwas bewusst ist. Ihm verdanken wir auch ein beständiges, hintergründiges Bewusstsein unserer selbst, das sich in allen Wachheitszuständen als Identisches durchhält und uns das Bewusstsein gibt, über die Zeit hinweg dieselbe Person zu sein. Dieses Bewusstsein verdankt sich nicht einem Vergleichen von Wachheitszuständen und einem Urteilen, dass sie alle etwas enthalten, das mit uns identisch ist. Das Wachsein als solches urteilt nicht. Stattdessen dürfte das fragliche Bewusstsein ein Produkt von Deckungssynthesen sein, die ständig in unserem Wachsein ablaufen. Bin ich pathisch wach, so fühle ich mich betroffen. Der Umstand, dass gerade ich betroffen bin, wird nicht durch Reflexion auf das Betroffensein bewusst, vielmehr ist jedes Betroffensein für jeden und jede so verfasst, dass ich mich betroffen fühle. In dieser Hinsicht deckt sich jedes eigene Betroffensein mit jedem anderen eigenen Betroffensein, und so hält sich im retentionalen Bewusstsein vergangenen Betroffenseins etwas durch, das laufend zur Deckung kommt, nämlich, dass ich betroffen worden bin und es noch werde. Das gilt entsprechend auch vom Entscheiden. Jedes retentional bewusste Entscheiden kommt mit jedem anderen und dem gegenwärtigen Entscheiden darin zur Deckung, dass ich das Gefühl habe, selbst zu entscheiden, und das gehört ebenso zu jedem aktiven Wachsein wie das Gefühl, selbst betroffen zu werden, zu jedem pathischen. Dass wir im Wachsein auf uns selbst bezogen sind, ist nicht nur von Bedeutung für das Bewusstsein, eine identische Person zu sein, es ist auch konstitutiv für das, was das Wachsein leistet: für das Bewussthaben. 641

Siehe oben S. 470.

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Das Betroffensein ist etwas vom ersten, was pathisch bewusst wird. Es ist grundlegend für alles pathisch Bewusste. Bewusst wird es, wenn sich die Furcht, betroffen zu werden, erfüllt. Diese Erfüllung erfolgt, wenn die Furcht vor Betroffenheit mit dem wirklichen Betroffensein zur Deckung kommt. Dazu genügt es nicht, dass die unerfüllte und die erfüllte Furcht vor Betroffenheit dieselbe Qualität aufweisen, ich muss auch fürchten, selbst betroffen zu werden und mich selbst betroffen fühlen. Eine Betroffenheit, von der ich mich nicht betroffen fühlte (sondern ein anderer), könnte die Furcht, selbst betroffen zu werden, nicht erfüllen. Dass Betroffenheit Selbstbewusstsein impliziert, ist eine notwendige Bedingung dafür, dass es bewusst sein kann und weiter auch das, was mich betrifft. Für das aktiv Bewusste gilt Entsprechendes: Das erste, was aktiv bewusst wird, ist das Entscheiden. Ich hoffe, entscheiden zu können, und wenn ich entscheide, erfüllt das meine Hoffnung und die Entscheidung wird bewusst. Es genügt nicht, dass Hoffnung entsteht, entscheiden zu können, und entschieden wird. Ich hoffe, selbst entscheiden zu können, und fühle, dass ich entscheide. Weder die Entscheidung eines anderen noch ein pathisches Entscheiden können diese Hoffnung erfüllen. Wach zu sein ist ein verschiedenartiges Gefühl, indem wir auf uns als wahrscheinlich oder wirklich Betroffene bezogen sind oder auf uns als wahrscheinlich oder wirklich Entscheidende. Solange wir in einer Weise wach sind, sind wir ständig hintergründig auch unserer selbst bewusst. Dies bildet den selbstverständlichen Boden, von dem aus wir in die Welt hinein leben.

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Personenregister

Alston, W. P. 92 Angehrn, E. 495 Angyal, A. 265 Aristoteles 47, 113, 260, 367 Bayertz, K. 283 Benedetti, G. 205 Bernet, R. 20, 456 Binswanger, L. 204 Böhme, G. 315 Bollnow, O. F. 184 Boss, M. 192 Bower, G. H. 336 Brentano, F. 24, 104, 179, 198, 348 Bühler, K. 377 Burckhardt, J. 471 Buytendijk, F J. J. 148 Casey, E. S. 124 Cohn, J. 387, 392, 395 Damasio, A. R. 17, 21, 37, 85 Demmerling, Chr. 116, 184 Descartes, R. 42, 47, 52, 57, 255 Dorfman, J. 379 Döring, S. A. 92 Dornes, M. 140 Duncker, K. 366, 369, 371, 374 Ehrenfels, Chr. von 104 Foulkes, D. 37, 236–237, 266 Frank, I. 193 Frank, M. 131, 247, 255 Frege, G. 163, 169, 288, 349

Freud, S. 46, 50, 59, 71, 83, 135, 157, 189, 199–200, 206 Funke, J. 378 Galilei, G. 369 Gehring, P. 48, 189 Graumann, C.-F. 288 Grüny, Chr. 147–148 Hamburger, A. 139 Han, B.-C. 185 Heidegger, M. 16, 185, 252, 254, 402 Heller, A. 96 Henrich, D. 247 Heraklit 57 Herodot 495 Hogrebe, W. 309 Hume, D. 394 Husserl, E. 16, 19, 28, 39, 48, 69, 114, 132, 137, 145, 156, 165, 173, 218, 261, 273, 321, 324, 327, 333, 338, 350, 359–360, 364, 441, 443, 447, 454, 456, 469 Hussy, W. 369, 378 Kamlah, W. 175 Kant, I. 373 Keil, G. 432 Kern, I. 20, 49, 77, 166, 170, 267, 347, 456 Kihlstrom, J. F. 379 Kroger, W. S. 124 Kunz, H. 20–21, 75, 135, 155, 343 Landweer, H. 116, 184 Langens, A. 160

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Personenregister Lanz, P. 35 Laplanche, J. 59, 198 Leroy, E. B. 237 Lersch, Ph. 95 Lichtenberg, G. Ch. 163 Linschoten, J. 265 Lorenzen, P. 175 Macdonald, M. 52 Marbach, E. 20, 195, 456 Marx, K. 416 Mavromantis, A. 237 Meier, B. 80, 192, 205, 237 Meinong, A. 24, 95, 104, 107, 179 Merleau-Ponty, M. 146, 151–152 Meyer, W.-U. 104 Musil, R. 102 Nagel, Th. 18, 43, 87, 169, 248, 431 Nida-Rümelin, J. 432

Scheler, M. 93 Schmitz, E. 265 Schmitz, H. 44, 93, 148, 180, 192, 248 Schützwohl, A. 104 Seebaß, G. 291, 347, 432, 438 Shames, V. A. 379 Slaby, J. 98 Sommer, M. 20 Sousa, R. de 47, 99 Spinoza, B. de 103 Spitzer, M. 237 Stegmüller, W. 359 Steinbock, A. J. 460 Steiner, R. 104 Stepanians, M. S. 270, 354–355 Stephan, A. 98 Stern, D. 102, 136, 140 Stern, W. 393 Strauch, I. 80, 192, 205, 237 Straus, E. 37, 39, 144, 147 Stumpf, C. 104

Oerter, R. 377 Trosman, H. 237 Tugendhat, E. 86, 185, 247, 252, 269, 310, 430, 432 Türcke, Chr. 201

Platon 47 Pocai, R. 185 Polanyi, M. 293 Pontalis, J. B. 59, 198 Popper, K. R. 359 Pothast, U. 247, 431

Vogel, G. 237

Reisenzein, R. 104 Sartre, J.-P. 20, 52, 55, 96, 188, 191, 255 Schacter, D. L. 336 Schapp, W. 153, 196

Waldenfels, B. 71–72, 74, 82, 153, 314, 318, 322 Wertheimer, M. 369, 394 Wittgenstein, L. 350 Wolf, U. 179 Zahavi, D. 145

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Sachregister

Ablesung –, synthetische 374 Abschattungen 73, 328 Absicht 273, 287–288, 305 –, des mentalen Wollens 285, 406 Absichtlich etwas geschehen lassen 387 Affekte, starke 229 Affektion 334, 460–461, 465 Ähnlichkeit, zwischen Traum und Gefühl 203, 207 Aktivität 28, 441 –, im starken Sinn 286 –, mentale 286 –, und Entscheiden 291 Angst –, betroffen zu werden 25, 116, 122, 134 –, irgendwie betroffen zu werden 128, 134, 214, 216, 218–220, 228 –, vor Bewusstlosigkeit 438, 485 –, vor der Wiederkehr des Taumels 126, 128, 134, 139, 215, 226, 475, 495–497 Aspekte –, eines Gegenstandes 288 –, von Gedanken 288, 374 Assoziation 329, 454, 460 Ästhetische Einstellung 316 Aufblitzen, von Vergangenem 335 Aufdrängen 162 Aufgabe 368 Aufgehen, in etwas 160 Aufmerksamkeit 79, 153, 312 –, absichtliche 318, 320, 324, 326

–, in der Erinnerung 332 –, pathische 154, 319 Aufwachen 22, 26, 29, 144, 259 –, als Befreiung 492 –, aus dem pathischen Wachsein 271, 277–278, 280–281, 402, 489 –, aus einem Traum 51, 81–82 –, eines schlafenden Erlebnisses 459 –, in pathisches Wachsein 495, 497 Aufwachen des Ich, bei Husserl 462, 464 Befreiung 437, 489–490, 493 Befriedigung 97–98, 106 –, im aktiven Wachsein 296 –, des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung 296 –, täuschende 97 Begriff, bei Frege 355 Begründen 174 Bei-Bewusstsein-Sein 35, 37 Bereitschaft, betroffen zu werden 113 Betroffenheit 74–75 Betroffensein 23, 64, 80, 90, 112, 120, 122, 129, 134, 141, 473 –, affektives 111 –, als ein Taumel 216 –, als Gefühl 89–90 –, bestimmtes 219 –, Bewusstwerden des 217–218 –, durch Erscheinungen 154 –, durch Gedanken 171, 178 –, durch Gefühle 184 –, durch Stimmungen 187 –, durch Strebungen 180 –, durch Träume 208

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Sachregister –, durch Vergegenwärtigtes 158, 160–161 –, extremes 70, 77, 116, 143 –, Grenzbereiche des 441 –, im Vergegenwärtigen 111 –, im Wahrnehmen 111, 152 –, in der Rezeptivität 68 –, Intensität des 279 –, ist immer bestimmt 138, 214 –, kann nicht unbewusst sein 113 –, leibliches 149 –, Qualität des 142 –, Weisen des 120 Bewegungen, kinästhetische 153 Bewusstes, unaufmerksam 326 Bewusstheit, des Entscheidens 399, 402 Bewusstsein –, aktives 290, 398 –, als Modifikation des pathischen 421 –, ist immer aufmerksames 325 –, als Wachheit 35 –, anonymes 456 –, durch Entscheidung 29 –, intentionales 137, 139 –, nicht-pathisches 275 –, pathisches 88, 115 –, schlafendes 458 Bewusstsein eigenen Könnens 491 Bewusstseinsfeld, Einengung des 78– 79, 235 Bewusstseinsweise, eines Gegenstandes 287 Bewusstwerden –, geschehendes 332 –, pathisches 219, 223, 226 Bindung –, aktive 494 –, als Einschlafen 494 –, aus Freiheit 493 –, durch Entscheidung 493–494 –, im Betroffensein 493 cogito 261, 301, 459 –, präreflexives 20, 27, 255

Deckung der Sinne 217–218, 222, 408 Deckungssynthesis 72 Denken 162, 347 –, absichtliches 357, 422 –, aktives 163 –, als Problemlösen 369 –, bei Frege 351 –, geschehendes 164, 396, 495 –, pathisches 163, 165, 171 –, problemlösendes 309, 385, 390 –, rechtfertigendes 354, 359, 380, 385 –, regelfolgendes 286, 381 Denkpsychologie 368 Disposition 84, 405 Distanz, zum pathisch Bewussten 278–279, 435, 484, 490–491 Drang, zu entscheiden 276 Dynamik, des pathischen Wachseins 235 Einfälle 160–161 Einschlafen 22, 124, 259, 265–267 –, als Sichbinden 492 –, als Übergang in Inaktualität 458 –, ins pathische Wachsein 299 Einsicht –, pathische 423 –, synthetische 375 Einstellung, ästhetische 150 Empfindnisse 146 Empfindungen 145, 148 –, Bewusstwerden von 223 –, und Wahrnehmen 229 Entscheiden 28, 47, 269, 311, 415, 428, 434, 487 –, als Selbstbewusstsein 431 Entscheidung –, als Paradigma für aktiv Bewusstes 295 –, für ein willentliches Leben 299 Entschließen, im Traum 194 Enttäuschung 69, 167 Erfahrung, vorprädikative 328 Erfüllung 72, 114 –, der Angst, irgendwie betroffen zu werden 134

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Sachregister –, der Furcht, betroffen zu werden 114 –, der Hoffnung des mentalen Wollens 408 –, des mentalen Wollens durch ein Geschehen 386 Erinnern 48 –, absichtliches 309, 341, 421 –, geschehendes 495 –, pathisches 157 Erleben –, bewusstes 137 –, mögliches 20 –, subjektives 18 Erlebnisse, intentionale 48 Erleiden 42 Ermuntern 416 Erscheinungen 18, 154 Erwartung 68, 156 Etwas erinnert an etwas 218–219, 332, 408, 454 Evidenz 361, 409 –, absichtliche 362 –, pathische 361 –, unabsichtliche 362 –, von Begriffsurteilen 365 –, von Wahrnehmungsurteilen 364 Festhaltenwollen 316 Finden 377, 379, 408 Fixierung 433 Folgerungen 373 Fragen und Suchen 290 Fraglichkeit 284, 423 –, epistemische 284, 488 Freiheit 432, 491 Frustration 97, 106, 217 –, im aktiven Wachsein 296 –, des Widerstrebens gegen Widerfahrnisse 113 Fühlen, des mentalen Wollens 310 Fundierung 229 Furcht 100, 107 –, betroffen zu werden 114, 117 Fürwahrhalten 172, 174 –, bei Frege 354

Gebundenheit, funktionale 378 Gedanke 88, 163 –, aktiver 423 –, bei Frege 350–351, 353–356 –, fraglicher 173 –, ist keine Vorstellung 352 –, pathischer 173, 225 –, Bewusstwerden des 225 Gedankenfassen 357–358, 367–368, 380, 382, 385, 390, 424 Gefühl 90, 92 –, ambivalentes 198 –, Bewusstwerden von 224 –, selbst zu entscheiden 439 Gefühle 181 –, des Wachseins 22, 117, 130, 453, 491 –, ihr Unterschied zu anderen Gefühlen 453 Gegebenes, sinnlich 329 Gegebenheitsweise, eines Gegenstandes 287 Gegenstand 87 –, bei Frege 356 –, des Hoffens, etwas möge bewusst werden 301 Gegenwärtigung, illusionäre 50, 53, 58, 64 Gelingen und Misslingen 291 Genesis, passive 460 Geschehen, das gewollt ist 286 Geschichten 161 Grade –, des aktiven Wachseins 415 –, des pathischen Wachseins 231 Halluzinationen, hypnagogische 237 Handeln 282 Hoffen 100, 107 –, als Indikator für die Intensität des Wollens 317, 414 –, das Gesuchte werde bewusst 309 –, entscheiden zu können 488 –, nicht betroffen zu werden 277, 280 Horizont 155, 262, 320, 328, 340 –, des Phantasierens 344 Hypothese 176

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Sachregister Ich –, inaktives (bei Husserl) 463 –, schlafendes 262 Identität, im Traum 194 Indikatoren, für die Willensstärke 412 Intentionale Erlebnisse, inaktuelle 458 Intentionalität, Zusammenbruch der 77–78, 228 Introspektion 19 Klassifizieren 356 Können 21, 29, 84, 304, 307, 403, 405, 452 –, ursprüngliches 435–436 Kontinuität, zwischen pathischem und aktivem Wachsein 282 Kraft, affektive 334 Lebensweltliche Überzeugungen über unser Wachsein 449 Leervorstellung 152 Leib 145, 149–151 locken 152–153 Metamorphose –, der Subjektivität 471 –, des Aufwachens 481 –, durch Erfüllung 478 –, im Übergang von einem Modus in einen anderen 479 Modi –, des aktiven Wachseins 304, 308, 382, 403, 418 –, des pathischen Wachseins 142, 209, 227, 452 –, des Wachseins im absichtlichen Denken 381 Modi des Wachseins 142 Modus des Wachseins 222 –, Entstehen eines 221 –, im absichtlichen Urteilen 363–364 –, im absichtlichen Vergegenwärtigen 346 –, im absichtlichen Wahrnehmen 329 –, im Empfinden 150

–, im Gedankenfassen 379, 381 –, im pathischen Denken 178 –, im pathischen Vergegenwärtigen 161 –, im pathischen Wahrnehmen 154 –, im rechtfertigenden Denken 365, 381 –, im Stellungnehmen 318 –, im Traum 208 –, in Gefühlen 184 Möglichkeiten –, des Entscheidens 277, 483 –, des Wählens 435 –, pathische 274–275 Neurose, traumatische 201 Ort –, absoluter 148 –, unmittelbar lokalisierter 147, 149 Paradoxie –, des absichtlichen Wahrnehmens 321, 330 –, des Stellungnehmens 314, 316 Passive Genesis 459 Passivität, bei Husserl 460 Passivität in der Aktivität 364, 378, 387, 390, 410, 417, 440, 480, 495 Pathos 72 Person, Einheit der 472–473 Perspektive, der ersten Person 16, 36, 39 Phänomen 16 Phänomenologie 14, 16 –, genetische 457, 459 –, statische 456 Phantasieren 48, 156, 342 –, absichtliches 343 Philosophie 13, 15, 491, 498 Philosophieren, phänomenologisches 14 Potenzielle Zuwendung, als Angst, betroffen zu werden 467 Problem 368 Problemlösen 395 Problemlösung 372

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Sachregister Protention 69, 72, 167, 333 Reflexion 20 Regelfolgen 308, 386, 389, 408 Relativität, von Schlafen und Wachen 492 Retention 69, 333 Sachverhalte, fiktive 175 Schlaf 29, 37, 46, 492, 494 –, des Leibes 231, 493 –, ist nicht immer bewusstlos 143 Schlafen, und Wachen 30 Schmerz 148–149 Schreck 68, 70, 123 Seiendes, eigenständig 494 Selbstbewusstsein 133 –, aktives 429 –, erstes nicht-pathisches 437 –, geht dem Bewusstsein von etwas voraus 501 –, im Betroffensein 427 –, nicht-pathisches 485 Selbstbeziehung, strebend-fühlende 253 Selbsterkenntnis 31 Selbstgefühl 131 Selbstverständlichkeit, des Wachseins 15 Sich-wach-fühlen 215 Situation, die Entscheidung fordert 283, 400, 439, 483, 487 Spielraum –, der Wahl und Entscheidung 278 –, von Möglichkeiten des Bewussthabens 280 Stellungnehmen 278, 280, 291 –, aktives 311 –, negatives 313, 317, 383, 388 –, pathisches 274, 314 –, positives 313, 383, 388 Stimmungen 184, 254 Störungen des Wahrnehmungsverlaufs 22 Streben –, betroffen zu werden 438 –, das dem Betroffensein zugrunde liegt 112

–, entscheiden zu können 279 –, nach Bewusstsein durch Entscheidung 286, 293, 298, 399, 428, 475, 500 –, als Selbstbewusstsein 428 –, und mentales Wollen 300 –, nach Entscheidung 401 –, nach nicht-pathischem Bewusstsein 281, 283 –, nach nicht-taumeligem Selbstsein 136 –, nach Nichtsein von Taumel 130 –, nach ungefährdetem Selbstsein 124–125, 499 –, nicht betroffen zu werden 26, 121, 130, 275–276 –, nicht-taumelig zu sein als Selbstbeziehung 427 Strebungen 95, 180 –, Bewusstwerden von 224 Strukturen 19 –, des Wachseins 14 Subjekt, des Bewussthabens 85 Subjektivität 447, 469 –, aktive 469 –, wache 470 Subjektsein 123 Suchen 310, 376–379, 394, 406 Suchen und Finden 301, 308–309, 387, 403, 405, 417 Sympathie, zu bewusstem Erleben 135 Tagtraum 50, 160, 197, 208 Taumel 123–124 –, beim Aufwachen 125 –, beim Einschlafen 126 –, ursprünglicher 127, 132, 144, 252, 495, 498 –, wiederkehrender 128, 132, 495– 496 Traum 30, 37, 50, 144, 229 –, als illusionäres Gegenwärtigen einer Wunscherfüllung 199 –, als Modifikation eines Wunsches durch ein illusionäres Gegenwärtigen 203, 207

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Sachregister –, und Bild 57 –, und Gefühl 199 Übergang, von einem aktiven Modus in einen anderen 420 Übergang von einem pathischen Modus in einen anderen 424 Umzentrierung eines Problems 371 Unbewusste Affekte 414 Unbewusstes, bei Husserl 334 Unbewusstsein, bei Husserl 262, 458 Urbewusstsein 20 Urimpression 69, 168, 333, 464 Urteil –, im Gefühl impliziert 99 –, pathisches 162, 164 –, vorprädikatives 166 Urteilen 348 –, absichtliches 358 –, als ein Streben 100 –, bei Frege 351 –, im Traum 193–194 Urteilsgefühle 24, 95, 100, 107, 169 –, des Wollens 270, 298 Verdichtung 157, 194 Vergegenwärtigen –, absichtliches 331, 384, 389 –, als Aktivität 265 Vergegenwärtigung 49, 156, 194 Verweisungen 153, 156 Vorstellungen 58 –, bei Frege 352 –, pathische 160 –, Bewusstwerden von 225 Vorurteil 175 wach 84, 120 wacher sein –, im Empfinden 239 –, im pathischen Vorstellen 239 –, im Wahrnehmen 239 –, in Gedanken 240 –, in Gefühlen und Träumen 236 –, pathisches 234 Wachheit –, als Betriebsbereitschaft 85

–, als psychologische Voraussetzung 36 Wachsein 13–15, 21, 23, 37, 498 –, aktives 27, 40, 65, 258, 267, 293, 295, 386, 397, 450 –, als Fühlen des mentalen Wollens 293 –, als Fühlen des Strebens nach Bewusstsein durch Entscheidung 294 –, als notwendige Voraussetzung für aktives Bewussthaben 414 –, Beginn des 482 –, ist abhängig von Pathischem 492 –, Kernbestand des 474 –, als Aktivität 260 –, als Aufmerksamkeit 261, 264 –, als Bei-Bewusstsein-Sein 23, 87, 115, 129, 134 –, als Bereitschaft zu bewusstem Erleben 23, 25, 85, 115, 130 –, als Betriebsbereitschaft 36 –, als Gefühl 23, 39 –, als Medium, in dem etwas bewusst ist 498 –, als notwendige Bedingung pathischen Bewusstseins 213 –, als phänomenaler Zustand 87 –, als psychologische Voraussetzung 37 –, als Selbstbewusstsein 22, 27, 500 –, als Vollziehen der Zuwendung 39 –, als Voraussetzung bewussten Erlebens 21, 140 –, als Wahrnehmen 260 –, als wesentliche Eigenschaft einer Person 454 –, bei Husserl 457, 461 –, im absichtlichen Wahrnehmen 331 –, im Gedankenfassen 381 –, im Modus des Vergegenwärtigens 346 –, im negativen Stellungnehmen 318 –, im positiven Stellungnehmen 317 –, im Traum 187 –, in Gefühlen 209 –, in pathischen Gedanken 212

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Sachregister –, ist kein Subjektsein 500 –, leeres 232 –, leibliches 143, 211, 223, 230 –, leistet nicht 469 –, pathisches 40, 65, 119, 214, 450 –, als Selbstbewusstsein 247, 254, 427 –, Kernbestand des 474 –, Qualitäten des 40, 47, 66, 470 –, Qualitäten und Grade 241 –, traumartiges 211, 402 –, vorstellungsartiges 212 –, wahrnehmungsartiges 211 Wahrheit 164, 284, 422, 488 –, als Evidenz 359 –, pathische 172 –, pathischer Gedanken 361 Wahrnehmen 166 –, absichtliches 326, 384, 388, 421 –, im Traum 192 –, pathisches 150, 154 Wahrnehmung 57, 67, 73 –, pathische, Bewusstwerden von 225 –, und Empfindung 151 Wecken 82–83, 132 Weckung 334, 378 –, affektive 218 Widerfahrnis 42, 61 Widerstreben gegen Widerfahrnisse 72, 112, 122, 129, 214 –, Befriedigung des 232, 282

–, ist in einem eminenten Sinne meines 248–249, 252 –, Unterschied zu anderen Strebungen 248 Wiederdenken 392, 396, 411 Wiedererinnerung 156 Willensfreiheit 432 Wirksamkeit –, des mentalen Wollens 443 –, mentale 436 –, unseres Strebens und Wollens 485 Wollen 268, 273, 276, 280, 412 –, kann wecken 337 –, mentales 62, 268, 270–271, 276, 287, 297, 404, 408, 429 –, baut auf Pathischem auf 303 –, Bedingungen 271 –, ist ursprünglicher als anderes Wollen 281 –, und Aktvollzug 302 –, und Streben 268 Wünsche, im Traum 199 Zirkel –, des Betroffenseins 216 –, des Reflexionsmodells 247 Zuwendung, bei Husserl 462, 464 Zwang und pathisches Bewusstsein 432 Zwangsgedanke 174 Zweifel 168

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