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German Pages 470 [472] Year 1986
Hans Lüttger Vorträge und Abhandlungen
Hans Lüttger
Vorträge und Abhandlungen Ausgewählte Beiträge zum Strafrecht, zur Strafrechtsreform und zum Strafverfahrensrecht aus den Jahren 1950-1985 Mit einem Geleitwort von Hans-Heinrich Jescheck Herausgegeben von Theo Vogler
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1986 Walter de Gruyter · Berlin · New York
G e d r u c k t auf s ä u r e f r e i e m P a p i e r ( a l t e r u n g s b e s t ä n d i g - p H 7, n e u t r a l )
CIP-Kurztttelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Lüttger, Hans: Vorträge u n d A b h a n d l u n g e n : ausgew. Beitr. z u m Strafrecht, zur Strafrechtsreform und z u m Strafverfahrensrecht aus d. Jahren 1 9 5 0 - 1 9 8 5 / H a n s Lüttger. Mit e. Geleitw. v o n H a n s - H e i n r i c h Jescheck. Hrsg. v o n T h e o Vogler. - Berlin ; N e w York : de Gruyter, 1986. ISBN 3-11-010714-7 N E : Lüttger, H a n s [Sammlung]
© Copyright 1986 by Walter de Gruyter & Co., 1000 Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany Satz und Druck: Saladruck, 1000 Berlin 36 Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Buchgewerbe G m b H , 1000 Berlin 61
Geleitwort Am 1. April 1985 vollendete Professor Dr. Hans Lüttger, emeritierter Ordinarius für Strafrecht, Strafprozeßrecht und internationales Strafrecht am Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin, sein 70. Lebensjahr. Aus diesem Anlaß wird von seinem früheren Fakultätskollegen Professor Dr. Theo Vogler, der ihm seit gemeinsamen Tagen im Bundesjustizministerium freundschaftlich verbunden ist, eine Sammlung ausgewählter Beiträge zum Strafrecht, zur Strafrechtsreform und zum Strafverfahrensrecht aus den Jahren 1950-1985 unter dem Titel „Vorträge und Abhandlungen" herausgegeben. In Bonn geboren, war Hans Lüttger nach glänzend bestandenen Examina und einer Assistententätigkeit bei Professor Jahrreiß in Köln zunächst als Staatsanwalt, seit 1955 als Oberstaatsanwalt beim Generalstaatsanwalt in Köln tätig. Zugleich war er aus pädagogischer Neigung mehrere Jahre Referendar-Übungsleiter für Strafrecht beim Oberlandesgericht Köln. Von 1957-1967 gehörte er, seit 1961 als Ministerialrat, dem Bundesjustizministerium an. Er war dort Leiter des Staatsschutzreferats und dadurch auch mit der Vorbereitung des 8. Strafrechtsänderungsgesetzes befaßt, das das politische Strafrecht aus seiner zu einseitigen Fixierung auf das Spannungsverhältnis zur D D R gelöst und in Übereinstimmung mit den Grundsätzen eines seiner selbst gewissen Rechtsstaats freiheitlich ausgestaltet hat. In dieser Zeit hat Lüttger bei regelmäßigen Arbeitstagungen mit den Staatsschutzreferenten der Landesjustizverwaltungen eine intensive Vortragstätigkeit entfaltet und dadurch die Einheit der Auslegung des Staatsschutzstrafrechts gefördert. 1967 folgte er einem Ruf auf den Lehrstuhl an der Freien Universität Berlin, den er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1983 innegehabt und danach noch ein Jahr lang selbst vertreten hat. Außer den Vorlesungen und Übungen in den Grundfächern seines Lehrbereichs hat er durch seine Seminare und Vorlesungen internationales Strafrecht, Strafgesetzgebung, Kriminalpolitik und Grenzprobleme zwischen Strafrecht und Medizin gepflegt. Seine Lehrveranstaltungen waren beliebt und besucht, insbesondere die Seminare, in denen er auf Grund intensiver dogmatischer, praktischer und rechtsvergleichender Vorbereitung seine besondere Befähigung zum juristischen Vortrag wie auch zum belehrenden Gespräch mit Jüngeren entfalten und dadurch einen Kreis ihm eng verbundener Schüler um sich sammeln konnte, die z.T. noch lange Jahre
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während ihres Berufslebens seinen Seminaren angehört haben und die ihm in der Schlußsitzung seines Seminars am 11. Febr. 1983 in stattlicher Zahl ihren Dank und die Verbundenheit mit ihrem Lehrer bekundet haben. Oft haben auch hervorragende Praktiker an seinen Seminaren teilgenommen. Eine Reihe hochqualifizierter Dissertationen ist seiner Betreuung zu danken. Der durch die Insellage Berlins stets drohenden Isolierung der Freien Universität suchte er entgegenzuwirken durch zahlreiche Gastvorträge deutscher und ausländischer Strafrechtslehrer in seinen Vorlesungen und Seminaren, durch Veranstaltung von Vortragsreihen zu aktuellen Themen (ζ. B. „Probleme der Strafprozeßreform", 1975; „Strafrechtsreform und Rechtsvergleichung", 1979) sowie durch eigene Gastprofessuren und Gastvorlesungen an ausländischen Universitäten (Ankara, Madrid und Posen); die gastgebenden türkischen und spanischen Fakultäten haben seine Vorlesungen in ihren Zeitschriften und Schriftenreihen veröffentlicht. In den schweren Jahren der Freien Universität hat Hans Lüttger sich nie entmutigen lassen. Er hat seine Lehrveranstaltungen unbeirrt durchgeführt und in den Gremien der Fakultät und Universität würdig seine Meinung vertreten im Sinne der Freiheit der Wissenschaft und des Worts, der Autonomie der Universität gegenüber der Macht der Bürokratie und dem Druck der ungeordneten politischen „Basiskräfte", im Sinne auch der Zusammenarbeit von Lehrern und Schülern und der selbstverständlichen Pflichterfüllung von jedermann, der sich zur akademischen Korporation rechnen wollte. Theo Vogler hat aus dem Lebenswerk Hans Lüttgers, das durch das Verzeichnis seiner Schriften am Ende dieses Bandes nachgewiesen wird, Beiträge aus drei Bereichen ausgewählt: zu medizinisch-juristischen Problemen im Strafrecht, zu Strafrecht und Strafrechtsreform und zum Strafverfahrensrecht. Sie zeigen sämtlich die Qualität der Arbeitsweise des Verfassers: Umsicht in der Sammlung und Auswertung des Materials, Genauigkeit in der juristischen Argumentation, entschiedene, aber stets sachliche Auseinandersetzung mit Literatur und Rechtsprechung, Blick für die Realitäten der Praxis und die Gabe zu äußerster Klarheit und Durchsichtigkeit einer fein gegliederten Darstellung. Im Bereich der medizinisch-juristischen Probleme werden in diesem Band Grundfragen des Lebens und des Todes behandelt. Die neue Lehre vom Beginn des Lebensschutzes nach §218 StGB mit dem Zeitpunkt der Nidation wird überzeugend begründet (JR 1969, 445), ihre Anerkennung durch die negative Begriffsbestimmung in §219 d StGB mit allen Vorzügen und Nachteilen eingehend kommentiert (Festschrift W. Sarstedt, 1981). Ebenso wie beim Beginn des Lebens findet auch beim Tode die moderne Lehre, die statt auf den „Herz- und Atmungstod" auf den „Gehirntod" abstellt, eine Begründung, die über die rein juristische
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Argumentation hinausgreift (JR 1971, 309). Die künstliche Insemination verfolgt Lüttger von den noch verpönten Anfängen bis zu ihrer Anerkennung als vielfach praktizierte Form der Ermöglichung menschlicher Fortpflanzung durch medizinisch-technische Hilfe (Jahrbuch der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft, 1977, S. 150). Besondere Bedeutung erlangt haben endlich die Arbeiten zur Abgrenzung zwischen dem Schutz des werdenden Lebens nach §218 und des im vollen Sinne menschlichen Lebens nach dem Beginn der Geburt durch §§211, 212, 217, 222 StGB (JR 1971, 133; Festschrift für E.Heinitz, 1972, 359; NStZ 1983, 481), weil sich der Bundesgerichtshof in den beiden für die Geburtshilfe wichtigen Entscheidungen BGHSt. 31, 348 und 32, 194 darauf gestützt hat. Die Schriften zum materiellen Strafrecht beginnen mit einer Durchsicht des neuen Staatsschutzstrafrechts (JR 1969, 121), in deren Verlauf der Kenner auf ein Werk zurückblickt, das zum Teil noch sein eigenes gewesen ist, wenn er auch am Endergebnis Kritik übt. § 353 c StGB, dem ein Artikel in JZ 1969, 578 gewidmet ist, hat zwar 1979 seine Geltung verloren, doch beweisen die Ausführungen Lüttgers, daß die ersatzlose Streichung des früheren § 353 c Abs. 1 StGB kaum gerechtfertigt war und auch nicht dadurch entschärft wird, daß § 353 b Abs. 2 n. F. StGB den früheren § 353 c Abs. 2 StGB ersetzt. In zwei großen Festschriftbeiträgen zeigt sich Lüttger einmal als entschiedener Verfechter eines Strafrechts, das dem verfassungswidrigen Machtmißbrauch bei der Ämtervergabe entgegenzutreten vermag (Festschrift für E.Dreher, 1977), zum anderen als Schöpfer einer neuen Konzeption für die tatbestandliche Auslegung von Strafnormen unter dem Gesichtspunkt des Schutzes ausländischer Rechtsgüter (Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck 1985). In einem großen rundfunkrechtlichen Gutachten (Schriften der Gesellschaft für Rechtspolitik e.V. in Trier, Bd.I: Rundfunkrecht, 1981, S. 123) hat er kritisch in die damalige Diskussion um eine Strafbewehrung der rundfunkrechtlichen Programmgrundsätze (inhaltliche Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitige Achtung) eingegriffen. Im Kapitel „Strafverfahrensrecht" stehen am Anfang zwei Abhandlungen, die sich als besonders anregend und wirkungsvoll erwiesen haben. Der Aufsatz über die Schuldspruchänderung durch das Revisionsgericht (DRZ 1950, 348) hat den Anstoß für eine Reihe von Monographien und Aufsätzen gegeben; und der andere Aufsatz über das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers (NJW 1951, 744) hat zu einer Ergänzung der damaligen Richtlinien für die Ausübung des Anwaltsberufs geführt. Es folgen drei Beiträge zur Stellung des Staatsanwalts, die unmittelbar aus der Erfahrung der Praxis geschrieben sind. Die bekannte Arbeit über den „genügenden Anlaß" zur Erhebung der öffentlichen Klage (GA 1957, 193), die Eb. Schmidt (MDR 1961, 270) „das weitaus
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Beste" genannt hat, „was in jüngerer Zeit zur gesamten Problematik des Legalitätsprinzips geschrieben worden" ist, zeigt Bindung und Ermessensspielraum bei den staatsanwaltlichen Entscheidungen und die Grenzen der Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts. Der Diskussionsbeitrag auf dem 45. Deutschen Juristentag vertritt, wie schon der zuvor genannte Aufsatz (S. 211), die Freiheit des Staatsanwalts auch gegenüber einer ständigen oder gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung. Ein dritter Beitrag begründet die Notwendigkeit der Lockerung des Verfolgungszwangs bei Staatsschutzdelikten (JZ 1964, 569). Über allem steht das auf Eberhard Schmidt zurückgehende Wort: „Die Staatsanwaltschaft ist als Rechtspflegeorgan mit der unbedingten Intention auf Wahrheit und Gerechtigkeit nur vorstellbar, wenn sie selbständig und eigenverantwortlich die Wahrheit und das Recht sucht. Sie steht im gleichen Verpflichtungsverhältnis zu Wahrheit und Gerechtigkeit wie das Gericht" (Verh. des 45.DJT, Bd. II, 1965, S.D75). Die Sammlung der Vorträge und Abhandlungen Hans Lüttgers macht dem Autor Ehre und stellt dem Leser einen Juristen vor, der als Praktiker wie als Rechtslehrer verdient ist und mit seiner Gründlichkeit, Sachlichkeit, Sorgfalt und Klarheit die besten Eigenschaften seines Berufsstandes verkörpert. Freiburg, im Januar 1986
Hans-Heinrich Jescheck
Vorwort des Herausgebers Der Gedanke, ausgewählte Beiträge zum Strafrecht, zur Strafrechtsreform und zum Strafverfahrensrecht von Hans Lüttger nach dessen 70. Geburtstag herauszugeben, geht ursprünglich auf die Überlegung zurück, die über 15 Jahre immer wieder von ihm aufgegriffenen Themen aus dem Grenzbereich von Medizin und Rechtswissenschaft, die sich mit der Spanne des Lebens von seinem Beginn bis zum Tode befassen, in einem Sammelband zusammenzufassen. Mit dem Herannahen des 70. Geburtstags von Hans Lüttger ist das frühere Vorhaben zugunsten einer Sammlung von Vorträgen und Aufsätzen auch aus anderen Rechtsgebieten, die Hans Lüttger durch seine Arbeiten mitgestaltet und gefördert hat, erweitert worden. Ausschlaggebend dafür war nicht zuletzt, daß der Jubilar schon der Andeutung anderer Ehrungen aus Anlaß seines 70. Geburtstags von Anfang an ablehnend gegenüber stand. Wer Hans Lüttger kennt, weiß, daß die Verwirklichung auch dieses Vorhabens bei ihm auf Skepsis stoßen mußte. Der 70. Geburtstag ist zwar ein besonderes Ereignis, besagt aber wenig für einen Wissenschaftler, der sich Forschung und Lehre mehr als altersrechtlichen Vorstellungen verpflichtet fühlt. Für seinen Schaffensdrang, aber auch für seine Neigungen bezeichnend ist die Tatsache, daß Hans Lüttger über die Emeritierungsgrenze hinaus bis heute - wenn zuletzt auch in eingeschränktem Umfang - seine Lehrtätigkeit fortgeführt und der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Freien Universität Berlin dadurch eine Wiederbesetzung seiner Professur ohne unzuträgliche Mehrbelastung der Kollegen ermöglicht hat. Aber auch in der Forschung ist Hans Lüttger rege geblieben, so daß kein Grund besteht, mit der Herausgabe der Sammlung ausgewählter Vorträge und Abhandlungen sein Werk als abgeschlossen zu betrachten. Im Gegenteil, neue Arbeiten zu aktuellen Themen, wie die extrakorporale Befruchtung und die medizinische Indikation bei der Organtransplantation sehen der Vollendung entgegen, ihre Fertigstellung konnte aber nicht mehr abgewartet werden. Der grundlegende Aufsatz über den Schutz ausländischer Rechtsgüter aus dem Jahre 1985 bestärkt in der Erwartung, daß es Hans Lüttger auch künftig vergönnt ist, aus der reichen praktischen und wissenschaftlichen Erfahrung mit der Souveränität des Meisters zu schöpfen. Die Beschränkung auf ausgewählte Beiträge und der Verzicht auf die Aufnahme weiterer Veröffentlichungen war allerdings auch aus anderen
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Vorwort des Herausgebers
Gründen geboten. Die verlegerische Betreuung eines solchen Vorhabens bedarf einer wahrhaft wissenschaftlichen Einstellung unter Verzicht auf wirtschaftliche Überlegungen. Herr Rechtsanwalt Dr. Hassenpflug vom Verlag Walter de Gruyter hat sich, diesem Geist verpflichtet, von Anfang an in dankenswerter Weise um die Verwirklichung des Vorhabens verdient gemacht. Dank gebührt auch denjenigen Verlagen, die ungeachtet ihres Nutzungsrechts den Wiederabdruck von Beiträgen gestattet haben. Die einzelnen Beiträge sind in der ursprünglichen Form - abgesehen von geringfügigen Berichtigungen - inhaltlich unverändert übernommen worden. Die eckigen Klammern im Text geben jeweils die Seitenzahl im Original wieder, um das Auffinden von Belegstellen zu erleichtern. Der Abdruck innerhalb der drei Themenbereiche folgt der chronologischen Ordnung unter Verzicht auf sachliche Gesichtspunkte. Die Aufgliederung in einzelne Themenbereiche entspricht dem Schwerpunkt des Schaffens von Hans Lüttger, während die chronologische Ordnung innerhalb der einzelnen Themenbereiche geeignet erscheint, die Entwicklung der Gedanken des Autors über einen Zeitraum von 35 Jahren zu verfolgen und zu verdeutlichen. Das gemeinsame Band aller Beiträge bildet das Bemühen um ein Strafrecht, das sich dem Fortschritt auf der Grundlage des Bewahrens von Bewährtem verpflichtet fühlt und auch die Abkehr von Fehlentwicklungen nicht scheut, sowie die Unbestechlichkeit der Gedankenführung, die in einer ebenso präzisen wie prägnanten, jeder Übertreibung abholden Sprache ihren adäquaten Ausdruck findet. Die Vorgeschichte von der Idee eines Sammelbandes bis zur Inangriffnahme ihrer Verwirklichung macht verständlich, daß das jetzt vorliegende Werk erst ein Jahr nach dem 70. Geburtstag von Hans Lüttger erscheint. Die guten Wünsche, mit denen die Laudatio von Ulrich Weber in der JZ 1985, S. 325, aus Anlaß des 70. Geburtstags von Hans Lüttger schließt, seien an dieser Stelle zu seinem 71. Geburtstag am 1.4.1986 in herzlicher kollegialer Verbundenheit wiederholt. Gießen, im Januar 1986
Theo Vogler
Inhaltsverzeichnis Geleitwort von Hans-Heinrich Jescheck Vorwort des Herausgebers
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Medizinisch-juristische Probleme im Strafrecht Der Beginn des Lebens und das Strafrecht
3
aus: Juristische Rundschau 1969, S. 445-453
Der Beginn der Geburt und das Strafrecht. Probleme an der Grenze zwischen Leibesfruchtcharakter und Menschqualität
27
aus: Juristische Rundschau 1971, S. 133-142
Der Tod und das Strafrecht
53
aus: Juristische Rundschau 1971, S. 309-315
Geburtshilfe und Menschwerdung in strafrechtlicher Sicht
71
aus: Festschrift für Ernst Heinitz, 1972, S. 359-372
Die humane artifizielle Insemination. Entstehung und Untergang eines kriminalpolitischen und legislatorischen Problems
85
aus: Jahrbuch der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft 1977, S. 150-185
Genese und Probleme einer Legaldefinition, dargestellt am Beispiel des Schwangerschaftsabbruchs 119 aus: Festschrift für Werner Sarstedt, 1981, S. 169-187
Geburtsbeginn und pränatale Einwirkungen mit postnatalen Folgen
139
aus: Neue Zeitschrift für Strafrecht 1983, S. 481-484
Strafrecht und Strafrechtsreform Das Staatsschutzstrafrecht gestern und heute
155
aus: Juristische Rundschau 1969, S. 121-130
Zur Reform des § 353 c StGB
181
aus: Juristenzeitung 1969, S. 578-586
Der Mißbrauch öffentlicher Macht und das Strafrecht aus: Festschrift für Eduard Dreher, 1977, S. 587-609
205
XII
Inhaltsverzeichnis
Empfiehlt es sich, neue Instrumente strafrechtlicher Art zur besseren Durchsetzung der Programmgrundsätze für Rundfunk- und Fernsehanstalten einzuführen („Verbraucherschutz")? (zusammen mit Dagmar Junck) . . 229 aus: Schriften der Gesellschaft für Rechtspolitik e.V. in Trier, B d . I : Rundfunkrecht, 1981, S.123-192
Bemerkungen zu Methodik und Dogmatik des Strafschutzes für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 299 aus: Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck, 1985, S. 121-178
Strafverfahrensrecht Die Änderung des Schuldspruchs durch das Revisionsgericht in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone 359 aus: Deutsche Rechts-Zeitschrift 1950, S. 348-351
Das Recht des Verteidigers auf Akteneinsicht
371
aus: Neue Juristische Wochenschrift 1951, S. 744—747
Der „genügende Anlaß" zur Erhebung der öffentlichen Klage
381
aus: Goltdammer's Archiv f ü r Strafrecht 1957, S. 193-218
Ist die Staatsanwaltschaft an die ständige oder gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung gebunden? 415 aus: Verhandlungen der Strafrechtlichen Abteilung des 45. Deutschen Juristentages, 1964, Bd. II/D, S. 69-77
Lockerung des Verfolgungszwanges bei Staatsschutzdelikten?
425
aus: Juristenzeitung 1964, S. 569-576
Bibliographie Verzeichnis der Schriften von Hans Lüttger
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Medizinisch-juristische Probleme im Strafrecht
Der Beginn des Lebens und das S traf recht* + Das verständliche Bestreben, den Titel eines Vortrags knapp und einprägsam zu formulieren, läßt sich oft nur auf Kosten der Präzision verwirklichen. Ich will daher den Gegenstand meines Vortrags genauer umreißen: Es geht um die Abgrenzung zwischen strafloser Empfängnisverhütung und strafbarer Abtreibung; konkret gesprochen: um das Problem, ob der Strafschutz gegen Abtreibung schon mit der Befruchtung der Eizelle durch den Samen oder erst mit der (etwa 7 Tage später erfolgenden) Einnistung der befruchteten Eizelle in der Gebärmutter (Nidation) beginnt. Die Aktualität des so eingegrenzten Themas ergibt sich aus einer drängenden und umstrittenen Frage, auf deren Klärung nicht nur Arzte, Apotheker und pharmazeutische Industrie, sondern auch weite Kreise der Bevölkerung warten: Sind die mechanischen und die medikamentösen Mittel, die zwischen der Befruchtung und der Einnistung des Eies dessen Weiterentwicklung unterbinden, Abtreibungsmittel? Diese Frage kann offensichtlich nur dann verneint werden, wenn es rechtlich zulässig sein sollte, die für den Beginn der Strafbarkeit wegen Abtreibung maßgebende Zäsur erst bei der Nidation anzusetzen. Falls sich aber die Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutterschleimhaut als entscheidend herausstellen sollte, dann werden sich auch noch zwei andere Rechtsfragen leichter lösen lassen, die von Juristen oft in diesen Zusammenhang gestellt werden: Erfüllt die Beseitigung einer extrauterinen Schwangerschaft den Tatbestand der Abtreibung? Ist ein in vitro befruchtetes Ei eine „Leibesfrucht" i. S. des §218 StGB? Die erste Frage stellt sich oft genug in der gynäkologischen Praxis; die zweite Frage gehört vielleicht schon nicht mehr in den Bereich der biologischen Futurologie. A. Bei der Darstellung der strafrechtlichen Probleme1 sehe ich mich in besonderem Maße den Schwierigkeiten einer Verständigung zwischen * A u s : Juristische Rundschau, 1969, S. 445—453. Vortrag auf der 48. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin am 6. O k t o b e r 1969 in Berlin. Der Vortragsstil ist unverändert beibehalten. 1 D i e zivilrechtlichen Probleme um Rechtsfähigkeit und Deliktsschutz des nasciturus (vgl. d a z u : Wolf-Naujoks, Anfang und Ende der Rechtsfähigkeit des Menschen, 1955; +
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Medizinisch-juristische Probleme im Strafrecht
Juristen und Vertretern anderer Disziplinen ausgesetzt. Das ist nicht verwunderlich, denn jeder Versuch einer Abgrenzung zwischen Empfängnisverhütung und Abtreibung scheint unlöslich mit der Frage nach dem „Beginn des Lebens" verknüpft zu sein und stößt zudem - wie schon ein flüchtiger Blick in das Gesetz zeigt - auf Begriffe wie „Leibesfrucht" und „Schwangerschaft", die reine Lehnbegriffe aus dem Bereich der Biologie und der Medizin zu sein scheinen. So erklärt sich ja auch die nicht seltene Behauptung, nur Mediziner und Humanbiologen, nicht aber Juristen könnten entscheiden, was Leibesfrucht und Schwangerschaft in §218 StGB bedeuten2. Wenn ich demgegenüber davon ausgehe, daß die Frage nach dem Beginn des Lebens nicht im Mittelpunkt der juristischen Problematik steht und daß Begriffe wie Leibesfrucht und Schwangerschaft in §218 StGB außer ihrem biologischen Hintergrund einen spezifisch [446] strafrechtlichen Sinngehalt haben, also „juristische Begriffe" sind und der kompetenten juristischen Auslegung unterliegen, so bedürfen diese Thesen einer näheren Begründung. Und zwar nicht nur deshalb, weil ein solcher Ausgangspunkt - insbesondere im Kreise von Medizinern - bei erster flüchtiger Betrachtung befremdlich oder gar anmaßend erscheinen könnte; sondern vor allem, weil ich sonst nicht erwarten darf, durch Methode und Argumentation meines Vortrags zu überzeugen. Meine erste Ausgangsthese erklärt sich aus dem strafrechtsdogmatischen Unterschied zwischen Rechtsgut und Handlungsobjekt einer Strafnorm 3 : Unter Rechtsgütern versteht man im Strafrecht abstrakt gedachte Lebensgüter des einzelnen oder der Gemeinschaft, ideelle Werte der Sozialordnung, deren Schutz gegen Angriffe die Strafvorschriften bezwecken, wie etwa Leben, Ehre und Freiheit. Unsere nach Rechtsgütern gruppierte strafrechtliche Legalordnung faßt nun die Abtreibung mit Mord und Totschlag in dem Abschnitt „Verbrechen und Vergehen wider das Leben" zusammen und macht schon dadurch deutlich, daß auch die Abtreibung ein Angriff auf das Leben ist. Zugleich aber zeigt die tatbestandliche Trennung der Abtreibung von den eigentlichen
Dey net, Die Rechtsstellung des nasciturus, 1960; Stör, Der Deliktsschutz der Ungeborenen, 1968) bleiben außer Betracht, weil sie für die Auslegung des §218 StGB irrelevant sind (vgl. RGSt. 1, 447; R G in GA 1907, 288; RG in DR 1939, 365; ganz h.M.). Der „zivilrechtliche Sündenfall" bei §218 StGB in RGSt. 41, 329-330 gehört seit einem halben Jahrhundert zu den Kuriositäten im Strafrecht. 2 Vgl. z . B . Ackermann, Hamb. Ärztebl. 1967, 299. 3 Vgl. zum folgenden näher: Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts. Allg. Teil, 1969, 175 ff; Maurach, Deutsches Strafrecht, Allg. Teil, 3. Aufl. 1965, 179 ff.
Der Beginn des Lebens und das Strafrecht
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Tötungsdelikten, daß die geltende Legalordnung4 das geschützte Rechtsgut „Leben" in das Leben vor und nach Beginn der Geburt (§217 StGB) aufspaltet, oder - wie die Juristen gerne sagen - in vollentwickeltes und in werdendes (keimendes) Leben 5 . Es ist heute unbestritten, daß die Strafvorschrift gegen Abtreibung dieses „werdende, keimende Leben" als selbständiges Rechtsgut schützt'. Die weitere Frage, ob die Strafvorschrift gegen Abtreibung auch noch andere Rechtsgüter schützt, mag im Rahmen dieser methodologischen Vorbemerkung zunächst dahinstehen; sie wird uns später beschäftigen. Nun besteht im Strafrecht Einigkeit darüber, daß dieses „werdende Leben" mit der Befruchtung des Eies durch den Samen beginnt. Daß ein früherer Beginn nicht erörtert wird, ist verständlich, denn das zelluläre Leben vor der Vereinigung von Ei und Samenzelle interessiert bei §218 StGB nicht7. Bei der Rechtsgutbestimmung wird aber auch eine spätere Zäsur - etwa die Nidation - nicht diskutiert. Wie aber kann dann noch Raum dafür sein, die Anwendung der Strafvorschrift gegen Abtreibung auf den Zeitpunkt eben dieser Nidation zu begrenzen? Die Lösung liegt bei dem anderen soeben erwähnten Begriff: bei dem Handlungsobjekt. Darunter versteht man im Strafrecht den konkreten Gegenstand, an dem die Tat sich vollzieht, in welchem das Rechtsgut angegriffen wird. Was im Einzelfall das Handlungsobjekt ist, bestimmt der jeweilige gesetzliche Straftatbestand; bei der Abtreibung ist es die „Leibesfrucht" (§218 StGB). Spricht man - wie es oft geschieht - von der Leibesfrucht als Trägerin des werdenden Lebens, so kommt auch sprachlich zur Geltung, daß Rechtsgut und Handlungsobjekt sich „wie die Idee von der Erscheinung" unterscheiden Qescheck). Aus dieser Einsicht, daß Rechtsgut und Handlungsobjekt auch bei den „Delikten wider das Leben" - allen Vertauschungen in der Judikatur 8 zum Trotz nicht dasselbe sind, ergeben sich zwei für uns wichtige Folgerungen: Beide können deckungsgleich sein; das ist beispielsweise zwischen dem Rechtsgut „vollentwickeltes Leben" und dem Handlungsobjekt „Mensch" bei den Tötungsdelikten der Fall, denn beide rechnen rechtsbegrifflich gleichermaßen vom Beginn der Geburt (§217 StGB) bis zum * Das künftige Strafrecht wird diese Rechtsgütersystematik voraussichtlich noch dadurch verfeinern, daß es die Tötungsdelikte und die Abtreibung in getrennten Titeln aufführt; vgl. BT-Drucks. IV/650, 264ff. 5 Vgl. zum ganzen insbes. Schwalm, MDR 1968, 278. 6 Vgl. RGSt. 59, 99; 67, 207; R G in D R 1940, 26; BGHSt. 11, 16-17; Jescheck, JZ 1958, 750. 7 Zum Problem der Keimschädigungen und zu Reformfragen vgl. Schwalm, MDR 1968, 279; Geilen, FamRZ 1968, 127ff; Schwarz-Dreher, Strafgesetzbuch, 30. Aufl. 1968, Anm. 1 zu § 2 1 8 StGB; s. auch Fn. 78. » Vgl. z . B . RGSt. 59, 99; O L G Braunschweig, HESt. 2, 226; BGHSt. 11, 16-17.
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Medizinisch-juristische Probleme im Strafrecht
Tode. Es ist aber auch denkbar, daß das Rechtsgut sich im Handlungsobjekt nur ausschnittweise manifestiert. Wenn wir beispielsweise als Arbeitshypothese einmal davon ausgehen, daß unter einer „Leibesfrucht" in §218 StGB nur das bereits in der Gebärmutter eingenistete befruchtete Ei zu verstehen sei, dann wäre eine Diskrepanz zwischen dem weitergreifenden Rechtsgut „werdendes Leben" und diesem enger gefaßten Handlungsobjekt „Leibesfrucht" evident. Derartiges wäre dann für den Juristen gar nicht verwunderlich, denn bei den weitaus meisten Straftatbeständen fehlt es ohnehin an dieser verwirrenden vermeintlichen Bedeutungsgleichheit von Rechtsgut und Handlungsobjekt; bei ihnen ist es oft geradezu selbstverständlich, daß das Rechtsgut im Handlungsobjekt nur punktuell getroffen wird'. Die Einsicht, daß diese beiden Begriffe nicht notwendig Entsprechungen darstellen, muß auch zum Ausgangspunkt der Diskussion um die Neuabgrenzung zwischen Empfängnisverhütung und Abtreibung gemacht werden. Denn der Schlüssel für die Lösung liegt nicht bei dem Begriff „keimendes Leben", sondern bei dem Begriff „Leibesfrucht", also nicht beim Rechtsgut, sondern beim Handlungsobjekt der Abtreibung, und vor allem in der Möglichkeit einer Divergenz zwischen beiden, die hier zunächst einmal als grundsätzliches Prinzip gemeint ist. Ein Deuteln an dem Begriff „werdendes Leben" ist dann aber unnötig und wäre m. E. auch unrichtig. Von hier aus ist es leicht, Verständnis für meine zweite Ausgangsthese zu gewinnen, daß der scheinbare Lehnbegriff „Leibesfrucht" trotz seines biologischen Gehalts ein juristischer Begriff und daher nach juristischen Interpretationsmethoden zu bestimmen ist. Denn das Handlungsobjekt „Leibesfrucht" ist - im Gegensatz zu dem gedachten Rechtswert „keimendes Leben" - ein Merkmal des gesetzlichen Tatbestands der Abtreibung. Zwar gehört der Begriff „Leibesfrucht" zu den sog. deskriptiven Tatbestandsmerkmalen, mit denen das Gesetz Fakten der Realwelt beschreibt. Es ist aber unbestritten, daß auch solche beschreibenden Merkmale durch ihre Einstellung in den gesetzlichen Tatbestand eine normative Färbung gewinnen, die es nicht nur erlaubt, sondern sogar dazu zwingt, ihren Inhalt unter Berücksichtigung des Realitätsgehalts nach den Bedürfnissen des Strafrechts auszulegen10. Der Begriff „Leibes-
' Ein Beispiel mag für zahlreiche andere stehen: Beim Landesverrat und bei der Gefährdung der äußeren Sicherheit des Staates (§§93 ff StGB i. d. F. des Achten Strafrechtsänderungsgesetzes vom 2 5 . 6 . 1 9 6 8 - BGBl. I, 741) ist geschütztes Rechtsgut die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland (früher: die äußere Machtstellung des Staates: BGHSt. 20, 361, 367); Handlungsobjekt ist das einzelne Staatsgeheimnis; dessen Preisgabe wird aber die äußere Sicherheit wohl stets nur partiell gefährden. 10 Vgl. dazu näher: Maurach, AT, 206 ff; Schwarz-Dreher, A n m . I I D l zu § 5 9 StGB.
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frucht" in §218 StGB ist sogar ein besonders anschauliches Beispiel für ein deskriptives Merkmal mit stark normativen Zügen. Denn das Gesetz legt mit dem Beginn der Geburt (§217 StGB) nur seine - übrigens immer noch auslegungsbedürftige - Endzäsur fest, bestimmt aber nicht seine Anfangszäsur, die eben durch wertende Auslegung gewonnen werden muß. Damit wird dann klar, daß wir uns hier in einem ureigenen juristischen Bereich befinden, nämlich bei der Lehre vom gesetzlichen Tatbestand und seiner Interpretation. Und es wird verständlich, daß andere Disziplinen hierfür nur die Arbeitsgrundlage liefern, nicht aber die spezifisch juristische Bewertung ersetzen können11. [447] M. a. W.: O b das „werdende Leben" in seinem ganzen Umfang durch §218 StGB geschützt ist, ist eine Frage der Tatbestandsfassung; und ob eine „Leibesfrucht" schon bei der Befruchtung des Eies oder erst bei der Nidation vorliegt, ist eine Frage der Tatbestandsauslegung12. Es geht also um das alte Problem: extensive oder restriktive Interpretation? B. Damit hat diese methodologische Vorbemerkung eine Frage provoziert, die erfahrungsgemäß in einer Diskussion über unser Thema ohnehin alsbald auftaucht: Ist denn eine einschränkende Auslegung des Begriffs „Leibesfrucht" und damit eine Verkürzung des Schutzbereichs des §218 StGB überhaupt zulässig? Stehen einem solchen Vorhaben nicht die strafrechtliche Wertung des keimenden Lebens, die Verfassung und auch ethische Grundsätze entgegen? Diese Grundsatzfrage muß vorab geklärt werden; denn von ihrer Beantwortung hängt es ab, ob wir uns überhaupt noch mit den Einzelargumenten befassen müssen, die bei der Auslegung des Begriffs „Leibesfrucht" auftauchen. 1. Unter strafrechtlichen Aspekten geht es hier um die Frage nach dem Einfluß des Rechtsgutes auf die Tatbestandsauslegung Die Frage nach dem Zweck einer Strafnorm ist unbestritten eine Kernfrage jeder strafrechtlichen Auslegung. Fast alle Strafgesetze bezwecken aber den Schutz von Rechtsgütern. Diese Rechtsgüter sind daher unstreitig ein wichtiger Ansatzpunkt für die Auslegung strafrechtlicher Tatbestände. Zwar gibt es einen Grundsatz des Inhalts, daß Strafgesetze im Interesse des Rechtsgüterschutzes stets maximal auszule-
Vgl. dazu: Forster, Geburtenregelung und Abtreibung, 1968, 17, 38 ff, 50ff. Vgl. Geilen, FamRZ 1968, 129; Forster, wie Fn. 11. - Zur Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Schwangere" in §218 StGB vgl. Anschnitt C 3 . 13 Vgl. zum folgenden näher: Mauracb, AT, 83ff, 179ff;]escheck, AT, 5f, 109ff, 176; Baumann, Strafrecht, Allg. Teil, 5. Aufl. 1968, 128, 134ff; Schönke-Schröder, Strafgesetzbuch, 14. Aufl. 1969, Rdz. 37-39 zu § 2 StGB. 11
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gen seien, unstreitig nicht. Dennoch kann im Einzelfall der Schutzzweck des Strafgesetzes einer einschränkenden Auslegung entgegenstehen. Dabei kann die Bedeutung des geschützten Rechtsgutes eine Rolle spielen. - Die Frage nach dem Rangwert eines Rechtsgutes ist nun eine unsentimentale Angelegenheit rechtlicher Bewertung. Denn zunächst gibt die Legalordnung dafür in Gestalt der Straftatbestände und ihrer unterschiedlichen Strafandrohungen selbst ein Bewertungsschema, das übrigens nicht unabänderlich ist, sondern sich durch Novellen ändern kann. Und weil Rechtsgüter - wie ich früher sagte - ideelle Werte der Sozialordnung sind, unterliegen sie überdies zeitlich wechselnder Beurteilung. Ich darf vergleichsweise daran erinnern, daß der Wertverfall eines Rechtsgutes im Extremfall sogar den Anstoß zu einer gewohnheitsrechtlichen Derogierung einer Strafnorm geben kann (Maurach). Doch was bedeutet dies für §218 StGB? Hier gilt es zunächst, ganz illusionslos einzusehen, daß unser Strafrecht das Rechtsgut des „werdenden Lebens", dessen Schutz §218 StGB bezweckt, geradezu drastisch geringer bewertet als das „vollentwickelte Leben" 14 . Das ergibt sich nicht nur aus der tatbestandlichen Trennung der Abtreibung von den Tötungsdelikten, aus der Wortwahl „Abtöten" statt „Töten" und aus dem speziellen Rechtfertigungsgrund der medizinischen Indikation, der es erlaubt, Leben oder Gesundheit der Mutter auf Kosten des Lebens der Leibesfrucht zu retten. Es ergibt sich vielmehr vor allem aus dem erheblichen Unterschied der gesetzlichen Strafandrohungen für vorsätzliche Tötung und für Abtreibung. Und wenn die Rechtsprechung in neuerer Zeit bei der Strafzumessung für die Eigenabtreibung ausnahmslos im unteren Viertel des gesetzlichen Strafrahmens geblieben ist15, so zeigt sich darin beim Vergleich mit früheren Zeiten ersichtlich das, was ich soeben mit meinem Hinweis auf den zeitlichen Wechsel in der Bewertung eines Rechtsgutes meinte. Auch der Gesetzgeber hat diese Richtung eingeschlagen; denn er hat soeben durch das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts16 nicht nur die gesetzliche Strafandrohung weiter herabgesetzt, sondern auch die Fremdabtreibung vom Verbrechen zum Vergehen umgewandelt15. Dies hat unter anderem zur Folge, daß nicht nur - wie bisher - Verfahren wegen Eigenabtreibung, sondern auch solche wegen Fremdabtreibung gemäß § 153 Abs. 2 StPO wegen Geringfügigkeit eingestellt werden können. - Bei einer solchen Plazierung des Rechtsgutes „werdendes Leben" im Bewertungsschema der Legalord-
14 Vgl. BT-Drucks. IV/650, 277 ff; Maurach, Deutsches Strafrecht, Besond. Teil, 5. Aufl. 1969, 12; Stratenwerth in Geiger-Stratenwerth, Ethische Gegenwartsprobleme in theologischer und juristischer Betrachtung, 1968, 97 ff. 15 Vgl. BT-Drucks. V/4049, 34. " Vom 2 5 . 6 . 1 9 6 9 - BGBl. 1969,1, 645.
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nung fehlt aber jeder strafrechtliche Anhalt für die Annahme, §218 StGB könne wegen der Bedeutung dieses Rechtsgutes einer etwaigen restriktiven Interpretation seines Tatbestands und damit einer Einschränkung seines Schutzbereichs entzogen sein. Dieses Resultat ist wie ich anfüge - für Juristen im Grunde selbstverständlich; ich habe es näher begründet, um der Faszination Rechnung zu tragen, die sicherlich von dem Rechtswert „Leben" ausgeht. Um einem anderen Einwand zuvorzukommen, muß ich jedoch noch auf einen weiteren Aspekt des Rechtsgüterproblems eingehen. Manche Strafvorschriften schützen nicht nur ein Rechtsgut, sondern mehrere Rechtsgüter, die dann entweder untereinander gleichwertig sind oder im Verhältnis von dominierendem und untergeordnetem Rechtswert zueinander stehen17. Bei §218 StGB wird nun nicht selten angenommen, geschütztes Rechtsgut sei hier nicht nur das - zweifelsfrei dominierende - keimende Leben, sondern daneben sekundär auch das staatliche Interesse an einer Bevölkerungsvermehrung sowie die Gesundheit der Frau18. Ich halte das zwar mit Stimmen in der Rechtslehre 1 ' aus grundsätzlichen Erwägungen für unzutreffend; doch mag dies hier dahinstehen, denn es verschlägt aus anderen Gründen nichts: Wenn wirklich - abgesehen von der Pervertierung des §218 StGB in nationalsozialistischer Zeit20 - das staatliche Interesse an der Volksvermehrung nicht nur ein gesetzgeberisches Motiv21, sondern ein Rechtsgut des §218 StGB gewesen sein sollte, so hat es die Anerkennung als geschütztes Gut jedenfalls mittlerweile eingebüßt. Dabei kann ganz dahinstehen, ob man solchen Vorstellungen heute überhaupt noch Raum geben will22. Denn im Wandel der Verhältnisse sind Familienplanung und Geburtenregelung23 legitime Interessen24 geworden. Als gegenläufiger Bewertungsfaktor neutralisieren sie aber ein [448] (etwaiges) staatliches Fortpflanzungsinteresse und inhibieren 17 Vgl. dazu näher: Maurach, AT, 184f.; Mezger-Blei, Strafrecht, Allg. Teil, 13. Aufl. 1968, 117. " Vgl. statt vieler: BT-Drucks. IV/650, 277; Koch NJW 1959, 2294, mit Nachw. " Vgl. Maurach, BT, 56, m.w. Nachw. 20 Vgl. dazu: Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, 299 f; Maurach, BT, 56. 21 So richtig: RGSt. 59, 98-99; Mezger-Blei, Strafrecht, Besond. Teil, 9. Aufl. 1966, 29; Koch, NJW 1959, 2294. 22 Vgl. zum Streitstand etwa: Hanack bei Göppinger, Arzt und Recht, 1966, 40 f; Zillmer, NJW 1958, 2099ff (mit im übrigen abzulehnenden Folgerungen); Martin, NJW 1959, 468 f, u. FamRZ 1959, 351 ff. 25 Vgl. dazu näher: Harmsen, Med. Klinik, 1953, 589 ff; Cesenius, Empfängnisverhütung, 2. Aufl. 1959, 30 ff; Giesen, Med. Klinik, 1965, 513 ff; 555 ff; 592 ff; Nachtsheim, Berliner Universitätstage, 1965, 158 ff; Specht, Ärztliche Praxis, 1968, 153 ff; Trillhaas, Ärztl. Praxis 1968, 2006 ff; Böckle, Ärztl. Praxis, 1968, 2290 ff; Langmann, Dt. Ärztebl. 1968, 2642 ff. 24 Vgl. für die Empfängnisverhütung: BVerwG in NJW 1960, 1409; ferner allg.: Hanack (Fn.22), 24, 40 f; Kaiser, Med. Klinik, 1963, 1530.
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damit seine weitere Anerkennung als Schutzgut des §218 StGB: ein Beispiel für den Wertverfall eines (vermeintlichen) Rechtsgutes im Verlaufe eines sozialen Umwertungsprozesses. Jedoch auch derjenige, der diesen Schluß nicht ziehen will, wird zumindest einräumen müssen, daß der Schutz bevölkerungspolitischer Interessen bei §218 StGB heute so weit in den Hintergrund getreten ist, daß er keine die Auslegung prägende Kraft mehr hat. - Eine restriktive Interpretation wird zumindest in den hier in Rede stehenden Grenzen - auch durch das (vermeintliche) weitere Rechtsgut der Gesundheit der Frau nicht behindert. Denn der (bei §218 StGB zweitrangige) gesundheitliche Aspekt bestimmt nicht die Deliktsrichtung25 und hat schon deshalb keine Bedeutung für die Auslegung des Begriffes „Leibesfrucht"26. Es kommt daher nicht einmal mehr darauf an, daß es hier ja gerade in ärztlicher Sicht nur um solche nidationsverhindernde Mittel geht, bei denen schädigende Nebenwirkungen von Belang zumindest für den Normalfall ausschließbar sind27 und bei denen daher die Gesundheit der Frau auch praktisch nicht tangiert wird28. 2. Ein Hindernis für eine einschränkende Auslegung des §218 StGB ergibt sich auch nicht aus dem Verfassungsrecht. Zwar wird von der überwiegenden Lehre29 bereits der nasciturus „seit der Zeugung" (!) als Träger der Menschenwürde und des Grundrechts auf Leben (Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 GG) angesehen und auch eine Pflicht des Staates zu seinem Schutz gegen Angriffe angenommen. Herr Kollege Herzog hat in seinem vorangegangenen Referat30 jedoch dargelegt, daß die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates zum Schutze des keimenden Lebens nicht mit dem Mittel des Strafrechts erfüllt zu werden braucht und daß das Verfassungsrecht daher auch nicht zu einer maximalen Auslegung des geltenden §218 StGB zwingt. Dies ist auch meine Rechtsansicht. 3. So bleibt die Vorfrage nach der drohenden Diskrepanz zwischen einer restriktiven Interpretation des §218 StGB und den Grundsätzen der Ethik. In der Tat finden sich Stimmen, die die strafrechtlichen Probleme Vgl. dazu allgemein: Maurach, AT, 184 f. Das Rechtsgut „Gesundheit der Frau" hat allenfalls Auswirkungen bei Konkurrenzfragen; vgl. Maurach, BT, 58, m. Nachw. 27 Vgl. betr. die Intrauterinpessare: Kirchhoff, Dt. Ärztebl. 1966, 2137ff, 2322ff; Döring, Empfängnisverhütung, 2. Aufl. 1967, 25 ff; Kepp in Kepp-Koester, Familienplanung, 1968, 66 ff; betr. die medikamentösen Mittel: Fikentscher, Ärztl. Praxis 1968, 579, 595 ff. 28 Vgl. dazu: Forster (Fn. 11), 87ff. 29 Vgl. Düng in Maunz-Dürig-Herzog, Grundgesetz, 2. Aufl. 1968, Rdz. 23, 24 zu Art. 1 u. Rdz. 21, 22 zu Art. 2 GG, mit zahlr. Nachw. 30 Abgedruckt in JR 1969, S.441. 25
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der Abtreibung im Lichte der Sittenordnung sehen31 oder gar ihre Orientierung an der christlichen Glaubenshaltung fordern32. Aus solcher Sicht liegen Einwendungen gegen eine Auslegung nahe, die zu einer Schmälerung des Strafschutzes für das werdende Leben führt; denn ethische Grundsätze können ohne Zweifel zu einer anderen Wertung des keimenden Lebens führen als sie sich in der strafrechtlichen Legalordnung abzeichnet. Dennoch tangieren solche Einwände unser Interpretationsproblem nicht. §218 StGB ist zunächst unbestritten kein Sittlichkeitsdelikt; die Sittenordnung - oder wie immer man dies formulieren mag - ist ebenso unstreitig kein durch §218 StGB geschütztes Rechtsgut; von dort her besteht also - ebenso wie von den Tatbestandsmerkmalen aus - kein Ansatzpunkt, um ethische Wertungen in die Auslegung des §218 StGB einzubringen. Überdies ist es nicht Aufgabe des Strafrechts die Anforderungen des Sittengesetzes, durchzusetzen, sondern das soziale Zusammenleben von Menschen zweckmäßig zu regeln33; in der pluralistischen Gesellschaft ist das staatliche Strafrecht auch nicht die „moralische Instanz" des Bürgers34. Und was die Verquickung mit religiösen Wertungen anlangt, so sollte das grundgesetzliche Gebot weltanschaulicher Neutralität des Staates35 weitere Ausführungen dazu entbehrlich machen. - Es hat sicher wesentlich zur Entschärfung des Konflikts zwischen Ethik und Strafrecht beigetragen, daß namhafte katholische Moraltheologen auch aus ihrer Sicht gerade im Hinblick auf unser Problem die Möglichkeit einer Divergenz zwischen ethischer und strafrechtlicher Beurteilung betont haben36. Der Standpunkt der protestantischen Theologen ist ohnehin weitherziger37. Vor allem aber ist zu bedenken: Durch eine Zurückhaltung des staatlichen Strafrechts wird der sittlichen und weltanschaulichen Beurteilung nicht vorgegriffen; niemand wird gehindert, für sich einen schärferen Maßstab anzulegen; er soll lediglich nicht von Rechts wegen dazu gezwungen werden38. Ich bin überzeugt, daß mit der Einsicht in die Autonomie der beiden Bereiche ein entscheidender Schritt zur Versachlichung der Diskussion getan ist.
Vgl. z . B . RGSt. 59, 426; Martin, N J W 1959, 468; Schultz, MDR 1959, 176. Vgl. Engelhardt, FamRZ 1958, 269. 33 Vgl. Baumann, AT, 7 f - dies verkannt zu haben, ist das Mittelalterliche an BGHSt. 6, 46 ff u. 17, 230 ff, wenngleich es sich dort immerhin noch um ein „Sittlichkeitsdelikt" (Kuppelei) handelte. 31
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Vgl. Hanack (Fn.22), 18; Böckle, Wort und Wahrheit, 1968, 3 ff, bes. 9ff. Vgl. die Nachw. bei Müller, D Ö V 1969, 441 ff; ferner Heiss, Ö J Z 1966, 506. Vgl. z . B . Böckle, Wort und Wahrheit, 1968, 3ff, 16. Vgl. z . B . Trillhaas, Ärztl. Praxis, 1968, 2006ff, m. Nachw. So treffend: Schwalm, MDR 1968, 279.
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c. §218 StGB ist also offen für eine etwaige einschränkende Auslegung; es gelten für ihn die allgemeinen Auslegungsregeln39: Wir haben seinen Sinn mit den Hilfsmitteln der historischen, grammatischen und systematischen sowie der teleologischen Interpretation zu ermitteln, bei der auch kriminalpolitische Erwägungen ihren angestammten Platz haben. Dabei geht es um die „Gegenwartsaufgabe der Strafsatzung"; denn Gesetze dürfen nicht in einem historischen Verständnis „mumifiziert" werden, sie müssen vielmehr innerhalb ihres erklärten Sinnes neuen Erkenntnissen und Situationen angepaßt werden (Maurach). Ein Bedeutungswandel der Norm kann sich daher auch aus einem Wandel der Normsituation ergeben (Larenz). Die Mitberücksichtigung neuer biologischer Erkenntnisse ist deshalb für eine sachgerechte Auslegung des §218 StGB selbstverständlich. Damit bin ich bei der Darstellung und Abwägung der Einzelargumente angelangt, die bei der Frage nach der Zäsur zwischen Empfängnisverhütung und Abtreibung auftauchen - Begriffe, die übrigens hier als strafrechtliche termini technici gemeint sind40. Zum besseren Verständnis sei jedoch ein kurzer Hinweis auf die Geschichte der strafrechtlichen Deutung dieser Zäsur vorauf geschickt: Als unter der Herrschaft der Partikulargesetze des 19. Jahrhunderts die letzten Auswirkungen der sog. „Beseelungslehre" überwunden wurden, setzte sich die Ansicht durch, daß für den Beginn der Strafbarkeit wegen Abtreibung der Zeitpunkt der Befruchtung maßgebend sei41. Nach Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuchs [449] von 1871 war dies dann bis in die neueste Zeit hinein allgemeine Ansicht42. Indessen besagt dies für unser Problem nicht viel. Denn den Juristen früherer Tage waren die Vorgänge von der Befruchtung bis zur Nidation, die erst nach 1900 ganz allmählich in das allgemeine Bewußtsein der Mediziner gedrungen sind43, naturgemäß noch unbekannt; man sprach daher trotz 39
Vgl. zum folgenden näher: Maurach, AT, 83 ff; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1960, 233 ff, 250 ff, 261 ff; Jescheck, AT, 109 ff; Engisch, Einführung in das juristische Denken, 3. Aufl. 1956, 63 ff, 100 ff; Baumann, AT, 135 ff. 40 Die Kontroverse um den medizinischen Begriff „Empfängnis" bleibt hier außer Betracht. Vgl. dazu: Harmsen und Dietel, Hamb. Ärztebl. 1967, 297 u. 302; s. auch die Nachw. bei Strutz, MSchrKrim. 1969, 87, Anm. 32 ff - Vgl. auch Fn. 104. 41 Vgl. zur Rechtsgeschichte der Abtreibung die Quellennachweise bei: A .Heinitz, die Straftaten wider das keimende Leben, 1911, 1-40; Schmidtlein, Die Natur der menschlichen Leibesfrucht, 1966, 6-31. 42 Vgl. die Nachw. bei Strutz, MSchrKrim. 1969, 86, Anm. 20 ff. 43 Vgl. Winter, Historisches zum mensuellen Zyklus, 1955, bes. 9f, 14; Fassbender, Geschichte der Geburtshilfe, 1906/1964, 398 ff, 402 ff; 407 ff; Grosser in Seitz-Amreich, Biologie und Pathologie des Weibes, 7.Bd. 1952, I f f ; Stoeckel-Kraatz, Lehrbuch der
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Abstellung auf die Befruchtung auch ganz unbefangen davon, der Begriff „Abtreiben" bedeute die Tötung der Frucht durch „unzeitige Zerstörung ihrer organischen Verbindung mit der Mutter 44 ". Und als die Unterscheidung zwischen Befruchtung und Nidation aufgrund neuerer medizinischer Publikationen hätte bekannt sein können, nahm die Rechtswissenschaft zunächst noch keine Notiz davon; sie blieb bis in die neueste Zeit hinein ohne jede juristische Stellungnahme zu den neuen embryologischen Erkenntnissen bei der überlieferten Formel. Es ist daher nicht einmal feststellbar, seit wann diese juristischen Autoren des Unterschieds zwischen Befruchtung und Nidation eingedenk waren45. Dieses Schweigen der juristischen Literatur ist nicht verwunderlich; denn ein praktisches Problem war ja mit den neuen embryologischen Einsichten für die Juristen zunächst noch nicht verbunden, weil die nidationshemmenden Mittel erst eine Erfindung der neuesten Zeit sind. Und die Rechtswissenschaft hinkt eben oftmals nach! Sie tat es hier bis 1966. Der Kreis der neueren juristischen Stimmen, die seit 1966 unsere Frage behandeln und sich dann für die traditionelle Interpretation entscheiden, ist entgegen der landläufigen Meinung sehr klein; er ist soweit ich sehe - mit den namen Blei46, Kaiser47 und Strutz48 bereits umrissen. Hingegen nimmt der Kreis derjenigen juristischen Autoren, die sich unter Auseinandersetzung mit unserem Problem für die Zäsur der Nidation entscheiden, ständig zu; die Namen Dreher49, Schwalm50, Ackermann 51 , Geilen52, Bockelmann53, Forster54, Maurach55, Müller-
Geburtshilfe, 14. Aufl. 1966, Teil I, 22 u. passim; Brockhaus Enzyklopädie, 17. Aufl. 1967, 2. Bd., 457 f. 44 Vgl. Goltdammer, Materialien zum StGB für die Preuß. Staaten, Teil II, 1852, 288, sowie die diesen Materialien folgende damalige Literatur. - Näheres im Text zu u. mit Fn. 60-64. 45 Das Gegenteil ist indessen noch 1958 feststellbar: Schaefer in Leipziger Kommentar, 8. Aufl. Anm. II 1 a spricht vom „Embryo... von der Konzeption... an" ! Vgl. dazu den Text zu und mit Fn. 65. w Vgl. Mezger-Blei, BT, 30 ff. 47 Vgl. Kaiser, Med. Klinik 1968, 1564, sowie Familie und Geburtenregelung (herausgegeben von Blobel-Flitner-Tölle), 1969, 119 ff. « Vgl. Strutz, MSchrKrim. 1969, 83 ff. 49 Vgl. Schwarz-Dreher, ab 29. Aufl. 1967, Anm. 1 zu §218 StGB. 50 Vgl. Schwalm, Med. Klinik 1967, 1556 ff = MDR 1968, 277 ff. 51 Vgl. Ackermann, Hamb. Ärztebl. 1967, 299 ff. 52 Vgl. Geilen, JZ 1968, 145 ff, u. FamRZ 1968, 121 ff. 53 Vgl. Bockelmann, Strafrecht des Arztes, 1968, 32. 54 Vgl. Forster (Fn. 11), 60 ff. 55 Vgl. Maurach, BT, 55 u. 66.
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Emmert/Friedrichs 56 , Lackner 57 und Welzel 58 dürften - soweit ich feststellen konnte - den augenblicklichen Stand wiedergeben. Die Rechtsprechung hat sich mit unserem Problem noch nicht befaßt59. Doch wenden wir uns nun den Argumenten dieses Meinungsstreites zu. 1. An die Entstehungsgeschichte des § 218 StGB hat Geilen52 mit folgendem Argument angeknüpft: Der in früheren Fassungen des § 2 1 8 StGB verwendete Begriff des „Ab-treibens" der Frucht lasse erkennen, daß damit ein Eingriff in eine bereits bestehende organische Verbindung zwischen Frucht und Mutterleib gemeint gewesen sei. Dies klinge auch noch in dem Begriff des „Ab-tötens" an, der in der heutigen Fassung des § 2 1 8 StGB verwendet sei. Eine solche organische Verbindung zwischen Frucht und Mutterleib bestehe aber erst von der Nidation an. Nun ist es zwar richtig, daß § 2 1 8 Abs. 1 StGB in den Fassungen von 1871 und von 1926 nebeneinander die Alternativen „Abtreiben" und „Töten im Mutterleib" enthielt60. Und es ist vor allem auch zutreffend, daß mit der Alternative des „Abtreibens" - wie ich schon erwähnte ursprünglich die Tötung der Frucht durch „unzeitige Zerstörung ihrer organischen Verbindung mit der Mutter" gemeint war". Indessen hilft dies nicht weiter. Denn der Gesetzgeber von 1871 und die damalige Rechtswissenschaft kannten ja den Unterschied zwischen Befruchtung und Nidation noch nicht; und der Gesetzgeber von 1926 ist - wie das Schweigen der Materialien hierzu zeigt62 - insoweit einfach bei dem " Vgl. Müller-Emmert/Friedrichs, JZ 1969, 253, Anm. 125 u. DRiZ 1969, 321. 57 Vgl. Lackner in Lackner-Maassen, 5. Aufl. 1969, Anm.2 zu §218 StGB. 58 Vgl. Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, 300. 59 1925 - also vor dem Auftauchen unseres Problems - sprach RGSt. 59, 99 davon, daß die Leibesfrucht durch §218 StGB in ihrer Entwicklung „von dem Augenblick ihrer Zeugung (!) bis zu ihrer natürlichen Ausstoßung aus dem Mutterleibe" geschützt sei. 60 §218 Abs. 1 StGB in der ursprünglichen Fassung vom 15.5.1871 (RGBl. 1871, I, 127) lautete insoweit: „Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleib tötet, wird...". Die Neufassung vom 18.5.1926 (RGBl. 1926, I, 239) lautete: „Eine Frau, die ihre Frucht im Mutterleib oder durch Abtreibung tötet...". - Diese Umstellung im Wortlaut sollte die Streitfrage ausräumen, ob unter die „Abtreibung" auch die Herbeiführung einer Frühgeburt ohne Tötungsvorsatz und Tötungserfolg falle; vgl. RGSt. 4, 380 ff; Mezger-Blei, BT, 30. 41 Vgl. Goltdammer, wie Fn. 44. - Später wurde diese Formel übrigens in die Wendung vom „vorzeitigen Abgang der Frucht aus dem Mutterleib" verwässert; vgl. RGSt. 4,380 ff; Frank, Strafgesetzbuch, 18. Aufl. 1931, Anm.II zu §218 StGB; Schaefer in LK, Anm.II 1 b zu §218 StGB. - Die Formel bezog sich auch nicht auf die andere Alternative des „Tötens im Mutterleib". Dieses unterschied sich vom „Abtreiben" dadurch, daß der Tod der Frucht nicht erst infolge der Ausstoßung aus dem Mutterleib, sondern schon vorher durch die Einwirkung im Mutterleib eintrat; vgl. die vorbez. Nachw. sowie Fn. 44. ° Vgl. StGB-E 1925, S. 117ff; Niederschrift über die 194. u. 196. Sitzung der III. WP des Reichstages vom 5. u. 7.5.1926, S. 7010 ff, 7052 ff.
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überlieferten Sprachgebrauch geblieben. Selbst wenn also damals mit dem Begriff des „Abtreibens" die Vorstellung eines „Abtrennens von der Gebärmutter" verbunden war, so war dies die zwangsläufige Folge mangelnder Kenntnis der biologisch-juristischen Problematik, nicht aber eine bewußte Entscheidung für eine von zwei möglichen Lösungen. Ich sehe aber nicht, welchen Argumentationswert eine rechtshistorische Erscheinung, die auf Unkenntnis der zu bewertenden Fakten beruhte, heute noch haben könnte! Und wenn schließlich das Gesetz seit 1943 bis heute" statt der bisherigen beiden Alternativen vom „Abtöten der Leibesfrucht" spricht64, so hat dies heute einen anderen Sinn: Diese Wortwahl soll - wie ich schon erwähnte - sinnfällig machen, daß die Legalordnung einen Wertunterschied zwischen der „Tötung eines Menschen" und der „Abtötung einer Leibesfrucht" macht14. 2. Bedeutsamer sind die vom Boden der heutigen biologischen Einsichten ausgehenden Versuche einer grammatischen Afeainterpretierung des gesetzlichen Merkmals „Leibesfrucht", die Schwalm50 und Geilen52 sowie im Ergebnis ähnlich Ackermann51 unternommen haben. Sie argumentieren: Der Begriff „Leibesfrucht" deute anschaulich auf eine innige Verbindung der befruchteten Eianlage mit dem Mutterleib hin (Schwalm). Er besage, daß das befruchtete Ei nicht nur vom mütterlichen [450] Organismus beherbergt werde, sondern daß es mit ihm eine Symbiose eingegangen sei. Erst dann könne man auch mit dem Gesetz (§218 StGB) - in einem durchaus „possessorischen" Sinne - von der Frau und „ihrer" Leibesfrucht sprechen (Geilen). Dieses Stadium enger Verbindung beginne aber erst mit der Nidation. - Geilen52 fügt noch als teils historisches, teils grammatisches Argument hinzu, der Begriff „Leibesfrucht" sei nichts anderes als eine (seil.: in der Gesetzessprache nötige) Eindeutschung für Embryo; von einem Embryo spreche man aber erst nach der Einnistung. Das letztgenannte Argument ist freilich verwirrend. Denn die medizinische Wissenschaft spricht füt das Stadium nach der Nidation zunächst noch von Keim, dann erst während der Dauer der Organentwicklung von „Embryo" und danach Von Fetus65. Geilen meint indessen mit 63
§218 Abs. 1 StGB i.d.F. vom 18.3.1943 (RGBl. 1943, I, 169) lautete: „Eine Frau, die ihre Leibesfrucht abtötet...". - Wegen der unveränderten Weitergeltung dieses Tatbestandsteils vgl. Drittes Strafrechtsänderungsgesetz vom 4.8.1953 (BGBl. 1953, I, 735) und Erstes Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25.6.1969 (BGBl. 1969, I, 645). 64 Mit dieser Kurzfassung sind unstreitig nach wie vor beide Begehungsweisen erfaßt; vgl. BGHSt. 10, 5-6; 13, 24; BT-Drucks. IV/650, 278. 65 Vgl. Blechschmidt, Vom Ei zum Embryo, 1968, 43 ff, 63 ff u. bes. 131 ; Pschyrembel, Klin. Wörterbuch, 1969, 303 u. 364. - Die medizinische Terminologie lautet also, stets gerechnet vom Zeitpunkt der Befruchtung, bis zum Ende der 3. Woche: Keim (also noch
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„Embryo" ersichtlich als pars pro toto das gesamte Entwicklungsstadium nach der Nidation. Doch auch mit dieser Klarstellung hilft der Begriffsvergleich nicht viel weiter: Daß dem Gesetzgeber von 1943, der den Begriff „Leibesfrucht" in das Gesetz eingeführt hat63, die Eindeutschung medizinischer Begriffe vorgeschwebt habe, läßt sich nämlich wegen des Schweigens der Materialien66 nicht beweisen; eine bewußte Einschränkung dieser Art hätte dem damaligen drakonischen Gesetzgeber sogar gewiß ferngelegen! Indessen kommt es in erster Linie auf das Sprachverständnis der Gegenwart an67; damit mündet dieses Argument dann in die geschilderte grammatische Interpretation: Die Auslegung des Begriffs „Leibesfrucht" als mit dem Mutterleib verbundene Frucht ist sprachlich möglich und wohl auch naheliegend, jedoch - wie meist bei Fragen des Sprachgefühls - für sich allein nicht zwingend. Jedenfalls aber zeigt dieser grammatische Interpretationsversuch auch für Skeptiker etwas Wichtiges und Richtiges: Der Begriff „Leibesfrucht" ist offen für eine ^ « i n t e r p r e t a t i o n auf das nach der Nidation liegende Entwicklungsstadium. 3. Eine erste und wesentliche Verstärkung erfährt diese Umdeutungstendenz durch ein systematisches Argument, das Bockelmann 53 und Forster 54 hervorgehoben haben: §218 Abs. 1 StGB spreche von einer „Frau, die ihre Leibesfrucht" abtöte. §218 Abs. 3 (jetzt Abs. 2) StGB bedrohe denjenigen mit Strafe, der „die Leibesfrucht einer Schwangeren" abtöte. Von einer „Schwangeren" könne man aber nicht vor Einnistung des befruchteten Eies sprechen. Da jedoch nicht unterstellt werden dürfe, daß in den beiden Absätzen des §218 StGB unterschiedliche Zäsuren gewollt seien, müsse dies gleichermaßen für Absatz 1 gelten. Diese Deutung des gesetzlichen Begriffs „Schwangere" kann sich darauf stützen, daß die Umstellung der weiblichen Funktionsabläufe nach neueren humanbiologischen Einsichten nicht schon mit der Befruchtung, sondern erst mit der Nidation stattfindet 68 . Hieran bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Schwangere" anzuknüpfen, steht der Rechtswissenschaft aus den Gründen, die ich eingangs dargelegt habe, frei. Eine solche juristische Auslegung müßte auch die Zustimmung derjenigen Mediziner finden, die mit zahlreichen Stimmen in der neueren medizinischen Wissenschaft aus der Sicht ihrer eigenen Disziwährend der ersten beiden Wochen nach der Nidation), vom Ende der 3. Woche bis zum Ende des 3. Monats: Embryo, nach dem Ende des 3.Monats: Fetus. 66 Vgl. Rietzsch, DJ 1943, 242 ff. " Vgl. Larenz (Fn. 39), 264. 68 Vgl. dazu näher: Zimmer, Dt. Ärztebl. 1968, 449 ff.
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plin den Beginn der Schwangerschaft nicht mehr auf den Zeitpunkt der Befruchtung, sondern auf den Zeitpunkt der Nidation bestimmen". Jedenfalls aber kann man nicht den einen Schritt ohne den anderen tun: Man kann nicht eine Schwangerschaft verneinen, aber eine Leibesfrucht bejahen"'! 4. Das Zwischenergebnis dieser grammatischen und systematischen Interpretation wird weiter bestärkt in der Auseinandersetzung mit Argumenten, die - vornehmlich in biologischer Sicht - für und gegen den Zäsurcharakter der Nidation vorgebracht worden sind. a) Vorweg ein W o r t zur Vermeidung von Mißverständnissen 70 : Auch der Jurist denkt nicht daran, zu leugnen, daß die Entwicklung des menschlichen Lebens ein kontinuierlicher Vorgang ist; es geht nur darum, in dieser Entwicklung „Stationen" aufzuzeigen, an die das Recht anknüpfen kann. Konkret gesprochen: es geht um die Frage, ob die Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter eine solche biologische Station ist, der von Rechts wegen der Charakter einer Zäsur für die Bestimmung des Begriffs „Leibesfrucht" beigemessen werden kann. Solche Zäsuren kennt das Recht auch sonst, wie beispielsweise im Strafrecht den Beginn der Geburt (§217 StGB) als Zäsur für den Ubergang vom „Leibesfruchtcharakter" (§218 StGB) zur „Menschqualität" im Sinne der Tötungsdelikte (§§211 ff StGB). Fordert man nun aus naheliegenden Gründen für eine solche Zäsur eine möglichst große Prägnanz und Festigkeit, so hat die Nidation gerade in biologischer Sicht entscheidende Vorzüge vor der Station der Befruchtung: Humanbiologen und Mediziner sind darin einig, daß zwischen der Befruchtung des Eies und dem Abschluß seiner Einnistung in der Gebärmutter ein sehr großer - auf ca. 50 % geschätzter - Teil der Keimlinge zugrundegeht und daß die Absterberate nach erfolgter Nidation drastisch und sprunghaft absinkt 71 . Der Gynäkologe Döring hat dafür den plastischen Vergleich gebraucht, daß die Existenz des Keimlings bis zur Einnistung etwas „Fakultatives" habe; er hat gerade deshalb vorgeschlagen, erst von der Nidation an von einer „Leibesfrucht" zu sprechen 72 . N i m m t man noch hinzu, daß mit der Einnistung nicht nur diese außerordentliche Vergänglichkeit schwindet, sondern auch noch
" Vgl. Harmsen, Dt. Ärztebl. 1967, 297; Zimmer, Dt. Ärztebl. 1968, 452; ferner die zahlr. Nachw. bei Strutz, MSchrKrim. 1969, 87, Anm.32ff. Vgl. zur „Umdeutbarkeit" beider Begriffe: RGSt. 8, 198 ff; 29, 419 ff; Welzel, 195. 70 Vgl. zum folgenden die treffenden Ausführungen von Schwalm, MDR 1968, 278. 71 Vgl. Döring (Fn. 27), 29; Zimmer, Dt. Ärztebl. 1968, 452. 72 Vgl. Döring (Fn.27), 29; ähnlich: Harmsen, Hamb. Ärztebl. 1967, 297; s. auch Zimmer, Dt. Ärztebl. 1968, 452-453.
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die feste Verbindung des Keimlings mit der Gebärmutter an die Stelle seiner Wanderung tritt, so ist die Station der Einnistung in einer geradezu bildhaften Weise als Zäsur ausgewiesen. An sie anzuknüpfen, liegt auch für die juristische Interpretation nahe, denn es kann nicht sinnvoll sein, mit dem Strafschutz ausgerechnet dort einzusetzen, wo die Natur selbst eine so „verschwenderische Selektion" betreibt. Ich pflichte daher Geilen73 bei, der hierin ein entscheidendes Argument für eine Neuinterpretation des Begriffs „Leibesfrucht" erblickt hat. Dieses biologisch-juristische Argument bleibt auch unangefochten von Angriffen, die dagegen erhoben worden sind: So ist eingewandt worden74, dieser Gesichtspunkt habe eine frappante Ähnlichkeit mit den Schätzungen über die Dunkelziffer der Abtreibungen und der daraus oftmals abgeleiteten Forderung nach Straflosigkeit oder doch milder Behandlung der Abtreibungsfälle. Dies ist indessen ein untaugliches Argument, denn es geht hier doch darum, [451] juristische Konsequenzen aus einer Selektion zu ziehen, die die Natur von sich aus vornimmt. Weiter ist eingewandt worden75, die Zäsur der Nidation sei willkürlich, weil schon vor der Einnistung vermittels des Eileitersekrets ein Stoffwechsel zwischen Mutter und Keimling stattfinde76. Indessen stellt die neuere Strafrechtslehre auf die Nidation als markante Zäsur ja gerade deshalb ab, weil dann (und erst dann) eine feste Verbindung zwischen Frucht und Mutterleib eintritt. Der Hinweis, daß schon vorher eine nicht-feste Beziehung bestehe, trifft dann aber juristisch ins Leere. So bleibt noch der oft in fachlichen Diskussionen zu hörende Einwand, die Nidation sei als Zäsur unbrauchbar, weil ihr eine gewisse (geringe) zeitliche Unbestimmtheit anhafte. Indessen ist eine gewisse Unbestimmtheit unentrinnbar allen strafrechtlich relevanten biologischen Stationen eigen. Das gilt nicht nur für die Nidation, sondern auch für die Befruchtung; es gilt gleichermaßen für den Beginn der Geburt in §217 StGB, der von der heute herrschenden Rechtsmeinung77 mit dem gewiß fließenden - Anfang der Ausstoßungswehen gleichgesetzt wird78;
" Vgl. Geilen, JZ 1968, 147. 74 Vgl. Kaiser, Familie und Geburtenregelung, 1969, 138. 75 Vgl. Kirchhoff, Dt. Ärztebl. 1968, 2956; Kaiser (Fn.74), 135-136; Kepp in KeppKoester (Fn.27), 76. 76 Vgl. zu diesem Vorgang näher: Zimmer, Dt. Ärztebl. 1968, 450. 77 Vgl. RGSt. 9, 131 ff; 26, 178ff; BGHSt. 10, 5; Frank, Vorbem. I vor §211 StGB; Maurach, BT, 13; beide m. w. Nachw. - Die in RGSt. 1, 446 ff vertretene Ansicht, daß „das Kind zum Teil bereits den Schoß der Mutter verlassen haben" müsse, hat heute kaum noch Anhänger. 7S Die Zäsur „Beginn der Geburt" in §217 StGB und ihre Auslegung (vgl. den Text zu u. mit Fn. 77) werden immer wieder von Medizinern als „willkürlich" bezeichnet (vgl.
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und es gilt ebenso für den Tod, der durch den „Prozeß des Sterbens" gekennzeichnet ist und dessen schwierige Feststellung das Hauptproblem bei der Transplantatentnahme ist. Mit solchen Unsicherheiten werden wir uns abfinden müssen. b) Mit unserem Zäsurproblem scheint nun noch ein weiterer Umstand in Zusammenhang zu stehen: Der Zeitpunkt der Individuation7''. Es kann heute als sicher gelten, daß die Möglichkeit zur Entstehung von Mehrlingsgeburten aus einer einzigen Zelle nicht mit der Befruchtung endet, sondern noch bis zur Nidation (möglicherweise sogar noch kurze Zeit danach) fortbesteht. Der Zeitpunkt, von welchem an der künftige Mensch in seiner unteilbaren Einmaligkeit festliegt, ist nun ohne Zweifel für die Theologie und andere Disziplinen von größter Bedeutung. Und auch einzelne juristische Autoren73 haben geglaubt, hierin ein weiteres Argument dafür finden zu können, daß die Einnistung die Anfangszäsur des Leibesfruchtstadiums sei. Für diese Ansicht scheint zu sprechen, daß Rechtsprechung und Lehre - wenn auch ohne Zusammenhang mit dem Problem der Individuation - sehr oft von der „Leibesfrucht als Keim der sich in ihr entwickelnden Persönlichkeit" sprechen80. Dennoch ist der Gesichtspunkt der Individuation als Abgrenzungsmerkmal juristisch hier unbrauchbar; das wird deutlich, wenn wir ihn um der Klarheit willen isolieren: Unterstellen wir also einmal, alle anderen Argumente neuestens: Spann, Zeitschr. f. d. ges. gerichtl. Medizin, 1966, 26; Pribilla, Dt. Arztebl. 1968, 2256). In Wahrheit ist dies im System des geltenden Rechts eine sehr vernünftige Grenzmarke zwischen „Leibesfruchtcharakter" und „Menschqualität". Denn mit dem Beginn der Ausstoßungswehen tritt das Lebewesen in eine zeitlich-biologische Zone erhöhter Gefährdung durch unsorgfältiges Manipulieren ein. Hier bedarf es eines Strafschutzes gegen fahrlässige Beeinträchtigungen. §218 StGB schützt aber weder gegen „fahrlässige Abtreibung" noch gegen „fahrlässige Leibesfruchtverletzung". Diesen fehlenden Strafschutz erreichen §217 StGB und seine herrschende Auslegung durch eine weitreichende Vorverlegung der „Menschqualität". Denn dadurch werden die Strafvorschriften gegen fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung (§§222, 230 StGB) anwendbar (natürlich auch diejenigen gegen vorsätzliche Tötung und vorsätzliche Körperverletzung!). Eine Verständigung zwischen Juristen und Medizinern wäre eben viel leichter, wenn sich allseits die Einsicht durchsetzen würde, daß das Strafrecht seine eigene Methode und seine eigene Fragestellung hat! Ob de lege ferenda ein noch weiter vorverlegter Strafschutz gegen fahrlässige Verursachung des Todes oder einer Verletzung der Leibesfrucht geschaffen werden soll, oder ob sich eine solche Erstreckung bereits de lege lata im Wege der Auslegung den §§222, 230 StGB entnehmen läßt, ohne in eine unzulässige Analogie zu verfallen, ist eine andere Frage. Vgl. zum ganzen die Nachweise in Fn.7. 79 Vgl. zum folgenden: Zimmer, Dt. Ärztebl. 1968, 449 ff; Ruff, Stimmen der Zeit, Bd. 181/1968, 107ff, 327ff; Ehrensing, Theologie der Gegenwart, 1966, 149; Böckle, Ärztl. Praxis 1968, 2621; Cyran (Tagungsbericht), FAZ, Nr. 187 v. 14.8.1968; Forster (Fn. 11), 76 ff. 80 Vgl. RGSt. 67, 207; RG in DR 1940, 26; BGHSt. 11, 16-17.
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sprächen dafür, daß der Keimling schon mit der Befruchtung die Begriffsmerkmale einer Leibesfrucht erfülle. Dann wäre es juristisch ausgeschlossen, den Rechtsbegriff „Leibesfrucht" gleichwohl mit der Begründung zu verneinen, daß aus dem Keimling möglicherweise nicht nur ein Mensch, sondern sogar mehrere Menschen hervorgehen werden; vielmehr wäre die Potenz zur Mehrlingsbildung dann umgekehrt allenfalls81 ein Anlaß zu einem juristischen „Erst-recht-Schluß". Ein Argument, das aber für sich allein juristisch fehlerhaft ist, wird durch das Hinzutreten anderer Argumente nicht richtig. Es kann also strafrechtlich auf den Zeitpunkt der Individuation nicht ankommen. Die Frage nach der menschlichen Individualität ist nicht die Fragestellung des Strafrechts bei §218 StGB. 5. Trotz recht drastischen Aussonderns haben wir gewichtige grammatische, systematische und biologische Gründe gefunden, die es nahelegen, die Nidation als Anfangszäsur des Leibesfruchtstadiums anzuerkennen. Sie werden durch kriminalpolitische Erwägungen bestärkt, deren Berücksichtigung im Rahmen teleologischer Interpretation legitim ist. Seit langem ist die Abtreibungsseuche ein ernstes Problem, und zwar unter anderem auch wegen des Mißverhältnisses zwischen den entdeckten Fällen und der sog. Dunkelziffer. So lag beispielsweise die Zahl der zur Kenntnis der Polizei gekommenen Abtreibungen in den letzten fünf Jahren zwischen 2400 und 1600 Fällen82. Die Latenz der Abtreibungen wird hingegen von Medizinern und Polizei auch heute noch mindestens im Verhältnis von 1:100, aber nicht selten sogar auf jährlich etwa 500000 Fälle geschätzt; andere Schätzungen liegen noch weit höher83. Daß die Abtreibungsseuche sich mit den modernen, die Befruchtung verhindernden Mitteln ausrotten lasse, nimmt niemand an; Fachleute bezweifeln sogar, daß sie sich dadurch drastisch eindämmen lasse84. Entgegen einer verbreiteten Ansicht läßt sich ein Gegenargument auch aus der Polizeilichen Kriminalstatistik - von allem anderen abgesehen schon deshalb nicht entnehmen, weil dort bereits seit geraumen Jahren vor der Einführung der sog. Antibabypille ein Rückgang der entdeckten Abtreibungsfälle und ausgerechnet 1967 - also nach Einführung der „Pille" - ein sprunghaftes Ansteigen verzeichnet ist82. Realistisch ist also 81 Nämlich wenn solche Quantitätsfragen hier im Bereich des Lebensschutzes überhaupt eine Rolle spielen würden. 82 Nach der vom Bundeskriminalamt herausgegebenen Polizeilichen Kriminalstatistik betrug die Zahl der gemeldeten Abtreibungsfälle 1953: 6555,1954: 5664,1955: 5971,1956: 5400,1957: 4772, 1958: 4521, 1959: 4537,1960: 4195, 1961: 3842, 1962: 2942, 1963: 2784, 1964: 2388, 1965: 2165, 1966: 1773, 1967: 2369, 1968: 1687. 83 Vgl. Dotzauer in Handwörterbuch der Kriminologie, 2. Aufl. 1966, 5; Hanack (Fn.22), 42; Wehner, Kriminalistik, 1968, 497; Döring, Bay. Ärztebl. 1969, 30. 84 Vgl. dazu näher: Dotzauer (Fn. 83), 8; Hanack (Fn.22), 19.
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nur ein begrenzter und vorsichtiger Optimismus. Zwar werden auch die Nidationshemmer die Abtreibungen gewiß nicht aussterben lassen. Aber die Chance, durch nidationsverhindernde Mittel wenigstens eine (weitere) Abnahme der gesundheitlich gefährlichen Eingriffe nach erfolgter Nidation zu erreichen, darf nicht durch eine starre Auslegung des §218 StGB vertan werden; denn der Mangel [452] einer durchgreifenden generalpräventiven Wirkung des §218 StGB ist unbestritten85. Dagegen läßt sich nicht - wie es immer wieder geschieht - einwenden, mit einer derartigen Begründung könne man beispielsweise auch die Abschaffung der Strafvorschrift gegen Diebstahl fordern, weil ein hoher Prozentsatz der Diebstahlsfälle unaufgeklärt bleibe. Denn es geht hier nicht um die Aufklärungsquote bei entdeckten Straftaten, sondern um die nicht entdeckte Kriminalität. Die Aufklärungsquote ist bei den zur Kenntnis der Polizei gekommenen Abtreibungsfällen sogar rund dreimal so hoch wie beim Diebstahl86; Aufklärungsquoten lassen sich auch durch Verstärkung der Polizei und Verbesserung der kriminalitischen Methoden steigern. Die exorbitante Dunkelziffer der Abtreibungen ist aber ein Spezifikum dieses Delikts; sie läßt sich auch durch die beste Polizei schon deshalb nicht beheben, weil hier die wichtigen „Entdeckungsmittel" der polizeilichen Tatbeobachtung und der Anzeige87 weitgehend ausfallen. Hinzu kommt aber noch folgendes88: Ohne sich in Spekulationen zu verlieren, kann man davon ausgehen, daß §218 StGB im Bereich zwischen Befruchtung und Nidation in ganz besonderem Maße wirkungslos bleiben muß. Denn hier ist für den Laien der Unterschied zur Empfängnisverhütung wohl nur noch „terminologischer" Art und der Eingriff nur noch „theoretisch" eine Abtreibung89. Mit der Prognose einer 85 Vgl. statt vieler: Bader, Soziologie der deutschen Nachkriegskriminalität, 1949, 39 f; Gesenius (Fn.23), 182 ff; Hanack (Fn.22), 42 f. 86 Nach der vom Bundeskriminalamt herausgegebenen Polizeilichen Kriminalstatistik betrug die Aufklärungsquote bei der Abtreibung 1964: 90,7%, 1965: 90,0%, 1966: 89,0%; 1967: 92,0% u. 1968: 91,7%; beim einfachen Diebstahl 1964: 35,7%, 1965: 35,0%, 1966: 36,9%, 1967: 37,2% u. 1968: 37,8%; beim schweren Diebstahl 1964: 31,3%, 1965: 28,7%, 1966: 29,1%, 1967: 28,3% u. 1968: 27,8%. Bei einzelnen Diebstahlsarten lag die Aufklärungsquote noch weit niedriger; z.B. beim Diebstahl an Kraftfahrzeugen 1968: 8,3%. 87 Vgl. zum letzteren näher: Bader (Fn.85), 39 f. 88 Das in diesem Zusammenhang häufig angeführte weitere Argument, die Lösung künftiger Übervölkerungsprobleme (vgl. dazu Nachtsheim, MMW 1969, 432, u. Der Frauenarzt 1969, 1 ff) dürfe nicht durch eine starre Gesetzesauslegung erschwert werden (vgl. Geilen, JZ 1958, 147; Schwalm, MDR 1968, 278), scheint mir angesichts der gegenwärtig absehbaren Geburtenentwicklung in der Bundesrepublik allzu futuristisch, als daß es die Interpretation der „Gegenwartsaufgabe" der Strafsatzung beeinflussen könnte. 89 So allgemein für das Frühstadium nach der Befruchtung: Hanack (Fn.22), 46; ähnlich Ackermann, Hamb. Ärztebl. 1967, 300.
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solchen gesteigerten Wirkungslosigkeit verstärkt sich aber das kriminalpolitische Argument zum Sachzwang. Denn eine Auslegung, die eine Strafnorm förmlich in die Dunkelziffern hineintreibt, ist sinnwidrig; sie ist überdies rechtsstaatlichen Bedenken ausgesetzt90. Die Rechtsbedenken verstärken sich zwangsläufig bei der Überlegung, daß für den Bereich zwischen Befruchtung und Nidation der Nachweis einer abgetriebenen „Leibesfrucht" nachträglich kaum je möglich sein wird". Eine Auslegung, die praktisch von vornherein nur auf die Rechtsfigur des untauglichen Versuchs rekurrieren kann, ist aber eine dogmatische Anomalie. 6. Ich glaube zwar, daß inzwischen die Würfel gefallen sind. Doch soll ein Blick auf zwei zu Beginn erwähnte Randprobleme die Zweckmäßigkeit der sich abzeichnenden Lösung auch in anderer Richtung dartun. Denn schließlich erstrebt das Recht ja eine zweckmäßige Ordnung des menschlichen Zusammenlebens. a) Wie Geilen92 berichtet, werden in der medizinischen Praxis extrauterine Schwangerschaften ohne Prüfung der materiellen und formellen Voraussetzungen der medizinischen Indikation entfernt; ihre Beseitigung wird als rein therapeutischer Eingriff angesehen. Das ist in medizinischer Sicht auf doppelte Weise konsequent: Denn einmal definiert die medizinische Wissenschaft die Schwangerschaft beim Menschen als den Zustand der Frau während der intrauterinen Entwicklung der Frucht93. Und zum anderen besteht bei der extrauterinen Schwangerschaft stets eine ernste Gefahr für die Frau, während die Frucht nur in extrem seltenen Fällen überhaupt bis zur Reife kommen kann94. In der juristischen Literatur ist das Problem - soweit ich sehe - nur sehr selten behandelt. Die ältere Rechtslehre hat es vereinzelt aufgegriffen und dann bei einer extrauterinen Schwangerschaft die Anwendbarkeit des §218 StGB verneint95. In neuerer Zeit hat sich das Problem anscheinend in Deutschland96 nicht mehr gestellt. Hebt man nun für die Vgl. dazu: Herzog, in diesem Heft S. 445, Fn. 43. " Vgl. dazu näher: Forster (Fn. 11), 104 ff, dessen Folgerungen hieraus noch weitergehen als im Text. 92 Vgl. Geilen, J Z 1968, 147. " Vgl. Zimmer, Dt. Ärztebl. 1968, 452. 94 Vgl. Niedermeyer, Handbuch der speziellen Pastoralmedizin, 3. Bd. 1950, 301 ff, m. Nachw.; Pscbyrembel (Fn.65), 350. 95 Vgl. z . B . Holtzendorff, Handbuch des deutschen Strafrechts, 3.Bd., 1874, 457-458. - Ebenso für das Schweiz. Recht: Hafter, Schweiz. Strafrecht, Besond. Teil, 1. Hälfte, 1937, 77. 96 Anders in Österreich, wo man s i c h e r eine Einbeziehung der extrauterinen Schwangerschaft ausgesprochen hat; vgl. dazu: Osterreich. O G H . Bd. X (1930), 40 ff; Malaniuk, Die Abtreibung und verwandte Delikte als Rechtsproblem, 1956, 17-18. 90
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Leibesfruchteigenschaft auf die Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutterschleimhaut ab, so löst sich das Problem per definitionem in der Tatbestandsebene; eines Rückgriffs auf Rechtfertigungsgründe bedarf es nicht. Ich halte diesen Einklang zwischen medizinischer und juristischer Wertung für erstrebenswert97. b) Wenn wir den Naturwissenschaftlern' 8 glauben dürfen, dann ist der „Homunculus aus der Retorte" zwar so bald noch nicht mitten unter uns, jedoch die Befruchtung eines menschlichen Eies in vitro - anders als
seine Aufzucht - für die „Menschenmacher" schon kein Problem mehr. Eine solche Befruchtung in vitro muß nicht einmal stets vermessenes Experimentieren mit dem menschlichen Leben bedeuten oder schockierende Zwecke verfolgen"; es kann auch höchst achtenswerte Ziele haben, wie beispielsweise in bestimmten Fällen die Implantation eines befruchteten Eies bei einer empfängnisunfähigen Frau. Aus der Fülle der Rechtsfragen, die hier auf uns zukommen und die übrigens nur zum kleinsten Teil solche des §218 StGB sind, interessiert im Rahmen unseres Themas nur eine: Ist das in vitro befruchtete Ei eine „Leibesfrucht" i.S. des §218 StGB? Ich halte es durchaus für möglich, daß die Anhänger der konservativen Formel, derzufolge das Leibesfruchtstadium mit der „Befruchtung" beginnt, diese Frage in silbenstechender Auslegung bejahen würden, um einem - an sich richtig empfundenen - Regelungsbedürfnis Rechnung zu tragen. Eine solche Lösung wäre indessen nicht nur unverträglich mit dem natürlichen und juristischen Sinn des Tatbestandsmerkmals „Leibesfrucht"100; sie würde vielmehr auch eine Pervertierung des §218 StGB bedeuten, dessen Sinn es nicht ist, wissenschaftliche Experimente und Methoden zu reglementieren. Wenn aber die Anhänger der konservativen Formel sich auf die Einschränkung einigen würden, daß das befruchtete Ei sich jedenfalls „im Mutterleib" befinden müsse101, und wenn sie dadurch das in vitro befruchtete Ei aus dem Begriff der „Leibesfrucht" ausklammern würden, so wären sie zu einer „zweispurigen" Lösung gezwungen: [453] Denn während sie im Normalfall von der Befruchtung ausgehen könnten, müßten sie bei der Implantation eines in vitro befruchteten Eies (zumindest) auf die nachträgliche Einbringung in den Mutterleib abstellen. Diesen Zwiespalt vermeidet die 97
Ebenso Geilen, JZ 1968, 147; a. Α.: Strutz, MSchrKrim. 1969, 88-89. " Vgl. zum folgenden näher: Burian, Wort und Wahrheit, 1967, 428 ff; Schurr, Theologie der Gegenwart, 1966, 214ff; Konferenzbericht in Selecta 1967, 1531 ff; 1534; Eberle, Zeitschr. für prakt. Psychologie, 1968, 255 ff. " Vgl. dazu: Kirchhoff, Dt. Ärztebl. 1968, 2952; Geilen, FamRZ 1968, 128. 1C0 Ebenso Schwalm, MDR 1968, 278; Geilen, JZ 1968, 147, u. FamRZ 1968, 128-129. 101 Das hofft anscheinend Strutz, MSchrKrim. 1969, 88, Anm. 40.
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moderne Lehre, indem sie - ohne Rücksicht auf die vorangegangenen Prozesse - in jedem Falle auf die Nidation abhebt. Sie rettet also die Einheitlichkeit des Leibesfruchtbegriffes und überläßt die Regelung der Experimente dem, der dafür zuständig ist: dem Gesetzgeber102.
D. Doch ziehen wir nun das Fazit! Die Frage, ob das Leibesfruchtstadium schon mit der Befruchtung oder erst mit der Nidation beginnt, ist keine dem Gesetzgeber vorbehaltene rechtspolitische Entschließung, sondern eine Angelegenheit normaler Tatbestandsinterpretation. Die Gesetzesauslegung ergibt, daß ein Abstellen auf die Zäsur der Nidation nicht nur möglich ist, sondern sich gebieterisch aufdrängt. Diese restriktive Interpretation halte ich für richtig. Als Richter würde ich so und nicht anders entscheiden. Folgt man dieser Rechtsansicht, so ergibt sich juristisch folgendes Schema103, bei dem alle allgemeinen Probleme - wie Versuch und Vollendung, untauglicher Versuch und innerer Tatbestand - außer Betracht bleiben müssen: 1. Die Anwendung von Mitteln und Methoden, die eine Befruchtung des Eies verhindern, ist schon im traditionellen Sinne straflose Empfängnisverhütung. 2. Die Anwendung von Mitteln und Methoden, welche die Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter verhindern, ist keine Abtreibung mehr, da es dann nach der neuen Rechtsansicht noch an einer „Leibesfrucht", d.h. an einem eingenisteten befruchteten Ei fehlt. Dadurch klärt sich dann auch die Lage bei denjenigen Mitteln und Methoden, bei denen noch ungewiß ist, ob ihre Wirkungsweise in einer Verhinderung der Befruchtung oder der Nidation besteht. Wenn man das Wortspiel liebt, mag man sagen, daß damit der juristische Begriff der (straflosen) Empfängnisverhütung bis zur Nidation erweitert werde104. 3. Die Anwendung von Mitteln und Methoden, die ein bereits eingenistetes Ei wieder entnisten, erfüllt hingegen auch nach der neuen Rechtsansicht den Tatbestand der Abtreibung. Rechtliche Bedenken bestehen daher auch gegen solche Mittel, bei denen damit zu rechnen ist, daß sie sowohl eine Nidation verhindern als auch eine Entnistung bewirken 102
Ein anschauliches Bild von den dabei zu regelnden Fragen geben
und Burian (Fn. 98).
Kirchhoff (Fn.
99)
Vgl. dazu die treffenden Ausführungen von Schwalm, M D R 1968, 278-279. Dies trifft sich dann mit den modernen Bestrebungen, den medizinischen Begriff der Empfängnis auf den Zeitpunkt der Nidation festzulegen; vgl. dazu die Nachw. in Fn. 40. 103
104
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können, zumal für §218 StGB dolus eventualis genügt. Die bloße Möglichkeit, einen Nidationshemmer im Einzelfall durch vorschriftswidrige Benutzung zu einer Entnistung zu mißbrauchen, macht diesen aber - ebensowenig wie bei anderen Mitteln - noch nicht generell zum Abortivmittel. Die Beurteilung der Tatfrage, welche Mittel die eine oder die andere Wirkung haben, ist nicht Sache der Juristen, sondern der Mediziner27. Damit bin ich am Schluß meiner Ausführungen angelangt. Auch wenn es mir gelungen sein sollte, Sie von der Richtigkeit einer einschränkenden Auslegung des §218 StGB zu überzeugen, werden Sie den begreiflichen und ungeduldigen Wunsch haben, daß eine Frage von solcher Bedeutung nicht nur wissenschaftlich geklärt, sondern im Interesse der Rechtssicherheit auch ausdrücklich klargestellt werde. Hier bleibt uns nur die Hoffnung, daß der Sonderausschuß für die Strafrechtsreform des Deutschen Bundestages in der neuen Legislaturperiode nicht wieder erklären wird, für eine Beratung der Probleme des §218 StGB keine Zeit zu haben, wie es in der soeben abgelaufenen Wahlperiode geschehen ist105. Durch diese Verzögerung ist freilich Ihrer Tagung106 die Aussicht eröffnet, einen klärenden Beitrag für künftige parlamentarische Beratungen zu leisten. Diesen Erfolg wünsche ich Ihnen.
105 Vgl. BT-Drucks. V/4094, 34. - Gesetzestechnisch wäre es nicht schwierig, in §218 StGB durch eine Legaldefinition klarzustellen, daß eine „Leibesfrucht" erst von der Einnistung des (befruchteten) Eies in der Gebärmutterschleimhaut an vorliegt. 106 Die weiteren auf der 48. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin am 6 . 1 0 . 1 9 6 9 in Berlin zum hier erörterten Thema gehaltenen Referate von Prof. Dr. med. Kirchhoff, Göttingen: „Der Beginn des Lebens aus biologischer Sicht" und von Prof. Dr. theol. Böckle, Bonn: „Theologische Fragen zum Rechtsschutz des Lebens vor der Geburt" werden nebst der gesamten Diskussion in „Beiträge zur gerichtlichen Medizin" (Wien) veröffentlicht.
Der Beginn der Geburt und das Strafrecht Probleme an der Grenze zwischen Leibesfruchtcharakter und Menschqualität* + In biologischer Sicht ist die Entwicklung des menschlichen Lebens von seiner Entstehung bis zu seinem Ende ein kontinuierlicher Vorgang. Unser Strafrecht weist aber den Schutz dieses Lebens abschnittweise unterschiedlichen Strafnormen zu, die zwischen Abtreibung und Tötung differenzieren. Im ersten Falle schützt unser Strafrecht das Rechtsgut „keimendes Leben" und bezeichnet das Objekt der Tat als „Leibesfrucht" (§218); im zweiten Falle schützt es das Rechtsgut „vollentwikkeltes Leben" und bezeichnet das Handlungsobjekt als „Mensch" oder „Kind" (§§211 ff., 217). Ein so ausgestaltetes Strafrecht muß notwendig drei biologischen Stationen in dem kontinuierlichen Entwicklungsprozeß die Bedeutung von rechtlich relevanten Zäsuren beimessen1. Konkret gesprochen: Es muß klarstellen, wann das Leibesfruchtstadium und damit der Lebensschutz beginnt2. Es muß weiter den Begriff des Todes und damit das Ende des Lebensschutzes klären3. Es muß aber auch bestimmen, wann der Leibesfruchtcharakter sich zur Menschqualität wandelt; denn damit wechselt der Lebensschutz von der Abtreibung zur Tötung über. Die Zäsur der „Menschwerdung" grenzt jedoch zugleich die körperliche Integrität der Leibesfrucht rechtlich von derjenigen des Menschen ab; sie hat daher auch Bedeutung für den Anwendungsbereich der Strafnormen gegen Körperverletzung (§§ 223 ff.). Um diese Zäsur des Ubergangs vom Leibesfruchtcharakter zur Menschqualität und um ihre strafrechtliche Abschichtungsfunktion geht es bei den folgenden Erörterungen. Das Thema hat medizinische und juristische Aspekte. Seine Untersuchung liefert zugleich einen Beitrag zu den Methoden und den Schranken der strafrechtlichen Auslegung. * Aus: Juristische Rundschau 1971, S. 133-142. + Uberarbeitete und (um die Abschnitte A 3, 4 u. C) ergänzte Fassung eines Vortrags, den der Verfasser 1969 im Rahmen einer interdisziplinären Vorlesungsreihe über „Medizinisch-juristische Probleme im Strafrecht" an der Freien Universität Berlin gehalten hat. Der Vortragsstil ist beibehalten. - §§ ohne Gesetzeszusatz sind solche des StGB. 1 Vgl. zum ganzen: Schwalm, M D R 1968, 277ff. 2 Vgl. dazu: Lüttger, J R 1969, 445 ff., mit Nachw. 3 Vgl. dazu: Stratemverth, Festschrift für Engisch, 1969, 528ff.; Heinitz, Rechtliche Fragen der Organtransplantation, 1970; jeweils mit Nachw.
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A.
Während unser Strafgesetzbuch zu den Fragen nach dem Beginn des Leibesfruchtstadiums und nach dem Begriff des Todes schweigt, enthält es - an fast versteckter Stelle und in unerwarteter Gestalt - eine dogmatisch und kriminalpolitisch interessante Bestimmung über den Wechsel vom Leibesfruchtcharakter zur Menschqualität. In der Strafvorschrift gegen die sogenannte Kindestötung (§217) spricht es nämlich von der Tötung eines unehelichen „Kindes" (durch seine Mutter) „in oder gleich nach der Geburt". Hier wertet das Gesetz mithin die vorsätzliche Tötung während des Geburtsaktes, wo man juristisch durchaus noch von einer „Leibesfrucht" reden könnte, rechtlich nicht mehr als Abtreibung, sondern schon als Tötungsdelikt. Ganz konsequent spricht es hier bei der Umschreibung des Handlungsobjekts auch nicht mehr von „Leibesfrucht", sondern von „Kind", womit nach unserem juristischen Sprachgebrauch die Anfangszeit des Menschseins bezeichnet wird. Wenn aber das Gesetz hier bereits den Zeitraum während des Geburtsvorgangs einbezieht, so liegt die Zäsur notwendig beim Beginn der Geburt. Dieser bestimmt also den Anfang der Menschqualität und damit zugleich das Ende des Leibesfruchtstadiums4. Diese im Gesetz selbst angelegte Zäsur gilt unbestritten über den Bereich der Kindestötung hinaus für das Verhältnis zwischen der Abtreibung und allen Tötungsdelikten (§§211 ff., 222). Die Strafvorschrift gegen die Kindestötung will nämlich nur dem präsumtiven besonderen seelischen Zustand einer außerehelich gebärenden Frau durch mildere Strafe Rechnung tragen5, nicht aber den Beginn der Strafbarkeit bei der Kindestötung anders regeln als in den übrigen Strafvorschriften gegen Tötung6. Unsere versteckte Legaldefinition ist also Ausdruck eines allgemeinen Grundgedankens der Tötungstatbestände; der Begriff der Menschqualität ist dort allenthalben derselbe7. Die hier sichtbar gewordene Zäsur gilt aber weiterhin auch für den sachlichen Anwendungsbereich der Strafvorschriften gegen Körperverletzung (§§223 ff., 230). Diese sprechen zwar von der körperlichen
Vgl. RGSt. 9, 131 ff.; 26, 178ff.; RG in GA 1907, 288; BGHSt. 10, 5. Vgl. RGSt. 77, 245 u. 247; OGH.BrZ.St. 3, 115 ff. ' Die sonst eintretende Schlechterstellung der unehelichen Mutter (vgl. Abschnitt A I ) wäre unvereinbar mit der Tendenz des §217 zur Besserstellung; und bei einer Teilnahme von Außenstehenden an der Kindestötung (vgl. dazu: Maurach, BT, 5. Aufl. 1969, 42, 44) ergäben sich sonst absurde Divergenzen hinsichtlich der Zäsur zwischen Abtreibung und Tötung. Ähnlich schon: K.Heinitz, Die Straftaten wider das keimende Leben, 1911, 59, und Eisenmann, Die Erlangung der Mensch-Eigenschaft, ihre rechtliche Bedeutung und Behandlung, 1915, 62 ff. 7 Vgl. RGSt. 1, 446ff.; RG in DR 1939, 365. 4 5
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Mißhandlung und von der Gesundheitsbeschädigung „eines anderen"; [134] doch ist damit nach dem Sprachgebrauch unseres Strafgesetzbuchs unstreitig ein „Mensch", nicht aber eine Leibesfrucht gemeint8. Da das Strafrecht jedoch nur einen einheitlichen Begriff der Menschqualität kennt, ist der sachliche Anwendungsbereich der Körperverletzungstatbestände mit demjenigen der Tötungsdelikte koordiniert': er setzt gleichfalls mit dem Beginn der Geburt ein. Zwar drängt sich hier sogleich die Frage nach dem Zusammenhang dieser allgemein anerkannten, durchgängig geltenden Zäsur mit den Tathandlungen und den Handlungserfolgen der genannten Delikte auf. Doch soll diese Frage zunächst dahinstehen; sie wird uns später (in Abschnitt B) beschäftigen. Zunächst wollen wir prüfen, welchen Zweck das Gesetz mit der Abstellung auf den „Beginn der Geburt" verfolgt, welchen Sinngehalt dieser Begriff hat und wo seine Leistungsgrenze liegt. 1. Die im deutschen Strafrecht auf den „Beginn der Geburt" festgelegte Zäsur zwischen Leibesfruchtcharakter und Menschqualität ist nicht willkürlich, sondern hat triftige kriminalpolitische Gründe für sich10: Unser Strafrecht kennt für den Zeitraum des Leibesfruchtstadiums nur eine Strafvorschrift gegen vorsätzliche Abtreibung; Strafvorschriften gegen eine fahrlässige Abtötung der Leibesfrucht sowie gegen eine vorsätzliche oder fahrlässige Verletzung der Leibesfrucht enthält es nicht. Mit dem Beginn des Geburtsaktes tritt das Lebewesen aber in eine zeitlich-biologische Zone erhöhter Gefährdung durch unsorgfältiges Manipulieren ein. Hier bedarf es eines erweiterten Strafschutzes gegen Beeinträchtigungen. Diesen verbesserten Strafschutz erreicht das Gesetz für den kritischen Zeitraum während des Geburtsaktes dadurch, daß es die Zäsur zwischen Leibesfruchtcharakter und Menschqualität in der geschilderten Weise auf den Beginn des Geburtsvorgangs vorverlegt. Denn dadurch treten nicht nur an die Stelle der Strafvorschrift gegen vorsätzliche Abtreibung (§218) die wesentlich härteren Strafvorschriften gegen Mord, Totschlag und Kindestötung (§§211, 212, 217). Vielmehr greifen nunmehr auch die Strafvorschriften gegen fahrlässige Tötung (§222) sowie gegen vorsätzliche und fahrlässige Körperverletzung ein (§§223 ff., 230), weil ja die Anfangszäsur der Menschqualität dort allenthalben dieselbe ist. Unsere versteckte Legaldefinition über den
8 Vgl. RGSt. 26, 178ff.; R G in D R 1939, 365. ' V g l . dazu: Geilen, FamRZ 1968, 121 ff. (127); Blei, Münchener Medizinische Wochenschrift (MMW) 1970, 741 ff. (743). 10 Vgl. zum folgenden: Maurach, BT, 13; Liittger, Beiträge zur gerichtlichen Medizin (Wien) 1970, 69 ff.
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Wechsel vom Leibesfruchtcharakter zur Menschqualität ist also auch ein Beispiel dafür, daß das Strafrecht seine eigene Methode zur Lösung seiner kriminalpolitischen Probleme hat. 2. Was die Zäsur „Beginn der Geburt" des näheren bedeutet, bedarf jedoch - wie auch bei anderen human-biologisch fundierten Rechtsbegriffen2 - noch der Auslegung. Die Ansichten darüber haben gewechselt11: In älterer Zeit hat man nicht selten angenommen, entscheidend sei der Zeitpunkt, in welchem die (mittels der Nabelschnuradern erfolgende) Plazentaratmung aufhöre und die Lungenatmung oder doch die Möglichkeit dazu beginne. Indessen wird diese Lehrmeinung heute schon deshalb nicht mehr vertreten, weil eine solche Unterscheidung gar nicht funktioniert. Beide Atmungsformen kommen nämlich nebeneinander vor. Dies ist vor allem nach dem Austritt aus dem Mutterleib vor der Abnabelung der Fall, gelegentlich aber auch schon früher, wenn während des Geburtsvorgangs Luft in die Vagina der Mutter eingeströmt ist, wie es beim Einführen der Hand und von Instrumenten, aber auch bei normalem Geburtsverlauf vorkommt 12 . Daß bereits einige Zeit vor der Geburt intrauterine „Atembewegungen" des Fetus zu beobachten sind, die keine Luft in die Lungen hineinbringen13, mag dabei in juristischer Sicht sogar noch außer Betracht bleiben. Andere Autoren haben (statt dessen) unter dem „Beginn der Geburt" den teilweisen Austritt aus dem Mutterleib verstanden. Diese Ansicht hat heute jedoch nur noch vereinzelte Anhänger; sie ist ebenfalls unhaltbar. Der teilweise Austritt des Kindes aus dem Mutterleib bildet nämlich - ebenso wie übrigens auch das Aufhören der Plazentaratmung und das Einsetzen der Lungenatmung - nicht den Anfang der Geburt, sondern eine späte Geburtsphase. Eine solche Auslegung verstößt daher gegen den Sinn des Gesetzes, das auf den Beginn des Geburtsaktes abhebt und späteren Geburtsstadien keine rechtliche Bedeutung mehr beimißt14. Überdies würde eine derartige Deutung den Rechtsbegriff „Beginn der Geburt" so nahe an die tatsächliche „Vollendung" der Geburt heranrük11 Vgl. zum folgenden und zu weiteren Varianten die Literatur-Übersichten bei: K.Heinitz (Fn.6), 56ff.; Eisenmann (Fn.6), 60ff.; Frank, 18.Aufl., 1931, Vorbem. I vor §211; Schaefer in LK, 8. Aufl. 1958, Vorbem. I 2 vor §211. 12 Vgl. dazu: Stoeckel/Kraatz, Lehrbuch der Geburtshilfe, Teil I, 14. Aufl. 1966,214 ff. - Näheres zur Plazentaratmung bei von Mikulicz/Radecki in Stoeckel/Kraatz, a.a.O., 87-97. 13 Vgl. dazu: Stoeckel/Kraatz (Fn. 12), 116 u. 214; Bickenbach bei Seitz/Amreich, Biologie und Pathologie des Weibes, 2. Aufl. 1952, Bd. VII, 187ff.; Jaschke, ebendort, 692; Ewerbeck in Gynäkologie und Geburtshilfe (herausgegeben von Käser u.a.), Bd.II, 1967, 83 u. 86; Ewerbeck bei Martins, Lehrbuch der Geburtshilfe, 7. Aufl. 1971, 456ff. 14 Vgl. RGSt. 9, 131 ff.; 26, 178ff.; RG in GA 1907, 288.
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ken, daß das kriminalpolitische Ziel einer möglichst weitgehenden Vorverlegung des Strafschutzes gegen fahrlässige Beeinträchtigungen vereitelt wäre. Die seit langem in Rechtsprechung und Rechtslehre ganz herrschende Ansicht versteht daher unter dem „Beginn der Geburt" eine wesentlich frühere biologische Station, nämlich das Einsetzen der Ausstoßungsversuche des Mutterleibes15 oder den Anfang der im weiteren Verlauf zur Ausstoßung führenden Wehen16. Dabei stehen den von der Natur selbständig in Gang gesetzten Wehen die „künstlich" eingeleiteten Wehen gleich; und wenn die Wehen ganz ausbleiben, tritt der Beginn der „künstlichen Geburt" - gleichgültig in welcher medizinischen Form rechtlich an ihre Stelle17. 3. Sieht man von dem zuletzt genannten besonderen Fall ab, so fällt auf, daß Rechtsprechung und Rechtslehre fast ohne Ausnahme darauf verzichten, die seit alters her üblichen Formeln vom „Einsetzen der Ausstoßungsversuche des Mutterleibes" und vom „Beginn der zur Ausstoßung hinführenden Wehen" unter Berücksichtigung medizinischer Erkenntnisse zu präzisieren. Nun werden aber in der medizinischen Wissenschaft mehrere zeitlich hintereinander auftretende Wehenarten unterschieden; die naheliegende Frage, welche von ihnen die Merkmale dieser Definitionen erfüllen, hat daher erhebliche praktische Bedeutung. Überdies ist noch offen, ob die Formel [135] vom „Einsetzen der im weiteren Verlauf zur Ausstoßung führenden Wehen" überhaupt in allen Fällen den Beginn einer Geburt zutreffend beschreibt; verneinendenfalls ist sie entweder voreilig für synonym mit der anderen Formel vom „Einsetzen der Ausstoßungsversuche des Mutterleibes" gehalten worden oder es bedürfen gar beide Definitionen einer Ergänzung. Eine Antwort auf diese Fragen läßt sich nur unter Heranziehung des medizinischen Geburtsbegriffs und unter Besinnung auf die ratio legis gewinnen. a) Noch nicht zum Geburtsvorgang gehören in medizinischer Sicht: die sogenannten Schwangerschaftswehen, bei denen der Uterus nur „trainiert"; die Senkwehen, die beim Senken des Leibes der Schwangeren auftreten; und die Stellwehen, durch die bei Erstgebärenden der voranliegende Teil der Frucht im Beckeneingang „eingestellt" wird. Diese 15 Vgl. die Rspr.-Nachw. in Fn. 14; ferner BGHSt. 10, 5. " Vgl. Mezger/Blei, BT, 9. Aufl. 1966, 10; Welzel, 11. Aufl. 1969, 280; Dreher, 32. Aufl. 1970, Vorbem. 2 A vor §211; Lackner/Maassen, 6. Aufl. 1970, Anm.3 zu §211. 17 Vgl. Mezger/Blei, BT, 10. - In der Rechtsprechung ist diese Frage noch nicht behandelt. - Die Konsequenzen, die sich bei vorsätzlicher oder fahrlässiger Unterlassung einer medizinisch indizierten Einleitung der künsdichen Geburt mit Todes- oder Verletzungsfolgen ergeben, sollen zusammen mit anderen noch offenen Fragen (vgl. Abschnitt A 4) in einer geplanten weiteren Abhandlung erörtert werden.
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Schwangerschafts- und Vorwehen, die in unregelmäßigen und längeren Abständen in den letzten Wochen der Schwangerschaft auftreten, sind noch keine Geburtswehen, sondern lediglich Vorzeichen einer bevorstehenden Geburt18. Als bloßes Vorstadium einer Geburt scheiden sie für unsere Frage nach dem „Beginn der Geburt" von vornherein aus. b) Die normale Geburt beginnt vielmehr in medizinischer Sicht mit der sogenannten Eröffnungsperiode; sie setzt sich fort mit der Austreibungsperiode und schließt mit der - hier nicht interessierenden - Nachgeburtsperiode ab. „Geburtswehen" sind daher schon die Eröffnungswehen, nicht erst die Austreibungs- und Preßwehen19. Die Eröffnungswehen, die in kurzen und meist rhythmischen Intervallen auftreten, erweitern die oberen Abschnitte des Geburtsweges - insbesondere den Gebärmutterhalskanal und den äußeren Muttermund - bis zur vollen Durchgängigkeit; zugleich drängen sie den vorangehenden Teil des Kindes (Kopf oder Steiß) in sie hinein bis zum äußeren Muttermund, nach Ansicht mancher medizinischer Autoren oftmals sogar noch weiter bis zum Beckenboden 20 . Die Treib- und Preßwehen, die nach einer meist kurzen Wehenpause in schnelleren Intervallen und mit größerer Stärke aufzutreten pflegen, befördern das Kind anschließend durch die unteren Abschnitte des Geburtswegs hindurch und aus dem Mutterleib hinaus21. Dabei beträgt die Dauer der Eröffnungsperiode ein Vielfaches der Austreibungsperiode. - Schon dieser ganz summarische Hinweis macht deutlich, daß nicht erst die Treib- und Preßwehen, sondern schon die Eröffnungswehen in juristischer Sicht zu den „Ausstoßungsversuchen des Mutterleibes" zählen, denn sie realisieren in zeitlicher und lokomotorischer Hinsicht bereits einen erheblichen Teil des Gesamtvorgangs der Ausstoßung aus dem Mutterleib. Die verwirrende sprachliche Ähnlichkeit des juristischen Begriffs „Ausstoßung" mit dem medizinischen terminus technicus „Austreibung" kann daher nicht darüber hinwegtäu-
18 Vgl. dazu näher: Pschyrembel, Praktische Geburtshilfe, 10. Aufl. 1964, 93, 96ff.; Jaschke bei Seitz/Amreich (Fn. 13), 588ff.; Martins (Fn. 13), 273. " Die medizinische Terminologie ist nicht einheitlich. Die Bezeichnung „Preßwehen" wird häufig synonym für Treibwehen verwandt; meist wird darunter jedoch eine bestimmte Wehenart in der Austreibungsperiode verstanden. Vgl. dazu: Jaschke bei Seitz/ Amreicb (Fn. 13), 600-601. 20 Vgl. dazu näher: Pschyrembel (Fn. 18), 93, 131 ff.; Stoeckel/Kraatz (Fn. 12), 196ff., 203; Käser/Pallaske in Gynäkologie und Geburtshilfe (Fn. 13), 713ff.; Martius (Fn. 13), 273, 285ff.; Jaschke bei Seitz/Amreich (Fn. 13), 591 ff. 21 Vgl. dazu näher: Pschyrembel (Fn. 18), 93, 139ff.; Stoeckel/Kraatz, (Fn. 12), 203ff.; Käser/Pallaske in Gynäkologie und Geburtshilfe (Fn. 13), 721 ff.; Martius (Fn. 13), 273 ff., 288 ff .-Jaschke bei Seitz/Amreich (Fn.13), 599 ff.
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sehen: Auch im Rechtssinne „beginnt" die normale Geburt mit den Eröffnungswehen22. Diese Auslegung führt aber nicht nur zu einem erstrebenswerten Gleichklang der strafrechtsdogmatischen Begriffsbildung mit den medizinischen Anschauungen vom Geburtsbeginn. Sie verwirklicht vielmehr dank ihrer Ubereinstimmung mit den Lebenskonkreta auch in optimaler Weise die kriminalpolitischen Ziele, die das Gesetz mit der Zäsur „Beginn der Geburt" verfolgt. Denn die Eröffnungsperiode gehört bereits zu jenem Zeitraum, in dem das Lebewesen eines erweiterten Strafschutzes bedarf, da es jetzt - beispielsweise bei Wehenschwäche und bei zu starken Wehen, aber auch bei Vorliegen von Geburtshindernissen - in den gefahrenträchtigen Bereich medikamentöser und operativer Geburtshilfen gelangt23. Jede andere Auslegung würde also auch der ratio legis zuwiderlaufen. Nach alledem ist es auch verfehlt, die Praktikabilität der geschilderten Definition durch einschränkende Zusätze aufs Spiel zu setzen, wie sie sich gelegentlich finden, wenn vom Einsetzen der „ohne längere Unterbrechung" zur Ausstoßung führenden Wehen die Rede ist24. Denn einmal kann dann bei engherziger Auslegung schon die meist zwischen der Eröffnungsperiode und der Austreibungsperiode liegende Wehenpause zu Schwierigkeiten führen, wenn sie länger andauert. Vor allem aber scheitert eine solche einschränkende Auslegung in den zahlreichen Geburtsfällen, bei denen die Wehen wieder aussetzen; gerade dort ist jedoch ein Strafschutz gegen fahrlässige Beeinträchtigungen unverzichtbar, weil nunmehr Geburtshilfen nötig werden können. c) Die Formeln vom „Einsetzen der Ausstoßungsversuche des Mutterleibes" und vom „Beginn der zur Ausstoßung hinführenden Wehen" passen aber nicht nur auf die bisher behandelte normale Geburt; sie funktionieren auch dann, wenn das Kind regelwidrig mit nur einigen Wehen - unter Umständen binnen weniger Minuten - oder gar mit einer einzigen Wehe geboren wird, wie es bei der „überstürzten Geburt" und bei der „Sturzgeburt" vorkommt25. Hier mag die übliche Einteilung in
22 Im Ergebnis ebenso: Schwalm, MDR 1968, 278. - A.A.: Maurach, BT, 13, der ersichtlich als einziger in der neueren juristischen Standardliteratur - auf das Einsetzen der „Preßwehen" abhebt und damit auf den letztmöglichen Wehenzeitpunkt (vgl. Fn. 19) rekurriert. 23 Vgl. dazu näher: Mosler bei Stoeckel/Kraatz (Fn. 12), 290 ff. 24 Vgl. dazu: Frank, Vorbem. I vor §211; Schönke/Schröder, 15. Aufl. 1970, Rdz. 10 der Vorbem. vor §211; Krey in JuS 1971, 87. 25 Vgl. dazu und zu der kontroversen medizinischen Terminologie: Stoeckel/Kraatz (Fn. 12), 221; Käser/Pallaske in Gynäkologie und Geburtshilfe (Fn. 13), 730f.; Martius (Fn. 13), 292.
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Eröffnungs- und Austreibungsperiode im ersten Falle fragwürdig und im letzten Falle hinfällig werden; gleichwohl erfüllt dann die erste beziehungsweise einzige Geburtswehe die Merkmale unserer Definition. d) Besonderer Überlegungen bedarf es jedoch, wenn eine Geburt gar nicht mit Wehen, sondern mit einem anderen Vorgang beginnt. Manche medizinische Autoren terminieren beispielsweise bei einem „vorzeitigen Blasensprung", dem die Eröffnungswehen erst nachfolgen, den Geburtsbeginn jedenfalls dann auf den Zeitpunkt des Blasensprungs, wenn dieser „geburtsterminnah" erfolgt26. Diese medizinische Streitfrage ist hier nicht zu entscheiden; das Beispiel soll lediglich eine allgemeine juristische Schlußfolgerung anschaulich machen: Wenn in medizinischer Sicht andere Vorgänge als Wehen den Auftakt der [136] Geburt bilden, so steht grundsätzlich nichts im Wege, diesen nunmehr vorangehenden Teilakt des Geburtsvorgangs im Einklang mit den geburtshilflichen Lehren auch rechtlich als „Beginn der Geburt" zu werten. Zwar versagt hier die - auf den Regelfall zugeschnittene - Formel vom „Einsetzen der zur Ausstoßung hinführenden Wehen" ; und auch die - nicht notwendig synonym zu verstehende - Formel vom „Anfang der Ausstoßungsversuche des Mutterleibes" mag hier ungewohnt oder gar unpassend klingen. Indessen sind beide Formeln nur althergebrachte juristische Umschreibungen für den allein maßgeblichen Begriff „Beginn der Geburt"; sie sind daher auch der Ausweitung auf bisher nicht bedachte neue Fallgruppen fähig, wie es ja bereits in dem früher erwähnten Beispiel der „künstlichen Geburt" geschehen ist. Eine solche Anpassung der juristischen Definition an medizinisch konstatierte Lebenssachverhalte kann nach der ratio legis geradezu geboten sein, wenn das Kind mit jenem den Wehen vorausgehenden - Auftakt der Geburt in den Bereich etwa nötiger Geburtshilfen gelangt27. Dieser allgemeine Hinweis auf die Anpassungsfähigkeit unserer Definition mag genügen; denn hier ist nicht der Ort, die Skala der geburtshilflichen Phänomene und medizinischen Lehren durchzuspielen. 4. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, daß andere Schwierigkeiten bleiben: Zunächst ist unserer Definition mit ihrem Abheben auf das Einsetzen der Ausstoßungsversuche des Mutterleibes oder der zur Ausstoßung hinführenden Wehen auch bei der normalen Geburt unverkennbar eine 26 Vgl. dazu: Jantzen/Hilfrich in Deutsche Medizinische Wochenschrift (DMW) 1968, 1760ff. (1765), mit Nachw.; Pschyrembel (Fn.18), 99, 135; allgemein: Wulf bei Martins (Fn. 13), 165 ff. 27 Vgl. für das erwähnte Beispiel des geburtsterminnahen vorzeitigen Blasensprungs: Jantzen/Hilfrich, wie Fn. 26.
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gewisse Unsicherheit eigen. Diese liegt zwar bei der hier vertretenen Auslegung nicht mehr so sehr - wie gelegentlich angenommen wird28 im Auftreten nachträglicher Wehenpausen. Sie besteht vielmehr darin, daß der Übergang von den Vorwehen, die noch keine Geburtswehen sind, zu den Eröffnungswehen, mit welchen in rechtlicher Sicht die Ausstoßungsversuche des Mutterleibes beginnen, oftmals fließend ist und nicht selten Erkenntnisschwierigkeiten bereitet29. Indessen ist eine gewisse (geringe) zeitliche Unbestimmtheit unentrinnbar allen strafrechtlich relevanten biologischen Stationen eigen. Denn dies gilt nicht nur für den „Beginn der Geburt", sondern ebenso für Befruchtung und Nidation, die beiden zur Zeit vieldiskutierten denkbaren Anknüpfungspunkte für den Beginn des Leibesfruchtstadiums2. Und es gilt gleichermaßen für die Endzäsur des strafrechtlichen Lebensschutzes, den Tod, der durch den „Prozeß des Sterbens" gekennzeichnet ist und dessen schwierige Feststellung das Hauptproblem bei der Entnahme lebenswichtiger Transplantate bildet3. Mit solchen Unsicherheiten werden wir uns also abfinden müssen. Weiter ist neuerdings problematisch geworden, ob und inwieweit die Zäsur „Beginn der Geburt" auch bei vorzeitiger Ausstoßung unreifer Feten als Grenzmarke zwischen Leibesfruchtcharakter und Menschqualität funktioniert. In diesem Zusammenhang ist nämlich die Frage aufgetaucht, ob es in der Entwicklung des keimenden Lebens einen Zeitpunkt gibt, bis zu dem immer nur von einer „Leibesfrucht" und (trotz Beginns der Ausstoßung) niemals von einem „Menschen" gesprochen werden kann30. Diese noch ungeklärte Frage hat vielschichtige medizinische und juristische Aspekte; ihre Erörterung muß einer geplanten gesonderten Darstellung überlassen werden. Das ist ohne Schaden für unser Thema möglich. Denn hier ging es um das für den Rechtsbegriff „Beginn der Geburt" maßgebende Anfangsstadium des Geburtsaktes. Dort wird es um die andere Frage gehen, ob und wann eben diese Zäsur in dem besonderen Fall der Ausstoßung unreifer Feten aus anderen Erwägungen um ihre Rechtswirkung - die Veränderung der rechtlichen Objektqualität - gebracht wird. In der großen Mehrzahl der Geburtsfälle31 stellt sich dieses Sonderproblem also gar nicht. 28
Vgl. Maurach, BT, 13; Metzger/Blei, BT, 10. Vgl.Jaschke, bei Seitz/Amreich (Fn. 13), 591 ff.; Käser/Pallaske in Gynäkologie und Geburtshilfe (Fn. 13), 713ff.; Martins (Fn. 13), 273 u. 285. 30 Vgl. dazu: BGHSt. 10, 291 ff.; österr. OGH.SSt. XXXV, S. 191 ff.; Gerschow/ Schewe, Beiträge zur gerichtlichen Medizin 1970, 61 ff. - Ich mache mir weder die unklare Formel des BGH vom „Leben in menschlicher Weise" noch die Argumentation von Gerschow/Schewe zu eigen. 31 Vgl. dazu näher: Fuchs/Stakemann in Gynäkologie und Geburtshilfe (Fn. 13), 733ff.; Stoeckel/Kraatz (Fn. 12), 479; Martius (Fn. 13), 237. 29
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Und schließlich wird die Zäsur „Beginn der Geburt" gewiß versagen32, wenn - in hoffentlich ferner Zukunft - die Aufzucht eines in vitro befruchteten Eies zum „Retortenbaby" möglich werden sollte. Aber dann läßt sich - wie ich an anderer Stelle näher dargetan habe2 - schon gar nicht von einer „Leibesfrucht" reden; hier wird ohnehin der Gesetzgeber aufgerufen sein. B. Wir wollen uns daher der bisher zurückgestellten Frage nach dem Zusammenhang der Zäsur „Beginn der Geburt" mit den Tathandlungen und den Handlungserfolgen der Abtreibung, der Tötungs- und der Körperverletzungsdelikte zuwenden. Es geht im folgenden also um die Abschichtungsfunktion unserer Zäsur. Diese Frage ist generationenlang unproblematisch erschienen; seit dem sogenannten Contergan-Prozeß ist sie jedoch zu einem vieldiskutierten und umstrittenen Problem geworden. In diesem Strafverfahren ging es - unter anderem - um folgendes": Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft hatten die angestellten Ermittlungen hinreichend dargetan, daß ein von schwangeren Frauen eingenommenes Medikament zu Schädigungen der Leibesfrüchte geführt habe, die sich nach der Geburt als bleibende körperliche Defekte der Kinder manifestiert und in zahlreichen Fällen später auch zum Tode der Kinder geführt hätten. Die Anklage und - ihr folgend - der Eröffnungsbeschluß legten den für den Vertrieb des Medikaments verantwortlichen Personen zur Last, sich der fahrlässigen Körperverletzung (§ 230) beziehungsweise der fahrlässigen Tötung (§ 222) an diesen Kindern schuldig gemacht zu haben. Zwar ist das Verfahren inzwischen vom Gericht gemäß § 153 Abs. 3 StPO eingestellt worden34, die in ihm aufgeworfenen grundsätzlichen Probleme bleiben aber bestehen: Ist es „fahrlässige Tötung eines Menschen" im Sinne des §222 StGB, wenn ein solchermaßen der „Leibesfrucht" zugefügter Schaden nach der Geburt zum Tode des „Kindes" führt? Liegt „fahrlässige Körperverletzung eines Menschen" im Sinne des §230 StGB vor, wenn eine dergestalt bereits der „Leibesfrucht" zugefügte Schädigung sich nach der Geburt als Schadenszustand an dem „Kinde" auswirkt? Indessen will ich die Frage - ihrer grundsätzlichen Bedeutung wegen noch breiter stellen: für jede Tathandlung, [137] ob Eingriff oder
Insoweit zutreffend: Hofmann, ÖJZ 1963, 285. Vgl. dazu die Dokumentation von Dagmar und Karl-Heinz Wenzel „Der Contergan-Prozeß", Bde. I-IV, 1968-1970, bes. Bd.I, 4 ff. 34 Vgl. „Der Tagesspiegel" (Berlin), Nr. 7683 vom 19.12.1970, S.9. 32
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sonstige Einwirkung (beispielsweise auch durch Bestrahlungen), und für jede Schuldform, ob Vorsatz oder Fahrlässigkeit. Es geht also ganz allgemein darum, ob die Zäsur „Beginn der Geburt" übersprungen werden darf, wenn zwar der vorsätzliche oder fahrlässige Eingriff oder die sonstige Einwirkung vor dieser Zäsur liegen, aber entweder der Erfolg (Tod) erst nach ihr eintritt oder doch die schon vorher angerichtete Schädigung nach der Geburt als Schadenszustand (körperlicher oder geistiger Defekt) nachwirkt. Damit engt sich zugleich unser Thema ein; denn diejenigen Fälle, bei denen sowohl die Einwirkung als auch die Folgen jeweils ausschließlich entweder vor oder nach dem „Beginn der Geburt" liegen, sind und bleiben unproblematisch55. 1. Unsere Erörterungen müssen hier mit einer methodologischen Klarstellung beginnen. In der neueren Diskussion über die Abschichtungsfunktion der Zäsur „Beginn der Geburt" ist es nämlich seit dem Contergan-Prozeß zunehmend Mode geworden, abweichende Regelungen und Tendenzen in außerstrafrechtlichen Rechtsmaterien und in ausländischen Strafrechtssystemen zum Vergleich heranzuziehen, um daraus Argumente für eine Lösung unserer Frage zu gewinnen. Solche Verquikkungen sind indessen Irrwege, wie sich bei einer Besinnung auf die ratio legis und die im deutschen Strafrecht gültigen Auslegungsprinzipien zeigt. Die Zäsur „Beginn der Geburt" als Grenzmarke zwischen Leibesfruchtcharakter und Menschqualität ist nicht zufällig, sondern entspricht alter deutscher Strafrechtstradition36. Ebensowenig ist es Zufall, daß unser Strafrecht den Schutz des Lebens vor und nach dieser Zäsur ganz unterschiedlich gestaltet. Denn es hat sich von älteren Vorläufern, die noch Strafnormen gegen fahrlässige Abtreibung enthielten57, seit langem
35 Eine vor dem „Beginn der Geburt" verursachte und eingetretene Abtötung der Leibesfrucht im Mutterleib ist bei Vorsatz als Abtreibung strafbar (§218), bei Fahrlässigkeit jedoch straflos. Eine vor dem „Beginn der Geburt" verursachte und bis zu dieser Zäsur wieder ausgeheilte Verletzung der Leibesfrucht (in medizinischer Sicht ein wohl nur seltener oder gar nur theoretischer Fall) ist bei Vorsatz und bei Fahrlässigkeit straflos. Nach dem „Beginn der Geburt" verübte Tötungen und Verletzungen sind an einem „Menschen" begangen und daher bei Vorsatz und bei Fahrlässigkeit strafbar (§§21 Iff., 222, 223 ff., 230). 56 Vgl. insbes. : Teil II Titel X X § 965 des preuß. A L R von 1794; § 180 des StGB für die preuß. Staaten vom 1 4 . 4 . 1 8 5 1 ; § 2 1 7 des StGB für den Norddeutschen Bund vom 3 1 . 5 . 1 8 7 0 ; § 2 1 7 des Reichs-StGB vom 15.5.1871. 37 Vgl. z . B . : Kap. III § 2 0 des Codex Juris Bavarici Criminalis von 1751; Art. 88 § 6 der Constitutio Criminalis Theresiana von 1768; Teil II Titel 20 §938 des preuß. A L R von 1794; § 2 5 4 des E 1833 und § 3 1 6 des E 1843 zum preuß. StGB. - Weitere Einzelheiten bei von Liszt, Die kriminelle Fruchtabtreibung, 2. Bd. 1911, 510 ff.
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aus damals reiflich erwogenen Gründen38 zur späteren und heutigen Straflosigkeit der fahrlässigen Abtötung einer Leibesfrucht fortentwikkelt39; und die Schaffung von Strafnormen gegen eine Leibesfruchtverletzung hat der historische Gesetzgeber generationenlang nicht ernsthaft in Erwägung gezogen40. So spiegelt sich also im System unseres geltenden Strafrechts mit seiner Zäsur „Beginn der Geburt" und den um sie gestaffelten unterschiedlichen Strafnormen zum Schutze des erst werdenden und des schon vollentwickelten Lebens eine bewußte und gewollte gesetzliche Grundentscheidung wider41. Bereits aus dem hier unmißverständlich zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzes folgt, daß (zunächst einmal) die beim „Beginn der Geburt" angesetzte strafrechtliche 2äsur selbst gänzlich unbeeinflußt von abweichenden Regelungen oder Tendenzen anderer Rechtsmaterien bleibt. Wenn beispielsweise im bürgerlichen Recht (§ 1 BGB) die Rechtsfähigkeit des Menschen erst mit der „Vollendung der Geburt" das heißt: mit dem vollständigen Austritt aus dem Mutterleibe - beginnt, so ist dies unstreitig für das Strafrecht irrelevant42; das Gesetz will es so, daß das Lebewesen zum „Menschen" im Sinne des Strafrechts wird, bevor es die zivilrechtliche Rechtsfähigkeit erlangt. Und wenn umgekehrt in ausländischen Strafrechtssystemen Bestrebungen bestehen, die Leibesfrucht schon vor dem Beginn der Geburt als „Menschen" zu behandeln43, so ist solche Rechtsvergleichung de lege lata ebenfalls ohne jedes Interesse; das deutsche Strafrecht will es eben anders. Ebenso eigenständig ist auch die weitere Frage nach der abschichtenden Wirkung dieser Zäsur zu beantworten. Zwar werden beispielsweise im deutschen Zivil- und Sozialrecht dem später geborenen Kinde Ersatzund Versorgungsansprüche auch aus Schädigungen gewährt, die ihre Ursache vor seiner Geburt und sogar vor seiner Erzeugung haben; dabei bedient sich die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Schließung gesetzlicher Lücken weitgehend der „ergänzenden Rechtsfindung" in
58 Vgl. dazu statt vieler: Goltdammer, Materialien zum StGB für die preuß. Staaten, Teil II, 1852, 391; Radbruch in Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besond. Teil (VDB), V. Bd. 1905, 159 ff. (175). 59 Seit dem preuß. StGB von 1851. « Vgl. dazu statt vieler: von Liszt (Fn.37), l.Bd. 1910, 27ff. 41 Auch daran zeigt sich, daß das deutsche Strafrecht - wie ich in JR 1969, 447 näher dargetan habe - das Rechtsgut des keimenden Lebens geringer bewertet als das Rechtsgut des vollentwickelten Lebens. 42 Vgl. RGSt. 1, 446ff.; RG in GA 1907, 288; RG in DR 1939, 365. 43 So beispielsweise im österreichischen Strafrecht: Hofmann, ÖJZ 1963, 285 ff., und Meyer, ÖJZ 1964, 383ff.; dagegen: Österreich. OGH.SSt. XXXII, S.38ff., und XXXV, S. 191 ff.; Kunst, ÖJZ 1963, 599ff.
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Gestalt der Analogie44. Indessen gibt dies für unsere Frage, ob die strafrechtliche Zäsur „Beginn der Geburt" bei übergreifenden Taterfolgen oder doch fortdauernden Nachwirkungen übersprungen werden darf, nach Materie und Methode nichts her. Dies liegt nicht nur daran, daß die strafrechtlichen Tatbestände der Abtreibung, der Tötungs- und der Körperverletzungsdelikte autonom - unabhängig von haftungsbegründenden Tatbeständen außerstrafrechtlicher Art - konzipiert sind. Es liegt vielmehr vor allem daran, daß für die Anwendung strafrechtlicher Tatbestände weitgehend andere Maximen gelten als für die Anwendung zivil- und sozialrechtlicher Haftungsnormen45: Das Strafrecht ist wegen der „Garantiefunktion des Strafgesetzes" weit strenger an vertypte Tatbestände gebunden46; bei ihm endet - abgesehen von Redaktionsversehen - jede (auch die teleologische) Interpretation aus Gründen der Rechtssicherheit am „möglichen Wortsinn" als äußerster Auslegungsgrenze47; und eine die Strafbarkeit erweiternde Analogie ist ihm von Verfassungs wegen untersagt (Art. 103 Abs. 2 GG). Schon daraus folgt, daß die Lösung unseres Problems den einschlägigen Strafnormen nicht von außen aufgezwungen werden darf, sondern nur aus ihnen selbst gewonnen werden kann48. Dabei erlangt dann ein weiterer unabdingbarer Grundsatz zentrale Bedeutung: Alle Methoden der Lückenschließung enden dort, wo das Gesetz erkennbar eine endgültige Regelung getroffen hat, wo es also eine Begrenzung der Strafbarkeit wilt"*. Das aber ist bei der Abschichtungsfunktion unserer [138] Zäsur der Fall. Um dies zu zeigen, bedarf es - auf dem Boden der schon geschilderten Entstehungsgeschichte und ratio legis - ergänzender Ausführungen über Sinn und Zusammenhang50 der um die Zäsur „Beginn der Geburt" gruppierten Strafvorschriften zum Schutze des keimenden und des vollentwickelten Lebens. 2. Beginnen wir mit denjenigen Fällen, bei welchen der vor dem „Beginn der Geburt" vorgenommene Eingriff oder die sonstige Einwirkung nach jener Zäsur zum Tode geführt hat. a) Hier ergibt sich die Antwort auf unsere Frage, ob solchenfalls die Grenzmarke zwischen Abtreibung und Tötungsdelikten übersprungen 44 Vgl. dazu insbes. B G H Z 8, 243ff.; BSG in N J W 1963, 1078ff., und in N J W 1964, 470ff.; Selb, AcP 1966, 76ff„ mit umfassenden Nachw. , s Vgl. dazu u. zum folgenden: Geilen, FamRZ 1968, 128. 46 Vgl. dazu näher: Maurach, AT, 3. Aufl. 1965, 8 ff. 47 Vgl. BGHSt. 3, 303; 4, 148; 10, 159-160; Jescheck, AT, 1969, 112-113, mit weit. Nachw.; Grünwald, ZStW 1964, Iff.; Mezger/Blei, AT, 14.Aufl. 1970, 29. 48 Vgl. dazu: BGHSt. 4, 357. 45 Vgl. BGHSt. 6, 133; 9, 312. 50 Vgl. dazu: BGHSt. 9, 312.
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werden darf, für den Fall vorsätzlichen Handelns bereits zwingend aus der Konzeption des gesetzlichen Tatbestands der Abtreibung. §218 StGB umschreibt diesen Tatbestand als (vorsätzliches) „Abtöten der Leibesfrucht" 51 . Die früheren Gesetzesfassungen von 1871 und von 1926 unterschieden statt dessen zwei Begehungsweisen: einerseits die „Tötung im Mutterleib" und andererseits die „Abtreibung" beziehungsweise die „Tötung durch Abtreibung" 52 , bei welchen der Tod erst infolge der vorzeitigen Ausstoßung aus dem Mutterleib - also nachher - eintrat53. Die seit 1943 unverändert geltende54 Kurzfassung vom „Abtöten der Leibesfrucht" umfaßt unstreitig nach wie vor beide Begehungsweisen55. Die Abtreibung kann daher auch heute noch auf zweierlei Weise begangen werden: entweder dadurch, daß die Leibesfrucht bereits im Mutterleib getötet wird, oder dergestalt, daß die Einwirkung zwar zu einer Lebendgeburt führt, das Kind dann aber infolge seiner Lebensunfähigkeit (also ohne erneuten Angriff) stirbt. Zwar hat die höchstrichterliche Rechtsprechung bei der letztgenannten Alternative bisher nur Fälle behandelt, in denen diese Lebensunfähigkeit auf mangelnder Reife infolge vorzeitiger Ausstoßung beruhte56. Die Rechtslehre hat dem jedoch diejenigen Fälle gleichgestellt, in welchen die Lebensunfähigkeit ihren Grund in der durch den Eingriff oder die sonstige Einwirkung verursachten Schädigung hat57. Und zwar mit Recht, denn auf die Modalitäten der Lebensunfähigkeit kann es nicht ankommen; entscheidend ist nur, daß die auf Todesherbeiführung gerichtete Einwirkung Ausstoßung und Tod zur Folge hat. Historische Reminiszenzen sind kein Grund, die Auslegung eines Strafgesetzes zu „mumifizieren" und es zur Bewältigung seiner „Gegenwartsaufgabe" unfähig zu machen58. Der Wortsinn des „Abtötens der Leibesfrucht" und die ratio legis decken bei der zweiten Begehungsweise nicht nur die überlieferten Anwendungsfälle, sondern auch diese früher nicht bedachten neuartigen Fälle. Für unsere Überlegungen ist daran folgendes von ausschlaggebender Bedeutung: Anders als bei der „Tötung im Mutterleib" tritt bei der zweiten Begehungsweise der Abtreibung der Tod erst ein, nachdem der 51 Die andere Alternative des §218 Abs. 1, derzufolge es als täterschaftliche Abtreibung gilt, wenn die Schwangere vorsätzlich die Abtötung ihrer Leibesfrucht durch einen anderen zuläßt (vgl. dazu einerseits Welzel, 300; anderseits Maurach, BT, 67), kann hier außer Betracht bleiben, da sie für die folgenden Überlegungen nichts anderes hergibt. 52 Wortlaut u. Fundstellen bei Lüttger, J R 1969, 449, Anm.60 u. 61. 53 Vgl. RGSt. 4, 380ff.; 41, 328ff.; Frank, Anm.II zu §218. 54 Fundstellen bei Lüttger, J R 1969, 449, Anm.63. 55 Vgl. BGHSt. 10, 5 - 6 ; 13, 24; BT-Drucks. IV/650, 278. 56 Vgl. BGHSt. 10, 5 u. 293; 13, 24; B G H in MDR 1953, 597. 57 Vgl. Blei, MMW 1970, 742; Schönke/Schröder, R d z . 3 e zu §218. 58 Treffend dazu: Maurach, AT, 85 ff.
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Leibesfruchtcharakter sich durch die Geburt eines „Kindes" zur Menschqualität gewandelt hat. Dennoch behandelt das Gesetz diese Tat nicht als Tötungsdelikt, sondern als Abtreibung. Wenn aber das Gesetz diesen Fall eines „übergreifenden Taterfolgs" dem Tatbestand der Abtreibung zuordnet, dann stellt es für die Abschichtung zwischen Abtreibung und Tötung eindeutig auf die Objektqualität im Zeitpunkt des Eingriffs oder der sonstigen Einwirkung ab59, nicht aber auf die Objektqualität im Zeitpunkt des Erfolgseintritts (Tod). Anders ausgedrückt: Der Wandel in der rechtlichen Qualität des Handlungsobjekts zwischen Einwirkung und Erfolgseintritt führt nicht zur Annahme eines Tötungsdelikts60. Demnach ergibt sich aus der Systematik des Gesetzes : nur dann, wenn bereits im Zeitpunkt der Einwirkung ein „Mensch" als Handlungsobjekt vorhanden ist, kommt der Tatbestand eines Tötungsdelikts in Betracht61. Dieses Ergebnis muß noch gegen einen denkbaren Einwand abgesichert werden. Die Rechtsprechung hat bisher für die zweitgenannte Begehungsweise der Abtreibung stets vorausgesetzt, daß das Kind „alsbald" nach der Ausstoßung aus dem Mutterleib stirbt62; sie hat also einen engen zeitlichen Zusammenhang zwischen Ausstoßung und Tod gefordert63. Für unsere Zwecke kann indessen ganz dahinstehen, ob diese nicht näher begründete - These der Judikatur dogmatisch überhaupt haltbar ist64; denn es verschlägt hier aus anderen Gründen nichts. Trennt man nämlich dergestalt den erst geraume Zeit nach der Ausstoßung eintretenden Tod ab, so führt dies nur zu einer Bestrafung wegen versuchter Abtreibung (§§218 Abs. 3, 43), keineswegs aber zur Annahme eines Tötungsdelikts. Denn der dann isoliert verbleibende Tod des Kindes vermag das Fehlen einer gegen einen „Menschen" gerichteten Tötungshandlang nicht zu überspielen, auf die es - wie erörtert - ankäme. So hat denn auch die Rechtsprechung ganz konsequent eine vorsätzliche Tötung nur dann angenommen, wenn das infolge So ausdrücklich: BGHSt. 10, 5. Eingehend dazu (sowie zum inneren Tatbestand und zum Versuch): Blei, MMW 1970, 742. " Vgl. dazu allgemein: Kunst, ÖJZ 1963, 600. 62 Vgl. BGHSt. 10, 293; 13, 24; BGH in MDR 1953, 597. 63 Vgl. Eser, JuS 1970, 461. 64 Am Kausalzusammenhang zwischen Einwirkung und Todeserfolg ändert ein längerer zeitlicher Abstand zwischen Ausstoßung und Todeseintritt allein nichts (vgl. Schönke/ Schröder, Rdz.3d zu §218; österr. OGH.SSt. XIV, S.48: 3 Wochen Abstand). Und der zur Zeit der Tathandlung bestehende „aktuelle" Tatvorsatz (vgl. dazu statt vieler: Maurach, AT, 222-223) wird durch die Verspätung des Todeseintritts dann nicht in Frage gestellt, wenn darin nur eine unerhebliche Abweichung zwischen dem vorgestellten und dem wirklichen Kausalverlauf liegt (vgl. dazu insbes.: BGHSt. 10, 312ff.; Blei, MMW 1970, 742). 59
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des Eingriffs ausgestoßene „Kind" nunmehr durch einen neuen Angriff (vorzeitig) zu Tode gebracht worden war65. Aus alledem folgt: Auch dann, wenn ein vor dem „Beginn der Geburt" mit Abtötungsvorsatz vorgenommener Eingriff oder eine sonstige Einwirkung erst nach dieser Zäsur zum Tode führt, ist nach der eindeutigen Konzeption des Abtreibungstatbestands kein Raum für ein Uberspringen dieser Grenzmarke und für eine Anwendung der Strafvorschriften gegen vorsätzliche Tötung. Abtreibung und vorsätzliche Tötung korrespondieren zwar miteinander im Sinne einer lückenlosen Aufeinanderfolge an der Zäsur „Beginn der Geburt""; sie [139] überschneiden sich aber nicht, weil ihre Tatbestände unterschiedliche Einwirkungsobjekte voraussetzen' 7 . b) Damit ist zugleich die Antwort auf unsere Frage auch für den Fall fahrlässigen Handelns im wesentlichen vorgezeichnet; es bedarf nur noch einer verdeutlichenden Ergänzung. Das geltende Strafrecht hat - wie die geschilderte Entstehungsgeschichte zeigt - bewußt und gewollt davon abgesehen, die fahrlässige Abtötung der Leibesfrucht zu pönalisieren. Diese gesetzliche Entscheidung, die fahrlässige Abtreibung straflos zu lassen, gilt dann aber begriffsnotwendig für beide Begehungsformen, die traditionell und auch heute noch das Tatbild der Abtreibung prägen; sie umfaßt mithin auch jene Fälle eines „übergreifenden Taterfolgs", die - infolge der gesetzlichen Abstellung auf die rechtliche Objektqualität im Zeitpunkt der Einwirkung - rechtssystematisch zur Abtreibung und nicht zu den Tötungsdelikten zählen. Denn sowohl die Spielformen des äußeren Tatbestands der Abtreibung als auch dessen ebenfalls objektive Abgrenzung zu den Tötungsdelikten sind von Schuldformen unabhängig. Daraus ergibt sich zwingend: Fahrlässige todbringende Eingriffe und Einwirkungen im Leibesfruchtstadium bleiben nach dem Willen des Gesetzes in jedem Falle straflos, gleichgültig, ob sie den Tod (der Leibesfrucht) bereits im Mutterleib verursachen oder ob sie erst nach der Ausstoßung zum Tode (des Kindes) außerhalb des Mutterleibes führen68. Die „exklusive Regelung" des §218 StGB, der eine Strafbarkeit der 65
So für den Fall der Tötung durch positives Tun: BGHSt. 10, 291 ff.; 13, 21 ff.; BGH in G A 1963, 15 ff. - Zur Frage einer Tötung durch Unterlassen erfolgsverhindernder Hilfe nach erfolgter Ausstoßung: vgl. Eser, JuS 1970, 462, mit Nachw. 46 Vgl. RGSt. 1, 448-449. 67 Vgl. BGHSt. 11, 17; Radbruch in VDB, V, 265 mit Anm. 1. - BGHSt. 13, 21 ff., hat endlich die allein richtige Konsequenz der Tatmehrheit gezogen, die Radbruch schon vor 65 Jahren erkannt hatte. " Vgl. dazu insbes.: Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, BT, l.Bd., 1902, 38; Radbruch in VDB, V, 165 mit A n m . l ; Maurach, BT, 57; Welzel, 300; Schönke/Schröder, Rdz.25 zu §218; auch österr. OGH.SSt. XXXII, S. 41; XXXV, S. 195.
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Abtreibung in ihren beiden Begehungsformen nur bei Vorsatz will, entfaltet also eine „Sperrwirkung"": sie verbietet bei „übergreifendem Taterfolg" auch hier ein Uberspringen der Zäsur und läßt es nicht zu, diese Form der straflosen fahrlässigen Abtreibung in eine strafbare fahrlässige Tötung (§ 222) umzumünzen 70 . Tötungsdelikte kommen auch hier nur und erst dann in Betracht, wenn nach dem „Beginn der Geburt" ein neuer (vorsätzlicher oder fahrlässiger) Angriff auf das Leben des „Kindes" - also gegen ein Handlungsobjekt mit Menschqualität - erfolgt71. 3. Wir wollen nunmehr zu den Fällen übergehen, bei welchen ein vor dem „Beginn der Geburt" mit Verletzungsvorsatz oder mit entsprechender Fahrlässigkeit vorgenommener Eingriff oder eine sonstige Einwirkung eine Schädigung der „Leibesfrucht" angerichtet hat, die sich nach der Geburt als Schadenszustand an dem „Kinde" auswirkt. Damit sich hier nicht Mißverständnisse einschleichen, sei in tatsächlicher Hinsicht vorab klargestellt: Diejenigen (seltenen oder sogar nur theoretischen) Fälle, in denen eine der Leibesfrucht zugefügte Verletzung bis zum Beginn der Geburt folgenlos wieder ausheilt, hatten wir als unproblematisch - nämlich straflos - ausgeschieden72. Es geht auch nicht um die Fälle, in welchen eine vor dem Beginn der Geburt vorgenommene Handlung erst nach dieser Zäsur auf den Körper eines „Menschen" einwirkt; denn auch diese Fälle sind unproblematisch, nämlich strafbar (§§223 ff.), wie das in Diskussionen so beliebte und offenbar für lebensnah gehaltene Beispiel der vorher gelegten und nachher explodierten Zeitbombe zeigt. Vielmehr geht es hier um den ganz anders strukturierten Fall der „übergreifenden Nachwirkungen". Sein Wesen zeigt sich bei den seit dem Contergan-Prozeß im Mittelpunkt des Interesses stehenden Schädigungen der Leibesfrüchte durch gewisse chemische Substanzen ebenso wie bei solchen durch gewisse Bestrahlungen: Die durch derartige Medikamente oder Bestrahlungen in bestimmten sensiblen Entwicklungsphasen an dem Keimling angerichteten Schäden sind damit abschließend angelegt; ihre Folgen haften dem Lebewesen von nun an a l s meist irreversibler - Schadenszustand an; dieser wird nach der Geburt lediglich offenbar, sei es als körperlicher Defekt sogleich, sei es als Geistesschaden erst nach einiger Zeit73. Von der Problemlage her gehö69
So treffend: Blei, MMW 1970, 741, 742. Vgl. dazu auch: Schönke/Schröder, Rdz. 8 der Vorbem. vor §211. 71 Vgl. dazu den Text zu u. mit Fn. 65. 72 Vgl. dazu den Text zu u. mit Fn. 35. 73 So insbesonders: Töndury, Tuchmann/Duplessis, Degenhardt und Weicker, Wiener Medizinische Wochenschrift (WMW) 1967, 376ff.; Wyss, Hochland 1967/1968, 580ff. Vgl. im übrigen die in der Prozeßdokumentation von 'Wenzel (Fn. 33) mitgeteilten 70
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ren hierhin jedoch auch die Fälle, in denen vor dem Beginn der Geburt etwa aus Anlaß von Untersuchungen - durch Eingriffe mit Instrumenten eine Verletzung der Leibesfrucht angerichtet worden ist, deren Schadensfolgen nach der Geburt an dem Kinde zeitlich oder dauernd fortbestehen. N u r derartige Fälle sind also Gegenstand der folgenden Erörterungen. In dieser Fallgruppe geht es mithin lediglich um die Frage, ob und wie die geschilderten Nachwirkungen die strafrechtliche Würdigung beeinflussen. Diese Rechtsfrage ist neuerdings umstritten. Seit dem Contergan-Prozeß finden sich Stimmen in der Literatur, die - zum Teil in vorsichtiger Form - die Möglichkeit andeuten, in solchen Fällen wegen Körperverletzung an dem Kinde zu strafen74. Dem stehen andere entschieden ablehnende Stimmen gegenüber75. Die nähere Untersuchung dieser Streitfrage muß von den schon geschilderten unbestrittenen Grundlagen ausgehen: Unser Strafrecht kennt keine Strafnormen gegen eine vorsätzliche oder fahrlässige Verletzung der Leibesfrucht. Wenn die Straftatbestände der vorsätzlichen und der fahrlässigen Körperverletzung von einem „anderen" sprechen, meinen sie damit einen „Menschen". Die Zäsur zwischen Leibesfruchtcharakter und Menschqualität verläuft auch hier beim „Beginn der Geburt". - Unsere Frage engt sich also dahin ein, ob diese Zäsur bei den Körperverletzungsdelikten dann übersprungen werden darf, wenn zwar die den Schaden anrichtende Einwirkung an einer Leibesfrucht erfolgt ist, aber das später geborene Kind die Folgezustände zu tragen hat. Anders ausgedrückt: Es geht um die Frage, ob für die Abschichtung zwischen strafloser Leibesfruchtverletzung und strafbarer Körperverletzung ebenfalls die rechtliche Objektqualität im Zeitpunkt der Einwirkung entscheidet. Die Antwort auf diese Fragen kann aus mehreren Gründen nicht zweifelhaft sein: a) Zunächst: Die gesetzliche Grundentscheidung geht dahin, daß eine „Leibesfruchtverletzung" straflos bleiben soll. Dieser Wille des Gesetzes würde aber in den meisten Fällen unterlaufen, wenn man für die Abgrenzung zwischen strafloser Leibesfruchtverletzung und strafbarer [140] Körperverletzung nicht auf die rechtliche Objektqualität im Zeitzahlreichen Gutachten. - Zu der Frage, ob Contergan derartige Mißbildungen verursacht hat, ist hier nicht Stellung zu nehmen. 74 Vgl. Maurach, BT, 76; Lackner/Maassen, Anm. 1 zu §223; Gerschow/Schewe, Beiträge zur gerichtlichen Medizin 1970, 61 ff.; Arbab/Zadeh, WMW 1967, 390ff.; Schönke/Schröder, Rdz. 1 zu §223, unter Beschränkung auf vorsätzliche Taten (darüber sogleich im Text). 75 Vgl. Schwalm, MDR 1968, 279; Geilen, FamRZ 1968, 127; Blei, MMW 1970, 743; Dreher, Anm. 1 Β zu §218; Welzel, 288.
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punkt der schädigenden Einwirkung, sondern auf diejenige zur Zeit späterer Folgezustände abstellen wollte. Denn in den hier quantitativ wichtigsten Fallgruppen der Leibesfruchtschädigung durch chemische Substanzen und Bestrahlungen hat sich ja gezeigt, daß solche Nachwirkungen die Regel bilden; und auch bei Verletzungen der Leibesfrüchte durch Instrumente oder dergleichen wird es in aller Regel ebenso sein. Eine Auslegung, die den Willen des Gesetzes jedoch nur noch in dem seltenen oder sogar theoretischen Fall einer folgenlosen Ausheilung bis zum „Beginn der Geburt" respektiert, kann aber schlechterdings nicht mehr akzeptiert werden. Schon aus diesem Grunde haben - rückschauend betrachtet - die bisherige Rechtsprechung und die überwiegende Rechtslehre mit Recht den Tatbestand einer Körperverletzung nur dann bejaht, wenn die Tathandlung einen „Menschen", nicht aber eine Leibesfrucht traf76. b) Das neuerdings propagierte Ausweichen auf die Objektqualität zur Zeit des nachgeburtlichen Folgezustands einer vorgeburtlichen Schädigung hat aber auch absonderliche Konsequenzen: Eine mit Tötungsvorsatz vorgenommene Einwirkung auf eine Leibesfrucht bleibt - wie ich soeben dargelegt habe - auch dann Abtreibung und wird nicht etwa zum Tötungsdelikt, wenn der durch die Einwirkung verursachte Tod erst nach der Ausstoßung aus dem Mutterleib eintritt. Es wäre aber ganz ungereimt, wenn man bei der vergleichsweise weniger schwerwiegenden vorsätzlichen Schädigung der Leibesfrucht dem „übergreifenden Schadenszustand" die Kraft beimessen wollte, die Zäsur „Beginn der Geburt" zu überspringen und die straflose Leibesfruchtverletzung in eine strafbare Körperverletzung umzufunktionieren77. - Und eine fahrlässige todbringende Einwirkung auf die Leibesfrucht bleibt - wie ich ebenfalls soeben dargelegt habe - auch dann straflose fahrlässige Abtreibung, wenn der dadurch verursachte Tod erst nach der Geburt eintritt. Es wäre aber erst recht ungereimt, eine fahrlässige Verletzung der Leibesfrucht mit „übergreifenden Dauerfolgen" strafrechtlich zu ahnden, wenn nach dem Willen des Gesetzes sogar die „verspätet" wirkende fahrlässige Abtötung der Leibesfrucht straflos bleibt78. - Auch die geradezu verschrobenen Ergebnisse machen also deutlich, wie sehr solche Auslegungskünste der Konzeption des Gesetzes zuwiderlaufen würden.
76 Vgl. RGSt. 26, 178 ff.; R G in D R 1939, 365; Binding, 38; Schaefer in LK, Anm. II 1 zu § 2 2 3 ; Kunst, ÖJZ 1963, 600; Dreher, Anm. 1 zu § 2 2 3 ; Welzel, Schwalm, Geilen und Blei wie Fn. 75. 77 So mit Recht: Blei, MMW 1970, 743. 78 Vgl. dazu: Blei, MMW 1970, 743; Kunst, ÖJZ 1963, 600.
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Gegen diese Argumentation sind indessen neuerdings einige Einwände erhoben worden, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen: Z u m einen hat man diese a majore ad minus gezogenen Schlußfolgerungen mit dem Einwand zu entkräften versucht, im Hinblick auf die Auswirkungen sei eine „bloße Keimschädigung" gegenüber der „totalen Beseitigung der Schwangerschaft" kein minus, sondern doch wohl ein majus 79 . Indessen geht es hier nicht um - menschlich durchaus verständliche - Gefühlsregungen, sondern um eine nüchterne rechtliche Bewertung von Rechtsgutverletzungen. Diese Bewertung hat sich an der strafrechtlichen Legalordnung auszurichten; deren Wertung aber ist eindeutig: sie mißt durchgängig der Tötung größeres Gewicht bei als der Verletzung. Das zeigt sich nicht nur an dem drastischen Unterschied der Strafandrohungen für die Tötung und für die körperliche Verletzung eines Menschen; es zeigt sich auch daran, daß das Gesetz zwar die (vorsätzliche) Abtötung der Leibesfrucht pönalisiert, jedoch ihre Verletzung straflos läßt. Demgegenüber verfängt der geschilderte Einwand nicht. Z u m anderen ist eingewandt worden, aus dem Umstand, daß §218 StGB die fahrlässige Abtreibung straflos lasse, folge nur, daß àie fahrlässige Leibesfruchtverletzung mit auf einen „Menschen" übergreifenden Nachwirkungen straflos bleiben müsse; dies gelte jedoch nicht für die vorsätzliche Leibesfruchtverletzung mit ebensolchen Folgewirkungen 80 . Dieser Einwand verkennt indessen das Ausmaß der Sperrwirkung, die von der exklusiven Regelung des §218 StGB ausgeht 81 . Das Gesetz will im Leibesfruchtstadium nur die vorsätzliche Abtreibung und sonst nichts bestraft sehen: weder die fahrlässige Abtötung der Leibesfrucht noch deren - gleichgültig mit welcher Schuldform verübte - Verletzung. Dies kann nach Entstehungsgeschichte und Systematik des geltenden Strafrechts nicht ernsthaft bestritten werden. c) H i n z u k o m m t aber noch folgendes: Der äußere Tatbestand der Körperverletzung besteht aus der Tathandlung und dem durch sie am Handlungsobjekt verursachten Taterfolg. Mit dem Eintritt des tatbestandsmäßigen Verletzungserfolgs ist das Delikt rechtlich vollendet und tatsächlich beendet; denn die Körperverletzung ist kein Dauerdelikt, sondern ein Zustandsdelikt 82 . Der durch die Tat angerichtete Schadens-
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Vgl. Gerschow/Schewe, Beiträge zur gerichtlichen Medizin 1970, 61-62. Vgl. Schönke/Schröder, Rdz. 1 zu §223. 81 Vgl. dazu: Blei, M M W 1970, 743. 82 Vgl. Baumann, AT, 5. Aufl. 1968,120; Welzel, 232; Schönke/Schröder, Rdz. 45 a der Vorbem. vor § 73; Schmidthäuser, AT, 1970, 181. - Aber selbst bei einem Dauerdelikt läge eine Weiterverwirklichung des Straftatbestands nur in einer „vom Willen des Täters 80
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zustand mag also durchaus noch lange andauern - eine Weiterverwirklichung des Tatbestands liegt darin nicht mehr. Daraus ergibt sich ein weiteres wichtiges Argument für die Klärung unserer Frage: Bei den hier in Rede stehenden Fällen einer Leibesfruchtverletzung mit Dauerfolgen liegen Einwirkung und Eintritt des Verletzungserfolgs bereits vor der Zäsur „Beginn der Geburt" ; was nachher fortbesteht, ist nur der schon angerichtete Schadenszustand. Nach dieser Zäsur realisiert sich mithin nicht einmal mehr ein Teilakt des Tatbestands einer Körperverletzung; denn der in das Stadium der Menschqualität hineinreichende Schadenszustand ist dafür ja irrelevant83. In unserer Fallgruppe mit übergreifenden Schadensfolgen gibt es also nichts, was eine tatbestandliche Brücke über die Zäsur „Beginn der Geburt" schlagen und einen Vorwand für die Annahme einer Körperverletzung an dem später geborenen Kinde liefern könnte84. [141] 4. Die Einsicht, daß es nicht möglich ist, eine Leibesfruchtverletzung mit Dauerfolgen in eine Körperverletzung an dem später geborenen Kinde umzudeuten, war denn auch der Grund dafür, daß in der Rechtslehre (statt dessen) vereinzelt versucht worden ist, die Leibesfruchtverletzung als (vorsätzliche oder fahrlässige) Körperverletzung an der Schwangeren zu werten85. Derselben Methode hat sich (freilich zusätzlich) auch der Contergan-Prozeß bedient86. Ausgangspunkt dieses Versuchs waren ersichtlich folgende - für sich genommen zutreffende - Überlegungen: Unter den Tatbestand der Körperverletzung in der Form einer „Beschädigung an der Gesundheit" eines Menschen (§223 Abs. 1, 2. Alternative) fällt jedes Hervorrufen oder Steigern einer Krankheit im weitesten Sinne, beispielsweise eine Störung der ordnungsmäßigen körperlichen Funktionen87. Eine solche abhängigen" Aufrechterhaltung des geschaffenen rechtswidrigen Zustands; so mit Recht: Jescheck, AT, 178. 83 Die erfolgsqualifizierten Delikte der §§ 224, 226 liefern kein Gegenargument; denn auch bei ihnen muß die Körperverletzung einen „Menschen" getroffen haben, an dem dann die schweren Folgen eintreten. 84 An dem Ergebnis ändert sich auch dann nichts, wenn man unsere Fallgruppe dahin abwandelt, daß ein vor dem Beginn der Geburt angerichteter Schaden sich nach der Geburt - etwa infolge von zusätzlichen Komplikationen, aber ohne erneute Handlung - über das ursprünglich angerichtete Ausmaß hinaus vertieft. Denn die (in Abschnitt Β 3) angestellten Erwägungen treffen ja auch hier zu: es kommt auf die Objektqualität im Zeitpunkt der tatbestandsmäßigen Einwirkung an (vgl. die Nachw. in Fn. 76); eine nach dem „Beginn der Geburt" eintretende (bloße) Vergrößerung der Verletzungsauswirkung vermag diese Zäsur nicht zu überspringen (vgl. dazu bes. Abschnitt Β 3 b sowie die Fn. 82 u. 83). 85 Vgl. Schwalm, M D R 1968, 279, für den Fall der medikamentösen Leibesfruchtschädigung. M Vgl. dazu die Prozeßdokumentation von Wenzel (Fn. 33), Bd. I, 5 ff. 87 Vgl. R G in D R 1939, 365.
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kann auch in der Beeinträchtigung oder in der Zerstörung der Fortpflanzungsfähigkeit liegen88. Zu dieser gehören bei Frauen sowohl die Empfängnisfähigkeit89 als auch die Fähigkeit, ein Kind voll auszutragen und es zu gebären90. „Beschädigt" ist die so verstandene Fortpflanzungsfähigkeit der Frau mithin nicht nur dann, wenn die mütterlichen Organe als solche (beispielsweise Eileiter oder Gebärmutter) krankhaft beeinträchtigt oder zerstört werden, sondern auch dann, wenn die im Eierstock befindlichen Eier geschädigt oder abgetötet werden'1; denn sie sind rechtlich Bestandteil des Mutterleibes und ihre Intaktheit ist Voraussetzung einer ungestörten Fortpflanzung. Insoweit92 sind daher auch Keimschädigungen rechtlich als Körperverletzung an der Frau erfaßbar. Indessen ging es im Contergan-Prozeß und bei der erwähnten literarischen Mindermeinung der Sache nach darum, ob solche Überlegungen sich auch auf das Verhältnis zwischen Mutterleib und Leibesfrucht93 übertragen lassen. Von allem Beiwerk befreit, lautete die These dort nämlich so: Liegt eine Leibesfruchtverletzung mit Dauerfolgen vor, so ist die Fähigkeit der Schwangeren zur ungestörten Entwicklung ihrer Leibesfrucht beeinträchtigt, selbst wenn die Schwangere selbst anderweitig nicht in Mitleidenschaft gezogen ist; die Verletzung der Leibesfrucht wird also zur Beschädigung der Gesundheit der Frau. - Die Unhaltbarkeit dieser These liegt jedoch auf der Hand: Schon in medizinischer Sicht stimmt diese Identifikation von Leibesfrucht und Mutterleib nicht: Trotz ihrer innigen Verbindung sind Mutterleib und Leibesfrucht „zwei (verschiedene) biologische Systeme"94; ihre Selbständigkeit geht so weit, daß selbst die beiden Blutkreisläufe völlig getrennt sind95; die Leibesfrucht ist keine Funktion der Mutter und eine Schädigung der Leibesfrucht ist kein Symptom am mütterlichen
88 arg. e §224. - „Zeugungsfähigkeit" bedeutet dort „Fortpflanzungsfähigkeit"; vgl. RG in JW 1933, 2911. 89 Vgl. RG in JW 1933, 2911; BGHSt. 10, 315. 90 Vgl. Schönke/Schröder, Rdz.3 zu §224. 91 Welche Eingriffe oder sonstige Einwirkungen zu solchen Schäden führen können, muß fachkundiger medizinischer Beurteilung überlassen bleiben. Im Contergan-Prozeß ging es nicht um derartige Fälle. 92 Zwar läßt sich auch das Beispiel bilden, daß ein Ei auf dem Wege vom Eierstock zum Eileiter oder später vor seinem natürlichen Untergang bzw. vor der Entstehung einer Leibesfrucht „isoliert" geschädigt oder abgetötet werde. Indessen kann dieser Fall hier dahinstehen; denn selbst wenn er nicht nur reine Theorie sein sollte, gibt er jedenfalls für die folgenden Erörterungen im Text nichts her. 95 Vgl. zum Zeitpunkt der Entstehung einer Leibesfrucht: Lüttger, JR 1969, 445 ff. 94 So: Tuchmann/Duplessis, WMW 1967, 381. 95 Vgl. dazu: Wulf bei Martins (Fn. 13), 45; von Mikulicz/Radecki bei Stoeckel/Kraatz (Fn. 12), 89, 91 u. 94.
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Organismus96. Die Verletzung der Leibesfrucht läßt die davon zu trennende Gesundheit der Schwangeren mithin unberührt. Aber auch rechtliche Grundsätze schließen eine Gleichsetzung von Schädigungen der Leibesfrucht mit solchen der Schwangeren aus: Daß die „Leibesfrucht" und der mütterliche „Mensch" rechtlich zwei zu unterscheidende Handlungsobjekte sind, ergibt sich zwingend aus der Systematik des Gesetzes. Daß das keimende Leben der Leibesfrucht neben dem Leben der Mutter ein selbständiges Rechtsgut darstellt, ist heute herrschende Ansicht97. Und auch anläßlich der Strafrechtsreform wird es dabei bleiben, daß die Leibesfrucht nicht als Teil des Mutterleibes gilt und daß das keimende Leben als selbständiges Rechtsgut gewertet wird98. Diese Differenzierungen müssen aber auch für Verletzungen der körperlichen Unversehrtheit gelten. Das gebietet nicht nur die Logik, sondern ergibt sich auch daraus, daß anderenfalls der Wille des Gesetzes, die Leibesfruchtverletzung im Gegensatz zur Körperverletzung straflos zu lassen, wegen der Identifikation von Leibesfrucht- und Mutterleibverletzung bei Handlungen Dritter nicht mehr realisierbar wäre99. Aus alledem folgt: Die Umdeutung einer Leibesfruchtverletzung in eine Körperverletzung an der Schwangeren ist ebenfalls ausgeschlossen. C. Das geltende Strafrecht verweist mithin die kritisierten Deutungen unmißverständlich in den Bereich unzulässiger straferweiternder Analogie. Dies legt die Frage nahe, ob andere Strafnormen lückenschließend eingreifen und ob sich hier noch Aufgaben für die Strafrechtsreform zeigen. Dazu muß ein summarischer Hinweis genügen. Läßt man Materien wie die des Mutterschutzes und des Strahlenschutzes einmal beiseite100, so bringt de lege lata das Arzneimittelgesetz von 1961101 in dem wichtigen Bereich gesundheitsgefährdender Medikamente auch einen Schutz für die Leibesfrucht mit sich. Nach den §§ 6, 44 dieses So: Rommeney bei Wenzel (Fn.33), Bd.I, 256ff. Vgl. dazu etwa: RGSt. 59, 98ff.; 67, 206ff.; R G in DR 1940, 26; BGHSt. 11, 15; Maurach, BT, 56ff.; Schönke/Schröder, Rdz.4 zu § 2 1 8 ; jeweils mit weit. Nachw. - Für die gegenteilige Mindermeinung etwa: Welzel, 302, mit Nachw. 98 Vgl. dazu insbes.: Alternativ-Entwurf eines StGB, BT, Straftaten gegen die Person, l.Halbbd. 1970, 27; Hanack, ZRP 1970, 134; R.Schmidt, FamRZ 1970, 534. " Verletzungen der Leibesfrucht durch die Schwangere selbst wären freilich über die Eselsbrücke der „Selbstverletzung" auch dann straflos. Auf diese Ungereimtheit hat Eisenmann (Fn.6), 77 ff., bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert hingewiesen. 100 Vgl. Mutterschutzgesetz i . d . F . vom 18.4.1968 (BGBl. I, 315); §§23, 56 Abs.2 Nr. 5 der Ersten Strahlenschutzverordnung i. d. F. vom 15.10.1965 (BGBl. I, 1653). 101 Vgl. Arzneimittelgesetz vom 16.5.1961 (BGBl. I, 533). %
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Gesetzes ist strafbar, wer vorsätzlich oder fahrlässig Arzneimittel in den Verkehr bringt, welche geeignet sind, bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen hervorzurufen, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen und nicht die Folge von besonderen Umständen des Einzelfalles sind. Dabei handelt es sich um ein Gefährdungsdelikt 102 , dessen Tatbestand [142] nicht den Eintritt einer Schädigung voraussetzt, sondern bereits im Vorfeld etwa mögliche Schadensfolgen abwehren will. „Besondere Umstände des Einzelfalles", welche die strafrechtliche Haftung ausschließen könnten, sind beispielsweise abnorme Empfindlichkeiten der Patienten103, nicht aber naturgemäße Zustände wie Schwangerschaften. Und da das Gesetz nur allgemein von „schädlichen Wirkungen" spricht, genügt auch die Eignung zur Schädigung einer Leibesfrucht 104 . Angesichts des Strafrahmens dieser Vorschrift und der Strafbarkeit des Versuchs sollte sich hier eine Barriere der Sorgfalt gegen eine neue Medikamenten-Katastrophe erzwingen lassen105. Freilich ist es damit nicht getan; bei der Strafrechtsreform wird das Gesamtproblem erneut durchdacht werden müssen106. Zwar wird kein vernünftiger Mensch an eine Pönalisierung der fahrlässigen Abtötung der Leibesfrucht durch die Schwangere selbst denken; denn die Einschränkung der persönlichen Lebensführung, die dadurch erzwungen würde, ist mit vollem Recht seit alters her für unerträglich gehalten worden 107 . Und auch eine Pönalisierung der fahrlässigen Abtötung der Leibesfrucht durch andere Personen würde - selbst bei Beschränkung auf grobe Fahrlässigkeit108 - so schwerwiegende Folgen für das menschliche Zusammenleben (namentlich der Ehegatten) haben, daß dies nicht ohne weitere Einschränkungen vertretbar scheint. Eine solche Einschränkung könnte beim Täterkreis gesucht werden; sie ließe sich durch den Einbau eines zusätzlichen Merkmals erzielen, demzufolge die Tat unter vorsätzlicher oder fahrlässiger Verletzung besonderer beruflicher Sorgfaltspflichten 10 ' begangen sein müßte. Für einen so eingeschränkten
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Vgl. Welzel, 288. Vgl. Erbs/Kohlhaas, Strafrechtl. Nebengesetze, Anm. 2 c zu § 6 des Arzneimittelgesetzes. 104 So anscheinend auch Welzel, 288. 105 Die Contergan-Fälle lagen - abgesehen von einzelnen Ausnahmen - vor dem Inkrafttreten des Arzneimittelgesetzes. 104 Dieser berechtigte Rat von Geilen, FamRZ 1968,128, scheint bei den Verfassern des Alternativ-Entwurfs wenigstens teilweise auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein (vgl. S. 43 des AE, wie Fn. 98). 107 Vgl. die Nachw. in Fn. 38. 108 So der Vorschlag von Schwalm, M D R 1968, 279. m Vgl. dazu die Gedanken von Blei, M M W 1970, 744. 103
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Tatbestand der fahrlässigen Abtötung der Leibesfrucht läßt sich ein Bedürfnis in einer Zeit nicht leugnen, in der ärztliche Untersuchungen durch Einstiche in die Leibesfrucht und Behandlungen der Leibesfrucht durch Blutaustausch innerhalb des Mutterleibes nur einige Beispiele für früher unbekannte Risiken sind. Aus triftigen Gründen ist weiter die Diskussion über die Schaffung von Strafnormen gegen die vorsätzliche und gegen die (kurz gesagt) berufsfahrlässige Leibesfruchtverletzung im Gange110; das bedarf nach den voraufgegangenen Ausführungen keiner Begründung mehr. Im Zeichen drohender Gen-Manipulationen111 rükken ferner Tatbestände gegen Keimschädigungen ins Blickfeld, deren Gestalt kaum absehbar ist. Und aus alledem soll schließlich ein wohl abgestimmtes System des Strafschutzes werden. Unser nervöser Gesetzgeber wird sehr viel Fortüne benötigen, selbst wenn es ihm noch eine Weile erspart bleibt, sich auch noch mit dem Homunculus zu befassen112.
110 Vgl. die unterschiedlichen Vorschläge von Schwalm, MDR 1968, 279, und von Blei, MMW 1970, 744. Noch anders anscheinend die (reichlich unklar angedeuteten) Pläne der Verfasser des Alternativ-Entwufs (vgl. S. 43 des AE, wie Fn. 98). 111 Vgl. dazu: Eberle, Zeitschr. f. prakt. Psychologie 1968, 255ff.; Burian, Wort und Wahrheit 1967, 428 ff. 112 Treffend dazu: Schwalm, MDR 1968, 280.
Der Tod und das Strafrecht*+ Die drei Zäsuren, die den strafrechtlichen Lebensschutz abgrenzen, haben in der deutschen Rechtswissenschaft lange Zeit hindurch das Bild einer beschaulichen Ruhe geboten. In wenigen Jahren hat sich dies drastisch geändert: Bei der Frage nach dem Beginn des strafrechtlichen Lebensschutzes hat die biologische Station der Nidation in der Rechtslehre zunehmend diejenige der Befruchtung verdrängt, die ein Jahrhundert lang unangefochten den Beginn des Leibesfruchtstadiums und damit die Anfangszäsur der Strafbarkeit wegen Abtreibung bezeichnet hat1. An der Grenze zwischen Leibesfruchtcharakter und Menschqualität hat der Contergan-Prozeß eine Fülle von Rechtsfragen aufgeworfen, die generationenlang unproblematisch erschienen sind, nun aber dazu zwingen, die Abschichtung des Strafschutzes vor und nach der Zäsur „Beginn der Geburt" dogmatisch klarer herauszuarbeiten2. Und auch das Ende des strafrechtlichen Lebensschutzes, der Tod, ist zu einem juristischen Problem par excellence geworden. Die Zeit, in der auch renommierte Lehrbücher des Strafrechts sich auf den lapidaren Satz beschränken konnten „Die Menschqualität endet mit dem Tode", ist vorbei. Denn das was wir rechtlich unter „Tod" zu verstehen haben, ist nicht mehr selbstverständlich. Darum geht es im folgenden. Auch hier wird sich ebenso wie bei den anderen Zäsuren im strafrechtlichen Lebensschutz die enge Verflechtung zwischen medizinischen und rechtlichen Überlegungen zeigen. A.
Das deutsche Recht kennt - wie anscheinend die meisten ausländischen Rechtssysteme 3 - keine Legaldefinition des Todesbegriffs und legt ' Aus: Juristische Rundschau 1971, S. 309-315. + Der Beitrag gibt in überarbeiteter Fassung ein Kapitel aus einem Vortrag wieder, den der Verfasser am 19. März 1970 unter dem Titel „Die Organtransplantation in strafrechtlicher Sicht" auf der 11. Tagung der Deutschen Richterakademie in Berlin gehalten hat. Der Vortragsstil ist beibehalten. - Aus der unübersehbar gewordenen medizinischen Literatur sind nur einzelne Fundstellen zitiert; aus dem umfangreichen juristischen Schrifttum ist nur eine Auswahl angeführt. - §§ ohne Gesetzeszusatz sind solche des StGB. 1 Vgl. dazu näher: Lüttger, JR 1969, 445 ff., mit Nachw. 2 Vgl. dazu näher: Lüttger, JR 1971, 133 ff., mit Nachw. 3 Vgl. dazu: Bockelmann, Strafrecht des Arztes, 1968, 116-117; Heinitz, Rechtliche Fragen der Organtransplantation, 1970, 20-21.
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auch keine Kriterien fest, nach denen der Zeitpunkt des Todeseintritts zu bestimmen wäre. Das gilt nicht nur für die großen Kodifikationen, in denen - wie im Strafrecht und im Bürgerlichen Recht - vom „Tode" die Rede ist; es gilt vielmehr auch für jene Spezialmaterien, die sich mit den amtlichen Folgen eines Todesfalles befassen. So wollen die Vorschriften des Bestattungs- und Leichenschaurechts nur gewährleisten, daß eine Beerdigung oder Einäscherung erst nach sicherer Feststellung des Todes und gegebenenfalls der Todesursache erfolgt; und die Vorschriften des Personenstandrechts wollen nur die Anzeige und die standesamtliche Eintragung von Sterbefällen sichern. Aber beide definieren nicht den Todesbegriff und dekretieren nicht, was als Todeszeitpunkt zu gelten habe 4 . Der Rechtsbegriff des „Todes" ist also ein offener Begriff der nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft und den Regeln juristischer Interpretation auszufüllen ist5. 1. Bis vor wenigen Jahren hat die deutsche Strafrechtswissenschaft soweit sie sich überhaupt mit unserer Frage befaßt hat - unter dem „Tod" des Menschen das endgültige Aufhören von Herztätigkeit und Atmung verstanden 6 . Dieser - sehr lapidaren - Formel lag unverkennbar der sogenannte „klassische Todesbegriff" zugrunde, der in der Medizin bis vor wenigen Jahren unangefochten galt. Die medizinische Wissenschaft umschrieb ihn freilich in naturwissenschaftlicher Hinsicht viel genauer; sie definierte den Tod nämlich als den „irreversiblen (unumkehrbaren) Stillstand von Kreislauf und Atmung, verbunden mit dem Aufhören der Tätigkeit des Zentralnervensystems und gefolgt vom Absterben aller Zellen und Gewebe des Organismus" 7 . An dieser klassischen Todesdefinition fällt ein Doppeltes auf: Einerseits trug sie der biologischen Einsicht Rechnung, daß der Tod kein „abruptes Ereignis", sondern ein „fortschreitender Prozeß" ist und daß zwischen Leben und Tod der allmähliche „Ubergang des Sterbens" liegt, währenddessen die Lebensfunktionen nacheinander erlöschen und Zelle auf Zelle, Organ auf Organ abstirbt 8 . Andererseits klang aber in dieser klassischen Todes-
4 Vgl. zum Bestattungs- und Leichenschaurecht: Bockelmann (Fn.3), 108; Gütgemann/Käufer, Deutsche Medizinische Wochenschrift (DMW) 1970, 705; - Zum Personenstandsrecht: PStG i.d.F. v. 8.8.1957 (BGBl. I, 1126); VO zur Ausf. des PStG v. 12.8.1957 (BGBl. I, 1139); Allg. Verw.vorschr. zum PStG v. 16.4.1968 (Beil. zum BAnz. Nr. 85 v. 7.5.1968). 5 Ähnlich: Kaiser, Med. Klinik 1967, 645, und Med. Sachverst. 1968, 98; Bockelmann (Fn. 3), 108; R. Lange in LK, 9. Aufl. 1970, Rdz.4 der Vorbem. vor §211. 6 Vgl. z.B.: Schwarz/Dreher, 27.Aufl. 1965, Vorbem. 2A vor §211; Maurach, BT, 4. Aufl. 1964, 13. 7 Vgl. statt vieler: Hansen, Gerichtliche Medizin, 2. Aufl. 1965, 20 u. 22. 8 Vgl. dazu näher: Masshoff, Münchener Medizinische Wochenschrift (MMW) 1968,
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definition auch an, daß der irreparable Ausfall von Kreislauf und Atmung praktisch das entscheidende [310] Einzelereignis in diesem Vorgang des Sterbens war; denn nunmehr schloß sich ja der endgültige Auflösungsprozeß unentrinnbar an, weil die Zellen des menschlichen Körpers nach dem Ausfall der Sauerstoffversorgung nur eine sehr begrenzte Überlebensfähigkeit haben'. Wenn also die medizinische Praxis und die Rechtslehre versuchten, in dem Prozeß des Sterbens denjenigen Zeitpunkt zu fixieren, der den Tod symbolisierte, so war dies unverkennbar der irreversible Ausfall von Kreislauf und Atmung, nach dem es kein „Zurück ins Leben" mehr gab. Damit war eine praktikable rechtliche Endzäsur des strafrechtlichen Lebensschutzes gefunden, die dem damaligen Stande der ärztlichen Möglichkeiten entsprach10. 2. Mit der Entwicklung der modernen Reanimationstechniken und mit der apparativen Ersetzbarkeit von Herztätigkeit und Atmung komplizierte sich indessen die Lage. Freilich waren manche aus den modernen medizinischen Techniken abgeleiteten Bedenken gegen die klassische Todesdefinition allzu voreilig und vordergründig. So wissen wir seit langem, daß eine - etwa bei Unfällen oder bei Operationszwischenfällen - aussetzende Herz- und Atmungstätigkeit durch schleunige Maßnahmen oftmals wieder in Gang gesetzt werden kann, von denen die Mund-zu-Mund-Beatmung und die Herzmassage allseits bekannt sind. Haben diese Maßnahmen Erfolg, so könnte nur derjenige von einem „zum Leben erweckten Toten" sprechen, der das Merkmal der Irreversibilität in der klassischen Todesdefinition fälschlich außer acht lassen würde. Nichts anderes gilt aber für die erfolgreiche Anwendung sonstiger neuartiger Reanimationstechniken. Der klassische Todesbegriff versagte hier keineswegs11; nur die „Umkehrbarkeit" wurde um weitere Anwendungsfälle bereichert. Und auch der Ersatz des spontanen Herzschlags durch sogenannte Schrittmacher und der Ersatz der Spontanatmung durch Respiratoren brauchte zunächst nur zu einer Verdeutlichung dahingehend zu führen, daß es für die klassische Todesdefinition nicht auf Spontaneität (Selbständigkeit) von Kreislauf und Atmung ankommt12. Denn welcher vernünftige Mensch wollte von einem „Toten" reden, wenn ein infolge 2473 u. 2478; Pribilla, Deutsches Ärzteblatt (DÄB1.) 1968, 2257; Wawersik, DÄB1. 1969, 1317; Gerlach, MMW 1970, 67-68. ' Vgl. dazu näher: Masshoff, MMW 1968, 2477 u. 2479; Pribilla, DÄB1. 1968, 2257-2258; Wawersik, DÄB1. 1969,1316, u. Studium Generale 1970, 321 ; Stratenwerth in FS für Engisch, 1969, 530 u. 532; Heinitz (Fn.3), 15-16. 10 Vgl. zum Ganzen: Geilen, FamRZ 1968, 123-124, u. JZ 1968, 149-150. 11 Vgl. dazu allgemein: Stratenwerth (Fn.9), 531 u. 536. 12 Vgl. dazu näher: Geilen, JZ 1968, 150.
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Poliomyelitis Gelähmter künstlich beatmet wird oder wenn während einer Herzoperation der eigene Kreislauf und die eigene Atmung des Patienten ausgeschaltet und apparativ ersetzt werden? Die rechtliche Folge dieser technischen Entwicklung wäre also zunächst nur, daß jeder Stillstand von Kreislauf und Atmung, der künstlich wieder aufgehoben werden könnte, vorläufig als „reversibler" Stillstand bezeichnet werden müßte, unabhängig davon, ob die Funktion dann selbständig in Gang bleiben könnte13. Die entscheidenden Bedenken gegen die klassische Todesdefinition liegen daher auch auf einem anderen Gebiet. Die Zellen des menschlichen Körpers haben - wie insbesondere die Erfahrung mit den Reanimationstechniken gezeigt hat - eine sehr unterschiedliche „Wiederbelebungszeit"; genauer gesagt: Die Zeitspanne, welche sie ohne Zufuhr von frischem, sauerstoffhaltigem Blut überleben können, divergiert beträchtlich'. So stirbt beim Ausfall von Kreislauf und Atmung das Gehirn bereits nach 3 bis 4 Minuten ab; seine Uberlebensfrist kann sich nur unter besonderen Bedingungen - beispielsweise bei Kindern, bei starker Unterkühlung und unter Hypnotika oder Narkotika - maximal auf 8 bis 12 Minuten verlängern. Demgegenüber haben andere Organe - wie Leber, Lunge, Galle, Herz und Nieren - längere Wiederbelebungsfristen. Für das Herz beispielsweise wird die Uberlebensfrist von medizinischer Seite zwischen 30 Minuten und 1Ά Stunden angegeben, wobei es freilich ebenfalls entscheidend auf die Bedingungen ankommt und auch mit fortschreitender Dauer Funktionsschwächen zurückbleiben. Jedenfalls ergibt sich aus dieser Diskrepanz der Uberlebensfristen, daß eine verspätet einsetzende Reanimation den Kreislauf und die Atmung wenigstens künstlich - wieder in Gang setzen kann, während das Gehirn schon unwiderruflich zerstört ist. - Ein solcher Befund kann sich aber nicht nur bei einem derartigen „natürlichen" Todesverlauf einstellen, sondern auch in dem - gewissermaßen umgekehrten - Falle, wenn das Gehirn infolge äußerer oder innerer Ursachen unmittelbar getroffen wird, ohne daß zuvor Kreislauf und Atmung sistiert waren14. Das ereignet sich namentlich bei Gehirnzertrümmerungen durch äußere Gewalteinwirkung und bei intrakraniellen Blutungen (= Blutungen innerhalb des Schädels), die zu akuter Drucksteigerung und zur Zerstörung der Hirnsubstanz führen. In diesen Fällen, die für eine Organtransplantation besondere Bedeutung haben, lassen sich dann oftmals durch schleunigen Einsatz von Reanimationsmethoden zwar die übrigen Organe (wie etwa das Herz), nicht aber das Gehirn „retten". - Beiden 13
Vgl. dazu: Spann, Deutsche Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin (DZGerMed.) 1966, 28; Pribilla, DÄB1. 1968, 2258. 14 Vgl. dazu statt vieler: Gütgemann/Käufer, DÄB1. 1969, 2660.
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Fallgruppen ist indessen gemeinsam, daß Kreislauf und Atmung zwar über eine gewisse Zeit hinweg aufrechterhalten werden können, daß jedoch der endgültige Zerfall nach einem kürzeren oder längeren Intervall unaufhaltsam eintritt15. Wollte man in diesen Fällen mit der klassischen Todesdefinition auf den irreversiblen Ausfall der (nicht notwendig spontanen) Herztätigkeit und Atmung abstellen, so wäre der Körper mit totem Gehirn, aber apparativ aufrechterhaltenem Kreislauf und Atmung ein „lebender Mensch". Wir müßten dann fragen, ob die ärztliche Pflicht zum „Kampf um das Leben des Patienten bis zum letzten Atemzug" noch fortbestünde und ob eine schon laufende Reanimation bis zum endgültigen Zusammenbruch von Kreislauf und Atmung fortgesetzt werden müßte16, obgleich bei sicher festgestelltem Totalausfall des Gehirns die Sinnlosigkeit solcher Bemühungen offenbar wäre. Weit wichtiger als diese - durchaus lösbaren17 - Rechtsfragen wäre aber eine andere unausweichliche Konsequenz: Die Entnahme von lebenswichtigen unpaarigen Organen aus einem Körper mit abgestorbenem Gehirn, aber noch aufrechterhaltenem Kreislauf und Atmung wäre rechtlich Tötung eines „Lebenden". Beharrt man nämlich auf dem klassischen Begriff des [311] Herz- und Atmungstodes, so gilt bis zu dessen Eintritt unverbrüchlich: Der strafrechtliche Lebensschutz kommt auch dem unheilbar Kranken, dem Todgeweihten und dem Sterbenden zugute18. Und es gibt im deutschen Recht keinen Rechtfertigungsgrund, der es dem Arzt gestatten könnte, durch den aktiven Eingriff einer todbringenden Transplantatentnahme das Leben eines moribundus zugunsten eines anderen Patienten zu opfern 1 '. Das Ende der Transplantation von lebenswichtigen unpaarigen Organen wäre dann gewiß; denn dafür sind nur „lebensfrische" funktionstüchtige Organe verwendbar. 3. Der geschilderte medizinisch-technische Fortschritt und die dabei gewonnenen Erkenntnisse haben geradezu zwangsläufig die Frage aufge15 Vgl. dazu insbes. : Entschließung der Kommission für Reanimation und Organtransplantation der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, in Der Chirurg 1968, 196ff.; Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften für die Definition und die Diagnose des Todes, in SchweizJZ 1969, 248. 16 Vgl. dazu: Spann, DZGerMed. 1966, 28; Kaiser, Med. Klinik 1967, 644, u. Med. Sachverst. 1968, 98. 17 Vgl. dazu: Roxin in FS für Engisch, 380ff. (395 ff.), mit Nachw. 18 Vgl. RGSt. 2, 404ff. (405); BGHSt. 7, 287ff. (288); B G H in VRS 17, 187ff. (191) u. 25, 42 ff. (43). " Vgl. dazu statt vieler: Stratenwerth (Fn. 9), 539 u. 541. - Eine etwa vorher erteilte Einwilligung des Spenders in eine solche „Tötung" wäre unwirksam; vgl. BGHSt. 4, 88 ff. (93); BayObLGSt. 1957, 75 ff. - Die diese Grundsätze aufweichende Ansicht von Hanack (Studium Generale 1970, 431) ist mit dem geltenden Recht unvereinbar.
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worfen, ob der klassische Begriff des „Herz- und Atmungstodes" durch einen neuen Todesbegriff - nämlich den des „Gehirntodes" - ablösbar sei. Das Ergebnis ist bekannt: Nicht nur die medizinische Wissenschaft, sondern auch die deutsche Strafrechtslehre erkennen heute - soweit ich sehe: nahezu einmütig - den Hirntod als den maßgeblichen Todeszeitpunkt an20. Uns interessiert jedoch zunächst die Begründung für diese wahrhaft umwälzende Änderung der Rechtsauffassung. Dabei sei vorweg ganz klar herausgestellt: Der Umstand, daß nur eine Verlegung des Todeszeitpunkts auf das Absterben des Gehirns den Weg zur Transplantation von Herzen und manchen anderen Organen eröffnet, könnte allein niemals einen hinreichenden Grund für die Anerkennung des Gehirntodes abgeben21. Der strafrechtliche Lebensschutz ist nicht nach solchen „Nützlichkeitserwägungen" manipulierbar. Fände sich keine andere Begründung, so hätten wir das skizzierte Ergebnis hinzunehmen. a) Für die Anerkennung des Gehirntodes wird sehr oft eine anthropologische Begründung gegeben22; lassen wir Zitate dafür sprechen: Der Mensch ist eine ontologische Einheit aus Geistseele und Leib23; er ist auch im rechtlichen Sinne kein Aggregat von Funktionen, sondern ein Ganzes, eine sinnvolle Einheit, eine Person24. Der menschliche Geist, der die Einzigartigkeit der menschlichen Individualität bedingt, ist aber das Produkt des Gehirns, nicht des Herzens25. Das Gehirn als Sitz unseres Bewußtseins begründet unser individuelles Menschsein26; es gewährleistet die geistigen Funktionen und verkörpert das eigentlich Menschliche27; es ist die oberste integrierende, bewußtseinstragende und persönlichkeitsbestimmende Instanz28. Der Zustand nach dem Tode des Gehirns ist daher unvereinbar mit den Begriffen Leben und Mensch2'. Entscheidend für das Leben des Menschen kann deshalb nur das Leben seines Zentralorgans Gehirn sein30. Mit dem Organtod des Gehirns 20 Bahnbrechend waren auf juristischer Seite: Engisch, Der Chirurg 1967, 252; Schwarz/Dreher, 29. Aufl. 1967, Vorbem. 2 A vor §211 (mit der ersten juristischen Definition des Hirntodes). 21 So mit Recht: Heinitz (Fn. 3), 14. 22 Grundlegend war: Kautzky, Hochland 1960/61, 303 ff. - Vgl. auch die Zusammenfassungen bei: Pribilla, DÄB1. 1968, 2396ff., sowie bei: Geilen, FamRZ 1968, 124, und JZ 1968, 151. 23 So Kautzky, Hochland 1960/61, 314; Böckle, Studium Generale 1970, 452 u. 457. 24 So R. Lange in LK, Rdz.4 der Vorbem. vor §211. 25 So Spann/Liebhardt, MMW 1966, 1412. 26 So Kubicki/Ibe/Piscol/Stölzel, Zeitschr. f. ärztl. Fortbildung Nr. 18 v. 16.9.1969. 27 So Masshoff, MMW 1968, 2478. 28 So Gütgemann/Käufer, DÄB1. 1969, 2659. 29 So Spann/Liebhardt, MMW 1966, 1413. 30 So Spann, DZGerMed. 1966, 29.
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erlischt die individuelle menschliche Existenz31. Der Hirntod bewirkt das Ende der Existenz des Menschen als Person; nur die Person aber kann das Recht als lebendigen Menschen gelten lassen. Der Organtod des Gehirns ist daher gleichbedeutend mit dem Tode des Menschen; der Zeitpunkt, in welchem die Hirnfunktion erlischt, ist der Zeitpunkt des Todes des Menschen32. Der Körper mit irreversibel zerstörtem Gehirn ist kein Mensch mehr33; er ist nur noch ein Leichnam mit mehr oder weniger künstlich oder spontan erhaltenen Teilfunktionen, ein überlebendes Präparat34. Fortbestehende periphere Organfunktionen sind nur noch animalische Restbestände35. Wenn sich hier trotz eines solchen Aufgebots wohltönender Worte Bedenken regen, dann liegt dies nicht nur an einer „frommen Scheu" 36 und nicht nur an dem Mißtrauen gegen pathetische Floskeln, das ich mit vielen Juristen teile. Es müßte nicht einmal an den sich hier aufdrängenden Assoziationen zu Begriffen wie „Lebenswert" und „Lebenssinn" liegen37, unter deren Flagge einst ein verbrecherischer Massenmord an sogenanntem „lebensunwertem Leben" getrieben worden ist. Das Unbefriedigende dieser Theorie liegt vielmehr an ihrem erklärten Ansatzpunkt: dem Versuch, zwischen „biologischem" und „menschlichem" Leben nach dem Maßstab der „anthropologischen Relevanz" zu unterscheiden38. Es steht hier nicht zur Debatte, welchen Platz dieser Begriff in außerjuristischen Disziplinen hat; hier geht es nur darum, ob dieser Begriff inhaltlich wenigstens so viel Konturen besitzt, daß er als rechtlicher Maßstab tragbar wäre39. Versteht man ihn im herkömmlichen Sinne als die - mindestens potentielle - Fähigkeit zur Kommunikation 40 oder als - mindestens potentielles - Wirksamwerden der Geistseele41, so ist gerade nicht verbürgt, daß dem Leben eines in irreparabler Bewußtlosigkeit „dahinvegetierenden" Menschen eben jene anthropologische
So Wawersik, DÄB1. 1969, 1316; ähnlich in Studium Generale 1970, 320. So Bockelmann (Fn.3), 109. 33 So Demichow, Bild der Wissenschaft, 1966, 33. 34 So Kautzky, Hochland 1960/61, 314. 35 So Hanack, Studium Generale 1970, 432. 36 Eindrucksvoll dazu: Thielicke, Theologische Ethik, 3. Bd., 3.Teil, 1964, 443. 37 Vgl. dazu: Geilen, FamRZ 1968, 125; Levinson, Studium Generale 1970, 462 ff. 38 Vgl. insbes.: Geilen, FamRZ 1968, 127, u. J Z 1968, 151-,Kautzky, Hochland 1960/ 61, 314. 31
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Vgl. dazu allgemein: Lenckner, JuS 1968, 249ff. u. 304 ff. Vgl. dazu statt vieler: Böckle, Studium Generale 1970, 452ff.: Auseinandersetzung mit der Umwelt und Begegnung mit dem Mitmenschen. 41 Vgl. dazu bes.: Kautzky wie Fn.38, mit den (verdeutlichenden, zugleich aber auch abgrenzenden) Beispielen von Embryo und Vollnarkose. 39 40
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Relevanz zugemessen wird42. Es ist sicher kein Zufall, daß einzelne namhafte Juristen und Mediziner bereits fälschlich schwere Hirnschädigungen und irreversiblen Bewußtseinsverlust als „Gehirntod" deklariert haben43. Der Begriff der anthropologischen Relevanz ist offenbar zu unbestimmt, als daß er die Warnung vor der Gefahr, im übertragenen weiteren Sinne „geistig Toten" das Lebensrecht abzusprechen44, vergessen [312] machen könnte. Aus der zutreffenden Interpretation von heute kann der Mißbrauch von morgen werden. Freilich wollen - abgesehen von den erwähnten Einzelstimmen - die Vertreter dieser Theorie die anthropologische Relevanz nur verneinen, wenn das Gehirn total und irreversibel zerstört ist. Dabei wird dann aber offenbar, daß es auf solche Überlegungen gar nicht ankommt. b) Die Anerkennung des Hirntodes als des für den Tod des Menschen entscheidenden Ereignisses ist nämlich aus rein medizinisch-juristischen Gründen gerechtfertigt. Schon die alte juristische Definition des Herz- und Atmungstodes griff aus dem Prozeß des Sterbens denjenigen Zeitpunkt und das Einzelereignis heraus, welche den Tod des Menschen symbolisierten; nach dem Stande der damaligen ärztlichen Möglichkeiten war dies der irreversible Ausfall von Kreislauf und Atmung. Indessen ist der Ausfall von Herztätigkeit und Atmung weitgehend reversibel geworden; das Herz ist heute - wie die Transplantationen zeigen - auswechselbar; und bei vielen Kranken muß die Atmung über lange Zeit hinweg apparativ ersetzt werden. Heute wäre es geradezu willkürlich, das Aufhören von Atmung und Herzschlag als Todeskriterium anzusehen45. Ganz anders liegt es beim Ausfall des Gehirns: Das Erlöschen der Gehirnfunktionen ist irreversibel; das Gehirn ist apparativ nicht ersetzbar; nach dem Tode des Gehirns vermag auch die Reanimation den endgültigen Zerfall nur aufzuschieben, nicht aber zu verhindern46. Mit diesen Einsichten ist die Rolle, die im Prozeß des Sterbens bislang der Ausfall von Kreislauf und Atmung gespielt hat, dem Erlöschen des Gehirns zugefallen: es symboli42 Vgl. dazu allgemein die Warnungen von: Thielicke wie Fn. 36; Levinson wie Fn. 37; Wachsmuth in Langenbecks Archiv für klinische Chirurgie 1967, 9 ff. 43 So Hinderling, SchweizJZ 1968, 65 ff., und von Kress, Ärztliche Fragen der Organtransplantation, 1970, 5 ff. - Dagegen mit Recht die wohl einhellige medizinische und juristische Literatur; vgl. statt vieler auf medizinischer Seite: Wawersik, DÄB1.1969,1316: Gütgemann, FS für Wandersieb, 1970, 224 u. 227; auf juristischer Seite: Bockelmann (Fn. 3), 124, A n m . 4 1 ; Blei, J A 1970, 270; Dreher, 32. Aufl. 1970, Vorbem. 2 A vor §211.
Treffend dazu: Engisch, Der Chirurg 1967, 252. Vgl. Bay in Bay /Römer, Medizinische und rechtliche Aspekte von Organverpflanzungen, 1970, 2. 46 Vgl. Käufer/Penin, D M W 1968, 679; Kuhicki u.a. wie F n . 2 6 ; ferner die Nachw. in Fn. 15. 44
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siert den Tod des Menschen. Daran rechtlich anzuknüpfen, ist legitim. Denn einmal braucht das Recht - ebenso wie die praktische Medizin einen Todesbegriff, der sich als Zäsur und nicht als Prozeß versteht47. Zum anderen ändert sich an der Methodik der Todesbestimmung gar nichts: es bleibt bei der Lokalisierung und der zeitlichen Fixierung auf ein irreversibles und daher entscheidendes Einzelereignis - nur ist dies jetzt der endgültige und totale Ausfall des Gehirns. Hält man aber an der - unbestritten geübten - juristischen Methodik solcher Todesbestimmung fest, dann muß das Recht nunmehr den Hirntod anerkennen. Denn mit dem Rechtsbegriff des Todes kann nur ein absolut unumkehrbarer Endpunkt des Lebens gemeint sein48. Infolgedessen ist es in juristischer Sicht auch unrichtig, wenn nicht selten empfohlen wird, sich im „Normalfall" weiterhin mit der klassischen Definition des Herz- und Atmungstodes zu begnügen und nur in Reanimationsfällen auf den Gehirntod abzustellen49. Praktisch würde dies zwar meist keine nennenswerten Auswirkungen haben; denn der Gehirntod folgt dem Stillstand von Kreislauf und Atmung ohne schleunige Reanimation notwendig binnen weniger Minuten nach. Aber dies kann doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Ausfall von Kreislauf und Atmung seine juristisch-definitorische Bedeutung verloren hat50 und daß statt dessen der Gehirntod jenes absolut irreversible und daher entscheidende Ereignis ist, welches nunmehr im Rechtssinne allein den Tod des Menschen darstellt. Ganz abgesehen von der juristischen Absurdität, zwei verschiedene Todesbegriffe nebeneinander zu praktizieren. Vgl. dazu näher: Geilen, FamRZ 1968, 123 ff.; Gerlach, MMW 1970, 68-69. So mit Recht: R . L a n g e in LK, Rdz.4 der Vorbem. vor §211. 49 Vgl. z . B . : Schöning, N J W 1968, 190; ähnlich: Wawersik, Studium Generale 1970, 321 ff. - Wawersik begründet (!) seine Forderung, „im Regelfall" auf den (primären) Ausfall von Kreislauf und Atmung als Todeskriterien abzustellen, damit, daß anderenfalls der Arzt, der Herzmassage und künstliche Beatmung unterlasse, in diesen Fällen regelmäßig strafbar sei. Diese Befürchtung ist jedoch in solcher Verallgemeinerung unbegründet. Das ergibt sich in vielen einschlägigen Fällen für das unechte Unterlassungsdelikt der Tötung (§§212, 222) schon aus dem Gesichtspunkt der Unmöglichkeit erfolgverhindernden Handelns bzw. der Unvermeidbarkeit des Erfolgseintritts (vgl. Baumann, AT, 5. Aufl. 1968, 258 ff., 442, mit Nachw.) und für das echte Unterlassungsdelikt des § 3 3 0 c schon daraus, daß hier „sinnlose Geschäftigkeit" nicht geschuldet wird (vgl. Schröder, J R 1958, 186, mit Nachw.). Wo aber - im „Normalfall" selten genug - beim Ausfall von Kreislauf und Atmung noch realisierbare Rettungs- und Hilfschancen bestehen, da besteht aus gutem Grund auch strafrechtliche Haftung für ein Untätigbleiben. Daß der Arzt im übrigen - entgegen Wawersiks erkennbarer Annahme - nicht ohne weiteres die Rechtspflicht hat, unaufhaltsam verlöschendes Leben durch künstliche Mittel zu verlängern, ist heute ganz überwiegende Meinung (vgl. Roxin, FS für Engisch, 396, mit Nachw.). 47 4!
50 Vgl. Gerlach, MMW 1970, 68 („Vorbote des Todes"); Hanack, 1970, 432 („nur Indiz").
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4. Fassen wir also unser bisheriges Ergebnis zusammen: Das Recht kann diesen neuartigen Begriff des „cerebralen Todes" übernehmen, weil der Rechtsbegriff des Todes ein „offener Begriff" ist. Nicht unsichere anthropologische Wertungen, sondern medizinische Fakten füllen diesen Begriff aus und rechtfertigen den Wandel in der Rechtsauffassung. Begreift man den Tod als rechtliche Zäsur, so bleibt gar keine andere Wahl, als auf das irreversible und entscheidende Ereignis des absoluten und endgültigen Erlöschens der Hirnfunktionen abzustellen: Der Hirntod muß nunmehr an die Stelle des Herz- und Atmungstodes treten. Doch ist es angezeigt, den Begñff des „Gehirntodes" noch deutlicher zu beschreiben: Unter dem Organtod des Gehirns ist „die grobanatomische oder feinstrukturelle Zerstörung des Gehirns in seiner Gesamtheit" zu verstehen51. Daraus folgt ein Mehrfaches: Nur eine Zerstörung des Gehirns in seiner Gesamtheit (Hirnrinde und Stammhirn) füllt den neuen Todesbegriff aus, niemals eine - wenn auch schwere - Hirnschädigung, wie sie sich beispielsweise in irreparabler Bewußtlosigkeit äußern kann52. Und weiter muß dieser Zustand der totalen Gehirnzerstörung definitiv erreicht sein53; denn „ein sterbendes Hirn ist kein totes Gehirn wie ein sterbender Mensch kein Leichnam" ist54. Ist aber das Gehirn in seiner Gesamtheit definitiv zerstört, so ist der Tod des Menschen da, selbst „wenn in der leiblichen Hülle das Herz noch schlägt"55. Wenn jetzt einzelne Organe - mit oder ohne Reanimation den Hirntod für kürzere oder längere Zeit überleben, so sind sie in der Tat nichts anderes als „lebende Organpräparate". Das gab es schon immer; denn auch nach dem Ausfall von Herztätigkeit und Atmung überleben ja die einzelnen Organe noch Minuten und sogar Stunden, ohne daß deshalb der - ebenfalls als lokalisierte und zeitlich fixierte Zäsur verstandene - Rechtsbegriff des Herz- und Atmungstodes rechtlich jemals angezweifelt worden wäre. Wir haben uns im Gegenteil heute noch weit mehr mit der Vorstellung von überlebenden Organen, Geweben und anderen [313] Körperbestandteilen vertraut gemacht, seien es nun Blutkonserven, Präparate in Organbanken oder aus einem Toten auf einen Lebenden transplantierte „weiterlebende" Organe56. Ein als Zäsur
51 Vgl. dazu die in Fn. 15 zitierte Entschließung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie; ferner: Gütgemann/Käufer, DÄB1. 1969, 2659ff.; Wawersik, DÄB1. 1969, 1316, u. Studium Generale 1970, 319, 322, 325; Gütgemann, FS für Wandersieb, 224, 227; Schneider, Der Nervenarzt 1970, 381. 52 Vgl. dazu den Text zu u. mit Fn. 43; ferner die Nachw. in Fn. 51. 53 Vgl. Gütgemann/Käufer, DÄB1. 1969, 2661. 54 So Bushart, zitiert nach Prihilla, DÄBl. 1968, 2320; Blei, JA 1970, 270. 55 So Bockelmann (Fn.3), 109. 56 Vgl. zum Ganzen: Bockelmann wie Fn.55.
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verstandener Rechtsbegriff des Todes erlaubt es uns mithin, zwischen „lebendem Gewebe" und dem „Leben des Menschen" zu unterscheiden57. B. Damit sind jedoch die Probleme, die durch die Anerkennung des Gehirntodes aufgeworfen worden sind, nicht zu Ende; sie beginnen im Grunde erst bei der Frage nach der Feststellung des Gehirntodes. Denn es ist selbstverständlich, daß der Eintritt des Gehirntodes schon aus Rechtsgründen des sicheren Beweises bedarf, sobald eine Entnahme von lebenswichtigen Transplantaten in Betracht kommt. Hier bestehen nach wie vor große Schwierigkeiten. Dabei sei vorweg unmißverständlich klargestellt: Ganz indiskutabel ist der vereinzelt gemachte Vorschlag, in denjenigen Fällen, in welchen der Kreislauf zum Zwecke der Organtransplantation künstlich aufrechterhalten wird, den Tod zu dem Zeitpunkt als eingetreten anzusehen, an welchem der Arzt oder ein Ärztegremium der Uberzeugung sei, daß ein selbstständiges, von Wiederbelebungsgeräten unabhängiges Leben nicht mehr wiederhergestellt werden könne58. Ganz abgesehen davon, daß hier eine Anknüpfung an den Gehirntod nicht mehr erkennbar wird, ist diese Subjektivierung des Todesbegriffs mit Recht auf Ablehnung gestoßen 5 ': Das Recht braucht objektive Todeskriterien, wenn nicht der Todesbegriff relativiert und seine Feststellung der breiten Skala vom irrenden Gewissen bis zum gewissenlosen Mißbrauch anheimfallen soll. 1. Um solche objektive Kriterien für die Feststellung des Gehirntodes bemüht sich die medizinische Wissenschaft seit Jahren mit verantwortungsvollem Ernst. Das Dilemma besteht darin, daß es keine verbindlichen Einzelsymptome gibt, welche klinisch die Diagnose des Gehirntodes gestatten60, und daß auch die diagnostischen Hilfs-Methoden nicht frei von Fehlerquellen sind61. So erwächst denn die ärztliche Feststellung über den Hirntod aus einem klinisch-neurologischen Gesamturteil, das durch bestimmte diagnostische Hilfen gestützt wird und mannigfache Symptome berücksichtigen muß62. Ich kann diese medizinischen Aspekte unseres Beweisproblems hier nur kurz andeuten.
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Vgl. dazu: Geilen,
FamRZ 1968, 127.
So: Schöning, NJW 1968, 189.
w
Vgl. insbes.: Bockelmann
60
Vgl. statt vieler: Kauf er/Penin, DMW 1968, 680.
61
Vgl. statt vieler: Bay (Fn.45), 5 ff. Vgl. statt vieler: Wawersik, DÄB1. 1969, 1317, u. Studium Generale 1970, 325-326.
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(Fn.3), 126, Anm.47; Kallmann,
FamRZ 1969, 574.
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a) Die bekannteste Hilfsmethode bei der Feststellung des Gehirntodes ist das sogenannte Electro-Encephalogramm (EEG) 63 . Mit ihm können die bioelektrischen Vorgänge, die sich im lebenden Gehirn abspielen, normalerweise als Hirnstromkurve sichtbar gemacht werden. Im Falle des Gehirntodes zeigt das E E G - infolge der bioelektrischen Stille im Gehirn - eine „Null-Linie" an. Indessen kann aber umgekehrt nicht allein aus der Null-Linie im E E G auf Gehirntod geschlossen werden, und zwar aus mehreren Gründen: Zunächst gibt das E E G nur Aufschluß über die Funktion von Teilen der Hirnrinde; es gestattet also keinen sicheren Schluß auf den Zustand der tiefergelegenen Hirnteile, insbesondere des Stammhirns64. Zum Begriff des Gehirntodes gehört aber - wie erörtert - die Zerstörung des Gehirns in seiner Gesamtheit; schon deshalb bedarf es also neben dem E E G ergänzender neurologischer Untersuchungen über den Ausfall des Stammhirns65. - Sodann kann die Null-Linie im E E G auch das Zeichen einer reversiblen Funktionsblokkierung des Gehirns sein66; die Stille im E E G kann also buchstäblich einen „Scheintod" anzeigen67. - Und schließlich besteht auch keine Einigkeit darüber, wie lange und wie oft hirnelektrische Stille im E E G gemessen sein muß, um überhaupt einen (begrenzten) Aussagewert zu haben. Die von den Medizinern angegebenen Fristen schwanken zumeist unter mehrfacher Messung - zwischen 3 und 48 Stunden68. Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie verlangt zwei im Abstand von 12 Stunden abgenommene, jeweils einstündige Electro-Encephalogramme mit ununterbrochener Null-Linie 69 . Die anfänglich wohl nicht vermutete Unzuverlässigkeit des EEG 7 0 hat zur Aufstellung einer Reihe von Kriterien geführt, die neben der in Sicherheitsabständen mehrfach gemessenen Null-Linie des E E G vorlie-
Vgl. zum folgenden: Stratenwertb (Fn. 9), 545, mit Nachw. Vgl. Stratenwertb (Fn. 9), 545; Wawersik, Studium Generale 1970, 323; Gütgemannl Käufer, DÄB1. 1969, 2262. 65 Vgl. Kubicki u. a. wie Fn. 26. " Vgl. Käufer/Penin, D M W 1968, 680. - Der Beweiswert des iso-elektrischen E E G entfällt im übrigen bei Vergiftung und starker Unterkühlung; vgl. Wawersik, Studium Generale 1970, 326. 67 Vgl. Spann/Kugler/Liebhardt, MMW 1967, 2164; Käufer/Penin, D M W 1968, 681. Allgemein zum Begriff des „Scheintodes": Gütgemannl Käufer, DMW 1970, 702 ff. 68 Vgl. die Übersichten bei: Käufer/Penin, D M W 1968, 682; Wawersik, DÄB1. 1969, 1318. " Vgl. die in Fn. 15 zitierte Entschließung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. S. aber auch die Empfehlungen der Deutschen EEG-Gesellschaft zur Bestimmung der Todeszeit, in Zeitschr. f. Elektroenzephalographie, Elektromyographie u. verwandte Gebiete ( E E G - E M G ) , 1970, 53 ff. 70 Vgl. statt vieler: Bay (Fn. 45), 6. 65
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gen müssen, um den medizinischen Nachweis des Gehirntodes zu erbringen71. Nach der im wesentlichen übereinstimmenden Ansicht medizinischer Gesellschaften und namhafter medizinischer Autoren müssen über einen längeren Zeitraum (von mindestens 12 Stunden) hinweg festgestellt werden: andauernde tiefe Bewußtlosigkeit, völliger Ausfall jeglicher Spontanatmung sowie weite und lichtstarre Pupillen. Häufig werden außerdem völliger Ausfall sonstiger Eigen- und Fremdreflexe, nicht selten auch rascher Blutdruckabfall und Erlöschen der Temperaturregulation gefordert72. Dieser summarische Hinweis mag genügen, um das erwähnte ärztliche Gesamturteil bei der Hirntodfeststellung anschaulich zu machen. b) Die Langwierigkeit dieses Verfahrens hat begreiflicherweise zu medizinischen Bemühungen um andere und schnellere diagnostische Hilfsmethoden für den Nachweis des Gehirntodes geführt. Dabei geht es unter anderem73 - um folgende zwei Verfahren74: Einerseits versucht man, nach Einspritzung eines Kontrastmittels in die zum Gehirn führenden Schlagadern röntgenologisch das Aufhören des Blutkreislaufs im [314] Gehirn festzustellen (= beidseitige Carotisund Vertebralis-Angiographie); nach einem die Uberlebensfrist des Gehirns übersteigenden und sicherheitshalber auf 30 Minuten bemessenen Kreislaufstillstand wäre das Gehirn mit Sicherheit tot. Aber zunächst ist diese Methode nicht allgemein zum Nachweis des Gehirntodes anwendbar, sondern nur dann, wenn der Hirntod auf ganz bestimmten Ursachen beruht, nämlich auf einer direkten Gehirnschädigung durch Gewalteinwirkung oder durch intrakranielle Drucksteigerung75. Vor allem aber bestehen bei diesem aufwendigen Verfahren noch technische Fehlerquellen, die den Wert dieser Methode mindern76. - Anderseits versucht man, die Sauerstoffdifferenz im Blut der zum Gehirn hinführenden und der von ihm wegführenden Blutgefäße zu messen, um so den zerebralen Sauerstoffverbrauch - beziehungsweise die Unter71 Vgl. dazu u. zum folgenden die in Fn. 15 zitierten Entschließungen; ferner: Käufer/ Penin, DMW 1968, 680; Pribilla, DÄB1. 1968, 2319-2321; Wawersik, DÄB1. 1969, 1317, u. Studium Generale 1970, 326; Gütgemann/Käufer, DÄB1. 1969, 2262; Kubicki u. a. wie Fn. 26; Stratenwerth (Fn.9), 546; Schneider, Der Nervenarzt 1970, 382-383. 72 Vgl. zum Streit um Areflexie und Verlust der Temperaturregulation etwa: Duven/ Kollrack, DMW 1970, 1346; Lausberg, DMW 1970, 1301 ff. 73 Zu Versuchen mit weiteren Verfahren vgl. ζ. B.: Kubicki u. a. wie Fn. 26; Schneider, Der Nervenarzt 1970, 383. 74 Vgl. zum folgenden näher: Gütgemann/Käufer, DÄB1. 1969, 2662; Wawersik, DÄB1. 1969, 1317, u. Studium Generale 1970, 328-329; Gütgemann, FS für Wandersieb, 241 f.; Schneider, Der Nervenarzt 1970, 383; Bay (Fn.45), 6ff. 75 Vgl. z.B.: Wawersik, DÄB1. 1969, 1317, u. Studium Generale 1970, 329. 76 Vgl. z.B.: Bay (Fn.45), 6.
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schreitung oder den gänzlichen Ausfall des Erhaltungsstoffwechsels festzustellen; auch hier müßte theoretisch nach einer Sicherheitsfrist der Gehirntod nachweisbar sein. Aber dieses komplizierte Verfahren zur Blutgasanalyse hat bisher noch nicht zu gesicherten Ergebnissen geführt77. - Bei beiden Methoden sind also zumindest gleichfalls zusätzliche klinisch-neurologische Untersuchungen auf Hirntodsymptome nötig. Vor allem aber stoßen diese beiden Untersuchungsmethoden auf erhebliche rechtliche Bedenken78. Sie machen nämlich größere körperliche Eingriffe beim Patienten nötig, die zudem mit Risiken verbunden sind79. Im Augenblick ihrer Vornahme steht aber der Tod des Patienten gerade noch nicht fest, mögen auch einzelne der genannten Kriterien schon für das Vorliegen eines Hirntodes sprechen. Jeder sachkundige und verantwortungsbewußte Arzt muß also in Rechnung stellen, daß der Patient zur Zeit dieser Eingriffe noch lebt, mag er dies in Kauf nehmen oder es außer acht lassen (bedingter Vorsatz oder Fahrlässigkeit). Daraus ergeben sich dann rechtliche Komplikationen: Die Rechtsprechung wertet nämlich jeden ärztlichen Eingriff am Körper eines (lebenden) Menschen als Körperverletzung (§§223 ff., 230 StGB), die folglich eines Rechtfertigungsgrundes bedarf80. Dem stimmt die Strafrechtslehre einhellig für diejenigen Fälle zu, in denen es sich nicht um Heileingriffe im Interesse des Patienten selbst, sondern um Eingriffe in fremdem Interesse handelt81. Letzteres ist aber hier der Fall, denn es geht ja um Eingriffe, mittels deren beschleunigt festgestellt werden soll, ob der Tod schon eingetreten ist, um dann Organe aus dem Spender zur Transplantation auf einen Empfänger entnehmen zu können. Eine Rechtfertigung dieser - der Hirntodfeststellung dienenden - körperverletzenden Eingriffe am noch lebenden Patienten ist aber so gut wie ausgeschlossen: Der Rechtfertigungsgrund des sogenannten „übergesetzlichen Notstands" scheidet aus. Denn nach herrschender Ansicht erlaubt der beim übergesetzlichen Notstand anzustellende Wertvergleich es schon im Hinblick auf die Menschenwürde nicht, den Körper eines anderen unter Nichtachtung seiner Freiheitsrechte als bloßes Mitttel zur
Vgl. z.B.: Bay (Fn.45), 6; Wawersik, Studium Generale 1970, 329. Vgl. zum folgenden näher: Geilen, JZ 1971, 42. 79 Vgl. z.B.: Bay (Fn.45), 7; Kongreßbericht, Ärztl. Praxis 1970, 4108. - Einzelheiten über die angiographische Untersuchung bei: Tönnis/Frowein, Mschr. f. Unfallheilkunde 1963, 169ff.; Krasemann/Klenke, Med. Welt 1970, 2106ff. 80 Vgl. RGSt. 25, 375ff.; BGHSt. 11,111 ff.; 16, 311 ff.; BGH in NJW 1956,1106ff. u. 1959, 811 ff. S1 Vgl. statt vieler: Maurach, BT, 5. Aufl. 1969, 82; Schönke-Schröder, 15. Aufl. 1970, Rdz. 11 zu §223. 77
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Erreichung eines - wenn auch erwünschten - Zweckes zu verwenden82. Das gilt nach weit überwiegender Ansicht schon für relativ harmlose Eingriffe wie eine Blutentnahme zum Zwecke der Bluttransfusion83; es muß aber sicher und erst recht für fremdnützige risikoreiche Eingriffe an Schwerkranken und Sterbenden gelten84. - Der einzige theoretisch denkbare Rechtfertigungsgrund der „Einwilligung" des Patienten scheidet praktisch aus. Denn in dieser Situation kann von der rechtswirksamen Erteilung einer Einwilligung des (bewußtlosen) Patienten naturgemäß nicht mehr die Rede sein85. Und daß jemand im vorhinein wirksam in etwaige spätere Eingriffe dieser Art einwilligen würde, ist gewiß reine Theorie. Es muß daher Verwunderung und Befremden erregen, mit welcher Unbefangenheit solche Methoden zur Feststellung des Gehirntodes praktiziert und teilweise auch von medizinischen Gesellschaften anerkannt werden86, ohne daß eine tragfähige rechtliche Grundlage dafür besteht. 2. Doch kehren wir noch einmal zurück zu der erstgenannten Methode, derzufolge der Gehirntod durch die geschilderten (essentiellen) klinischneurologischen Symptome in Verbindung mit der EEG-Kontrolle nachgewiesen wird; denn dort stellt sich noch ein weiteres Beweisproblem. Da nämlich diese Kriterien nur in ihrer Gesamtheit den Gehirntod beweisen, haben sich einige medizinische Regeln gebildet, die auch in juristischer Sicht von Interesse sind; sie besagen: Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß die Funktionen von Kreislauf und Atmung - unabhängig davon, ob künstlich oder spontan solange das Bestehen des Lebens beweisen, bis der Gegenbeweis - der
Vgl. dazu statt vieler: BT-Drucks. IV/650, 160. Vgl. BT-Drucks. V/4095, 15; Gallas, FS für Mezger, 1954, 325 f.; Noll, ZStW Bd. 77 (1965), 29f.; Lampe, NJW 1968, 90-Jescheck, AT, 1969, 242; Mezger/Blei, AT, 14. Aufl. 1970, 152; Schmidhausen AT, 1970,259; Dreher, 32. Aufl. 1970, Anm. 7 zu §54; SchönkeSchröder, Rdz. 58 der Vorbem. vor §51, mit weit. Nachw. - Differenzierend: Baumann, AT, 335f.; Wessels, AT, 1970, 47f. 84 Geilen (JZ 1971, 42) gelangt mit Rücksicht auf „die in solchen Fällen immer infauste Prognose des Moribunden" und mit Hilfe eines „Opfergedankens" zu gegenteiligen Schlüssen. Dies widerspricht indessen der fast einhelligen Lehre von den dem Abwägungsprinzip des übergesetzlichen Notstands vorgegebenen Wertentscheidungen. (Vgl. die Nachw. in Fn. 83, bes. Jescheck, a. a. O.) - Hanack (DÄB1. 1969, 1324) glaubt, daß die bei der Angiographie nötigen Eingriffe erlaubt seien, wenn sie dem Bewußtlosen keine Schmerzen bereiten. Bei Eingriffen in die Unversehrtheit des Körpers ist es aber für den Begriff des „Mißhandelns" i. S. d. § 223 nach überwiegender Ansicht unerheblich, ob sie Schmerzen verursachen; vgl. dazu: Schönke-Schröder, Rdz.3 zu §223, mit Nachw. 85 Vgl. Bay (Fn. 45), 7. 86 Vgl. die in Fn. 15 zitierten Entschließungen. 82 83
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Nachweis des Erlöschens der Hirnfunktion - erbracht ist87. Und weiter: Die Null-Linie im EEG hat nur Beweiskraft, solange ihr nicht andere intakte Körperfunktionen entgegenstehen, wie Spontanatmung, normale Herztätigkeit, erhaltene Reflexe oder ein Weiterbestehen des (wenn auch geistig gestörten) Bewußtseins88. Im übrigen widerlegt jede - noch so geringe - Wellenaktivität im EEG den Organtod des Gehirns ohne weiteres89. Und es gilt ganz allgemein die ärztliche Sorgfaltsregel, daß beim leisesten Zweifel an der Eindeutigkeit des Befundes „in dubio pro patiente" [315] ein Weiterbestehen des Lebens anzunehmen ist90. Schließlich wird von medizinischer Seite noch eine zweifache Vorsichtsmaßnahme personeller Art gefordert91 : Zur Feststellung des Gehirntodes sollen neben den die übrigen Symptome prüfenden Ärzten noch Spezialisten zugezogen werden, so ein Neurologe oder Neurochirurg zur Beurteilung der Hirnfunktionen und ein EEG-Fachmann zur Begutachtung des Hirnstrombildes. Ferner sollen die den zerebralen Tod feststellenden Ärzte vom Transplantationsteam unabhängig . sein, um eine getrennte ärztliche Verantwortlichkeit für Organspender und Organempfänger zu gewährleisten. Die letztgenannten personellen Vorsichtsmaßnahmen können zwar de lege lata rechtlich nicht erzwungen werden, weil unser Recht kein bestimmtes Verfahren für die ärztliche Todesfeststellung vorschreibt92. Die übrigen - so treffend in der Formel „in dubio pro patiente" gipfelnden - medizinischen Sorgfaltsregeln haben jedoch zugleich einen triftigen juristischen Grund. Solange nämlich nicht einwandfrei feststeht, daß der Patient, dem ein Transplantat entnommen werden soll, hirntot ist, besteht für den Arzt ein schwerwiegendes strafrechtliches Risiko93: Stellt sich beispielsweise heraus, daß der Spender zur Zeit des Eingriffs noch lebte und daß er erst durch den Eingriff getötet worden ist, so kommt eine strafrechtliche Haftung des Arztes unter zwei Gesichts-
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Vgl. Spann, DZGerMed. 1966, 29-30; Kaiser, Med. Klinik 1967, 644. " Vgl. Spann/Liebhardt, MMW 1966, 1414; Spann/Kugler/Liebhardt, MMW 1967, 2162 u. 2167; Kohlhaas, NJW 1967, 1493. — Zum Meinungsstreit um die Bedeutung der Autorhythmie des Herzens vgl. insbes.: Geilen, JZ 1971, 43. - Zum Gegenbeweis durch erhaltene Reflexe vgl. den Text zu u. mit Fn. 71 u. 72. " Vgl. Käufer/Penin, DMW 1968, 684; Kubicki u.a. wie Fn.26; Wawersik, DÄBl. 1969, 1318 („eine flache EEG-Kurve ist keine Null-Linie"). *> Vgl. Kubicki u. a. wie Fn. 26. 91 Vgl. zum folgenden statt vieler: Die in Fn. 15 zitierten Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften sowie Bauer, Der Chirurg 1967, 250, und Bay (Fn.45), 10. 92 Vgl. dazu näher: Geilen, JZ 1971, 42 f. 95 Vgl. zum folgenden: Burkhardt, Schweiz. ZStrR. 1968, 364ff.; Bockelmann (Fn.3), 111; Kaiser, Med. Klinik 1967, 645.
Der Tod und dás Strafrecht
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punkten in Betracht: Hat der Arzt es bei seinem Eingriff für möglich gehalten, daß der Spender noch lebte, und hat er dies zustimmend in Kauf genommen, so ist er wegen eines mit dolus eventualis begangenen vollendeten Totschlags (oder gar Mordes) strafbar. Hat der Arzt jedoch einfach sorglos darauf vertraut, daß der Spender schon tot sei, so ist er wegen fahrlässiger Tötung strafbar. - Aber selbst dann, wenn sich herausstellt, daß der Spender bei dem Eingriff bereits tot war und daß die Organentnahme mithin aus einer Leiche erfolgt ist, so ist das strafrechtliche Risiko des Arztes gleichwohl nicht ausgeräumt: Hat der Arzt es nämlich für möglich gehalten und in Kauf genommen, daß der Spender noch lebte, so ist er wegen versuchten Totschlags am untauglichen Objekt strafbar. Hat er hingegen in diesem Falle sorglos darauf vertraut, daß der Spender wohl schon tot sein werde, so entfällt freilich eine strafrechtliche Haftung, weil der Versuch eines Fahrlässigkeitsdelikts nicht strafbar ist. Jedenfalls aber erweisen sich die geschilderten medizinischen Sorgfaltsregeln auch in juristischer Sicht als wohlbegründet'4. Ist jedoch der Gehirntod einwandfrei diagnostiziert, so entfallen diese Risiken. Der Arzt hat nur noch die zum Schutze der Leichen bestehenden Vorschriften zu beachten'5. C. Bedenkt man die vielfältigen Probleme und Schwierigkeiten, die mit der Anerkennung und Feststellung des Hirntodes verbunden sind, so kann es nicht verwundern, daß der Ruf nach dem Gesetzgeber laut geworden ist. Manche Autoren haben eine gesetzliche Festlegung des Todesbegriffs beziehungsweise der Todeskriterien gefordert'6; zahlreiche andere Autoren haben diesem Verlangen entschieden widersprochen'7. Auch ich habe Bedenken gegen diese Forderung, und zwar aus folgenden Gründen: 94 Außer Tötungsdelikten kommt übrigens auch eine (vorsätzliche oder fahrlässige) Körperverletzung in Frage; nur ist dort der Versuch nicht strafbar. 95 Zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen bei einer Entnahme von Transplantaten aus einer Leiche der Tatbestand oder die Rechtswidrigkeit einer „Störung der Totenruhe" i.S.d. §168 StGB entfallen, vgl. statt vieler: Dreher, 32. Aufl., Anm.2 Β zu §168; Kallmann, FamRZ 1969, 575; und Geilen, J Z 1971, 43ff., jeweils mit umfassenden Nachw.
* Vgl. z . B . : Geilen, FamRZ 1968, 127, u. JZ 1968, 152; Stratenwerth (Fn.9), 547; Schönke-Schröder, Rdz. 10 b der Vorbem. vor §211; Blei, J A 1970, 271 u. 1971, 164. Vgl. z . B . : Pribilla, DÄB1. 1968, 2322; Bockelmann (Fn.3), 118; von Bubnoff, GA 1968, 77; Burkhardt, Schweiz. ZStrR 1968, 373 ff.; Wawersik, DÄB1. 1969, 1318; Kaiser, Med. Sachverst. 1968, 101; Heinitz (Fn.3), 19ff.; Römer in Bay-Römer (Fn.45), 17; Hanack, Studium Generale 1970, 439.
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Medizinisch-juristische Probleme im Strafrecht
Der „offene Rechtsbegriff" des Todes wird - wie ich dargelegt habe durch die medizinische Wissenschaft ausgefüllt. Er ist daher dem inhaltlichen Wandel durch neue medizinische Erkenntnisse unterworfen. Das hat sich gerade jetzt bei der Ersetzung der klassischen Todesdefinition des „Herz- und Atmungstodes" durch den neuen Begriff des „Gehirntodes" eindrucksvoll gezeigt. Für eine Anerkennung des Hirntodes als Tod im Rechtssinne bedarf es also keines Gesetzes. Geradezu verhängnisvoll aber wäre es, wenn der Gesetzgeber die medizinischen Kriterien für den Nachweis des Gehirntodes festlegen wollte. Die medizinische Wissenschaft ringt gerade jetzt und wohl noch lange Zeit um eine Verbesserung dieser Kriterien und ihres Beweises; auf lange Sicht wird es bei einer sich ständig wandelnden Zwischenbilanz dieser Forschungen bleiben. Daher wäre es offensichtlich verfehlt, den derzeitigen Stand dieser medizinischen Zwischenbilanz in Gesetzesform zu versteinern. Ein Gesetz, das die Symptome des Gehirntodes und die Anforderungen an ihren Nachweis festlegen wollte, wäre schon im Augenblick seiner Verkündung überholt. Aber den Gleichschritt des Rechts mit dem Fortschritt der Medizin hätte es torpediert; und sehr wahrscheinlich würde es sogar den Fortschritt der Medizin behindern. Der vermeintliche Gewinn an Rechtssicherheit wäre mit der Wissenschaftsfeindlichkeit einer solchen Gesetzgebung viel zu teuer bezahlt. Auf absehbare Zeit sollte es Sache der ärztlichen Fachorganisationen bleiben, durch laufende Anpassung ihrer Richtlinien über die Kriterien des Hirntodes an den gesicherten Forschungsstand die lex artis in diesem Bereich kundzutun. Aber auch ohne Festlegung von Todesbegriff und Todeskriterien gibt es zahlreiche Rechtsfragen, die ein - in der Bundesrepublik Deutschland dringend nötiges - Transplantationsgesetz regeln könnte98. Das beginnt bei Verfahrensfragen, wie etwa der Einschaltung unabhängiger Ärzteteams bei der Feststellung des Hirntodes. Es setzt sich fort mit materiellen Fragen, etwa bei der Überlegung, ob eine Rechtsgrundlage für die geschilderten, de lege lata rechtlich höchst bedenklichen Untersuchungsmethoden geschaffen werden kann. Und es geht hin bis zu der nachgerade überfälligen Regelung der umstrittenen Voraussetzungen für die Entnahme von Transplantaten aus einer Leiche". Wir sollten uns mit dem Erreichbaren und Nötigen begnügen, nicht aber nach den Sternen greifen.
98 Vgl. dazu insbes.: Bockelmann (Fn. 3), 118; Heinitz (Fn.3), 30; Römer in BayRömer (Fn.45), 20; Blei, JA 1971, 164; Geilen, JZ 1971, 48. - Über ausländische Transplantationsgesetze vgl. Bockelmann (Fn.3), 116-117; Heinitz (Fn.3), 20ff. " Vgl. dazu die Nachw. in Fn. 96.
Geburtshilfe und Menschwerdung in strafrechtlicher Sicht* Die Frage, wann im strafrechtlichen Sinn das Leibesfruchtstadium endet und das Stadium des Menschseins beginnt, ist durch das Gesetz selbst entschieden (§217 StGB): die Zäsur liegt beim „Beginn der Geburt". Mit dieser Regelung will das Gesetz den — gegenüber dem strafrechtlichen Schutz der „Leibesfrucht" wesentlich erweiterten — Strafschutz des „Menschen" auf den Anfang der gefahrenträchtigen zeitlich-biologischen Zone des Geburtsvorgangs vorverlegen. Dieses kriminalpolitische Ziel des Gesetzes kann nur dann voll verwirklicht werden, wenn bei der Interpretation des Rechtsbegriffs „Beginn der Geburt" auch die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft vom Geburtsbeginn berücksichtigt werden. Die Rechtsprechung und der weitaus größte Teil der Rechtslehre sind — nach Uberwindung mancher medizinisch und rechtlich unhaltbarer Fehldeutungen — heute darin einig, daß mit dem „Beginn der Geburt" das „Einsetzen der Ausstoßungsversuche des Mutterleibes" beziehungsweise der „Beginn der im weiteren Verlauf zur Ausstoßung führenden Wehen" gemeint ist. Doch bereits hier führt die gebotene Berücksichtigung medizinischer Erkenntnisse zu einer praktisch bedeutsamen Präzisierung: Unter den „Wehen" sind dabei nicht schon die sogenannten Schwangerschafts- und Vorwehen — bloße Vorzeichen einer Geburt — und umgekehrt nicht erst die Ausstoßungsund Preßwehen — eine späte Geburtsphase —, sondern die Eröffnungswehen zu verstehen, mit denen eine Geburt normalerweise beginnt. — Indessen deckt der Rechtsbegriff „Beginn der Geburt" nicht nur diesen — gemeinhin allein bedachten — Normalfall; er ist vielmehr offen für eine Einbeziehung von bisher nicht beachteten Fallgruppen: Wenn in medizinischer Sicht andere Vorgänge als Wehen den Auftakt der Geburt bilden — wie es beispielsweise vielfach beim geburtsterminnahen „vorzeitigen" Blasensprung angenommen wird, dem die Wehen erst nachfolgen —, dann steht nichts im Wege, den nunmehr vorangehenden Teilakt des Geburtsvorgangs auch rechtlich als „Beginn der Geburt" zu werten. Dies alles habe ich unter Heranziehung geburtshilflicher Lehren an anderer Stelle eingehend dargelegt1; ich muß hier darauf verweisen. * Aus: Festschrift für Ernst Heinitz zum 70. Geburtstag am 1. Januar 1972, Verlag Walter de Gruyter, Berlin, 1972, S. 359-372. 1 Vgl. Lüttger: „Der Beginn der Geburt und das Strafrecht. Probleme an der Grenze zwischen Leibesfruchtcharakter und Menschqualität", in JR 1971, S. 133 ff.
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Medizinisch-juristische Probleme im Strafrecht
[360] Die strafrechtlichen Konsequenzen einer präzisen Bestimmung dieser Zäsur „Beginn der Geburt" sind beträchtlich: Solange das Lebewesen rechtlich noch „Leibesfrucht" ist, genießt es Strafschutz nur gegen vorsätzliche Abtötung (§218 StGB); sobald es im strafrechtlichen Sinne „Mensch" wird, ist es nicht nur gegen vorsätzliche sondern auch gegen fahrlässige Tötung sowie gegen vorsätzliche und fahrlässige Körperverletzung geschützt (§§211 ff., 222, 223 ff., 230 StGB). Dabei ist — wie sich aus Struktur und Zusammenhang dieser Strafvorschriften ergibt — durchgängig die rechtliche Objektqualität im Augenblick der Einwirkung auf das Handlungsobjekt („Leibesfrucht" oder „Mensch") entscheidend für die strafrechtliche Einordnung einer Tötungs- oder Verletzungshandlung; ein etwaiger Wandel in der rechtlichen Objektqualität (Geburt) zwischen Einwirkung und Erfolgseintritt (Tod) oder Nachwirkung (Schadenszustand) ist dafür irrelevant. Die daraus in mehrfacher Hinsicht folgende Begrenzung des Strafschutzes ist nach Entstehungsgeschichte und Systematik des Gesetzes gewollt; nur der Gesetzgeber könnte diesen Rechtszustand ändern. Auch das habe ich — in kritischer Auseinandersetzung mit der unhaltbaren strafrechtlichen Konzeption des Contergan-Prozesses — in der erwähnten früheren Abhandlung näher dargetan 2 ; ich brauche die Begründung dafür hier nicht zu wiederholen. N u r beiläufig erwähnt und späterer Vertiefung vorbehalten habe ich dort jedoch die Probleme, die sich aus geburtshilflichen Maßnahmen für die Bestimmung der Zäsur zwischen Leibesfruchtcharakter und Menschqualität und damit für das Ausmaß der strafrechtlichen Haftung des Geburtshelfers im Umkreis dieser Zäsur der „Menschwerdung" ergeben. Mein Beitrag versucht, diese Lücke jener Darstellung zu schließen. A. Erörterungen zum Thema „Geburtshilfe und Menschwerdung" betreten juristisches Neuland, denn die Rechtsprechung hat sich mit diesem Fragenkreis noch nicht befaßt und die Straf rechtslehre3 ist über ganz vereinzelte kurze Bemerkungen dazu bisher nicht hinausgekommen. Das mangelnde Interesse der Strafrechtslehre an diesen Fragen mag seinen Grund audi darin haben, daß die hier zu bedenkenden 2 Vgl. Lüttger, JR 1971, S. 136 ff. — Zustimmend: Armin Kaufmann: „Tatbestandsmäßigkeit und Verursachung im Contergan-Verfahren", in JZ 1971, S. 569 ff.; Bruns: „Ungeklärte materiell-rechtliche Fragen des Contergan-Prozesses", in dieser Festschrift, S. 317 ff. Früher bereits Blei: „Körperverletzung durch Schädigung der Leibesfrucht?", in MMW 1970, S. 741 ff. 3 Vgl. Blei, Strafrecht II, Besond. Teil, 9. Aufl. 1966, S. 10.
Geburtshilfe und Menschwerdung
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[361] geburtshilflichen Maßnahmen in ihrer Vielfalt und in ihrer unterschiedlichen Zwecksetzung den Juristen oft nicht vertraut sind. 1.
Um so wichtiger erscheint es mir, mit einigen Hinweisen auf die geburtshilflichen Maßnahmen zu beginnen, die an der strafrechtlichen Schwelle zwischen Leibesfruchtcharakter und Menschqualität in Betracht kommen. Dabei geht es weder um Vollzähligkeit der Aufzählung noch um geburtshilfliche Systematik und schon gar nicht um eine Darstellung der Indikationen und Kontraindikationen, der Vorteile und Gefahren dieser Maßnahmen. Es geht nur um eine beispielhafte Veranschaulichung von Sachverhalten, mit deren Hilfe anschließend rechtliche Problemgruppen verständlich gemacht werden sollen. Zur Geburtseinleitung und teilweise auch zur Wehenverstärkung — also zur Stimulierung ausgebliebener oder ungenügender Wehentätigkeit — kommt zunächst eine Reihe biologischer, physikalischer, medianischer und elektrischer Verfahren in Betracht 4 : Eine 48stündige Fastenkur mit Bettruhe gilt als recht erfolgreiches Mittel zur Geburtseinleitung. Die Entleerung von Harnblase und Darm dient der Beseitigung von „Wehenbremsen". Als wehenfördernd wird eine nach jeder Wehe wechselnde Seitenlagerung empfohlen. Eine wichtige Rolle spielt die thermische Reizung der Uterusmotilität durch warme Bäder oder Duschen und durch lokale Wärmeapplikationen (ζ. B. Wärmekissen und sog. Wärmegürtel). Oftmals führt die Reizung des inneren Muttermunds durch einen eingeführten Verweilkatheter zur Wehenauslösung. Seltener praktiziert werden die Stimulierung der Uteruskontraktionen mittels eines eingeführten kleinen Ballons, der durch einen automatischen Pumpmechanismus rhythmisch gefüllt und entleert wird, sowie die Wehenanregung mittels elektrischer Ströme. Wenn die Wehen nicht oder nicht genügend in Gang kommen, wählt der Geburtshelfer oftmals eine medikamentöse Behandlung der Wehenschwäche 5 . Dabei steht heute die intravenöse Dauertropfinfusion mit dem Wehenhormonpräparat Oxytocin an Verbreitung und 4 Vgl. zum folgenden: Pschyrembel, Praktische Geburtshilfe, 12. u. 13. Aufl. 1967, S. 184 ff.; Martius, Lehrbuch der Geburtshilfe, 7. Aufl. 1971, S. 315; Saameli in Gynäkologie und Geburtshilfe, herausgegeben von Käser u. a., 1967, Bd. II, S. 598; Eiert, ebendort, S. 1102, 1104; Guggisberg in Biologie und Pathologie des Weibes, herausgegeben von Seitz u. Amreich, 2. Aufl. 1951, 8. Bd., 2. Teil, S. 169; Hoff: „Ein biologisches Verfahren der künstlichen Geburtseinleitung (Fastenkur)", in Wiener Klin. Wochensdir. 1946, S. 725 ff. u. 743 ff.; Huber: „Geburtseinleitung mit dem Verweilkatheter", in Zentralbl. f. Gynäkologie 1955, S. 540 ff. 5 Vgl. dazu: Pschyrembel, a. a. O., S. 190 ff.; Saameli, a. a. O., S. 571 ff., 592 ff.; Eiert, a . a . O . , S. 1103; Martius, a . a . O . , S. 314 f.; Mosler bei Stoeckel-Kraatz, Lehrbuch der Geburtshilfe, 14. Aufl. 1967, Teil I, S. 295 ff.
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[362] Erfolg weit im Vordergrund; doch werden Wehenmittel auch in anderer Form (beispielsweise intramuskulär) verabreicht. Unter bestimmten Voraussetzungen sind andere Maßnahmen zur Geburtseinleitung oder zur Wehenverstärkung indiziert 6 : die digitale Ablösung des unteren Eipols, die Dilatation des Muttermundes mit dem Finger oder mit dem sog. Hegar-Stift sowie die Sprengung der Frudbtblase mit Hilfe eines Instruments. Diese — oft kombinierten — Eingriffe haben meist das Einsetzen ausgebliebener Wehen beziehungsweise .die Verstärkung ungenügender Wehen zur Folge. Oftmals ist eine vaginale operative Entbindung erforderlich; ihre bekanntesten Formen sind die Zangenoperationen und in neuerer Zeit als „Zangenersatz" die Vakuumextraktion, bei der das Kind mittels einer Saugglocke am K o p f extrahiert wird 7 . Diese beiden vaginalen Entbindungsoperationen setzen indessen nach herrschender medizinischer Lehre voraus, daß der äußere Muttermund bereits vollständig eröffnet ist und daß der K o p f des Kindes mit seinem größten Umfang schon in das Bedien eingetreten ist. Sie sind mithin jedenfalls erst gegen Ende der Eröffnungsperiode anwendbar und ersetzen (oder verkürzen) die Austreibungsperiode. Nicht selten bleibt nur der Weg einer abdominalen Schnittentbindung, die unter dem Namen (abdominaler) Kaiserschnitt bekannt ist 8 . Sie ist die einzige geburtshilfliche Operation, die zu jedem beliebigen Zeitpunkt eine rasche Entbindung ermöglicht. Sie kann daher als geburtseinleitende Operation vor Wehenbeginn oder als geburtsbeschleunigende Operation nach Wehenbeginn durchgeführt werden und ist in jedem Falle eine geburtsbeendigende Operation. Sie erfolgt unter Umgehung des vaginalen Weges in verschiedenen operationstechnischen Formen mittels Schnitteröffnung von Bauchdecke und Uterus. Sehr oft wird die Geburt vorbereitet und begleitet durch eine psychische Betreuung der Schwangeren 9 oder durch eine medikamen• Vgl. zum folgenden: Saameli, a . a . O . , S. 595 ff.; Eiert, a . a . O . , S. 1102 ff.; Guggisberg, a. a. O., S. 170; Huber, a. a. O. 7 Vgl. zum folgenden: Stoeckel-Kraatz, a . a . O . , Teil III, S. 1063 ff., 1089 ff. u. 1114 ff.; Eiert, a . a . O . , S. 1118 ff. — Näheres über andere vaginale Operationen (insbes. über die Inzision des Muttermundes und über den sog. „vaginalen Kaiserschnitt") bei Stoeckel-Kraatz, a. a. O. — Näheres darüber, daß die Anwendung der Saugglocke bei wehensynchronem rhythmisdiem Zug auch zur medianisdien Wehenauslösung und zur Wehenverstärkung, zur Geburtsbeschleunigung und möglicherweise auch zur Erweiterung des noch nicht vollständig geöffneten Muttermundes (bestr.) dienen kann, bei Eiert, a. a. O., und bei Stoeckel-Kraatz, a. a. O. 8 Vgl. zum folgenden: Eiert, a . a . O . , S. 1106 ff.; Stoeckel-Kraatz, a.a.O., Teil III, S. 1182 ff. ' Vgl. dazu: Roemer in Gynäkologie und Geburtshilfe (Fn. 4), S. 631 ff.; Stoeckel-Kraatz, a. a. O., Teil I, S. 249 ff.
Geburtshilfe und Menschwerdung
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töse [363] Therapie 10 , welche den Abbau von Geburtsangst, die Beseitigung psychogener Wehenschwäche oder die Lösung von Verkrampfungen bezwecken; sie dienen allgemein der Geburtserleichterung und speziell - etwa bei spasmenlösenden Mitteln 11 - der erleichterten Eröffnung des Muttermundes. Bei Erschöpfung und Ermüdungswehenschwäche verhelfen Medikamente zu Ruhe und dadurch zu anschließender Wehenverbesserung 12 . Mittel zur Linderung des Geburtsschmerzes haben einen weiten Anwendungsbereich 13 . U n d es ist selbstverständlich, daß operative Eingriffe, die erhebliche Schmerzen verursachen, nur unter Lokalanästhesie beziehungsweise Allgemeinnarkose erfolgen 14 . 2.
Diese Aufzählung hat trotz ihrer summarischen N a t u r bereits sichtbar gemadit, daß die Frage, welche Bedeutung geburtshilfliche M a ß nahmen f ü r die straf rechtliche Zäsur der „Menschwerdung" haben, nicht einheitlich beantwortet werden kann, sondern eine differenzierende A n t w o r t verlangt. Es m u ß offensichtlich unterschieden werden, welche dieser Maßnahmen noch vor der Zäsur „Beginn der Geburt" liegen, welche von ihnen den Geburtsbeginn selbst darstellen und welche erst nach dieser Zäsur liegen. Beginnen wir mit dem Fall der ausgebliebenen Wehentätigkeit und dort mit den aufgezählten biologischen, physikalischen, mechanischen, elektrischen, medikamentösen und psychotherapeutischen Mitteln und Methoden, welche die Wehen in Gang setzen sollen. Für sie alle ist charakteristisch, d a ß sie eine „normale, natürliche Geburt" herbeiführen sollen; sie bereiten diese vor, beseitigen Wehenhemmungen oder geben den Anstoß zum Wehenbeginn. Für die Rechtsfrage nach dem „Beginn der Geburt" bleiben sie daher ebenso außer Betracht wie die natürlichen Prozesse, welche — wie beispielsweise die Vorwehen — der spontanen Geburt vorangehen und sie heranreifen lassen. Das deckt sich mit der medizinischen Auffassung, derzufolge eine Schwangere nicht schon dann und deshalb „unter der Geburt" ist, wenn und weil jene Mittel angewandt werden, sondern erst dann, wenn diese Mittel den mit ihnen erstrebten Erfolg — das Einsetzen der Eröffnungswehen — bewirken. In allen diesen Fällen ist mithin nicht schon 10
Vgl. dazu: Martius, a . a . O . , S. 309 ff.; Stoeckel-Kraatz, a . a . O . , Teil I, S. 252 ff. 11 Vgl. dazu: Pschyrembel, a. a. O., S. 192. 12 Vgl. dazu: Pschyrembel, a. a. O., S. 188 f., 193; Guggisberg, a. a. O., S. 171. 13 Vgl. dazu: Bed: in Gynäkologie und Geburtshilfe (Fn. 4), S. 662 ff.; Pschyrembel, a. a. O., S. 138 f.; Guggisberg, a. a. O., S. 184 ff. 14 Vgl. etwa für Zangenoperationen und für abdominale Sthnittentbindungen: Beck, a. a. O., S. 670 ff., 681 f.; Eiert, a. a. O., S. 1120.
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Medizinisch-juristische Probleme im Strafrecht
[364] die „künstliche Einleitung" der Wehen als solche, sondern - wie auch sonst - erst das „Einsetzen" der - hier künstlich eingeleiteten Wehen auch im Rechtssinne der „Beginn der Geburt" 15 . — Damit ist eine Reihe von Fragen, die sich sonst stellen würden und die dann kaum oder nur recht willkürlich lösbar wären, irrelevant geworden, weil sie vor dieser Zäsur bleiben: die Frage etwa, welcher Zeitpunkt denn bei länger dauernden Hilfen zur Wehenauslösung maßgebend sein sollte, beispielsweise bei der Fastenkur, der Wärmeapplikation, der Anwendung des Verweilkatheters, der Einführung und Betätigung des rhythmisch pumpenden Ballons und der Behandlung mit elektrischen Strömen; oder die Frage, was zu gelten hätte, wenn die zur Wehenauslösung unternommenen Maßnahmen — beispielsweise die Verabreichung von Medikamenten — erfolglos bleiben oder wenn sie abgebrochen werden. Und erspart bleibt uns audi die ebenso abenteuerliche wie makabre Vorstellung, daß — sit venia verbo — die Setzung eines wehenanregenden Klistiers ein Symbol der Menschwerdung sein könne! Der Grundsatz, daß nicht schon die Vornahme von Maßnahmen zur Auslösung ausgebliebener Wehen, sondern erst das Einsetzen der durch sie in Gang gebrachten Eröffnungswehen im Rechtssinne den „Beginn der Geburt" darstellt, bildet auch den Ausgangspunkt für die rechtliche Bewertung der geschilderten Gruppe von ärztlichen Eingriffen, soweit diese zur ~Wehenauslösung vorgenommen werden: der Ablösung des unteren Eipols, der Dehnung des Muttermunds und der Sprengung der Fruchtblase. Dodi kann hier die gebotene Berücksichtigung medizinischer Erkenntnisse zu einer Korrektur jenes Grundsatzes führen; ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Manche medizinische Autoren terminieren — wie schon erwähnt — bei einem (spontanen) „vorzeitigen" Blasensprung, dem die Eröffnungswehen erst nachfolgen, den Geburtsbeginn jedenfalls dann auf den Zeitpunkt des Blasensprungs, wenn dieser „geburtsterminnah" erfolgt 16 . Es wäre denkbar, daß in medizinisdier Sicht eine Schwangere audi dann „unter der Geburt" ist, wenn es sich um eine (künstliche) „Blasensprengung" etwa zum errechneten Geburtstermin handelt; denn es geht dabei ja um die Vorwegnahme eines physiologischen Vorgangs aus dem Geburtsablauf selbst. Ich habe diese medizinische Frage mit den mir zur Verfügung stehenden Hilfen nicht klären können; doch geht es mir auch nur um eine Verdeutlichung des gemeinten allgemeinen juristischen Prinzips: Der Rechtsbegriff „Beginn der Geburt" ist 15
Vgl. Blei, BT, S. 10; Lüttger, JR 1971, S. 134. Vgl. dazu: Jantzen-Hilfrich; „Zur Frage des unzeitigen Blasensprungs", in DMW 1968, S. 1760 ff., mit Nachw.; Pscbyrembel, a. a. O., S. 101, 135. ,e
Geburtshilfe und Menschwerdung
[365] vom dann scher
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auch hier offen für eine Berücksichtigung medizinischer Lehren Geburtsbeginn. Die Entscheidung ungeklärter Einzelfragen ist ohnehin Sache jener Kooperation von medizinischer und juristiWissenschaft, der ich hier allenthalben das Wort rede.
Für die Maßnahmen zur Verstärkung ungenügender Wehentätigkeit ist hingegen charakteristisch, daß sie erst nach dem Einsetzen der Wehentätigkeit und damit nach dem „Beginn der Geburt" angewandt (oder fortgesetzt) werden, gleichgültig, ob es sich um die Verstärkung von nicht ausreichenden Eröffnungswehen oder von Austreibungswehen handelt. Hier stellt sich also die Frage nach einem Zusammenhang zwischen diesen geburtshilflichen Maßnahmen und der rechtlichen Zäsur der „Menschwerdung" nicht mehr 1 7 . Dabei spielt es keine Rolle, um welche Mittel oder Methoden es sich handelt; es gilt von der Wärmeapplikation über die Verabreichung von Wehenmitteln bis zur Sprengung der Fruchtblase, sofern diese Maßnahmen zur Wehenuerstärkung angewandt werden. Nach der Zäsur der „Menschwerdung" liegt auch die Anwendung von Mitteln zur Behandlung von E r müdungswehenschwäche oder von (nachträglich eingetretenen) Verkrampfungen, übrigens auch von Mitteln zur Linderung der aufgetretenen Wehenschmerzen. Ebenfalls nach der Zäsur zwischen Leibesfruchtstadium und Menschqualität liegen auch die vaginalen operativen Entbindungen. Denn sowohl die Zangenoperationen als auch die Vakuumextraktion kommen frühestens gegen Ende der Eröffnungsperiode in Betracht. Bei der abdominalen Schnittentbindung ist hingegen zu unterscheiden: Erfolgt sie nach Wehenbeginn, so liegt sie nach der Zäsur der „Menschwerdung". Erfolgt sie jedoch vor Wehenbeginn, so muß auch im Rechtssinne in dieser Operation selbst „die Geburt" erblickt werden 18 , denn sie tritt an die Stelle des physiologischen Geburtsvorgangs; jede andere Deutung würde zu absurden Ergebnissen führen. Einer Erörterung bedarf nur die Frage, welcher Teilakt der Operation im Rechtssinne den Beginn dieser — von den Juristen oft so genannten — „künstlichen Geburt" darstellt. Sicher ist dabei zunächst, daß alle der Schnittentbindung selbst vorangehenden Maßnahmen — wie etwa die Anästhesierung — außer Betracht bleiben müssen, denn sie bereiten die Entbindung nur vor. Verfehlt wäre es aber auch, für die 17 Davon zu unterscheiden ist das ganz andere Problem, daß der Ubergang von den Vorwehen, die nodi keine „Geburtswehen" sind, zu den Eröffnungswehen, mit denen in rechtlicher Sicht „die Geburt beginnt", fließend ist und — namentlich bei sdiwachen Eröffnungswehen — Erkenntnisschwierigkeiten bereitet; vgl. dazu Lüttger, J R 1971, S. 136, mit Nachw. 18 Vgl. Blei, BT, S. 10; Lüttger, J R 1971, S: 134; Deynet, Die Rechtsstellung des nasciturus und der noch nidit erzeugten Person, 1960, S. 44.
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Medizinisch-juristische Probleme im Strafrecht
[366] Rechtsfrage nach dem „Beginn" der (künstlichen) Geburt erst auf die operative Eröffnung des Uterus abzustellen, denn dies ist erst eine späte — wenn auch entscheidende — Phase der Schnittentbindung. Dabei drängt sich durchaus der Vergleich auf, daß ja auch beim natürlichen Geburtsvorgang nicht erst die unmittelbar „austreibenden", sondern schon die die Ausstoßung nur „eröffnenden" Wehen im Rechtssinne den „Beginn der Geburt" darstellen. Maßgebend kann vielmehr nur die operative Öffnung der Bauchdecke sein, mit der die Schnittentbindung beginnt. Dem läßt sich nicht mit Erfolg entgegenhalten, daß es operative Eröffnungen der Bauchdecke audi zu zahlreichen anderen Zwecken gebe; denn hier ist die Operation auf die Entbindung angelegt und entspricht in technischer Hinsicht — nach Art, Lage, Länge und Tiefe der Schnitte — dieser Zielsetzung 19 . Ebensowenig ist es ein tauglicher Einwand gegen diese frühe Terminierung, daß die Schnittentbindung in Notsituationen möglicherweise 20 noch während der Eröffnung der Baudidecke, jedoch nicht mehr nach der Eröffnung des Uterus abgebrochen werden kann; denn die definitive Festlegung auf eine bestimmte Entbindungsart ist kein rechtliches Kriterium f ü r den „Beginn der Geburt", wie sich in allen Fällen von Eröffnungswehen zeigt, denen operative Maßnahmen folgen. Im Rechtssinne liegt daher der „Beginn der Geburt" hier im ersten Schnitt des Operateurs zur Eröffnung der Bauchdecke 21 . D a ß dies audi der ratio legis — Vorverlegung des erweiterten Strafschutzes auf den Anfang des gefahrenträchtigen Geburtsvorgangs — am besten entspricht, versteht sich ohne viel Worte. 3ñ Diese Überlegungen haben die Bedeutung einer interdisziplinären Betrachtung des Begriffs „Beginn der Geburt" gezeigt: Sie führt zu einem erstrebenswerten weitestgehenden Gleichklang der straf rechtsdogmatischen Begriffsbildung mit den medizinischen Lehren vom Geburtsbeginn; dabei wird sie nicht nur dem Normalfall, sondern auch besonderen Erscheinungsformen gerecht. Dank dieser Übereinstimmung der Rechtsbegriffe mit den Lebenskonkreta verwirklicht sie zugleich in optimaler Weise die kriminalpolitischen Ziele des Gesetzes; denn sie bezieht den Begriff „Beginn der Geburt" auf den frühesten Zeitpunkt zurück, den medizinische und juristische Auslegung zu erfassen vermögen. Das alles zeigte sich schon bei der spontanen Geburt; es wird nodi deutlicher bei den geschilderten geburtshilflichen Maß19
Vgl. dazu: Eiert, a . a . O . , S. 1109 ff.; Stoeckel-Kraatz, a . a . O . , Teil S. 1186 ff. 20 Vgl. aber: Stoeckel-Kraatz, a. a. O., Teil III, S. 1060. 21 Zu den Einzelheiten der Operationstechnik vgl. die Nachw. in Fn. 19.
III,
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nahmen. [367] Dabei ergibt sich vollends: Nur diese interdisziplinäre Sicht erschließt den Weg zum Verständnis der Phänomene und zu ihrer sachgerechten rechtlichen Beurteilung. Die überlieferte juristische Formel, die den „Beginn der Geburt" mit dem Einsetzen der zur Ausstoßung hinführenden Wehen umschreibt, erweist sich dann als zu eng; ihre Erweiterung ist notwendig und — wie gezeigt — unschwer möglich. B. Dank der so gewonnenen präziseren Bestimmung des „Beginns der Geburt" läßt sich zugleich das Ausmaß der strafrechtlichen Haftung des Geburtshelfers im Umkreis dieser Zäsur klar abgrenzen; eine kurze Skizze mag dies veranschaulichen. In ihr geht es nur um den strafrechtlichen Schutz des zur Welt drängenden Lebewesens; das — hier praktisch kaum bedeutsame — vorsätzliche Handeln ist zur Verdeutlichung der Systematik erwähnt. Die Erörterung hat von der eingangs erwähnten Zweiteilung des Strafschutzes auszugehen; Uberlegungen zur Strafrechtsreform werden sich dabei aufdrängen. 1.
Bei Maßnahmen nach dem „Beginn der Geburt" 22 haftet der Geburtshelfer strafrechtlich bei Vorsatz und bei Fahrlässigkeit sowohl für eine Tötung als auch für eine körperliche Verletzung des Kindes (SS 211 ff., 222, 223 ff., 230 StGB). Dies gilt nicht nur dann, wenn sein Fehlverhalten in einem positiven Tun besteht23, sondern auch dann, wenn es sich um die Unterlassung einer nach der lex artis gebotenen geburtshilflichen Maßnahme handelt; denn infolge der tatsächlichen Übernahme der geburtshilflichen Betreuung obliegt ihm die Pflicht zur Abwendung von Gefahren für Leben und Gesundheit auch gegenüber dem Kinde 24 . Der Geburtshelfer hat also — Verschulden vorausgesetzt — strafrechtlich für Tod und Körperschäden des Kindes einzustehen, die er beispielsweise durch Falschdosierung wehenverstärkender Mittel, durch fehlerhafte Anwendung der Zangen oder des Vakuumextraktors oder durch Fehler beim abdominalen Kaiserschnitt anrichtet. Denn alle diese Maßnahmen liegen — wie im einzelnen erörtert — nach dem Einsetzen der Eröffnungswehen be22 Die Fälle der (heute meist so genannten) gerechtfertigten „Notstandstötung in der Geburt" liegen außerhalb des Themas. 23 Vgl. die Fälle RGSt Bd. 1, S. 446 ff.; Bd. 9, S. 131 ff.; Bd. 26, S. 178 ff. 24 Es handelt sidi um einen Fall der Übernahme der Gefahrabwendungspflicht gegenüber einem Dritten (hier: der Gebärenden) zugunsten des Gefährdeten (hier: des Kindes); vgl. dazu allgemein: BGHSt Bd. 19, S. 286 ff. (289); Schönke-Schröder, 16. Aufl. 1972, Rdz. 117 der Vorbem. vor § 1 StGB.
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ziehungsweise der ihnen rechtlich gleichzusetzenden physiologischen oder geburtshilflichen Vorgänge und damit nach der strafrechtlichen Zäsur der „Menschwerdung". 2.
[368] Bei Maßnahmen vor dem „Beginn der Geburt"25 haftet der Geburtshelfer strafrechtlich hingegen nur für eine vorsätzliche Abtötung der Leibesfrucht (§218 StGB)26. Auch dabei steht das pflichtwidrige Unterlassen gebotener Maßnahmen dem positiven Tun gleich27; und auch hier genügt bedingter Vorsatz, wie er beispielsweise bei riskanten, medizinisch nicht erforderlichen Operationen ebenso wie beim Unterlassen ganz selbstverständlicher Hilfen sich immerhin aufdrängen mag28. Damit ist die strafrechtliche Haftung für Einwirkungen im Leibesfruchtstadium aber auch erschöpft: Der Geburtshelfer bleibt im straffreien Raum, wenn er durch Tun oder pflichtwidriges Unterlassen entweder die Leibesfrucht fahrlässig abtötet oder sie vorsätzlich oder fahrlässig an der Gesundheit beschädigt. Und weil es — wie eingangs erwähnt — für die strafrechtliche Einordnung von Tötungs- und Verletzungshandlungen ausschließlich auf den Zeitpunkt der Einwirkung ankommt, ist es gleichgültig, ob der fahrlässig verursachte Tod dann vor oder nach der Geburt eintritt beziehungsweise ob die angerichteten Verletzungen nach der Geburt als Schadenszustand fortwirken 29 . An alledem ändert es audi nichts, daß der Geburtshelfer durch die Übernahme der Betreuung in der Pflichtenposition eines Garanten für Leben und Gesundheit der Leibesfrucht steht 30 ; denn diese Pflichtenstellung hat lediglich die Funktion, die Unterlassung einem strafbaren Tun gleichzustellen, nicht aber die Fähigkeit, eine straflose Handlung zu einer strafbaren zu machen31. Mithin bleibt der Geburtshelfer beispielsweise straflos, wenn er beim Ausbleiben der 25 Die Fälle des Schwangersdiaftsabbrudis aus rechtfertigender Indikation liegen ebenfalls (Fn. 22) außerhalb des Themas. 26 Dabei macht es nadi der Struktur des § 218 StGB für die rechtliche Beurteilung unstreitig keinen Unterschied, ob der Tod dann bereits im Mutterleib oder erst nach der Ausstoßung aus dem Mutterleib eintritt; näher dazu: Lüttger, JR 1971, S. 138, mit Nachw. 27 Daß die Fremdabtreibung audi durch Ünterlassen begangen werden kann, ist unstreitig (vgl. Maurach, Deutsches Strafredit, Besond. Teil, 5. Aufl. 1969, S. 66; Schönke-Schröder, Rdz. 36, 36 a zu § 218 StGB). Das in Fn. 24 zur Garantenposition des Geburtshelfers Gesagte gilt auch zugunsten der Leibesfrucht. 28 Vgl. zum erstgenannten Fall: Scbönke-Schröder, Rdz. 25 zu § 2 1 8 StGB; Maurach, BT, S. 66. 29 Näheres dazu bei: Lüttger, JR 1971, S. 139 ff., mit Nachw. 30 Vgl. Fn. 24 u. 27. 31 Treffend dazu: Ernst Heinitz in den Urteilsanmerkungen JR 1955, S. 105 u. JR 1961, S. 29.
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[369] Wehen fahrlässig durch Unterlassen der medizinisch indizierten Geburtseinleitung den Tod der Leibesfrucht verursacht oder wenn er vorsätzlich oder fahrlässig durch fehlerhafte Maßnahmen zur Wehenauslösung; welche ausschließlich vor dem „Beginn der Geburt" liegen, die Leibesfrucht an der Gesundheit beschädigt, selbst wenn dies Folgen für die Gesundheit des später geborenen Kindes hat. 3. Die hier am Beispiel des Geburtshelfers sichtbar gewordenen weiten Lücken im Strafschutz der Leibesfrucht sind zwar vom Gesetz gewollt 29 ; sie sind jedoch ein Ärgernis und sollten in bestimmten Grenzen bei der Strafrechtsreform geschlossen werden 32 . Dafür liegen bereits unterschiedliche Vorschläge vor 33 . Läßt man Einzelheiten beiseite, so schälen sich nach dem derzeitigen Stand der Diskussion im wesentlichen folgende Anregungen heraus: Zunächst der Vorschlag, die fahrlässige Abtötung der Leibesfrucht durch Dritte und die fahrlässige, zu nachgeburtlidien Schadenszuständen führende körperliche Verletzung (Schädigung) der Leibesfrucht durch Dritte unter der einschränkenden tatbestandlichen Voraussetzung zu pönalisieren, daß diese Handlungen unter Verletzung besonderer beruflicher Sorgfaltspflichten begangen werden. Gegen diesen Vorschlag ist freilich eingewandt worden, daß dann den Dritten in Schuld und Strafe führe, was die Schwangere — obwohl Garantin des werdenden Lebens — straflos tun könne 34 . Aber einmal greift dieser pauschale Einwand in den Fällen nicht durch, in welchen der Dritte — wie hier der Geburtshelfer — ebenfalls Garant für Leben und Gesundheit der Leibesfrucht ist. Und zum anderen liegt der entscheidende Unterschied beider Fallgruppen doch darin, daß von dem 32 Der Regierungsentwurf eines Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts (5. StrRG) hat eine Prüfung dieser Frage im weiteren Verlauf der Strafrechtsreform angekündigt (vgl. S. 13 der BRats-Drucks. 58/72). 33 Vgl. dazu: Schwalm, MDR 1968, S..279 (Pönalisierung der grobfahrlässigen Abtötung sowie der vorsätzlichen und der grobfahrlässigen Schädigung der Leibesfrucht); Blei, MMW 1970, S. 744 (Pönalisierung der vorsätzlichen und der unter Verletzung besonderer beruflicher Sorgfaltspfliditen erfolgenden fahrlässigen schädigenden Einwirkung auf die Leibesfrucht mit Schadensfolgen am dann geborenen Menschen); Lüttger, JR 1971, S. 142 (Pönalisierung der fahrlässigen, unter vorsätzlicher oder fahrlässiger Verletzung besonderer beruflicher Sorgfaltspflichten begangenen Abtötung der Leibesfrucht durch Dritte sowie der vorsätzlichen und der berufsfahrlässigen Leibesfruchtverletzung); Armin Kaufmann, JZ 1971, S. 571 bis 572 (Pönalisierung nur der vorsätzlichen schädigenden Einwirkung auf die Leibesfrucht, tunlichst beschränkt auf schwere, über die Geburt fortwirkende Schädigungen). 34
So Armin Kaufmann,
JZ 1971, S. 572.
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[370] Dritten nur eine gewissenhafte Berufsausübung gefordert würde, während eine Pönalisierung von (selbst grob-)fahrlässigem Verhalten der Schwangeren eine unerträgliche und wohl auch mit Art. 2 Abs. 1 GG unvereinbare Beschränkung ihrer persönlichen Lebensgestaltung zur Folge hätte35. Dieser tatsächliche und rechtliche Unterschied ist aber so gravierend, daß er — trotz Straflosigkeit fahrlässigen Verhaltens der Schwangeren — die Pönalisierung berufsfahrlässiger Abtötungen und Verletzungen der Leibesfrucht ohne Rücksicht darauf rechtfertigt, ob der Dritte in einer Garantenposition steht oder ob es daran fehlt. Denn im ersteren Falle begründet dieser tatsächliche und rechtliche Unterschied beider Fallgruppen die gebotene ungleiche Behandlung zweier Garantenfälle, nämlich der Schwangeren und beispielsweise des Geburtshelfers; und im zweiten Falle wiegt dieser Unterschied schwerer als das Argument aus der fehlenden Garantenstellung des berufsfahrlässig handelnden Dritten. Daß schließlich ein kriminalpolitisdies Bedürfnis zur Schließung dieser Gesetzeslücke besteht, sollte nicht zweifelhaft sein36. Weiter geht es um den Vorschlag, vorsätzliche zu nachgeburtlichen Schadenszuständen führende Verletzungen der Leibesfrucht zu pönalisieren. Daß gegen eine solche Regelung keine Rechtsbedenken beständen, erkennen selbst Kritiker des zuvor erwähnten Vorschlags an 37 . Zwar mag angesichts der mutmaßlichen Seltenheit soldier Fälle ein vordringliches kriminalpolitisches Regelungsbedürfnis hier nicht bestehen37. Falls man sich aber bei der Strafrechtsreform entschließt, die berufsfahrlässige Leibesfruchtverletzung mit Dauerfolgen zu pönalisieren, dann wäre es jedenfalls ungereimt, die zugehörende Vorsatztat eines Dritten straflos zu lassen. Auch dann ist es freilich eine andere Frage, ob man die gewiß seltenen Fälle einer solchen vorsätzlichen Leibesfruchtverletzung durch die Schwangere selbst — wie ich glaube — unter dem Gesichtspunkt der (hier möglichen) Gleichbehandlung gleichfalls unter Strafe stellen soll oder ob man sie wegen des geringen Regelungsbedürfnisses ebenso straflos lassen will wie die durch die Schwangere begangene fahrlässige Abtötung oder Verletzung ihrer Leibesfrucht, an deren Pönalisierung mit Recht niemand denkt. Vgl. dazu: Länger, JR 1971, S. 142, mit Nachw. Die Verfasser des Alternativ-Entwurfs eines Strafgesetzbuchs, Besond. Teil, Straftaten gegen die Person, Zweiter Halbband, 1971 (S. 55), glauben, daß für eine Strafvorschrift gegen „Embryonenschädigung" ein kriminalpolitisches Bedürfnis fehle, falls die von ihnen vorgeschlagenen Umweltsthutzvorschriften eingeführt würden. Das ist indessen — wie schon das Beispiel des Geburtshelfers und die leider sehr realen Gefahren mancher geburtseinleitender Maßnahmen zeigen — unzutreffend. Nötig wäre dann allerdings eine Abstimmung der Tatbestände. 37 Vgl. Armin Kaufmann, JZ 1971, S. 571—572. 35
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c. [371] Es bleibt jedoch noch eine andere Frage: ob es nämlich in der Entwicklung des keimenden Lebens einen Zeitpunkt gibt, bis zu dem immer nur von einer „Leibesfrucht" und (trotz Beginns der Ausstoßung) niemals von einem „Menschen" gesprochen werden kann 38 ; anders ausgedrückt: ob die Zäsur „Beginn der Geburt" auch bei (spontaner oder künstlich herbeigeführter) vorzeitiger Ausstoßung unreifer Feten als Grenzmarke zwischen Leibesfruchtcharakter und Menschqualität funktioniert oder ob es in diesem Falle eine zeitlich-biologische Grenze gibt, vor welcher die Ausstoßung die ihr ansonsten beigemessene Rechtswirkung — die Veränderung der rechtlichen Objektqualität und damit den Wechsel im Straf schütz — nicht auszulösen vermag. Die Erörterung dieses vielschichtigen medizinisch-juristischen Grenzproblems muß einer geplanten gesonderten Darstellung überlassen bleiben. Das ist bei unserem Thema „Geburtshilfe und Menschwerdung" um so eher möglich, als diese Grenzfrage bei der vorzeitigen Geburtseinleitung durch den Geburtshelfer wohl nur selten relevant wird. Denn wenn in ärztlicher Sicht eine vorzeitige Geburtseinleitung oder Schnittentbindung angezeigt ist, dann wartet der Geburtshelfer — abgesehen von den Fällen des gerechtfertigten Schwangerschaftsabbruchs aus medizinischer Indikation, die dann hier wieder ohne Bedeutung sind — für diese Maßnahme einen späten Schwangerschaftszeitpunkt ab, an dem die Frucht den für ihre Aufzucht erforderlichen Reifegrad erreicht hat, um sie am Leben erhalten zu können 39 . In diesen Fällen ist aber die Zäsur der „Menschwérdung" nicht problematisch. Und der Eingriff selbst ist hier, weil ein Abtötungsvorsatz nicht vorliegt, auch dann nicht nach §218 StGB strafbar, wenn das Kind gleichwohl stirbt 40 . Die früher unter der Gesetzesfassung von 18 7141 in der Rechtslehre so heiß umstrittene Frage, ob auch die Herbeiführung einer Frühgeburt ohne Tötungsvorsatz unter § 218
a8 Vgl. dazu: BGHSt Bd. 10, S. 291 ff. (292—293); Gerschow-Schewe, zur gerichtlichen Medizin, 1970, S. 61 ff.; Lüttger, JR 19?1, S. 136.
Beiträge
39 Vgl. dazu näher: Stoeckel-Kraatz, a . a . O . , Teil III, S. 1086 ff.; Kubli und Spielmann in Gynäkologie und Geburtshilfe, a . a . O . , S. 1062—1063; Eiert, ebendort, S. 1101—1102. 40 Vgl. RGSt Bd. 4, S. 380 ff.; BGHSt Bd. 10, S. 312 ff.; heute ganz einhellige Ansicht. — Ein „Gefährdungsvorsatz" reicht für § 218 StGB nicht aus; vgl. Schönke-Schröder, Rdz. 25 zu § 2 1 8 StGB. — Zur Frage eines Eventual-Tötungsvorsatzes bei riskanten, medizinisch nicht erforderlichen Operationen vgl. den Text zu u. mit Fn. 28. 41 § 218 Abs. 1 RStGB in der ursprünglichen Fassung vom 15. 5 . 1 8 7 t (RGBl. 1871, I, S. 127) spradi von „abtreiben oder im Mutterleibe töten".
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S t G B [ 3 7 2 ] falle 42 , ist spätestens seit der gesetzlichen Klarstellung i m J a h r e 1 9 2 6 4 3 an die R e c h t s h i s t o r i k e r abgegeben. M ö g e sie d o r t a u c h d a n n bleiben, w e n n die n u n m e h r v o r g e s c h l a g e n e 4 4 N e u f a s s u n g
des
§218
S t G B , die nicht m e h r v o m „ A b t ö t e n d e r L e i b e s f r u c h t " , s o n d e r n v o m „ A b b r u c h d e r S c h w a n g e r s c h a f t " spricht, G e s e t z w e r d e n s o l l t e 4 5 . A n d e r e n f a l l s f ü h r t d e r W e g spornstreichs z u einer „ Ä c h t u n g d e r G e b u r t s hilfe"46.
4 2 Vgl. dazu statt vieler: A. Heinitz, „Die Straftaten wider das keimende Leben", 1911, S. 60 ff., mit Nadiw. 4 3 Die Neufassung des § 2 1 8 StGB vom 1 8 . 5 . 1 9 2 6 (RGBl. 1926, I, S. 239) sprach von „töten im Mutterleib oder durch Abtreibung". Seit der Novelle vom 18. 3.1943 (RGBl. 1943, I, S. 169) spricht das Gesetz von „abtöten der Leibesfrucht". — Vgl. zum Ganzen näher: Lüttger, J R 1969, S. 449, mit weit. Nachw. 44 Vgl. § 218 in der Fassung des RegE eines 5. StrRG (BRats-Drucks. 58/72). 4 5 Die Begründung des RegE gibt sich forciert optimistisch (S. 13 der BRatsDrucks. 58/72), obgleich der Sprachgebraudi gerade nicht eindeutig ist, wie ein Blick in die medizinische Literatur zeigt. — Vgl. zur Kritik des gesetzlichen Sprachgebrauchs im übrigen: F.-C. Schroeder, ZRP 1972, S. 105 f. (106). 4 8 Das Wort stammt von Radbruch in Vergleichende Darstellung des Deutschen und Ausländischen Strafrechts, Besond. Teil, V. Band, 1905, S. 175.
Die humane artifizielle Insemination Entstehung und Untergang eines kriminalpolitischen und legislatorischen Problems** Zu den interessantesten Themen der Strafrechtsreform in der Bundesrepublik Deutschland gehörte in den letzten 25 Jahren die Frage einer Pönalisierung der künstlichen Samenübertragung beim Menschen. Das hat mehrere Gründe: Erstens lag eine besondere Attraktivität des Themas in seiner interdisziplinären Natur: Das Problem ist nicht rein juristischer Art; es hat außer zivil- und strafrechtlichen Aspekten - auch religiöse, ethische, soziologische, biologische, medizinische und psychologische Aspekte. Alle diese Aspekte haben sich in der deutschen Reformdiskussion auf eine schwer zu entwirrende Weise miteinander vermengt und zu einer kaum noch übersehbaren Fülle von Argumenten geführt. Ich werde jedoch - meinem Thema getreu - die außerjuristischen und die zivilrechtlichen Fragen nur insoweit streifen, wie dies zum Verständnis der strafrechtlichen Reformüberlegungen unentbehrlich ist. Zweitens hatte die erwähnte Verknüpfung mit religiösen und ethischen Fragen - wie so oft in Deutschland - ungute Folgen: Die Diskussion um unser Thema war in einer Weise emotional aufgeladen, daß Übertreibungen und Wortradikalismus schließlich Züge einer gewissen Hysterie annahmen1. Es dauerte Jahre, bis die Ideologisierung des Themas einer nüchternen kriminalpolitischen Analyse des Problems wich. Ich will versuchen, diese beiden Phasen der Entwicklung, deren Zäsur etwa in der Mitte der 60er Jahre lag, deutlich zu machen. [151] Drittens gehört die kriminalpolitische Problematik der künstlichen Samenübertragung zu jenen Reformthemen, deren Beurteilung in der wissenschaftlichen Diskussion innerhalb weniger Jahre von einer Befür-
* A u s : Jahrbuch 1977 der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft e . V . , S. 150-185. + Vortrag, gehalten am 22. Juni 1977 vor der Juristischten Fakultät der Universität Ankara und am 23. N o v e m b e r 1977 vor der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft. Der Vortragsstil ist beibehalten. - A u s der unübersehbar gewordenen medizinischen Literatur sind nur einzelne Fundstellen zitiert; aus dem umfangreichen juristischen Schrifttum ist nur eine Auswahl angeführt. 1 Vgl. d a z u : Hanack, D i e künstliche Insemination, in: Mergen (Hrgb)., D i e juristische Problematik in der Medizin, 1971, Bd. III, S. 168 ff (175).
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wortung der Pönalisierung radikal zu ihrer Ablehnung gewechselt hat2. So ist unser Thema auch ein Beispiel für die Wandelbarkeit kriminalpolitischer Positionen und damit eine Warnung an den Gesetzgeber, nicht vorschnell ungesicherten Thesen zu erliegen. Dieser Aspekt unseres Themas ist - so scheint mir - in unserer reformfreudigen Zeit eine allgemeingültige Lehre. A. Im 1. Kapitel meines Vortrags möchte ich - alter juristischer Tradition folgend - mit einer definitorischen Klärung von Begriff und Arten der artifiziellen Insemination beginnen, um die Terminologie meines Vortrags gegen Mißverständnisse zu sichern. Einige kurze Bemerkungen über Ursachen und Verbreitung der künstlichen Samenübertragung sollen folgen. Danach werde ich im 2. Kapitel eine gedrängte Ubersicht über die Argumente geben, mit denen in der 1. Phase der deutschen Reformüberlegungen die Forderung nach einer teilweisen Pönalisierung der artifiziellen Insemination begründet worden ist. Dann wird der Boden bereitet sein, um im 3. Kapitel meines Vortrags den damaligen Entwurf einer Strafvorschrift gegen die künstliche Samenübertragung zu erläutern. Abschließend will ich im 4. Kapitel die Gründe für das Scheitern dieses Entwurfs darstellen und zugleich aus heutiger Sicht de lege lata und de lege ferenda Stellung nehmen. I. Unter „künstlicher Samenübertragung" versteht man in der deutschen Rechtssprache3 das Heranbringen des männlichen Samens an die Fortpflanzungsorgane [152] der Frau oder das Einbringen in diese Organe auf andere Weise als ausschließlich durch Beiwohnung4. Daraus folgt rechtsbegrifflich zweierlei:
2 Vgl. dazu: Kaiser, Einfluß der Fortschritte der Biologie und der Medizin auf das Strafrecht, in: Deutsche strafrechtliche Landesreferate zum VIII. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung (Pescara 1970), Beiheft zur Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW) 1971, S. 9 ff (15). 3 Vgl. dazu und zu den folgenden Definitionen: S. 356 ff der Begründung zum Regierungsentwurf eines Strafgesetzbuches - E1962 - (Bundestags-Drucksache IV/650). - Auf abweichende Definitionen in der Literatur kann hier und im folgenden nicht eingegangen werden (vgl. dazu: Pasquay, Die künstliche Insemination, 1968, S. 55 ff). 4 Dabei darf der Begriff „Fortpflanzungsorgan" nicht mit dem Begriff „Geschlechtsorgan" verwechselt werden.
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1. Die Definition erschöpft sich in der Beschreibung des Vorgangs der Samenübertragung. Ob eine Befruchtung eintritt, ist für den Begriff unerheblich. Das hat - wie sich zeigen wird - Konsequenzen für die strafrechtliche Frage nach der „Vollendung" der artifiziellen Insemination. 2. „Künstlich" ist nur die Übertragung des Samens. Vereinigt sich dann der auf künstlichem Wege übertragene männliche Samen im Mutterleib mit einem weiblichen Ei, so ist dies - ebenso wie im Falle der Beiwohnung - eine „natürliche" Befruchtung. Es ist also falsch, von einer „künstlichen Befruchtung" zu sprechen; und ebenso falsch ist es, von „Kunstkindern" zu reden, wie es oft geschah. Von der strafrechtlichen Problematik her unterscheiden wir zwei Arten der künstlichen Samenübertragung: 1. die homologe oder matrimonielle Insemination, bei der unter Ehegatten der Samen des (noch lebenden) Ehemannes auf die Ehefrau übertragen wird; und 2. die heterologe oder extramatrimonielle Insemination, die eine Samenübertragung bei einer unverheirateten (auch: geschiedenen oder verwitweten) Frau oder bei einer Ehefrau mit Samen eines anderen als ihres Ehemannes bezeichnet. Unter die zuletzt genannte weite Definition der „heterologen" Insemination fallen auch einige Sonderformen, die in der Literatur gelegentlich gesondert aufgeführt werden5: Zunächst die sogenannte „posthume" Insemination, bei welcher der konservierte Samen eines zur Zeit der Übertragung nicht mehr lebenden Mannes - zur Insemination bei seiner Witwe oder einer anderen Frau - verwendet wird; denn es ist auch im Falle der Insemination bei der Witwe des Samenspenders keine Samenübertragung „unter Ehegatten" (seil.: einer bestehenden Ehe) mehr. Und ferner auch die Insemination mit einem Spermagemisch, das entweder [153] aus Sperma mehrerer fremder Männer besteht oder dem auch Sperma des eigenen Ehemannes beigemischt ist; denn auch im Falle der Beimischung von Samen des eigenen Ehemannes wird Samen fremder Männer übertragen, und begrifflich kommt es nur auf den Ubertragungsvorgang, nicht auf die Befruchtung an. Diese begriffliche Zweiteilung in homologe und heterologe Insemination hat auch den später zu erörternden deutschen Gesetzesvorschlägen zugrundegelegen; ich folge ihr im weiteren Verlauf meines Vortrags.
5
Vgl. dazu statt vieler: Hanack (Fn. 1), S. 168-169, 192-193.
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II. Die Voraussetzungen und die Gründe für die Vornahme von künstlichen Samenübertragungen sind vielgestaltig; dazu müssen hier Stichworte genügen6: Beide Arten der artifiziellen Insemination setzen Fruchtbarkeit der Frau voraus: Das weibliche Ei muß also befruchtungstauglich sein. Die homologe Insemination setzt ferner Fruchtbarkeit des Ehemannes voraus: Der männliche Samen muß also - zumindest eingeschränkt befruchtungsfähig sein. 1. Mithin bleiben für die homologe Insemination im wesentlichen nur zwei Fallgruppen übrig: a) die Fälle, in denen psychische oder physische Anomalien eines (oder beider) Ehegatten - trotz bestehender Fruchtbarkeit - eine „natürliche" Insemination oder eine Empfängnis ausschließen oder erschweren, wie zum Beispiel bei Beiwohnungsbehinderungen und bei gewissen (die Fruchtbarkeit einschränkenden) Spermaveränderungen; b) die Fälle einer räumlichen Trennung der Ehegatten, wenn konserviertes Sperma des Ehemannes zur Verfügung steht. Der letztgenannte Fall ist als sog. „Kriegsinsemination" insbesondere durch Samen-Versandaktionen der US-Streitkräfte im 2. Weltkrieg und [154] im Koreakrieg bekanntgeworden; er hat in Friedenszeiten keine nennenswerte Bedeutung. Der erstgenannte Fall hat weit geringere Bedeutung als dies zunächst scheint. Denn einmal scheiden hier ja - wie schon gesagt - alle Fälle aus, in denen die ungewollte Kinderlosigkeit einer Ehe auf Unfruchtbarkeit der Ehefrau oder ihres Ehemannes beruht. Und zum anderen verbietet sich - auch bei Fruchtbarkeit der Eheleute - eine homologe Insemination in ärztlicher Sicht bei bestimmten Kontraindikationen, beispielsweise wenn Erbkrankheiten oder andere schwere Erkrankungen eines Ehegatten eine Fortpflanzung unverantwortlich machen, ferner wenn die Schwangerschaft - etwa wegen einer Beckenanomalie - für die Frau lebensgefährlich wäre oder wenn die Unverträglichkeit von Bluteigen-
' Vgl. z u m folgenden näher: Pasquay (Fn.3), S. 61 ff, mit zahlr. N a c h w . ; Hanack ( F n . l ) , S. 170ff; Heiss, Die künstliche Insemination der Frau, 1972, S . 4 2 f f ; Joel, Die therapeutische Insemination in heutiger Sicht, in Zeitschrift f ü r evangelische Ethik, 1971, S.215ff (217ff, 221); Döring, Die homologe künstliche Insemination, in D e r Gynäkologe, 1971, S. 152ff (153, 157-158); Bergmann-Ulstein, Praxis der heterologen Insemination, in Der Gynäkologe, 1971, S. 159 ff (160, 161); Erhardt, Die artifizielle Insemination, in Monatsschrift f ü r Kriminologie und Strafrechtsreform (MSchrKrim.) 1976, S. 173 ff.
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Schäften eine Gefahr für das Kind bedeuten würde. Aus allen diesen Gründen scheiden nach Ansicht namhafter Fachleute rund 9 7 % aller sterilen Ehen schon von vornherein für eine homologe Insemination aus. Und in dem verbleibenden Bereich ist die in der Literatur berichtete Erfolgsquote von homologen Inseminationen sehr gering: Sie beträgt selbst bei sehr oft wiederholten Samenübertragungen - offenbar zumeist nur zwischen 10 bis 30 % der auf diese Weise therapierten Ehefrauen. Die homologe Insemination ist also keine sehr wirksame Methode. 2. Heterologe Inseminationen haben in der Regel folgende Ursachen: a) Handelt es sich um die Insemination bei einer Ehefrau, so liegt der Grund meist in Unfruchtbarkeit des Ehemannes oder in der Gefahr einer Vererbung erbkranker oder erbungünstiger Anlagen aus der Linie des Ehemannes; es sind also die Fälle, in denen eine homologe Insemination entweder ausgeschlossen ist oder auf medizinische Kontraindikationen stößt. Doch ist es denkbar, daß auch ohne solche Gründe eine heterologe Insemination gewählt wird, um besonders gute Erbanlagen eines fremden Samenspenders auszunutzen; man spricht bei dieser Form von „Zuchtwahl" meist von „eugenischer Insemination". b) Bei unverheirateten Frauen ist der Grund der Insemination etwa der Wunsch, ohne geschlechtliche Beziehung zu einem Mann ein Kind zu bekommen, oder die Überlegung, daß die gesellschaftliche Stellung der unverheirateten Mutter und des Kindes günstiger sei, wenn die Empfängnis auf künstlicher Samenübertragung statt auf außerehelicher Beiwohnung beruhe. Man spricht in diesen - seltenen Fällen meist von „emanzipatorischer" Motivation. - [155] Da es zu den unbestrittenen Grundsätzen der ärztlichen Kunst gehört, für eine heterologe Insemination nur voll tauglichen Samen von in jeder Hinsicht gesunden und geeigneten Samenspendern zu verwenden7, ist die Erfolgsquote bei der heterologen Insemination sehr hoch: Sie liegt nach medizinischen Berichten zumeist bei 60 bis 80 % der durch (gegebenenfalls mehrfache) heterologe Insemination behandelten (fruchtbaren) Frauen. Wird statt frischen Spermas jedoch konservierter Samen verwendet, wozu erprobte Verfahren schon seit Jahren die Möglichkeit bieten, so sinkt die Erfolgsquote ab: Sie erreicht - trotz häufig wiederholter Inseminierungen - nur noch maximal 50 % und liegt nach man-
7 Vgl. dazu und zu den übrigen Auswahlkriterien näher: Beuerlein, Die künstliche Samenübertragung beim Menschen im angloamerikanischen Bereich, 1963, S. 32 ff; Helling, Zu den Problemen der künstlichen Insemination unter besonderer Berücksichtigung des § 203 E 1962, 1970, S. 14 ff ; Heiss (Fn. 6), S. 140 ff.
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chen Berichten oft darunter, immer aber noch höher als bei der homologen Insemination. Die heterologe Insemination ist also die wirksamere Methode.
III. Die praktische Bedeutung der artifiziellen Insemination ist bis heute nicht zuverlässig bekannt: Es gibt nur individuelle Erfahrungsberichte, begrenzte Umfragereports und unsichere Schätzungen, was angesichts der in diesem Intimbereich zumeist geübten Diskretion nicht verwunderlich ist. Diese ungesicherten und beträchtlich divergierenden Schätzungen hier im einzelnen vorzutragen, wäre kaum sinnvoll; zur Verdeutlichung der mutmaßlichen Größenordnungen genügen einige kurze Hinweise8: Sicher ist, daß die künstliche Samenübertragung in den USA die Bedeutung einer Massenerscheinung erlangt hat. Diese Entwicklung begann im 2. Weltkrieg mit den schon erwähnten Sperma-Versandaktionen, an denen sich zwischen 10000 und 20000 US-Soldaten beteiligt haben sollen. Den meisten Schätzungen zufolge lebten in den USA schon in den 50er Jahren etwa 100000 durch künstliche Insemination gezeugte Kinder. Die jährlichen Zuwachsraten sollen seither zwischen 7000 und 15 000 gelegen haben. Die heutige Gesamtzahl soll bei maximal 400000 liegen; sie wird [156] jedoch nicht selten wesentlich niedriger eingeschätzt. In ungefähr der Hälfte der Fälle soll es sich um heterologe Insemination gehandelt haben. Die Schätzungen aus anderen Ländern - wie Großbritannien, Frankreich, Israel, Griechenland, Italien und der Schweiz - liegen weit darunter. Das gilt auch für die Bundesrepublik Deutschland, für welche die Angaben besonders unsicher sind: Früher ging man davon aus, daß bereits in den 50er Jahren in der Bundesrepublik etwa 1000 durch artifizielle Insemination gezeugte Kinder lebten; und man nahm vielfach an, daß die jährliche Zuwachsrate bis zu 1000 betrage. Diese Annahme über die jährliche Zuwachsrate ist inzwischen revidiert worden; manche Fachleute nehmen an, daß die Gesamtzahl bislang erst etwa zwischen
8 Vgl. zur Geschichte und zur Verbreitung der künstlichen Samenübertragung: Giesen, Die künstliche Insemination als ethisches und rechtliches Problem, 1962, S. 21 ff; Beuerlein (Fn. 7), S. 3 ff; Pasquay (Fn. 3), S. 90 ff und 95 ff; Helling (Fn. 7), S. 1 ff und 4 ff; Hanack (Fn. 1), S. 169 ff; Heiss (Fn.6), S. 6 ff und 35 ff. - Zu einer der seltenen Umfragen in der Bundesrepublik Deutschland vgl. Hallermann-Wille, Die Insemination in SchleswigHolstein, in Schleswig-Holst. Ärzteblatt 1968, S. 228 ff.
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2500 bis maximal 7000 liege'. Das Verhältnis zwischen homologen und heterologen Inseminationen in der Bundesrepublik ist nicht bekannt. Diese - relativ kleinen - Zahlen erklären naturgemäß allein nicht, weshalb in der Bundesrepublik Deutschland in den 50er Jahren auf breiter Front die Diskussion um eine Pönalisierung der artifiziellen Insemination einsetzte. Entscheidend dafür war vielmehr die damals weitverbreitete Vorstellung, daß die artifizielle Insemination - mit einer Zeitverschiebung, wie so oft - von den USA als Massenerscheinung auf Deutschland übergreifen werde und daß man dagegen einen „Damm" errichten müsse10. B.
Wenden wir uns nun den Argumenten zu, mit denen vor etwa 15-20 Jahren die Anhänger dieser „Bollwerkstheorie" in der Bundesrepublik Deutschland eine Teil-Pönalisierung der künstlichen Samenübertragung gefordert haben. Diese Forderung ist insbesondere von der durch den Bundesjustizminister eingesetzten Großen Strafrechtskommission erhoben worden, die auch den später von der Bundesregierung (mit geringen Änderungen) übernommenen Gesetzesvorschlag ausgearbeitet hat. Infolgedessen [157] geht es hier um die Argumentation, wie sie sich - unter Berücksichtigung vieler literarischer Äußerungen und nach Anhörung zahlreicher ärztlicher Vereinigungen" - am Ende der Beratungen der Großen Strafrechtskommission12 dargestellt und auch in der Amtlichen Begründung des Regierungsentwurfs eines Strafgesetzbuchs von 196213 niedergeschlagen hat. Denn nur bei diesem historisch getreuen Vorgehen erschließt sich das Verständnis für den später (im 3. Kapitel) zu erörternden damaligen Gesetzesentwurf. Die Große Strafrechtskommission hat - in Ubereinstimmung mit den meisten Stimmen in der Wissenschaft - die homologe und die heterologe
' Vgl. zu den (im einzelnen divergierenden) neueren Schätzungen für die Bundesrepublik: Kaiser, Künstliche Insemination und Transplantation, in: Göppinger (Hrgb.), Arzt und Recht, 1966, S. 58 ff (66); Hanack (Fn.l), S. 169-170; Hallermann-Wille (Fn.8) in Schlesw.-Holst. Ärzteblatt 1968, 231; Lenckner, Künstliche Insemination, in: Evangelisches Staatslexikon, 2. Aufl. 1975, Sp. 1008; Ehrhardt (Fn. 6) in MSchrKrim. 1976, S. 175. 10 Vgl. dazu Kaiser (Fn. 9), S. 71. 11 Vgl. den Sammelband „Gutachten und Stellungnahmen zu Fragen der Strafrechtsreform mit ärztlichem Einschlag", herausgegeben vom Bundesministerium der Justiz, Bonn 1958. - Auszugsweise Wiedergabe bei: Schwalm, Strafrechtliche Probleme der künstlichen Samenübertragung beim Menschen, in Goltdammer's Archiv für Strafrecht (GA) 1959, S. Iff. 12 Vgl. Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 1959, Bd. 7, S. 202 ff und 360 ff; Bd. 10, S. 316 ff, 335 ff und 482 ff. 13 Vgl. S. 356 ff der BT-Drucks. IV/650.
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Insemination ganz unterschiedlich bewertet. Daher ist es notwendig, beide Arten der künstlichen Samenübertragung im folgenden getrennt zu behandeln.
I. Bei der homologen Insemination lagen die Probleme noch verhältnismäßig einfach: 1. Zwar gab es damals Stimmen von Gewicht, die sich aus unterschiedlichen Gründen generell gegen die homologe Insemination aussprachen. So hatte die katholische Kirche durch Edikte mehrerer Päpste aus moraltheologischen Erwägungen jede Form der Insemination - also auch die homologe - strikt verworfen14. Auch in der evangelischen Sozialethik fanden sich vereinzelte ablehnende Stellungnahmen15. Und eine Minderheit von Juristen und Ärzten lehnte damals die homologe Insemination generell ab, weil sie darin einen Verstoß gegen die Würde des Menschen erblickte und den Eingriff daher als verfassungswidrig (Art. 1 Abs. 1 GG) und als standeswidrig ansah16. Alle diese Meinungen liefen also darauf [158] hinaus, daß ungewollte Kinderlosigkeit einer Ehe als Schicksal ertragen werden müsse und daß nur die Adoption fremder Kinder als Ausweg verbleibe. Die große Mehrheit der Stimmen war jedoch schon damals gegenteiliger Ansicht. So hielten die meisten Vertreter der evangelischen Sozialethik die homologe Insemination nicht für verpönt17. Der 62. Deutsche Ärztetag 1959 in Lübeck entschied, daß die homologe Insemination unter bestimmten, noch zu erwähnenden Voraussetzungen - „in Sonderfällen" keinen standesethischen Bedenken unterliege18. Auch keine der von der Großen Strafrechtskommission gutachtlich gehörten Ärztevereinigungen sprach sich für ein generelles Verbot aus". Und die Mehrzahl der Juristen wertete die homologe Insemination auch nicht als
14 Ausnahme: adjuvatio naturae. - Vgl. die Quellen bei: Giesen (Fn. 8), S. 79 ff; Pasquay (Fn.3), S. 119 ff; Heiss (Fn.6), S. 224 ff. 15 Vgl. dazu: Giesen (Fn.8), S.64ff; Pasquay (Fn.3), S. 125ff; Heiss (Fn.6), S.245ff. " Vgl. z.B.: Geiger, Rechtsfragen der Insemination, in Ärztliche Mitteilungen, 1954, S.756ff; und in: Guttmacher u.a. (Hrgb.), Die künstliche Befruchtung beim Menschen, 1960, S. 37 ff. 17 Vgl. die Nachw. in Fn. 15. 1! Der Beschluß ist zitiert bei: Giesen (Fn. 8), S.41-42, und Hanack (Fn. 1), S. 177. Vgl. dazu auch Fromm, Artifizielle Insemination, in: Guttmacher u.a. (Hrgb.), Die künstliche Befruchtung beim Menschen, 1960, S. 25 ff. " Vgl. die Nachw. in Fn. 11.
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Verletzung der Menschenwürde20 - was immer unter diesem schwer zu fassenden und bis heute nicht griffig definierten Begriff zu verstehen ist21; ein namhafter deutscher Verfassungsrechtslehrer hat dies damals auf die seither viel zitierte Formel gebracht, es handele sich bei der homologen Insemination um einen Grenzbereich, in dem es keine Diskussion, sondern nur Diskretion geben könne22. Bei diesem Meinungsstand hat auch die Große Strafrechtskommission eine generelle Pönalisierung der homologen Insemination abgelehnt; sie tat dies mit guten Gründen23: Das durch homologe Insemination gezeugte Kind ist nach deutschem Zivilrecht ein eheliches Kind beider Ehegatten. Seine persönliche und rechtliche Stellung in der Familie ist nicht gefährdet. Komplikationen soziologischer, biologischer, juristischer oder sonstiger Art treten in der Ehe nicht auf. Damit entfiel jeder Anlaß, der ein generelles strafrechtliches Verbot der homologen Insemination hätte rechtfertigen können. [159] Bei dieser Grundsatzentscheidung der Großen Strafrechtskommission blieben also zwei der zuvor erörterten Argumente ohne Einfluß: die religiöse Mißbilligung der homologen Insemination durch die katholische Kirche und die Frage, ob die homologe Insemination die Würde des Menschen verletze; das hatte sehr einfache Gründe: Das in der Bundesrepublik Deutschland geltende verfassungsrechtliche Gebot weltanschaulicher Neutralität des Staates24 verbot es, das staatliche Strafrecht einseitig an den religiösen Geboten einer Kirche auszurichten. Und ob in der homologen Insemination eine Verletzung der verfassungsrechtlich geschützten Würde des Menschen lag, konnte dahinstehen; denn jedenfalls folgte daraus allein - also ohne Hinzutritt triftiger kriminalpolitischer Gründe - noch kein Pönalisierungsgebot25. Solche zusätzliche Gründe für ein generelles strafrechtliches Verbot der homologen Insemination aber gab es nicht.
20 Vgl. z.B. Düng in: Maunz-Dürig-Herzog-Scholz, Grundgesetz, Kommentar (1958), Rand-Nr. 39 (a. E.) zu Art. 1 Abs. 1 GG. 21 Vgl. dazu etwa: Badura, Generalprävention und Würde des Menschen, in Juristenzeitung (JZ) 1964, S.337ff. - Übersicht bei Herdemerten in: von Münch (Hrgb.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, 1974, Rdn. 4ff zu Art. 1 GG. - Vgl. hier besonders: Pasquay (Fn.3), S.23Iff. 22 So Dürig wie Fn. 20. 25 Vgl. S. 356 f der BT-Drucks. IV/650. 24 Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) Bd. 18, S. 385 ff (386); Bd. 19, S. 206 ff (216); Bd. 24, S. 236ff (246); Bd. 32, S. 98 ff (106). 25 Vgl. dazu allgemein: Müller-Dietz, Zur Problematik verfassungsrechtlicher Pönalisierungsgebote, in: Festschrift für Eduard Dreher, 1977, S. 97ff, mit zahlr. Nachw.; Badura wie Fn. 21.
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2. Diese damalige Beurteilung der homologen Insemination galt jedoch nur mit gewissen Ausnahmen: Die meisten gutachtlich gehörten Stellen akzeptieren nur die mit Einwilligung beider Ehegatten durch einen Arzt vorgenommene homologe Insemination; sie lehnten die homologe Insemination jedoch ab, wenn es an der Einwilligung auch nur eines Ehegatten fehle oder wenn die Insemination durch einen Nicht-Arzt vorgenommen werde26. Das hatte folgende Gründe27: Man betonte, daß die homologe Insemination beim Fehlen der Einwilligung einen anderen Charakter und einen selbständigen Unrechtsgehalt erhalte. Wenn nämlich die Einwilligung der Frau fehle, so handele es sich um einen schweren Eingriff in ihr Selbstbestimmungsrecht und im Falle einer Befruchtung - auch in ihren körperlichen Zustand. Fehle die Einwilligung des Mannes, so liege ein schwerer Eingriff in seine höchstpersönlichen Rechte vor, der im Falle einer späteren Geburt eines Kindes auch zu einer aufgezwungenen Pflichtenstellung führe. Solche Fälle [160] fehlender Einwilligung der Frau oder des Mannes mochten selten sein28, für undenkbar hielt man sie nicht; so wenn die homologe Insemination an der Frau mit Gewalt, unter Drohungen, während einer Narkose oder unter Täuschung über die Art des Eingriffs erfolge; oder wenn der Mann durch heimliche Verwendung seines zu Untersuchungszwecken gewonnenen Samens getäuscht werde. Man nahm damals vielfach an, daß manche Fälle der nicht einverständlichen homologen Insemination durch bestehende Strafvorschriften - wie etwa Nötigung, Freiheitsberaubung, Körperverletzung und Beleidigung - teils gar nicht und teils nur unzureichend erfaßbar seien2'. Ob und inwieweit diese Annahme zutraf, wird uns später noch beschäftigen; die - zumindest vorliegende - Rechtsähnlichkeit unserer Fälle mit jenen Straftatbeständen zeigte jedenfalls den hier vorhandenen Unrechtsgehalt an. Das Erfordernis der Einschaltung eines Arztes wurde allseits damit begründet, daß die ärztlichen Anforderungen an diesen Eingriff gewährleistet werden müßten. Dies führte, da die Samenübertragung technisch 26 Vgl. die Beschlüsse der Eherechtskommission der Evangelischen Kirche Deutschlands, abgedruckt bei: Ranke-Dombois (Hrgb.), Probleme der künstlichen Insemination, 1960, S. 53 ff; ferner die Gutachten der ärztlichen Vereinigungen, wie Fn. 11. 27 Vgl. zum folgenden die Nachw. in Fn. 12 und 13. 28 Schon 1908 mußte sich das Reichsgericht mit einem Fall von homologer SelbstInsemination ohne Einwilligung des Ehemannes befassen; vgl. RG in Juristische Wochenschrift (JW) 1908, S. 485 f. 29 Vgl. dazu z.B.: Niederschriften (Fn.12), Bd.7, S.205 (Bockelmann) und S.211 (Schafloeutle); ferner: Dünnebier, Die strafrechtlichen Probleme der künstlichen Insemination, in MSchrKrim. 1960, S. 129 ff (130); Dünnebier, Probleme der artifiziellen Insemination aus der Sicht des Juristen, in Ranke-Dombois (Fn. 26), S. 40 ff (45).
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durchaus von einem angelernten Laien ausgeführt werden kann, zu einer allgemeinen Ablehnung einer homologen Insemination durch Nichtärzte. Die Große Strafrechtskommission ist dieser Linie im wesentlichen gefolgt30. Zwar hatten nicht alle in diesen Fällen ablehnend votierenden Stellen den Einsatz des Strafrechts gefordert; die Große Strafrechtskommission entschied sich jedoch für ein strafrechtliches Verbot der nicht einverständlichen homologen Insemination und der homologen Insemination durch Nichtärzte. Von letzterem ist indessen dann eine Ausnahme für den Fall einer einverständlichen homologen Selbst-Insemination der Frau gemacht worden. Darauf werde ich noch eingehen.
II. Ganz anders stand es mit der heterologen Insemination; sie wurde von nahezu allen beteiligten Stellen strikt abgelehnt. Ich will im folgenden [161] eine Ubersicht über die wichtigsten Argumente geben, mit denen diese Ablehnung damals begründet worden ist31. 1. Im Vordergrund der Diskussion standen soziologische und psychologische Erwägungen. Sie gingen von der Tatsache aus, daß mit der Geburt eines durch heterologe Insemination gezeugten Kindes der fremde Samenspender in der Ehe auch äußerlich - eben im Kinde - in Erscheinung tritt, dem er überdies unverlierbar seine Erbmerkmale überträgt. Davon befürchtete man schwerwiegende Folgen für Ehe und Kind. a) Man argumentierte: Nicht selten trete eine gefühlsmäßige Bindung der Ehefrau an den Spender ein. Der Ehemann entwickele oftmals trotz vorangegangener Einwilligung eine Abneigung gegen das Kind, die er auf die Ehefrau übertrage, vor allem dann, wenn das Kind eine unwillkommene Entwicklung nehme. Alles dies sei bereits an Ehezerrüttungen beobachtet worden. Beides könne auch durch gewissenhafte ärztliche Prüfung der Psyche der Eheleute vor der Vornahme einer heterologen Insemination nicht sicher verhindert werden. - Besonders prekär aber sei die Lage des Kindes: Seine Stellung in der Familie beruhe auf einer „Dauerlüge" der Ehegatten und könne jederzeit erschüttert werden; sei es, daß dem Kinde seine Abstammung vorgeworfen werde; sei es, daß sie in Prozessen oder
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Vgl. dazu die Nachw. in Fn. 12 und 13. Vgl. zum folgenden insbesondere: BT-Drucks. IV/650, S. 356 ff; Schwalm wie Fn. 11; Dünnebier wie Fn.29; auch: Dolle, Die künstliche Samenübertragung, in Festschrift für Ernst Rabel, 1954, Bd. I, S. 187ff. 31
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durch Erzählungen Dritter offenbart werde. Dies werde oft zu schweren psychischen Schäden des Kindes führen. b) Das alles hat damals zu einer kontroversen Diskussion darüber geführt, ob der Samengeber bei der heterologen Insemination anonym bleiben sollte oder nicht. In diesem Zusammenhang wurde ferner erwogen, ob durch Verwendung eines Spermagemisches oder durch Rückgriff auf sogenannte „Spermabanken" jede weitere Nachforschung aussichtslos gemacht werden solle. Für die Anonymität ist insbesondere angeführt worden: Die seelischen Belastungen von Frau und Ehemann seien dann oft geringer, die Ehe mithin nicht so sehr gefährdet. Auch könne ein Samenspender, der selbst den Wunsch nach Verbindung mit dem aus seinem Sperma gezeugten Kind habe, nicht in die Ehe „einbrechen". [162] Gegen die Anonymität ist angeführt worden: Von einer völligen Ausschaltung der seelischen Belastung von Frau und Ehemann könne keine Rede sein. Die psychische Gefährdung des Kindes aber sei womöglich noch größer, wenn es erfahre, daß es von einem „Anonymus" abstamme. Hier drohe überdies die Gefahr, daß das Kind von einem „phylogenetischen Heimweh" befallen werde, das heißt: sein Leben lang danach trachten werde zu wissen, wer sein Vater sei. c) Der - seltene - Fall einer heterologen Insemination bei einer unverheirateten Frau wurde im Ergebnis nicht anders beurteilt: Zwar sei dort die Gefahr seelischer Konflikte der Frau geringer; die Lage des Kindes sei aber nicht besser. Bei Anonymität des Spenders stehe es sogar hinter einem durch außerehelichen Geschlechtsverkehr gezeugten Kinde zurück, das wenigstens noch einen „natürlichen" Vater habe. 2. Für die damalige Ablehnung der heterologen Insemination und besonders der Anonymität des Samenspenders waren jedoch auch biologische Gründe bedeutsam: Man befürchtete zunächst eine Verletzung der Inzestschranke durch blutschänderische Samenübertragungen. Den Anlaß zu dieser Sorge gaben damals Berichte ausländischer Ärzte über die Befruchtungserfolge, die sie durch Verwendung von Samen des Vaters des Ehemannes erzielt hatten. Vor allem aber bestand die Sorge, daß die Inzestgefahr bei Anonymität des Spenders ganz allgemein nicht mehr vermieden werden könne. Aber noch unter einem anderen Gesichtspunkt befürchtete man eine Verwirrung der Familienverhältnisse. Ausländische Ärzte berichteten damals, daß einzelne Samenspender in hunderten Fällen ihr Sperma zur Verfügung gestellt hätten. Wiederholungen solcher Vorkommnisse lagen nahe, wenn sich etwa in ländlichen Gegenden oder in Kleinstädten nur
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ganz vereinzelte Samenspender zur Verfügung stellten. Dann aber mußten unerkannte - und bei Anonymität des Spenders unerkennbare „Verwandtschaften" entstehen, die im weiteren Verlauf des Lebens die Gefahr von „Reiheninzesten" heraufbeschwören würden. Doch nicht genug damit: In jenen Jahren berichtete ein französischer Forscher über mehrere erfolgreiche Inseminationen mit dem konservierten Sperma eines schon vor Jahren verstorbenen Mannes. Damit war die Zeugung durch „tote Väter" Wirklichkeit geworden; eine Verschiebung der Generationen schien zu drohen. [163] Hinzu kam die Sorge vor einem Mißbrauch der heterologen Insemination zu einer „gelenkten Zuchtwahl". Schon der Umstand, daß sich nach ärztlichen Berichten das natürliche Geschlechtsverhältnis, das zwischen männlichen und weiblichen Geburten besteht, bei bestimmten Techniken der künstlichen Samenübertragung deutlich zugunsten männlicher Geburten veränderte32, erschien vielen als Eingriff in die Natur. Und als gar in den USA Überlegungen über eine „planmäßige Elitezüchtung" mittels eugenischer Auswahl der Samenspender publiziert wurden, schien ein „Termitenstaat" mit gelenkter Zeugung bevorzustehen. Dazu gesellte sich - wie hier angefügt sei - die Sorge vor einem Mißbrauch ganz anderer Art: Ausländische Arzte berichteten damals, daß sie den Samen der Ehemänner heimlich mit Sperma fremder Spender vertauschten, um die besseren Erfolgschancen der heterologen Insemination auszunutzen, ohne die Eheleute zu beunruhigen. Nun trat auch noch das Gespenst einer hinterhältigen Täuschung der um eine homologe Insemination bemühten Eheleute auf den Plan. 3. Nach alledem kann es nicht mehr verwundern, daß damals auch das moralische und standesethische Unwerturteil über die heterologe Insemination hart und kompromißlos war; es äußerte sich mit dem Pathos der Entrüstung. Die Heftigkeit mit der dies geschah, ist heute nur noch verständlich, wenn man die Empfindlichkeit bedenkt, mit der die öffentliche Meinung in Deutschland in den 50er Jahren auf alle Erscheinungen reagierte, die Assoziationen an die „Menschenzucht-Ideen" des Nationalsozialismus weckten33. Das schärfste Verdikt traf den Samenspender: Man sprach von „artifizieller Prostitution", von „Prostitution des Onanismus" und - mit dem Blick auf die vielfach gezahlten Honorare - von einem „Laichgewerbe". Die heterologe Insemination erschien als „gynäkologischer Ehe-
32 Vgl. dazu näher: Giesen (Fn.8), S.31f; Beuerlein (Fn.7), S. 18-19; Helling (Fn.7), S. 24 ff, mit näheren Ausführungen über die Ursachen dieses Phänomens bei bestimmten Inseminationsmethoden. 53 Vgl. dazu: Hanack (Fn. 1), S. 178 f.
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bruch", das Verhältnis der Beteiligten als „Ehe zu Dritt". Man beklagte, daß hier der Fortpflanzungsvorgang zu einem „Akt technischer Beliebigkeit" denaturiere. Man sprach auch davon, daß der Ehemann zu einer bloßen „Nummer" degradiert werde. Vor allem aber sah man in der heterologen Insemination eine unerträgliche Erniedrigung der Frau und der Mutterschaft sowie eine Gefahr für Ehe und Familie. [164] Den Ärzten riet man, sich mit solchen „Perversitäten" und „schmutzigen Handlungen" nicht zu „besudeln"; heterologe Inseminationen seien sittenwidrig und damit standeswidrig. Und vielfach baute man auf die „sittenbildende Kraft" des Straf rechts. 4. Weit weniger leidenschaftlich nehmen sich dagegen die juristischen und kriminalpolitischen Erwägungen aus, die damals angestellt wurden. Dabei lasse ich die zahlreichen zivil- und personenstandsrechtlichen Fragen beiseite, die sich bei der heterologen Insemination stellten und stellen34. Denn diese zivilrechtlichen Probleme sind mit Recht nicht als Grund für ein strafrechtliches Verbot der heterologen Insemination ins Feld geführt worden: Das Strafrecht ist zur Lösung solcher Fragen nicht berufen und löst sie auch nicht35. Im Vordergrund der öffentlichen Diskussion standen vielmehr die damals für ein Verbot der heterologen Insemination vorgebrachten strafrechtlichen und kriminalpolitischen Argumente36. So verglich man die heterologe Insemination bei einer Ehefrau mit einem - damals noch strafbaren37 - Ehebruch (§172 a. F. StGB): Zwar erfülle die heterologe Insemination mangels eines „Beischlafs" den Straftatbestand des Ehebruchs nicht38, doch gleiche sie ihm im Unrechtsgehalt. Daran ändere
34 Erörtert wurden insbesondere: die Frage nach der Ehelichkeit des Kindes und deren Anfechtbarkeit; nach der Art der Eintragung im standesamtlichen Geburtenbuch; nach Unterhaltsanspruch und Erbrecht des Kindes gegenüber dem Samenspender; nach den Folgen für das Ehescheidungsrecht; nach der Nichtigkeit des Spendervertrags und des Arztvertrags; und schließlich nach Schadensersatzansprüchen gegen Spender und Arzt. Vgl. dazu statt vieler: Giesen (Fn. 8), S. 179 ff; Pasquay (Fn. 3), S. 168 ff. 35 Allenfalls könnte ein strafrechtliches Verbot der heterologen Insemination Auswirkungen für eine Vertragsnichtigkeit nach § 134 BGB und für eine Schadensersatzpflicht nach § 823 Abs. 2 BGB haben. Doch wäre auch dies wegen des geschützten Rechtsguts und der Zielrichtung eines solchen Verbots (vgl. dazu den folg. Abschnitt C) nicht sicher (vgl. allgemein: Palandt, Kommentar zum BGB, 37. Aufl. 1978, Anm. 2 zu §134 BGB und Anm.9 zu §823 BGB). 36 Vgl. die Nachw. in Fn. 31. 37 §172 a. F. StGB ist durch Art. 1 Nr. 50 des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 25. Juni 1969 (BGBl. 1969, I, S. 645 ff) aufgehoben worden. 38 Zum Begriff des Ehebruchs als „Beischlaf" vgl. statt vieler: Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen (RGSt.) Bd. 70, S. 173 ff (174), mit w. Nachw. - Zur folglich fehlenden Tatbestandsmäßigkeit der heterologen Insemination vgl. Maurach, Deutsches
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auch eine Einwilligung der Beteiligten nichts, da diese - ebenso wie beim Delikt [165] des Ehebruchs39 - keine Befugnis zur Disposition über das geschützte Rechtsgut des öffentlichen Interesses an der Reinerhaltung der Ehe hätten. - Den Unrechtsgehalt einer blutschänderischen Insemination folgerte man aus deren Ähnlichkeit mit dem (ebenfalls einen Beischlaf voraussetzenden) Delikt der Blutschande (§173 StGB). Und eine ohne Einwilligung der Frau oder gar mit Gewalt oder Drohung erfolgende heterologe Insemination verglich man im Unrechtsgehalt mit einer Notzucht (Vergewaltigung) und mit einer Schändung40. Hinzu kamen verfassungsrechtliche und daraus abgeleitete strafrechtspolitische Gesichtspunkte; in ihnen schlugen sich vielfach die soeben geschilderten moralischen und standesethischen Wertungen nieder41. Man erblickte in jenen frühen Jahren nahezu einhellig in jeder heterologen Insemination eine Verletzung der grundgesetzlich geschützten Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Das gelte insbesondere bei Anonymität des Samenspenders; denn hier werde der Ehemann zur „vertretbaren Größe" degradiert; bei der Frau werde vorausgesetzt, daß sie ihren Ehemann als „austauschbar" hinnehme und technischen Vorgängen die Wahl überlasse, von wem ihr Kind abstamme; vor allem aber werde das Menschenrecht des Kindes, seine blutsmäßige Abstammung zu erfahren, planmäßig vereitelt. - Jedoch auch dann, wenn der Samenspender den Eheleuten bekannt sei, ändere sich am Verfassungsunrecht nichts, denn in jedem Falle komme auch noch ein Verstoß gegen den Grundgedanken des verfassungsrechtlichen Eheschutzes (Art. 6 Abs. 1 GG) hinzu, da nach der vom Grundgesetz vorgefundenen abendländischen Auffassung im Begriff der „Ehe" die eheliche Vaterschaft mitgedacht sei. - Ganz konsequent wurde daher vielfach auch die heterologe Insemination bei einer unverheirateten Frau als verfassungswidrig mißbilligt, weil von ihr der verfassungsrechtlich geschützten Institution der Ehe noch eine zusätzliche Gefahr der Untergrabung drohe, die der Staat nicht hinnehmen dürfe. - Dabei war es allgemeine Ansicht, daß an alledem auch eine Einwilligung der Beteiligten nichts ändere, weil es hier auch um den Schutz transpersonaler Rechtsgüter gehe, in deren Verletzung niemand Strafrecht, Besond. Teil, Lehrbuch, 5. Aufl. 1969, S.413; Schönke-Schröder, Kommentar zum StGB, 14. Aufl. 1969, Rdn. 2 zu § 172 StGB; eingehend: Giesen (Fn. 8), S.217ff. 39 Vgl. dazu: Maurach (Fn.38), S.414; Schönke-Schröder (Fn.38) Rdn. 4 zu § 172 StGB: Die Einwilligung des Ehegatten beseitigte nicht die Rechtswidrigkeit, sondern führte nur zum Verlust des Scheidungsrechts und damit mangels Scheidung der Ehe zur Unanwendbarkeit des §172 a.F. StGB. 40 Vgl. dazu damals §§204, 207 des StGB-E 1962 (BT-Drucks. IV/650); heute etwa §§177, 179 Abs. 2 StGB. 41 Vgl. zum folgenden näher: Diirig (Fn. 20), Rdn. 39 zu Art. 1 Abs. 1 GG; Geiger wie Fn. 16; Giesen (Fn.8), S. 169ff; BT-Drucks. IV/650, S.357.
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mit rechtfertigender [166] Wirkung einwilligen könne. - Die Schlußfolgerung ging daher vielfach dahin, daß der Staat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zu einem - notfalls strafrechtlichen - Verbot jeder heterologen Insemination habe42. 5. Was die zuletzt erwähnte Frage nach dem Einsatz des Strafrechts anlangt, waren die Meinungen indessen - wie auch bei den Mißbräuchen der homologen Insemination - nicht einheitlich. Denn wenn auch die beteiligten Stellen die heterologe Insemination einhellig ablehnten, so befürworteten doch nur einige von ihnen - darunter einzelne Ärztevereinigungen - ein Verbot mit den Mitteln des Strafrechts Die Große Strafrechtskommission schlug jedoch aus der Summe der erörterten Argumente heraus einstimmig ein generelles strafrechtliches Verbot der heterologen Insemination vor. Dabei spielte auch die Überlegung eine Rolle, daß standesrechtliche Maßnahmen gegen Arzte nicht genügen, weil es nötig sei, auch gegen Täter einzuschreiten, die keine Arzte seien. C. Wir wollen uns nunmehr der damals vorgeschlagenen Strafvorschrift selbst zuwenden. Dabei lasse ich die mehreren divergierenden Gesetzesentwürfe44 beiseite und befasse mich nur mit der Schlußfassung, welche die Bundesregierung schließlich dem Deutschen Bundestag vorgelegt hat. Die Bundesregierung hat damals den Erlaß eines besonderen Inseminationsgesetzes, wie sie (mit unterschiedlichem Inhalt) in einigen Staaten erwogen wurden45, abgelehnt; sie hat die von ihr vorgeschlagene Strafnorm gegen die künstliche Samenübertragung vielmehr in den Regierungsentwurf eines Strafgesetzbuchs von 1962 - E1962 - aufgenommen46. [167] Dort hat sie die Vorschrift in den Titel „Straftaten gegen Ehe, Familie und Personenstand" eingestellt; sie hat damit zum Aus-
42 Vgl. dazu insbesondere: Düng wie Fn. 41. - Zur heutigen Kritik an verfassungsrechtlichen Pönalisierungspflichten vgl. allgemein: Müller-Dietz wie Fn. 25. 43 Vgl. dazu die nähere Darstellung in BT-Drucks. IV/650, S. 357, und bei Schwalm wie Fn. 11. 44 Vgl. dazu die Niederschriften wie Fn. 12; ferner §203 des (überholten) Entwurfs eines StGB-E 1960; dazu Giesen (Fn.8), S. 236ff. 45 Vgl. dazu: Dölle (Fn.31), S. 247ff; Simson, Die Insemination, in JZ 1953, S. 480ff; Luther, Zur künstlichen Insemination, in Zeitschrift für das gesamte Familienrecht (FamRZ) 1960, S.429ff und 1961, S. 160f. - Neuerdings: Haß, Zur Strafbarkeit der künstlichen Insemination im ausländischen Recht, in Schleswig-Holsteinische Anzeigen 1976, S. 137ff. 46 BT-Drucks. IV/650.
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druck gebracht, daß es in erster Linie um den Schutz transpersonaler Rechtsgüter gehe und daß die Auswirkungen der Tat auf Rechtsgüter des einzelnen nur von sekundärer Bedeutung für das Wesen des Delikts seien47. Der Gesetzesvorschlag lautete: 4203
(1) Wer eine künstliche Samenübertragung bei einer Frau vornimmt, wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft. (2) Eine Frau, die eine künstliche Samenübertragung bei sich vornimmt oder zuläßt, wird mit Gefängnis bis zu einem Jahr oder mit Strafhaft bestraft. (3) Die Absätze 1 und 2 sind nicht anzuwenden, wenn ein Arzt Samen des Ehemannes bei dessen Ehefrau mit Einwilligung beider Ehegatten oder eine Frau bei sich Samen ihres Ehemannes mit dessen Einwilligung überträgt. (4) Wird die Tat des Absatzes 1 ohne Einwilligung der Frau begangen, so ist die Strafe Gefängnis nicht unter sechs Monaten." Der verwickelte Aufbau dieser Vorschrift läßt es mir ratsam erscheinen, die Gesetzestechnik zu verdeutlichen und die Reichweite des erwogenen Straftatbestands leitsatzartig herauszustellen 48 : Absatz 1 und Absatz 2 verboten zunächst (grundsätzlich) jede Insemination, und zwar richtete sich das Verbot des Absatzes 2 an die Frau und das Verbot des Absatz 1 an alle anderen Personen. Absatz 3 enthielt aber - negativ als Ausnahmen formuliert - einen zweifachen Tatbestandsausschluß, nämlich: 1. für die mit Einwilligung beider Ehegatten durch einen Arzt vorgenommene homologe Insemination und [168] 2. für die von einer Ehefrau mit Einwilligung ihres Ehemannes bei sich selbst vorgenommene homologe Insemination. Diese beiden Fälle - die konsentierte homologe Insemination durch einen Arzt und die konsentierte homologe Selbstinsemination - fielen also nicht unter den Straftatbestand. Der Tatbestand erfaßte mithin nur noch folgende Fälle, bei deren Aufzählung iclvmich nicht am Gesetzesaufbau, sondern an Sachgruppen orientiere:
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Vgl. dazu: Blei, Der Strafrechtsschutz von Familienordnung und Familienpflichten, in FamRZ 1961, S. 137 ff. - Dies war in den Beratungen der Großen Strafrechtskommission zunächst umstritten; vgl. dazu die Niederschriften (Fn. 12) Bd. 7, S. 205 f, und Bd. 10, S. 327. - Zum Verhältnis von primärem und sekundärem Rechtsgut einer Strafnorm vgl. Lüttger, Der Beginn des Lebens und das Strafrecht, in Juristische Rundschau (JR) 1969, S. 445 ff (447) = in Beiträge zur gerichtlichen Medizin, Bd. XXVII (1970), S. 23 ff (27). 48 Vgl. zum folgenden: BT-Drucks. IV/650, S.358.
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1. die heterologe Insemination schlechthin; gleichgültig, ob sie mit Einwilligung der Beteiligten und ob sie durch einen Arzt oder einen Nichtarzt - einschließlich der Selbst-Insemination - erfolgte; 2. die homologe Insemination nur in folgenden Fällen: a) wenn sie durch einen Nichtarzt erfolgte; (Ausnahme: die erwähnte konsentierte homologe Selbst-Insemination); b) wenn sie zwar durch einen Arzt, aber ohne Einwilligung beider Ehegatten erfolgte; c) wenn sie als Selbst-Insemination ohne Einwilligung des Ehemannes erfolgte. Strafbar sollte in diesen Fällen jedoch nur die vorsätzliche Begehung sein4'. Mithin wäre beispielsweise ein in gutem Glauben handelnder Arzt straflos geblieben, dem die Eheleute unter Vorspiegelung einer homologen Insemination fremdes Sperma untergeschoben hätten; ebenso ein Arzt, der bei der Vornahme einer homologen Insemination infolge eines Mißverständnisses irrig ein Einverständnis der Ehegatten angenommen hätte; und schließlich auch ein Arzt, der die bei ihm zur Vornahme einer Insemination erscheinenden Personen irrtümlich für verheiratet gehalten hätte50. In solchen Fällen hätte das Handeln des Arztes51 nur durch einen [169] zusätzlichen Fahrlässigkeitstatbestand erfaßt werden können; eine Pönalisierung der fahrlässigen Begehung wurde indessen von der Bundesregierung abgelehnt, weil man darauf vertraute, daß die Arzte sich durch die Art und Weise der Vornahme von homologen Inseminationen selbst gegen Täuschungen und sonstige Irrtümer schützen würden, so daß derartige Fälle eine Seltenheit bleiben würden52.
49
Im deutschen Strafrecht ist Fahrlässigkeit nur strafbar, wenn sich dies aus dem Gesetz ergibt (vgl. zum damaligen Recht: Schönke-Schröder, Fn. 38, Rdn. 149 zu § 59 a. F. StGB; heute: § 15 n. F. StGB); dies war bei §203 des StGB-E 1962 nicht der Fall. 50 Aus dem Verhältnis von Abs. 3 zu den Abs. 1 und 2 des §203 E 1962 ergab sich, daß die Herkunft des Spermas (Fremdheit), das Fehlen der Einwilligung, die Identität und der Personenstand in den einzelnen Fallgruppen jeweils stillschweigende Tatbestandsmerkmale waren (vgl. dazu die Beiträge von Jescheck, Welzel, Gallas und Schwalm in Niederschriften, Fn. 12, Bd. 10, S.326, 327, 328, 335; ferner BT-Drucks. IV/650, S.358). Der Irrtum über ein Tatbestandsmerkmal schließt aber den Vorsatz aus (vgl. §59 a. F. StGB; §16 Abs. 1 Satz 1 n.F. StGB). 51 Die Beteiligten, die sich (etwa mittels einer Täuschung) des unvorsätzlich handelnden Arztes als Werkzeug zur Vornahme einer verbotenen Insemination bedient hätten, wären freilich in der Regel selbst als „mittelbare Täter" strafbar gewesen; vgl. dazu Schwalm (Fn. 11) in GA 1959, S. 1 ff (15). 52 Vgl. BT-Drucks. IV/650, S. 358. - Dies war in den Beratungen der Großen Strafrechtskommission umstritten gewesen; vgl. Niederschriften (Fn. 12), Bd. 10, S. 326-328, 335. - Kritisch dazu: Giesen (Fn.8), S. 245 ff.
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Die angedrohten Strafen waren nach Täterkategorien abgestuft". Die mildeste Strafe drohte der Frau, die eine verbotene Selbstinsemination vornahm oder eine verbotene Insemination durch einen anderen bei sich zuließ (Absatz 2), weil hier schuldmindernde Beweggründe - wie der unerfüllte Wunsch nach einem Kinde - zu berücksichtigen waren. Höher hingegen war der Strafrahmen für alle anderen als Täter an einer verbotenen Insemination beteiligten Personen (Absatz 1); ihre Strafe wurde für den qualifizierten Fall, daß die Einwilligung der Frau fehlte, noch weiter geschärft (Absatz 4). Damit sollte dem erhöhten Unrechtsgehalt jener an Vergewaltigung und Schändung grenzenden Fälle Rechnung getragen werden, in denen die Insemination unter Täuschung der Frau, mit Gewalt oder unter Drohungen erfolgte. Der Versuch einer verbotenen Insemination sollte nach dem Entwurf straflos bleiben54, und zwar aus einem doppelten Grunde: Die Tat wäre ja - wie eingangs erwähnt" - schon mit dem Heranbringen des Spermas des Mannes an die Fortpflanzungsorgane der Frau (also schon mit dem Einbringen in die Scheide) rechtlich „vollendet" gewesen, weil es per definitionem auf einen Befruchtungserfolg nicht ankam. Und für eine Pönalisierung der vorher liegenden Versuchshandlungen wurde ein kriminalpolitisches Bedürfnis verneint. Erst recht sah man daher von zusätzlichen Strafvorschriften gegen noch weiter im Vorfeld liegende Vorbereitungshandlungen ab56. Somit wären beispielsweise straflos geblieben: [170] die Errichtung einer Spermabank und die Samenspende für eine Spermabank57. Die Strafbarkeit der Teilnehmer folgte den allgemeinen Regeln58. So wären bei der Vornahme einer heterologen Insemination beispielsweise der Ehemann, der sie angeregt, ihr zugestimmt oder sie geduldet hätte,
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Vgl. zum folgenden: BT-Drucks. IV/650, S.358. Bei §203 des StGB-E 1962 handelte es sich um ein Vergehen (früher: § 1 a. F. StGB; heute: § 12 n. F. StGB). Der Versuch eines Vergehens war und ist im deutschen Strafrecht nur strafbar, wenn dies im Gesetz ausdrücklich bestimmt ist (früher: §43 Abs. 2 a. F. StGB; heute: §23 n. F. StGB). § 203 enthielt aber eine solche Bestimmung über die Versuchsstrafbarkeit nicht. 55 Vgl. dazu oben Kapitel A I. 56 Vgl. zum Ganzen: BT-Drucks. IV/650, S.358. - Kritisch dazu: Giesen (Fn.8), S. 247 ff. 57 In diesen Fällen schied auch eine Strafbarkeit wegen Beihilfe aus, weil es an einer „konkreten" Haupttat (= einer „bestimmten" verbotenen Insemination) fehlte, von deren Vorliegen und Kenntnis nach deutschem Recht die Strafbarkeit des Gehilfen abhängt (vgl. dazu allgemein: Dreher, Kommentar zum StGB, 37. Aufl. 1977, Rdn.8 und 9 zu §27 StGB; hier speziell: Schwalm, Fn. 11, in GA 1959, S. 1 ff, 10). 58 Früher: §§48, 49, 50 a.F. StGB; heute: §§26, 27, 29 n.F. StGB. 54
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sowie der Dritte, der seinen Samen bewußt dafür gespendet hätte, in der Regel als Anstifter beziehungsweise als Gehilfen strafbar gewesen59. Der Straftatbestand war wegen des öffentlichen Interesses am Schutz der transpersonalen Rechtsgüter als Offizialdelikt ausgestaltet; zur Verfolgung hätte es also eines Strafantrags nicht bedurft 60 . Ergänzend trat noch eine im Allgemeinen Teil des StGB-Entwurfs 1962 (in §5 Abs. 1 Nr. 13) vorgeschlagene Vorschrift über den räumlichen Anwendungsbereich der Strafnorm hinzu: Die verbotene Insemination sollte auch dann strafbar sein, wenn sie im Ausland vorgenommen würde, sofern der Täter zur Zeit der Tat Deutscher sei und im Inland seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt habe. Diese Vorschrift sollte Umgehungen des Gesetzes vorbeugen, weil bei häufigen Verlegungen der Tat ins Ausland der kriminalpolitische Erfolg der Strafandrohung vereitelt werde". [171]
D. Als dieser Gesetzesentwurf 1962 im Parlament eingebracht wurde, waren seine Intentionen noch eines weitgehenden Konsenses sicher. Manche Autoren kritisierten den Entwurf sogar, weil er nicht weit genug gehe: Die vorgeschlagene Straflosigkeit der fahrlässigen Begehung sowie des Versuchs und der Vorbereitungshandlungen gefährde seine kriminalpolitischen Ziele62. Doch dann schlug die öffentliche Meinung um. Schon auf dem 9. Internationalen Strafrechtskongreß 1964 in Den Haag stieß die deutsche Gesetzesinitiative bei den ausländischen Delegationen auf Ablehnung und völliges Unverständnis; die Debatten offenbarten eine „normative Isolierung" der Bundesrepublik. Der Kongreß beschloß mit 59 Vgl. dazu: BT-Drucks. IV/650, S.358; Giesen (Fn.8), S.243. - Zur „psychischen Beihilfe" allgemein: Dreher (Fn.57), Rdn. 7 zu §27 StGB. - Die Streitfrage, ob die eine verbotene Insemination bei sich duldende Frau wegen Beihilfe zur Insemination durch den Dritten strafbar sei oder aber als sogenannte „notwendige Teilnehmerin" (dazu: Dreher, Fn.57, Rdn.6-8 vor §25 StGB) straflos bleibe (vgl. Niederschriften, Fn. 12, Bd. 10 S. 326), konnte nicht auftauchen, weil der Gesetzentwurf (in seinem Abs. 2) die „Zulassung" einer verbotenen Insemination durch die Frau gesondert als täterschaftliche Begehungsform unter Strafe stellte (vgl. dazu: Schwalm, Fn. 11, in GA 1959, I f f , 14-15; Giesen, Fn.8, S.241 ff). 60 Im Falle einer verbotenen Insemination mit Einwilligung aller Beteiligten wäre ohnehin niemand vorhanden gewesen, der den Strafantrag hätte stellen können (vgl. Schwalm, Fn. 11, in GA 1959, I f f , 10-11). - Ebenso war es nicht Voraussetzung der Strafbarkeit, daß die Ehe wegen der verbotenen Insemination geschieden sei; bei Einverständnis beider Ehegatten (vgl. zu u. mit Fn. 39) sowie bei Insemination an einer unverheirateten Frau wäre dies ohnehin ausgeschieden (vgl. Giesen, Fn. 8, S. 247). 61 Vgl. dazu BT-Drucks. IV/650, S. 358-359. 62 Vgl. dazu besonders: Giesen (Fn.8), S.246ff.
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großer Mehrheit, daß die heterologe Insemination nicht durch Strafgesetze verboten werden solle, es sei denn, daß der Eingriff ohne Einwilligung der Frau vorgenommen werde' 3 . - 1968 sprach sich der von 16 deutschen und schweizerischen Strafrechtslehren verfaßte „AlternativEntwurf eines Strafgesetzbuchs" eindringlich gegen den von der Bundesregierung vorgeschlagenen Straftatbestand der künstlichen Samenübertragung aus64. - 1970 nahm der 73. Deutsche Ärztetag in Stuttgart das frühere Verdikt vom Jahre 1959 zurück und beschloß, daß die heterologe Insemination nicht mehr als standeswidrig gelten könne65. - Und im selben Jahre 1970 erklärte der damalige Bundesjustizminister im Deutschen Bundestag, die Bundesregierung denke nicht mehr an eine solche Vorschrift 66 . - Begleitet waren diese Verlautbarungen von einer Fülle ablehnender literarischer Stellungnahmen. Der Entwurf ist bekanntlich nicht Gesetz geworden. Was aber hatte diesen Sinneswandel in der 2. Phase der Entwicklung veranlaßt? Bei der Schilderung der Gründe für diesen Umschwung beginne ich mit den Erwägungen zur (nicht qualifizierten, also insbesondere [172] konsentierten) heterologen Insemination und schließe die Überlegungen zu den geschilderten Mißbräuchen der homologen und zu den qualifizierten Fällen der heterologen Insemination an. Dabei will ich zugleich aus heutiger Sicht Stellung nehmen.
I. 1. Schon das Grundmotiv der Gesetzesinitiative traf nicht zu: Die artifizielle Insemination ist in der Bundesrepublik Deutschland keineswegs zu der befürchteten „Massenerscheinung" ausgeartet. Auch wenn man unterstellt, daß die zeitweilige moralische Verdammung der künstlichen Samenübertragung manche Arzte über ihre Inseminationspraxis schweigen läßt, besteht doch - wie früher geschildert67 - Einigkeit darüber, daß wir von „amerikanischen Verhältnissen" zahlenmäßig weit entfernt sind. Nichts spricht dafür, daß sich dies ändern wird. Und es
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Vgl. dazu die Kongreßberichte von: Blau in FamRZ 1964, S. 242ff, und 1965, S. 244 ff, sowie von Sturm in JZ 1965, S. 375-376. - Kritisch dazu: Giesen, Zur Strafwürdigkeit der Delikte gegen Familie und Sittlichkeit, in FamRZ 1965, S.248. 64 Vgl. Alternativ-Entwurf eines StGB, Besond. Teil, (u.a.) Straftaten gegen Ehe, Familie und Personenstand, (Hrgb. Baumann u.a.), 1968, S.73ff. 65 Wortlaut des Beschlusses bei: Schwalm, Juristische Bemerkungen zur humanen artifiziellen Insemination, in Medizinische Klinik 1974, S. 1554 ff (1556) = in Rippmann (Hrgb.), Die ehefremde künstliche Befruchtung der Frau, 1974, S. 65 ff (70); s. dazu auch: Hanack (Fn. 1), S. 181. 66 Vgl. dazu: Hanack (Fn. 1), S. 180, mit Fundstellen in Anm. 50 dortselbst. 67 Vgl. zu u. mit Fn. 9.
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fehlt nach wie vor jeder Beweis dafür, welche zahlenmäßige Bedeutung der Anteil der heterologen Inseminationen bei uns insgesamt hat. 2. Die mit der heterologen Insemination möglicherweise verbundenen sozial-psychologischen Gefahren sind offensichtlich maßlos übertrieben worden: Schon bald wurden zahlreiche ärztliche Berichte über ausländische und inländische Erfahrungen bekannt, denen zufolge die Ehen mit einem durch heterologe Insemination gezeugten Kind sich völlig harmonisch entwickelten68. Auch wenn dies gewiß nicht ausnahmslos gelten wird", [173] so entfiel damit doch die bisherige Annahme von über Einzelfälle hinausgehenden Gefahren für den Bestand der Ehen. Ersichtlich waren vereinzelte ältere negative Erfahrungen voreilig und in einer empirischwissenschaftlich fragwürdigen Weise zu typischen Inseminationsgefahren „hochgerechnet" worden; und ebenso offensichtlich waren theoretische Möglichkeiten vorschnell für bare Realität gehalten worden. Ob aber der Gesetzgeber zwar logisch mögliche, jedoch nicht wahrscheinliche und jedenfalls nicht in relevantem Ausmaß auftretende schädliche Auswirkungen oder Gefährdungen zum Anlaß nehmen darf, Strafvorschriften „auf Vorrat" zu schaffen, ist heute zunehmend umstritten70 und wird gerade in unserem Falle, bei welchem es zudem
68 Vgl. Betterlein (Fn. 7), S. 36 ff und 55; Ockel, Therapeutische heterologe Insemination, in Deutsches Ärzteblatt (DÄ) 1967, S. 1553 ff, 1570 ff und 1607 ff (bes. S.1572 und 1610); Kaiser (Fn. 9), S.93; Schaad, Stellungnahme zu Fragen der heterologen Insemination, in Schlesw.-Holst. Ärzteblatt 1968, S. 291 ff; Hallermann-Wille (Fn. 8), in Schlesw.Holst. Ärzteblatt 1968, S. 228 ff; Helling (Fn.7), S. 57-58 u. 69; Schaad, Über die therapeutische heterologe Insemination in Deutschland, in Schlesw.-Holst. Ärzteblatt 1970, S. 31 ff; Wille, Künstliche Insemination, in DÄ 1970, S.337ff; Joel (Fn.6) in Zeitschrift für evangelische Ethik 1971, S.215ff (221-222); Bergmann-Ulstein (Fn.6) in Der Gynäkologe 1971, S.159ff; Kaiser (Fn.2), S.15ff; Schaad, Warum keine ärztliche Fremdsamenübertragung?, in Ärztliche Praxis 1973, S. 2123 ff; Gigon, Medizinische und rechtliche Aspekte der heterologen Insemination, in Schweiz. Mediz. Wochenschrift 1974, S. 48 ff. " Vgl. dazu Sillo-Seidl, Fremdsamenübertragung?, in Zeitschrift für Haut- und Geschlechtskrankheiten 1973, S. 93 ff = in Ärztl. Praxis 1973, S. 667 ff; Hanack, Rechtliche Aspekte der heterologen Insemination, in Geburtshilfe und Frauenheilkunde 1973, S. 161 ff (166). - Einige ältere Meldungen sind in den Verdacht bloßer Mystifikationen geraten; vgl. Wille (Fn.68) in DÄ 1970, S. 339-340. 70 Vgl. dazu näher: Müller-Dietz, Strafe und Staat, 1973, bes. S. 35 ff, 40 ff, 46 ff, mit zahlreichen Nachw., dazu: Zipf in ZStW 89. Bd. (1977), S. 713 ff; Lenckner, Strafgesetzgebung in Vergangenheit und Gegenwart, in: Tradition und Fortschritt im Recht, Festschrift zum 500jährigen Bestehen der Tübinger Juristenfakultät, 1977, S. 239 ff (251); Günther, Die Genese eines Straftatbestands, in Juristische Schulung (JuS) 1978, S. 8 ff (10), mit Nachw.
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um einen Eingriff in die persönliche Intimsphäre geht, heute mit Recht verneint71. Daß ein Kind, wenn es von seiner Zeugung durch heterologe Insemination erfährt, psychisch gefährdet sein kann, ist freilich nie bestritten worden. Ein empirischer Beweis dafür, daß eine solche Gefahr dann häufiger sei oder schwerer wiege, als wenn ein Kind von seiner Zeugung durch außerehelichen Geschlechtsverkehr (insbesondere durch Ehebruch) erfährt, existiert jedoch nicht. Kein vernünftiger Mensch denkt aber daran, den - fraglos weitaus häufigeren - außerehelichen Geschlechtsverkehr wegen der psychischen Gefährdung, die einem dabei gezeugten Kinde nicht selten droht, bei Strafe zu verbieten. Für „zweierlei Maß" ist dann aber gewiß kein Raum72. 3. Auch die so düster ausgemalten biologischen Gefahren der heterologen Insemination verloren bei näherer Betrachtung ihre Schrecken: Was zunächst die Inzestgefahr bei der heterologen Insemination angeht, so könnte sogar dahinstehen, wie groß sie wirklich ist und ob sie - namentlich beim Rückgriff auf Samenbanken - überhaupt eine meßbare Relevanz hat73; denn mit ihr ließ und läßt sich ein generelles strafrechtliches [174] Verbot der heterologen Insemination ohnehin nicht rechtfertigen. Zur Vermeidung der (primären) Inzestgefahr würde es nämlich genügen, die (heterologe) Insemination durch Nichtärzte zu verbieten sowie die Anonymität der Samenspender gegenüber den inseminierenden Ärzten zu untersagen74; denn die deutschen Ärzte würden fraglos das überlieferte und bei uns auch heute noch unangefochtene Inzest-Tabu respektieren. Dann aber ist unter diesem Blickwinkel eine Rechtfertigung für ein weit darüber hinausgehendes generelles strafrechtliches Verbot der heterologen Insemination nicht erkennbar: Strafrecht ist unbestritten die „ultima ratio" im Instrumentarium des Gesetzgebers; die Schaffung von Strafrecht kommt nach dem „Prinzip der Verhältnismäßigkeit" nur dann und nur insoweit in Frage, als dies zur Gewährleistung notwendigen Rechtsgüterschutzes unerläßlich ist75. Doch ist es sogar fraglich, ob unter dem Gesichtspunkt der (primären) Inzestgefahr überhaupt gesetzliche Maßnahmen erforderlich sind, weil blutschänderische Inseminationen in der Bundesrepublik bis heute nicht
71
Vgl. Alternativ-Entwurf eines StGB (Fn. 64), S. 73. Vgl. dazu auch den Text zu und mit Fn. 80. 73 Vgl. dazu einerseits: Ockel (Fn. 68) in DÄ 1967, S. 1610; Pasquay (Fn. 3), S. 86 ff und S.239f; andererseits: Hanack (Fn.69) in Geburtshilfe und Frauenheilkunde 1973, S. 163. 74 Vgl. die Vorschläge von: Schwalm (Fn. 65) in Med. Klinik 1974, S. 1558. 75 Vgl. statt vieler: BVerfGE Bd. 39, S.lff (bes. S.47); Müller-Dietz (Fn.70), bes. S.32ff; Lenckner (Fn.70), bes. S.249. 72
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bekannt geworden sind. Allem Anschein nach würden auch solche Teilverbote nur bedenkliche „Strafgesetze auf Vorrat" gegen eine lediglich vermutete, nicht aber real vorhandene Gefahr darstellen. - Und was die (sekundären) „Reiheninzeste" als Folge sehr häufiger Verwendung des Spermas ein und desselben Mannes zur Insemination bei einer Vielzahl von Frauen in einer Region angeht, so würden - falls es jetzt oder in Zukunft solche Praktiken (in relevantem Ausmaß) wirklich geben sollte76 - Maßnahmen hiergegen genügen77; ein generelles Verbot der heterologen Insemination ließe sich damit keinesfalls begründen. Freilich habe ich im Zusammenhang mit den vermeintlichen biologischen Gefahren der heterologen Insemination auch einzelne spektakuläre ausländische Ereignisse erwähnt: die Übertragung von Samen eines „toten Vaters", den bewußten Rückgriff auf einen nahe verwandten Samenspender und die arglistige Täuschung der Eheleute über die „Fremdheit" des übertragenen Samens durch einen Arzt. Indessen handelte es sich [175] dabei um ganz singuläre Ereignisse, die in der Bundesrepublik keine nachweislichen Parallelen haben; sie zum „Maß der Dinge" zu machen, hat gewiß mit seriösen legislatorischen Erwägungen nichts mehr zu tun. - Und was die ebenfalls beschworene Gefahr einer „eugenisch gelenkten Zuchtwahl" anlangt, so handelt es sich beim Blick auf die damaligen und heutigen Verhältnisse in der Bundesrepublik ohnehin nur um futuristische Spekulationen. Alles in allem zeigt sich gerade bei den vermeintlichen biologischen Gefahren der heterologen Insemination deutlich, wie seltsam irreal die Erwägungen der „Väter des Gesetzesentwurfs" waren. 4. Die bei erster flüchtiger Betrachtung so gewichtig erscheinenden juristischen und kriminalpolitischen Argumente tragen ein generelles strafrechtliches Verbot der heterologen Insemination ebenfalls nicht: Dabei mag - im ohnehin nicht zu schlichtenden Streit der Meinungen - einmal unterstellt werden, daß jede (also auch die konsentierte) heterologe Insemination die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) verletze, so kurios und befremdlich es im Rahmen strafrechtlicher und kriminalpolitischer Überlegungen auch ist, wie undifferenziert hier oft der Schutz der Menschenwürde vor ihrem Träger selbst einbezogen wird und wie unkritisch dabei oft die Menschenwürde eines noch gar nicht
n Skeptisch dazu: Pasquay (Fn.3), S. 88, mit dem Hinweis auf die mangelnde Nachpriifbarkeit älterer Meldungen; warnend aber Hanack, wie Fn. 73, unter Hinweis auf einen anscheinend ungesicherten neueren Fall. 77 Vgl. dazu die Vorschläge von: Giesen (Fn.63) in FamRZ 1965, S.251, und Helling (Fn. 7), S. 147 ff.
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gezeugten Trägers unterstellt wird78. Denn es ist heute wohl unstreitig, daß eine drohende Verletzung der Menschenwürde allein noch kein Pönalisierungsgebot begründet79. - Nichts anderes gilt für das so bestechend klingende Argument, die heterologe Insemination vereitele vielfach - namentlich bei Anonymität des Spenders - das Menschenrecht des Kindes, seine blutsmäßige Abstammung zu erfahren. Denn auch wahlloser Geschlechtsverkehr bringt die dabei gezeugten Kinder sehr oft um ihr natürliches Recht auf Klärung ihrer Abstammung, ohne daß jemals erwogen worden wäre, daraus die Forderung nach Bestrafung solch wahllosen Geschlechtsverkehrs abzuleiten80. Im übrigen wäre dann, wenn [176] anonyme Samenspenden ganz unterbunden werden sollen, die Postulierung einer primären und unbedingten ziWrechtlichen Unterhalts-Haftpflicht des mit „anonymen" Sperma inseminierenden Arztes oder Nichtarztes gegenüber dem dabei gezeugten Kind81 - angesichts ihrer Jahrzehnte währenden Last - eine weitaus wirsamere Sicherung als ein strafrechtliches Verbot; von anderen, weniger weitgehenden Lösungsvorschlägen des Schrifttums ganz zu schweigen82. Dann aber drängt sich die Schlußfolgerung auf, daß es hier offensichtlich an der für einen Einsatz des Strafrechts unverzichtbaren Voraussetzung des „ultima-ratio-Charakters" fehlt. Daß der weiter ins Feld geführte grundgesetzliche Schutz der Ehe und der ehelichen Vaterschaft (Art. 6 Abs. 1 GG) eine Pönalisierung der heterologen Insemination erfordere, kann heute ernstlich nicht mehr behauptet werden. Denn so gewiß Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz des Staates stehen, so sicher braucht dieser Schutz nicht mit den Mitteln des Strafrechts zu erfolgen83. Daß dies auch die Auffassung des deutschen Gesetzgebers ist, folgt aus der Aufhebung der früheren 78 Vgl. zum Ganzen statt vieler: Kaiser (Fn. 9), S. 73 ff; Alternativ-Entwurf (Fn.64), S. 75 ; Pasquay (Fn. 3), S. 144 ff und S. 231 ff ; Kohlhaas, Juristische Aspekte der Insemination, in Der Gynäkologe 1971, S. 163 ff (166). - Vgl. BVerfGE Bd. 39, S.lff (41): „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu." (Hervorhebung vom Verfasser). - Siehe auch von Münch, Grundrechtsschutz gegen sich selbst?, in: H a m b u r g Deutschland - Europa, Festschrift für Ipsen, 1977, S. 113 ff. 79 Vgl. allgemein die Nachw. in Fn.25; hier speziell: Kaiser (Fn. 9), S.77. 80 Vgl. dazu: Kaiser (Fn.9), S.72; Alternativ-Entwurf (Fn.64), S.75; Wille (Fn.68) in DA 1970, S. 342; Becker, Künstliche Insemination, in Evangelische Kommentare 1970, S. 289 ff (291); Kohlhaas (Fn. 78) in Der Gynäkologe 1971, 166. 81 Vgl. zu den verwickelten Voraussetzungen einer „Schadensersatzpflicht" des Arztes (oder Nicht-Arztes) im geltenden deutschen Zivilrecht: Giesen (Fn. 8), S193 ff und S. 201 ff; Helling (Fn. 7), S. 92 ff; Pasquay (Fn. 3), S. 182 ff. 82 Vgl. etwa: Helling (Fn. 7), S. 147 ff; Schwalm (Fn. 65) in Med. Klinik 1974, S. 1558. 85 Vgl. dazu allgemein: BVerfGE Bd. 39, S. 1 ff; hier speziell: Herzog, Der Verfassungsauftrag zum Schutze des ungeborenen Lebens, in JR 1969, S.441 ff (443); Müller-Dietz (Fn. 25) in Dreher-Festschrift 1977, S.97ff (101-102).
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Strafvorschrift gegen Ehebruch (§172 a.F. StGB)84. Damit ist zugleich jenem kriminalpolitischen Argument der Boden entzogen, das aus der Rechtsähnlichkeit der heterologen Insemination mit einem Ehebruch die Notwendigkeit einer Strafvorschrift auch gegen sie folgern wollte85. 5. So bleibt noch das moralische und standesethische Unwerturteil über die heterologe Insemination, das eine so große Rolle für den Pönalisierungsvorschlag gespielt hatte. Es rechtfertigt indessen - wie im Ergebnis heute wohl unstreitig ist - ein strafrechtliches Verbot der heterologen Insemination ebenfalls nicht. Das läßt sich auf zweifache Weise begründen: Man " kann - mit manchen Stimmen86 - darauf abheben, daß die sittlichen Anschauungen eines Volkes in ständigem Wandel begriffen sind und daß sie sich - wie insbesondere die geschilderte Resolution des [177] Deutschen Ärztetages 1970 zeigt - hinsichtlich der Bewertung der heterologen Insemination bei uns tatsächlich gewandelt haben. Dann entfällt der Fortbestand jenes moralischen Un Werturteils. Indessen liegen die Gründe der Irrelevanz des moralischen Unwerturteils für die Frage einer Pönalisierung der heterologen Insemination früher und tiefer87: Es ist nicht Aufgabe des Strafrechts, die Anforderungen von Moral und Sitte - um ihrer selbst willen - durchzusetzen; in einer pluralistischen Gesellschaft mit divergierenden ethischen Grundanschauungen kann dies gar nicht sein. Dort ist das Strafrecht nicht mehr die „moralische Instanz" des Bürgers und auch kein „ethisches Minimum". Aufgabe des Strafrechts ist es vielmehr, das soziale Zusammenleben von Menschen zweckmäßig zu regeln, sich dabei auf den Schutz der Grundwerte der Sozialordnung zu beschränken und auch dort nur als ultima ratio und nur bei Verhaltensweisen von relevanter Sozialschädlichkeit einzugreifen. Zumindest an den beiden letztgenannten Voraus-
84
Vgl. Fn. 37. * Vgl. Wille (Fn. 68) in DÄ 1970, S.340; ferner: Pasquay (Fn.3), S. 247ff. 84 Vgl. ζ. B. Helling, Die Bewertung der heterologen künstlichen Insemination nach dem Deutschen Ärztetag 1970, in Med. Klinik 1971, S. 24 ff; s. auch Schwalm (Fn.65) in Med. Klinik 1974, S.1557. - Allgemein: BVerfGE Bd. 7, S. 198 ff (215). - Grundlegend zum Unterschied zwischen (angeblich) „unwandelbarem Sittengesetz" und „wandelbarer Sitte und Anstand": Honig, Bemerkungen zum Sittengesetz in der Strafrechtsjudikatur des Bundesgerichtshofs, in Dreher-Festschrift 1977, S. 39 ff. 87 Vgl. zum folgenden näher: Miiller-Dietz (Fn.70), S. 26 ff und 32 ff; Lenckner (Fn. 70) in Tübinger Festschrift 1977, S. 249; Günther (Fn. 70) in JuS 1978, S. 8 ff ; MüllerEmmert, Sozialschädlichkeit und Strafbarkeit, in GA 1976, S. 291 ff; Baumann-Weber, Strafrecht, Allg. Teil, Lehrbuch, 8. Aufl. 1977, S. 7ff und 26ff; hier speziell: Pasquay (Fn.3), S. 10-32, 227ff; alle mit weit. Nachw. - Zur Kritik: Peters, Die ethischen Grundlagen des Strafprozesses, in Kultur-Kriminalität-Strafrecht, Festschrift für Thomas Würtenberger, 1977, S.77ff, mit Nachw.
Die humane artifizielle Insemination
111
Setzungen fehlt es hier, wie nun nicht mehr wiederholt zu werden braucht. 6. Doch kommt noch eine andere Überlegung hinzu : der - heute nahezu einhellige - Zweifel an der Eignung einer solchen Strafnorm zur Erreichung des mit ihr erstrebten Zweckes einer generellen Unterbindung von heterologen Inseminationen 88 . Es ist zunächst in hohem Maße fraglich, ob eine solche Strafnorm eine nennenswerte Abschreckungswirkung haben würde. Die Erfahrungen mit der (früheren) Strafnorm gegen Abtreibung legen vielmehr den Schluß [178] nahe, daß auch bei der heterologen Insemination die Heimlichkeit ihrer Vornahme im Intimbereich und das Fehlen effektiver Aufklärungsmöglichkeiten zu hohen Dunkelziffern führen würden. Damit ergeben sich aber schwerwiegende Bedenken gegen die Schaffung einer solchen Strafnorm, weil das nicht behebbare Bestehen hoher Dunkelziffern auf die Dauer die Autorität der Rechtsordnung nicht ungeschädigt läßt8'. Doch würde eine solche Strafnorm aller Voraussicht nach noch aus einem anderen Grunde mehr Schaden als Nutzen stiften. Es kann nämlich davon ausgegangen werden, daß mit dem dann zu erwartenden Ausscheiden der Ärzte eine verstärkte Tätigkeit von unseriösen „Helfern" und fragwürdigen „Kurpfuschern" einsetzen würde. Dann aber wären die von inseminierenden Ärzten pflichtgemäß beachteten medizinischen, psychologischen und biologischen Aspekte der heterologen Insemination mit Sicherheit nicht gewährleistet. Die Strafnorm würde die bisher überwiegend hypothetischen Risiken mithin erst Wirklichkeit werden lassen. Dunkelfeld und Kurpfuschertum würden also die Norm voraussichtlich zu einer „leerlaufenden Deklaration" entwerten, bei der man dann mit Rücksicht auf die schädlichen Auswirkungen nicht einmal nur von bloßer „Plakatwirkung" reden könnte. Es spricht also alles gegen ein generelles strafrechtliches Verbot der heterologen Insemination.
81 Vgl. zum folgenden: Luther (Fn.45) in FamRZ 1960, S.429, und 1961, S. 161; Blau (Fn.63) in FamRZ 1965, S.245; Kaiser (Fn.9), S.72, 93-95; Pasquay (Fn.3), S. 264 ff; Alternativ-Entwurf (Fn.64), S.75; Helling (Fn.86) in Med. Klinik 1971, S.25; Kaiser (Fn.2), S. 17. - Allgemein: BVerfGE Bd. 39, S.lff (45, 82 ff, 90); Lenckner (Fn.70) in Tübinger Festschrift 1977, S.249 und 261; Müller-Emmert (Fn. 87) in GA 1976, S.302. 89 Vgl. dazu: Herzog (Fn. 83) in JR 1969, S. 441 ff (445); Lüttger, Zum Strafschutz des keimenden Lebens, in: 26. Österreichischer Ärztekongreß, Van-Swieten-Tagung Wien 1972, S. 11 ff (25).
112
Medizinisch-juristische Probleme im Strafrecht
II. Ganz anders liegt es bei den früher geschilderten Mißbräuchen der homologen Insemination und bei den erwähnten qualifizierten Formen der heterologen Insemination. Dabei lasse ich die Fälle einer Inseminierung durch Nichtärzte außer Betracht, weil auch bei ihnen mangels nachweislicher praktischer Relevanz ein Pönalisierungsbedürfnis nicht ersichtlich ist90. Gemeint sind vielmehr die Fälle, in denen die (homologe oder heterologe) Insemination ohne Einwilligung beider Ehegatten oder gar unter Anwendung von Gewalt, Drohung oder Täuschung der Frau [179] vorgenommen wird. In diesen Fällen waren und sind Strafwürdigkeit und Strafbedürfnis unbestritten und unbestreitbar. Die Schaffung einer hierauf begrenzten Strafnorm wäre daher geboten, wenn und soweit diese Fälle - wie man früher gelegentlich angenommen hat91 durch bestehende andere Strafnormen nicht oder nur unzureichend erfaßt würden und die etwa verbleibenden Lücken im Strafschutz praktische Bedeutung hätten. Bei dieser Untersuchung geht es also nur um Strafnormen, die in diesen Fällen den Inseminationsvorgang selbst und seine Folgen erfassen, nicht um Straftaten im späteren Gefolge einer erfolgreichen Insemination wie etwa bei Personenstands- und Unterhaltsfragen92. 1. Streitig ist hier zunächst die Frage, ob und wann die ohne Einwilligung der Frau vorgenommene - homologe oder heterologe - Insemination eine Körperverletzung (§ 223 StGB) an der Frau darstellt'3. Das ist für die beiden gesetzlichen Alternativen - die „Beschädigung an der Gesundheit" und die „körperliche Mißhandlung" - gesondert zu prüfen: Die „Gesundheitsbeschädigung" besteht begrifflich im Hervorrufen oder Steigern einer - wenn auch vorübergehenden - körperlichen oder
90
Vgl. aber den neuerlichen Pönalisierungsvorschlag von Schwalm (Fn. 65) in Med. Klinik 1974, S. 1558. " Vgl. den Text zu und mit Fn. 29. 92 Vgl. zu diesen zusätzlichen Strafrechtsfragen: Giesen (Fn.8), S.21 I f f ; Helling (Fn. 7), S. 98 ff. - Neuerdings etwa: Dreher (Fn. 57), Rdn. 6 zu § 169 StGB. 93 Die Frage, ob eine homologe oder gar eine heterologe Insemination als „Heilbehandlung" angesehen werden könnte (teilw. bejahend: Pasquay, Fn. 3, S. 199ff, mit w. Nachw.; ablehnend: Schwalm, Chirurgie und Recht - heute, in: Chirurgie der Gegenwart, 1973, Bd. I, S. 4 ff, 6), kann hier dahinstehen. Denn da die seit Jahrzehnten gefestigte Rechtsprechung auch die ärztliche Heilbehandlung (unter den gesetzlichen Voraussetzungen) tatbestandlich als Körperverletzung wertet (vgl. ζ. B. RGSt. Bd. 25, S. 375 ff; BGHSt. Bd. 11, S. 111 ff), bringt ein Rekurrieren auf die gegenteilige, in sich zerstrittene Rechtslehre (vgl. die Übersicht bei: Hirsch in Leipziger Kommentar zum StGB - LK - , 9. Aufl. 1974, Vorbem. 2 vor §223 StGB und Rdn. 10 ff zu §226 a StGB) keinen praktischen Nutzen. - Vgl. dazu weiter Fn. 97 a. E.
113
Die humane artifizielle Insemination
seelischen Krankheit, also eines pathologischen Zustands' 4 . Dies scheidet hier bei n o r m a l e m Verlauf' 5 auch dann aus, w e n n die Insemination z u einer B e f r u c h t u n g f ü h r t ; denn die Schwangerschaft ist kein pathologischer Z u s t a n d , s o n d e r n ein natürlicher biologischer P r o z e ß und die Schwangerschaftsbeschwerden
(Erbrechen,
Wehen)
[ 1 8 0 ] sind
keine
K r a n k h e i t , sondern natürliche Begleiterscheinungen eines physiologischen Vorgangs 9 6 . D i e „körperliche M i ß h a n d l u n g " bedeutet eine üble, unangemessene (sozialwidrige) Behandlung, d u r c h die das körperliche W o h l b e f i n d e n o d e r die körperliche U n v e r s e h r t h e i t nicht n u r unerheblich beeinträchtigt wird, w o b e i es auf die Z u f ü g u n g v o n S c h m e r z e n nicht
notwendig
a n k o m m t 9 7 . D a s M e r k m a l der „üblen, unangemessenen (sozialwidrigen) B e h a n d l u n g " ist ein n o r m a t i v e r Begriff, der d u r c h W e r t u n g auszufüllen ist' 8 ; dabei ist mit R ü c k s i c h t auf das bei Eingriffen in die körperliche Integrität m i t b e r ü h r t e Selbstbestimmungsrecht" auch das Fehlen eines K o n s e n s e s des Betroffenen als B e w e r t u n g s k r i t e r i u m
einzubeziehen 1 0 0 .
94 Vgl. dazu statt vieler: Dreher (Fn. 57), Rdn. 6 zu §223 StGB; Lackner, Kommentar zum StGB, 11. Aufl. 1977, Anm.3 zu §223 StGB. 95 Anders aber, wenn bei Gelegenheit der Inseminierung etwa eine Verletzung angerichtet oder eine Infektion verursacht wird; vgl. dazu: Beuerlein (Fn. 7), S. 12 ff; Giesen (Fn. 8), S. 232. % Ebenso: Giesen (Fn.8), S.231-232; Helling (Fn.7), S.106; Dreher (Fn.57), Rdn. 6 zu §223 StGB; Hirsch in LK (Fn.93), Rdn. 12 zu §223 StGB; Maurach-Schroeder, Strafrecht, Besond. Teil, Lehrbuch, 6. Aufl. 1977, Teilbd. 1, S.98. 97 Vgl. RGSt. Bd. 19, S. 136ff; BGHSt. Bd. 14, S.269ff; Dreher (Fn.57), Rdn.3 zu §223 StGB; Hirsch in LK (Fn.93), Rdn.6 zu §223 StGB. - In den Fällen der ärztlichen Heilbehandlung (Fn. 93) verzichtet die Rechtsprechung inkonsequent auf das einschränkende Merkmal der „üblen, unangemessenen (sozialwidrigen) Behandlung" (vgl. RGSt. Bd. 25, S. 375 ff; BGHSt. Bd. 11, S. 111 ff). Doch kann auch dies - ebenso wie die Frage nach der Eigenschaft der artifiziellen Insemination als Heilbehandlung (Fn. 93) - dahinstehen, wenn die nichtkonsentierte Insemination, um die es hier allein geht, jenes einengende Merkmal ohnehin erfüllt; darüber im folgenden Text. 98 Vgl. Eh. Schmidt, Bemerkungen zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Frage des Züchtigungsrechts der Lehrer, JZ 1959, S. 518 ff (519); Maurach-Schroeder (Fn. 96), S. 97; beide mit zahlr. Nachw. 99 Vgl. dazu statt vieler: BGHSt. Bd. 11, S. 111 ff (113-114); Dürig (Fn. 20), Rdn. 37 zu Art. 2 Abs. 2 GG. 100 So wird das Fehlen der Einwilligung des Betroffenen als eines der Kriterien für die Bewertung der Behandlung als „übel und unangemessen (sozialwidrig)" beispielsweise berücksichtigt beim nichtkonsentierten Abschneiden von Haupt- oder Barthaaren (vgl. z.B. BGH bei Daliinger in Monatsschrift für Deutsches Recht - MDR - 1966, S.892; Frank, Kommentar zum StGB, 18.Aufl. 1931, A n m . i l zu §223 StGB; von Olshausen, Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 1942, Anm. 6 b und 4 b zu §223 StGB; im Erg. ebenso zahlr. neuere Autoren); ferner beim Vollzug des Geschlechtsverkehrs gegen den Willen der Frau (vgl. BGH in MDR 1963, S. 939) sowie bei der Hervorrufung einer Schwangerschaft „durch Täuschung" der Frau, d.h. aber: ohne wirksame Einwilligung (vgl. Maurach-
114
Medizinisch-juristische Probleme im Strafrecht
Angesichts [ 1 8 1 ] der besonderen B e d e u t u n g des
Selbstbestimmungs-
rechts im hier in R e d e stehenden Intimbereich ergibt eine derartige G e s a m t w e r t u n g , daß die V o r n a h m e einer Insemination ohne
Einwilli-
gung der F r a u eine üble u n d unangemessene (sozialwidrige) B e h a n d l u n g darstellt 1 0 1 . - A u f dieser Basis sind j e d o c h drei Fallgruppen rechtlich z u unterscheiden: K o m m t es z u einer B e f r u c h t u n g , so ist in der Rechtslehre streitig, o b die Schwangerschaft mit ihren naturgemäßen B e s c h w e r d e n als „Beeinträchtigung des körperlichen W o h l b e f i n d e n s " anzusehen ist 102 u n d o b der d u r c h die Schwangerschaft hervorgerufene zeitweilige A u s fall natürlicher K ö r p e r f u n k t i o n e n ( = trächtigung
der
„körperlichen
Empfängnisfähigkeit) als B e e i n -
Unversehrtheit"
gelten
kann 1 0 3 ;
ich
m ö c h t e z u m i n d e s t das erstere bejahen, weil es bei der Tatbestandsalternative des Mißhandelns nicht auf „pathologische" F o l g e n ankommt 1 0 4 . Ohne
Rücksicht
auf
eine
Befruchtung
liegt
jedoch
tatbestandlich
unstreitig eine K ö r p e r v e r l e t z u n g v o r , w e n n eine schmerzhafte Inseminat i o n s m e t h o d e gewählt wird 1 0 5 o d e r w e n n die F r a u infolge der o h n e ihren
Schroeder, Fn. 96, S.98). - Nichts anderes geschieht, wenn bei der Beleidigung (§185 StGB) in bestimmten Fällen das ebenfalls normative Merkmal der Kundgabe von „Mißachtung" bei Einwilligung des Betroffenen schon tatbestandlich verneint wird, weil die Einwilligung der Handlung den beleidigenden Charakter nehme (vgl. Lenckner in Schönke-Schröder, 19. Aufl. 1978, Rdn. 14 zu §185 StGB, mit zahlr. Nachw.); das heißt aber, daß hier nur die „nichtkonsentieren" Fälle eine „Mißachtung" enthalten. - Dies alles bedeutet nicht, daß die Tatbestandsmäßigkeit mit der Rechtswidrigkeit völlig in eins gesetzt werde, wie sich vor allem bei den Rechtfertigungsgründen zeigt, die keinen Bezug zum Selbstbestimmungsrecht haben. Es geht nur um die Frage, ob das Hinwegsetzen über das Selbstbestimmungsrecht so gravierend ist, daß die Behandlung schon deshalb als „übel und unangemessen (sozialwidrig)" angesehen werden kann; über (die sonstigen Begriffsmerkmale des Tatbestands und über) die Rechtswidrigkeit ist damit noch nichts gesagt. Die Kritik von Baumann (Körperverletzung oder Freiheitsdelikt?, in Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1958, S. 2092 ff) und von Bockelmann (Strafrecht, Besond. Teil 2, Delikte gegen die Person, 1977, S. 52) trifft diese Konzeption also nicht. 101 Im Ergebnis ebenso: Dreher (Fn.57), Rdn.4 zu §223 StGB: „künstliche Insemination gegen den Willen der Frau". - Vgl. auch Alternativ-Entwurf (Fn.64), S. 75. 102 Bejahend: Dreher (Fn. 57), Rdn. 4 zu §223 StGB; auch Maurach-Schroeder (Fn. 96), S.98; undifferenziert bejahend: Alternativ-Entwurf (Fn.64), S.75. - Verneinend häufig die ältere Spezialliteratur. lra Bejahend: Horn in Systematischer Kommentar zum StGB (SK), 1977, Rdn. 21 a. E. zu §223 StGB. - Verneinend: Hirsch in LK (Fn.93), Rdn. 7 zu §223 StGB, und oftmals die ältere Spezialliteratur. m Daraus folgt nicht, wie Kohlhaas (Fn.78) in Der Gynäkologe 1971, S. 166-167, meint, daß auch ein „freiwilliger" Geschlechtsverkehr (mit nachfolgender Schwangerschaft) als Körperverletzung zu werten sei (verneinend: Pasquay, Fn. 3, S. 205-206). Die Parallele wäre lediglich ein Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung der Frau; dazu: BGH in MDR 1963, S. 939, mit Hinweis auf die Konkurrenz mit der Notzucht. 105 Vgl. zu den bei bestimmten Inseminationsmethoden vorkommenden Schmerz- und Krampfzuständen: Beuerlein (Fn. 7), S. 12 ff; Pasquay (Fn. 3), S. 74 und 204.
Die humane artifizielle Insemination
115
Willen an ihr vorgenommenen Inseminierung Ekel oder Abscheu, Schreck oder andere starke Gemütsbewegungen erleidet104 und im einen wie im anderen Falle ihr körperliches Wohlbefinden nicht nur unerheblich beeinträchtigt wird. - Tritt jedoch weder eine solche Folge noch eine Schwangerschaft ein, so ist die - folgenlose107 - ohne Einwilligung der Frau erfolgte Insemination als solche nicht unter dem Gesichtspunkt der Körperverletzung strafbar. Hier bestehen mithin Lücken im Strafschutz, die jedoch anderweitig geschlossen werden. [182] 2. Die ohne Einwilligung der Frau oder ihres Mannes vorgenommenen (homologen oder heterologen) Inseminationen erfüllen nämlich den Tatbestand der Beleidigung (§ 185 StGB). Begrifflich ist die Beleidigung ein Angriff auf die Ehre eines anderen durch Kundgebung der Mißachtung oder Nichtachtung, die tätlich oder nichttätlich geschehen kann108. Unter Ehre i. S. des § 185 StGB versteht die Rechtsprechung dabei den aus dem sittlichen und sozialen Persönlichkeitswert entspringenden Achtungsanspruch109. Daraus ergibt sich110: Wer ohne oder gegen den Willen einer Frau eine Insemination an ihr vornimmt, würdigt die Frau durch Negierung ihres Selbstbestimmungsrechts zum bloßen Objekt einer Fortpflanzungsmanipulation herab. Wer den Samen eines Mannes heimlich zu einer Insemination verwendet, setzt sich in einer die geschuldete Achtung verletzenden Weise über das höchstpersönliche Recht des Mannes zur Entscheidung über die Fortpflanzung hinweg. Und wer ohne Wissen des Mannes bei dessen Ehefrau fremden Samen inseminiert, drückt in gravierender Weise seine Geringschätzung der persönlichen Stellung des Mannes in Ehe und Familie aus111. In allen diesen Fällen ändert sich am Vorliegen einer strafbaren Beleidigung auch dann nichts, wenn die Frau oder der Mann durch eine
106 Vgl. dazu: Pasquay (Fn.3), S.211; Helling (Fn.7), S. 106. - Allgemein: Dreher (Fn. 57), Rdn.4 zu § 2 2 3 StGB. 107 Die Körperverletzung ist ein Erfolgsdelikt. 108 Vgl. BGHSt. Bd. 1, S. 288 ff; Bd. 11, S.67ff. 109 Vgl. die Nachw. wie Fn. 108; ferner: Lackner (Fn.94), Vorbem. 1 vor § 185 StGB; Lenckner in Schönke-Schröder (Fn. 100), Vorbem. 1 vor § 185 StGB, mit Übersicht über den Meinungsstand. 1,0 Vgl. zum folgenden näher: Giesen (Fn.8), S.229ff; Pasquay (Fn.3), S.211 ff; Helling (Fn.7), S. 105ff; Hanack (Fn. 1), S. 192; Kohlhaas (Fn.78) in Der Gynäkologe 1971, S. 167. 111 Der (mindestens bedingte) Vorsatz wird in aller Regel unproblematisch sein. Das gilt auch für die seltsamen Fälle eines „frommen Betrugs", der der Frau Aufregungen ersparen soll (vgl. Schwarzhaupt in Niederschriften, Fn. 12, Bd. 10, S.325); denn es ist kaum denkbar, daß dem Täter dabei nicht bewußt wäre, daß er sich über das Selbstbestimmungsrecht der Frau hinwegsetzt, und daß er nicht in Kauf nähme, die Frau dadurch zum bloßen Objekt herabzuwürdigen. Eine Beleidigungsabsicht ist bei § 1 8 5 StGB nicht erforderlich.
116
Medizinisch-juristische Probleme im Strafrecht
Täuschung - etwa durch Vorspiegelung einer Untersuchung - zu einer (scheinbaren) Einwilligung veranlaßt worden sind. Denn der infolge der Täuschung bestehende Mangel des Verständnisses von der Ehrenrührigkeit des Eingriffs macht die „Einwilligung" unwirksam112. Die Strafbarkeit der nichtkonsentierten homologen und heterologen Insemination als Beleidigung (der Frau und/oder des Mannes) erfaßt alle [183] Beteiligten: als Täter den Arzt oder Nichtarzt, der sie vornimmt; als Anstifter den, der sie veranlaßt, und als Gehilfen den, der sie bewußt - wie zumeist der Samenspender113 - unterstützt. Dabei droht dem Täter der tätlichen Beleidigung an der Frau immerhin eine Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren. Die Strafnorm gegen Beleidigung hat hier also eine echte „lückenschließende Funktion"114. Doch kommen je nach Sachlage noch andere Strafnormen hinzu: 3. Wird eine Frau mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel115 zur Duldung - das heißt: zum Geschehenlassen, zur Ertragung - einer Inseminierung gezwungen, so liegt darin eine Nötigung, bei der übrigens schon der Versuch strafbar ist (§240 Abs. 1 und 3 StGB). Diese rechtliche Würdigung gilt nicht nur für die Erzwingung einer heterologen, sondern auch einer homologen Inseminierung, da das deutsche Recht eine „zwangsweise Selbsthilfe" gegenüber einem die Fortpflanzung verweigernden Ehegatten nicht anerkennt116. Dabei kann - namentlich bei der abgenötigten heterologen Insemination - durchaus ein strafschärfender besonders schwerer Fall117 der Nötigung in Betracht kommen (§240 Abs. 1, 2. Halbsatz, StGB). Dann droht dem Täter eine Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren (sonst bis zu 3 Jahren). Es kann also keine 112 Vgl. dazu Herdegen in LK (Fn. 93), Rdn. 19 zu § 185. - In Fällen dieser Art läßt sich oft auch sagen, daß zu einem solchen Eingriff überhaupt keine (auch keine „unwirksame") Einwilligung vorliegt. - Das Gesagte gilt entsprechend auch für die zuvor erörterte Körperverletzung. 113 Vgl. dazu oben zu und mit Fn. 59. 114 Da es für den Bereich der artifiziellen Insemination keine besonderen Strafvorschriften gibt, tauchen die sonstigen Bedenken gegen eine die Grenzen solcher „spezieller" Strafnormen sprengende „Lückenbüßerfunktion" des §185 StGB nicht auf; vgl. dazu allgemein: BGHSt. Bd. 16, S. 58 ff (63); Lackner (Fn.94), Anm.3a zu §185 StGB; Herdegen in LK (Fn. 93), Rdn. 14 a. E. zu § 185 StGB. 115 Vgl. zu diesen Begriffen statt vieler: Schäfer in LK (Fn. 93), Rdn. 5 ff und 44 ff zu §240 StGB. 116 Vgl. dazu Giesen (Fn.8), S.228; im Ergebnis ebenso: Pasquay (Fn.3), S.212; Helling, (Fn. 7), S. 106ff; Hanack (Fn. 1), S. 192; Kohlhaas (Fn.78) in Der Gynäkologe 1971, S. 166. - Auch ein mit Gewalt oder Drohung erzwungener ehelicher Beischlaf kann den Tatbestand der Nötigung (§240 StGB) erfüllen; vgl. dazu: Lenckner in SchönkeSchröder (Fn. 100), Rdn. 2 zu § 177 StGB. 117 Vgl. zu diesem Begriff statt vieler: Dreher (Fn.57), Rdn. 1 ff zu §243 StGB, mit Nachw.
Die humane artifizielle Insemination
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Rede davon sein, daß der Nötigungstatbestand der spezifischen Schwere der abgenötigten Insemination nicht gerecht werde118. Unter den Begriff der „Gewaltanwendung" im Sinne des Nötigungstatbestands fallen nach heute herrschender Meinung auch die (als solche gewaltlose) Beibringung von Betäubungsmitteln (Narkose) und die Anwendung [184] von Hypnose™. Doch kommt in diesen Fällen zugleich eine Freiheitsberaubung (§239 StGB) in Frage120, weil mit Narkose und Hypnose in aller Regel eine - zeitlich nicht ganz unerhebliche121 - Aufhebung der Fortbewegungsfreiheit verbunden sein wird. Die mit einem (auch nur vorübergehenden) Freiheitsentzug verbundenen Fälle der abgenötigten Insemination sind also noch unter diesem zusätzlichen Gesichtspunkt strafbar122. III. Nun läßt sich in doppelter Hinsicht das Fazit ziehen: 1. Ein generelles strafrechtliches Verbot der heterologen Insemination kann heute ernstlich nicht mehr erwogen werden, weil es mehr Schaden als Nutzen stiften würde. Die Frage, ob anders zu entscheiden sein wird, wenn einmal in der Zukunft die Risiken der heterologen Insemination, die es - insbesondere für das Kind - durchaus geben kann, „die Toleranzgrenze des sozial Erträglichen"123 übersteigen, kann vorerst bei uns als Zukunftsvision getrost kommenden Zeiten überlassen bleiben. Bis dahin sollten wir uns „in dubio pro libertate" entscheiden124 und die heterologe Insemination dem Gewissen der Beteiligten überlassen125. 2. Die geschilderten Mißbräuche der homologen Insemination und die qualifizierten Fälle der heterologen Insemination werden regelmäßig 118
So zu Unrecht: Giesen (Fn. 8), S.229, mit Nachw. Vgl. dazu BGHSt, B d . l , S. 145ff; Maurach-Schroeder (Fn.96), S.125; Schäfer in LK (Fn. 93), Rdn. 10 ff zu §240 StGB. 120 Vgl. dazu RGSt. Bd. 61, S. 239 ff (241); Maurach-Schroeder (Fn. 96), S. 135; Schäfer in LK (Fn. 93), Rdn. 18 zu § 239 StGB. 121 Vgl. zu diesem Erfordernis näher: Schäfer in LK (Fn.93), Rdn. 21 zu §239 StGB, mit Nachw. 122 Ebenso: Pasquay (Fn.3), S.212, mit Nachw.; Helling (Fn.7), S.107; Hanack (Fn. 1), S. 192. 123 Vgl. dazu hier: Kaiser (Fn. 9), S. 94; Kaiser (Fn. 2), S. 16; Lenckner (Fn. 9) in Evang. Staatslexikon, 2. Aufl. 1975, Sp. 1009. - Allgemein zum Toleranzprinzip in der Gesetzgebung: Müller-Dietz (Fn.70), S. 22ff; Werner, Recht und Toleranz, in: Recht und Gericht in unserer Zeit, 1971, S. 420 ff. 124 Ebenso: Kaiser (Fn. 9), S. 94-95. - Allgemein zu dem Prinzip „in dubio pro libertate": Müller-Dietz (Fn.70), S.40ff; Lenckner (Fn.70) in Tübinger Festschrift 1977, S. 239ff (251); Günther (Fn. 70) in JuS 1978, S. 8 ff (10). 125 Ebenso: Alternativ-Entwurf (Fn.64), S. 75. 1,9
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Medizinisch-juristische Probleme im Strafrecht
durch andere bestehende Strafvorschriften erfaßt. Dies ist dort, wo die Strafnormen gegen Körperverletzung, Nötigung und Freiheitsberaubung [185] eingreifen, ein durchaus adäquater Strafschutz. Wo - selten genug - nur Strafbarkeit wegen Beleidigung in Betracht kommt, bietet das geltende Recht - auch bei Ausschöpfung des Strafrahmens — freilich nur eine Notlösung. Solange indessen diese Fälle nur ein literarisches Dasein fristen126 - ihre praktische Relevanz ist in der Bundesrepublik ja nicht dargetan - mag es dabei sein Bewenden haben. „Lehrbuchkriminalität" ist ein Fall für geistvolle Glossenautoren127, nicht aber für den Gesetzgeber.
126 127
So: Pasquay (Fn.3), S.266. Vgl. Jäger, Glosse über Lehrbuchkriminalität, in MSchrKrim. 1973, S. 300 ff.
Genese und Probleme einer Legaldefinition dargestellt am Beispiel des Schwangerschaftsabbruchs* Legaldefinitionen sind seit altersher ein - auch im Strafrecht - oft benutztes Mittel der Gesetzestechnik 1 ; sie sind längst zu einem Sujet der Gesetzgebungslehre geworden 2 . Ihr Zweck ist ein doppelter: Rein äußerlich vereinfachen und entlasten sie durch Regelung des gesetzlichen Sprachgebrauchs jene Normen, die mit dem (legaldefinierten) Kurzbegriff arbeiten 3 . Inhaltlich bewirken sie eine authentische Gesetzesinterpretation, indem - und soweit - sie den Begriffsinhalt autoritativ festlegen und damit zugleich die Reichweite der davon betroffenen Strafnormen abgrenzen 4 . Dabei kann es sein, daß die Legaldefinitionen einen durch Rechtsprechung und Rechtslehre bereits geklärten Begriffsinhalt (lediglich) positivieren, aber auch, daß sie klärend und entscheidend in einen Meinungsstreit eingreifen oder gar in Neuland vorstoßen 5 . Immer stellt sich dabei für den Gesetzgeber die Frage, ob eine gesetzliche Begriffsfestlegung notwendig oder doch angebracht ist; in den beiden letztgenannten Fallgruppen hängt zudem viel davon ab, ob die Problematik für eine gesetzliche Festlegung bereits „reif" ist6. Legaldefinitionen teilen das Schicksal aller gesetzten Normen: Sie sind in der Regel selbst auslegungsbedürftig 7 , sie haben nicht selten Mängel und gelegentlich mißglücken sie ganz. * Aus: Festschrift für Werner Sarstedt, Verlag Walter de Gruyter, Berlin, 1981, S. 169-187. 1 Zur Geschichte eingehend: Ebel, Uber Legaldefinitionen. Rechtshistorische Studie zur Entwicklung der Gesetzgebungstechnik in Deutschland, 1974; derselbe, Beobachtungen zur Gesetzestechnik des 19. Jahrhunderts, dargestellt insbesondere an der Frage der Legaldefinition, in: Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, 1976, S. 337 ff. - Zur Gegenwart statt vieler: Stratenwerth, Die Definitionen im Allgemeinen Teil des Entwurfs 1962, ZStW 76. Bd. (1964), S. 669 ff. 2 Vgl. Klug, Juristische Logik, 1966, S. 85ff.; Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S.262ff.; Klug, Zur Problematik juristischer Definitionen, in: Gedächtnisschrift für Rödig, 1978, S. 199ff.; Kindermann, Ministerielle Richtlinien der Gesetzestechnik, 1979, S. 58 ff. 3 Vgl. BT-Drucks. IV/650, S. 114. 4 Vgl. Maurach/Zipf, Strafrecht, Allgem. Teil, Teilband 1, 5. Aufl. 1977, S. 122 ff. 5 Für einen engeren Anwendungsbereich der Legaldefinitionen plädiert: Kindermann wie Fn. 2. 6 Vgl. dazu: Kindermann wie Fn. 2; Stratenwerth wie Fn. 1. 7 Vgl. Noll, Zur Gesetzestechnik des Entwurfs eines Strafgesetzbuchs, JZ1963, S. 297 ff. (299); Maurach/Zipf (Fn.4), S. 124.
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[170] In den folgenden Zeilen geht es nicht um die von der Gesetzgebungslehre entwickelten Kategorien der Legaldefinitionen und auch nicht um eine Darstellung der gesetzestechnischen Bestandteile von Legaldefinitionen. Dieser Beitrag will lediglich die eingangs angedeutete Problematik gesetzlicher Begriffsbestimmungen am Beispiel der Anfangszäsur des strafrechtlichen Lebensschutzes 8 illustrieren: dem Beginn des Strafschutzes gegen Schwangerschaftsabbruch. Aber auch bei dieser bescheidenen Zielsetzung könnte sich die fortdauernde Richtigkeit des alten Satzes ergeben: Omnis definitio in j u r e . . .periculosa est'. Im Zeitalter der Reformhektik könnte das sogar eine nützliche Einsicht sein. U n d wenn bei diesen Betrachtungen Kritik an ungeschliffener Gesetzessprache geübt werden muß, dann mag dies dem verehrten Jubilar, dessen besonderes Faible für geschliffene Formulierungen allen seinen Freunden und Kollegen wohlbekannt ist, aus der Seele gesprochen sein. A. Auch wenn man die Partikulargesetze beiseite läßt, hat der Gesetzgeber seit der Schaffung des R S t G B 1871 immerhin ein Jahrhundert lang das Wesen der Abtreibung (§218 a. F. StGB) in wechselnden Gesetzesfassungen - anfangs sinngemäß, schließlich auch wörtlich - in der „Abtötung einer Leibesfrucht" erblickt10. U n d bis in die Mitte der 60er Jahre unseres Jahrhunderts sprach man einhellig von einer „Leibesfrucht" schon von der Vereinigung von Ei und Samenzelle an. Die biologische Station der Befruchtung bezeichnete also die Anfangszäsur des strafrechtlichen Lebensschutzes. Das änderte sich seit 1966 binnen weniger Jahre grundlegend. Humanbiologische Einsichten und darauf fußende rechtswissenschaftliche Überlegungen führten dazu, daß sich nunmehr die ganz überwie8 Zu dem inzwischen eingebürgerten Begriff „Zäsur" sowie zu den beiden anderen Zäsuren des strafrechtlichen Lebensschutzes - dem Uberwechseln des Strafschutzes vom Schwangerschaftsabbruch auf die Tötungsdelikte sowie dem Ende dieses Strafschutzes -
vgl. meine Erläuterungen in JR 1971, S. 133 ff. und S. 309 ff.
' Quellen-Nachw. bei Ebel in Rödig (Fn. 1), S.338, Anm. 7. 10 §218 Abs. 1 StGB in der ursprünglichen Fassung vom 15.5.1871 (RGBl. 1871, I, S. 127) lautete insoweit: „Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleib tötet, . . . " . Die Neufassung vom 18.5.1926 (RGBl. 1926, I, S.239) lautete: „Eine Frau, die ihre Frucht im Mutterleib oder durch Abtreibung tötet, . . . " . In der Fassung vom 18.3.1943 (RGBl. 1943, I, S. 169) hieß es dann: „Eine Frau, die ihre Leibesfrucht abtötet, . . . " . Diese Fassung blieb bis 1974 unberührt von den späteren Änderungen der §§ 218 ff. StGB (vgl. 3. StÄG vom 4.8.1953 - BGBl. 1953,1, S. 735 - und l . S t r R G vom 25.6.1969 - BGBl. 1969, I, S.645 -). Zur Auslegung der wechselnden Fassungen vgl. die Nachw. in Fn. 11.
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gende [171] medizinische und juristische Lehre zu der Ansicht bekannte, von einer „Leibesfrucht" könne man erst nach der (vollendeten) Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutterschleimhaut der Frau sprechen. Die Gründe für diesen Auffassungswandel habe ich an anderer Stelle eingehend dargetan 11 ; ich brauche sie hier nicht zu wiederholen. Mit dieser neuen Lehre war die Anfangszäsur des strafrechtlichen Lebensschutzes (von der Befruchtung) auf die biologische Station der Nidation hinausgeschoben. Vollzogen war dieser Wandel in der Rechtslehre schon Anfang der 70er Jahre, also bevor die umfassende Reform unseres Abtreibungsstrafrechts einsetzte. Damals bestand jedoch vielfach der Wunsch, daß eine Frage von solcher Bedeutung nicht nur wissenschaftlich geklärt, sondern im Interesse der Rechtssicherheit auch ausdrücklich klargestellt werde. Eine solche „Ratifizierung" des neuen Entwicklungsstandes der Strafrechtslehre12 wäre sehr einfach gewesen; denn solange das Gesetz den objektiven Tatbestand der Abtreibung als „Abtöten einer Leibesfrucht" umschrieb, brauchte dem §218 a. F. StGB nur folgende Legaldefinition beigegeben zu werden 13 : „Im Sinne dieses Gesetzes liegt eine Leibesfrucht vor, sobald die Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter abgeschlossen ist."
Damit wäre festgeschrieben gewesen, was nach der neuen Rechtsmeinung ohnehin galt: Die Anwendung von Mitteln und Verfahren zur Verhinderung der Nidation fiel aus dem Abtreibungstatbestand heraus 14 . Die Beseitigung von extrauterinen Schwangerschaften - ein früher schwieriges Rechtsproblem - erfüllte mangels Einnistung der Leibesfrucht in der Gebärmutter schon nicht den Tatbestand der Abtreibung; eines Rückgriffs auf Rechtfertigungsgründe bedurfte es nicht mehr15. Die bei der früheren Abstellung auf die Befruchtung intrikate Frage, ob eine „Leibesfrucht" auch bei einer Befruchtung in vitro vorliege, war gelöst 15 . U n d da es bei der Tatbestandsumschreibung als „vorsätzliche Abtötung der Leibesfrucht" geblieben wäre, konnte die unter früheren Gesetzesfassungen entstandene, seit Generationen überwundene Frage, ob die aus ärztlicher Sicht notwendige Herbeiführung einer vorzeitigen Geburt ohne
11 Vgl. Lüttger, Der Beginn des Lebens und das Strafrecht, J R 1969, S. 445 ff. = Beiträge zur gerichtlichen Medizin, Bd. XXVII (1970), S. 23 ff. 12 Die Formulierung stammt von Stratenwerth wie Fn. 1. 13 Vgl. Lüttger, Zum Strafschutz des keimenden Lebens, in: 26. Österreichischer Arztekongreß, Van-Swieten-Tagung Wien 1972, Tagungsbericht S. 11 ff. (28). 14 Vgl. Lüttger, J R 1969, S.453. 15 Vgl. Lüttger, J R 1969, S.452.
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[172] Tötungsvorsatz unter §218 a. F. StGB falle16, nicht wieder aufleben, womit wir freilich bereits einen Blick auf das Ende des Leibesfruchtstadiums werfen. Es kam jedoch alles ganz anders. B. Schon der Regierungsentwurf eines 5. Strafrechtsreformgesetzes vom 9. Februar 197217 kündigte einen bedeutsamen Wandel an: Er nannte das Delikt nicht mehr „Abtreibung", sondern „Schwangerschaftsabbruch"; die Tathandlung umschrieb er nicht mehr als „Abtöten der Leibesfrucht", sondern als „Abbrechen der Schwangerschaft" (§218 Abs. 1 des RegE). Die Begriffe „Leibesfrucht" und „abtöten" wären damit aus der Gesetzessprache ausgemerzt gewesen. Zur Bezeichnung der Anfangszäsur des Strafschutzes schlug der Entwurf (in seinem §218 Abs. 5) folgende Definition vor: „Im Sinne dieses Gesetzes beginnt die Schwangerschaft, sobald die Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter abgeschlossen ist."
Die Umbenennung in „Schwangerschaftsabbruch" konnte indessen nicht verschleiern, daß es sich nach wie vor um ein Tötungsdelikt handelte und daß sachlich nach wie vor nichts anderes als die Abtötung einer Leibesfrucht gemeint war18. Die Amtliche Begründung des Regierungsentwurfs umschrieb denn auch den Abbruch der Schwangerschaft als „jede Einwirkung auf die Schwangere oder auf die Leibesfrucht..., die das Absterben der Leibesfrucht im Mutterleib bewirken oder dazu führen soll, daß die Leibesfrucht in nicht lebensfähigem Zustand abgeht"19. Damit hatte die Amtliche Begründung zur Umschreibung des „Schwangerschaftsabbruchs" Zuflucht bei einer akkuraten Wiedergabe der beiden seit jeher anerkannten Begehungsweisen der „Abtötung der Leibesfrucht" gesucht20. Die Begründung für den Wechsel in der Terminologie - der Begriff Abtötung sei unanschaulich; das allgemeine Sprachgefühl verbinde mit dem Wort „abtöten" andere Inhalte21 - war nichtssagend und geradezu unseriös: Generationenlang war der Begriff " Vgl. dazu: Lüttger, Geburtshilfe und Menschwerdung in strafrechtlicher Sicht, in: Festschrift für Heinitz, 1972, S. 359 ff. (371-372), mit Nachw. 17 Vgl. BR-Drucks. 58/72 = BT-Drucks. VI/3434. 18 Vgl. BVerfG Bd. 39, S. 1 ff. (46); Gössel, Abtreibung als Verwaltungsunrecht?, JR 1976, S. 1 ff. " Vgl. BR-Drucks. 58/72, S. 13. 20 Vgl. dazu: Lüttger, JR 1969, S.449, mit Anm. 60-64 dortselbst. 21 Vgl. BR-Drucks. 58/72, S. 12-13.
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[173] „Abtöten der Leibesfrucht" nicht vom Sprachgefühl her angefochten worden. Die alte Fassung traf auch genau den Kern dessen, worum es geht, und war nach ihrem sachlichen Gehalt an Präzision kaum zu übertreffen 22 . D e r Wechsel in der Terminologie war nichts als eine unangebrachte Verharmlosung 23 . Abgesehen von dieser Kaschierung des Unrechtsgehalts der Tat bedeutete es im Rahmen unseres Themas keinen wesentlichen inhaltlichen Unterschied, wenn die im Regierungsentwurf vorgeschlagene Definition nicht den Beginn des Leibesfruchtstadiums, sondern den Beginn der Schwangerschaft umschrieb und dabei (gleichermaßen) an die biologische Station der Nidation anknüpfte. Denn mit der Festlegung des Schwangerschaftsbeginns auf die (vollendete) Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter wären die erwähnten Problemgruppen der Nidationsverhinderung, der extrauterinen Schwangerschaft und der Befruchtung in vitro gleichfalls schon durch den Gesetzestext geklärt gewesen. Daß die geburtshilfliche Herbeiführung einer vorzeitigen Geburt kein „Schwangerschaftsabbruch" sei, hätte sich dann freilich nicht - wie im alten Recht - schon unmittelbar zwingend aus der (vorgeschlagenen) Gesetzesfassung ergeben, sondern erst mittelbar durch Rückführung des Begriffsinhalts auf den tradierten Gehalt der Abtreibung 24 ; ersichtlich deshalb widmete die Amtliche Begründung dieser Klarstellung auch vorsorglich nähere Ausführungen 25 . Eine „Achtung der Geburtshilfe" 2 6 hätte sich also wohl auch auf dem Boden dieses Definitionsvorschlags verhindern lassen. Eine Verbesserung des damals geltenden Rechts enthielt der Entwurf nach alledem nicht; es sollte jedoch noch schlimmer kommen.
22 So mit Recht: Lackner, Die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs, N J W 1976, 5. 1233 ff. (1235). 23 Vgl. dazu statt vieler: Maurach/Schroeder, Strafrecht, Besond. Teil, Teilbd. 1, 6. Aufl. 1977, S. 60, 63, 64; Krey. Strafrecht, Besond. Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 1979, S.57. 24 Treffend dazu: Bockelmann, Strafrecht, Besond. Teil/2, 1977, S.33. 25 Vgl. BR-Drucks. 58/72, S. 13: Die Behandlung ziele hier auf die bestimmungsgemäße Vollendung der Schwangerschaft ab, nicht auf ihren Abbruch. - Daß eine rein sprachliche Argumentation nicht überzeugt, hat Bockelmann (Fn. 24) dargetan. Zur Frage der „Handlungstendenz" vgl. Fn. 42. 26 Vgl. dazu: Lüttger, in Festschrift für Heinitz, 1972, S.372, mit Anm.46 dortselbst.
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c. [174] Das nach einer geradezu turbulenten parlamentarischen Beratung27 verabschiedete S.Strafrechtsreformgesetz vom 18.Juni 197V verzichtete auf eine solche Legaldefinition und umschrieb statt dessen den Tatbestand des Schwangerschaftsabbruchs (in §218 Abs. 1 StGB) wie folgt: „Wer eine Schwangerschaft später als am 13. Tage nach der Empfängnis abbricht, wird . . . bestraft."
Damit war an die Stelle der zunächst geplanten materiell-rechtlichen Begriffsbestimmung des Schwangerschaftsbeginns eine formelle Fristsetzung für die Tathandlung getreten, um die Frühphase zwischen Befruchtung und Nidation aus dem Tatbestand des Schwangerschaftsabbruchs herauszunehmen. Diese Gesetzesfassung hatte schwere Mängel: Schon sprachlich war die Neufassung mißglückt29. Strafbarkeit des Abbruchs „einer Schwangerschaft später als am 13. Tage nach der Empfängnis" bedeutete - umgekehrt gewendet - Straflosigkeit des Abbruchs „einer Schwangerschaft bis einschließlich des 13. Tages nach der Empfängnis". Die Neufassung gab also der Auslegung Raum, daß begrifflich eine „Schwangerschaft" schon von der Empfängnis an vorliege30, obgleich die der Novelle zugrundeliegende neue Rechtsansicht doch erst nach der Nidation von „Schwangerschaft" spricht. Ein solches Mißverständnis konnte sich sinnwidrig bei allen gesetzlichen Vorschriften auswirken, die - hinsichtlich der Beratung der Schwangeren, der Begutachtung der Abbruchsvoraussetzungen, der Werbung für Abbruchmittel und deren Inverkehrbringen - den Terminus „Schwangerschaft" ohne eine derartige zeitliche Eingrenzung verwendeten" ; denn nun drohte die Gefahr, daß dort unter dem Abbrechen der Schwangerschaft auch eine Handlung vor dem 14. Tage seit der Empfängnis verstanden werde, während diese Vorschriften doch sämtlich ebenfalls 27 Vgl. zum Hergang des Gesetzgebungsverfahrens : Fezer, Zum gegenwärtigen Stand der Reform des §218 StGB, GA 1974, S.65iL·, Jung, Reform des §218 StGB durch Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, JuS 1974, S. 601 ff. 28 BGBl. 1974, I, S. 1297. - Vgl. als „Vorläufer" die Formulierungen in BT-Drucks. VI/3137 und 7/375: „Wer in der Zeit zwischen dem 14. Tag und dem Ende des dritten Monats nach der Empfängnis die Schwangerschaft abbricht, . . . " . Wie im späteren Gesetzestext dann schon BT-Drucks. 7/1981 und 7/1981 (neu). 29 Außer Betracht bleiben soll hier, daß es problematisch war, den Begriff „Empfängnis" zu verwenden, solange nicht allseits Einigkeit darüber besteht, daß darunter die Vereinigung von Ei und Samenzelle, also die Befruchtung zu verstehen ist; vgl. dazu: Maurach/Schroeder (Fn. 23), S. 65. 50 Vgl. BT-Drucks. 7/4696, S. 13; Blei, J A 1976, S. 531; derselbe, Strafrecht II. Besond. Teil, 11. Aufl. 1978, S.32. 31
Vgl. §§218 c, 219, 219 a, 219 b StGB i . d . F . des 5.StrRG.
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[175] erst dem Schutz des werdenden Lebens nach dem 13. Tage seit der Empfängnis gelten sollten32. Vor allem aber war die Fixierung auf den 13. Tag nach der Empfängnis viel zu grobschlächtig und die Ursache dogmatischer Ungereimtheiten. Zwar ist die Nidation in der Regel am 13. Tage nach der Empfängnis abgeschlossen; indessen kann dies auch einige Tage davor oder kurz danach der Fall sein33. Das Gesetz „unterstellte" jedoch generell am 13.Tage den Abschluß der Nidation 34 ; das hatte die Wirkung einer unwiderleglichen Vermutung35. Die formelle Fristregel schloß somit die Frühphase bis einschließlich des 13. Tages seit der Empfängnis - aber auch nur diese - schlechthin aus dem Tatbestand aus, gleichgültig, wann die Nidation wirklich stattfand36. Und da die zwingende gesetzliche Fristregel weder eine zeitliche Einengung noch eine zeitliche Ausdehnung durch Rückgriff auf materielle Erwägungen gestattete, waren die Folgen für den Fall einer Diskrepanz zwischen den biologischen Fakten und der gesetzlichen Terminierung vorprogrammiert: Wenn in concreto der Abschluß der Nidation vor dem 14. Tage seit der Empfängnis lag, so war ein Abbruch der dann ja tatsächlich schon vorliegenden Schwangerschaft bis zur Vollendung des 13. Tages gleichwohl tatbestandslos36. Wenn jedoch de facto der Abschluß der Nidation erst nach dem 13. Tage seit der Empfängnis eintrat, so mußte eine nach dem 13. Tage erfolgende, aber noch rechtzeitige Nidationsverhinderung in den Bereich strafrechtlicher Relevanz geraten37. Zumindest letzteres hatte der Gesetzgeber nicht gewollt, beides aber angerichtet. Gewiß, der ominöse 13. Tag ist - wie
32 Vgl. zu dieser Befürchtung: B T - D r u c k s . 7/4696, S . 1 3 ; Laußütte/Wilkitzki, Zur Reform der Strafvorschriften über den Schwangerschaftsabbruch, J Z 1976, S. 3 2 9 ; MüllerEmmert, Die Vorschriften des 1 5 . S t Ä G über den Schwangerschaftsabbruch, D R i Z 1976, S. 164ff. ( 1 6 5 ) ; Dreker/Tröndle, 39. Aufl. 1980, R d z . 4 zu § 2 1 8 . - Daß einzelne Autoren bereits eine solche sinnwidrige Auslegung zu vermeiden suchten (vgl. die Nachw. bei: Schönke/Schröder/Eser, 2 0 . A u f l . 1980, R d z . 2 zu § 2 1 9 d ) , schloß eine derartige Fehlentwicklung (etwa bei Beratungs- und Gutachterstellen) nicht sicher aus. 33 Vgl. dazu die Gutachten in den Niederschriften über das Hearing in der 74., 75. und 76. Sitzung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform des VI. Deutschen Bundestages (im folg.: B T - S A . P r o t . ) vom 10., 11. und 12.April 1972, Prot. VI/2141 ff.; ferner B T SA.Prot. 7 / 2 4 3 3 f . ; B T - D r u c k s . 7/4696, S . 1 3 . - Aus der Literatur etwa: Langmann, Medizinische Embryologie, 4. Aufl. 1976, S . 4 3 ; Martins, Lehrbuch der Geburtshilfe, 9. Aufl. 1977, S. 13; Laußütte/Wilkitzki, J Z 1976, S . 3 3 0 . 34
Vgl. zu dieser „Unterstellung": B T - D r u c k s . V I / 3 1 3 7 , S.3, und 7 / 3 7 5 , S.6.
35
Vgl. R. Schmitt, S. 3 5 6 ff. (357).
Überlegungen zur Reform des Abtreibungsstrafrechts, J Z 1975,
36
Vgl. dazu: Schönke/Schröder/Eser, 18. Aufl. 1976, Rdz. 13 der Vorbem. vor § § 2 1 8 ff. Vgl. B T - S A . P r o t . 7 / 2 4 3 4 ; B T - D r u c k s . 7/4696, S. 13.
37
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[176] später noch näher dargetan wird - in der Regel nicht exakt feststellbar38 und für die Abweichungen zwischen diesem gesetzlichen Stichtag und dem tatsächlichen Abschluß der Nidation gilt nichts anderes. Auch hätten vorsatzausschließende Tatbestandsirrtümer über das gesetzliche Merkmal „später als am 13. Tage nach der Empfängnis" 39 die biologischen Differenzierungen im Umfeld dieses Stichtags praktisch weiter „eingeebnet". Ein solches Uberspielen machte jedoch den Fehler in der gesetzlichen Konzeption nicht ungeschehen. Die Mängel der Gesetzesfassung betrafen aber nicht nur die Fallgruppe der Nidationsverhinderung. Zwar blieb auch jetzt der Fall einer Befruchtung in vitro unproblematisch, weil es hier an einer Schwangerschaft fehlt, solange das in vitro befruchtete Ei nicht bei einer Frau implantiert wird40. Aber der schon für gelöst gehaltene Fall der extrauterinen Schwangerschaft wurde wieder zweifelhaft41, weil die Neuregelung nicht mehr von einer „Einnistung in der Gebärmutter" sprach. Immerhin nahm die herrschende Lehre - wenn auch mit unterschiedlicher Begründung - weiterhin an, daß die geburtshilfliche Herbeiführung einer vorzeitigen Geburt nicht unter den Tatbestand falle42. „Corriger le malheur" war bei alledem ja auch wohl das Gebot der Stunde.
D. Die geschilderte Gesetzesfassung galt jedoch nicht lange. Als das Bundesverfassungsgericht durch Urteil vom 25. Februar 197543 wesentliche Teile der Reform des neuen Abtreibungsstrafrechts für verfassungswidrig erklärte, benutzte der Gesetzgeber die dadurch notwendig gewor38 Vgl. B T - S A . P r o t . 6 / 2 1 5 6 , 2167, 2171, 2177, 2 3 1 8 ; 7 / 2 4 3 3 - 2 4 3 4 ; Dreher, 36. Aufl. 1976, R d z . 4 zu § 2 1 8 ; Schönke/Schröder/Eser wie Fn. 3 6 ; R. Schmitt wie Fn. 35. - Darüber, daß auch der Zeitpunkt des Nidationsabschlusses in der Regel nicht sicher feststellbar ist, vgl. unten zu u. mit Fn. 62. - Z u m Ganzen näher unten Abschnitt D III. 39 Vgl. zu diesem Tatbestandsirrtum: Dreher (Fn. 38), Rdz. 9 zu § 2 1 8 ; Schönke/Schröder/Eser ( F n . 3 6 ) , R d z . 4 9 zu § 2 1 8 . 40 Im Ergebnis ebenso: Dreher (Fn. 38), Rdz. 3 zu § 2 1 8 : „lebende Frucht im weiblichen Schoß, nicht in einer Retorte". 41 Vgl. Dreher (Fn. 38), Rdz. 3 zu § 218. - Die meisten zu § 218 StGB i. d. F. des 5. StrRG erschienenen Kommentierungen übergingen dieses Problem mit Stillschweigen. « Vgl. Dreher ( F n . 3 8 ) , R d z . 6 zu § 2 1 8 ; Lackner, lO.Aufl. 1976, A n m . 2 a zu § 2 1 8 ; derselbe, N J W 1976, S. 1235; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 36), Rdz. 5 zu § 2 1 8 . - Wenn die Literatur (insbesondere Lackner und Eser, a. a. O . ) dabei im Anschluß an B R - D r u c k s . 5 8 / 72, S. 13, argumentierte, es fehle hier an der (vermeintlich nötigen) „Handlungstendenz", so ist dieser Ansatz nicht unbestritten geblieben (vgl. Maurach/Schroeder, Fn. 23, S. 66). Es bedurfte dessen aber auch nicht (vgl. den Text oben zu u. mit Fn. 24 u. 25). 43
B V e r f G E Bd. 39, S. 1 ff.
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dene [177] Novelle, um auch den Anfang der Strafbarkeit wegen Schwangerschaftsabbruchs neu zu formulieren. Das 15. Strafrechtsänderungsgesetz vom 18. Mai 197644 strich die erwähnte formelle Fristregel und brachte (nun als § 219 d S t G B ) folgende - seither unverändert geltende - Legaldefinition: „Handlungen, deren Wirkung vor Abschluß der Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter eintritt, gelten nicht als Schwangerschaftsabbruch im Sinne dieses Gesetzes."
Damit ist an die Stelle der starren Fristregel wieder eine materiellrechtliche Definition getreten, die an die biologisch-medizinischen Fakten der Nidation anknüpft; es ist freilich eine Definition ganz anderer Art, als sie im Regierungsentwurf eines 5. Strafrechtsreformgesetzes vorgeschlagen worden war: Das Gesetz definiert nicht mit Hilfe der Nidation den Beginn der Schwangerschaft, sondern engt den Bereich der Tathandlung ein, indem es aus dem Begriff des „Schwangerschaftsabbruchs" alle vor dem Abschluß der Nidation wirkenden Handlungen aussondert 45 .
I. Diese Fassung ist sprachlich nicht voll geglückt; das hat unnötige Auslegungsfragen zur Folge: Der (insoweit) farblose Text meint nicht „irgendeine" - etwa nur nidationsverzögernde - Wirkung, sondern eine solche Wirkung, die in der Verhinderung des Nidationsabschlusses und damit in der Abtötung des zwar schon befruchteten, jedoch noch nicht in der Gebärmutter fertig eingenisteten Eies besteht 46 . - Daß diese vor dem Abschluß der Nidation wirkenden Handlungen lediglich nicht als Schwangerschaftsabbruch „gelten", kann (wieder) dem Mißverständnis Vorschub leisten, daß an sich schon vor der Nidation (im Rechtssinne) von - wenn auch straflosem - „Schwangerschaftsabbruch" die Rede sein könne; das mag
BGBl. 1976, I, S. 1213. Man kann daher von einer „negativen Legaldefinition" sprechen; so S c h ö n k e / S c h r ö d e r / E s e r (Fn.32), Rdz.6 zu §219d. 46 Vgl. S c h ö n k e / S c b r ö d e r / E s e r (Fn. 32), Rdz. 4 zu § 219 d. - Erst recht ist nicht eine nur empfängnisverhütende Wirkung gemeint, da die Empfängnisverhütung außerhalb der Reichweite des Tatbestands liegt; näher dazu: S c h ö n k e / S c b r ö d e r / E s e r (Fn.32), Rdz.3 zu § 219 d. 44
45
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[ 1 7 8 ] d u r c h a u s z u u n e r w ü n s c h t e n I r r t u m s p r o b l e m e n führen 4 7 . Definition,
die n i c h t ( m e h r ) die „ S c h w a n g e r s c h a f t "
mit Hilfe
Die ihrer
A n f a n g s z ä s u r in der G e b ä r m u t t e r „lokalisiert", s o n d e r n v o n W i r k u n g e n spricht, die zeitlich v o r der N i d a t i o n eintreten, t a u g t sprachlich a u c h n i c h t u n m i t t e l b a r z u m A u s s c h l u ß d e r e x t r a u t e r i n e n S c h w a n g e r s c h a f t aus d e m T a t b e s t a n d 4 8 . D o c h m u ß aus d e m U m s t a n d , d a ß es bei der e x t r a u t e rinen S c h w a n g e r s c h a f t niemals z u einer E i n n i s t u n g in d e r G e b ä r m u t t e r u n d d a h e r a u c h n i c h t z u j e n e m Z u s t a n d k o m m t , den die d e r n e u e n G e s e t z e s f a s s u n g - n u n m e h r expressis verbis - z u g r u n d e l i e g e n d e L e h r e als „ S c h w a n g e r s c h a f t "
begreift, geschlossen w e r d e n , daß
extrauterine
S c h w a n g e r s c h a f t e n ausscheiden 4 9 · 5 0 . W i c h t i g e r als s o l c h e A u s l e g u n g s f r a g e n ist j e d o c h f o l g e n d e s :
II. D e r E r s a t z d e r f r ü h e r e n starren Fristregel d u r c h die jetzige materiellrechtliche D e f i n i t i o n ist n i c h t - w i e vereinzelt a n g e n o m m e n wurde 5 1
-
47 Vgl. Gössel, J R 1976, S. 2. - S. auch Schönke/Schröder/Eser (Fn. 32), Rdz. 7 zu § 218, wo auf die Möglichkeit von Divergenzen zwischen normativem Regelungsbereich und abweichendem außerstrafrechtlichem Sprachgebrauch hingewiesen wird. Daß eine Schwangerschaft erst von der Nidation an vorliegt, entspricht jedoch seit Jahren zunehmend auch der medizinischen Terminologie, von der ja auch Anstöße zur strafrechtlichen Neubesinnung kamen; vgl. die Nachw. bei Lüttger, J R 1969, S. 450 mit Anm. 68-69 dortselbst; ferner: Husslein, Verhütung oder vorzeitige Beendigung einer Schwangerschaft?, in: 26. Österreichischer Ärztekongreß, Van-Swieten-Tagung Wien 1972, Tagungsbericht S. 31 ff. ; Gesenius, Empfängnisverhütung, 3. Aufl. 1970, S. 102.
Daher nach wie vor zweifelnd: Dreher/Tröndle (Fn.32), Rdz.3 zu §218. Im Ergebnis ebenso: Maurach/Schroeder (Fn. 23), S. 65; Rudolphi in: Systematischer Kommentar (SK), Rdz. 2 zu §218; Schönke/Schröder/Eser ('n. 32), Rdz. 4 a zu §218. - Daß bei extrauteriner Schwangerschaft, wie Eser a. a. O. betont, ggf. ein untauglicher Versuch in Betracht komme, mag theoretisch richtig sein, ist aber bei ärztlichem Handeln praktisch kaum vorstellbar; der Arzt müßte ja irrtümlich eine „normale" Schwangerschaft und damit ein taugliches Handlungsobjekt ( = eine in der Gebärmutter eingenistete Frucht) annehmen! Sollte der Täter jedoch irrig glauben, die Beseitigung einer (erkannten) extrauterinen Schwangerschaft sei strafbar, so läge ein Wahndelikt vor. 50 Der Vollständigkeit halber sei hier angefügt, daß die Rechtslehre auch unter der Neufassung aus den früher geschilderten Gründen einmütig der Ansicht blieb, daß ein in vitro befruchtetes Ei als Tatobjekt ausscheidet [vgl. Dreher/Tröndle (Fn. 32), Rdz. 3 zu §218; Schönke/Schröder/Eser (Fn.32), Rdz.4a zu §218] und daß die geburtshilfliche Herbeiführung einer vorzeitigen Geburt keinen Schwangerschaftsabbruch darstellt [vgl. Lackner, 13.Aufl. 1980, Anm.2a zu §218; Dreher/Tröndle (Fn.32), Rdz.6 zu §218; Maurach/Schroeder (Fn.23), S. 66; Schönke/Schröder/Eser (Fn.32), Rdz.5 zu §218; Rudolphi in SK, Rdz. 3 zu §218], 51 Vgl. BT-SA.Prot. 7/2433; Lackner, NJW 1976, S. 1236. 48
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[179] nur eine technische Änderung ohne sachliche Bedeutung; die Novelle hat vielmehr durchaus einige Klärungen bewirkt. So kann trotz der spröden Fassung nicht mehr zweifelhaft sein, daß für die Frühphase bis zum Nidationsabschluß allenthalben („im Sinne dieses Gesetzes") dieselben Einschränkungen des Begriffs „Schwangerschaftsabbruch" gelten. Die bei der früheren Fassung befürchteten terminologischen Divergenzen zwischen §218 StGB einerseits und den übrigen Vorschriften andererseits können also nicht mehr auftreten 52 . Diskrepanzen, wie sie zwischen der früheren starren Fristregel und dem tatsächlichen Abschluß der Nidation mit der Folge rechtlicher Unlösbarkeit denkbar waren, gehören ebenfalls der Vergangenheit an. Denn aus dem Tatbestand fallen alle - aber auch nur solche - Handlungen heraus, deren Wirkung vor dem Abschluß der Nidation eintritt, gleichgültig, wann der potentielle Nidationszeitpunkt sein würde 53 . Dabei stellt das Gesetz nicht auf die Art der Maßnahme, sondern nur auf ihre nidationsverhindernde Wirkung ab54. Daraus ergibt sich ein Mehrfaches: 1. Werden sog. reine Nidationshemmer - also Mittel und Verfahren, die ein bereits eingenistetes Ei gar nicht mehr beeinträchtigen können angewandt, um eine möglicherweise noch nicht erfolgte Nidation zu verhindern, so ist dies selbst dann straflos, wenn die Nidation in Wirklichkeit bereits abgeschlossen war55; insoweit besteht also kein strafrechtliches Risiko mehr. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn der Täter irrig glaubt, eine solche Anwendung eines reinen Nidationshemmers sei strafbar; denn dies wäre ein Wahndelikt 56 . Dennoch ist die landläufige Ansicht, daß bei der Anwendung von reinen Nidationshemmern eine Strafbarkeit schlechthin undenkbar sei, unzutreffend. Will der Täter nämlich eine Entnistung bewirken und verwendet er dazu einen reinen Nidationshemmer, den er infolge von tatsächlichen Fehlvorstellungen über dessen Wirkungsweise für ein Abortivmittel hält, so liegt ein untauglicher Versuch des Schwangerschaftsabbruchs vor, der lediglich für die Schwangere selbst nicht strafVgl. die Nachw. in Fn. 32; ferner: Maurach/Schroeder (Fn.23), S. 65; Schönke/ Schröder/Eser (Fn.32), Rdz.6 zu § 2 1 9 d ; Rudolphi in SK, Rdz. 1 zu §219d. 53 Vgl. BT-SA.Prot. 7/2433-2434; BT-Drucks. 7/4696, S. 13. 54 Vgl. Schönke/Schröder/Eser (Fn.32), R d z . 4 zu §219d. - Der Vorschlag, Mittel, die nur die Einnistung verhindern, (als solche, ihrer Art nach) auszunehmen, ist in den parlamentarischen Beratungen erörtert, aber nicht akzeptiert worden; vgl. BT-SA.Prot. 7/ 2434. 55 Vgl. die Nachw. in Fn. 53; ferner: Schönke /Schröder/Eser (Fn. 32), Rdz. 5 zu §219 d; Rudolphi in SK, Rdz. 2 zu §219d. 56 Vgl. dazu: Schönke/Schröder/Eser (Fn. 32), Rdz. 32 zu § 218; Lackner (Fn. 50), Anm. 5 zu §218. 52
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bar [180] ist (§218 Abs. 4 S. 2 StGB). Die strafrechtliche Relevanz dieses Verhaltens ist die Folge davon, daß das Gesetz nicht bestimmte Mittel ihrer Art nach von einer Anwendung des §218 StGB ausschließt57 und daß §219 d StGB nur die Sicherung der Straflosigkeit einer Nidationsverhinderung - also einer „Schwangerschaftsverhütung" - bezweckt58, jedoch darüber hinaus nicht in die Voraussetzungen der Strafbarkeit wegen „Schwangerschaftsabbruchs" eingreift und folglich die dafür geltenden allgemeinen Regeln - einschließlich der Grundsätze über die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs - unberührt läßt. Daraus folgt, daß §219 d StGB auch bei Anwendung reiner Nidationshemmer Straflosigkeit nur demjenigen sichert, der damit - gleichgültig, ob de facto noch rechtzeitig - eine Einnistung verhindern will5', nicht aber demjenigen, der damit - wenn auch auf untaugliche Weise - eine Entnistung herbeizuführen sucht. 2. §219 d StGB gestattet jedoch eine Nidationsverhinderung nicht nur durch Anwendung reiner Nidationshemmer, sondern auch durch Einsatz solcher Mittel und Verfahren, die - bis hin zur (vorsorglichen) Ausschabung - an sich auch abortiv wirken könnten. Die Anwendung solcher ambivalent wirkender Maßnahmen fällt jedoch, wie Wortlaut und Sinn des § 219 d StGB zeigen, nur dann aus dem objektiven Tatbestand des §218 StGB heraus, wenn sie ihre Wirkung tatsächlich vor Nidationsabschluß entfalten, also nicht in Wirklichkeit eine bereits eingenistete Frucht abtöten60. Nun besteht bei manchen heute praktizierten Mitteln und Verfahren noch Unsicherheit darüber, ob sie nur nidationsverhindernd oder auch abortiv wirken können61; aber es ist wie später noch näher erörtert wird - in aller Regel auch kaum möglich, den Zeitpunkt des Nidationsabschlusses genau festzustellen62. Bei der Wertung dieses Befundes wollen wir die Schwierigkeit, für den kritischen zeitlichen Umkreis um den potentiellen Nidationszeitpunkt den
Vgl. die Nachw. in Fn. 54. Vgl. die Nachw. in Fn. 53. 59 Treffend zum subjektiven Tatbestand hinsichtlich des § 2 1 9 d StGB: Blei, JA 1976, S. 531. 60 Vgl. BT-SA.Prot. 7/2434; Schönke/Schröder/Eier (Fn.32), Rdz.4 zu § 2 1 9 d ; im Ergebnis ebenso: Lackner (Fn.50), A n m . 2 d zu § 2 1 8 ; derselbe, N J W 1976, S.1236; ebenso, aber in sich widersprüchlich: Dreher/Tröndle (Fn.32), Rdz.4 zu § 2 1 8 ; unklar: Maurach/Schröder (Fn. 23), S. 65. - Damit hat die Neufassung eine Auslegung gesetzesfest gemacht, die sich bereits unter früheren Entwürfen und Gesetzesfassungen abzeichnete; vgl. BR-Drucks. 58/72, S. 15-16; Dreher (Fn.38), Rdz.4 zu §218. 57
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Vgl. dazu: BR-Drucks. 58/72, S. 15-16; BT-SA.Prot. VI/2151, 2318; 7/2434. Vgl. BT-SA.Prot. VI/2171, 2177, 2318; 7/2434; Schönke/Schröder/Eser (Fn.32), Rdz.5 zu § 2 1 9 d ; Rudolphi in SK, Rdz.2 zu § 2 1 9 d ; Maurach/Schroeder (Fn.23), S.65; Lackner (Fn. 50), A n m . 2 d zu §218. 61
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[181] objektiven Tatbestand einer Entnistung - und damit eines vollendeten Schwangerschaftsabbruchs - nachzuweisen, ganz beiseite lassen. Wichtiger sind hier die Konsequenzen, die sich bei der Anwendung von (wirklich oder möglicherweise) ambivalent wirkenden Mitteln und Verfahren in der erwähnten Phase aus der Ungewißheit über den tatsächlichen Nidationszeitpunkt für den subjektiven Tatbestand ergeben: Glaubt der Täter, daß die Nidation noch nicht abgeschlossen sei, nimmt er also (schon deshalb) an, daß seine Handlung nur nidationsverhindernd wirke, so befindet er sich in einem vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum 63 . Strafbar ist der Täter hier - je nach Sachlage wegen vollendeten oder versuchten Schwangerschaftsabbruchs 64 - nur dann, wenn er umgekehrt (zumindest) damit rechnet, daß die Nidation möglicherweise schon abgeschlossen sei, und wenn er für diesen Fall (auch) eine Entnistung in Kauf nimmt' 5 . Fehlt es daran, so bleibt die Handlung ohne strafrechtliche Folgen, selbst wenn es tatsächlich zu einer Entnistung kommt. Auf diese Differenzierung des strafrechtlichen Risikos bei Anwendung von ambivalent wirkenden Mitteln in jener objektiv unklaren Grenzsituation wird in anderem Zusammenhang noch einmal einzugehen sein.
III. Mit dieser Schilderung der Struktur der neuen Regelung ist zugleich der Boden bereitet, um die jetzt geltende Gesetzesfassung gegen einige unberechtigte Angriffe in Schutz zu nehmen. 1. Zum einen hat man der Neufassung vorgeworfen, sie habe verglichen mit der früheren formellen Fristregel - medizinisch-biologische Genauigkeit mit einem Verlust an Praktikabilität erkauft 66 . Der Vorwurf ist in dieser Form nicht haltbar; bei seiner Würdigung sind die Regelsituation und deren mögliche Ausnahmen zu unterscheiden. a) Beide Anknüpfungspunkte - der 13. Tag nach der Empfängnis • ebenso wie der Zeitpunkt des tatsächlichen Nidationsabschlusses - sind in aller Regel einer exakten Feststellung entzogen 67 und können gleichermaßen regelmäßig nur annähernd durch eine auf medizinischen Erfah63 Vgl. Rudolphi in SK, Rdz. 12 zu § 2 1 8 ; Schönke/Schröder/Eser (Fn.32), Rdz.27 zu § 2 1 8 ; Dreher/Tröndle (Fn.32) Rdz.9 zu §218. 64 Der Versuch der Schwangeren selbst ist straflos, §218 Abs.4 S.2 StGB. 65 Vgl. Schönke/Schröder/Eser (Fn.32), Rdz.32 zu §218 u. Rdz.2 zu § 2 1 9 d ; Blei, J A 1976, S. 531. - Der Streit um die „richtige" Formel für den bedingten Vorsatz muß auf sich beruhen; näher zum Ganzen unten Abschnitt D III 2 a, bes. zu u. mit Fn. 77. " So Schönke/Schröder/Eser (Fn.32), Rdz.2 zu § 2 1 9 d . 67 Vgl. die Nachw. in Fn.38 u. 62.
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rangen [182] basierende Rückrechnung ermittelt werden, die wie folgt vor sich geht: Auszugehen ist vom Ende der letzten Menstruation; etwa 2 Wochen danach wird der (meist ebenfalls nicht exakter fixierbare) Zeitpunkt der Empfängnis angenommen; der 13. Tag danach ist dann zugleich der durchschnittliche Termin des Nidationsabschlusses; eine Zusammenrechnung beider Zeitabschnitte ergibt, daß in beiden Fällen regelmäßig die ersten 4 Wochen seit dem Ende der letzten Menstruation aus dem Tatbestand des Schwangerschaftsabbruchs ausscheiden 68 . Und selbst wenn man wegen der (nicht ausschließbaren) Möglichkeit, daß der tatsächliche Nidationsabschluß auch noch geringfügig nach dem 13. Tage seit der Empfängnis liegen kann 69 , unter der Geltung der jetzigen Gesetzesfassung jene 4-Wochen-Frist mit Rücksicht auf die forensischen Beweisanforderungen um (maximal) 2 Tage verlängern wollte, so würde sich dadurch in methodischer Hinsicht gar nichts ändern und die Praktikabilität einer so verlängerten Frist wäre um nichts geringer als diejenige der 4-Wochen-Frist. b) Nun ist jedoch vorstellbar, daß einmal Besonderheiten des Einzelfalles eine präzisere Feststellung des tatsächlichen Nidationsabschlusses ermöglichen könnten. Dann wäre in der Tat nicht jene Durchschnittsberechnung, sondern diese exakte Feststellung entscheidend 70 . Wir wollen auch unterstellen, daß dieser Fall schon beim gegenwärtigen Stande der Medizin nicht nur reine Theorie sei und daß er bei weiteren Fortschritten der medizinischen Forschung sogar erhebliche praktische Bedeutung gewinnen würde. Das hätte dann zur Folge, daß jene summarische Berechnung nur „hilfsweise" gelten und immer weiter zugunsten einer im konkreten Fall zutreffenden Feststellung zurückgedrängt würde; solche Feststellungen dürften dann auch mehr Aufwand als die erwähnte Durchschnittsberechnung erfordern 71 . Wer daran aber im Ernst nur den
68 Ebenso zur früheren Gesetzesfassung: Schönke/Schröder/Eser (Fn. 36), R d z . 13 der Vorbem. vor §§ 2 1 8 ff., und zur heutigen Gesetzesfassung: Schönke/Schröder/Eser (Fn. 32), R d z . 5 zu § 2 1 9 d. Im Ergebnis übereinstimmend : Rudolphi in SK, Rdz. 2 zu § 2 1 9 d; Lackner (Fn. 50), A n m . 2 d zu § 2 1 8 . - Zu den biologisch-medizinischen Prämissen vgl. etwa: Langmann ( F n . 3 3 ) , S . 2 2 f f . u. 3 6 f f . ; Martins ( F n . 3 3 ) , S . 1 9 f f . u. 36ff. 69
Vgl. die N a c h w . in F n . 3 3 .
Vgl. zu verwandten Überlegungen: Schönke/Schröder/Eser (Fn. 32), Rdz. 5 zu § 2 1 9 d. 71 E s ist übrigens noch gar nicht ausgemacht, daß Staatsanwalt und Strafrichter unter der Geltung einer formellen Fristregel ohne Zuziehung eines medizinischen Sachverständigen einfach auf Grund von Angaben über das angebliche Ende der letzten Menstruation die 4-Wochen-Durchschnittsfrist berechnen dürften. Juristen sollten sich nicht anmaßen, etwa mögliche medizinische Auffälligkeiten von vornherein durch Rechenexempel unterzupflügen; das verbietet schon die Amtsaufklärungsmaxime. Dann wäre aber der im Text gemeinte zusätzliche forensische Aufwand wohl nicht erheblich, denn es käme nur eine weitere Sachverständigenfrage hinzu. 70
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[183] „Praktikabilitätsverlust" beklagen wollte, müßte schon ein schematisierendes, flottes Verfahren höher werten als eine materiell zutreffende Entscheidung; das wäre ein kaum noch einfühlbares Strafrechtsverständnis. In unserer gedachten Fallgruppe ist es eben genau umgekehrt, als der Vorwurf will: Die formelle Fristregel würde hier „Praktikabilität" mit dem Verlust der Möglichkeit zu biologisch-medizinisch richtiger Entscheidung erkaufen 72 . Demgegenüber ist es ein entscheidender Vorzug des § 219 d S t G B , daß er offen für die Einsichten neuer Forschungen ist. c) Vorstellbar ist jedoch auch noch eine andere Fallkonstellation: Unterstellen wir, der medizinische Befund mache es für den Arzt sicher, daß es bei der Anwendung eines ambivalent wirkenden Mittels noch nicht später als der 11. oder höchstens 12. Tag nach der Empfängnis ist, aber nicht sicher, ob nicht zu diesem Zeitpunkt schon die Nidation abgeschlossen ist. In diesem angenommenen Fall wirkt sich der Unterschied zwischen den beiden erörterten gesetzlichen Modellen drastisch aus: Unter der Geltung der früheren formellen Fristregel hätte der Arzt hier das auch abortiv wirkende Mittel ohne jedes strafrechtliche Risiko bis zur Vollendung des 13. Tages nach der Empfängnis einsetzen können, auch auf die Gefahr hin, daß es dadurch möglicherweise zu einer Entnistung gekommen wäre73. Der „rechtzeitig" terminierte Einsatz des Abortivmittels wäre hier sogar dann strafrechtlich völlig risikolos gewesen, wenn der Arzt auf Grund besonderer medizinischer Umstände sicher gewußt hätte, daß die Nidation schon abgeschlossen war, wenn er also gezielt unter Ausnutzung der gesetzlichen Frist vor dem Ende des 13. Tages eine tatsächlich bereits bestehende Schwangerschaft beseitigt hätte. Spätestens bei dieser Überlegung zeigt sich aber, daß die frühere starre Fristregel in dieser Fallgruppe - für ein unbefangenes, nicht durch die Trauer um gescheiterte Fristenmodelle getrübtes Rechtsgefühl - nur eine „Praktikabilitäts-Verirrung" war, deren Beseitigung ein besonderes Verdienst des Gesetzgebers ist. Mit der Einführung der jetzigen materiellrechtlichen Definition ist unsere Fallgruppe freilich aus dem soeben geschilderten strafrechtlichen „Freiraum" in den Bereich strafrechtlicher Relevanz getreten. Dabei wollen wir den - heute noch eher theoretischen - Fall beiseite lassen, daß 71 Diese prinzipielle Möglichkeit zu richtiger Einzelfallentscheidung ist in rechtsstaatlicher Sicht auch dann bedeutsam, wenn ihre praktische Auswirkung wegen der Schwierigkeit, bei einer Abweichung des tatsächlichen Nidationszeitpunktes von jener Durchschnittsregel den subjektiven Tatbestand zu beweisen, (vorerst noch) gering ist. Die Frage der prozessualen Beweisbarkeit der Tat muß ohnehin von der Frage einer dogmatisch einwandfreien Konzipierung des Tatbestands unterschieden werden. 7 ' Vgl. dazu den Text oben zu u. mit Fn. 36.
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[184] der Arzt im sicheren Wissen, daß die Nidation schon vollendet ist, an dem gedachten 11. oder 12. Tag nach der Empfängnis ein auch abortiv wirkendes Mittel einsetzt; hier läge heute ein strafbarer, mit direktem Vorsatz begangener Schwangerschaftsabbruch vor. Praktisch bedeutsam ist vorerst nur der andere Fall der Unsicherheit des tatsächlichen Nidationseintritts im genannten kritischen Zeitraum; auch hier kann heute eine strafrechtliche Haftung des Arztes beim Einsatz ambivalent wirkender Mittel eingreifen; sie hängt aber - wie früher näher erörtert 74 - davon ab, ob der Arzt hinsichtlich der möglichen Entnistung mit bedingtem Vorsatz handelt oder nicht. Und damit leitet unser Beispiel zu einem anderen gegen die jetzige Fassung des Gesetzes erhobenen Einwand über. 2. Man hat nämlich auch das strafrechtliche Risiko, dem der Arzt auf dem Boden der materiallrechtlichen Definition ausgesetzt sei, beklagt 75 : Zeitlichen Spekulationen sei der Arzt im Grunde nur bei reinen Nidationshemmern enthoben. Wenn ihm dagegen lediglich ein u . U . auch abortiv wirkendes Verfahren - wie etwa eine Ausschabung - bleibe, dann könne er diesen Weg nur wählen, wenn er aufgrund entsprechender zeitlicher Berechnungen die Nidation noch nicht für abgeschlossen zu halten brauche. Damit werde gerade der gewissenhafte Arzt einem gesteigerten Risiko ausgesetzt, das dem Gesetzgeber völlig entgangen zu sein scheine. Denn während der „großzügige" Arzt sich durch die Unsicherheit des Nidationszeitpunktes dazu verleitet sehen könnte, diesen möglichst spät anzusetzen und damit notfalls über einen Tatbestandsirrtum Straffreiheit zu erlangen, handele der einen früheren Nidationsabschluß einkalkulierende Arzt mit bedingtem Schwangerschaftsabbruchsvorsatz und mache sich damit wegen Versuchs strafbar. - Der Einwand ist gewiß auf den ersten Blick frappierend, bei näherem Zusehen aber nicht überzeugend. a) Dabei wollen wir uns nicht damit aufhalten, daß der von dem „großzügigen" Arzt so schlau eingefädelte Tatbestandsirrtum durchaus forensischen Erfolg haben kann, wenn er nicht zu widerlegen ist; denn das wäre nur eine ganz normale Konsequenz aus den prozessualen Anforderungen an den Beweis des subjektiven Tatbestands. - Wir wollen auch nicht über den „gewissenhaften" Arzt meditieren, der zunächst sorgfältig den Zeitpunkt der Nidation berechnet, aber dann, wenn er dessen Überschreitung für möglich hält, gleichwohl ein Mittel einsetzt, das auch abortiv wirken kann, und dabei den möglichen Taterfolg einer Entnistung in Kauf nimmt 76 . Doch wenn sich hier unwillkürlich die erstaunte 74 75 76
Vgl. dazu den Text oben zu u. mit Fn. 63-65. Vgl. zum folgenden: Schönke/Schröder/Eser (Fn. 32), Rdz.2 zu §219d. Vgl. den Text zu u. mit Fn. 65 u. 77.
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[185] Frage aufdrängt, was denn an der hier Platz greifenden Strafbarkeit befremdlich sein soll, ist die Einsicht nicht mehr weit, daß der geschilderte, gegen den Gesetzgeber erhobene Vorwurf auf eine seltsame Weise gegen Selbstverständlichkeiten Sturm läuft: Wenn ein Delikt nur bei direktem und bedingtem Vorsatz, nicht aber bei Fahrlässigkeit strafbar ist, dann verläuft die Grenze zwischen Strafbarkeit und Straflosigkeit nach herrschender - wenn auch in manchen Nuancen zerstrittener - Rechtsprechung und Lehre stets nach diesem Grundmodell: Der Täter, der - wenn auch wegen noch so großer Gedankenlosigkeit oder Sorglosigkeit - die Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands (namentlich den Eintritt des etwaigen Taterfolgs) nicht für möglich hält, geht (schon deshalb) straflos aus. Derjenige, der - vielleicht nur wegen besonders großer Aufmerksamkeit - die Tatbestandsverwirklichung als möglich ansieht, ist strafbar, wenn er sie in Kauf nimmt, jedoch straflos, wenn er - selbst pflichtwidrig - darauf vertraut, daß sie nicht eintreten werde". Für §218 StGB, der nur bei direktem und bedingtem Vorsatz, nicht aber bei Fahrlässigkeit eingreift, gilt nichts anderes. Der Arzt steht also bei §218 StGB dann, wenn er den Abschluß der Nidation für möglich hält, vor keinem anderen strafrechtlichen Risiko als jeder Rechtsunterworfene bei jedem mit bedingtem Vorsatz begehbaren Delikt, sobald er dessen tatbestandliche Verwirklichung für möglich hält; der Anruf des Gesetzes ist hier wie dort der gleiche. An diesem Gleichklang des §218 StGB mit den allgemein geltenden Prinzipien der Vorsatzstrafbarkeit ist nichts Unbilliges auszumachen78. Das darin liegende Risiko könnte auch auf dem Boden der herrschenden Vorsatzlehren 7 ' nur durch eine Reduzierung des § 218 StGB
77 Der Text geht von der herrschenden Meinung aus, daß zum bedingten Vorsatz ein intellektuelles und ein voluntatives Element gehört; doch ist hier nicht der Ort, um auf alle in Rechtsprechung und Lehre vertretenen Formeln für das voluntative Element des bedingten Vorsatzes und für die Abgrenzung des bedingten Vorsatzes von der bewußten Fahrlässigkeit einzugehen. Vorzügliche Ubersichten über den gesamten Meinungsstand finden sich bei : Schönke/Schröder/Cramer (Fn. 32), Rdz. 68 ff. zu § 15 ; Schroeder in Leipziger Kommentar (LK), 10. Aufl. 1980, Rdz. 85 ff. zu §§15, 16; Dreher/Tröndle (Fn.32), Rdz. 9 ff. zu §15. 78
Diese Überzeugung könnte wieder Allgemeingut werden, wenn mit zeitlichem Abstand von dem erbitterten Kampf um die Fristenlösung die Einsicht wächst, daß der Schwangerschaftsabbruch in dem verbliebenen Restbereich ein Delikt wie jedes andere ist. 75 Vgl. Fn. 77.
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[186] auf dolus directus beseitigt werden; ein solcher Weg stand und steht jedoch mit Recht außer jeder Diskussion 80 . b) Die soeben erörterte Kritik am jetzt geltenden Recht geht freilich erkennbar von der Annahme aus, unter der Geltung der früheren formellen Fristregel hätte es solche Differenzierungen und Risikoprobleme nicht gegeben. Daß es damals jedoch im Grundsatz gar nicht anders war, mag folgendes Beispiel zeigen, bei dem wir nur die Unsicherheit über den tatsächlichen Nidationseintritt gegen die Unsicherheit über den 13.Tag nach der Empfängnis auswechseln: Wenn damals ein Arzt beim Einsatz eines auch abortiv wirkenden Mittels - etwa veranlaßt durch die früher geschilderten objektiven Unsicherheiten der Fristberechnung 8 ' - mit einer (tatsächlich schon erfolgten) Überschreitung des 13. Tages seit der Empfängnis nicht gerechnet hätte, so wäre er straflos geblieben82. Umgekehrt hätte sich ein Arzt, der irrig eine Überschreitung jenes Stichtags für möglich gehalten hätte, eines untauglichen Versuchs des Schwangerschaftsabbruchs schuldig gemacht, wenn er das ambivalent wirkende Mittel dennoch eingesetzt und dabei die Fristüberschreitung in Kauf genommen hätte83. Beides wäre die unvermeidliche Folge davon gewesen, daß das gesetzliche Merkmal „später als am 13. Tage nach der Empfängnis" ein Tatbestandsmerkmal war84 und nicht etwa eine objektive Bedingung der Strafbarkeit. Die formelle Fristregel hatte also keineswegs einen Kahlschlag der Probleme des bedingten Vorsatzes zur Folge85. Diese Einsicht zeigt, daß die durch §219 d StGB geschaffene Möglichkeit zu biologisch-medizinisch richtigen Entscheidungen auch nicht durch eine prinzipielle Änderung oder gar Steigerung der strafrechtlichen Haftung im Bereich des bedingten Vorsatzes erkauft worden ist.
80 In der Literatur der letzten Jahre ist nur die - gewissermaßen umgekehrte - Frage diskutiert worden, ob - insbesondere im Hinblick auf medikamentöse und geburtshilfliche Risiken - die berufsfahrlässige Abtötung (und Verletzung) der Leibesfrucht pönalisiert werden soll; vgl. dazu: Lüttger (Fn. 16) in: Festschrift für Heinitz, 1972, S. 369-370, mit Nachw. in Anm. 33 dortselbst. - Zur Historie der fahrlässigen Abtreibung vgl. Lüttger, Der Beginn der Geburt und das Strafrecht; Probleme an der Grenze zwischen Leibesfruchtcharakter und Menschqualität, JR 1971, S. 133 ff. (137), mit Nachw. in Anm. 37-39 dortselbst. 81 Vgl. dazu oben Abschnitt D III 1 a. 82 Vgl. zu diesem Tatbestandsirrtum die Nachw. mit Fn. 39. 83 Vgl. dazu näher den Text oben zu u. mit Fn. 77. 84 Das war ersichtlich unbestritten; vgl. auch Fn.39. 85 Solche Überlegungen zur dogmatischen Konzeption haben nichts mit der anderen Frage nach der prozessualen Beweisbarkeit zu tun. Vgl. auch Fn. 72.
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E. [187] Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück und ziehen wir das Fazit: Als der Gesetzgeber sich anschickte, die Anfangszäsur des strafrechtlichen Lebensschutzes beim Abschluß der Nidation anzusetzen, befand er sich auf dem rechten Wege. Die Problematik war auch „reif" für eine gesetzliche Regelung, denn die Wissenschaft hatte die Voraussetzungen dafür geklärt. Der Gesetzgeber brauchte nur festzuschreiben, was nach herrschender Auslegung ohnehin galt; eine solche Positivierung war wegen der Bedeutung der Materie durchaus angebracht. Diese Festschreibung konnte sich auch auf einen breiten parlamentarischen Konsens stützen 86 ; sie war daher kein politisch und ideologisch motivierter Machtspruch der Parlamentsmehrheit 87 , ganz im Gegensatz zur Novellierung anderer Teile des Abtreibungsstrafrechts 88 . Die Suche nach einer Definition für den Beginn des Strafschutzes gegen Schwangerschaftsabbruch geriet dann mit ihren geradezu wirren Regelungsversuchen freilich eher zu einer Tragikomödie. Unverkennbar hat der ganz auf den Streit um Fristen- oder Indikationenmodell fixierte Gesetzgeber lästige andere Fragen nur noch lässig behandelt. Zwar ist die jetzt geltende materiellrechtliche Definition fraglos besser als die verflossene formelle Fristregel; aber die bestmögliche Lösung hat der Gesetzgeber verfehlt. U m diese Chance hat der Gesetzgeber sich freilich selbst gebracht, als er die Abtötung der Leibesfrucht zum Schwangerschaftsabbruch verharmloste. Nimmt man den Einfluß des Strafrechts auf die Wertvorstellungen der Bevölkerung so ernst wie das Bundesverfassungsgericht 89 , dann mag auch von solcher Kaschierung des Unrechtsgehalts der Tat eine Gefahr für die Geltung des Rechts ausgehen. Es gilt auch hier: Habent sua fata definitiones.
86 In den parlamentarischen Beratungen ist die Abstellung auf den Nidationsabschluß so gut wie unstreitig gewesen; vgl. dazu etwa: BT-Drucks. VI/3434, S. 15-16, 45; 7/375, S.6; 7/443; 7/554, S.6; 7/561; 7/1981 (neu), S. 1, 5, 13; 7/1982, S.4-5; 7/1983, S.4-5; 7/ 1984 (neu), S.4-5; 7/4211; 7/4696, S.13. - BVerfGE Bd.39, S. 1 ff., hat dies nicht beanstandet. 87 Vgl. Lüttger wie Fn. 13. 88 Eindrucksoll dazu: Lackner, N J W 1976, S. 1234-1235. 89 Vgl. BVerfGE Bd.39, S.57-58.
Geburtsbeginn und pränatale Einwirkungen mit postnatalen Folgen Bemerkungen zu BGH - 3 StR 25/83 vom 22.4.1983*+ Das vorbezeichnete Urteil hat für den strafrechtlichen Lebensschutz und zwar nicht nur für die strafrechtliche Haftung von Ärzten, Geburtshelfern und Hebammen, sondern weit darüber hinaus - erhebliche Bedeutung; ich stimme seiner Rechtsauffassung weitgehend zu. In den folgenden Bemerkungen soll die Tragweite der Entscheidung für die von ihr berührten medizinisch-juristischen Grenzprobleme herausgestellt werden; andere durch das Urteil aufgeworfene allgemeine Fragen (ζ. B. zum Zusammentreffen von positivem Tun und Unterlassen; zu §357 StPO) bleiben außer Betracht. I. Zur Definitionskompetenz Als die Massenmedien Ende April über das Urteil berichteten, waren zahlreiche ablehnende - oft geradezu empörte - Leserbriefe in der Tagespresse die Folge; nicht wenige stammten von Medizinern. Manche dieser Leserbriefe glaubten, dem BGH entgegenhalten zu können, daß „menschliches Leben" doch mit der Befruchtung des weiblichen Eies durch den Samen des Mannes entstehe oder daß die Eigenschaft als „Mensch" - wenn nicht schon mit der Befruchtung, dann doch spätestens mit dem Abschluß der Organentwicklung (= Ende des 3. Schwangerschaftsmonats) beginne. Darin zeigten sich auf eine ganz typische Weise die Verständnisschwierigkeiten, denen eine juristische Exegese (straf-)rechtlicher Begriffe bei Nichtjuristen ausgesetzt ist1. Denn es ging weder um die Frage, wann „menschliches Leben" entsteht2, noch um die Frage, wann das „Menschsein" in ethischer oder biologischer Sicht beginnt, sondern allein um die strafrechtliche Abgrenzung zwischen Schwangerschaftsabbruch und Tötungsdelikten3. Diese Zäsur liegt aber nach dem Willen des Gesetzes (§217 StGB) beim
* Aus: Neue Zeitschrift für Strafrecht 1983, S. 481-485. Vgl. BGHSt. Bd. 31, S. 348 ff 1 Vgl. die Beispiele bei: Lüttger in Beiträge zur gerichtlichen Medizin, 1970, S. 23 ff u. 41-42. 2 Vgl. dazu: Lüttger in JR 1969, S445 ff 3 So mit Recht der BGH. +
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„Beginn der Geburt", mit dem sich im Strafrecht die rechtliche Qualität einer „Leibesfrucht" in diejenige eines „Menschen" umwandelt. An diesem Begriffspaar hat sich auch dadurch nichts geändert, daß das Gesetz (§218 n. F. StGB) das Handlungsobjekt „Leibesfrucht" nicht mehr erwähnt; denn die verharmlosende Deliktsbezeichnung „Schwangerschaftsabbruch" bedeutet nach wie vor nichts anderes als „Abtötung einer Leibesfrucht" 4 . Der für die Abschichtung zwischen Leibesfruchtcharakter und Menschqualität maßgebende Begriff „Beginn der Geburt" hat nun gewiß eine humanbiologische Fundierung; als Rechtsbegriff mit übrigens stark normativem Gehalt unterliegt er aber der kompetenten juristischen Interpretation 5 ; eine „Definitionsautonomie" der Humanbiologen und Mediziner 6 gibt es auch bei der Frage, wann das „Menschsein" im Strafrecht beginnt, mithin nicht. Da diese Einsicht jedoch offensichtlich vielerorts fehlt, wird der BGH mit Mißverständnissen und Fehldeutungen leben müssen. II. Zum Begriff „Beginn der Geburt" Für den Fall eines „regulären" Geburtsverlaufs bestimmt das Urteil den „Beginn der Geburt" dahin, daß er „nicht vor Einsetzen der Eröffnungswehen" angenommen werden könne; ob er erst mit dem Einsetzen der Treib- und Preßwehen [482] anzusetzen sei, läßt das Urteil ausdrücklich dahingestellt, weil es für die Entscheidung nicht darauf ankam; mit den Besonderheiten beim „nichtregulären" Geburtsverlauf war der BGH nicht befaßt. 1. Unstreitige Begrìffskonturen beim „regulären" Geburtsverlauf Mit der zitierten Aussage des Urteils ist zunächst jene ältere strafrechtliche Lehre, die den „Beginn der Geburt" erst beim teilweisen Austritt des Kindes aus dem Mutterleib annahm 7 , unvereinbar und dementsprechend verworfen; mit Recht, denn der Austritt des Kindes aus dem Mutterleib bezeichnet nicht den Beginn, sondern eine späte Phase der Geburt 8 . - Daß der „Beginn der Geburt" schon beim Auftreten von sogenannten Schwangerschafts-, Senk- und Vorwehen angesetzt werden dürfe, hat der BGH auch für den Fall, daß diese den Eröffnungswehen unmittelbar vorgelagert sind, ausdrücklich abgelehnt; ebenfalls mit Recht, denn jene Wehenarten sind nur Vorzeichen einer bevorste4
BVerfGE 39, S. 1 ff, 46; eingehend: Lüttger in Sarstedt-Festschrift, 1981, S. 169 ff. Näher dazu: Lüttger in JR 1971, S. 133ff, und grundsätzlich: Beiträge zur gerichtlichen Medizin, a. a. O . ' Geilen in Heinitz-Festschrift, 1972, S. 373 ff, 396. 7 Vgl. dazu: R. Lange in LK, 9. Aufl. 1974, Rdz. 3 der Vorbem. vor §211 StGB. ! Näher dazu: JR 1971, S. 134. 5
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henden Geburt, leiten diese aber noch nicht ein; „Geburtswehen" sind auch in medizinischer Sicht erst die Eröffnungswehen 9 . An dieser Stelle findet sich im Urteil ein Gedanke, der wohl allzu summarisch formuliert ist und dessen Tragweite sich erst aus dem (folgenden) Zusammenhang ergibt: Zunächst betont der BGH, daß das Menschsein im Sinne der Tötungstatbestände „frühestens mit den Eröffnungswehen" beginne. Anschließend hebt er verdeutlichend darauf ab, ob diese Eröffnungswehen „tatsächlich... begonnen" haben. Dem schließt er sodann den Hinweis an, diese Grenze gelte unabhängig davon, ob der Täter den Beginn der Geburt durch Maßnahmen hinauszögere, die die Eröffnungswehen hemmen (offensichtlich gemeint: ihr Einsetzen hinausschieben), oder ihn durch Maßnahmen beschleunige, die die Eröffnungswehen fördern (kann hier nur heißen: ihr Einsetzen vorzeitig herbeiführen, nicht: sie nach Einsetzen verstärken). Damit ist ausgesprochen, daß es solchenfalls für den „Beginn der Geburt" nicht auf den Zeitpunkt dieser Maßnahmen, sondern darauf ankommt, wann die dadurch hinausgezögerten oder vorzeitig herbeigeführten Eröffnungswehen „tatsächlich beginnen". Auch dies ist zutreffend 10 ; es entspricht der h. M., die stets auf das tatsächliche Einsetzen der Eröffnungswehen abhebt, gleichgültig ob diese spontan eintreten oder „künstlich" (insbesondere medikamentös) hervorgerufen werden11. Dieser Grundsatz hat - vor allem bei Verzögerung oder Ausbleiben der Wirkung jener Maßnahmen - erhebliche Bedeutung für die zahlreichen Fälle, in denen auch bei der normalen Geburt ärztliche Hilfen geboten sind, die den Zeitpunkt des Einsetzens der Eröffnungswehen beeinflussen12. Bis hierhin befindet sich der BGH übrigens in voller Ubereinstimmung mit den medizinischen Lehren vom Geburtsbeginn. 2. „Regulärer" Geburtsbeginn beim Einsetzen der Eröffnungswehen oder der Austreibungswehen? Daß bei der„regulären" Geburt der „Beginn der Geburt" beim Einsetzen der Eröffnungswehen - und nicht erst beim Einsetzen der Treibund Preßwehen13 - anzusetzen ist, ist heute in der Strafrechtslehre
' Näher J R 1971, S. 135. 10 Eingehende Begründung bei: Lüttger in Heinitz-Festschrift, 1972, S. 359 ff. 11 Vgl. Eser in Scbönke/Schröder, 21. Aufl. 1982, Rdz. 13 der Vorbem. vor §§211 ff StGB; Jähnke in L K , 10. Aufl. 1980, Rdz. 3 der Vorbem. vor §211 StGB. 12 Zu den in Betracht kommenden medizinischen Maßnahmen vgl. Heinitz-Festschrift, S. 362 ff. 13 Vgl. zur nicht einheitlichen medizinischen Terminologie: Jascbke in Seitz/Amreich, Biologie und Pathologie des Weibes, 2. Aufl., Bd. VII, S. 600 ff.
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nahezu einhellige Meinung14.Der BGH hat dies unter Hinweis auf die vereinzelte abweichende Ansicht von Saerbeck15 dahinstehen lassen. Indessen hat die auf den Beginn der Austreibungsperiode abstellende Ansicht von Saerbeck mit Recht keine weitere Gefolgschaft gefunden, weil seine beiden einzigen Argumente nicht durchgreifen: Daß der Übergang von den Schwangerschafts- und Vorwehen zu den Eröffnungswehen fließend ist und - namentlich bei schwachen Eröffnungswehen - Erkenntnisschwierigkeiten birgt, ist zwar richtig; aber der Ubergang von den Eröffnungswehen zu den Austreibungswehen ist nicht selten ebenso unsicher. Daß das zur Welt drängende Lebewesen - wie Saerbeck weiterhin meint - erst mit dem Einsetzen der Austreibungswehen geburtshilflichen Risiken ausgesetzt sei, ist falsch16. Berücksichtigt man dann aber das unbestrittene kriminalpolitische Ziel der strafrechtlichen Regelung - die Vorverlegung des (gegenüber dem Strafschutz der „Leibesfrucht" wesentlich erweiterten) Strafschutzes des „Menschen" auf den Anfang der gefahrenträchtigen zeitlich-biologischen Zone des Geburtsvorgangs - , so spricht schlechthin alles dafür, den strafrechtlichen Begriff „Beginn der Geburt" im Einklang mit den medizinischen Lehren vom Geburtsbeginn auf das Einsetzen der Eröffnungswehen und nicht erst auf dasjenige der Austreibungswehen festzulegen. - So gewiß es zu den Weisheiten eines Revisionsgerichts gehört, nicht mehr Streitfragen zu entscheiden, als der Fall gebietet, so sicher hätte der BGH diese längst geklärte Frage durchentscheiden können. Es bleibt zu hoffen, daß nun nicht neue Unsicherheiten (mit intrikaten Irrtumsproblemen) entstehen; derartiges zu verhüten, ist ebenfalls Aufgabe eines Revisionsgerichts17. 3. Offene Fragen bei Sonderlagen des Geburtsverlaufs Hingegen hat der BGH mit Recht davon abgesehen, den "Beginn der Geburt" bei (hier nicht vorliegenden) Sonderlagen des Geburtsverlaufs zu bestimmen, denn dies ist ein weites Feld: Es kann sich zunächst um besondere Erscheinungen der „natürlichen" Geburt (wie vorzeitigen Blasensprung, überstürzte Geburt und Sturzgeburt) handeln, die bei der strafrechtlichen Bestimmung des Geburtsbeginns keine größeren 14 Eingehende Begründung in J R 1971, S. 135 ff, zahlreiche neuere Nachweise bei: Eser, a. a. O., und Jäbnke, a. a. O. 15 Beginn und Ende des Lebens als Rechtsbegriffe, 1974, S. 95 ff; ebenso aber ohne Begründung: Preisendanz, 30. Aufl. 1978, Anm.3 zu §218 StGB. " Näher zu beidem: J R 1971, S.135 u. 136; Heinitz-Festschrift, S. 359 ff; vgl. auch meine Rezension in J R 1976, S. 483 f. 17 Vgl. zum Widerstreit zwischen revisionsrichterlicher Zurückhaltung und Vorsorge für die weitere Entwicklung der Rechtsprechung: Fischer in Festschrift für Otto Mühl, 1981, S. 139 ff, mit zahlr. Nachw.
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Schwierigkeiten bereiten18. Es geht dabei aber auch um die (von Juristen oft so genannte) „künstliche" Geburt, die in unterschiedlichen medizinischen Formen vorkommt, für die es keine einheitliche Lösung gibt19 und deren strafrechtliche Wertung sub specie „Beginn der Geburt" für den bekanntesten Fall - die operative Schnittentbindung durch (abdominalen) Kaiserschnitt - in der Rechtslehre umstritten ist20. Hier gebot es die revisionsgerichtliche Vorsicht, einschlägige Fallgestaltungen abzuwarten. III. Pränatale Handlungen mit postnatalen Todesfolgen Zur strafrechtlichen Einordnung pränataler Handlungen mit erst nach dem Beginn der Geburt eintretendem Todeserfolg [483] besagt das Urteil (zunächst ausgehend vom Bilde vorsätzlichen positiven Tuns) im Ergebnis folgendes: Für die Frage, ob ein Schwangerschaftsabbruch ( § 2 1 8 StGB) oder ein Tötungsdelikt (§§211, 212, 217 StGB) vorliege, komme es dann, wenn sich die Rechtsqualität des Opfers nach dem Eingriff von der Leibesfrucht zum Menschen wandele, nicht auf die Rechtsqualität des Opfers im Zeitpunkt des Todeseintritts, sondern auf diejenige im „Zeitpunkt der Wirkung" des Täterverhaltens an, was an anderer Stelle mit den Worten „Zeitpunkt der Einwirkung auf das Opfer" umschrieben ist. Das Urteil besagt weiter, dasselbe müsse auch bei fahrlässigen pränatalen Einwirkungen mit postnatalen tödlichen Folgen für die Abgrenzung zwischen straflosem fahrlässigem Schwangerschaftsabbruch und strafbarer fahrlässsiger Tötung (§ 222 StGB) gelten. Und wenn das zum postnatalen Tode führende pränatale Verhalten im fahrlässigen Unterlassen gebotener Hilfe bestehe, könne die strafrechtliche Haftung (§§222, 13 StGB) nicht weiter gehen als bei entsprechendem fahrlässigen aktiven Eingriff. - In diesem Teil liegt m. E. die besondere Bedeutung des Urteils. 1. Vorsätzliches positives Tun Die Lösung der Frage, ob vorsätzliche pränatale Handlungen (hier: positives Tun) mit postnatal eintretenden Todesfolgen strafrechtlich noch dem Schwangerschaftsabbruch oder schon den Tötungsdelikten zuzuordnen sind, hängt davon ab, in welchem Zeitpunkt das Tatobjekt Vgl. dazu: JR 1971, SAIS-, Jähnke, a.a.O. " Eingehend: Heinitz-Festschrift, S. 361 ff. 20 Einerseits Abstellung auf den Beginn der Schnittentbindung: Heinitz-Festschrift, S.362 u. 365-366; Schmidhäuser, BT, 1980, S. 13; andererseits Abstellung erst auf den Beginn der Öffnung des Uterus: Jäbnke, a. a. O.; Eser, a. a. O.; Maurach/Schroeder, BT 1, 6. Aufl. 1977, S. 13; Lackner, 15. Aufl. 1983, Anm. 1 a der Vorbem.vor §211 StGB; s. aber auch die Formel von Wessels, BT 1, 6. Aufl. 1982, S.2. 18
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Medizinisch-juristische Probleme im Strafrecht
die vom gesetzlichen Tatbestand (§218 u. §§211 ff StGB) vorausgesetzte Rechtsqualität (Leibesfrucht oder Mensch) besitzen muß. Rein theoretisch kommen dafür drei Zeitpunkte in Frage: der Zeitpunkt der Handlungsvornahme (i. S. von Willensbetätigung), derjenige der Einwirkung auf das Tatobjekt und derjenige des Erfolgseintritts (i. S. von Vollendung)21. Dabei besteht heute allseits Einigkeit darüber, daß der Zeitpunkt der Handlungsvornahme von vornherein ausscheidet, weil Willensbetätigung und Auftreffen auf das Tatobjekt zeitlich dergestalt auseinanderfallen können, daß das später getroffene Objekt im Zeitpunkt der Handlungsvornahme noch gar nicht existiert haben muß22. Daß es auf den Zeitpunkt des Erfolgseintritts ankomme, ist nur vereinzelt angenommen worden23; die heute ganz überwiegende Lehre stellt vielmehr auf den Zeitpunkt der Einwirkung auf das Tatobjekt ab24. Daß in der Tat nicht der Zeitpunkt des Erfolgseintritts, sondern nur derjenige der Einwirkung auf das Tatobjekt maßgeblich sein kann, folgt zwingend aus der Struktur des §218 StGB, dessen Tatbestand seit jeher und ganz unbestritten auf zweierlei Weise erfüllt werden kann: nicht nur durch Tötung der Leibesfrucht im Mutterleib, sondern auch durch solche (unmittelbaren oder mittelbaren) Einwirkungen auf die „Leibesfrucht", die zum Abgang einer zwar lebenden, jedoch nicht lebensfähigen Frucht und dadurch zum Tode des „Kindes" nach der Geburt führen. Die Zuordnung dieser Begehungsweise zu §218 StGB bedeutet aber, daß das geltende Recht bei solchen vorsätzlichen pränatalen Einwirkungen mit postnataler Todesfolge auf die Rechtsqualität des Tatobjekts im Zeitpunkt der Einwirkung abstellt25. Ein Abheben auf den Zeitpunkt des Erfolgseintritts würde in diesen Fällen mithin die geltende rechtssystematische Abschichtung zwischen §218 StGB und den §§211, 212, 217 StGB umkehren und aus Schwangerschaftsabbrüchen Tötungsdelikte
Vgl. statt vieler: Armin Kaufmann in JZ 1971, S. 569. Vgl. statt vieler mit illustrierenden Schulbeispielen: Armin Kaufmann, a. a. O.; Horn in SK, Rdz. 4 zu §212 StGB; Ingeborg Tepperwien, Praenatale Einwirkungen als Tötung oder Körperverletzung?, 1973, S. 46. 23 Vgl. LG Aachen in JZ 1971, S. 507ff, 510; Tepperwien, a. a. O., S. 47 ff, 54; ferner im Zusammenhang mit der Abgrenzung zwischen §218 StGB und den §§223, 230 StGB: Maurach, BT, 5. Aufl. 1969, S.76; Arzt/Weber, BT 1, 2. Aufl. 1981, Rdz. 271 u. 409 ff; dazu unten sub IV. 24 Vgl.Jähnke, a. a. O., Rdz. 4 der Vorbem. vor §211 StGB mit zahlr. Nachw. in Fn. 6 dortselbst; seither weiterhin: Eser, a. a. O., Rdz. 15 der Vorbem. vor § 211 StGB; Dreher! Tröndle, 41. Aufl. 1983, Rdz. 2 der Vorbem. vor §211 StGB Wessels, a. a. O., S. 13; Eser, Studienkurs Strafrecht III, 2. Aufl. 1981, S.57f; Haft, BT, 1982, S.74 u. 87; Walder in SchwStrZ 1977, S. 113 ff, 131-132; ferner im Zusammenhang mit §223 StGB besonders: Hirsch in LK, 10. Aufl. 1981, Rdz. 7 der Vorbem. vor §223 StGB. 25 Eingehende Begründung in JR 1971, S. 138. 21
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machen. Logische Konsequenz dieser im geltenden Recht vorgegebenen Abstellung auf den Zeitpunkt der Einwirkung ist dann aber, daß ein in der Zwischenzeit zwischen Einwirkung und Erfolgseintritt stattfindender Wandel der Rechtsqualität des Opfers von der Leibesfrucht zum Menschen (eben durch den Beginn der Geburt) für die schon im Zeitpunkt der Einwirkung getroffene rechtliche Zuordnung zu §218 StGB irrelevant ist26. In dieser Grundthese ist dem Urteil also uneingeschränkt zuzustimmen; es bleibt jedoch noch eine sprachlich-terminologische Nuance: Während die Strafrechtslehre überwiegend vom Zeitpunkt der „Einwirkung" spricht und darunter vielfach das „Auftreffen" auf das Tatobjekt versteht27, sprechen einige andere Autoren in unterschiedlichen Wendungen von dem Zeitpunkt, in welchem „die schädigende Auswirkung beginnt" 28 . Darin mag man durchaus eine subtile Differenzierung erblikken29; ich sehe aber nicht, wie dieser Unterschied in der Praxis verifiziert werden könnte. Der BGH hat dieses Glasperlenspiel jedenfalls nicht mitgemacht und beide Umschreibungen - Zeitpunkt der Einwirkung und Zeitpunkt der Wirkung - ersichtlich synonym verwandt. 2. Fahrlässiges positives Tun Auch bei fahrlässigen pränatalen Handlungen (zunächst: positives Tun) mit postnatalem Todeserfolg ist für die Abschichtung zwischen straflosem fahrlässigem Schwangerschaftsabbruch und strafbarer fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB) nur vereinzelt auf die rechtliche Qualität des Opfers im Zeitpunkt des Erfolgseintritts abgestellt worden30; die ganz h. M. hält jedoch auch hier den Zeitpunkt der (oben umschriebenen) Einwirkung auf das Tatobjekt (Leibesfrucht) für maßgeblich31. Nur letzteres ist mit Sinn und Systematik der gesetzlichen Regelung vereinbar: Das geltende Strafrecht stellt - wie die historische Entwicklung 26 Vgl. dazu näher: Blei in MMW 1970, S. 741 ff; Lüttger in J R 1971, S. 138; Maurach/ Schroeder, a. a. O., S. 13. 27 Vgl. z . B . J R 1971, S. 138; Armin Kaufmann, a . a . O . ; Horn in SK, Rdz. 4 zu §212 StGB. 28 So etwa: Wessels, a . a . O . , S. 13; Eser, a . a . O . , Rdz. 15 der Vorbem. vor §§211 ff u. Rdz. 1 a zu § 2 2 3 StGB; Eser, Studienkurs, a.a. O., S.57; Haft, a . a . O . , S. 74 u. 87. 29 So deutet es offenbar: Horn, a . a . O . ; anders anscheinend: Jähnke, a . a . O . J0 So LG Aachen in J Z 1971, S.507ff, 510. - Tepperwien, a . a . O . , S. 114ff, 140, stellt zwar auch hier auf den Zeitpunkt des Erfolgseintritts ab, kommt aber gleichwohl aus anderen Gründen - Sperrwirkung des §218 StGB - zur Straflosigkeit. 31 Vgl. Blei in MMW 1970, S. 741 ff; Lüttger in J R 1971, S. 139; Armin Kaufmann in J Z 1971, S.569ff; Maurach/Schroeder, a . a . O . , S. 13; Jähnke, a . a . O . , Rdz. 4 der Vorbem. vor §211 StGB; Eser, a . a . O . , Rdz. 15 vor §211 und Rdz. 2 zu §222 StGB; Dreher/ Tröndle, a. a. O., Rdz. 2 vor §211 StGB; Lackner, a. a. O., Anm.2 a vor §211 u. Anm. 1 zu § 2 2 2 StGB.
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zeigt - ganz bewußt nur die vorsätzliche, nicht auch die fahrlässige Abtötung der Leibesfrucht unter Strafe; diese Entscheidung des Gesetzgebers gilt begriffsnotwendig für beide (oben geschilderte) Begehungsformen des Schwangerschaftsabbruchs, bedeutet also Straflosigkeit auch der fahrlässigen pränatalen Einwirkung mit postnataler Todesfolge. Anders ausgedrückt: Die „exklusive Regelung" des §218 StGB entfaltet eine „Sperrwirkung"32. Wollte man - statt auf die Rechtsqualität des Opfers [484] im Zeitpunkt der Einwirkung auf die „Leibesfrucht" - auf diejenige im Zeitpunkt des Todes des „Kindes" abstellen, so würde man diese nach dem Willen des Gesetzes straflose Gruppe von fahrlässigen Schwangerschaftsabbrüchen in strafbare fahrlässige Tötungen umfälschen33. Das hätte einen Strafausdehnungseffekt34 zur Folge, welcher entgegen dem Willen des Gesetzes - insoweit der Einführung einer Strafbarkeit des fahrlässigen Schwangerschaftsabbruchs gleichkäme35. Das ist unannehmbar; der Schutzbereich des §222 StGB kann d a h e r wie der BGH mit Recht betont hat - nicht anders als bei der vorsätzlichen Tötung bestimmt werden, nämlich unter Ausschluß der (hier: fahrlässigen) pränatalen Einwirkungen mit postnataler Todesfolge. 3. Pflichtwidriges Unterlassen Besteht die fahrlässige pränatale Handlung mit postnataler Todesfolge nicht in einem positiven Tun, sondern in einem „Unterlassen gebotener Hilfe", so ändert sich an dem geschilderten Ergebnis nichts. Das ergibt sich schon aus folgenden Überlegungen: Ein fahrlässiges pränatales positives Tun mit postnatalem Todeserfolg ist - wie erörtert - infolge der zwingend vorgegebenen Abstellung auf den Zeitpunkt der Einwirkung auf das Tatobjekt straflos, weil fahrlässiger Schwangerschaftsabbruch nicht unter Strafe steht und auch nicht in eine fahrlässige Tötung umgedeutet werden darf. Ein fahrlässiges pränatales pflichtwidriges Unterlassen mit postnataler Todesfolge würde nun begrifflich in die Kategorie der unechten Unterlassungsdelikte fallen; bei diesen hat aber die Garantenstellung nur den Sinn, das Unterlassen einem strafbaren positiven Tun gleichzustellen, nicht aber, eine bei positivem Tun straflose (tatbestandslose) Handlung zu einer strafbaren zu machen36. Darauf aber liefe es hinaus, wenn man im Falle fahrlässigen pränatalen pflichtwidrigen Unterlassens mit postnataler Todesfolge eine Strafbarkeit annehmen wollte, die bei entsprechendem positiven Tun 32 33 34 35 36
Vgl. zum ganzen näher: Blei in MMW 1970, S. 741 ff; Lüttger in J R 1971, S. 139. Vgl. J R 1971, S. 139. Vgl. dazu eingehend: Armin Kaufmann, a . a . O . Vgl. Bruns in Heinitz-Festschrift, 1972, S.317ff, 323. So die treffende Formulierung von: Heinitz in J R 1955, S. 105, u. in J R 1961, S. 29.
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nicht besteht. - A n d e r s u n d allgemeiner (unter E i n b e z i e h u n g vorsätzlic h e n U n t e r l a s s e n s ) ausgedrückt: W e n n an die Stelle des positiven T u n s das U n t e r l a s s e n eines G a r a n t e n tritt, so ändern sich U m s c h r e i b u n g u n d B e g r e n z u n g des Straftatbestands i m übrigen n i c h t ; es bleibt daher hier a u c h i m Falle des Unterlassens bei der für positives T u n
geltenden
rechtssystematischen Abschichtung 3 7 , bei der m a n dann freilich - statt v o m Z e i t p u n k t der „ E i n w i r k u n g " -
w o h l besser v o m Z e i t p u n k t der
„ V e r s ä u m u n g der Hilfspflicht" 3 8 im Sinne der N i c h t v o r n a h m e der g e b o tenen E r f o l g s a b w e n d u n g sprechen sollte. Diese (in der Sache unveränderte) A b s c h i c h t u n g mit ihrer die Strafbarkeit begrenzenden W i r k u n g bedeutet aber für pränatale pflichtwidrige Unterlassungen mit postnataler T o d e s f o l g e :
Bei V o r s a t z
bewendet
es bei § 2 1 8
StGB,
für
ein
T ö t u n g s d e l i k t ist kein R a u m ; bei Fahrlässigkeit bleibt es auch hier bei der Straflosigkeit 3 '.
37 Vgl. BGH in GA 1970, S. 86; Eser, a. a. O., Rdz. 33 der Vorbem. vor §§218 ff StGB; Jäbnke, a.a.O., Rdz. 4 der Vorbem. vor §211 StGB. 38 So Eser, a. a. O. 39 Weil somit eine (Fahrlässigkeits-) Strafbarkeit des Arztes hier in jedem Falle ausschied, stellten sich auch die Fragen nicht, die bei einer (direkt oder bedingt) vorsätzlichen pränatalen pflichtwidrigen Unterlassung mit postnataler Todesfolge zu beantworten gewesen wären, bevor ein Abbruch fremder Schwangerschaft nach § 218 Abs. 1 StGB in Gestalt eines unechten Unterlassungsdelikts hätte bejaht werden können; sie sollen wegen ihrer Bedeutung im Interesse einer abgerundeten Darstellung dennoch erwähnt werden: a) Die Streitfrage, ob ein Bereitschaftsarzt schon wegen seines Einsatzes im ärztlichen Notfalldienst eine Garantenposition „gegenüber der Bevölkerung" hat (so BGHSt 7, 211 ff) oder ob seine Garantenstellung auch hier erst durch Übernahme der konkreten Behandlung (so: Jescheck in LK, 10. Aufl., Rdz. 27 zu § 13 StGB mit Fn. 36 dortselbst; Rudophi in SK, Rdz. 61 zu § 13 StGB) entsteht, kann dahinstehen, wenn der Arzt (wie im vorliegenden Fall) die Behandlung übernommen hat. Daß der Arzt dann Garant nicht nur gegenüber seiner Patientin, sondern auch gegenüber ihrer Leibesfrucht ist, ergibt sich aus der Rechtsfigur der Übernahme der Gefahrabwendung gegenüber einem Dritten - hier: der Schwangeren - zugunsten des Gefährdeten - hier: der Leibesfrucht (vgl. Lüttger in Heinitz-Festschrift, S. 368). Über diese Rechtsfigur besteht heute kein Streit mehr (vgl. Jescheck, a. a. O., Rdz. 26 zu § 13 StGB, mit zahlr. weiteren Nachw. in Fn. 34 dortselbst).
b) Weiter ist die Frage entstanden, ob außenstehende Garanten wie etwa ein behandelnder Arzt den Tatbestand des §218 Abs. 1 StGB schon durch (vorsätzliches) reines Untätigbleiben, d.h. durch (pflichtwidriges) Unterlassen indizierter Maßnahmen (so Lüttger in Heinitz-Festschrift, S. 368) oder nur durch untätiges Zulassen von Abtötungshandlungen Dritter (so Hansen in MDR 1974, S. 797 ff, 800-801) verwirklichen können. Letzteres kann nicht richtig sein (ablehnend auch: Blei in JA 1974, S. 753 f). Denn einmal bezog sich die bei dieser Einschränkung nachwirkende Begehungsalternative vom „Zulassen der Abtötung der Leibesfrucht durch einen anderen" in der alten Fassung des §218 Abs. 1 StGB nur auf die Selbstabtreibung durch die Schwangere, nicht aber auf die Fremdabtreibung durch Außenstehende und eine Erstreckung dieses Gedankens auf letztere ist daher schon in der damaligen Literatur ersichtlich auch nicht erwogen worden (vgl. z.B. Lay in LK, 9. Aufl. 1974, Rdz. 32 u. 34 zu §218 StGB). Und zum anderen ergibt der Wortsinn der Neufassung des §218 Abs. 1 StGB nicht den geringsten Anhalt
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Medizinisch-juristische Probleme im Strafrecht
D a s - gerade selbstverständliche u n d hier n u r w e g e n seiner eingehend e n B e h a n d l u n g d u r c h d e n BGH
n ä h e r b e g r ü n d e t e - E r g e b n i s , d a ß ein
fahrlässiges pränatales pflichtwidriges U n t e r l a s s e n m i t p o s t n a t a l e r T o desfolge e b e n s o straflos ist w i e das e n t s p r e c h e n d e fahrlässige positive T u n , folgt m i t h i n z w i n g e n d aus r e c h t s s y s t e m a t i s c h e n E r w ä g u n g e n . M i t d e r v o m BGH
b e m ü h t e n „ E n t s p r e c h u n g s k l a u s e l " des § 13 S t G B hat dies
nichts z u t u n . D e n n einmal hat diese Klausel n a c h heute h. M . ihren Anwendungsbereich
n u r bei den s o g e n a n n t e n
verhaltensgebundenen
D e l i k t e n , n i c h t aber bei reinen E r f o l g s d e l i k t e n (wie den § § 2 1 2 , 2 1 8 , 2 2 2 S t G B ) 4 0 . U n d z u m a n d e r e n hat die E n t s p r e c h u n g s k l a u s e l a u c h bei den D e l i k t e n m i t s o g e n a n n t e n V e r h a l t e n s m o d a l i t ä t e n d o c h den Sinn, eine a n s o n s t e n b e s t e h e n d e , z u w e i t g e h e n d e U n t e r l a s s u n g s s t r a f b a r k e i t (auf die d e m gesetzlich v e r t y p t e n positiven T u n i m spezifischen H a n d l u n g s u n r e c h t v e r g l e i c h b a r e n F ä l l e ) e i n z u s c h r ä n k e n 4 1 ; die fahrlässige p r ä n a t a l e p f l i c h t w i d r i g e U n t e r l a s s u n g m i t p o s t n a t a l e r T o d e s f o l g e ist aber t a t b e standslos u n d s o m i t straflos. [ 4 8 5 ] Jedenfalls ist d e m BGH im Ergebnis - wenn auch mit anderer Begründung -
auch insoweit
zuzustimmen.
dafür, daß gleichwohl jetzt die Unterlassungsstrafbarkeit außenstehender Garanten auf die Nichtabwehr von Aktivangriffen beschränkt sein solle (so mit Recht: Blei, a. a. O., S. 754). Dies hieße nämlich im Klartext, daß der von der Schwangeren zur Erhaltung einer gefährdeten Leibesfrucht zugezogene Arzt ihm mögliche medizinisch gebotene Maßnahmen, die das Absterben der Leibesfrucht verhindert hätten, vorsätzlich unterlassen dürfte, ohne nach §218 Abs.l StGB strafbar zu sein (vgl. dazu auch: Blei, a.a.O.). Dieses offenbar abwegige Ergebnis ist wohl Grund dafür, daß die Literatur zur Neufassung des §218 StGB solche Einschränkungen - wenn überhaupt, dann - regelmäßig nur bei der Unterlassungsstrafbarkeit der Schwangeren selbst, nicht aber bei derjenigen von außenstehenden Garanten erwähnt (vgl. z.B. Eser, a.a.O., Rdz. 14 u. 16 zu §218 StGB; Maurach/ Schroeder, a. a. O., S. 67 u. 69). c) Denkbar ist, daß neben einer solchen Strafbarkeit wegen eines vorsätzlichen unechten Unterlassungsdelikts nach §218 Abs.l StGB - oder trotz der (oben geschilderten) Straflosigkeit einer fahrlässigen Abtötung der Leibesfrucht - (noch) eine Körperverletzung an der Schwangeren selbst (§§ 223, 230 StGB) oder eine unterlassene Hilfeleistung (§ 323 c StGB) vorliegt (Hansen in MDR 1974, S. 801). Ob und wann dies der Fall ist, richtet sich nach den besonderen Voraussetzungen dieser Strafvorschriften; es wird schon aus tatsächlichen Gründen durchaus nicht immer der Fall sein (Blei in JA 1974, S.754). Hansen (a.a.O., S.801) hat mir vorgeworfen, ich hätte diese Möglichkeit einer anderweitigen Strafbarkeit in Heinitz-Festschrift 1972, S. 359 ff, übersehen. Indessen hatte ich dort (S. 367) geschrieben, in meiner Skizze gehe es „nur um den strafrechtlichen Schutz des zur Welt drängenden Lebewesens". Auch korrektes Zitieren will offenbar gelernt sein. Im übrigen würde eine solche anderweitige Strafbarkeit den Unrechtsgehalt der vorsätzlichen Abtötung einer Leibesfrucht durch pflichtwidriges Unterlassen eines außenstehenden Garanten nicht erfassen und daher die insoweit von Hansen propagierte Straflosigkeit nicht rechtfertigen können. 40 Vgl. Jescheck, dortselbst. 41 Vgl Jescheck,
AT, 3. Aufl. 1978, S.510f mit umfassenden Nachweisen in Fn. 60 a.a.O.
Geburtsbeginn, pränatale Einwirkungen, postnatale Folgen
149
IV. Weitere Auswirkungen des Urteils Die besprochene Entscheidung gibt - über ihren unmittelbaren Gegenstand hinaus - Anlaß zu einigen weiteren Bemerkungen. 1.
Leibesfruchtverletzungen
Wenn durch medikamentöse Behandlungen, Bestrahlungen, chirurgische Eingriffe oder auf sonstige Weise vorsätzlich oder fahrlässig (nichttödliche) Verletzungen einer Leibesfrucht angerichtet werden, die über den „Beginn der Geburt" hinaus am dann geborenen Menschen fortbestehende (körperliche oder geistige) Schadenszustände zur Folge haben, so stellt sich die Frage, ob dies wegen Fehlens einer Strafvorschrift gegen Leibesfruchtverletzung straflos oder als Körperverletzung am später geborenen Kinde (§§223, 230 StGB) strafbar ist. Die Lösung dieser Frage hängt davon ab, ob auch für diese Abschichtung auf die Rechtsqualität des Opfers im Zeitpunkt der Einwirkung (Leibesfrucht) oder auf diejenige im Zeitpunkt des fortbestehenden Schadenszustands (Mensch) abzustellen ist. Letzteres ist nur vereinzelt angenommen worden42; die ganz überwiegende Lehre hebt jedoch auch hier auf den Zeitpunkt der Einwirkung ab43, und zwar mit Recht: Wenn unser Strafrecht von der Körperverletzung an einem „anderen" spricht, so meint es damit unstreitig einen Menschen, nicht auch eine Leibesfrucht. Aus der (oben erwähnten) „exklusiven Regelung" des §218 StGB ergibt sich weiterhin, daß das Gesetz nur die vorsätzliche Abtötung einer Leibesfrucht bestraft wissen will, nicht aber deren (fahrlässige Abtötung und auch nicht deren) vorsätzliche oder fahrlässige Verletzung. Da das Strafrecht unstreitig nur einen einheitlichen, durchgängig geltenden Begriff der Menschqualität kennt, verläuft die Grenze zwischen Leibesfruchtcharakter und Menschqualität auch hier beim „Beginn der Geburt". Wollte man nun für die Abschichtung zwischen strafloser Leibesfruchtverletzung und strafbarer Körperverletzung nicht auf den Zeitpunkt der pränatalen Einwirkung, sondern auf denjenigen der postnatalen Auswirkungen abstellen, so würde die gesetzliche Grundentscheidung für Straflosigkeit der Leibesfruchtverletzung unterlaufen. Dies würde nicht nur dem System des Gesetzes zuwiderlaufen, sondern auch eine unzulässige straferweiternde Analogie bedeuten. Es liefe prak-
42 Vgl. LG Aachen in JZ 1971, S. 507 ff; Maurach, BT, 5. Aufl. 1969, S. 76; Tepperwien, a.a.O., S.55f, 94, 138ff; Arzt/Weher, a.a.O., Rdz. 271 u. 409 bis 411. 43 Vgl. die zahlreichen Nachweise bei: Hirsch in LK, Rdz. 7 vor §223 StGB, und bei: Wessels, BT 1, 6. Aufl. 1982, S. 41 ; außer den dort Genannten ferner: Walder in SchwStrZ 1977, S. 113 ff, 131-132; Roxin in JA 1981, S. 542 ff, 548; Rudolphi in SK, Rdz. 6 zu §218 u. Rdz. 2 zu §223 StGB; Schmidhäuser, BT, 1980, S.3; Haft, BT, 1982, S. 102.
150
Medizinisch-juristische Probleme im Strafrecht
tisch auf das gleiche hinaus wie die allein dem Gesetzgeber vorbehaltene Einführung einer Strafnorm gegen Leibesfruchtverletzung44'45. Der BGH war zwar mit dieser Fallgruppe nicht befaßt; dennoch erlaubt das Urteil auch insoweit Schlußfolgerungen: Der BGH hat nicht nur in den Ergebnissen, sondern auch in methodischer Hinsicht die von der herrschenden Lehre vertretene Abschichtung zwischen (vorsätzlichem) Schwangerschaftsabbruch (§218 StGB) und vorsätzlicher Tötung (§§211 ff StGB) sowie zwischen straflosem fahrlässigem Schwangerschaftsabbruch und strafbarer fahrlässiger Tötung (§222 StGB) bestätigt und dabei allenthalben auf die Rechtsqualität des Opfers im Zeitpunkt der Einwirkung abgestellt. Es ist nicht vorstellbar, daß er für die Abgrenzung zwischen strafloser Leibesfruchtverletzung und strafbarer Körperverletzung anders verfahren würde; denn in methodischer Hinsicht sind die Probleme die gleichen und ein Wandel in der Abschichtungsmethode würde hier - wie geschildert - zu Ergebnissen führen, die dem System und der Intention des Gesetzes zuwiderliefen. So ist der Schluß erlaubt: Was nach Ansicht des BGH in den von ihm entschiedenen beiden Fallgruppen richtig ist, muß auch im Fall der Leibesfruchtverletzung zutreffen. 2. Nachwort zum
Contergan-Prozeß
Das Urteil des BGH hat die Coniergan-Entscheidung des LG Aachenin welcher fahrlässige pränatale Handlungen mit postnataler Todesfolge unter § 222 StGB und fahrlässige pränatale Leibesfruchtverletzungen mit postnatal fortbestehenden Auswirkungen unter §230 StGB subsumiert worden sind, mit keinem Wort erwähnt. Das ist auffällig, denn immerhin hat nur selten eine instanzgerichtliche Entscheidung eine so umfangreiche und grundsätzliche Diskussion ausge44 Vgl. zum ganzen näher: Lüttger in J R 1971, S. 139ff, und Roxin in J A 1981, S. 548; ferner die in Fn. 43 bezeichneten Fundstellen. 45 Tepperwien ( a . a . O . , S.55ff, 94, 138ff) hat in Fortentwicklung der Rechtsansicht des LG Aachen dessen Ergebnis (Strafbarkeit als Körperverletzung) durch die recht verwickelte Konstruktion einer „Rechtsgutsverletzung des Kindes unter aufschiebender Bedingung schon im Leibesfruchtstadium" zu retten versucht: Der tatbestandslose Erfolg an der Leibesfrucht (eine „Verletzung im natürlichen Sinne" an einem „Handlungsobjekt im natürlichen Sinne") wandele sich durch die Geburt zu einem tatbestandlichen Erfolg am Kinde (zur „Verletzung im Rechtssinne" und zum „Erfolg im Rechtssinne"). Diese Ansicht hat sich mit Recht nicht durchgesetzt, denn diese Differenzierungen zwischen Erfolg bzw. Verletzung im „natürlichen" und im „rechtlichen Sinne" sowie die Figur einer „Rechtsgutsverletzung unter aufschiebender Bedingung" ( = eines „zeitlich hinausgeschobenen Rechtsschutzes") sind künstliche Konstruktionen, die im Gesetz nicht angelegt sind und in dieses hineingelegt werden, um ein bestimmtes Ergebnis zu ermöglichen. Das wird durch keine der anerkannten Interpretationsmethoden gedeckt.
« J Z 1971, S. 507 ff.
Geburtsbeginn, pränatale Einwirkungen, postnatale Folgen
151
löst. Jedenfalls aber hat der BGH der Rechtsansicht des LG Aachen in der Sache zunächst insoweit den Boden entzogen, als er - in Übereinstimmung mit der Kritik in der Strafrechtslehre - die Straflosigkeit fahrlässiger pränataler Handlungen mit postnatalem Todeserfolg herausgestellt hat. Damit stürzt aber - wie ich zu zeigen versucht habe - das gesamte System ein, mittels dessen das LG Aachen ferner aus straflosen Leibesfruchtverletzungen strafbare Körperverletzungen gemacht hat. Der Contergan-Prozeß hatte nicht nur eine Medikamentenkatastrophe zum Gegenstand; er war auch selbst eine juristische Katastrophe47. Es ist gut zu wissen, daß sich wenigstens diese nun nicht mehr wiederholen kann. 3. Straßarkeitslücken und Reformprobleme Der BGH hat mit Recht ausgeführt, daß die Straflosigkeit fahrlässiger pränataler Einwirkungen auf die Leibesfrucht mit tödlichen Folgen insbesondere bei fahrlässiger Verletzung von Berufspflichten der Ärzte und ihres Hilfspersonals zu rechtspolitisch bedenklichen Strafbarkeitslücken führen könne, daß diese jedoch nur durch den Gesetzgeber geschlossen werden könnten. Dasselbe gilt - wie nun hinzuzufügen ist auch für den Fall berufsfahrlässiger Leibesfruchtverletzungen. Für alle diese Fälle gibt es seit langem Reformvorschläge48. Das Urteil des BGH hat mit seiner Erörterung von geburtshilflichen Risiken auch die Augen dafür geöffnet, daß es mit einem beschwichtigenden Hinweis auf das neue Arzneimittelgesetz nicht getan ist4'. Aber die Zeiten sind nicht so, daß mit einer Verbesserung des Strafschutzes der Leibesfrucht gerechnet werden könnte.
47 Vgl. die Prozeßkritik bei: Blei in MMW 1970, S. 741 ff; Lüttger in JR 1971, S. 133 ff; Armin Kaufmann in JZ 1971, S. 569 ff; Bruns in Heinitz-Festschrift, 1972, S. 317 ff, und in Maurach-Festschrift, 1972, S. 469 ff. 48 Vgl. meine Erörterung der unterschiedlichen Reformvorschläge in: Heinitz-Festschrift, S. 369 ff. 49 Das verkennt Roxin in JA 1981, S. 548-549.
Strafrecht und Strafrechtsreform
Das Staatsschutzstrafrecht gestern und heute*1 Das mir gestellte umfangreiche Thema „Das Staatsschutzstrafrecht gestern und heute" bedarf einer Eingrenzung. Es scheint mir angebracht, einige rechts- und kriminalpolitische Gesichtspunkte sowie solche rechtliche Grundsatzfragen in den Vordergrund zu stellen, die allgemeines Interesse finden dürften, dogmatische Einzelprobleme hingegen zurückzustellen. Aber selbst bei dieser Einschränkung des Themas ist es nötig, einige wenige Schwerpunkte zu bilden; sie sollen zugleich drei wichtige Anliegen deutlich machen: Ich will zunächst in einem Rückblick einige beliebte, aber allzu einfache Darstellungen von den Gründen der Staatsschutzreform ins rechte Licht rücken. Sodann will ich der Frage nachgehen, ob wir Deutsche in dem Dilemma eines jeden politischen Strafrechts - den Spannungen zwischen der Freiheit des Bürgers und dem Schutz des Staates2 - endlich einmal den gerade hier „goldenen Mittelweg" gefunden haben. Vor allem aber will ich mit dieser Darstellung dazu beitragen, daß die euphorische Selbstzufriedenheit, die die Väter der Staatsschutz-Reform bei der Verabschiedung des Achten Strafrechtsänderungsgesetzes3 um sich verbreitet haben, recht bald kritischer Nüchternheit weicht. Denn sicher hatte Güde recht, als er im Plenum des Deutschen Bundestages sagte, es müsse sich erst erweisen, ob die Reform geglückt sei4. Doch sollten wir - so meine ich - nicht erst gemächlich die Erfahrungen einer fernen Zukunft abwarten, sondern mit angespannter Wachsamkeit schon heute prüfen, ob die so kräftig betonten Kompromisse etwa zu Mängeln des Gesetzes geführt haben und die Reform schon jetzt als selbst reformbedürftig ausweisen. Dazu kann ich
* Aus: Juristische Rundschau 1969, S. 121-130. 1 Gekürzte und überarbeitete Fassung eines Vortrags, den der Verfasser am 6 . 7 . 6 8 vor einem Arbeitskreis von Juristen im Maximilianeum in München gehalten hat. Der Vortrag ist bereits in „Die Politische Meinung" 1968, Heft IV, Nr. 125, S. 62 ff, veröffentlicht worden. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Redaktion der „Politischen Meinung". 2 Vgl. dazu statt vieler: Heinitz, Staatsschutz und Grundrechte, 1953; Jaeger in Die Politische Meinung, 1966, Nr. 115, 29 ff. 3 Vgl. Achtes Strafrechtsänderungsgesetz vom 2 5 . 6 . 6 8 , BGBl. I, 741 ff; in Kraft getreten am 1 . 8 . 6 8 (Art. 10). 4 Vgl. Güde, S. 9542 A der Niederschrift über die 177. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 2 9 . 5 . 6 8 .
156
Strafrecht und Strafrechtsreform
hier nur eine erste kurze Analyse beitragen, der ich freilich wünsche, daß sie zum Nachdenken darüber anregt, ob das Werk die Meister lobt. A. Von den Gründen der Reform Bei dem im Thema angeschnittenen Rückblick auf das Staatsschutzstrafrecht von gestern geht es mir weniger um eine historische Einleitung, als vielmehr um die Gründe, welche die Reform unausweichlich gemacht haben, und vor allem um die Zerstörung einiger Legenden über eben diese Gründe der Reform. I. Verhängnisvolle Rechtsprechung zu einem unzulänglichen Gesetz. Es gehört seit langem zum gängigen Repertoire publizistischer Kritiker und mancher Politiker, dem Ersten Strafrechtsänderungsgesetz von 19515, das uns die Strafvorschriften über Hochverrat, Landesverrat und Staatsgefährdung gebracht hat, die Schuld an den unbestrittenen Mängeln der bisherigen Staatsschutzpraxis anzulasten6. Weit seltener aber und auch dann oft nur beiläufig findet bei manchen Kritikern der Anteil der Rechtsprechung an jener Entwicklung Erwähnung, etwa in der entschuldigenden Form, daß jenes Gesetz „oftmals einer extensiven Auslegung durch die Gerichte Tür und Tor geöffnet" habe. Das freilich stellt die Dinge auf den Kopf; es wird weder dem historischen Befund noch der Funktion der Gerichte gerecht. Gewiß kann niemand im Ernst behaupten, daß das Erste Strafrechtsänderungsgesetz und damit unser bisheriges Staatsschutzstrafrecht im Lichte heutiger Erkenntnis frei von ernstlichen Fehlern und Schwächen gewesen sei. Es enthielt viel zu viele Straftatbestände, die einander außerdem immer wieder tateinheitlich überschnitten. Es.gab in ihm nicht wenige neuartige Tatbestände, deren präzise Umschreibung mangels jedweder Erfahrung noch nicht gelungen war. Es fanden sich in ihm bedenkliche Vorschriften, die in ihrem objektiven Tatbestand ein wertneutrales Verhalten ohne jeden Unrechtsgehalt vertypten, das seine strafrechtliche Relevanz nur und erst durch das subjektive Tatbestandsmerkmal der „staatsgefährdenden Absicht" erhielt7. Vor allem aber fehlte vielfach die gebotene Abstimmung der Straftatbestände mit dem unverzichtbaren Freiheitsraum des Bürgers. Dennoch enthielt das 5
Vgl. Strafrechtsänderungsgesetz vom 30.8.51, BGBl. I, 739 ff. Vgl. ζ. B. Giide, Müller-Emmert und Diemer-Nicolaus, S. 9540, 9542 u. 9545/46 der in Anm. 4 bez. Niederschrift; Heinsen, S. 151A des Berichts über die 326. Sitzung des Bundesrates vom 14.6.68. 7 Vgl. z.B. §92, a.F., StGB: „Nachrichtensammeln in staatsgefährdender Absicht". 6
Das Staatsschutzstrafrecht gestern und heute
157
Gesetz keinen Tatbestand, der nicht einer sinnvoll einengenden Auslegung zugänglich gewesen [122] wäre. Das hat die Rechtslehre oft genug dargetan; sie hat damit jedoch bei der Rechtsprechung nur selten Gehör gefunden. So ist denn auch der exakte Nachweis möglich, daß die oft unerträgliche Ausuferung des Staatsschutzstrafrechts gerade bei denjenigen Tatbeständen, die sich zu einer wahren Crux für unser Rechtsleben entwickelt haben, auf das Konto der Rechtsprechung geht. Wer diese Judikatur heute nachliest, möchte schier meinen, daß die Pflicht der Gerichte zu verfassungskonformer Auslegung eine Erfindung erst der letzten Tage sei. Und er wird sich verwundert fragen, weshalb denn in diesem Bereich den Gerichten nicht möglich gewesen sein sollte, was ihnen ansonsten doch so oft mit großem Geschick gelingt: mit schlecht gefaßten Gesetzen gutes Recht zu sprechen! Ganz sicher aber wird er kaum begreifen, weshalb denn die Gerichte zu weit geratene Tatbestände noch weiter ausgedehnt oder Einschränkungen, die sich zwingend aufdrängten, so beharrlich abgelehnt haben. Dafür nur einige wenige Beispiele: 1. „Gesamtdeutsche
Organisationsdelikte"
Der durch das Erste Strafrechtsänderungsgesetz von 1951 eingeführte alte § 90 a StGB bedrohte - kurz gesagt - die Gründer, Rädelsführer und Hintermänner einer verfassungswidrigen Vereinigung oder Partei mit Strafe. Diese Vorschrift, deren Anwendung so viel zur Diskreditierung des früheren Staatsschutzstrafrechts beigetragen hat, war bezeichnenderweise im Regierungsentwurf des Ersten Strafrechtsänderungsgesetzes noch nicht enthalten. Sie verdankt ihre Entstehung einer Anregung aus dem Parlament, wo man den Mut zur unmittelbaren Pönalisierung der Art. 9 Abs. 2 und 21 Abs. 2 des Grundgesetzes forderte. In diesen Vorschriften sind bekanntlich - sehr vereinfacht ausgedrückt - verfassungswidrige Vereinigungen und Parteien verboten. Es war also der Sinn des alten § 90 a StGB, bestimmte Zuwiderhandlungen gegen diese Artikel des Grundgesetzes zu pönalisieren8. Nun gelten jedoch diese Vorschriften des Grundgesetzes ja nur in der Bundesrepublik Deutschland. Wenn aber der alte § 90 a StGB nach seiner Entstehungsgeschichte und seinem Zweck als Strafbewehrung eben dieser Normen des Grundgesetzes angelegt war, so konnte er sinnvollerweise gleichfalls nur auf Sachverhalte im räumlichen Geltungsbereich des Grundgesetzes Anwendung finden'. Dennoch hat die Rechtsprechung den früheren §90 a StGB unbegreiflicherweise auch auf in Mitteldeutschland belegene Organisa» Vgl. zur Problematik des §90a, a.F., StGB bezüglich der Parteien einerseits BGHSt. 11, 233 ff, andererseits BVerfGE 12, 296 ff. ' Vgl. dazu Lüttger in JZ 64/569 ff (570).
158
Strafrecht und Strafrechtsreform
tionen angewandt. Der Bundesgerichtshof hat nämlich die räumlichen Schranken des alten § 90 a StGB mit dem von ihm erfundenen Begriff der „Gesamtorganisation" überspielt, die mit dem materiellen Kriterium der sog. „kommunistischen Westarbeit" und dem formellen Merkmal der „Steuerung durch die S E D " aus vielen Organisationen hüben und drüben eine Vereinigung machen wollte10. Diese Ausuferung des alten § 90 a StGB war ohne Zweifel eine schwere Belastung der gesamtdeutschen Verbindungen. Die Verantwortung dafür aber dem Ersten Strafrechtsänderungsgesetz zuschieben zu wollen, ist abwegig. Nicht besser erging es den früheren §§ 42, 47 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht", welche die Zuwiderhandlungen gegen ein Parteiverbotsurteil des Bundesverfassungsgerichts mit Strafe bedrohten. Es ist zwar sicher unbestreitbar, daß solche Urteile des Bundesverfassungsgerichts nur im Jurisdiktionsbereich dieses Gerichtes gelten. Dennoch führte auch hier das Monstrum „Gesamtorganisation" dazu, daß jenseits der Demarkationslinie belegene kommunistische Organisationen und Organisationsteile als angebliche „Ersatzorganisationen" der doch nur in der Bundesrepublik verbotenen K P D erfaßt wurden10. Und wiederum traf den Gesetzgeber nicht die geringste Mitschuld an dieser folgenschweren Ausdehnung der Strafbarkeit. Um diese unheilvolle Entwicklung zu stoppen, bedurfte es erst des Vereinsgesetzes von 1964, das nicht nur eine völlige Umgestaltung dieser Organisationsdelikte brachte, sondern vorsorglich und gezielt etwas ganz Selbstverständliches aussprach, nämlich daß Vereinigungsverbote sich nur auf den räumlichen Geltungsbereich des Gesetzes erstrecken12. Zwar zog die Rechtsprechung jetzt sofort die vom Gesetzgeber gewollte Konsequenz, daß diese räumliche Beschränkung auch für die Strafbarkeit von Zuwiderhandlungen gegen solche Verbote gelte. Die verblüffend aufwendige Begründung für diese zwingende Schlußfolgerung zeigte aber, wie schwer Abschied und Umkehr fielen13.
2. Landesverräterische Beziehungen - oder die Frage nach den Kompetenzen von Rechtsprechung und Gesetzgebung Ein anderes Beispiel - diesmal aus dem Bereich des Landesverratsrechts - mag ebenfalls helfen, die Gewichte der Kritik besser zu verteilen, als dies üblich ist. Der bisherige §100 e StGB bedrohte den mit
10 Vgl. statt vieler: BGHSt. 15, 167ff; kritsch dazu: Ruhrmann in ZStW72, 142 ff; Seifert in DÖV 62/408 ff; Lüttger in JZ 64/570. 11 Vgl. Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12.3.51, BGBl. I, 243 ff. 12 Vgl. Gesetz zur Regelung des öffentlichen Vereinsrechts (Vereinsgesetz) vom 5. 8.64, BGBl. I, 593 ff, hier: § 18; dazu Lüttger in JZ 64/570. 13 Vgl. BGHSt. 20, 45 ff.
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Das Staatsschutzstrafrecht gestern und heute
Strafe, der - kurz gesagt - zu einer auswärtigen Stelle oder zu einem ihrer Mittelsmänner Beziehungen aufnahm oder unterhielt, welche die Mitteilung von Staatsgeheimnissen zum Gegenstand hatten. Bei der Schaffung dieses Tatbestands im Ersten Strafrechtsänderungsgesetz ging der Bundestag erklärtermaßen davon aus, daß es sich um eine Vorbereitungshandlung zum Landesverrat handele, bei der der nächste Akt zweifellos der Verrat eines Staatsgeheimnisses sein werde14. Freilich hatte diese enge Deutung im Gesetzestext nur sehr unvollkommenen Ausdruck gefunden. Dennoch mußte der Gesetzgeber erwarten, daß die Formel von den „Beziehungen, welche die Mitteilung von Staatsgeheimnissen zum Gegenstand haben", wenigstens nicht ihres erklärten Sinnes entleert werde. Dies aber geschah. Denn die Rechtsprechung legte § 100 e StGB dahin aus, daß Beziehungen schon dann die Mitteilung von Staatsgeheimnissen zum Gegenstand hätten, wenn es nur dem auswärtigen Beziehungspartner auf die Erlangung solcher Geheimnisse ankomme und der Täter dies erkenne15. Sie ließ es überdies genügen, daß die Beziehungen nach ihrem Inhalt „in Zukunft" auf die Mitteilung von Staatsgeheimnissen abzielen „können" 1 '. Damit war dann der Weg frei, schlechthin jede Verbindung zu einer auf deutsche Staatsgeheimnisse ausgehenden auswärtigen Stelle unter § 100 e StGB zu subsumieren, auch wenn es etwa nur Probeaufträge zur Beschaffung eines Telefonbuchs oder ähnlicher Dinge waren. Zwar leugnet kaum jemand die Gefährlichkeit solcher Verstrickungen und die Reform hat dem ja auch weitgehend Rechnung getragen. Aber es ist schwerlich bestreitbar, daß jene Rechtsprechung von Wortlaut und Sinn des bisherigen §100 e StGB nicht mehr gedeckt war14: Die Gerichte hatten die ihnen verschlossenen Aufgaben des Gesetzgebers übernommen. Die Reform war hier in die Rolle einer späten Teil-Legalisierung der ausgeuferten Rechtsprechung gedrängt. [123] 3. Staatsgefährdender
Nachrichtendienst
- Begriff ohne
Grenze
Ein letztes Beispiel mag diese Liste, die sich noch erheblich erweitern ließe, abschließen. Der alte § 92 StGB über den sogenannten „staatsgefährdenden Nachrichtendienst" bedrohte jeden mit Strafe, der - vereinfacht ausgedrückt - in staatsgefährdender Absicht für eine auswärtige Stelle oder einen ihrer Mittelsmänner über Verwaltungen, Dienststellen, Betriebe, Anlagen, Einrichtungen, Vereinigungen oder Personen innerhalb der Bundesrepublik Nachrichten sammelte oder eine solche Tätigkeit unterstützte. Der damalige Generalbundesanwalt hat in eingehend 14
Vgl. Lackner in ZStW 78, 695 ff (700) mit Nachw. Vgl. BGHSt. 6, 333 ff. " Vgl. z.B. BGHSt. 18, 336ff. 15
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Strafrecht und Strafrechtsreform
begründeten Anträgen den Versuch unternommen, den Bundesgerichtshof zu einer einschränkenden Auslegung dieser viel zu weit geratenen Strafvorschrift zu bewegen, zum Beispiel durch Beschränkung auf eine ihrer Art nach nachrichtendienstliche Sammeltätigkeit und auf Meldungen von nachrichtendienstlichem Interesse. Ich weiß dies deshalb, weil ich mit ausdrücklicher Billigung des damaligen Bundesjustizministers Schäffer wesentlichen Anteil an der Abfassung dieser Stellungnahmen hatte. Der Bundesgerichtshof ist jedoch diesen von ernster Sorge getragenen Anträgen nicht gefolgt und hat auf der denkbar weitesten Auslegung des §92 StGB beharrt17, so daß wohl keine Materie und kein Reisebericht über irgendwelche Beobachtungen unerfaßt blieben, wenn der Täter nur in staatsgefährdender Absicht handelte. Und diese „Absicht" deutete der Bundesgerichtshof - in erstaunlicher Verkennung der Gesetzesmaterialien - jahrelang bis zu einer späten Umkehr als direkten Vorsatz18, womit auch insoweit die Reichweite der Strafvorschrift überdehnt wurde. Ich habe an anderer Stelle eingehend dargetan, daß die Ausuferung des objektiven Tatbestands des §92 StGB nach Entstehungsgeschichte und ratio legis strafrechtlich verfehlt und überdies verfassungsrechtlich unzulässig war1'. Ganz gewiß aber zeigt dieses besonders typische und folgenschwere Beispiel, daß nicht so sehr das schlechte Gesetz, als vielmehr die Härte der Rechtsprechung die Verantwortung dafür trägt, daß gesamtdeutsche Kontakte bis hin in den Bereich des Sports, der Kommunalwirtschaft und der Konsumgenossenschaften - lauter judizierte Fälle - in den Sog des politischen Strafrechts kamen! II. Legenden um Gesetz und Rechtsprechung Doch genug dieser Beispiele, die sich um der historischen Wahrheit willen nicht verschweigen lassen, wenn man nach den Gründen für die Reformbedürftigkeit des Staatsschutzstrafrechts fragt. Denn es gilt, in Kürze noch einige Legenden zu zerstören, die viel Verwirrung angerichtet haben. Man hat Gesetz und Rechtsprechung nämlich eine Menge Sünden zur Last gelegt, die sie nie begangen haben. Auch dafür nur einige wenige Beispiele: 1. Das Schlagwort vom nichtssagenden Staatsgeheimnisbegriff Vor einigen Jahren schrieb Heinemann, die Begriffsbestimmung des Staatsgeheimnisses sei ebenso nichtssagend wie Fritz Reuter's Aussage, Vgl. B G H S t . 15, 1 7 6 - 1 7 7 ; 16, 15ff u. 26ff. Vgl. einerseits: B G H S t . 9, 142; 10, 163; 11, 171; 15, 155; andererseits: B G H S t . 18, 151 u. 246. » Vgl. Lüttger in M D R 6 6 / 6 2 9 ff u. 713 ff. 17 1!
Das Staatsschutzstrafrecht gestern und heute
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daß „die Armut von der Poverté herkomme" 20 . Leider hatte dieser gewiß bitter ernst gemeinte - Satz keine Pointe, denn er war einfach falsch. Ebenso falsch war jüngst die Behauptung einiger Parlamentarier im Plenum des Bundestages, daß bei uns zwischen Staats- und Regierungsgeheimnissen nicht genügend unterschieden werde21. Und wenn sich daran die Feststellung schloß, bei der Reform habe man sich gerade um Klarstellung dieses Unterschiedes bemüht, so hat man eben etwas klargestellt, was weder Gesetz noch Rechtsprechung verwechselt hatten. Der alte § 99 Abs. 1 StGB definierte die Staatsgeheimnisse als Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse oder Nachrichten darüber, deren Geheimhaltung vor einer fremden Regierung für das Wohl der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder erforderlich sei. Der hier in Anlehnung an eine über hundertjährige deutsche Rechtstradition und in Ubereinstimmung mit vielen ausländischen Strafrechtssystemen22 verankerte sogenannte „materielle Staatsgeheimnisbegriff" hatte viel festere Konturen als seine Kritiker vorgaben. Der Bundesgerichtshof hat nämlich stets den angeblich so verschwommenen Begriff des „Wohls der Bundesrepublik" als „die äußere Machtstellung des Staates im Verhältnis zu fremden Regierungen" verstanden23. Zudem hat er diesen Begriff des „äußeren Staatswohls" auf die Bereiche der Landesverteidigung, der Außenpolitik und der nachrichtendienstlichen Abwehr begrenzt24. Er hat mit aller Klarheit rein wirtschaftliche und rein wissenschaftliche Angelegenheiten ausgeschieden24 und betont, daß „die innere Machtstellung des Staates", also innenpolitische Interessen nicht darunter fielen23. So kam es denn, daß der Staatsgeheimnisbegriff immerhin festere Konturen hatte als mancher andere Rechtsbegriff und daß die Rechtsprechung gegen eine Verwechslung von Staatsgeheimnissen mit Regierungsgeheimnissen bestens gefeit war. Lediglich die Einsicht, daß Staatsgeheimnisse Angelegenheiten von einiger Bedeutung sein müssen, kam dem Bundesgerichtshof - anders als dem Reichsgericht - erst verhältnismäßig spät25, während er vorher oftmals recht unbedeutende Angelegenheiten als Staatsgeheimnisse gewertet hatte. Dies freilich hatte mit „Regierungsgeheimnissen" nichts zu tun.
Vgl. Heinemann in N J W 63/6. Vgl. Moersch u. Arndt, S.9537, 9538 der in Anm.4 bez. Niederschrift. 22 Vgl.Jescbeck, Pressefreiheit und militärisches Staatsgeheimnis, 1964, S. 18; ferner die rechtshistorische und rechtsvergleichende Materialzusammenstellung von Schlichter in Die Dritte Gewalt, N r . 3 vom 1 5 . 2 . 6 3 , Iff. 23 Vgl. zuletzt BGHSt. 20, 342 ff, 361, 367. 24 Vgl. besonders BGHSt. 18, 336 ff, 338. 25 Offenbar erstmals in BGHSt. 20, 342 ff, 381. 20 21
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Strafrecht und Strafrechtsreform
2. Die Mär vom Gesinnungsstrafrecht Abwegig war auch der so oft öffentlich erhobene Vorwurf, im Bereich der Staatsgefährdung herrsche Gesinnungsstrafrecht und selbst wissenschaftliche Publikationen seien nach höchstrichterlicher Rechtsprechung vor einem Zugriff nicht sicher. Dabei hatte der Bundesgerichtshof in einem viel beachteten Urteil betont, jeder dürfe sich als Kommunist bekennen und für kommunistische Ziele, Forderungen und Auffassungen eintreten, solange er nicht den ganz anders umschriebenen Tatbestand eines Organisationsdelikts erfülle oder etwa Schriften verbreite, die nach ihrem Inhalt darauf ausgingen, den Bestand der Bundesrepublik zu beeinträchtigen oder zur Unterdrückung der demokratischen Freiheit wesentliche Verfassungsgrundsätze zu untergraben (§93, a. F., StGB)26. Und in einem anderen Urteil hatte der Bundesgerichtshof (echte) Informations- und Dokumentationsschriften ausdrücklich aus diesem Tatbestand der Verbreitung staatsgefährdender Schriften ausgeschieden27·28 . Sollten die Instanzgerichte über die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hinausgegangen sein, so bestand die Möglichkeit der Korrektur durch Einlegung der Revision gegen die Urteile der zentralen Strafkammern. [124] Der Bundesgerichtshof hat auch noch andere Einschränkungen vorgenommen29. Leider wiegt aber der Katalog solcher Einschränkungen nach Ausmaß und Wirkung die schwerwiegenden Folgen nicht auf, die eine ausgeuferte Rechtsprechung bei zahlreichen anderen Tatbeständen heraufbeschworen hat. B. Der Gang der Reform - Dichtung und Wahrheit So schlug denn die Stunde der Reform. Sie begann in einem denkbar ungünstigen Klima. Die Mängel des Gesetzes und die Auswüchse der Judikatur standen im Mittelpunkt eines publizistischen Trommelfeuers, das weithin den Boden sachlicher Diskussion verlassen und nicht selten wie Willms es einmal ausgedrückt hat30 - auf das Niveau von Pamphleten abgesunken war. Die Kritik strotzte oft von Unrichtigkeiten, deren bedeutsamsten wohl die jahrelang verbreiteten Falschmeldungen über 26
Vgl. BGH bei Wagner in GA 66/296; vgl. auch die Nachw. in Anm. 79 u. 80. Vgl. BGHSt.19, 245 ff. 28 Über weitere Einschränkungen des §93, a.F., StGB vgl. Lüttger in MDR 61/809 ff (814) m. Nachw. in Fn. 49; ferner BGHSt. 13, 375 ff; 19, 63 ff u. 221 ff (zw.). 29 So insbes. bei dem unglückseligen früheren §100d Abs. 2 StGB betr. die sog. staatsgefährdenden Beziehungen; hier ist die Anwendung der Strafvorschrift auf solche Personen begrenzt worden, die dauernd in der Bundesrepublik leben oder zu ihr in einem besonderen Schutz- oder Treueverhältnis stehen; vgl. BGHSt. 10, 46ff. 30 Vgl. Willms in FAZ, Nr.213 vom 14.9.66, S. 11. 27
Das Staatsschutzstrafrecht gestern und heute
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die Zahl der Staatsschutzverfahren waren. Das endete erst, als ich diese Schauergeschichten - gestützt auf amtliche Unterlagen - in einer kriminalstatistischen Abhandlung widerlegen konnte31. Man wird wahrscheinlich niemals messen können, ob und wie weit dieses vergiftete Klima unterschwellig die Reform beeinflußt hat. Daß es sie zumindest begleitet hat, wird sich sogleich zeigen. Läßt man den nicht mehr zum Zuge gekommenen Entwurf eines Strafgesetzbuches - E196232 - beiseite, so begann die Staatsschutzreform zeitlich mit einem von der Bundestagsfraktion der SPD eingebrachten Entwurf vom 8.12.6533. Ihm folgte am 5.9.66 ein unter der Federführung des damaligen Bundesjustizministers Dr. Jaeger vom Kabinett Erhard beschlossener Entwurf eines Achten Strafrechtsänderungsgesetzes34. Während der Beratungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform des Deutschen Bundestages schloß sich noch ein von 16 Professoren erarbeiteter sog. „Alternativ-Entwurf" an35. Der Sonderausschuß hat sich in 53 Sitzungen - wie es in seinem Schriftlichen Bericht für das Plenum heißt - bemüht, aus allen Entwürfen die besten Gedanken zu übernehmen und gewissermaßen eine Brücke zwischen den Entwürfen zu schlagen36. Man könnte es zum äußerlichen Hergang der Reform bei dieser kurzen Aufzählung bewenden lassen, wenn nicht auch hier wieder eine besonders bösartige Mär zu zerstören wäre. Wie bei Gesetzgebungsvorhaben üblich, wurde damals zunächst im Bundesjustizministerium ein sogenannter Referentenentwurf erarbeitet, der die Grundlage für interne Beratungen mit anderen beteiligten Stellen bilden sollte. Dieser Entwurf hatte noch keineswegs die Billigung des Ministers, der sich vielmehr gegenüber manchen Teilen ausgesprochen skeptisch geäußert hatte. In diesem Zeitpunkt geriet der Entwurf jedoch auf einem mir nicht bekannten Wege in die Presse. Dort erhielt er ungesäumt den Namen „Richard Jaegers Entwurf" und sogleich mußte der verdutzte Bürger lesen, daß hier „mit verkehrter Front" gekämpft und im Zeichen der Liberalisierung und Entspannung eine Verschärfung der Staatsschutzbestimmungen bis hin zum „totalen Staatsschutz" angestrebt werde. Das traf zwar schon auf den Referentenentwurf nicht zu, erst recht aber nicht auf den späteren Regierungsentwurf. Dennoch ging die Kampagne weiter. 31
Vgl. Lüttger in MDR 67/165 ff, 257 ff u. 349 ff. Vgl. BT-Drucks. IV/650. 53 Vgl. BT-Drucks. V/102. 34 Vgl. BT-Drucks. V/898. 35 Vgl. „Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuchs, Besonderer Teil, Politisches Strafrecht" von Baumann u. a., 1968, Verlag Mohr (Siebeck), Tübingen. 34 Vgl. BT-Drucks. V/2860, S. 1. 32
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Strafrecht und Strafrechtsreform
Die Wirklichkeit sah anders aus; eine stichwortartige Aufzählung mag dies andeuten: Der Regierungsentwurf strich drei Vorschriften des Staatsschutzstrafrechts ersatzlos, nämlich die landesverräterische Beweisvernichtung (§ 100 b StGB), die landesverräterische Lügenpropaganda (§ 100 d Abs. 3 StGB) und die diplomatische Untreue (§ lOOf StGB). Zwei weitere besonders ausgeuferte Tatbestände, nämlich den staatsgefährdenden Nachrichtendienst (§ 92 StGB) und die staatsgefährdenden Beziehungen (§ 100 d Abs. 2 StGB), strich er ebenfalls und ersetzte sie in engen Teilbereichen durch gänzlich anders konzipierte Tatbestände. Bei neun anderen wichtigen Strafvorschriften sah der Entwurf tatbestandliche Einschränkungen von zum Teil erheblicher Tragweite vor, sei es durch Einengung des objektiven Tatbestands oder durch Anhebung der Strafbarkeitsschwelle im subjektiven Tatbestand, sei es durch Wegfall der Versuchsstrafbarkeit. Bei fünfzehn Straftatbeständen schränkte der Entwurf Strafart oder Strafrahmen ein und in fünf Fällen sah er die Möglichkeit zum Absehen von Strafe oder zur Strafmilderung vor37. Jeder Gutwillige konnte dies durch einen Vergleich zwischen dem Strafgesetzbuch und dem Regierungsentwurf feststellen. Zahlreiche dieser Streichungs- und Änderungsvorschläge sind in das Gesetz übergegangen. Der Regierungsentwurf blieb aber nicht im Bereich verfeinernder und einschränkender Gesetzestechnik stehen; er tat an wesentlichen Punkten auch in seiner rechtspolitischen Konzeption mutige Schritte nach vorn. Dafür nur zwei Beispiele: Der Entwurf löste den altmodischen Tatbestand des Landesverrats in vier nach objektiven und subjektiven Merkmalen abgestufte Tatbestände von unterschiedlichem Unrechtsgehalt auf und eliminierte dadurch den sogenannten "publizistischen Landesverrat" aus dem - sagen wir - gemeinen Landesverrat (§§ 99 ff. des RegE). Dieser Vorschlag war nach meiner Ansicht das Modernste, was es in vergleichbaren Rechtssystemen der westlichen Welt gab, einschließlich der oft gelobten Dreiteilung im französischen Strafrecht. Kein Wunder, daß der Gesetzgeber im Prinzip darin dem Regierungsentwurf gefolgt ist (§§94 ff., n. F., StGB). - Ebenso modern und segensreich war, daß der Regierungsentwurf - im Gegensatz etwa zum SPD-Entwurf - erstmals bei den landesverräterischen Beziehungen den Weg von dem unseligen Beziehungstatbestand zu einem Tätigkeitstatbestand aufzeigte (§ 100 des RegE.). Auch dem ist der Gesetzgeber gottlob im Grundsatz gefolgt (§99, n. F., StGB). In kriminalpolitischer Hinsicht war der Regierungsentwurf bemüht, das Staatsschutzstrafrecht an veränderte oder neue Formen strafwürdiger Verhaltensweisen anzupassen. Auch dafür nur ein Beispiel: Beob17
Vgl. dazu näher: Jaeger in „Die Dritte Gewalt", 1966, Nr. 14, 1 ff.
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achtungen unserer Nachrichtendienste und ein vor dem Bundesgerichtshof verhandeltes Verfahren hatten gezeigt, daß es in der Bundesrepublik nicht nur Spionageagenten, sondern auch Sabotageagenten gibt, die bestens ausgebildet - bereitstehen, um in Krisenzeiten durch Gewaltakte Verwirrung zu stiften und lebenswichtige Einrichtungen lahmzulegen. Da das geltende Recht keine Handhabe gegen diese zunächst nur „stillhaltenden" Sabotageagenten bot, sah der Regierungsentwurf - im Gegensatz zum SPD-Entwurf - hierfür einen neuartigen Straftatbestand vor (§90 des RegE.) Er ist - wenn auch in überarbeiteter Form ebenfalls Gesetz geworden (§ 87, n. F., StGB). Mit alledem möchte ich nicht mißverstanden werden: Ich bin weit davon entfernt, den Regierungsentwurf in allen Teilen für eine Meisterleistung zu halten. Das konnte [125] er schon deshalb nicht sein, weil er unter enormem Zeitdruck erstellt werden mußte38. Doch ging es mir hier ja um etwas anderes, nämlich zu zeigen, daß der Einfluß des Regierungsentwurfs auf die Reform weit größer war als seine Gegner wahrhaben wollten. Der Schriftliche Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform39 verzeichnet mit minütiöser Genauigkeit bei sämtlichen Strafvorschriften, aus welchen Entwürfen die Gedanken und die Fassungen entlehnt sind. Warum nur haben manche diese für den Regierungsentwurf so günstige Bilanz nicht zur Kenntnis genommen? C. Zum neuen Recht Das neue Staatsschutzgesetz3 bringt eine ganze Reihe von Streichungen und Änderungen, die jeder dankbar begrüßen wird. Einige davon habe ich schon genannt; andere sind durch die eingehende Berichterstattung der Massenmedien bekannt. Was aber bisher fehlt, ist eine kritische Durchsicht des Gesetzes daraufhin, ob die Reform bei ihrer im Prinzip unbestritten richtigen restriktiven Tendenz immer den kriminalpolitischen Bedürfnissen gerecht geworden ist und ob ihr die Fassung der neuen Tatbestände in allen Fällen gelungen ist. Auch dies kann ich nur an einigen Beispielen erläutern:
38 Manche Einzelheiten habe ich stets für verfehlt gehalten; so beispielsweise die dogmatisch unhaltbare Beschränkung des vorgeschlagenen Rechtfertigungsgrundes für die Preisgabe illegaler Staatsgeheimnisse auf solche, deren Verfassungswidrigkeit „offensichtlich" sei (§ 99 a Abs. 5 des RegE); das Nebeneinander von landesverräterischen „Betätigungen" und „Beziehungen" (§ 100 Abs. 1 u. 2 des RegE) und die unpraktikable komplizierte Fassung der vorgeschlagenen Strafvorschrift gegen die Sabotageagenten (§ 90 des RegE), deren nunmehr Gesetz gewordene Fassung (§ 87, n. F., StGB) übrigens auch nicht viel besser ist. 39
Vgl. BT-Drucks. V/2860.
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Strafrecht und Strafrechtsreform
I. Landesverrat - programmierter Substanzverlust Zum neuen Landesverratsrecht will ich mich im wesentlichen auf einige gravierende Punkte im Zusammenhang mit dem neuen Staatsgeheimnisbegriff beschränken. Daraus ist nicht zu schließen, daß ich in diesem Bereich alles andere für völlig gelungen hielte. 1. Der zweispurige Staatsgeheimnisbegriff-
eine neue
„Schaukeltheorie"
Das neue Recht teilt den früheren Landesverrat nach dem Vorbild des Regierungsentwurfs in vier nach objektiven und subjektiven Merkmalen abgestufte Tatbestände von unterschiedlichem Unrechtsgehalt auf: in den eigentlichen Landesverrat als schwerste Begehungsform (§ 94, n. F., StGB) und in die milderen Begehungsarten des Offenbarens sowie der vorsätzlichen und der leichtfertigen Preisgabe von Staatsgeheimnissen (§§ 95, 97, n. F., StGB). Dabei verwendet das Gesetz nicht einen einheitlichen, sondern einen „zweispurigen" Staatsgeheimnisbegriff 39 '. Zunächst definiert es (in §93 Abs. 1, n. F., StGB) die Staatsgeheimnisse als „Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse, die nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich sind und vor einer fremden Macht geheimgehalten werden müssen, um die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland abzuwenden". Hier handelt es sich also - trotz aller noch zu erörternden Einschränkungen nach wie vor um einen rein materiellen Staatsgeheimnisbegriff 40 . Diesen materiellen Geheimnisbegriff legt das Gesetz aber nur dem schwersten der vier Tatbestände, dem eigentlichen Landesverrat, zugrunde. Bei den übrigen drei Tatbeständen verwendet es einen eingeschränkten „kombiniert materiell-faktischen Staatsgeheimnisbegriff" 40 . Denn dort fordert es zusätzlich zu den Merkmalen der Legaldefinition, daß das Staatsgeheimnis „von einer amtlichen Stelle oder auf deren Veranlassung geheimgehalten wird" (§§95, 97, n . F . , StGB). Das hat die seltsamsten Konsequenzen: Nehmen wir einmal das im Schriftlichen Bericht des Sonderausschusses 40 erwähnte Beispiel einer privaten Erfindung, die den amtlichen Stellen noch unbekannt und daher weder von ihnen noch auf ihre Veranlassung hin tatsächlich geheimgehalten wird; unterstellen wir weiterhin, daß es sich um eine militärische Erfindung handelt, daß sie nur dem Erfinderteam zugänglich ist und daß sie zur Abwendung einer schweren Gefahr für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik vor einer fremden Macht geheimgehalten werden muß. 3,1 In anderem Zusammenhang - nämlich hinsichtlich der Regelung für die illegalen Staatsgeheimnisse (§§93 Abs.2, 97a, n.F., StGB) - mag man sogar von einem „dreispurigen" Staatsgeheimnisbegriff sprechen; vgl. dazu Schwarz-Dreher, 30. Aufl. 1968, Anm. 1 zu §93 StGB. « Vgl. BT-Drucks. V/2860, 14 ff.
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In diesem Falle erfüllt die Erfindung alle Merkmale des materiellen Staatsgeheimnisbegriffs, wie er dem eigentlichen Landesverratstatbestand zugrunde liegt, nicht aber das zusätzliche Merkmal, das in den Geheimnisbegriff der anderen drei Tatbestände eingebaut ist. Hier gewinnt oder verliert also ein und dieselbe Erfindung ihren Charakter als Staatsgeheimnis je nach dem Straftatbestand. Hat beispielsweise der Täter - wie es der Tatbestand des eigentlichen Landesverrats voraussetzt - diese Erfindung in unmittelbarer Konspiration einer fremden Macht oder einem ihrer Mittelsmänner mitgeteilt oder hat er sie in der Absicht, die Bundesrepublik zu benachteiligen oder eine fremde Macht zu begünstigen, veröffentlicht oder sonst an einen Unbefugten gelangen lassen, so ist die Erfindung ein Staatsgeheimnis und der Täter (bei Vorliegen der sonstigen Tatbestandsmerkmale) wegen Landesverrats strafbar (§94, n. F., StGB). Hat der Täter hingegen - wie es die drei anderen milderen Tatbestände voraussetzen - nicht in unmittelbarer Kollaboration mit einer fremden Macht und nicht in Benachteiligungs- oder Begünstigungsabsicht gehandelt, sondern - summarisch ausgedrückt - die Erfindung in Kenntnis ihres Geheimnischarakters41 lediglich vorsätzlich öffentlich bekanntgemacht bzw. sie vorsätzlich oder leichtfertig an einen Unbefugten gelangen lassen, so ist die Erfindung kein Staatsgeheimnis, weil es an der amtlichen Obhut fehlte; der Täter ist also nicht wegen Offenbarens oder wegen Preisgabe eines Staatsgeheimnisses strafbar (§§95, 97, n. F., StGB). Dieser seltsame Bedeutungswandel ein und derselben Erfindung ist indessen nicht nur eine Angelegenheit der rechtlichen Konstruktion, sondern hängt praktisch auch von der Beweislage ab. Denn wenn die erschwerenden Merkmale des Landesverrats - etwa wegen des Meineids eines Zeugen - nicht beweisbar sind, führt dies hier nicht - wie sonst etwa im Verhältnis zwischen Grundtatbestand und qualifiziertem Delikt - zur Strafbarkeit nach einem dahinter gestaffelten weitergehenden Tatbestand, sondern zur Straflosigkeit wegen Offenbarens und wegen Preisgabe von Staatsgeheimnissen. Ich habe keinen Zweifel, daß diese Abhängigkeit des (zweispurigen) Staatsgeheimnisbegriffs vom Handlungstatbestand - also von der Art und Weise, wie und mit welcher subjektiven Haltung der Täter die geheimen Fakten preisgibt - eine bedauerliche Fehlleistung des Gesetzgebers ist. Der vom Sonderausschuß betonte Kompromißcharakter dieser Regelung und das berechtigte Streben nach einer Einschränkung der Strafbarkeit des sogenannten „publizistischen Landesverrats" sind zwar eine Erklärung, aber keine Rechtfertigung dafür, daß der Gesetzgeber
41 Näheres dazu bei: Schwarz-Dreher, Krauth-Kurfess-Wulff in J Z 68/611.
Anm. 6 zu § 9 3 und Anm. 2 zu § 9 7 StGB;
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hier übers Ziel hinausgeschossen ist42. Auch der Sonderausschuß hätte wissen müssen, daß die Kriege von [126] morgen in den Köpfen der Erfinder von heute entschieden werden. Der Regierungsentwurf, der ebenfalls den „publizistischen Landesverrat" aus dem „gemeinen" Landesverrat ausklammerte, vermied diese ungereimten Ergebnisse. Was hier beispielhaft für Erfindungen gesagt ist, gilt stellvertretend auch für andere Geheimnisse. Daß die im neuen Recht enthaltenen „Auffangtatbestände" weder eine umfassende noch eine sachgerechte Lösung darstellen, wird später zu zeigen sein43. 2. Das außenpolitische
Geheimnis - oder die Amputation bereichs
eines Schutz-
Aus der soeben erwähnten Legaldefinition ergibt sich, daß der Begriff des Staatsgeheimnisses - anders als bisher - auf Sachverhalte beschränkt ist, denen erhebliche Bedeutung für die „äußere Sicherheit der Bundesrepublik" zukommt. Unter diesen Begriff der äußeren Sicherheit fallen vornehmlich die Angelegenheiten der Landesverteidigung einschließlich der Rüstungsindustrie. Der Begriff „äußere Sicherheit" geht jedoch weiter als die Landesverteidigung; er umfaßt beispielsweise auch die nachrichtendienstliche Abwehr einschließlich ihrer aktiven Aufklärung, freilich nur insoweit, als sie auch die äußere Sicherheit berührt, nicht jedoch, soweit sie außenpolitische Belange betrifft 40 . An dieser - in der Praxis ganz wesentlichen - Schranke zeigt sich eine weitere wichtige Einschränkung des neuen Staatsgeheimnisbegriffs : er umfaßt rein außenpolitische Geheimnisse - also solche, die nicht zugleich aus Gründen der äußeren Sicherheit geheimhaltungsbedürftig sind - nicht mehr40. Damit ist eines der ältesten Kernstücke aus dem Staatsgeheimnisbegriff ausgeschieden. Der Sonderausschuß hat dies damit begründet, daß eine Einbeziehung diplomatischer Geheimnisse die Schwierigkeiten bei der Abgrenzung echter Staatsgeheimnisse von bloßen Regierungsgeheimnissen vergrößern und zu einer sachlich nicht immer gebotenen Ausdehnung der Landesverratsvorschriften führen könne; überdies könne sie die Gerichte zur Nachprüfung nicht justiziabler politischer Fragen führen 40 . Diese Gründe überzeugen indessen nicht. Daß die Rechtsprechung der Nachkriegszeit die Staatsgeheimnisse sehr gut von den Regierungsgeheimnissen zu unterscheiden gewußt hat, sagte ich schon44. Warum wohl sollte dies bei der mit kräftig einschränkenden Merkmalen ausge42 § 30 c des Patentgesetzes und § 3 a des Gebrauchsmustergesetzes i. d. F. des Art. 6 Nr. 2 und 3 des 8. StÄG (Anm. 3) schließen diese Lücke nicht. 45 Vgl. Abschnitt C I 4. 44 Vgl. Abschnitt A II 1.
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statteten neuen Legaldefinition des Staatsgeheimnisses nicht mehr möglich sein? Auch ist aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und aus der Einstellungspraxis des Generalbundesanwalts kein Fall einer Fehlbeurteilung bekannt geworden, obgleich es einschlägige Verfahren gegeben hat. Weshalb also sollen dann plötzlich außenpolitische Staatsgeheimnisse nicht mehr justiziabel sein? Hätte man in einer Kombination der einschränkenden Merkmale des Regierungsentwurfs und des neuen Gesetzes auf „die Gefahr eines schweren Nachteils für die außenpolitischen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu einer fremden Macht" abgestellt, dann wäre sicherlich auch die in sibyllinischen Worten heraufbeschworene Gefahr einer unangemessenen Ausdehnung gebannt worden45. Hinter dieser Ausklammerung der außenpolitischen Geheimnisse aus dem Staatsgeheimnisbegriff steht - wie ich glaube - eine kriminalpolitische Fehlentscheidung des Gesetzgebers, die die gefährdete Lage der Bundesrepublik im Spannungsfeld zwischen West und Ost verkennt und die ganz gewiß nicht das Vertrauen unserer westlichen Verbündeten in den deutschen Schutz diplomatischer Geheimnisse fördert. Wie sagte doch Güde noch 1960: „Auch der Verrat eines diplomatischen Geheimnisses vermag die Chancen eines Staates auf Behauptung und Festigung seiner Stellung in seinen Beziehungen zu Freund und Feind zu beeinträchtigen"46. Daß der im neuen Recht enthaltene Tatbestand der sogenannten „geheimdienstlichen Tätigkeit" - allen Beteuerungen zum Trotz - keine befriedigende Lösung bringt, wird noch zu erörtern sein45. 3. Das Mosaikgeheimnis - Irrungen und Wirrungen Nach der neuen Legaldefinition kann lediglich das ein Staatsgeheimnis sein, was „nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich" ist. Damit soll das so leidenschaftlich umstrittene Mosaikgeheimnis aus dem Kreis der Staatsgeheimnisse ausgeschieden werden. Der Schriftliche Bericht des Sonderausschusses bemerkt dazu, die Rechtsprechung habe bisher die systematische Erfassung und Zusammenstellung von offenen Tatsachen zu einem neuen Gesamtbild mit der Begründung in den Geheimnisbegriff einbezogen, eine so erarbeitete Zusammenstellung sei eine von den Einzeltatsachen verschiedene neue Erkenntnis, die Außenstehende nicht hätten und die deshalb vor einer fremden Regierung geheimgehalten werden müsse40. In dieser Erläuterung fehlt indessen das entscheidende Kriterium des (richtig verstandenen) Mosaikgeheimnisses. Nach
45 Die dogmatischen Bedenken gegen die Floskel von der „Gefahr eines schweren Nachteils" mögen hier dahinstehen; vgl. dazu Lüttger in J Z 64/569 ff (573) m. Nachw. in Fn. 51; Schwarz-Dreher, A n m . 2 C c zu § 9 3 StGB. 46 Vgl. Güde in „Tätigkeitsbericht 1960 des Deutschen Presserates", 20 ff (23).
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einigen mißglückten Versuchen47 haben nämlich Rechtsprechung und Lehre mit Recht betont, das entscheidende Merkmal sei, ob die von den Einzeltatsachen verschiedene, neue und noch unbekannte Erkenntnis ihrerseits einen materiell geheimhaltungsbedürftigen Inhalt habe48. Die mosaikartige Zusammenstellung von offenen Einzelheiten ist demnach nicht deshalb ein Staatsgeheimnis gewesen, weil das neue Gesamtbild noch unbekannt war, sondern nur dann, wenn das neue, noch unbekannte Gesamtbild eine von den Mosaiksteinchen unterschiedliche Aussage enthielt, die ihrerseits ein Staatsgeheimnis bildete. Das konnte beispielsweise dann der Fall sein, wenn etwa ein fachkundiger Auswerter aus einer Unzahl von Einzelheiten in Adreß- und Telefonbüchern, Firmenprospekten und Geschäftsberichten, Auftragsausschreibungen und Stellenangeboten oder ähnlichen offenen Vorgängen ein genaues Bild etwa des Rüstungspotentials in einem bestimmten militärischen Bereich erstellte49. Hier wäre es falsch, nur von einer Summe offener Einzelheiten zu sprechen; denn diese Zusammenstellung enthielt eine neue, andere und - im Unterschied zu den Einzeltatsachen - militärisch bedeutsame Einsicht. Diese vom Auswerter erst geschaffene verteidigungswichtige Erkenntnis konnte - aber mußte nicht - den Rang eines Staatsgeheimnisses haben; das neue Gesamtbild war eben an der Legaldefinition zu messen. Ergab sich aber, daß das Fazit aus der Zusammenstellung ein militärisches Staatsgeheimnis darstellte, so war schlechterdings nicht einzusehen, weshalb es nicht den Schutz eines Staatsgeheimnisses verdienen sollte. Willms hat mit Recht gesagt, ein Agent, der ein solches Mosaik zusammensetze und verrate, bewirke das gleiche Ergebnis und handele mindestens ebenso verwerflich wie ein Agent, dem es gelinge, ein geheimes Dokument mit den gleichen Aussagen in die gegnerische Hand zu bringen50. Die Mosaiktheorie war eben - wie Woesner47 mit Recht betont hat - wesentlich besser als ihr Ruf. So zögert denn - wie [127] Jescheck belegt hat51 - auch das Ausland nicht, die Mosaiktheorie im Rahmen der Strafvorschriften über den Verrat von Staatsgeheimnissen anzuwenden. Freilich ging es dem Sonderausschuß bei der Eliminierung der Mosaiktheorie vor allem darum, daß die der Information der Öffentlichkeit dienende typische journalistische Tätigkeit des Sammeins, Auswertens und Analysierens von Nachrichten nicht behindert werde40. Dieses Eingehend dazu: Woesner in N J W 64/1877ff m. Nachw. Vgl. z. B. R G in DRiZ 1924, Sp. 391; BGHSt. 15, 17 ff; Woesner in N J W 64/1877 ff; Jescheck in J Z 67/6 ff (9); Schwarz-Dreher, A n m . 2 B zu §93 StGB. 4 ' Vgl. den Fall in BGHSt. 15, 17 ff. 50 Vgl. Willms in Die Dritte Gewalt, Nr. 13 vom 15.7.65, 1 ff (6). 51 Vgl. Jescheck, Pressefreiheit und militärisches Staatsgeheimnis, 24ff m. Nachw.; Jescheck in J Z 67/6 ff (10). 47
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Ziel mag dem Sonderausschuß vor allem deshalb am Herzen gelegen haben, weil das Bundesverfassungsgericht im sogenannten „Spiegel"Urteil beim publizistischen Landesverrat die Vereinbarkeit der Mosaiktheorie mit der Pressefreiheit des Art. 5 G G zwar nicht abschließend entschieden, jedoch angezweifelt hat52. Man kann die Berechtigung dieser Bedenken aber durchaus in Frage stellen. Denn die Mosaiktheorie hinderte den Journalisten gar nicht beim Sammeln, Auswerten und Analysieren; sie verhinderte auch das Publizieren nur in den seltenen Fällen, in denen das Mosaik ein Staatsgeheimnis war. Dessen Konturen sind jedoch in der neuen Legaldefinition viel schärfer umschrieben und schließlich gehört zu jeder Straftat auch ein subjektiver Tatbestand! Daß es aber verfassungsrechtlich unzulässig sein soll, im Interesse der äußeren Sicherheit der Bundesrepublik den Verzicht auf eine Publizierung zu verlangen, wenn bei journalistischen Recherchen ein Staatsgeheimnis herausgekommen ist und der Journalist dies erkennt oder doch für möglich hält53, will kaum einleuchten. Und zwar auch nicht bei der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung zwischen der Pressefreiheit und dem Schutz des Staates54. Denn das so drastisch eingeschränkte Schutzobjekt des Landesverrats tritt sicher nicht von vornherein und in jedem noch so schweren Fall hinter die Pressefreiheit zurück55. Aber selbst wenn man die verfassungsrechtlichen Bedenken nicht glaubte überwinden zu können oder wenn man einfach aus rechtspolitischen Gründen zu dieser Lösung kommen wollte, weshalb hat man dann nicht zu einer verbesserten Fassung der Ausnahmeklausel gegriffen, die das alte Recht für die Presse- und Funkberichterstattung bereits in §109 f. Abs. 1 Satz 2 StGB kannte?56 Denn daß die Mosaiktheorie beim Agentenverrat ihre Berechtigung hatte, läßt sich kaum bestreiten57. Freilich soll es gewisse Ausnahmen geben, in denen ein Mosaikgeheimnis auch jetzt noch ein Staatsgeheimnis im Sinne des §93 Abs. 1, n. F., StGB darstellen könne, nämlich dann, wenn einzelne geheime Tatsachen von bestimmendem Gewicht in das Gesamtbild eingearbeitet seien oder wenn das Gesamtbild nur von dem Kenner eines Staatsgeheimnisses erstellt werden könne58. Im ersten Fall ist aber nicht einzusehen, weshalb sich dann der Staatsgeheimnischarakter nicht auf die geheimen Teilausschnitte beschränken, sondern auch die „offenen ZutaVgl. BVerfGE 20, 162 ff (180 ff, 185 f). Zum Vorsatzerfordernis der neuen Straftatbestände hinsichtlich des Vorliegens eines Staatsgeheimnisses vgl. Schwarz-Dreher, Anm.6 zu §93 und Anm. 2 zu §97 StGB. 54 Vgl. BVerfGE 7, 198ff (208ff); 20, 162ff (176ff); Lüttger in MDR 66/716ff; dazu die Kritik von Bettermann in JZ 64/601 ff. 55 Vgl. Jescheck, Pressefreiheit und militärisches Staatsgeheimnis, 10 ff m. Nachw. 56 Vgl. dazu Lüttger in MDR 66/713 ff. 57 Vgl. dazu auch BVerfGE 20, 162 ff (180). s» Vgl. BT-Drucks. V/2860, 16; Krautb-Kurfess-Wulffin JZ 68/609. 52
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ten" erfassen soll. Und im zweiten - höchst inkonsequenten - Beispiel wird handgreiflich deutlich, welche neuen Schwierigkeiten hier auf die Praxis zukämen. Ob die Rechtsprechung - etwa nach den weit einleuchtender begründeten Vorschlägen Dreher's581 - andere Wege finden wird, strafwürdige Fälle des Verrats von Mosaikgeheimnissen unter das unscharf gefaßte neue Recht zu subsumieren, läßt sich schwerlich vorhersehen. Im übrigen hat sich der Sonderausschuß auch hier damit getröstet, daß der neue Tatbestand der geheimdienstlichen Tätigkeit die Mosaiktheorie entbehrlich mache40 - ein schwacher Trost, wie sich zeigen wird. 4. Die „Auffangtatbestände"
- eine neue Flucht in
Generalklauseln
Die geschilderte Einengung des Staatsgeheimnisbegriffs und der vier Preisgabetatbestände ist wesentlich durch die Vorstellung beflügelt worden, daß zwei neue Tatbestände - nämlich die sogenannte landesverräterische Vorbereitungstätigkeit (§98, n. F., StGB) und die sogenannte geheimdienstliche Tätigkeit (§ 99, n. F., StGB) - die entstehenden Lükken schließen könnten, soweit dies rechtspolitisch erforderlich sei5'. Nach der erstgenannten Vorschrift ist unter anderem strafbar, wer für eine fremde Macht eine Tätigkeit ausübt, die auf die Erlangung oder Mitteilung von Staatsgeheimnissen60 gerichtet ist. Tätigkeitsziel können hier also beispielsweise die früher61 erwähnten verteidigungswichtigen Erfindungen sein. Nach der zweitgenannten Vorschrift macht sich u. a. strafbar, wer für den Geheimdienst einer fremden Macht eine geheimdienstliche Tätigkeit gegen die Bundesrepublik ausübt, die auf die Mitteilung oder Lieferung von Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen gerichtet ist. Tätigkeitsziel sind hier also gerade nicht Staatsgeheimnisse, so daß beispielsweise auch die früher62 erwähnten, aus dem Staatsgeheimnisbegriff ausgeklammerten „reinen" außenpolitischen Geheimnisse und Mosaikgeheimnisse als Zielobjekte in Frage kommen63. Nun liegt es aber zunächst auf der Hand, daß längst nicht jede Preisgabehandlung eine „für" eine fremde Macht ausgeübte Tätigkeit (§98) und schon gar nicht eine „geheimdienstliche" - nämlich in der Regel durch Heimlichkeit und konspirative Methode gekennzeichnete64 - Tätigkeit (§99) darstellt. Es bleiben also weite Lücken, in denen durchaus strafwürdige Verhaltensweisen liegen können. 581
Vgl. Schwarz-Dreher, Anm.2B zu §93 StGB. ' Vgl. BT-Drucks. V/2860, 15, 16, 21, 22-23. 60 D.h. von Staatsgeheimnissen im materiellen Sinn des §93 Abs. 1, n.F., StGB. 61 Vgl. AbschnittCIl. 62 Vgl. Abschnitt C12 u. 3. 63 Vgl. dazu näher: Schwarz-Dreher, Anm. 2 zu §99 StGB. M Vgl. BT-Drucks. V/2860, 23. 5
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Weit wichtiger als diese - je nach dem rechtspolitischen Standpunkt diskutierbaren - Lücken ist jedoch der Umstand, daß auch beim Eingreifen dieser Auffangtatbestände die Geheimnispreisgabe selbst sich nur noch im Strafmaß, nicht aber in der vertypten Tathandlung äußert; denn diese hebt - vergröbernd formuliert - nur auf die Verschaffungstätigkeit, nicht jedoch auf ihren Effekt ab. Diese Einebnung von spezifischen Preisgabehandlungen in generelle Betätigungstatbestände halte ich für eine gesetzestechnische Degenerationserscheinung, weil sie einen Verlust an rechtsstaatlich erwünschter Tatbestandssubstanz zur Folge hat und überdies dem unterschiedlichen Unrechtsgehalt der erfaßten Verhaltensweisen nicht gerecht wird65. Ein Gesetzgeber, der unter dem Motto „größere tatbestandliche Bestimmtheit" angetreten war, hätte genau umgekehrt durch umfassende Ausformung von Einzeltatbeständen den Anwendungsbereich der (subsidiären) generalklauselartigen Auffangtatbestände so weit wie möglich einengen müssen. Wie sehr dies verkannt worden ist, kommt plastisch in dem - überdies ungenauen - Wort vom „zentralen Spionagetatbestand" (§99, n.F., StGB) zum Ausdruck". [128]
II. Staatsgefährdung - oder vom „Über-Mut zur Lücke" Auch zur Reform der Strafvorschriften gegen Staatsgefährdung'7 kann ich nur einige Grundsatzfragen herausgreifen, die mir von erheblicher kriminalpolitischer Bedeutung zu sein scheinen. Sie lassen sich mit dem Stichwort „Weitere Einschränkung der Organisationsdelikte" kennzeichnen. Das Vereinsgesetz von 1964 hatte - veranlaßt durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts68 - die Strafvorschriften über die Organisationsdelikte völlig umgestaltet und sie weitgehend auf das sogenannte „Verbotsprinzip" umgestellt69. Danach war - sehr vereinfacht ausgedrückt - das Fördern verfassungswidriger Parteien und Vereinigungen erst vom Zeitpunkt ihres förmlichen Verbots an strafbar. Lediglich bei
65 Vgl. zum letzteren die treffenden Ausführungen von Willms in DRiZ 65/389 ff (390) betr. das Mosaikgeheimnis. - Die Vernachlässigung des Unrechtsgehalts kommt besonders deutlich zum Ausdruck, wenn der Sonderausschuß für den Schutz der außenpolitischen Geheimnisse auf die Strafvorschriften über den Bruch des Amtsgeheimnisses (§§ 353 b, 353 c StGB) und auf das Disziplinarrecht (!) hinweist (vgl. BT-Drucks. V/2860, 16). " Vgl. BT-Drucks. V/2860, 22. 67 Jetzt „Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates" genannt. " Vgl. BVerfGE 12, 296 ff.
" Vgl. §§ 90 a, 90 b StGB i . d . F . des Vereinsgesetzes (Anm. 12) sowie §20, a.F., des VereinsG.
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der Gründung und Förderung von „Ersatzorganisationen""" solcher schon förmlich verbotenen Parteien oder Vereinigungen war ein derartiger Formalakt nicht Voraussetzung der Strafbarkeit70, weil hier immerhin - sagen wir - das „Grundverbot" vorlag. Die Reform hat damit gebrochen; sie hat hier eine vorherige förmliche „Feststellung" der Eigenschaft als Ersatzorganisation der verbotenen Partei oder Vereinigung71 zur Voraussetzung der Strafbarkeit gemacht (§§84, 85, n. F., StGB; §20, n. F., des Vereinsgesetzes)72. Infolgedessen ist jetzt - anders als nach bisherigem Recht - das Gründen einer Ersatzorganisation straflos, weil es vor diesem Formalakt liegt; straflos ist aber auch jedes Fördern der (gegründeten) Ersatzorganisation bis zu einem solchen Formalakt. Diese - verfassungsrechtlich nicht gebotene70, sondern vom Sonderausschuß lediglich aus rechtspolitischen Gründen bevorzugte72 Einführung des sogenannten Feststellungsprinzips bedeutet naturgemäß eine starke Einschränkung der Strafbarkeit; denn Ersatzorganisationen sind schnell gegründet, die Mühlen der Gerichte und der Behörden mahlen jedoch langsam. Es wird sich daher erst herausstellen müssen, ob der Optimismus des Sonderausschusses gerechtfertigt war, daß die Einführung des Feststellungsprinzips nicht zu einer Aushöhlung der gegen Ersatzorganisationen gerichteten Strafvorschriften führen werde72. Ganz sicher aber ist es einseitig und daher irreführend, wenn der Sonderausschuß als besonderen Vorzug der Neuregelung hervorhebt, daß der Strafrichter nunmehr der schwierigen Feststellung enthoben sei, ob im Einzelfall eine Ersatzorganisation vorliege72. Denn infolge der Neuregelung gewinnt für den Strafrichter die schwierige Unterscheidung zentrale Bedeutung, ob die Organisation eine Fortsetzung des organisatorischen Zusammenhalts der verbotenen Partei bzw. Vereinigung selbst oder aber eine Ersatzorganisation für sie darstellt73. Im ersten Falle genügt für das strafrechtliche Einschreiten das „Grundverbot"; im zweiten Fall beginnt der strafbare Raum erst nach der zusätzlichen Feststellung des Ersatzorganisationscharakters durch andere Stellen. Es ist also nicht so weit her mit dem Fortschritt. Vgl. zum Begriff der „Ersatzorganisation" : Lütter in GA 58/225 ff (234) und Ruhrmann in GA 59/129ff, jeweils m. Nachw.; BGHSt. 16, 264ff; 20, 45ff; :33 Abs. 1 des Gesetzes über die politischen Parteien (Parteiengesetz) vom 24.7.67 - BGBl. I, 773 ff - ; §8 Abs. 1 des Vereinsgesetzes (Anm. 12). 70 Vgl. BVerfGE 16, 4 ff; BGHSt. 20, 45 ff (52). 71 Näheres über die einzelnen Verbots- und Feststellungsfälle, über die Entscheidungszuständigkeiten sowie über die Differenzierung zwischen unanfechtbaren und nur vollziehbaren Entscheidungen bei: Schwarz-Dreher, Anm. 2 A zu §84 u. Anm. 2 zu §85 StGB. 72 Vgl. BT-Drucks. V/2860, 5 ff. 7Î Zutreffend: Krauth-Kurfess-Wulff in JZ 68/581; vgl. auch: Schwarz-Dreher, Anm. 2 Β zu §84 StGB.
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Noch schwerwiegender als die Einführung des Feststellungsprinzips ist die Einschränkung der Tathandlung, die ich summarisch als „Fördern" bezeichnet habe. Drei Änderungen sollen dies beispielhaft zeigen: Das bisherige Recht bedrohte unter anderem den mit Strafe, der sich an einer verbotenen Partei oder Vereinigung oder an einer für sie geschaffenen Ersatzorganisaton „als Mitglied beteiligte, für sie warb oder sie unterstützte"". Das neue Recht bedroht insoweit nur noch den mit Strafe, der sich in einer verbotenen Partei, Vereinigung oder Ersatzorganisation „als Mitglied betätigt" oder der (als Nichtmitglied72) „ihren organisatorischen Zusammenhalt unterstützt" (§§84 Abs. 2, 85 Abs. 2, n. F., StGB). Das bedeutet: Man kann straflos Mitglied einer verbotenen Partei, Vereinigung oder Ersatzorganisaton sein und darf ruhig - wie der Schriftliche Bericht des Sonderausschusses sagt72 - seinen Mitgliedsbeitrag zahlen; desgleichen wird man die Zeitschriften der verbotenen Organisation beziehen dürfen74; nur darüber hinausgehendes „aktives Handeln"72 als Mitglied ist strafbar. Ein Nichtmitglied darf die verbotene Partei, Vereinigung oder Ersatzorganisation ruhig fördern, nur ihren organisatorischen Zusammenhalt darf er nicht (unmittelbar75 und konkret76) unterstützen und ein solches Unterstützen erfordert begrifflich zudem auch noch die „Erzielung eines wirklichen organisatorischen Effekts"72. Man wird dem Nichtmitglied also getrost raten dürfen, seine Rückversicherer-Spende für außerorganisatorische Zwecke - etwa für die ideologische Schulung von organisatorisch längst fest gefügten Kadern - zu geben77! Und das „Werben", unter dem man eine ohne Unterstützungserfolg gebliebene Propaganda versteht72, ist gleichfalls freigegeben. Es kann mit Rücksicht auf seine vom Gesetzgeber gewollte Eliminierung auch kaum je in eine mitgliedschaftliche „Betätigung" oder in ein „organisationsbezogenes Unterstützen" durch ein Nichtmitglied umgedeutet werden78. - Hinter diesen Restriktionen stand die Furcht, es könne sonst schon das Fördern verfassungsfeindlicher Ideen durch ideologische Äußerungen genügen72. Dabei hatte der Bundesgerichtshof längst entschieden, daß das Werben „organisationsbezogen" sein müsse79 74
Vgl. dazu: Schwarz-Dreher, A n m . 2 C a zu §84 StGB m.w. Beispielen für Grenz-
fälle. 75
Vgl. Schwarz-Dreher, A n m . 2 C b zu §84 StGB. Vgl. Krauth-Kurfess-Wulff in JZ 68/580. 77 Dergestalt wird man künftig - anders als bisher (vgl. noch Schwarz-Dreher, A n m . 2 C b zu §84 StGB) - differenzieren müssen, wenn man die geschilderte Begriffsbestimmung ernst nehmen will. 78 Eine Ausnahme kann allenfalls für das „Werben von (neuen) Mitgliedern" gelten, das bei Erfolg ein organisationsbezogenes „Unterstützen" (durch Nichtmitglieder) und ohne Rücksicht auf den Erfolg eine aktive „Betätigung" (durch Mitglieder) sein kann; vgl. Schwarz-Dreher, Anm. 2 C b zu § 84 StGB. 79 Vgl. BGH in NJW 65/1444 ff. 76
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und daß ein bloßes Eintreten für die kommunistische Lehre noch kein Werben für die verbotene KPD sei80; erst recht war es also kein „Unterstützen". Nimmt man noch hinzu, daß Beihilfe als solche hier nicht strafbar ist, weil die Unterstützung selbst eine zur Täterschaft erhobene Beihilfe darstellt81, und daß bei beiden Alternativen - der mitgliedschaftliehen Betätigung und dem organisationsbezogenen Unterstützen durch Nichtmitglieder - der Versuch straflos ist, so wird die ganze Breite des straffreien Raumes sichtbar. Noch 1965 schrieb jedoch Adolf Arndt, Parteiverbotsurteile des Bundesverfassungsgerichts könnten in ihrer Wirksamkeit nicht anders als durch Strafvorschriften gesichert werden82. Man wird aber gewiß sagen können, daß die - trotz der gründlichen Reform des Jahres 196469 - jetzt erneut vorgenommenen Restriktionen zumindest in verfassungspolitischer Hinsicht - der Bedeutung [129] nicht gerecht werden, die den Parteiverbotsurteilen des Bundesverfassungsgerichts zukommt, und daß sie auch Wert und Nutzen von Vereinigungsverboten in unangemessener Weise herabmindern. Von nicht geringerer Bedeutung sind die Einschränkungen, die sich aus dem räumlichen Anwendungsbereich des neuen Rechts ergeben. Die Novelle hat nämlich nicht nur - gottlob83, wenn auch in schlechter Fassung - klargestellt, daß die Tatbestände der Organisationsdelikte sich lediglich auf die im räumlichen Geltungsbereich des Gesetzes belegenen verbotenen Parteien, Vereinigungen und Ersatzorganisationen beziehen (§§84, 85, n. F., StGB; §20, n. F., des Vereinsgesetzes). Sie hat darüber hinaus auch bestimmt, daß die Organisationsdelikte nur durch eine in diesem räumlichen Geltungsbereich ausgeübte Tätigkeit begangen werden können (§91 Nr. 1, n.F., StGB; §20, n.F., des Vereinsgesetzes)84. Infolgedessen genügt es nicht mehr, daß nur der Handlungserfolg in der Bundesrepublik eintritt; die sogenannten Distanzdelikte sind damit ausgeschlossen85! Ein Bürger der Bundesrepublik - ob Mitglied oder Nichtmitglied der verbotenen Organisation - braucht also nur den nächsten Ort jenseits der Grenze aufzusuchen und kann dann von dort aus durch hohe Geldüberweisungen oder dergleichen getrost den organisatorischen Zusammenhalt der verbotenen Organisation unterstützen; er
80
Vgl. BGHSt. 19, 51 ff (57); B G H in N J W 64/1082; 65/1444ff. Vgl. BT-Drucks. V/2860, 6; BGHSt. 20, 89ff; Schwarz-Dreher, A n m . 2 E zu §84 StGB; Krautb-Kurfess-Wulff in J Z 65/580; Wagner in ZStW 80, 283 ff (§310ff). 82 Vgl. Ad. Arndt in N J W 65/431. 83 Vgl. Abschnitt A l l . 84 Daß der gesetzliche Standort dieser Regeln des sogenannten internationalen und interlokalen Strafrechts deplaziert ist, mag hier dahinstehen. 85 Vgl. BT-Drucks. V/2860, 5-6; Kranth-Kurfess-Wulff in JZ 68/580; eingehend: Schwarz-Dreher, A n m . 2 zu §91 StGB. 81
Das Staatsschutzstrafrecht gestern und heute
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bleibt straffrei - eine Regelung, die geradezu eine Einladung zum Unterlaufen des Staatsschutzes darstellt86. In dieses Kapitel gehört auch eine andere Lücke des neuen Rechts, über die der Sonderausschuß mit leichter Hand hinweggegangen ist87. Die Strafvorschriften gegen Organisationsdelikte beziehen sich - wie erörtert - nur auf die im räumlichen Geltungsbereich des Gesetzes belegenen verbotenen Parteien, Vereinigungen und Ersatzorganisationen. Die ehemaligen Strafvorschriften gegen den staatsgefährdenden Nachrichtendienst für auswärtige Stellen (§92, a. F., StGB) und gegen staatsgefährdende Beziehungen zu auswärtigen Stellen (§ 100 d Abs. 2, a. F., StGB) sind - wie früher erwähnt88 - nach den Vorschlägen des Regierungsentwurfs gestrichen worden. Um die hier entstehende kriminalpolitisch bedenkliche Lücke89 zu schließen, hatte der Regierungsentwurf eine neue Strafvorschrift vorgeschlagen; nach ihr sollte strafbar sein, wer - vereinfacht ausgedrückt - als Deutscher, der seine Lebensgrundlage in der Bundesrepublik hat, sich an einer auswärtigen Vereinigung mit aggressiv gegen Bestand, Sicherheit oder Verfassungsgrundsätze der Bundesrepublik gerichteter Zielsetzung beteiligt oder sie sonst unterstützt und dadurch solchen Betrebungen dient (§ 89 des RegE) 90 . Der Sonderausschuß hat diese Vorschrift für entbehrlich gehalten87. Die Konsequenz ist also, daß unser Rückversicherer nun ruhig seine Geldspenden auch bequem von seinem hiesigen Wohnsitz aus der gegen die Bundesrepublik agierenden „Westarbeitsorganisation" der SED in Ostberlin überweisen darf". Man kann hier nur resignierend fragen, weshalb es denn - wie Jescheck gesagt hat89 - nicht auf der Hand liegt, daß ein Bewohner der Bundesrepublik den von außen organisierten Kampf gegen Bestand, Sicherheit und Verfassung unseres Staates nicht durch Beteiligung an Organisationen unterstützen darf, die diesen Kampf führen! Aber was macht das nach alledem noch aus - unser Mann hat ja die Qual der Wahl! Man sollte diese Lücke übrigens im Zusammenhang mit einer anderen Streichung sehen, die der Ausschuß vorgenommen hat92. Das neue Recht bedroht - im Gegensatz zum bisherigen Recht (§ 100 d Abs. 1, a. F., StGB) und zum Regierungsentwurf (§ 100 a Abs. 3 des RegE) - denjenigen nicht mehr mit Strafe, der in der Absicht, „Zwangsmaßregeln" gegen die Bundesrepublik herbeizuführen oder zu fördern, zu einer 84 87 88 89 90 91 92
Vgl. dazu auch die Kritik von Schwarz-Dreher, Anm. 4 zu § 84 StGB. Vgl. BT-Drucks. V/2860, 8. Vgl. Abschnitt B. Vgl. Jescheck in J Z 67/6 ff (7). Vgl. dazu BT-Drucks. V/898, 21. Vgl. Jaeger in Die Dritte Gewalt, Nr. 14 vom 3 0 . 7 . 6 6 , 1 ff (4). Vgl. BT-Drucks. V/2860, 24.
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auswärtigen Stelle Beziehungen aufnimmt oder unterhält; seine Absicht darf nur nicht auf die Herbeiführung von Krieg oder bewaffneten Unternehmen gerichtet sein (§ 100, n. F., StGB). Unser Mann kann also unbesorgt mit Ostberlin oder Moskau verhandeln, um eine Blockade des Berlinverkehrs herbeizuführen'3. Welch bittere Ironie in einem Gesetz, das doch die gesamtdeutschen Verbindungen erleichtern wollte! Wenn man eine Staatsschutznovelle nicht mehr erläutern kann, ohne daß der Kommentar zu einer Gebrauchsanweisung für die Freunde illegaler Organisationen und Aktionen gerät, dann bedarf es keiner weiteren Worte mehr, um darzutun, daß diese Reform im Sektor der Organisationsdelikte fundamentalen kriminalpolitischen Bedürfnissen nicht gerecht geworden ist. D. Bilanz mit roten Zahlen Bei dieser Auswahl aus den zahlreichen Problemen, welche die Reform des Staatsschutzstrafrechts aufgeworfen hat, sind notgedrungen wichtige Fragen unerwähnt geblieben: - So wäre es gewiß reizvoll, den neuen Tatbestand des „Verbreitens von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen" in seiner letzten Alternative (§ 86 Abs. 1 Nr. 4, n. F., StGB) näher zu untersuchen. Denn die Strafnorm knüpft hier nur scheinbar an die ehemaligen (seit 23 Jahren ausgelöschten) nationalsozialistischen Organisationen, in Wirklichkeit jedoch ideologisch an das nationalsozialistische „Gedankengut" an. Es wird daher nicht lange dauern, bis der Streit anhebt, ob es sich hierbei noch um ein „allgemeines Gesetz" im Sinne des Art. 5 Abs. 2 des Grundgesetzes handelt94. Wie töricht, daß der Gesetzgeber ausgerechnet an einer derart neuralgischen Stelle unnötige Probleme heraufbeschworen hat. - Noch verlockender wäre es, zu prüfen, ob die neuen Strafvorschriften gegen den Friedensverrat (§§80, 81, n. F., StGB) wegen Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes nichtig sind'5. Denn sie enthalten mit dem „Angriffskrieg" ein Tatbestandsmerkmal, das zu den meist umstrittenen Begriffen des Völkerrechts" und des Verfassungsrechts'7 gehört und bei dem nicht einmal unbestritten ist, ob es wenigstens einen Vgl. dazu Schwarz-Dreher, Anm.4 zu §100 StGB. Vgl. dazu: BVerfGE 7, 198ff (209-210) m. Nachw.; BGHSt. 17, 38ff; 19, 311 ff (316); B G H in J Z 65/492; Lüttger in MDR 66/717; kritisch dazu: Bettermann in J Z 64/ 601 ff. 95 Die näheren Ausführungen des Vortrags hierzu sind der Kürzung beim Abdruck zum Opfer gefallen. 96 Vgl. dazu statt vieler die eindrucksvolle Darstellung von Wengler, Das völkerrechtliche Gewaltverbot, 1967. 97 Vgl. statt vieler: Maunz-Dürig, Grundgesetz, 2. Aufl. 1966, Rdz. 24 ff zu Art. 26 GG. 93
94
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praktisch handhabbaren - wenn auch kleinen - „eindeutigen Begriffskern" enthält98, wie er für wertausfüllungsbedürftige Begriffe im Strafrecht unverzichtbar ist". Jedenfalls hat der Gesetzgeber sich hier in sträflicher Weise seiner Pflicht entzogen, durch eine - notfalls noch enge100 - Legaldefinition für eine möglichst große Bestimmtheit des Tatbestands zu sorgen. - Ein fesselndes Thema für sich wäre auch die gesetzliche Regelung über die sogenannten illegalen Staatsgeheimnisse (§§93 Abs. 2, 97 a, 97 b, n.F., StGB). Denn hier trägt die Novelle buchstäblich die Züge einer legislatorischen [130] Eskapade; ihre in die Gestalt eines eigenständigen Tatbestands gekleidete Irrtumsregelung101 ist - wie Dreher überzeugend dargetan hat102 - nicht nur eine „dogmatische Anomalie", sondern auch wegen Verletzung des Schuldprinzips zumindest partiell nichtig. - Und endlich wäre die kriminalpolitische Konzeption von Interesse, die den zahlreichen neuen Vorschriften über „tätige Reue" zugrunde liegt. Denn heute nimmt kaum noch jemand an, daß von solchen Vorschriften ein Anreiz zur Rückkehr in die Legalität ausgehe103. Genau das scheint aber das gesetzgeberische Motiv gewesen zu sein104. Doch genug der Einzelheiten! Zieht man das Fazit, so läßt sich - wie ich meine - folgendes sagen: Jeder, der das bisherige Staatsschutzstrafrecht und die bisherige Staatsschutzpraxis kennt, wird die restriktive Tendenz der Reform im Grundsatz billigen. Indessen ist der Gesetzgeber auf dem rechten Wege übers Ziel hinausgeschossen. Wie schade, daß den Deutschen der Sinn für den goldenen Mittelweg fehlt. Wie beschämend auch, daß der Widerstand so schwach war, als Schlagworte die rechts- und kriminalpolitischen Argumente verdrängten. Und wie trostlos, daß man auf der Suche nach politischen Augenblickserfolgen sogar Strafvorschriften von verfassungsrechtlicher Fragwürdigkeit in die Welt gesetzt hat. Offensichtlich hat es beim „Bohren der harten Bretter" zwar nicht an Leidenschaft, wohl aber an Augenmaß gefehlt. 98 Vgl. dazu die skeptische Zurückhaltung von Schwarz-Dreher, A n m . 2 A zu § 8 0 StGB; eingehend neuerdings: Schroeder in J Z 69, 41 ff. " Vgl. dazu insbes.: Lenckner in JuS 68/249 ff u. 304 ff m. zahlr. Nachw. 100 Zur Frage einer „Teilpönalisierung" des Art. 26 Abs. 1 GG; vgl. insbes. MaunzDürig, Rdz. 38, 39 zu Art. 26 GG. 101 Vgl. Krauth-Kurfess-Wulff in J Z 68/611-612. 102 Vgl. Schwarz-Dreher, Anm.2 u. 5 zu § 9 7 b StGB. - Ferner Breithaupt in N J W 68/ 1712, dessen Argumente von Hirsch in N J W 68/2330, nicht widerlegt sind. Woesner in N J W 68/2129 ff, und Roggemann in Deutschland-Archiv 68/561 ff, haben die entscheidende Frage nach der Gültigkeit des § 9 7 b , n.F., StGB entweder nicht gesehen oder mit Stillschweigen übergangen. 103 Vgl. statt vieler: Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 10. Aufl. 67/189 m. zahlr. Nachw.; Maurach, Deutsches Strafrecht, Allg. Teil, 3. Aufl. 65/440. 104 Vgl. Krauth-Kurfess-Wulff in J Z 68/579.
Zur Reform des § 353 c StGB*+ A. Als im Jahre 1936 mit §353 c eine Strafvorschrift gegen - sagen wir zunächst summarisch - die „Preisgabe amtlicher Geheimnisse im außerbehördlichen Bereich" in das Strafgesetzbuch eingefügt wurde 1 , war sie zwar - wie wohl die meisten Novellen - Gegenstand einiger einführender Abhandlungen; doch dann geriet sie - abgesehen von kargen Bemerkungen in Lehrbüchern und Kommentaren - im Bereich der Rechtslehre dreißig Jahre lang in Vergessenheit. Dieser Mangel an Interesse der Rechtslehre ist schon deshalb erstaunlich, weil § 353 c im politischparlamentarischen Raum mehrfach Anlaß zu heftigen Auseinandersetzungen gegeben hat und sich zeitweise auch zu einem mißratenen Sorgenkind der Strafrechtsreform zu entwickeln drohte. Er wird vollends rätselhaft, weil die anfänglich für recht bedeutungslos gehaltene Strafnorm in der Praxis ganz unerwartet erhebliche Bedeutung erlangte und zugleich eine Fülle neuer Rechtsfragen aufwarf. Diese Entwicklung sei zunächst kurz skizziert, weil sie plausibel macht, weshalb ich eine bei erster flüchtiger Betrachtung so unscheinbare Strafvorschrift zum Gegenstand meiner Antrittsvorlesung gewählt habe. I. Der Umstand, daß §353c erst 1936 in das Strafgesetzbuch eingefügt worden war und keine Vorläufer in deutschen Reichs- oder Landesgesetzen hatte, führte - man ist heute versucht zu sagen: natürlich - dazu, daß sich alsbald nach 1949 im politisch-parlamentarischen Raum der Ruf nach seiner schleunigen Aufhebung erhob; man glaubte nämlich, in ihm typisch nationalsozialistisches Gedankengut zu erkennen 2 . Dies war * Aus: Juristenzeitung 1969, S. 578-586. + Geringfügig überarbeitete und erweiterte Fassung der Antrittsvorlesung, die der Verfasser am 14.6.1968 - dem Tage der Beschlußfassung des Bundesrates über das Achte Strafrechtsänderungsgesetz - vor der Juristischen Fakultät der Freien Universität Berlin gehalten hat. - §§ ohne Gesetzeszusatz sind solche des StGB. 1 Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs vom 2.7.1936 - RGBl. I, 532. 2 Vgl. z.B. BT-Drucks. 1/2975, sowie Niederschrift über die 188.Sitzung des l . B T vom 24.1.1952, S. 7994ff; ferner: Löffler, Presserecht, l . A u f l . 1955, Rdz. I f f zu §§353 b, 353 c.
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Strafrecht und Strafrechtsreform
freilich eine recht dilettantische und unüberlegte Unterstellung. Denn bereits 1918 hatte kein Geringerer als Beling auf die bedenkliche Lücke des damaligen Rechts hingewiesen, daß ein jeder die ihm von einem Beamten „sub sigillo silentii" mitgeteilten, dem Amtsgeheimnis unterliegenden Tatsachen straflos preisgeben könne. Beling hatte daher die Schaffung einer Strafnorm für die Fälle gefordert, in denen ein Dritter eine Tatsache preisgebe, die „von einer amtlichen Stelle als amtlich geheim gekennzeichnet worden" sei oder die der Täter „von einem Beamten als amtlich geheim anvertraut erhalten" habe3. Die Ähnlichkeit dieser Vorschläge mit Wortlaut und Sinn des späteren § 353 c ist in der Tat frappierend. Es konnte daher kaum zweifelhaft sein, daß der Gesetzgeber von 1936 an Belings Vorschläge angeknüpft hatte4. Als sich dies zur offensichtlichen Enttäuschung der damaligen Kritiker nicht mehr länger leugnen ließ, war es gewiß keine Sternstunde des deutschen Nachkriegsparlamentarismus, als ein Abgeordneter im Plenum des 1.Deutschen Bundestages erklärte, zwar habe „ein Professor Beling... mal so etwas von sich aus angeregt, aber . . . man müsse zunächst mal nachprüfen, ob jener Professor Beling nicht vielleicht damals schon ein alter Kämpfer" gewesen sei5. Doch scheiterten die politischen Angriffe nicht nur an der deutschen Historie. Hinzu kam nämlich, daß die Schweiz, deren Recht sicherlich nationalsozialistischer Tendenzen nicht verdächtig ist, in Art. 293 ihres Strafgesetzbuches eine verwandte und teilweise noch weitergehende 6 Stafnorm hat. Diese geht aber auf Vorarbeiten und Entwürfe aus der Zeit bis 1896 zurück 7 , die auch Beling zu seinen Vorschlägen angeregt hatten. Es war daher schließlich anerkannt, daß § 353 c kein typisch nationalsozialistisches Gedankengut enthielt 8 ; er galt lediglich - und das mit Recht - als reformbedürftig'. II. Immerhin hat die damalige, mit außergewöhnlicher Schärfe geführte Debatte auf Jahre hinaus zu einer vorsichtigen Reserve [579] politisch3
Vgl. Beling DJZ 1918, 457 ff. Vgl. Denkschrift des BMJ vom 20.12.1951 - 4000/1 - 29430/51 - zur Entstehungsgeschichte und rechtspolitischen Bedeutung des §353c StGB (im folg.: Denkschr.), S.4—5. 5 So MdB Ewers, S. 7994 D der in F n . 2 bez. Niederschrift. 6 Vgl. Schönke JZ 1952, 26 f. 7 Vgl. Beling DJZ 1918, 462; auch Germann, Schweiz. StGB, 8. Aufl. 1966, Anm. zu Art. 293. s Vgl. BGH M D R 1953, 53; Schultz M D R 1952, 22; sowie die Lehrbücher und Kommentare zu §353c (a.F.); a.A. nur Löffler, wie Fn.2. 5 Vgl. Denkschr., S.7; Schwarz-Dreher, 27.Aufl. 1965, A n m . l a zu §353c i.V. mit Anm. l a zu § 353 b; Lackner-Maassen, 4. Aufl. 1967, Anm. 1 zu §353c; vgl. auch BTDrucks. 1/2965. 4
Zur Reform des §353 c StGB
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amtlicher Stellen gegenüber § 353 c geführt 10 . Das Bemühen, politische Angriffe zu vermeiden, war wohl auch der entscheidende Grund dafür, daß der StGB-Entwurf 1962 den Tatbestand des §415, der Nachfolgevorschrift für § 353 c, erheblich einschränken wollte. Er schlug nämlich vor, auf den bisherigen Absatz 1 - also auf den Strafschutz für amtlich sekretierte Schriften - ersatzlos zu verzichten und den bisherigen Absatz 2 - über den Strafschutz für amtliche Geheimhaltungsverpflichtungen - nur in stark eingeschränkter Form zu übernehmen. Dabei glaubten die Verfasser des Entwurfs freilich auch, daß diese Beschränkung des Strafschutzes rechtspolitisch angebracht sei und daß erst dann eine Lücke im nötigen Strafschutz entstehe, wenn auch auf den im Entwurf 1962 vorgeschlagenen Resttatbestand verzichtet werde11. Dies war indessen eine geradezu erstaunliche Fehlbeurteilung, denn inzwischen hatten sich die Verhältnisse grundlegend gewandelt: Der in seiner Bedeutung fälschlich bagatellisierte § 353 c stand längst im Mittelpunkt einer bemerkenswerten Entwicklung. Schon zur Zeit der Fertigstellung des Entwurfs 1962 waren nämlich in den mit verteidigungswichtiger Forschung, Entwicklung und Produktion befaßten deutschen Industriebetrieben mehrere zehntausend Beschäftigte nach freiwilliger Sicherheitsüberprüfung zur Bearbeitung von Verschlußsachen ermächtigt und zur Geheimhaltung besonders verpflichtet worden. Überdies waren zahlreiche deutsche Patentanwälte mit amtlich sekretierten Unterlagen über Geheimpatente befaßt und hatten sich - ebenso wie ihr Personal - freiwillig zur Geheimhaltung verpflichten lassen. Bei einigen anderen Berufsgruppen lag es ähnlich. Der potentielle Anwendungsbereich des § 353 c wuchs also ständig. - Im parlamentarischen Raum z.B. im Verteidigungsausschuß und im Auswärtigen Ausschuß des Deutschen Bundestages - stellte sich in steigendem Maße die Notwendigkeit heraus, geheimhaltungsbedürftige Unterlagen zu sekretieren und Beratungsgegenstände einer Geheimhaltungspflicht zu unterwerfen. Das führte nicht nur zum Erlaß einer Geheimschutzordnung des Bundestages12, sondern warf auch die schwierige Frage nach der Anwendbarkeit des § 353 c im Parlamentsbereich auf. - Diese Entwicklung beschränkte 10
Vgl. z. B. BJM Schaff er, S. 3065 D der Niedersehr, über die 56. Sitzung des 3. BT. v. 22.1.1959. 11 Vgl. BT-Drucks. IV/650, S.600 und 663. 12 Vgl. die Bekanntmachung über die Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages und den Erlaß einer Geheimschutzordnung des Deutschen Bundestages vom 24.8.1964 - BGBl. I, 713 - sowie den Schriftl. Bericht dazu vom 4.6.1964 - BT-Drucks. IV/2303 - . Die Geheimschutzordnung ist „Bestandteil der Geschäftsordnung" des BT (§21 a GOBT) und daher „ihrem rechtlichen Gehalt nach den Bestimmungen der Geschäftsordnung gleichgesetzt" (S. 2 der BT-Drucks. IV/2303). Über die Rechtsnatur der GOBT (und damit der GeheimschutzO.) vgl. Abschnitt D2.
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Strafrecht und Strafrechtsreform
sich aber n i c h t auf d e n innerstaatlichen R a u m . D i e
Bundesregierung
h a t t e n ä m l i c h i n z w i s c h e n d u r c h V e r e i n b a r u n g e n m i t den R e g i e r u n g e n der a n d e r e n N A T O - S t a a t e n V e r f a h r e n s w e g e geschaffen, auf d e n e n sich ein r e g e r A u s t a u s c h v o n sekretierten verteidigungswichtigen
wissen-
schaftlichen I n f o r m a t i o n e n 1 3 s o w i e v o n v e r t e i d i g u n g s w i c h t i g e n P a t e n t a n m e l d u n g e n , E r f i n d u n g e n u n d t e c h n i s c h e n E r f a h r u n g e n 1 4 vollzieht, die b e i m E i n t r e f f e n in der B u n d e s r e p u b l i k z u s ä t z l i c h e d e u t s c h e S e k r e t u r e n erhalten u n d n u r an s o l c h e P r i v a t p e r s o n e n -
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und
der
13 Vgl. das Abkommen der Parteien des Nordatlantikvertrages über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Atominformation vom 22.6.1955 (BAnz. Nr. 145 vom 28.7.1956); ferner z.B. die Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Kanada über den Austausch von verteidigungswissenschaftlichen Informationen vom 21./28.8.1964 (BAnz. Nr. 195 vom 17.10.1964). 14 Vgl. dazu das multilaterale Ubereinkommen der NATO-Staaten über die wechselseitige Geheimbehandlung verteidigungswichtiger Erfindungen, die den Gegenstand von Patentanmeldungen bilden, vom 21.9.1960 (BGBl. 1964, II, 72; 1965, II 461 u. 1135) sowie die zu diesem Übereinkommen gehörende Verfahrensregelung vom 18.8.1967 (BAnz. Nr. 163 vom 31.8.1967). - Ferner folgende von der Bundesregierung geschlossene bilaterale Vereinbarungen: Abkommen mit der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika zur Erleichterung des Austausches von Patenten und technischen Erfahrungen für Verteidigungszwecke vom 4.1.1956 (BAnz. Nr. 73 vom 14.4.1956) nebst Verfahrensbestimmungen für die gegenseitige Anmeldung geheimhaltungsbedürftiger Patente i.d. F. der Bekanntmachung vom 14.4.1965 (BAnz. Nr. 144 vom 5.8.1965); Abkommen mit der Regierung des Königreichs der Niederlande zur Ergänzung des am 21.9.1960 in Paris unterzeichneten NATO-Abkommens über die wechselseitige Geheimbehandlung verteidigungswichtiger Erfindungen, die den Gegenstand von Patentanmeldungen bilden, nebst Verfahrensregelung vom 16.5.1961 (BAnz. Nr. 168 vom 10.9.1964); Abkommen mit der Regierung der französischen Republik über die gegenseitige Geheimbehandlung von verteidigungswichtigen Erfindungen und technischen Erfahrungen nebst Verfahrensregelung vom 28.9.1961 (BAnz. Nr. 171 vom 13.9.1963); Abkommen mit der Regierung des Königreichs Belgien über die gegenseitige Geheimbehandlung von verteidigungswichtigen und technischen Kenntnissen nebst Verfahrensregelung vom 1.2.1963 (BAnz. Nr. 171 vom 13.9.1963) i.d.F. der Bekanntmachung vom 28.5.1965 (BAnz. Nr. 102 vom 3.6.1965). - Ähnliche Abkommen sind auch mit den Regierungen anderer NATO-Staaten (ζ. B. Italien und Griechenland) abgeschlossen, aber noch nicht veröffentlicht worden; sie werden teilweise jedoch bereits angewandt. - Weitere Abkommen dieser Art sind geplant. 15 Vgl. Art. 24 ff des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) vom 25.3.1957 (BGBl. 1957, II. 733, 1014) sowie die Verordnung Nr. 3 des Rates der Europäischen Atomgemeinschaft (sog. Verschlußsachen-Verordnung EURATOM) vom 31.7.1958 (BGBl. 1959, II, 1102). Diese Rats-VO Nr. 3 ist gemäß Art. 161,163 EAGV in allen Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes, supranationales Recht; sie gilt nicht lediglich für Behörden, wie die sog. Verschlußsachen-Anweisungen, sondern bindet in ihrem sachlichen und persönlichen Anwendungsbereich auch den Staatsbürger (vgl. dazu: Pfanner bei Groeben-Boeckh, Handbuch für Europäische Wirtschaft, III A 43 1, Vorbem. zur VSVO EURATOM, und III A 59, Anm. 11 zu Art. 194 EAGV).
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ELDO 1 6 internationale Geheimschutzsysteme entstanden, die sich auch auf die Bundesrepublik erstrecken und ebenfalls zu einem beträchtlichen Zugang sekretierter Unterlagen und zu weiteren Geheimhaltungsverpflichtungen führen. Diese Aufzählung zeigt auf den ersten Blick die Notwendigkeit eines umfassenden Strafschutzes für solche Sekreturen und Geheimhaltungsverpflichtungen. Denn es handelt sich um verteidigungswichtige oder sonst sicherheitsempfindliche Objekte, die keineswegs immer den Rang von Staatsgeheimnissen haben und daher oftmals nicht deren Strafschutz genießen, aber schutzwürdig und schutzbedürftig sind. Und nur ein reiner Tor könnte angesichts der sehr großen Zahl von Mitwissern die reale Möglichkeit strafwürdiger Preisgaben leugnen. Die Aufzählung zeigt aber auch, daß schon der alte §353 c und erst recht die so drastisch eingeschränkte Nachfolgevorschrift im Entwurf 1962 diesen Strafschutz nicht zu leisten vermochten. Die Bundesregierung hat daher anläßlich der Reform des Staatsschutzstrafrechts unter der Federführung des damaligen Bundesjustizministers Dr. Jäger eine Neufassung des § 353 c vorgeschlagen, die einen wesentlich erweiterten Strafschutz sowohl für sekretierte Gegenstände als auch für Geheimhaltungsverpflichtungen - und zwar auch in bisher schutzlosen Bereichen - sicherstellen wollte17. Der Bundestag hat sich zwar für eine stark veränderte Fassung entschieden, jedoch inhaltlich fast alle Erweiterungsvorschläge des Regierungsentwurfs übernommen18. Die mir zur Verfügung stehende Zeit erlaubt es nicht, auf die zahlreichen durch die Neufassung geklärten oder ungelösten Probleme des § 353 c einzugehen. Ich möchte vielmehr drei Einzelfragen herausgreifen, die zugleich drei Aspekte deutlich machen, unter denen die Novellierung des § 3 5 3 c gesehen [580] werden muß: Reform als Verwirklichung rechtspolitischer Einsichten, aber auch als Ausdruck eines grundlegenden Wandels im Verständnis eines Straftatbestands und als Beispiel für die Verflechtung des Strafrechts mit anderen Rechtsgebieten.
16 Die Verschlußsachen-Vorschriften der N A T O , der W E U und der E L D O sind ebenso wie die deutschen Verschlußsachen-Anweisungen für Behörden - nicht veröffentlicht. Zur E L D O vgl. Art. 8 Abs. 2 des Übereinkommens zur Gründung einer Europäischen Organisation für die Entwicklung und den Bau von Raumfahrzeugen vom 2 9 . 3 . 1 9 6 2 - BGBl. 1963, II, 1562
Vgl. § 353 c des RegE eines 8. StÄG nebst Begründung - BT-Drucks. V/898 - . Vgl. dazu den Schriftl. Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform vom 9 . 5 . 1 9 6 8 - BT-Drucks. V/2860 - , S. 28 ff, 45. Die vom Sonderausschuß vorgeschlagene Neufassung ist unverändert in Kraft getreten; vgl. Achtes Strafrechtsänderungsgesetz vom 2 5 . 6 . 1 9 6 8 - B G B l . I, 741 ff. 17 18
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Strafrecht und Strafrechtsreform
B. Die bisherige Fassung des § 353 c Abs. 1 StGB sprach von der unbefugten Mitteilung eines „amtlichen Schriftstücks", das als geheim oder vertraulich bezeichnet worden sei. Dabei war unbestritten, daß diese Bezeichnung als geheim oder vertraulich - ebenso wie die Geheimhaltungsverpflichtung des Absatzes 2 - von einer „zuständigen Stelle" herrühren mußte, ein Ergebnis, das entweder schon aus dem Tatbestandsmerkmal „amtliches" (Schriftstück) folgte oder durch sinngemäße Ergänzung des Tatbestands zu gewinnen war". - Aus den überraschend vielen Zweifelsfragen, die dieser so einfach scheinende Teil des Tatbestands in der Praxis aufwarf, ragte an tatsächlicher und rechtlicher Bedeutung das schwierige Problem hervor, wie weit die staatliche Schutzsphäre zu ziehen sei, die mit dem Wort „amtliches" (Schriftstück) und mit dem zu ergänzenden Wort (sekretierende zuständige) „Stelle" gemeint war. Der Streit hierüber hat sich im Parlamentsbereich entzündet und anläßlich eines Ermittlungsverfahrens gegen einen Bundestagsabgeordneten eine Publizität erlangt, wie sie einer Rechtsfrage nur ganz selten zuteil wird. Es ging dabei um die Frage, ob sekretierte Ausschußprotokolle des Bundestages Strafschutz nach § 353 c Abs. 1 (a. F.) genossen. Die dabei angestellten Überlegungen verdienen auch deshalb eine eingehendere Darstellung, weil es sich zugleich um eine bemerkenswerte Episode der politischen Zeitgeschichte handelte. Denn immerhin hat dieser Auslegungsstreit zu ernsten Spannungen im Kabinett Erhard geführt, weil der damalige Bundesjustizminister Dr. Bücher schwere und - wie sich zeigen sollte20 - berechtigte Bedenken gegen die für ein Verfahren gegen jenen Abgeordneten nach § 353 c Abs. VI (a. F.) nötige Verfolgungsanordnung hatte. Die herrschende Lehre deutete nämlich die „amtlichen" Schriftstücke als solche der „Behörden" und „Beamten"; desgleichen verstand sie unter der die Sekretur vornehmenden zuständigen „Stelle" eine „Behörde"21. Nur vereinzelt sprach man von „Dienststellen" und schloß darin ausdrücklich die Parlamente ein22. Gegen diese erweiternde Auslegung bestanden jedoch erhebliche Bedenken. " So schon Köhler in GS 108, 132 mit Anm.8. Das Verfahren ist u.a. aus den nachstehend erörterten Gründen von der StA eingestellt worden. 21 Vgl. Grau-Schäfer bei Pfundtner-Neubert, Das neue deutsche Reichsrecht,, I I c 6 , Anm. 3 zu § 353 c; Koenig, Beamten-Jahrbuch (BJahrb.), 1936, S. 564 f; MühlmannBommel, 1949, Anm. 2 zu § 353 c; Niethammer, Lehrb. des Bes. Teils des Strafrechts, 1950, S. 432; Werner in LK, 8. Aufl. 1958, Anm. III 1 zu § 353 c; Dalcke-Schäfer, 37. Aufl. 1961, Anm.4 zu § 3 5 3 c ; Schönke-Schröder, 13. Aufl. 1967, Rdz.4 zu § 3 5 3 c ; auch Probst, Der strafrechtliche Schutz des Amtsgeheimnisses, 1939, S. 58 f. 22 So Schwarz-Dreher, ab 27. Aufl. 1965, Anm. 1 A zu § 353 c. 20
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Die Prüfung der Frage, ob die herrschende Lehre die Begriffe „amtlich" und (zuständige) „Stelle" zu Recht mit den Begriffen „behördlich", „Behörde" und „Beamter" gleichgesetzt hat und ob diese Begriffe dann unter Ausschuß der Parlamente zu verstehen waren, mußte bei der Entstehungsgeschichte des § 353 c einsetzen. Diese bot zunächst einmal keinen Anhalt für die Annahme, daß bei der Schaffung dieser Vorschrift an Parlamente gedacht worden wäre, wobei für Absatz 1 hinzu kam, daß es 1936 noch keine parlamentarische Geheimschutzordnung und keine parlamentarischen Sekreturen gab. Umgekehrt sprach aber die Entstehungsgeschichte für die engere herrschende Lehre. Mit derselben Novelle 1 , durch die § 353 c in das Strafgesetzbuch eingefügt wurde, schuf der Gesetzgeber nämlich in § 353 b erstmals23 eine allgemeine Strafnorm gegen den Bruch der Amtsverschwiegenheit durch „Beamte" und gewisse für eine „Behörde" tätige Personen. Diesen Schutz der Amtsgeheimnisse hielt der damalige Gesetzgeber aber nicht für ausreichend24. Er „verlängerte" deshalb den Strafschutz für bestimmte geheimgestellte Fakten, die aus dem Kreis dieser Behördenbediensteten hinausgelangten, in den außerbehördlichen Bereich hinein. Es war daher unverkennbar, daß der Gesetzgeber - auf den Spuren Belings3 - bei § 353 c an (wenn auch anders umschriebene) Geheimnisse der Behörden und Beamten des § 353 b gedacht hatte. Der „sachliche Zusammenhang" 25 zwischen § 353 b und §353c legte es deshalb fast zwingend nahe, bei der Auslegung der Begriffe des § 353 c an diejenigen des § 353 b anzuknüpfen und unter „amtlichen" Schriftstücken solche der Behörden und Beamten sowie unter den sekretierenden „Stellen" gleichfalls Behörden zu verstehen. In § 353 b waren jedoch die Begriffe „Beamter" und „Behörde" unbestritten dieselben wie auch sonst im Strafgesetzbuch. Dann aber war kein Raum mehr für eine Einbeziehung der Parlamente: Denn ebenso wie die Abgeordneten, obgleich sie Träger eines öffentlichen Amtes sind, nicht unter den strafrechtlichen Beamtenbegriff 2 ' fallen27, werden auch die Parlamente und ihre Ausschüsse, soweit sie legislato-
23 Vgl. die Übersichten über den früheren Rechtszustand bei: Probst, S. 19ff; Wittland ZBR 1936/37, 119 f. 24 Vgl. Amtl. Begründung, DJ 1936, 997. 25 Vgl. Maurach, Deutsches Strafrecht, Bes. Teil, 4. Aufl. 1964, S.728; 5. Aufl. 1969, S. 772. 26 Vgl. zu diesem statt vieler: BGHSt. 12, 89. 27 Vgl. BGHSt. 5, 105f; ganz h.M. - A.A. nur: Düwel, Das Amtsgeheimnis, 1965, S. 63 ff.
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risch tätig sind, nicht unter den Begriff der „ B e h ö r d e n " 2 8 subsumiert 2 9 . U n d a u c h d o r t , w o das Strafrecht in verwandten Vorschriften
von
„ A m t " , „dienstlicher Stellung" o d e r „Dienststelle" spricht, ist t r o t z der meist erweiternden D e u t u n g dieser Begriffe eine A u s d e h n u n g auf A b g e o r d n e t e in legislativer Tätigkeit b z w . auf P a r l a m e n t e und ihre A u s schüsse als Legislativorgane bisher nicht e r w o g e n worden 3 0 . D i e geschilderte enge Auslegung des § 3 5 3 c A b s . 1 hatte mithin nicht n u r sehr gewichtige E i n z e l a r g u m e n t e für sich; sie lag vielmehr auch konsequent in einer „Generallinie" 3 1 . G e g e n diesen A u s s c h l u ß der in legislativer Tätigkeit erstellten P r o t o kolle der P a r l a m e n t e und ihrer Ausschüsse aus dem Bereich der „amtlic h e n Schriftstücke" sind j e d o c h seinerzeit im Z u s a m m e n h a n g mit dem e r w ä h n t e n Verfahren einige neue E i n w ä n d e erhoben w o r d e n . D e r erste Einwand
ging
dahin,
daß
die
Parlamentsverwaltung,
also
eine
„ B e h ö r d e " 3 2 , bei der Erstellung und A u f b e w a h r u n g der sekretierten Parlamentsprotokolle
mitwirke 3 3 .
Indessen
werden
parlamentarische
P r o t o k o l l e nicht d a d u r c h zu Schriftstücken der Parlamentsverwaltung, daß diese B e h ö r d e d u r c h Bereitstellung personeller und sachlicher Hilfsmittel unselbständige Hilfsdienste für die Legislative leistet 3 4 ; jede andere
28 Vgl. zu diesem: RGSt. 8, 9; 18, 249f; 38, 18; 40, 161; 47, 49; 54, 150; BGH MDR 1964, 68 f. Ferner allgemein: BGH NJW 1957, 1673 mit Nachw.; BVerfGE 10, 48; Rasch VerwArch. 1959, Iff, 8ff; Rasch, Die staatliche Verwaltungsorganisation, 1967, S.33ff. Ob der Behördenbegriff in allen Rechtsgebieten derselbe ist (so BGH NJW 1951, 799; 1957, 1674), kann hier dahinstehen. 25 Vgl. BGH St. 20, 190 = JZ 1965, 326; allgemein: Maunz-Dürig-Herzog, 2. Aufl. 1968, Rdz. 8 zu Art. 38 GG; Rasch VerwArch. 1959, 21 f. 30 Vgl. §8 des Gesetzes gegen den Verrat militärischer Geheimnisse vom 3.6.1914 (RGBl. 195) und die Nachfolgevorschrift §100c Abs.2 (a. F.); dazu insbes.: Schneidewin bei Stenglein, Strafrechtl. Nebengesetze, 5. Aufl. 1931, Bd. II, S. 439. - Aber auch § 145 d; vgl. z.B. Schönke-Schröder, 14.Aufl. 1969, Rdz.3 zu § 145d, und Lackner-Maassen, 4. Aufl. 1967, Anm. 2 zu § 145 d, wo eine Ausnahme nur für parlamentarische Untersuchungsausschüsse gemacht wird; darüber sogleich im Text. - Zumindest diese Grenze wird auch im Streit um die Auslegung des (freilich hier nicht artverwandten) §174 Nr. 2 eingehalten; vgl. statt vieler: BGH JZ 1960, 94 ff m. Anm. v. Schröder. 51 Die Trennung von Behörden und Gesetzgebungsorganen kommt auch in den §§ 196, 197 zum Ausdruck. §10 Nr. 4 des E 1962 wollte sogar ausdrucklich klarstellen, daß Abgeordnete nicht unter den neuen (weiten) Begriff des „Amtsträgers" fallen; vgl. dazu BT-Drucks. IV/650, 116. 32 Vgl. Rasch VerwArch. 1959, 22; Maunz-Dürig-Herzog, Rdz. 8 zu Art. 38 GG; von Mangoldt-Klein, Vorbem. III 2 c vor Art. 38 GG; ferner BT-Drucks. V/898, 41. 33 Vgl. zu dieser Mitwirkung: BT-Drucks. IV/2303, 3. 34 Daß diese „geheimschutztechnische Bürohilfe" nur ein unselbständiger Hilfsdienst der Parlamentsverwaltung für das Parlament ist, zeigt sich gerade im Falle des Bundestages sehr deutlich. Denn die damit betrauten Angehörigen der BT-Verwaltung wenden dabei die Sekreturen der GeheimschutzO. des BT (vgl. Fn. 12) an, während die BT-Verwaltung in ihren eigenen Verwaltungsangelegenheiten nach der Verschlußsachenanweisung für
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Auslegung würde der Stellung [581] des Parlaments und seiner Ausschüsse sowie der dienenden Funktion der Parlamentsverwaltung nicht gerecht. - An dem Ergebnis änderte sich auch dadurch nichts35, daß der Bundestag sich eine Geheimschutzordnung12 gegeben hat. Denn der Umstand, daß in einer Einrichtung Geheimschutzmaßnahmen getroffen werden, besagt nichts darüber, ob diese Einrichtung eine „Behörde" ist36; und ein Schriftstück einer Nicht-Behörde wird nicht dadurch zu einem „behördlichen" Schriftstück, daß es einen Geheimstempel erhält. - Ebensowenig griff der Einwand durch37, daß die höchstrichterliche Rechtsprechung38 den an sich nur für Behörden und öffentliche Beamte geltenden § 96 StPO auch auf Parlamente angewandt habe. Denn einmal ist dies nur „in entsprechender Anwendung" und unter dem ausdrücklichen Hinweis geschehen, daß die gesetzgebenden Körperschaften keine Behörden seien. Und zum anderen sind die Folgen hier diametral entgegengesetzt: Wenn das Parlament die Vorlegung von Akten analog § 96 StPO verweigert, scheiden diese für das gerichtliche Verfahren aus39, in ihnen etwa enthaltenes Belastungsmaterial kann nicht gegen den Beschuldigten verwertet werden; eine auf sie gestützte Entlastungsbehauptung des Beschuldigten wird, wenn Gegenbeweise fehlen, nicht mehr widerlegt werden können. Demgegenüber würde eine Anwendung des für behördliche Schriftstücke gedachten § 353 c Abs. 1 auf parlamentarische Protokolle zu einer Erweiterung der Strafbarkeit geführt haben. Die Fälle waren also nicht vergleichbar; die Judikatur zu §96 StPO besaß folglich keinen Argumentationswert für die Auslegung des § 353 c Abs. 1. Nach alledem mußte der Versuch, die bei einem Gesetzgebungsorgan oder einem seiner Ausschüsse in legislativer Tätigkeit entstehenden Protokolle durch extensive Interpretation der Tatbestandsmerkmale „amtliches" Schriftstück und sekretierende zuständige „Stelle" in den Bundesbehörden verfährt, die ganz andere Geheimschutzgrade vorsieht. - Dieses „Zuordnungsproblem" verkennt Maassen, S. 1508 der Niederschriften über die Sitzungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (im folg.: Prot.). 35 A . A . Schwarz-Dreher, ab 27.Aufl. 1965, Anm.l A zu § 3 5 3 c . " Die Rechtsnatur der Geheimschutzordnung (vgl. dazu Fn. 12 u. Abschnitt D 2 ) konnte die These vom behördenähnlichen Charakter des BT i. S. des § 353 c Abs. 1 gewiß nicht stützen. Die GeheimschutzO. des BT gab also zwar Auskunft über das weitere Tatbestandsmerkmal der Sekretur, nicht aber über das hier interessierende Merkmal „amtliches" Schriftstück. 37 A . A . Schwarz-Dreher, ab 28. Aufl. 1966, Anm.l A zu §353c. Ferner PfeifferMaul-Schulte, 1969, Anm. 2 zu §353c, deren Wiedergabe der Rspr. irreführend ist. 3« Vgl. BGHSt. 20, 189 ff = MDR 1965, 499 = JZ 1965, 326 = NJW 1965, 922. " Vgl. RGSt. 72, 271; Eh. Schmidt, Lehrkommentar, 1957, Rdz.5 zu §96 StPO, u. Nachtrags-Bd. I, 1967, Rdz.6 zu §96 StPO; Müller-Sax (KMR), 6. Autl. 1966, Vorbem. 6 c vor § 94 u. Anm. 4 b zu § 96 StPO.
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Strafschutz des § 353 c Abs. 1 einzubeziehen, scheitern. Denn angesichts des strafrechtlichen Sprachgebrauchs sowie der Entstehungsgeschichte, des Sinngehalts und des gesetzlichen Zusammenhangs dieser Vorschrift stieß er auf die Schranken, die auch der teleologischen Auslegung durch den Grundsatz der gesetzlichen Bestimmtheit der Tatbestände gezogen sind. - Abweichendes mußte jedoch für die Protokolle der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse gelten, soweit diese in einer eingeleiteten Untersuchung tätig wurden. Denn diesen Untersuchungsausschüssen mißt die herrschende Meinung wegen der ihnen dann zustehenden hoheitlichen Befugnisse entweder die Eigenschaft von Behörden oder doch zumindest eine behördenähnliche Stellung bei40. - Die Schriftstücke der Parlamentsverwaltungen waren unstreitig solche einer Behörde 32 und damit „amtliche" Schriftstücke i. S. des 353 c Abs. 1. Es lag jedoch auf der Hand, daß das Fehlen eines Strafschutzes für sekretierte parlamentarische Protokolle und andere legislative Schriftstücke eine schlechthin unerträgliche Lücke des alten Rechts darstellte. Denn was nutzten schon Sekreturen, wenn jedermann - nicht nur ein Abgeordneter - den Inhalt sekretierter parlamentarischer Schriftstücke ohne strafrechtliches Risiko preisgeben konnte, sofern nicht ausnahmsweise41 eine andere Strafvorschrift eingriff? Die Neufassung18 schließt diese Lücke daher mit Recht - wenn auch in schlechter Fassung42 - durch ausdrückliche Erwähnung der Sekreturen der Gesetzgebungsorgane des Bundes und der Länder sowie ihrer Ausschüsse. Zu den „Gesetzgebungsorganen" zählen der Deutsche Bundestag, der Bundesrat (Art. 50, 76 ff G G ) , die Landtage einschließlich der Bürgerschaften der Stadtstaaten und des Abgeordnetenhauses von Berlin, sowie der Senat des Freistaates Bayern (Art. 83 ff der BayLVerf.) 43 .
40 Vgl. zum Ganzen näher: Maunz-Dürig-Herzog, Rdz. 8 zu Art. 35 GG; Rdz. 11, 22, 27 u. 47 zu Art. 44 GG; Rdz. 8 zu Art. 45 a GG; von Mangoldt-Klein, Anm. III 3 b zu Art. 44 GG; Dennewitz-Schneider in BK, Anm. 114 zu Art.44 GG; Giese-Schunck, 7. Aufl. 1965, Anm. II 1 zu Art. 44 GG; Thiele ZBR 1955, 77; vgl. auch Schönke-Schröder u. Lackner-Maassen, wie Fn. 30. 41 Z. B. §§ 100, 100 c (a. F.) bzw. §§ 94 ff (n. F.) bei Staatsgeheimnissen oder § 353 b bei Behördenbediensteten. 42 Gegenüber der Gesetzestechnik in § 353 c des RegE eines 8. StÄG (BT-Drucks. V/ 898) ist es ein bedauerlicher Rückschritt im strafgesetzlichen Sprachgebrauch, daß § 353 c (n. F.) von einem „Gesetzgebungsorgan... oder einer anderen amtlichen Stelle" spricht. Die mit dieser Fassung zugleich bezweckte Begriffsklärung für die §§ 95 Abs. 1, 96 Abs. 2, 97, 99 Abs. 2 u. 353 b Abs. 2 - n.F. - (vgl. BT-Drucks. V/2860, 18) steht nicht nur „an entlegener Stelle", sondern hätte auch korrekterweise durch eine Legaldefinition erfolgen sollen (vgl. die Beispiele in §10 Nr. 4 u. 7 sowie in §11 Abs. 1 Nr. 4 des E 1962). 45 Vgl. Schwarz-Dreher, 30. Aufl. 1969, Anm. 2 zu §11; Schönke-Schröder, 14. Aufl. 1968, Rdz.4 zu §105; Nawiawsky-Leusser-Schweiger-Zach, 2. Aufl. 1967, Rdz. 2 zu Art. 34 BayLVerf.
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c. Die bisherige Fassung des § 353 c Abs. 2 sprach von der unbefugten Weitergabe einer Mitteilung, zu deren Geheimhaltung der Täter von
einer zuständigen Stelle besonders verpflichtet worden war. Dabei ver-
stand die herrschende Lehre hier unter den „zuständigen Stellen" ebenfalls nur Behörden und behördenähnliche Stellen44. Aus der Fülle der auch hier bis zuletzt ungeschlichteten Streitfragen will ich wiederum nur eine herausgreifen, die mir die Wichtigste zu sein scheint: Die Frage nach Wesen und Form dieser „besonderen Verpflichtung zur Geheimhaltung". Denn nirgends sonst wird bei § 3 5 3 c Abs. 2 so deutlich, daß Reform auch Ausdruck eines Wandels im rechtlichen Verständnis seines Straftatbestands sein kann. Bei der Deutung des Wesens dieser „besonderen Verpflichtung zur Geheimhaltung" herrschte eine an totale Konfusion grenzende Unsicherheit. Zum Teil wurde schon der formale Charakter dieser besonderen Verpflichtung verkannt und fälschlich angenommen, daß hierunter auch gesetzliche Verschwiegenheitspflichten fielen45. Noch folgenschwerer war aber, daß die Rechtslehre - ersichtlich inspiriert von der üblichen Auslegung der 2. Alternative des § 353 b Abs. 246 - annahm, auch hier (bei § 353 c Abs. 2) könne die „besondere Geheimhaltungsverpflichtung" dem Betroffenen einseitig auferlegt werden47. Daß dies nicht stimmt, ist verblüffenderweise eine juristische Entdeckung erst der jüngsten Zeit, auf die noch einzugehen sein wird. Jedenfalls konnte es nicht verwundern, wenn bei einem derartigen rechtswissenschaftlichen Ausgangspunkt als Beispiele für eine angebliche Anwendbarkeit des § 353 c Abs. 2 in der älteren Literatur Fälle folgender Art genannt [582] wurden: Die Polizei teile einem Schriftleiter amtlich mit, er solle bestimmte Tatsachen nicht berichten48; oder ein Beamter teile einem Journalisten nochmals längst bekannte Tatsachen mit, jetzt aber mit der Verpflichtung, den Vorgang geheimzuhalten4'. Und es war dann nur konsequent, wenn es 41 Vgl. Grau-Schäfer, Anm.7 zu §353c; Grau RVerwBl. 1936, 631; Koenig, BJahrb. 1936, S. 565; Probst, S. 59; Lackner-Maassen, 4.Aufl., Anm.3 zu §353 c; SchönkeSchröder, 13. Aufl., Rdz. 7 u. 10 zu §353c. 45 Vgl. z.B. Dalcke-Schäfer, 37. Aufl., Anm.8 a.E. zu §353c. 4,1 Vgl. statt vieler: Amtl. Begründung, DJ 1936, 997 („bloße Eröffnung"); SchwarzDreher, 27. Aufl., Anm. 1B zu § 353 b („einseitige Eröffnung"); Schönke-Schröder, 13. Aufl., Rdz. 3 zu § 353 b („einfache Mitteilung"). 47 Vgl. Köhler, GS 108, 132 („einseitige empfangsbedürftige Handlung, die aber der Annahme nicht bedarf"); von „Auferlegung" sprachen: Amtl. Begründung, DJ 1936, 998; Grau-Schäfer, Anm.7 u. 9 zu §353c; Schäfer, Die Polizei 1936, S.407; Dalcke-Schäfer, 37. Aufl., Anm. 10 zu §353c; Schönke-Schröder, 13. Aufl., Rdz. 7 zu §353c. 48 Vgl. Köhler, GS 108, 132. 49 Vgl. Löffler, 1. Aufl., Rdz. 14 zu §§353b, 353 c.
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1952 einmal im Bundestag hieß, eine solche Vorschrift atme „den Geist purer polizeilicher Willkür" 50 . Diese Verwirrung ergriff zwangsläufig auch die behördliche Praxis, die jahrelang annahm, es genüge zur Herbeiführung des Strafschutzes aus § 353 c Abs. 2, wenn den Beschäftigten in sicherheitsempfindlichen Betrieben die Geheimhaltung „auferlegt" oder wenn die Geheimhaltung in den Beschäftigungsverträgen „vereinbart" werde. Daß schließlich weithin Unsicherheit über die Formalien dieser „besonderen Verpflichtung zur Geheimhaltung" bestand, war dann schon fast selbstverständlich. Es mußte deshalb vornehmliche Aufgabe der Reform sein, jene geradezu absurden Auslegungen zu unterbinden und § 353 c Abs. 2 in eine rechtsstaatlich einwandfreie Form zu bringen. Der Regierungsentwurf eines Achten Strafrechtsänderungsgesetzes17 schlug daher für die Geheimhaltungsverpflichtung die Fassung vor, daß der Täter „zur Geheimhaltung von einer zuständigen Dienststelle unter Hinweis auf die Strafbarkeit der Geheimnisverletzung mit seiner Einwilligung oder auf Grund eines Gesetzes förmlich verpflichtet worden" sei. Die Neufassung18 spricht davon, daß der Täter „zur Geheimhaltung von einer . . . amtlichen Stelle unter Hinweis auf die Strafbarkeit der Geheimnisverletzung förmlich verpflichtet worden" sei. - Der Fassungsvorschlag der Bundesregierung macht auf den ersten Blick den völligen Wandel im Verständnis der Geheimhaltungsverpflichtung deutlich, an dem die verkürzte Neufassung nichts hat ändern wollen. Dieser Wandel zeigt sich in mehrfacher Hinsicht: 1. Der Ausgangspunkt für die Neuorientierung lag in folgender Einsicht: § 353 c Abs. 2 regelt nur die strafrechtlichen Folgen einer Verletzung der erfolgten GeheimhaitungsVerpflichtung, nicht jedoch die Voraussetzungen für die Zulässigkeit eines solchen Verpflichtungsaktes51. Die durch eine Amtsstelle erfolgende Geheimhaltungsverpflichtung ist aber ein belastender Hoheitsakt, der dem Betroffenen nicht ohne Rechtsgrund einseitig auferlegt werden kann; es bedarf dazu folglich entweder einer besonderen gesetzlichen Grundlage oder aber der vorherigen Einwilligung des Betroffenen zu diesem Verpflichtungsakt52. Diese Auffassung kam eindeutig in der im Regierungsentwurf enthaltenen Wendung Vgl. S. 8001 der in Fn.2 bez. Niederschrift. Das ist eine auch sonst geläufige Anschauungsweise, vgl. etwa § 154b StPO; dazu: Lüttger JZ 1964, 571. 52 Vgl. BT-Drucks. IV/650, 600; BT-Drucks. V/898, 42; Prot. 1513, 1554; SchwarzDreher, 30. Aufl., Anm. 3 zu § 353 c; Nr. 226 Abs. 5 Satz 2 der Richtl. f. d. Strafverfahren (RiStV) i. d. F. vom 1.12.1966 - Da auch Gerichte und militärische Kommandostellen unter den Begriff der „anderen amtlichen Stellen" in § 353 c fallen (vgl. BT-Drucks. V/ 2860, 18), ist die Bezeichnung als „belastender Hoheitsakt" derjenigen als „belastender Verwaltungsakt" vorzuziehen (vgl. allgemein: Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 50 51
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„mit seiner Einwilligung oder auf Grund eines Gesetzes" zum Ausdruck. Der Sonderausschuß für die Strafrechtsreform teilte diese Rechtsansicht; er hat jene Klausel nur deshalb gestrichen, weil dies selbstverständlich sei53. Das mag im Lichte heutiger Erkenntnis richtig sein; der dornenvolle Weg zu dieser Einsicht sowie die Verwirrung in der früheren Praxis hätten es aber angezeigt, hier um der rechtsstaatlichen Klarheit willen nicht in gefährliche Wortkargheit zu verfallen. Jedenfalls ist jetzt kein Raum mehr für die altvertraute Kampagne gegen § 3 5 3 c Abs. 2 : W e r nicht bereit ist, sich der Geheimhaltungsverpflichtung zu unterwerfen, kann - falls nicht ausnahmsweise eine gesetzliche Ermächtigung zur Auferlegung dieser Verpflichtung besteht 54 - nicht zur Geheimhaltung verpflichtet und infolgedessen auch nicht unter diesen Straftatbestand gezogen werden; er wird dann eben nicht zu den in Rede stehenden geheimhaltungsbedürftigen Aufgaben herangezogen 55 . U n d das „Zeug zum Journalistenschreck" hat Absatz 2 damit unwiderruflich eingebüßt. Aus dem Wesen der Geheimhaltungsverpflichtung als Hoheitsakt ergibt sich weiter, daß hier die oftmals in Anstellungsverträgen enthaltenen „Geheimschutzklauseln" ausscheiden, wie sie aus dem angelsächsischen Bereich über die N A T O auch bei uns in sicherheitsempfindlichen Betrieben Eingang gefunden haben 56 . Verletzungen solcher vertraglicher Bd. I, AT, 9. Aufl. 1966, S. 188ff, 198-199; H.J. Wolff, Verwaltungsrecht, 6.Aufl. 1965, S. 260 ff, 262). - Zwar sind einer Ersetzung der für belastende Hoheitsakte nötigen gesetzlichen Ermächtigung (Art. 20 Abs. 3 GG) durch eine Einwilligung des Betroffenen Grenzen gesetzt (vgl. allgemein: Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1931/1966, S. 88 f, 122f; H.J. Wolff, a.a.O. S.275, 283f); doch greifen im Falle des §353c Abs.2 solche Hinderungsgründe nicht ein: Der Bürger unterwirft sich hier nur einem durch Formenstrenge und gegenständliche Konkretisierung exakt umgrenzten und genau vorhersehbaren Eingriff (vgl. Abschnitt C 2 u. 3). Selbst wenn der Bürger diese Einwilligung etwa um lukrativer Rüstungsaufträge willen gibt, erreicht der von den allgemeinen Lebensverhältnissen ausgehende soziale Druck nicht jene Stärke, die beispielsweise beim Eintritt in besondere Gewaltverhältnisse zwecks Erreichung von existenzwichtigen oder von Monopolleistungen eine „Freiwilligkeit" der Unterwerfung ausschließt, weil der Bürger dort keine Wahl mehr hat (vgl. dazu: Bachof W D S t R L 12, 37, 58-59; Ule W D S t R L 15, 133, 159-160; H.Heckel RdJ 1954, 5; Bender, Allg. Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 1956, S. 145). Daher bestehen auch keine Bedenken, in solch eng begrenztem Rahmen die Möglichkeit zu einem partiellen Verzicht auf die Grundrechte der Handlungs- und Mitteilungsfreiheit anzuerkennen (vgl. allgemein: Maunz, Deutsches Strafrecht, 16. Aufl. 1968, S. 134 f), zumal ein etwaiger überpositiver Kern dieser Rechte nicht betroffen ist und die Verpflichtung oft auch im eigenen Interesse des Betroffenen liegt, aber auch, weil ohne solche Sicherheitsvorkehrungen die staatliche Tätigkeit in sicherheitsempfindlichen Bereichen nicht mehr zu funktionieren vermöchte. 53 54 55 56
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Prot. 1554; BT-Drucks. V/2860, 28. dazu Abschnitt C 4. BT-Drucks. IV/650, 600; BT-Drucks. V/898, 42. Prot. 1417, 1418, 1466, 1553.
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Geheimhaltungs- oder Verschwiegenheitsabreden mögen Kündigungsrechte, Vertragsstrafen oder Schadensersatzansprüche begründen; niemals aber können sie Kriminalsanktionen aus §353 c Abs. 2 auslösen". Und endlich ist jetzt klargestellt, daß alle gesetzlichen Verschwiegenheitspflichten58 ebenso ausscheiden57, wie alle kraft Gesetzes bestehenden Pflichten, einen Gegenstand vor einer Einsichtnahme durch Unbefugte zu schützen, was beispielsweise für Wählerverzeichnisse gilt59. Denn solche gesetzlichen Pflichten ersetzen nicht das Tatbestandsmerkmal des im Einzelfall vorzunehmenden (hoheitlichen) Verpflichtungsaktes, von den sogleich zu erörternden Formalien ganz zu schweigen. 2. Die Neufassung macht unmißverständlich deutlich, daß die Geheimhaltungsverpflichtung ein Formalakt ganz bestimmter Art ist. Dies war zwar - richtiger Ansicht nach - schon bei der alten Fassung der Fall; die Neufassung verstärkt diese Formalisierung aber wesentlich. Das kommt in den Worten zum Ausdruck, der Betroffene müsse „förmlich" - statt wie bisher „besonders" - zur Geheimhaltung verpflichtet worden sein, und dies müsse - anders als bisher - „unter Hinweis auf die Strafbarkeit der Geheimnisverletzung" geschehen sein. - Für diese Formerfordernisse spielt es keine Rolle, ob das Verwaltungs- und Verfahrensrecht, dem der hoheitliche Verpflichtungsakt angehört, solche Formalien als Gültigkeitsvoraussetzungen kennt oder nicht kennt. Denn dem Strafrecht steht es frei, den Strafschutz auf dergestalt formalisierte Verpflichtungsakte zu beschränken. - Diese verstärkten Formerfordernisse haben Konsequenzen: Zunächst ist jetzt kein Raum mehr für die bisher so beliebte Auslegung, daß schon bloße „Belehrungen" über eine „Schweigepflicht" die Voraussetzungen der Geheimhaltungsverpflichtung [583] erfüllen könnten60. Die nunmehr erforderliche „förmliche Verpflichtung" setzt vielmehr eine ausdrückliche Erklärung des Inhalts voraus, daß der Betroffene „zur Geheimhaltung verpflichtet wird". - Darin sollte sich aber die Deutung des Merkmals „förmlich" nicht erschöpfen; es sollte vielmehr nicht nur im Sinne inhaltlicher Formalisierung, sondern auch als äußerliches Formgebot verstanden werden, weil anders der Wechsel von der Vgl. BT-Drucks. V/898, 42. Z.B. §61 BBG; §§43, 45 Abs.3, 46 DRiG (unzutreffend daher bzgl. der Schweigepflicht von Schöffen und Geschworenen: Dalcke-Schäfer, 37. Aufl., Anm.8 zu §353c); § 172 GVG i. V. mit § 184 b StGB und mit Art. III des Gesetzes betr. die unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindenen Gerichtsverhandlungen vom 5.4.1888 (BGBl. III 453-1); ferner § 14 Soldatengesetz (insoweit zutreffend: Weidinger NZWehrR 1967, 151 ff); vgl. auch die Aufzählung bei: Göhler-Buddendiek-Lenzen, Lexikon des Nebenstrafrechts, Stichwort „Geheimnis". 59 Vgl. §88 Abs. 1 der Bundeswahlordnung i.d.F. vom 8.4.1965 - BGBl. I, 240 - . 60 So z.B. Köhler, GS 108, 132. 57
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„besonderen" zur „förmlichen" Verpflichtung in seiner Bedeutung nicht ausgeschöpft wäre. Zwar schweigen die Materialien hierzu; doch ist es nicht nur die veränderte und verschärfte Fassung, sondern auch der Zug der Reform zu verstärkter rechtsstaatlicher Sicherung, der es geboten erscheinen läßt, insoweit ganz bewußt zwischen der „förmlichen Verpflichtung zur Geheimhaltung" in § 353 c Abs. 2 einerseits sowie der „besonderen Verpflichtung zur Verschwiegenheit" in § 353 b Abs. 2, der „Verpflichtung auf gewissenhafte Erfüllung der Dienstobliegenheiten" in § 1 Abs. 1 der Bestechungsverordnung und dem „Schweigegebot" in §174 Abs. 2 G V G andererseits zu unterscheiden. Denn wenn § 353 b Abs. 2 (2. Alternative) keine Formvorschrift kennt" und wenn in den beiden anderen Beispielsfällen die vorgeschriebene Protokollierung jedenfalls nach überwiegender Ansicht keine Gültigkeitsvoraussetzung darstellt62, so ist dies allenfalls umgekehrt ein Grund zu schleuniger Reform. Entgegen der bisherigen Auslegung63 können daher bei § 353 c Abs. 2 mündliche Verpflichtungen nicht mehr für ausreichend gehalten werden. Vielmehr muß als Voraussetzung des Strafschutzes gefordert werden, daß die Verpflichtung entweder schriftlich oder bei mündlicher Vornahme unter Aufnahme einer Niederschrift geschieht64. - Der neu vorgeschriebene „Hinweis auf die Strafbarkeit der Geheimnisverletzung" ist ebenfalls ohne Zweifel eine erhebliche rechtsstaatliche Verbesserung65. Denn er belehrt den Betroffenen über die strafrechtlichen Folgen, die erst durch seine Einwilligung in die Geheimhaltungsverpflichtung im Falle einer Preisgabe möglich werden. Diese Belehrung über die strafrechtlichen Konsequenzen muß durch die verpflichtende Amtsstelle vor der Verpflichtung vorgenommen werden; sie nimmt als wesentliche Formalie an der Schriftform teil. 3. Aber darin erschöpfen sich die formalen Konturen des § 3 5 3 c Abs. 2 nicht. Denn auch vom Objekt der Geheimhaltungsverpflichtung her ergeben sich Einschränkungen. Die Verpflichtung muß sich nämlich auf „einen Gegenstand oder eine Nachricht" oder mehrere von ihnen beziehen. Das bedeutet zwar nicht, daß jedes betroffene Objekt einzeln aufgezählt oder daß für jede einzelne Information eine besondere oder Vgl. statt vieler: Schwarz-Dreher, 30. Aufl., Anm. 2 zu § 353 b. Vgl. zu § 1 Abs. 3 Satz 2 der Verordnung gegen Bestechung und Geheimnisverrat nichtbeamteter Personen: Teisenberger bei Stenglein, 5. Aufl. 1931, Bd. II, S.364; RGSt. 53, 318 f - Zu § 174 Abs. 2 Satz 2 GVG: Löwe-Rosenberg-Schäfer, 21. Aufl. 1965, Anm. 10 zu § 174; Schwarz-Kleinknecht, 27. Aufl. 1967, Anm.4 zu § 174; a.A.: Baumbach-Lauterbach, 29. Aufl. 1966, Anm. 2 zu §174. 63 Dazu schon immer kritisch: Schwarz-Dreher, 27. Aufl., Anm. 1A zu § 353 c; Löffler, 1. Aufl. Rdz. 3 zu §§ 353 b, 353 c. 64 Vgl. Schwarz-Dreher, 30. Aufl., Anm. 3 zu §353c; Nr. 226 Abs. 5 Satz 3 RiStV. 65 Vgl. dazu Prot. 1554. 61
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neue Verpflichtung ausgesprochen werden müßte. Es genügt vielmehr, daß die betroffenen Gegenstände und Nachrichten mit der Bezeichnung einer zusammengehörenden Gruppe oder eines bestimmten Projekts identifiziert werden66; der Identifizierung mit einer solchen „Sammelbezeichnung" bedarf es aber in jedem Falle. Schon daraus66" folgt, daß eine „generelle" Verpflichtung zur Geheimhaltung alles dessen, was etwa ein Beschäftigter in einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit erfährt, keinen Strafschutz aus § 3 5 3 c Abs. 2 genießt. Denn die Geheimhaltungsverpflichtung reicht nicht über die Gegenstände und Nachrichten hinaus, auf die sie sich konkretisiert bezieht. Dieser Grundsatz zeigt eine Grenze für die Strafbarkeit an, auf die aus rechtsstaatlichen Gründen schlechterdings nicht verzichtet werden konnte. Zwar gibt es im formellen Geheimschutz wohl auch (bedenkliche52) „generelle" Verpflichtungen zur Geheimhaltung bei den zum Umgang mit Verschlußsachen ermächtigten Personen; als Grundlage für eine Anwendung des § 3 5 3 c Abs. 2 kommen sie jedoch nicht in Betracht. 4. Auf dem Boden dieser neuen Konzeption begegnet es auch keinen rechtsstaatlichen Bedenken mehr, daß die Verpflichtung zur Geheimhaltung nicht nur Materien betreffen kann, mit denen der Verpflichtete erst künftig befaßt wird67, sondern daß sie der Information (bis zur Begehung der „Tat") auch nachfolgen kann68. Denn die Geheimhaltungsverpflichtung kann ja nur mit Einwilligung des Betroffenen oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen. Und auch diese letztere Möglichkeit ist kein taugliches Mittel, um die zentrale Bedeutung der Einwilligung herabzumindern. Als Rechtsgrundlage für die Auferlegung einer Geheimhaltungsverpflichtung kommen nämlich nur solche Gesetze in Betracht, welche die Eingriffsermächtigung nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmen und begrenzen, so daß die Eingriffe für den Staatsbürger vorhersehbar sind; „vage Generalklauseln" genügen nicht69. Daher scheiden als Grundlage einer oktroyierten Geheimhaltungsverpflichtung beispielsweise aus: Die militärische Befehlsgewalt gegenüber Soldaten70; alle Vorschriften, welche nur eine Verteidigung oder Ver-
66 Vgl. BT-Drucks. IV/650, 600; BT-Drucks. V/898, 42; Prot. 1552; Schwarz-Dreher, 30. Aufl., A n m . 3 zu § 353 c; Weidinger, NZWehrR 1967, 154 f. Und aus den Gründen in Fn. 52 u. 69. 67 Vgl. BT-Drucks. IV/650, 600; BT-Drucks. V/898, 42; Schwarz-Dreher, 30. Aufl., Anm. 3 zu § 353 c. 68 Vgl. Grau-Schäfer, Anm. 9 zu § 3 5 3 c ; Köhler, GS 108, 132; Dalcke-Schäfer, 37. Aufl., Anm. 10 zu § 3 5 3 c ; Schönke-Schröder, 14. Aufl., Rdz. 13a zu § 3 5 3 c . " Vgl. BVerfGE 8, 76 u. 325 f; 9, 147; 17, 314 = J Z 1964, 555, 556. 70 Unrichtig: Weidinger NZWehrR 1967, 151 ff.
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pflichtung zur gewissenhaften Erfüllung von Amtspflichten erlauben 71 ; sowie Vorschriften, welche lediglich eine Verpflichtung zur „ungeöffneten Verwahrung" verschlossener Schriftstücke und zur vorläufigen Unterlassung einer Kenntnisnahme davon ermöglichen72. Soweit ersichtlich, gibt es im geltenden Recht noch keine gesetzlichen Vorschriften, die eine Ermächtigung zur Auferlegung einer Geheimhaltungsverpflichtung i.S. des §353c Abs. 2 enthalten73. Bei der Schaffung des §353c Abs. 2 (n. F.) war insoweit an künftige einschlägige gesetzliche Vorschriften für den Zivildienst im Verteidigungsfall gedacht74. Das Risiko einer Information vor „einverständlicher" Geheimhaltungsverpflichtung trifft also die informierende Behörde, nicht den Staatsbürger. Faßt man die geschilderten Einzelheiten des Wandels in Wesen und Form der „Geheimhaltungsverpflichtung" zusammen, so wird auch ein kritischer Betrachter zugeben müssen, daß der Reform eine vorbildliche „Entschärfung" dieses Teils des §353c Abs. 2 gelungen ist75.
D. Die Reform des § 353 c Abs. 2 bietet schließlich ein besonders anschauliches Beispiel für die Verflechtung des Strafrechts mit anderen Rechtsgebieten. [584] Die herrschende Lehre verstand - wie schon erwähnt - unter den „zuständigen Stellen", von denen die „besondere Verpflichtung zur Geheimhaltung" im Sinne der alten Fassung des § 353 c Abs. 2 herrühren mußte, nur Behörden, nicht aber Legislativorgane44. Die Neufassung 18 schließt diese bedenkliche Lücke durch Einfügung einer neuen Alternative. Diese pönalisiert die unbefugte Preisgabe von Gegenständen oder 71
Z.B. §§51, 84 GVG betr. den Schöffen- und Geschworeneneid; unrichtig daher: Dalcke-Scbäfer, 37. Aufl., Anm. 10 zu § 353 c. Ferner: § 1 Abs. 1 der BestechungsVO. 72 Vgl. § 14 Abs. 1 Nr. 1 des Verkehrssicherstellungsgesetzes vom 24.8.1965 - BGBl. I, 927 - . Auch die in § 14 Abs. 2 a. a. O. vorgesehenen Auflagen über die „Art der Verwahrung" und über die „Verwendung" erlauben (aus den Gründen zu u. mit Fn. 69) nicht eine (inhaltlich andersartige) „Verpflichtung zur Geheimhaltung". Verstöße gegen § 14 a. a. O. sind überdies Ordnungswidrigkeiten nach §31 Abs. 1 Nr. 1 a.a.O. 73 Das „Schweigegebot" des §174 Abs. 2 GVG ist nicht durch §353c Abs. 2, sondern durch Art. II des Gesetzes betr. die unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindenden Gerichtsverhandlungen vom 5.4.1888 (BGBl. III, 453-1) strafbewehrt, der schon nach früherem Recht lex specialis zu § 353 c Abs. 2 war; vgl. Schönke-Schröder, 13. Aufl., Rdz. 8 zu § 353 c; Dalcke-Schäfer, 37. Aufl., Anm. 1 zu §353c; Nr. 127 Abs. 2 Satz 1 RiStV. A . A . : Mühlmann-Bommel, Anm.3 zu §353c (Tateinheit); Niethammer, S.432, der offenbar das G. v. 1888 übersehen hat. - Zu den Unterschieden des neuen Rechts vgl. den Text zu und mit Fn. 62. 74 Vgl. BT-Drucks. IV/650, 600; BT-Drucks. V/898, 42. 75 Wenn Löffler, Presserecht, 2. Aufl. 1969, Rdz. 13 ff. zu §§353b, 353 c, unbeirrt auf seinen früheren Bedenken beharrt, so beruht dies ersichtlich auch darauf, daß er von den im Text geschilderten Änderungen und Klarstellungen der Reform keine Notiz nimmt.
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Nachrichten, zu deren Geheimhaltung der Täter auf Grund des Beschlusses eines Gesetzgebungsorgans des Bundes oder eines Landes oder eines seiner Ausschüsse verpflichtet ist. Der Regierungsentwurf17 sprach - sonst fast wörtlich übereinstimmend - von Gegenständen oder Mitteilungen, zu deren Geheimhaltung „oder vertraulichen Behandlung" der Täter auf Grund eines solchen Beschlusses verpflichtet sei. 1. Die Neufassung macht schon auf den ersten Blick deutlich, daß auch hier ein Formalakt vorausgesetzt ist, freilich ein solcher von ganz anderer Art. Gemeint sind hier nicht förmliche „Einzel-Verpflichtungsakte", wie in der soeben erwähnten anderen Alternative, sondern allgemeine Verpflichtungen, die jedoch ebenfalls förmlich, nämlich durch einen bestimmten Beschluß eines Legislativorgans begründet werden müssen76. Den bisher einzigen Anwendungsfall dieser Art im Bundesrecht enthält der (1964) neu gefaßte12 §73 Abs. 6 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Nach dieser Vorschrift können die Ausschüsse des Bundestages unter gewissen Voraussetzungen77 für einen Beratungsgegenstand oder für Teile desselben „die Geheimhaltung oder die Vertraulichkeit" beschließen78. Da die Neufassung des §353c Abs. 2 anders als der Regierungsentwurf - nur von „Geheimhaltung" und nicht auch von „vertraulicher Behandlung" spricht, könnte es so scheinen, als ob diejenigen Beschlüsse, die (nur) „die Vertraulichkeit" anordnen, ausgeschlossen und lediglich solche Beschlüsse gemeint seien, die „die Geheimhaltung" anordnen. Indessen hat die Neufassung an dem sachlichen Inhalt des Regierungsentwurfs nichts ändern wollen7', so daß § 353 c Abs. 2 für beide Beschlüsse gilt und den gesamten Bereich des §73 Abs. 6 G O B T erfaßt. Freilich liegt in der textlichen Abweichung der Neufassung von dem wesentlich klareren Regierungsentwurf eine unnötige Verschlechterung der Gesetzesfassung. Von den hier allein in Betracht kommenden Beschlüssen der Gesetzgebungsorgane, die eine „persönliche" Verpflichtung zur Geheimhaltung oder Vertraulichkeit zum Gegenstand haben, sind alle diejenigen Beschlüsse zu unterscheiden, die lediglich „äußerliche" Beschränkungen des Zugangs aussprechen. Unter § 353 c Abs. 2 fallen daher beispielsweise nicht diejenigen Beschlüsse, durch die der Bundestag nach seiner
Vgl. BT-Drucks. V/898, 41; Prot. 1513, 1552. Nämlich wenn über ein geheimes oder vertrauliches Schriftstück oder über eine sonstige geheime oder vertrauliche Unterlage oder mündliche Mitteilung beraten wird. n Der Beschluß kann vor der Beratung oder bis zum Schluß derselben Sitzung ergehen (§73 Abs. 6 Satz 2 G O B T ; BT-Drucks. IV/2303, S.2). 79 Vgl. Prot. 1552 ff. 76
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Geschäftsordnung Akten als „vertraulich" bezeichnet80 oder durch die er „die Öffentlichkeit einer Verhandlung ausschließt"81. Das war in den parlamentarischen Beratungen unbestritten. - Dasselbe gilt jedoch auch für die Beschlüsse, durch die der Bundesrat für einen Beratungsgegenstand „die Öffentlichkeit ausschließt"82, obgleich die Geschäftsordnung des Bundesrates daran die „Folge" knüpft, daß die Verhandlungen in nichtöffentlicher Sitzung „vertraulich" sind, soweit der Bundesrat nichts anderes beschließt83. Denn auch diesen Beschlüssen fehlt der in § 353 c Abs. 2 aus Gründen exakter tatbestandlicher Abgrenzung geforderte förmliche Ausspruch einer Verpflichtung zur Geheimhaltung oder zur vertraulichen Behandlung. Es ist Sache der Gesetzgebungsorgane, in ihren Geschäftsordnungen die Voraussetzungen für eine Anwendbarkeit des § 353 c Abs. 2 zu schaffen, falls dafür ein Bedürfnis besteht. 2. Weit schwieriger und noch recht ungeklärt ist jedoch die Frage, welcher Personenkreis an einen solchen Geheimhaltungsbeschluß eines Gesetzgebungsorgans gebunden ist. Dies ist nicht eine Frage des Strafrechts, sondern eine solche des Parlamentsrechts84. Denn §353 c Abs. 2 bedroht nicht jeden mit Strafe, „wer auch immer" preisgebe, was auf Grund eines Beschlusses der Legislativorgane geheimzuhalten sei. Die Strafandrohung richtet sich vielmehr nur an denjenigen, der Fakten preisgibt, zu deren Geheimhaltung „er auf Grund des Beschlusses . . . verpflichtet ist". Über den Kreis der hier in Betracht kommenden Täter kann also nur die personelle Wirkungsbreite des Geheimhaltungsbeschlusses des Legislativorgans selbst Auskunft geben. § 3 5 3 c Abs. 2 beschränkt sich darauf, diesem Beschluß in den Grenzen seiner parlamentsrechtlichen personellen Tragweite Strafschutz zu gewähren. Die Frage nach der persönlichen Wirkungsbreite der hier gemeinten Geheimhaltungsbeschlüsse der Legislative ist von praktischer Bedeutung, weil an den - nicht öffentlichen85 - Beratungen der Ausschüsse des Bundestages nicht nur Abgeordnete86, sondern auch Mitglieder des
! 0 Vgl. §21 Abs. 1 G O B T ; dazu Prot. 1546, 1547. - Die davon zu unterscheidenden formellen Sekreturen des BT (vgl. §§21 Abs. 4, 21 a G O B T ; §§ 1 ff der GeheimschutzO. des B T ; Fn. 12) fallen ebenfalls nicht unter Abs. 2, wohl aber unter Abs. 1 des § 353 c (vgl. BT-Drucks. V/898, 41; Prot. 1544, 1546, 1547, 1554; BT-Drucks. V/2860, 28). 81 Vgl. Art. 42 Abs. 1 Satz 2, 3 GG; § 2 3 GOBT. - Über die Wirkung dieser Beschlüsse als „Zutrittsbeschränkungen" vgl. Maunz-Dürig-Herzog, Rdz. 12 zu Art. 42 G G ; GieseSchunck, Anm. II 2 zu Art. 42 GG. 82 Vgl. Art. 52 Abs. 3 Satz 4 GG; § 17 Abs. 1 der GOBRat vom 1 . 7 . 1 9 6 6 - BGBl. I, 437-, 83 Vgl. § 17 Abs. 2 der GOBRat (Fn. 82). 84 Vgl. BT-Drucks. V/898, 4 1 - 4 2 ; Schwarz-Dreher, 30. Aufl., Anm. 3 zu § 3 5 3 c . 85 Vgl. §73 Abs. 1 G O B T . 86 Und zwar auch solche, die dem Ausschuß nicht angehören; vgl. § 73 Abs. 4 GOBT.
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Bundesrates und der Bundesregierung sowie ihre Beauftragten87 teilnehmen können und weil - in der Parlamentswirklichkeit88 - gelegentlich auch zur Beratung zugelassene Außenstehende, wie etwa Sachverständige, daran teilnehmen. Diese Frage zu klären ist um so notwendiger, als die Materialien zur Neufassung des §353c Abs. 2 eine Bindung von Außenstehenden an derartige Beschlüsse der Bundestagsausschüsse in vorsichtiger Form für wohl möglich gehalten haben8'. Bei der Prüfung dieser Frage ist von der Rechtsnatur der auf Grund des Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG erlassenen Geschäftsordnung des Bundestages auszugehen. Das Bundesverfassungsgericht und die überwiegende Lehre sehen in dieser Geschäftsordnung eine „autonome Satzung", die die Aufgabe hat, das Verfahren für die Abwicklung der Parlamentsgeschäfte zu regeln, und daher eine „bloße Verfahrensordnung" ist90. Aus diesem Charakter der Geschäftsordnung folgern Rechtsprechung und herrschende Lehre, daß ihre Bestimmungen „nur die Mitglieder des Bundestages binden" und daß sie nicht die Kraft haben, andere Staatsorgane oder den Bürger zu binden90. - Diese Ansicht steht im Einklang mit der herrschenden Meinung von der persönlichen Wirkungsbreite autonomer Satzungen überhaupt. Rechtsprechung und Lehre nehmen übereinstimmend an, daß solche Satzungen grundsätzlich nur Rechtswirkung für die „Verbandsangehörigen", für die Mitglieder des betreffenden „Sonderkreises" haben und daß für jede „Außenwirkung", also für Satzungsvorschriften über Eingriffe in die Rechtssphäre von außenstehenden Bürgern eine besondere gesetzliche Ermächtigung erforderlich ist91. Nichts anderes gilt für die parlamentarischen Geschäftsordnungen. Wenn § 45 der Geschäftsordnung des Bundestages von der Ordnungsgewalt und den Maßnahmen des Bundestagspräsidenten [585] gegenüber Zuhörern - also gegenüber „Außenstehenden" - handelt, so besteht dafür eine „besondere Rechtsgrundlage". Denn diese Eingriffe - z.B. das Entfernen von Störern und das Räumen der Zuhörertribünen -
Vgl. Art. 43 Abs. 2 Satz 1 GG. Und zwar nicht nur in den „öffentlichen Informationssitzungen" des §73 Abs. 2 G O B T . - Vgl. dazu: A Ö R 1958, 423 ff, 450. ·' Vgl. BT-Drucks. V/898, 4 1 ^ 2 . 90 Vgl. BVerfGE 1, 144ff, 148, 153; Maunz-Dürig-Herzog, R d z . l , 16-18, 21 zu Art. 40 G G ; von Mangoldt-Klein, Anm. IV, 1, 2 zu Art. 40 G G ; Giese-Schunck, Anm. 113 zu Art. 40 G G ; Hamann, 2. Aufl. 1956, Anm. Β 3 zu Art. 40 G G ; Schmidt/BleibtreuKlein, 1967, Rdz.4 zu Art. 40 GG; Lechner-Hülshoff, Parlament und Regierung, 2. Aufl. 1958, S. 159; Schäfer, Der Bundestag, 1967, S.57ff; Troßmann, Parlamentsrecht und Praxis des Deutschen Bundestages, 1968, S. 123 f; α. Α. ζ. B. Altmann DÖV 1956, 751 ff. 87
" Vgl. BVerfGE 10, 20ff, 4 9 - 5 0 ; 12, 319ff, 325; BVerwGE 6, 247ff, 250-251; Forsthoff, S.446; Wolff, S. 113; H. Peters bei Anschütz-Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 1932, Bd. II, S.264, 266.
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beruhen auf Art. 40 Abs. 2 Satz 1 GG 92 , wo das „Hausrecht" des Bundestagspräsidenten angesprochen und seine „Polizeigewalt" geregelt ist. Dabei kann hier dahinstehen, ob jene Eingriffe gegen Außenstehende dem „Hausrecht" des Bundestagspräsidenten oder vielleicht in bestimmten Fällen seiner „Polizeigewalt" zuzurechnen sind93; denn für unser Problem macht dies keinen Unterschied. Und auch die „allgemeine Ordnungsgewalt" des Bundestagspräsidenten gegenüber „Sitzungsteilnehmern, die nicht Abgeordnete sind"94, läßt sich nur auf das Hausrecht gründen95, wenn man in der Ausübung dieser Befugnis einen Eingriff erblicken und diese Regelung nicht als „Kompetenzüberschreitung" auf Fälle freiwilliger Unterwerfung reduzieren will96. Aus alledem ergibt sich: Selbst wenn §73 Abs.6 der Geschäftsordnung des Bundestages dahin verstanden werden könnte, daß auch „Außenstehende" an die Geheimhaltungsbeschlüsse der Bundestagsausschüsse gebunden seien - schon das ist höchst zweifelhaft - , müßte die Frage nach einer gesetzlichen Grundlage für eine solche Ausweitung des Normadressatenkreises gestellt und verneint werden, da es an einer besonderen Ermächtigung für eine „Außenwirkung" dieser Vorschrift fehlt. Dabei bedarf es kaum der Erwähnung, daß die Ausschußbeschlüsse über die Geheimhaltung oder die Vertraulichkeit eines Beratungsthemas ihrem Wesen nach nichts mit dem Hausrecht und der Polizeigewalt des Präsidenten des Bundestages zu tun haben97. Sie haben aber auch nichts mit der „allgemeinen Ordnungsgewalt" gemein, die auf einen geregelten äußeren Ablauf der Parlamentsgeschäfte abzielt98 und in
92 Vgl. Maunz-Dürig-Herzog, Rdz. 13, 24 ff, 28 zu Art. 40 GG; von Mangoldt-Klein, Anm. V 1 a, b zu Art. 40 G G ; Giese-Schunck, Anm. II 4 zu Art. 40 GG; Schäfer aaO S. 60 u. 68. 93 Zum Streit um die Abgrenzung vgl. Bernau, Die verfassungsrechtliche Bedeutung von Geschäftsordnungen oberster Staatsorgane, Diss. Göttingen, 1955, S. 224 ff, mit Nachw. 94 Vgl. zu dieser „allgemeinen Ordnungsgewalt": §§45 Abs. 1, 40 Satz 1, 7 Abs. 1 Satz 2 G O B T ; zu dem gemeinten Personenkreis: Art. 43 Abs.2 GG. - Die „besonderen Ordnungsmaßnahmen" des § 4 5 Abs. 2 G O B T kommen gegenüber den unter Art. 43 Abs. 2 GG fallenden Personen nicht in Betracht; vgl. Maunz-Dürig-Herzog, Rdz. 22 zu Art. 43 GG. 95 Vgl. Maunz-Dürig-Herzog, Rdz. 28 zu Art. 40 und Rdz. 22 zu Art. 43 GG, mit Nachw. - Α. A. Bernau (Fn. 93), S. 229-242 (mit Nachw.), der auf „notwendige Unterwerfung" der in Art. 43 Abs. 2 GG aufgeführten Personen unter die G O abheben will. 96 So Schäfer (Fn. 90), S. 68. 97 Hausrecht und Polizeigewalt des Präsidenten sind übrigens nicht durch § 353 c, sondern durch § 106b strafrechtlich geschützt; vgl. dazu: BT-Drucks. 1/1307, 40; Schönke-Schröder, 14. Aufl., Rdz. 1 zu § 106 b; Lackner-Maassen, 4. Aufl., Anm. 1 zu § 106 b. 9» Vgl. von Mangoldt-Klein, Anm. III 2 c zu Art.40 GG; Bernau (Fn.93) S. 12ff u. 222 ff, mit Nachw.
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Strafrecht und Strafrechtsreform
den Ausschußberatungen (mit Einschränkungen) dem Ausschußvorsitzenden zugestanden wird". Denn bei den Geheimhaltungsbeschlüssen geht es um die Auferlegung von persönlichen Pflichten, die sachlich, örtlich und zeitlich über das Beratungsgeschäft hinausgehen100. Andere Rechtsquellen fehlen. Es bleibt daher nur die Schlußfolgerung, daß ein auf § 73 Abs. 6 der Geschäftsordnung gestützter Beschluß eines Bundestagsausschusses keine weitergehende Wirkung haben kann als die Geschäftsordnung selbst: Er verpflichtet nicht Außenstehende, sondern nur Mitglieder des Bundestages. Damit stimmt die Auslegung überein, die die alte (noch nicht durch § 353 c Abs. 2 StGB strafbewehrte) Fassung des §73 Abs. 6 der Geschäftsordnung des Bundestages gefunden hatte, in der bereits Ausschußbeschlüsse über die Vertraulichkeit von Teilen eines Beratungsgegenstandes vorgesehen waren. Diese Beschlüsse sind nämlich im Sinne einer „Unterrichtungssperre" gegenüber der Presse und anderen nicht zur Teilnahme an nichtöffentlichen Sitzungen befugten Personen verstanden worden 101 , mithin als Schranke für die Abgeordneten, nicht aber als Verpflichtung von Außenstehenden. Andererseits binden die Beschlüsse aus § 73 Abs. 6 der Geschäftsordnung nicht nur die Mitglieder des betreffenden Bundestagsausschusses oder gar nur diejenigen von ihnen, die an der Sitzung teilgenommen haben, sondern alle Bundestagsabgeordneten. Denn die vom Plenum beschlossene Geschäftsordnung, in der den Bundestagsausschüssen die Möglichkeit zum Erlaß jener Beschlüsse eingeräumt ist, bindet selbst unstreitig alle Bundestagsabgeordneten 102 . Das berechtigt dazu, den auf diese Geschäftsordnung gestützten Geheimhaltungsbeschlüssen dieselbe personelle Wirkungsbreite beizumessen. Dieses Ergebnis allein gewährleistet, daß die Beschlüsse über die Geheimhaltung oder Vertraulichkeit eines Beratungsthemas den ihnen zugedachten Sinn und Zweck erfüllen; sie wären nahezu nutzlos, wenn die Bindungswirkung innerhalb des Kreises der Bundestagsabgeordneten limitiert wäre. Da somit die nach §73 Abs. 6 der Geschäftsordnung ergehenden Geheimhaltungsbeschlüsse nur die Bundestagsabgeordneten binden, ist auch der Kreis der für diese Alternative des §353c Abs. 2 in Frage
99 Vgl. §§69 Abs. 2, 71 GOBT; dazu: Maunz-Dürig-Herzog, Rdz.22 zu Art. 43 GG; von Mangoldt-Klein, Anm.IV 5 zu Art. 43 GG; Ritzel-Koch, GOBT, 1952, Anm.3 zu §69 GOBT; Troßmann (Fn.90), S.39; Schäfer (Fn.90), S. 111-112. 100 Die Frage nach der gesetzlichen Grundlage der „allgemeinen" Ordnungsgewalt des Ausschußvorsitzenden gegenüber Außenstehenden stellt sich daher hier nicht mehr. "" Vgl. Ritzel-Koch (Fn.99), Anm.4 zu §73 GOBT; von Mangoldt-Klein, Anm.III 3 b zu Art. 42 GG; Maunz-Dürig-Herzog, Rdz.2 zu Art.42 GG. 102 Vgl. z.B. Maunz-Dürig-Herzog, Rdz. 18 zu Art.40 GG.
Zur Reform des § 353 c StGB
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kommenden Täter auf Mitglieder des Bundestages beschränkt. Es handelt sich also um ein Sonderdelikt103. Diese Einschränkung des Anwendungsbereichs reißt indessen keine unerträgliche Lücke im Strafschutz auf. Denn einmal werden dann, wenn die Beratungen für geheim oder vertraulich erklärt werden, alle Teilnehmer der Ausschußsitzung, deren Anwesenheit für diese Beratung nicht erforderlich ist, den Sitzungssaal verlassen104. Sodann unterliegen die an der Beratung teilnehmenden Minister und Beamten einer gesetzlichen Pflicht zur Amtsverschwiegenheit105 und der Strafandrohung des § 353 b StGB 106 . Soweit nichtbeamtete Teilnehmer - z . B . Sachverständige - in Betracht kommen, werden gelegentlich andere Strafvorschriften eingreifen, zum Beipiel solche des Landesverratsrechts oder auch des Nebenstrafrechts über eine Geheimnisverletzung107. Und wo dann noch Lücken bleiben, werden sie denjenigen nicht beunruhigen, der den fragmentarischen Charakter des Strafrechts für wichtiger hält als den modischen Trend zum Perfektionismus.
E. Es gibt sicherlich nur wenige Strafvorschriften, die in so kurzer Zeit aus einem Schattendasein zu großer praktischer Bedeutung gediehen sind wie § 353 c StGB. Gewiß aber gibt es kaum eine andere Strafvorschrift, bei der erst Jahrzehnte vergehen mußten, bis ihre Verflechtung mit anderen Rechtsgebieten erkannt wurde. Nur selten hinkte auch die Strafrechtsreform - wie der Entwurf 1962 zeigt - schon in rein tatsächlicher Hinsicht so sehr hinter der Entwicklung her wie hier. Immerhin ist es tröstlich, daß im Achten Strafrechtsänderungsgesetz die bessere Einsicht doch noch - spät, aber nicht zu spät - über die Fehlbeurteilung gesiegt hat. Noch bemerkenswerter scheint mir aber der mit dieser Entwicklung einhergehende Wandel in der politischen Beurteilung [586] des § 353 c, den man nicht ohne Ironie konstatieren kann: Aus der vermeintlich nazistischen, abschaffungsreifen Strafnorm wurde ein willkommener
103 104
Vgl. BT-Drucks. V/898, 41; Schwarz-Dreher, 30. Aufl., Anm. 1 zu § 353 c. So ausdrücklich: BT-Drucks. IV/2303, 2; einschränkend: Troßmann (Fn.90),
S.277. 105 Vgl. § 6 BMinG; §61 BBG; sowie die entspr. Vorschriften des Landesrechts; dazu: Lechner-Hülshoff (Fn. 90), Anm. 5 zu § 7 3 GOBT. 106 Vgl. Prot. 1552; bzgl. der Bundes- und Landesminister auch: Schwarz-Dreher, 30. Aufl., Anm. 1 A b aa zu § 359. 107 Vgl. die Aufzählung bei: Göhler-Buddendieck-Lenzen, Stichwort „Geheimnis".
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Auffangtatbestand, der dem Bundestag die Restriktionen im Landesverratsrecht erst ermöglichen sollte108. Und inzwischen hat dieser ehedem so verlästerte § 353 c sogar Modell gestanden für Vorschläge eines Abkommens zur europäischen Strafrechtsvereinheitlichung109.
10! Vgl. BT-Drucks. V/898, 40; Prot. 1514; BT-Drucks. V/2860, 16; Krauth-KurfessWulff]Z 1968, 732; Schwarz-Dreher, 30. Aufl., Anm. 1 zu §93. 1M Vorentwurf eines Übereinkommens zwischen den Mitgliedstaaten der EGKS, der EWG und der EAG über die strafrechtliche Stellung der Beamten der Europäischen Gemeinschaften (nicht veröffentlicht); dazu Vogler ZStW 79, 386 ff.
Der Mißbrauch öffentlicher Macht und das Strafrecht* „Eine Strafrechtsreform ist nicht nur eine Angelegenheit der Juristen und der Verbrecher. Ein Strafgesetzbuch ist nicht nur eine zwar peinliche, aber notwendige Anweisung, wie man Missetaten bestraft. In einem solchen Gesetz treten die sittlichen Überzeugungen und die grundlegenden Wertvorstellungen eines Volkes für alle sichtbar hervor. Strafgesetzbücher spiegeln den Geist der Nation."
Eduard Dreher+ Es geht um zwei heiße Eisen; die folgenden Beispiele lassen daran keinen Zweifel. Ihre Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit ist kein Zufall; ihr Singular steht daher für den Plural. Erstens: Der Personaldezernent einer Oberbehörde legt Bewerbern um Einstellung oder Beförderung den Eintritt in eine bestimmte Partei nahe, weil nur Parteigenossen „Aussicht" hätten. Manche Bewerber folgen dem „gutgemeinten Rat", weil sie aus Erfahrung wissen, daß dort andernfalls audi qualifizierten Kräften in aller Regel Zugang und Aufstieg tatsächlich verschlossen bleiben. — Ein Funktionär eines Verbandes bewirkt mit gezieltem betrieblichen oder wirtschaftlichen Druck auf die „Nichtorganisierten" in einem Unternehmen, daß manchen schließlich keine andere Wahl mehr bleibt, als dem Verband beizutreten. Zweitens: Der Chef einer Verwaltung bevorzugt bei Personaleinstellungen — stillschweigend, aber planmäßig — die Anhänger einer bestimmten politischen Richtung und sucht — vielfach mit Erfolg — die Einstellung von politisch Andersdenkenden zu verhindern. Die Fälle der zweiten Gruppe sind, wie auf den ersten Blick ersichtlich ist, unter keinem strafrechtlichen Gesichtspunkt relevant; in der ersten Fallgruppe greifen, wie zu zeigen sein wird, an sich in Betracht kommende Strafnormen nicht immer durch. Die Frage, ob hier Abhilfe durch Reform möglich und geboten ist, liegt nahe. Bei der Suche nach * Aus: Festschrift für Eduard Dreher zum 70. Geburtstag, Verlag Walter de Gruyter, Berlin, 1977, S. 587-609. + Eduard Dreher in den Schlußworten seines Wiener Vortrags „Die Strafrechtsreform in der Bundesrepublik Deutschland", veröff. in: ÖJZ 1960, S. 339ff. (347), auch abgedruckt in: Bemühungen um das Recht, 1972, S. 327ff. (349).
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[588] der Antwort auf diese Frage kann ein Blick auf historische Vorläufer und ausländische Muster 1 nützliche Einsichten vermitteln; er kann zugleich ideologische Vorurteile und politische Emotionen abbauen, unter denen Erörterungen wie diese hierzulande zu leiden pflegen. Daß bei alledem hier nur Raum für einige Marginalien zum Thema ist, versteht sich; und daß dann, wenn für ein Eingreifen des Gesetzgebers votiert wird, nicht immer „fertige" Entwürfe parat sein können, sollte am (Neu-)Beginn einer solchen Diskussion nicht verwundern. Hier und heute geht es nicht um Formulierungshilfen, sondern um die Attacke auf ein Tabu. A. Die mit beruflichem oder wirtschaftlichem Druck operierende, persönlich gezielte Einwirkung zum Eintritt in eine Partei oder eine (andere) Vereinigung — oder zum Austritt daraus — ist nicht nur ein eklatantes Beispiel für die Verwilderung der Sitten im öffentlichen Leben; ihr Wesen erschöpft sich auch nicht in einem Eingriff in die Freiheit der Willensentschließung und Will'ensbetätigung; sie ist vielmehr zugleich ein Angriff auf die grundgesetzlich gewährleistete (positive oder negative) Vereinigungsfreiheit 2 . Geht es dabei um den Eintritt in eine Partei, so liegt in solchem Druck zugleich ein Angriff auf die staatsbürgerliche Freiheit des politischen Bekenntnisses. Und werden schließlich öffentliche Ämter zum Exklusiv-Preis der Willfährigkeit, so ist überdies der Verfassungsgrundsatz vom gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern bei gleicher Eignung ebenso verletzt wie das darin eingeschlossene verfassungsrechtliche Verbot der Bevorzugung oder Benachteiligung wegen politischer Anschauungen®. Als die Spuren des NS-Staates noch schreckten und eine neue Ämterpatronage der Parteien und Verbände sich noch nicht breitgemacht hatte 4 , wurde das Bedürfnis, solch schwerwiegende Entartungen unseres öffentlichen Lebens durch eine darauf gemünzte Strafvorschrift zu unterbinden oder doch wenigstens angemessen zu ahnden, noch ganz unbefangen artikuliert. Vier bemerkenswerte Entwürfe aus der frühen Nachkriegszeit zeugen davon:
1 Für die Sammlung und Aufbereitung des Materials habe ich meinem Assistenten, Herrn Referendar Otto Arnold, zu danken. 2 Vgl. dazu: BT-Drucks. 1/1307, S. 28 u. 41. 3 Art. 3 Abs. 3, 33 Abs. 2 GG; § 8 Abs. 1 Satz 2 BBG; § 7 BRRG; § 3 SG. — Vgl. dazu statt vieler: Matthey in: von Münch, GG, 1976, Rdz. 16 zu Art. 33 GG. 4 Vgl. dazu: Eschenburg, Ämterpatronage, 1961 (hier bes. S. 53 f., 59, 62 ff.); ders.: Herrschaft der Verbände?, 1955; Henke, Das Redit der politischen Parteien, 2. Aufl. 1972, S. 170 ff.
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[589] Im Januar 1948 brachte das Staatsministerium des Landes Hessen im hessischen Landtag den Entwurf eines Staatsschutzgesetzes ein5, dessen §6 folgende Strafnorm vorschlug: „(1) Mit Gefängnis nicht unter drei M o n a t e n w i r d bestraft, 4. w e r unter Mißbrauch eines dienstlichen, wirtschaftlichen oder geschäftlichen Abhängigkeitsverhältnisses einen anderen bestimmt hat, unfreiwillig einer Partei beizutreten."
Der Vorschlag fand im Landtag die Unterstützung von SPD, C D U und LDP, die freilich eine Überarbeitung der Fassung f ü r notwendig erachteten; namentlich der Gedanke, ob es wohl einen durch solchen Mißbrauch herbeigeführten „freiwilligen" Parteibeitritt geben könne, weckte unfreiwillig erinnerungsträchtigen Spott 6 . Der Rechtsausschuß des hessischen Landtags legte daher dem Plenum im März 1949 — nunmehr unter dem Titel „Gesetz zum Schutze der demokratischen Freiheit (Freiheitsschutzgesetz)" — einen überarbeiteten Entwurf vor 7 , dessen § 5 wie folgt lautete: „Wer unter Mißbrauch eines dienstlichen oder wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisses einen anderen bestimmt, gegen seinen erklärten W i l len einer politischen Partei beizutreten oder fernzubleiben, wird mit Gefängnis bestraft."
Die weiteren parlamentarischen Beratungen endeten im Oktober 1949 ohne Gesetzesbeschluß mit einer Zuleitung der Materialien an den Bund 8 , dem das inzwischen in K r a f t getretene Grundgesetz für diese Materie die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz gegeben hatte (Art. 74 N r . 1 GG). Schon kurz darauf machte sich die Bundestags-Fraktion der SPD die geschilderten Intentionen zu eigen, als sie am 15. Februar 1950 im 1. Deutschen Bundestag den Entwurf eines Gesetzes gegen die Feinde der Demokratie einbrachte 9 , hinter dem so bedeutende Initiatoren wie Ad. Arndt, Geiler und Zinn standen 10 . Dieser Entwurf (im folg.: SPD-Ε) schlug in seinem § 7 die Einführung einer Strafnorm vor, die mit dem zuletzt genannten, überarbeiteten hessischen Entwurf wört5
Vgl. Drucks, des Hess. LT, Nr. 592/1948. Vgl. dazu: Drucks, des Hess. LT, Abt. III, Nr. 32/1948, S. 1009 ff. (hier bes. S. 1012). 7 Vgl. Drucks, des Hess. LT, Abt. II, Nr. 557/1949. 8 Vgl. dazu: Drucks, des Hess. LT, Abt. II, Nr. 641/1949; Abt. III, Nr. 58/1949 (S. 2089 ff.) u. Nr. 67/1949 (S. 2425 f.). 9 Vgl. BT-Drucks. 1/563. 10 Vgl. dazu die Erklärung von MdB Dr. Ad. Arndt in der 39. Sitzung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (im folg.: SA) des V. Dt. BTags vom 23. Nov. 1966, Prot. S. 738. β
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lieh [590] übereinstimmte; eine Wiederholung des Wortlauts erübrigt sich daher. Auch der unter der Federführung des FDP-Bundesjustizministers Dr. Dehler im 1. Deutschen Bundestag eingebrachte Regierungsentwurf des (1.) Strafrechtsänderungsgesetzes 1950 11 griff den Vorschlag auf; er modifizierte ihn jedoch in seinem § 109 a wie folgt: „Wer durch Mißbrauch eines beruflichen Abhängigkeitsverhältnisses oder durch wirtschaftlichen D r u d e einen anderen nötigt oder d a r a n hindert, einer politischen oder wirtschaftlichen Vereinigung beizutreten oder weiter anzugehören, w i r d mit G e f ä n g n i s bestraft. D e r Versuch ist s t r a f b a r . "
Beide Vorschriften — §7 des SPD-Ε und §109 a des RegE — waren als Hilfstatbestände der Nötigung konzipiert. Die Unterschiede zwischen beiden Entwürfen lagen vornehmlich ip folgendem 12 : Die Tathandlung war in § 109 a des RegE („nötigen") enger umschrieben als in § 7 des SPD-Ε („bestimmen"); die Wortwahl „nötigen" sollte nämlich klarstellen, daß eine erhebliche Einschränkung der Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung vorliegen müsse. Die Tatmittel waren hingegen in § 109 a des RegE weiter gefaßt als in § 7 des SPD-Ε (Mißbrauch eines „beruflichen" statt „dienstlichen" Abhängigkeitsverhältnisses; „wirtschaftlicher Druck" statt „Mißbrauch eines wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisses"); mit dem Tatmittel des „wirtschaftlichen Drucks" war dabei die Zufügung oder Androhung einer wirtschaftlichen Benachteiligung jeder Art gemeint. Hinsichtlich des abgenötigten Verhaltens war § 109 a des RegE ebenfalls weiter als § 7 des SPD-Ε (Eintritt und Verbleiben in einer „politischen oder wirtschaftlichen Vereinigung" statt einer „politischen Partei"). Die Tat des § 109 a des RegE konnte sich gegen eine Einzelperson oder gegen eine Mehrzahl von Personen richten, wobei es — wie die amtliche Begründung sagte — nicht erforderlich sein sollte, daß diese Personen im einzelnen individuell bestimmt waren; es sollte genügen, daß unter Berücksichtigung des angewandten Nötigungsmittels hinreichend erkennbar sei, auf wen eingewirkt werden sollte. Das kuriose Merkmal des § 7 des SPD-Ε, daß der abgenötigte Parteibeitritt oder -austritt „gegen den ausdrücklich erklärten Willen" des Betroffenen geschehen müsse, verschwand in § 109 a des RegE mit Recht 13 sang- und klanglos. 11 12
S. 40.
Vgl. BT-Drucks. 1/1307. Vgl. dazu die Amtl. Begr. des RegE in BT-Drudcs. 1/1307, S. 41—42 i . V . mit
13 Denn einerseits setzt der Tatbestand einer .Nötigung begrifflich voraus, daß der Betroffene mit der verlangten Handlung nicht einverstanden ist (vgl. z . B . : Lackner, 10. Aufl. 1976, Rdz. 2 zu § 240 StGB), und anderseits ist eine protestie-
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[591] Beide Vorschläge sind in den parlamentarischen Beratungen gescheitert; im (1.) Strafrechtsänderungsgestz 1951 findet sich nicht einmal ein Rudiment davon 14 . Auch bei späteren Novellen hat der Gesetzgeber die Materie nicht mehr aufgegriffen. Der Elan der ersten Stunde war fraglos dahin; und vielleicht fehlte es anfänglich auch an Vorstellungskraft dafür, was schon 20 Jahre nach dem gescheiterten Anlauf gang und gäbe sein würde. Das Schicksal der Entwürfe kann indessen nicht hindern, ihr Anliegen wieder aufzugreifen, vorausgesetzt, daß nicht ideologische Verschränkung und suspekte Interessen im Wege stehen. Solche Reformüberlegungen können auch nicht mit einem oberflächlichen Hinweis auf den allgemeinen Nötigungstatbestand abgetan werden; denn dessen Existenz ist aus mehreren Gründen nur ein dürftiges Alibi für eine weitere Untätigkeit des Gesetzgebers: Zunächst ist hier die Anwendung des § 2 4 0 S t G B beispielsweise in den Fällen, in denen die drohende Nichteinsteilung eines Stellenbewerbers als Nötigungsmittel fungiert, bis zur Unpraktikabilität mit Rechtsproblemen beladen. D o r t taucht ja die Kontroverse um ein Problem auf, das aus der Zeit, als § 2 4 0 S t G B noch von der „Bedrohung mit einem Verbrechen oder Vergehen" 1 5 sprach, in die Interpretation der Neufassung „Drohung mit einem empfindlichen Ü b e l " 1 6 herübergeschleppt worden ist: der Streit nämlich, ob hier — nach dem Muster der unechten Unterlassungsdelikte — nur die Drohung mit einer Unterlassung, die zugleich die gewollte Verletzung einer Pflicht zum Handeln enthält, in Betracht kommt 1 7 oder ob dazu auch eine Unterlassung ausreicht, die keine Handlungspflicht verletzt 1 8 . Folgt man der in der Praxis herrschenden erstgenannten Rechtsansicht, so stellt sich sogleich die weitere Frage, worin denn diese verletzte H a n d lungspflicht hier bestehen könnte: Eine behördliche Einstellungspflicht existiert — abgesehen von außergewöhnlich gelagerten Ausnahmerende Bekundung des entgegenstehenden Willens durch den Betroffenen für den Tatbestand einer Nötigung auch sonst (Fn. 30) nirgends erforderlich (und ζ. B. bei § 240 StGB auch nicht bei allen Tatmitteln denkbar; vgl. dazu: Maurach, Bes. Teil, 5. Aufl. 1969, S. 112, 116—117). 1 4 Strafrechtsänderungsgesetz vom 30. Aug. 1951 — BGBl. 1951, Teil I, S. 739 ff. — Vgl. dazu: Schafheutie in J Z 1951, S. 609. 1 5 Vgl. § 240 RStGB 1871 — RGBl. 1871, S. 127 ff. 1 8 Seit der Strafrechtsangleichungs-VO vom 29. Mai 1943 — RGBl. 1943, Teil I, S. 339 ff. 1 7 Vgl. RGSt. Bd. 14, S. 264 ff.; Bd. 63, S. 424 ff.; B G H in GA 1960, S. 277 ff.; O L G Hamburg in M D R 1974, S. 3 3 0 ; Lackner (Fn. 13), Anm. 4 zu § 240 StGB. 1 8 So Eser in Schönke-Schröder, 18. Aufl. 1976, Rdz. 9, 22 zu § 2 4 0 StGB; Schäfer in LK, 9. Aufl. 1974, Rdz. 72 zu § 240 StGB; teilw. ebenso: RGSt. Bd. 72, S. 75 ff.; dahinstellend: BayObLGSt. 1960, S. 296 ff. (299).
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fällen" [592] - unstreitig nicht 20 ; ob aber die insoweit allein bestehende Pflicht der Einstellungsbehörden, Bewerbungen unter Ausschluß von verfassungsrechtlich verpönten Auswahlkriterien - wie der politischen Anschauungen des Bewerbers — zu prüfen21, einer solchen spezifischen „Handlungspñidit" gleichgeachtet werden könnte, ist zumindest höchst fraglich und m. E. wohl zu verneinen; und für einen privaten Arbeitgeber mit seiner grundsätzlich noch freieren Stellung könnte selbst eine solche bloße Pflicht zur Gleichbehandlung von Stellenbewerbem — sowie erst recht ein Kontrahierungszwang — gewiß nur in besonderen Fällen bejaht werden 2 2 . Alle diese Probleme tauchen aber bei dem Fassungsvorschlag des § 109 a des RegE zum 1. S t Ä G nicht auf; denn wenn — wie schon erwähnt — das Tatmittel des „wirtschaftlichen Drucks" die Androhung oder Zufügung jedweder wirtschaftlichen Benachteiligung bedeutet, ist die Vorenthaltung von Verdienstchancen ein geradezu klassischer Fall dieses N ö t i gungsmittels. Der Entwurf schließt hier also eine Lücke des § 2 4 0 S t G B . — Schon daran zeigt sich weiterhin, daß die in unserem Entwurf bezeichneten Tatmittel auch Fälle außerhalb der allgemeinen Nötigungsmittel einfangen 23 . Dies war auch — ganz unabhängig von solchen Drohungen mit Unterlassungen — das aus den Materialien ersichtliche allgemeine Ziel des Entwurfs 2 4 . Offenbar hatte man schon damals präzise Vorstellungen davon, daß die subtileren Praktiken in diesem Bereich auch eine verfeinerte und erweiterte Umschreibung der tatbestandlichen Nötigungsmittel gebieten.
19 Vgl. BayVerwGH Bd. 10, S. 110 ff. — Der Fall einer Zusicherung der Einstellung ist ebenfalls eine solche Ausnahme; vgl. die Nachw. bei: Hamann-Lenz, 3. Aufl. 1970, Anm. Β 2 zu Art. 33 GG. 20 Vgl. statt vieler: -von Mangoldt-Klein, GG, 2. Aufl. 1966, Anm. IV 5 zu Art. 33 GG; Maunz in Maunz-Dürig-Herzog, GG, 2. Aufl., Rdz. 17 zu Art. 33 GG; beide mit zahlr. Nachw. 21 Vgl. dazu: von Mangoldt-Klein (Fn. 20), Anm. IV 2 a zu Art. 33 GG; Maunz (Fn. 20), Rdz. 11, 16 ff. zu Art. 33 GG; Hamann-Lenz (Fn. 19), Anm. Β 2 zu Art. 33 GG; von Münch-Matthey (Fn. 3), Rdz. 25 zu Art. 33 GG. 22 Vgl. zu diesem weiten Feld bes.: Dürig in Festschrift für Nawiawsky, 1956, S. 157 ff.; Salzwedel in Festschrift für Jahrreiß, 1964, S. 339 ff. (347 ff.); Hesse, Grundzüge des Verfassungsredits der Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl. 1975, S. 147 ff. (150); Dürig in Maunz-Dürig-Herzog (Fn. 20), Rdz. 505 ff. (512, 516, 519) zu Art. 3 Abs. 1 GG u. Rdz. 172 zu Art. 3 Abs. 3 GG, jeweils mit w. Nachw. (auch zu den sog. Monopolfällen). S. audi §§ 75 I, 99 BetrVerfG. 23 So mit Recht für den mit ähnlichen Nötigungsmitteln ausgestatteten § 108 StGB: Lackner (Fn. 13), Anm. 2 zu § 108 StGB. 24 Vgl. dazu S. 41 i.V. mit S. 40 der BT-Drucks. 1/1307 u. S. 66 der Ani. 2 dazu. — Gerade weil die Tatmittel des § 109 a des Entwurfs weitergehen als diejenigen des § 240 StGB, konnte die Amtl. Begr. annehmen, daß § 109 a nicht stets mit § 240 StGB zusammentreffe (S. 42 der BT-Drucks. 1/1307).
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[593] Der besondere Nötigungstatbestand des §109 a des RegE brächte also - verglichen mit dem allgemeinen Nötigungstatbestand des § 240 StGB — zugleich eine fühlbare tatbestandliche Erweiterung. Das ist auch in einer Zeit, in der eine Einschränkung des (freilich mißglückten) allgemeinen Nötigungstatbestands für erforderlich gehalten wird 25 , wegen des besonderen Unrechtsgehalts 26 der hier getroffenen Sonderfälle durchaus berechtigt. Denn hier geht es ja nicht nur um das von § 240 StGB geschützte Rechtsgut der (allgemeinen) Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung 27 , sondern auch um den Schutz zusätzlicher Rechtsgüter in Gestalt der gewichtigen Verfassungsgrundsätze, von denen eingangs die Rede war 28 . Diese hochrangigen Rechtsgüter in erweitertem Maße gegen sozialwidrigen Druck zu schützen, ist ein legitimes kriminalpolitisches Anliegen, das übrigens bei einer etwaigen Einschränkung des § 240 StGB nur noch dringender würde 29 . Das alles sollte um so eher einleuchten, als der Gesetzgeber auch sonst häufig besondere Nötigungstatbestände geschaffen hat 30 , die für bestimmte herausgehobene Fälle — zumeist mit darauf abgestimmtem Strafrahmen — speziellen Pönalisierungsbedürfnissen Rechnung tragen. Das wird besonders sinnfällig an dem hier artverwandten Straftatbestand der Wählernötigung (§ 108 StGB), der überdies — neben den allgemeinen Nötigungsmitteln — noch zusätzlich die Tatmittel unserer Entwürfe verwendet, also exakt unsere Frage präjudiziert. Daran zeigt sich schließlich, daß die Technik schon erprobt ist und daß von einem legislatorischen Experiment nicht mehr gesprochen werden könnte. In Anlehnung an den eingebürgerten Wortlaut dieses § 108 StGB 31 könnte unsere Straf Vorschrift etwa lauten: „(1) Wer rechtswidrig mit G e w a l t , durch D r o h u n g mit einem empfindlichen Übel, durch Mißbrauch eines beruflichen oder wirtschaftlichen A b 25
Vgl. § 170 des StGB-E 1962 nebst Begr. (BRats-Drucks. 200/62, S. 309 ff.); § 116 des AE eines StGB, BT, Straftaten gegen die Person, 1. Halbbd. 1970, mit Erl. (S. 63 ff.); dazu: Schäfer (Fn. 18), Rdz. 55—56, 72 zu § 240 StGB. 28 Vgl. zum Unrechtsgehalt von Verstößen gegen § 109 a des RegE zum 1. StÄG auch: S. 42 der BT-Drucks. 1/1307 und S. 66 der Ani. 2 dazu. 27 Heute h. M.; vgl. statt vieler: Dreher, 36. Aufl. 1976, Rdz. 1 zu § 240 StGB. 28 Vgl. zu u. mit Fn. 2 u. 3. 29 Vgl. dazu, daß eine Einschränkung des § 240 StGB die Abdeckung kriminalpolitisch dringender Strafbarkeitsbediirfnisse durch Sonderregelungen erfordert: S. 309 der BRats-Drucks. 200/62. 30 Vgl. dazu hier bes. §§ 105, 106, 108 StGB; zahlr. weitere Beispiele bei -.Dreher (Fn. 27), Rdz. 17 zu § 240 StGB. 31 Ein Rückzug auf die engeren Nötigungsmittel der in § 402 des StGB-E 1962 vorgeschlagenen (verfehlten) Neufassung des § 108 StGB (vgl. dazu: BRats-Drucks. 200/62, S. 588) würde die hier vorgeschlagene Strafvorschrift weitgehend um ihre Wirkung bringen.
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hängigkeitsverhältnisses [594] oder sonst durch wirtschaftlichen D r u c k einen anderen nötigt oder daran hindert, einer politischen oder wirtschaftlichen Vereinigung beizutreten oder weiter anzugehören, w i r d . . . bestraft. ( 2 ) D e r Versuch ist s t r a f b a r . "
Diese Fassung würde durch die zusätzliche Aufnahme der allgemeinen Nötigungsmittel zugleich klarstellen, daß der neue Tatbestand — ebenso wie der Spezialfall der Wählernötigung nach § 108 S t G B 3 2 — den allgemeinen Tatbestand der Nötigung verdrängen würde 8 3 . Gleichwohl wäre die Rechtswidrigkeitsformel des § 2 4 0 Abs. 2 S t G B — ebenso wie in den artverwandten Spezialfällen der Nötigung nach §§ 105, 106 und 108 S t G B 3 4 — entsprechend anwendbar; sie könnte trotz des geschilderten besonderen Unrechtsgehalts des Tatbestands mindestens exzeptionelle Fälle ausscheiden, wie etwa die Verhinderung des Beitritts zu einer verfassungswidrigen Vereinigung oder den Zwang zum Austritt aus ihr 3 5 . Es fehlt also an nichts: Gangbare Pönalisierungsmuster sind vorhanden. Strafwürdigkeit und Strafbedürfnis stehen ebenso außer Zweifel wie die Unzulänglichkeit des § 2 4 0 S t G B . Die Verhältnisse erlauben ein längeres Totschweigen auch nicht mehr; denn die Häufigkeit der Fälle, in denen Brotkorb und Planstelle als Requisiten der Mitgliëderrekrutierung fungieren, ist längst kein Geheimnis mehr. B. Die Fälle der stillschweigenden planmäßigen Bevorzugung von A n hängern einer bestimmten politischen Richtung und der ebenso stillschweigenden planmäßigen Zurücksetzung von politisch Andersdenkenden bei der Ämtervergabe lassen sich weder mit dem allgemeinen Nötigungstatbestand noch mit der soeben erwogenen Spezialvorschrift erfassen: Diese Form der Personalpolitik ist wesenhaft „MauVgl. Dreher (Fn. 27), Rdz. 6 zu § 108 StGB; h. M. Für die in § 109 a des RegE zum 1. StÄG vorgeschlagene Fassung, welche die allgemeinen Nötigungsmittel nicht einbezog, hatte die Amtl. Begr. bei einer zugleich die Voraussetzungen des § 240 StGB erfüllenden Handlung noch Tateinheit angenommen (BT-Drudts. 1/1307, S. 42), ein vermeidbares Ergebnis. 3 4 Vgl. Eser (Fn. 18), Rdz. 10 zu § 105, Rdz. 7 zu § 106 u. Rdz. 6 zu § 108 StGB mit Nachw.; wohl ganz h. M. 3 5 Vgl. die verwandten Überlegungen zu § 105 StGB bei Eser (Fn. 18), Rdz. 10, mit Nachw.; ferner Dreher (Fn. 27), Rdz. 3 zu § 108 StGB, mit Nachw. — Die Amtl. Begr. zu § 109 a des RegE zum 1. StÄG (BT-Drucks. 1/1307, S. 42) und die Stellungnahme des Bundesrats (Ani. 2 dazu, S. 66) hatten ein solches „zusätzliches Rechtswidrigkeitserfordernis" für unnötig gehalten, weil das Mißverhältnis zwischen Mittel und Zweck und damit die Verwerflichkeit sich hier notwendig schon aus dem Tatbestand ergebe — eine schwerlich stets zutreffende Annahme, wie das Beispiel im Text zeigt. 32
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schelei [595] hinter den Kulissen" 36 ; eine irgendwie geartete (auch nur konkludente) äußere Nötigungshandlung findet nicht statt; der von solcher Personalpolitik ausgehende allgemeine Z w a n g zur Anpassung an die Verhältnisse ist tatbestandlich nicht relevant. Andere Strafnormen greifen ebenfalls nicht ein. Der Unrechtsgehalt dieser Praktiken ist freilich eindeutig: sie verstoßen unstreitig gegen den Verfassungsgrundsatz vom gleichen .Zugang zu öffentlichen Ämtern bei gleicher Eignung und gegen das darin eingeschlossene verfassungsrechtliche Verbot der Bevorzugung oder Benachteiligung wegen politischer A n schauungen. Eine solche ideologische Korruption bei der Ämterbesetzung ist daher verfassungswidriger Machtmißbrauch 3 7 . Für diese. Fälle, die ihre Gefährlichkeit f ü r die ungeschmälerte Respektierung unserer Verfassungsordnung aus ihrer viel diskutierten, ständig wachsenden Verbreitung beziehen, ist also ein Doppeltes charakteristisch: der Bruch verfassungsrechtlicher Grundsätze und der Mißbrauch von Amtsgewalt. Dies legt es nahe, unter beiden Gesichtspunkten in Historie und U m w e l t nach Denkanstößen f ü r eine strafrechtliche Bekämpfung dieser Mißstände Ausschau zu halten. I. Bei dem Stichwort „Verfassungsbruch durch Amtsträger" drängt sich zunächst die Erinnerung an eine kurzlebige Strafrechtsmaterie der deutschen Nachkriegszeit auf: die Strafvorschrift gegen den sog. Verfassungsverrat, die durch das 1. Strafrechtsänderungsgesetz 1951 als § 89 in das StGB eingefügt 3 8 , aber schon 1968 durch das 8. Strafrechtsänderungsgesetz wieder beseitigt 39 worden ist. Die Entstehungsgeschichte dieser Strafvorschrift ist in allen Einzelheiten — ihrem schweizerischen Vorbild (Art. 275 StGB), den zahlreichen unterschiedlichen E n t w ü r f e n und dem gesamten Für und Wider — Gegenstand gründlicher und leicht zugänglicher Darstellungen 4 0 gewesen. H i e r reichen einige Bemerkungen zu der schließlich Gesetz gewordenen 36 Einen ebenso anschaulichen wie typischen Sachverhalt dieser Art schildert das Urteil des KG vom 8. Aug. 1974 — 9. U. 1488/74 —, veröff. in Ani. I von „Freie Universität unter dem Universitätsgesetz XVII" vom l . N o v . 1974, hrsg. von der Notgemeinschaft für eine freie Universität, Berlin. 37 Vgl. dazu: von Münch-Matthey (Fn. 3), Rdz. 16 zu Art. 33 GG. 38 Vgl. §§ 89, 88 Abs. 2 StGB i. d. F. des Strafrechtsänderungsgesetzes vom 30. Aug. 1951 — BGBl. 1951, Teil I, S. 739 ff. 3 » Vgl. Achtes Strafrechtsänderungsgesetz vom 25. Juni 1968 — BGBl. 1968, Teil I, S. 741 ff. 40 Vgl. bes.: Houy, Der strafrechtliche Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, 1958, S. 108 ff. u. 146 ff.; Backes, Rechtsstaatsgefährdungsdelikte und Grundgesetz, 1970, S. 18 ff., 39 ff. u. 73 ff.; Schroeder, Der Schutz von Staat und Verfassung im Strafrecht, 1970, S. 179 ff.
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[596] Gestalt dieses „Verfassungsbruchs von oben" aus, um die Frage beantworten zu können, ob sich dort ein brauchbares Muster findet 41 . Dieser § 8 9 S t G B a. F. lautete (auszugsweise): • „(1) Wer es unternimmt, durch Mißbrauch . . . von Hoheitsbefugnissen 2. einen der in § 88 bezeichneten Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen, wird wegen Verfassungsverrats mit Zuchthaus bestraft..." Der Katalog dieser Verfassungsgrundsätze Abs. 2 Nr. 2 S t G B a. F. auch:
umfaßte
nach
§ 88
„die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht". Hier interessiert nur die (damalige) Bedeutung dieser Normen f ü r den Bereich der Exekutive: D a ß der Verfassungsgrundsatz v o n der „Bindung der vollziehenden G e w a l t an Gesetz und Recht" 42 sich audi auf den Rechtssatz v o m gleichen Zugang zu öffentlichen Ä m t e r n bei gleicher Eignung erstredet hätte, bedarf keiner Begründung. Einigkeit bestand in der damaligen Rechtslehre auch darüber, daß ein V e r f a s sungsgrundsatz dann i. S. von § 89 a. F. „außer Geltung gesetzt" w a r , wenn er faktisch nicht mehr angewandt, also nicht mehr befolgt wurde, mochte dies auch nur vorübergehend, nur örtlich begrenzt oder nur teilweise geschehen; Verletzungen im Einzelfall genügten hingegen nicht 43 . Die (dazu mißbrauchten) „Hoheitsbefugnisse" w u r d e n (farblos) als synonym mit Staats- und Amtsgewalt verstanden 4 4 ; d a ß darunter die aus der Personalhoheit fließende Befugnis zur Einstel41 Die (bei Houy, Fn. 40, aufgeführten) zahlreichen generalklauselartigen Tatbestandsentwürfe der 1. Entstehungsphase können ohnehin nicht als nachahmenswerte Beispiele gelten; vgl. dazu die damalige Kritik bei: H. Mayer in SJZ 1950, Sp. 247 ff.; von Weber und Bader in Verh. des 38. Dt. Juristentages 1950, Teil E, S. 2 ff. u. 23 ff.; Kern in NJW 1950, S. 667 ff. (669). 42 Art. 20 Abs. 3 GG. — Vgl. zur Auslegung des § 88 a. F. insoweit bes.: Houy (Fn. 40), S. 38 ff. 43 Vgl. Schafheutie in JZ 1951, S. 609 ff. (614); Schwarz-Dreher, 29. Aufl. 1967, Anm. 2 zu § 8 9 StGB a. F.; h. M. — „Beseitigen" bedeutete hingegen Vernichtung der rechtlichen Existenz, förmliche Abschaffung (a. a. O.). " Vgl. Jagusch, LK, 8. Aufl. 1967, Anm. 1 zu §89 StGB a. F.; Copie, Grundgesetz und politisches Strafrecht neuer Art, 1967, S. 127, 221; wohl auch: Maurach, Bes. Teil, 4. Aufl. 1964, S. 533 mit S. 604. — In den Materialien zu § 89 StGB a. F. und zu der später geplanten, aber gescheiterten Nachfolgevorschrift in § 364 des StGB-E 1962 (BRats-Drucks. 200/62) finden sich nur Beispiele, aber keine Versuche einer begrifflichen Klärung der „Hoheitsbefugnisse" (vgl. bes.: Niederschriften der Großen Strafrechtskommission, Bd. 10, S. 28 ff.; Prot, des SA, V/1966, S. 699 ff., 705 ff., 733 ff.).
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lung [597] in den öffentlichen Dienst 45 - jedenfalls von Beamten - fiel, kann schwerlich zweifelhaft sein, was immer sonst für den Bereich der Exekutive unter den „Hoheitsbefugnissen" des § 8 9 a. F. zu verstehen sein mochte 46 . Und als „Mißbrauch" einer Hoheitsbefugnis galt schließlich jeder verfassungswidrige Gebrauch 47 . Somit läßt sich sagen: Wenn unter der Geltung des damaligen § 89 S t G B etwa in einem bestimmten Verwaltungszweig die Befugnis zur Beamtenernennung dergestalt gehandhabt worden wäre, daß dabei der Gleichbehandlungsgrundsatz auf Anhänger einer bestimmten politischen Richtung planmäßig nicht mehr angewandt worden wäre, so hätte dies den Tatbestand des Verfassungsverrats erfüllt; denn dann wäre die Personalhoheit vorsätzlich 48 dazu mißbraucht worden, insoweit den Verfassungsgrundsatz von der Bindung der Exekutive an Gesetz und Recht (faktisch) außer Geltung zu setzen. Unsere Fälle wären also — jedenfalls soweit sie sich im Bereich der Beamtenernennung abspielen — früher zuchthauswürdige Verbrechen gewesen. Und auch als der Sonderausschuß für die Strafrechtsreform bei der Beratung des 8. S t Ä G schließlich die Streichung der Strafvorschrift gegen Verfassungsverrat vorschlug, bestand an der Schwere des Delikts erklärtermaßen nicht der geringste Zweifel 4 9 . Die Streichung wurde vielmehr vorgeschlagen, weil man den Tatbestand in seiner damaligen Fassung — eine bessere fand man nicht — für im Strafverfahren kaum justiziabel hielt und weil die Vorschrift die Verletzung von Verfassungsgrundsätzen im Einzelfall überhaupt nicht
45 Vgl. zur Bedeutung von Entscheidungen der Personalhoheit: BVerfGE Bd. 9, S. 268 ff. (282 ff.). 48 So lag für den Bereich der Verwaltung ein Vergleich mit den „hoheitsreditlidien Befugnissen" i. S. von Art. 33 Abs. 4 GG nahe (vgl. zu diesen statt vieler: Maunz, Fn. 20, Rdz. 33 ff. zu Art. 33 GG, mit Nachw.); die Befugnis zur Vornahme des Hoheitsakts der beamtenrechtlichen Ernennung fiel aber audi dann darunter (vgl. Otto in ZBR 1956, S. 233 ff., bes. S. 238). Für die arbeitsvertragsrechtliche Einstellung von sonstigen Behördenbediensteten war dies aber fraglich und m.'E. eher zu verneinen. 47 Vgl. dazu: Schwarz-Dreber (Fn. 43), Anm. 1 zu § 8 9 StGB a. F.; LacknerMaassen, 4. Aufl. 1967, Anm. 2 zu § 8 9 StGB a. F.; Jagusch (Fn.,44), Anm. 3 b zu § 89 StGB a. F. — In den Materialien (vgl. Fn. 44 a. E.) finden sidi audi hierzu keine brauchbaren Definitionen. 48 Die damalige Streitfrage, ob § 89 Abs. 1 Nr. 2 StGB a. F. außerdem nodi eine besondere „Absicht" voraussetzte, wurde mit Recht verneint von: Schneidewin in J R 1954, S. 241 ff.; Schwarz-Dreher (Fn. 43), Anm. 3 Β zu § 88 a. F. u. Anm. 4 zu § 89 StGB a. F. 49 Vgl. dazu die Äußerungen von MdB Dr. Dr. Heinemann und von MdB Dr. Giide in der 37. Sitzung des SA des V. Dt. BTags vom 21. Ókt. 1966, Prot. S. 711.
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[598] treffe50. Dies weist in der Tat in die richtige Richtung: Der mit Begriffen des öffentlichen Rechts geradezu bombastisch aufgeladene Tatbestand des Verfassungsverrats51 war ein viel zu schweres Geschütz, das die Mehrzahl der unter Amtspflichtverletzungen begangenen Verfassungsverstöße — auch in unserem Bereich — verfehlte52. Doch hat die Besinnung auf den „Verfassungsbruch von oben" immerhin gezeigt, daß es dabei nicht um „Kavalierstaten" geht53. II. Das Stichwort von der Amtspflichtverletzung lenkt den Blick auf den Bereich der Amtsdelikte. Dort ergibt die Umschau nach Pönalisierungsmustern ein bunteres Bild, denn sie stößt auf zwei einschlägige Modelle: auf sog. „allgemeine" Amtsdelikte des Mißbrauchs der Amtsgewalt, unter die ja möglicherweise auch die Rechtsverletzung durch Amtsträger bei der Ämtervergabe subsumiert werden kann, und — seltener — auf „spezielle" Amtsdelikte, die auf eben diesen Fall gemünzt sind. Zu beiden Gruppen genügen summarische rechtsvergleichende und rechtshistorische Hinweise, weil es nicht um die Einzelexegese ausländischer Normen und historischer Befunde, sondern nur um die Suche nach einer hier etwa brauchbaren Grundstruktur geht. ι.
Zahlreiche außerdeutsche Strafgesetzbücher in West und Ost kannten oder kennen noch heute — neben hier nicht interessierenden speziellen Amtsdelikten — als Auffangtatbestände solche „allgemeine" Amtsdelikte54. Ihr objektiver Tatbestand ist in der Regel als Verletzung von Amtspflichten, als gesetzwidrige Ausübung von Amtsbefugnissen oder als Mißbrauch von Amt, Amtsgewalt oder Amts5 0 Vgl. S. 3 — 4 des schriftl. Beridits des SA vom 9. Mai 1968 — BT-Drucks. V/2860. 5 1 Vgl. dazu den hier nicht mitgeteilten vollen Wortlaut der §§ 88, 89 StGB a. F. 5 2 Und zwar nicht nur die erwähnten „Einzelfälle" (zu u. mit Fn. 43), sondern nach der hier (zu u. mit Fn. 45, 46) zugrundegelegten restriktiven Auslegung der „Hoheitsbefugnisse" in § 89 StGB a. F. auch die in Fn. 46 a. E. bezeichnete Gruppe, obgleich audi dafür das Gleichbehandlungsgebot des Art. 33 Abs. 2 GG gilt (vgl. Maunz, Fn. 20, Rdz. 12 zu Art. 33 GG).
So MdB Dr. Dr. Heinemann, Fn. 49. Vgl. hierzu und zum folgenden (in zeitlicher Reihenfolge) z . B . : Art. 248 des argent. StGB 1921; Art. 240, 230 des türk. StGB 1926; Art. 323 des ital. StGB 1930; §§ 155, 157 des dän. StGB 1930/1963; Art. 312 des Schweiz. StGB 1 9 3 7 / 1 9 4 2 ; § 139 des Allg. island. StGB 1 9 4 0 / 1 9 6 0 ; Art. 259 des griech. StGB 1950; § 144 des ungar. Strafkodex 1961; § 158 des tschechosl. StGB 1961; Kap. 20 § 1 des schwed. StGB 1962; Art. 282 des bulg. StGB 1968; § 302 des österr. StGB 1974. — Die deutschen Übersetzungen aller vorgen. fremdsprachigen Gesetze befinden sich in: Sammlung Außerdeutscher Strafgesetzbücher, Bände 59, 67, 71, 78, 83, 84, 85, 90, 93 u. 96. 53
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befugnissen [599] umschrieben. Dabei sind die Tatbestände - von wenigen Ausnahmen abgesehen - heute überwiegend auf vorsätzliche Begehung beschränkt und zumeist noch durch ein zusätzliches subjektives Merkmal eingeschränkt, nämlich den Vorsatz oder die Absicht, sich oder einem anderen einen unrechtmäßigen Vorteil zu verschaffen oder einem anderen einen Schaden (Nachteil) zuzufügen 5 5 . Solche und ähnliche Einschränkungen spiegeln zugleich historische Entwicklungsstufen wider, wie die Genesis des „Mißbrauchs der Amtsgewalt" etwa in der Schweiz 56 und in Österreich 57 zeigt. Die Entwicklung in Deutschland ist anders verlaufen: Ebenso wie andere Partikularrechte 58 kannte auch das Preußische Allgemeine Landrecht — außer einigen speziellen Amtsdelikten — eine Vorschrift, welche Sanktionen gegen denjenigen androhte, der vorsätzlich den Pflichten seines Amtes zuwiderhandelte; und es drohte — eine Seltenheit im damaligen Redit — sogar Sanktionen gegen denjenigen an, der fahrlässig seine Amtspflichten verletzte 59 . Die Entwürfe zu einem preußischen StGB von 1828 bis 1836 schränkten diese — als viel zu unbestimmt, zu weitgehend und zu streng kritisierten — Auffangtatbestände dahin ein, daß (nur noch) derjenige mit Sanktionen belegt werden sollte, der vorsätzlich seine Amtspflichten verletzte, um dadurch entweder sich einen unerlaubten Vorteil zu verschaffen oder dem Staat oder einem Dritten Schaden zuzufügen 6 0 . Mit dem preußischen StGB-Entwurf von 1843 brach diese Entwicklung jedoch ab: Pflichtwidrigkeiten der Beamten, die nicht als spezielle Amtsdelikte 55 Vgl. zu den Einzelheiten in Geschichte und Gegenwart bes.: Wachinger in VDSt., BT, IX. Bd. 1906, S. 193 ff. (250 ff., 265 ff.); Renate Klinghardt in Mat. zur Strafrechtsreform, 2. Bd., Rechtsvergl. Arbeiten, II, BT, 1955, S. 479 ff. (488 ff.). 56 Vgl. für die Schweiz: Zur früheren Rechtslage: Art. 53 Abs. 1 lit. f. des Bundesgesetzes über das Bundesstrafrecht der Schweiz von 1853. — Zur Reform: Art. 176 des Vorentwurfs (VE) eines Schweiz. StGB von Carl Stooß 1893; Art. 201 des VE 1896; Art. 215 des VE 1903; Art. 225 des VE 1908; Art. 278 des VE 1916; Art. 276 des E 1918. — Zum heutigen Recht: Art. 312 des Schweiz. StGB 1937; dazu: Stratenwerth, Schweiz. Strafrecht, Bes. Teil II, 1974, S. 632 ff. u. die dort genannten Autoren und Entscheidungen. 57 Vgl. für österreidi: Zur früheren Rechtslage: 97. Artikel §§ 4 (Nr. 5) u. 9 der Theresiana 1768; 3. Kap. § 58 der Josephina 1787; § 85 des ö. StG 1803; § 101 des ö. StG 1852; dazu bes.: Kadecka in ö. JB1. 1936, S. 133 ff. (137 ff.). — Zur Reform: § 338 des ö. StGB-E 1964; § 323 der ö. Reg.-Vorlage zu einem StGB 1968; § 3 0 9 der ö. Reg.-Vorl. 197.1; sämtlich mit ausführl. Amtl. Begr. — Zum heutigen Redit: § 302 des ö. StGB 1974; dazu bes. die Erl. in den Kommentaren von: ForeggerSerini, 1975, u. Leukauf-Steininger, 1974, jeweils mit w. Nachw. 58 Vgl. dazu: Wachingar (Fn. 55), bes. S. 208 ff. 59 Vgl. 2. Teil, 20. Titel, 8. Abschnitt, §§ 333—336 des pr. ALR 1794. 60 Vgl. 2. Titel, 6. Absdinitt, § 4 7 des pr. StGB-E 1828 (dazu die Motive, Bd. 3, 1830, S. 25 u. 116 ff.); § 527 des pr. StGB-E 1830; § 695 des rev. pr. StGB-E 1833 (dazu die Motive, 1. Teil, 2. Halbbd., 1833, S. 438); § 790 des rev. pr. StGB-E 1836.
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[600] aufgeführt waren, wurden ausdrücklich in das Disziplinarverfahren verwiesen". Demzufolge findet sich seit dem StGB von 1851 in Preußen und seit dem — derselben Linie folgenden — RStGB von 1871 auch in den übrigen Ländern Deutschlands kein vergleichbarer allgemeiner Tatbestand des Amtsmißbrauchs mehr. Der oft beschriebene historische Prozeß der Abspaltung von Spezialtatbeständen 62 hatte sicherlich das Seine zum Erlöschen des allgemeinen Tatbestands beigetragen. Mit dieser Schilderung sind zugleich auch die Würfel über dieses Modell gefallen: Gewiß ließe sich mit einem solchen Tatbestand der Amtspflichtverletzung oder des Mißbrauchs der Amtsgewalt audi die vorsätzliche Verletzung verfassungsrechtlicher Normen bei dem Amtsgeschäft der Einstellung in den öffentlichen Dienst erfassen. Und ebenso gewiß würde das einschränkende. Merkmal etwa eines Vorsatzes, einen anderen an seinen Rechten oder rechtlich geschützten Interessen zu schädigen, dem nicht im Wege stehen. Denn in unseren Fällen weiß der mit der Rechtslage beruflich wohlvertraute Täter ohne Frage, daß er die aus politischen Gründen diskriminierten Bewerber in ihrem subjektiven Recht auf Gleichbehandlung 63 verletzt. Indessen läßt sich das Rad der Geschichte hier nicht zurückdrehen. Die Bedenken, die vor 125 Jahren in Preußen zum Untergang dieses allgemeinen Amtsdelikts geführt haben, sind heute verfassungsrechtlich festgeschrieben: ein Tatbestand, dessen blankettartige Weite durch eine unbestimmte Zahl von unterschiedlichsten Amtspflichten oder Amtsbefugnissen ausgefüllt werden könnte, würde gewiß der nötigen gesetzlichen Bestimmtheit ermangeln (Art. 103 Abs. 2 GG) 6 4 . 2.
So verbleibt nur noch das Modell eines „speziellen" Amtsdelikts, das von unseren bisherigen Überlegungen nicht betroffen ist. a) Normen, die sich mit der pflichtwidrigen Übertragung von öffentlichen Ämtern befassen, finden sich in alten und neuen Strafgesetzen nur weit seltener. Zwar kannte das Preußische Allgemeine Landrecht in seinem Abschnitt über die „Verbrechen der Diener des Staates" 61 Vgl. § 6 1 5 des pr. StGB-E 1843; § 396 des rev. pr. StGB-E 1845; § 393 des pr. StGB-E 1846; § 401 des pr. StGB-E 1847. 62 Vgl. nur: Kadecka, Fn. 57. 63 Genauer: auf Ausschaltung der durch Art. 3 Abs. 3, 33 Abs. 2 u. 3 GG verpönten Auswahlkriterien; vgl. dazu statt vieler: Maunz (Fn..20), Rdz. 11, 16 ff., 21 zu Art. 33 GG; von Münch-Matthey (Fn. 3), Rdz. 25 zu Art. 33 GG; jeweils mit w. Nachw.; BVerfGE Bd. 1, S. 167 ff. (184). 64 Dies bedeutet kein Unwerturteil über die erwähnten, in ganz anderer Tradition stehenden ausländischen Muster, denn jedes Strafrecht braucht sich nur nach seiner nationalen verfassungsrechtlichen Decke zu strecken.
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[601] mehrere Vorschriften", welche die Rechtsfolgen für den Fall bestimmten, daß jemand „sein Recht" zur Ernennung öffentlicher Staats- oder Kirchenbediensteter, gegen die Vorschrift der Landesgesetze, vorsätzlich mißbrauchte" und daß „Vorgesetzte . . . jemanden, ohne die vorgeschriebene Prüfung seiner Fähigkeiten und seines sittlichen Verhaltens, zu einem öffentlichen Amte beförderten". Da es aber in beiden Fällen nicht um Kriminalsanktionen ging 67 , verschwanden diese Vorschriften nacheinander aus den Entwürfen zu einem preußischen StGB 6 8 . — Im Ausland finden sich jedoch noch heute Vorschriften mit Strafandrohungen gegen Amtsträger, welche eine Person, die-nicht die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt, für ein öffentliches Amt vorschlagen oder ernennen 69 . — Auch solche Einzelbeispiele machen indessen den Typ des hier gemeinten „speziellen" Amtsdelikts deutlich. b) Somit erhebt sich die Frage, wie ein derartiges spezielles Amtsdelikt in unserem Fall — der Verletzung des Gleichbehandlungsgebots bei der Ämtervergabe — ausgestaltet werden könnte. Dabei ist hier nur Raum für einige grundsätzliche Überlegungen zur Struktur eines solchen Amtsdelikts und zur tatbestandlichen Faßbarkeit der in Rede stehenden Rechtsverletzung. Sie sollen an einer beispielhaften Fallgruppe — der Beamtenernennung — durchgespielt werden. Dies geschieht am besten auf Grund eines Musters, das nicht als Fassungsvorschlag, sondern als Rohskizze eines Aufbaumodells verstanden sein will. Diese Rohskizze mag wie folgt lauten: „ W e r als A m t s t r ä g e r unter Mißbrauch der Befugnis zur v o n Beamten einen Bewerber wegen seiner politischen benachteiligt oder bevorzugt, w i r d . . . b e s t r a f t . "
Ernennung
Anschauungen
Vgl. 2. Teil, 20. Titel, 8. Abschnitt, §§ 326 ff. u. 329 ff. des pr. A L R 1794. Damit waren die Privatpersonen gemeint, die damals ein eigenes Ernennungsrecht als Jurisdiktionar in der Patrimonialgerichtsbarkeit oder kraft Patronats bei der Predigerauswahl hatten (vgl. die Motive zum pr. StGB-E 1828, 3. Bd. 1830, S. 23 ff.), also nicht die „amtliche" oder „kirchliche" Ernennungsbefugnis. 6 7 Vgl. dazu die Motive zum pr. StGB-E 1828, 3. Bd. 1830, S. 24. 6 8 Die erwähnte Strafbarkeit der Vorgesetzten (§ 329 pr. ALR) verschwand seit dem pr. StGB-E 1828 aus den Entwürfen; die Strafbarkeit wegen Mißbrauchs des privaten Ernennungsrechts (§ 326 pr. A L R ) wurde erst in den Verh. des Vereinigten ständischen Ausschusses 1848 (1. Bd., S. 334—335) endgültig gestrichen. 6 9 Vgl. z . B . : Art. 253 des argent. StGB 1921; Art. 419 des cuban. Gesetzbuchs der Sozialen Verteidigung 1936; Art. 220 des chilen. StGB 1889 (Sammlung Außerdeutscher Strafgesetzbücher, Bände 71, 72, 40). — Zur Ämterverschaffung als Sonderfall der Bestechlichkeit vgl. z. B.: Art. 212 Abs. 2, 213 Abs. 2 des türk. StGB 1926; Art. 319 Abs. 2, 320 .des ital. StGB 1930; Art. 199 Abs. 2 des venezol. StGB 1943 (Sammlung, Bände 67, 90). — Eine Strafnorm gegen die verfassungswidrige Übertragung eines Amtes der vollziehenden Gewalt kannte der franz. Code Pénal 1791 im 2. Teil, 1. Titel, 3. Abschnitt, Art. 14. 65
69
220
Strafrecht und Strafrechtsreform
[602] Daran lassen sich folgende Grundgedanken zum sachlichen und persönlichen Anwendungsbereich und zur Tathandlung verdeutlichen: Unser Grundmuster beschränkt sich zwar der Einfachheit halber auf die bei der Ernennung von „Beamten" begangenen Rechtsverletzungen und läßt bei dieser Terminologie diejenigen Rechtsverletzungen außer Betracht, die bei der Ernennung von Richtern, Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit sowie bei der Einstellung von Angestellten und Arbeitern in den öffentlichen Dienst begangen werden. Doch ist damit nichts gegen die Einbeziehung dieser Fälle in eine abschließende Fassung gesagt, da das Gleichbehandlungsgebot unstreitig auch für diese Bereiche des Staatsdienstes gilt 70 ; eine solche Erweiterung des sachlichen Anwendungsbereichs wäre daher im wesentlichen nur eine terminologische und gesetzestechnische Frage. — Mit dem Begriff der „Ernennung" von Beamten wird sodann der beamtenrechtliche Terminus für jenen förmlichen und konstitutiven Hoheits-(Verwaltungs-) Akt übernommen, der insbesondere die Einstellung, Anstellung und Beförderung von Beamten sowie die Umwandlung von Beamtenverhältnissen wirksam werden läßt 71 . Dies bietet sich bei unserer Beispielsgruppe aus zwei Gründen an: Zum einen bezieht sich das Gleichbehandlungsgebot unstreitig auf alle (diese) Fälle der Ernennung 7 2 ; zum anderen bewirkt diese Terminologie das notwendige Ausscheiden jener seltenen Fälle, in denen nach Landesrecht zur Begründung eines Beamtenverhältnisses gar keine „Ernennung" vorgesehen ist, wie bei der Wahl von Bürgermeistern und Landräten durch das Volk 73 . Beim persönlichen Anwendungsbereich spricht unser Modell (beispielhaft) von „Amtsträgern", welche „die Befugnis zur Ernennung von Beamten" haben. Dabei braucht der strafrechtliche Begriff des Amtsträgers ( § 1 1 N r . 2 StGB) hier nicht erläutert zu werden 74 ; doch sind folgende Hinweise auf die sonstigen Effekte dieser Formel f ü r die Bestimmung des Täterkreises angebracht: Eine „Befugnis" zur Be70
Vgl. Art. 33 Abs. 2 GG u. dazu: Maunz (Fn. 20), Rdz. 12 zu Art. 33 GG; weitere Nachw. in Fn. 3. 71 § 5 BRRG; § 6 BBG; vgl. dazu statt vieler: Fischbach, BBG, 3. Aufl. 1964, Anm. I zu § 6 BBG; Ule, Beamtenrecht, 1970, Rdz. 1 u. 4 zu § 5 BRRG; WolffBachof, Verwaltungsredit II, 4. Aufl. 1976, S. 506 ff. u. S. 513 ff. 72 § 7 BRRG; §§ 8 Abs. 1 Satz 2, 23 BBG; Ule (Fn. 71), Rdz. 1 zu § 7 BRRG u. Rdz. 2 zu § 8 BBG; Maunz (Fn. 20), Rdz. 18 zu Art. 33 GG. 73 Vgl. dazu: § 95 Abs. 1 Satz 2 BRRG in Verb, mit § 45 GO Bad.-Württ. u. § 191 Nr. 1 LBG Bad.-Württ. bzw. mit § 17 bay. GO u. Art. 4 bay. KWBG. Dazu: Ule (Fn. 71), Rdz. 1 zu § 95 BRRG; und Müller-Beck, Das Beamtenrecht in Bad.Württ., 1962 ff., Bd. I, Erl. 5 zu § 10 LBG. 74 Eingehend dazu: Dreher (Fn. 27), Rdz. 11 ff. zu § 1 1 StGB. Hier \wJuige Beispielsfälle audi bei: Gerhard Pfennig, Der Begriff des öffentlichen Dienstes und seiner Angehörigen, 1959, S. 60 ff.
Der Mißbrauch öffentlicher Macht und das Strafrecht
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amtenernennung [603] haben nicht nur die Amtsträger, denen die Verfassungen oder Gesetze ein „originäres" Recht dazu geben75, sondern auch die Amtsträger, denen dieses Recht zur Ausübung übertragen oder weiterübertragen ist 76 , womit auch das weite Feld der nachgeordneten Ernennungsbehörden erfaßt ist. Demgegenüber läßt die Formel alle diejenigen außer Betracht, die nicht zur Vornahme der Ernennung selbst, sondern nur zur „Mitwirkung" am Ernennungsverfahren berufen sind 77 . Ob bei einer abschließenden Fassung einzelne gewichtige Fallgruppen aus dem bunten Katalog dieser Mitwirkungsrechte einbezogen werden könnten 78 , ist keine spezifisch strafrechtliche Frage und mag daher hier auf sich beruhen. Der Sinn unseres „Restmodells" leidet nämlich unter einer solchen (vorläufigen) Einengung des Täterkreises nicht; denn auch in den Fällen, in welchen das sachliche Schwergewicht des Beamtenernennungsverfahrens bei einer derartigen „Mitwirkung" liegt 79 , ist der anschließend zur Ernennung berufene Amtsträger weder verpflichtet noch auch nur berechtigt, eine unter Verletzung von Verfassungsnormen erfolgte Bewerberauslese durch den Ernennungsakt zu vollziehen 8 0 .
75 Vgl. für den Bund außer A r t . 60 Abs. 1 GG u. § 10 Abs. 1 BBG (BPräs.) die Zusammenstellungen der gesetzlichen Ernennungskompetenzen zahlreicher anderer Stellen bei: von Mangoldt-Klein (Fn. 20), A n m . III 6 a zu Art. 60 GG; Menzel in BK, Anm. II A 3 zu Art. 60 GG. — Die entspr. Vorschriften der Länder können hier nicht aufgezählt werden. 76 Sog. „delegiertes Ernennungsredit" (Ebert, Das gesamte öffentliche Dienstrecht, 2. Aufl. 1972, Kennzahl 250/3). — Vgl. für den B u n d : Art. 60 Abs. 3 GG und die A O des BPräs. über die Ernennung und Entlassung der Bundesbeamten und Richter im Bundesdienst vom 14. J u l i 1975 (BGBl. 1975, Teil I, S. 1915). — Die Fälle der sog. „Weiterübertragungen" können hier nicht aufgezählt werden. 7 7 Vgl. die Zusammenstellungen zahlreicher unterschiedlicher Mitwirkungsrechte bei der Beamtenernennung in: Fischbach (Fn. 71), Anm. V zu § 1 0 BBG; Ebert (Fn. 76), Kennzahlen 240/28 ff. u. 250/4. 78 Für viele der (bei Fischbach, Fn. 77, aufgezählten) M i t w i r k u n g s f ä l l e (von der bloßen „Anhörung" bis zu vorgeschalteten „Gremienbeschlüssen") käme dies.sicher nicht in Betracht; in anderen Mitwirkungsfällen w ä r e dies aber ernsthaft zu erwägen (ζ. B. für ministerielle Ernennungsvorschläge; für die Erteilung des Rufes an einen Hochschullehrer durch den Kultusminister, wo der Universitätspräsident die anschließende Ernennung vollzieht; vgl. für Berlin: § 27 U n i G ; § 10 HSchLG). 79 V g l . die in Fn. 78 a. E. genannten Beispiele. 80 Wenn selbst der Bundespräsident, dessen materielle Prüfungsrechte so gern beschnitten werden, nach heute ganz h. M. bei der Ernennung von Bundesbeamten Verstöße gegen Art. 33 GG zu prüfen und ggf. die Ernennung abzulehnen hat (vgl. dazu statt vieler: von Mangoldt-Klein, Fn. 20, Anm. III 8 zu Art. 60 GG; Maunz, Fn. 20, R d z . 2 zu A r t . 60 GG), dann versteht sich von selbst, d a ß andere Stellen, bei denen solche konstitutionellen Probleme nicht bestehen, ihre Entschließungen bei Ernennungsfällen in eigener Verantwortung zu treffen haben (vgl. auch Fischbach, Fn. 71, Anm. III zu § 10 BBG).
222
Strafrecht und Strafrechtsreform
[604] Bei der Umschreibung der Tathandlung hält sich unsere Rohskizze an die engste der dem Strafrecht im öffentlichen Recht vorgegebenen Ausformungen jener Rechtspflicht, um deren Verletzung es hier geht. Sie spricht daher nicht von einer Verletzung etwa des Grundsatzes vom gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt bei gleicher Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung, wie es Art. 33 Abs. 2 G G nahelegen könnte. Denn es ist zwar unstreitig, daß mit der dortigen Limitierung der allein zulässigen sachlichen Auswahlkriterien zugleich, wie es im Wesen einer solchen „Positivliste" liegt, andere unsachliche Auswahlkriterien — wie die politischen Anschauungen des Bewerbers — verfassungsrechtlich verpönt sind 81 ; aber es ist auch offensichtlich, daß bei einer solchen Fassung unbestimmte Rechtsbegriffe mit weitem Beurteilungsspielraum 82 den Tatbestand unpraktikabel machen würden und daß dann überdies eine Fülle anderer Fehlauslesen einbezogen würde 83 . Unsere Skizze hebt daher enger und speziell auf das verpönte Auswahlkriterium der politischen Anschauungen selbst ab und knüpft an dessen Formulierung in Art. 3 Abs. 3 G G an; sie kann dies ohne Rücksicht auf den Meinungsstreit um das Verhältnis zwischen Art. 33 und Art. 3 G G 8 4 tun, denn die Trias der erlaubten Auswahlkriterien in Art. 33 Abs. 2 G G erreicht insoweit unstreitig denselben Effekt wie Art. 3 Abs. 3 G G 8 5 . Mit dieser wörtlichen Anlehnung an Art. 3 Abs. 3 G G macht unsere Rohskizze — ähnlich wie die den Wortlaut des Grundgesetzes wiederholenden einschlägigen Vorschriften des öffentlichen Dienstrechts 86 — zugleich audi sprachlich deutlich, daß es hier um die unmittelbare Einbindung eines verfassungsrechtlichen Verbots geht und daß dieses Verbot mit seinem im Grundgesetz vorgegebenen Inhalt und in seinen dort gesteckten Grenzen — also ohne jedes Zutun des einfachen Gesetzes — gemeint ist. Das hat Folgen für die Auslegung des Straftatbestands, die sich mithin insoweit nach Art. 3 Abs. 3 G G zu richten hat 8 7 . Inhaltlich bedeutet 81 Vgl. Maunz (Fn. 20), Rdz. 21 zu Art. 33 GG; von Mangoldt-Klein (Fn. 20), Anm. IV 2 c zu Art. 33 GG. 82 Vgl. Maunz (Fn. 20), Rdz. 19 zu Art. 33 GG; von Münch-Matthey (Fn. 3), Rdz. 13, 16, 25 zu Art. 33 GG. 83 Erfaßt wäre dann audi die Benachteiligung oder Bevorzugung eines Bewerbers wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens und seiner religiösen Anschauungen (Art. 3 Abs. 3, 33 Abs. 3 GG). Diese Fälle sind nicht Gegenstand dieses Beitrags. 84 Vgl. statt vieler: Dürig (Fn. 20), Rdz. 8 ff. zu Art. 3 Abs. 3 GG. 85 Vgl. Fn. 81. 8 6 Vgl. § 7 BRRG; § 8 Abs. 1 Satz 2 BBG; § 46 DRiG i. V. mit § 8 Abs. 1 Satz 2 BBG; § 3 SG. 87 Vgl. zur Interpretation der (hier nicht näher behandelten) Merkmale des Art. 3 Abs. 3 GG statt vieler: von Mangoldt-Klein (Fn. 20), Anm. V 2 b u. 3 a—c zu Art. 3 GG; ferner die folg. Fn. 88 u. 89.
Der Mißbrauch öffentlicher Macht und das Strafrecht
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[605] dies beispielsweise, daß die Benachteiligung durch ein Tun und durch ein Unterlassen begangen werden kann88, daß aber nur solche Diskriminierungen und Privilegierungen unter den Tatbestand fallen, für welche die politischen Anschauungen des Bewerbers kausal („wegen") geworden sind89. Und ebenso folgen nun vorgegebene Grenzen des Straftatbestands daraus, daß das gemeinte verfassungsrechtliche Verbot nicht absolut gilt 90 . So besteht eine anerkannte und durch die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG) gedeckte Ausnahme vom Verbot der Differenzierung nach politischen Anschauungen für kommunale Wahlbeamte, deren vertrauensvolle gedeihliche Zusammenarbeit mit den Kommunalvertretungen auch vom Gleichklang der politischen Uberzeugung abhängen kann 91 . Eine weitere anerkannte und hergebrachte Ausnahme besteht bei den sog. politischen Beamten, bei denen eine fortdauernde Ubereinstimmung mit den grundsätzlichen politischen Anschauüngen und Zielen der
88
Vgl. von Mangoldt-Klein (Fn. 20), Anm. V 3 b zu Art. 3 G G ; von MiinchGubelt (Fn. 3), R d z . 88 zu Art. 3 GG. — Die Fälle einer Benachteiligung durch „Unterlassen" werden selten sein. Denn wenn der Amtsträger die Ernennung des (alleinigen) politiseli mißliebigen Bewerbers ablehnt oder wenn er (von mehreren) statt des politisch mißliebigen einen politisch genehmen Bewerber ernennt, liegt ein positives T u n vor. In Betracht kommt daher nur ein „reines Untätigbleiben". Eine „Benachteiligung" i. S. des A r t . 3 Abs. 3 G G liegt jedoch nach h. M. nur vor, wenn der Betroffene (durch das Tun oder Unterlassen) in seinen schutzwürdigen Interessen „verletzt" ist (vgl. näher: von Mangoldt-Klein, Fn. 20, Anm. V 3 zu A r t . 3 G G , mit w. Nachw.). In Anlehnung an den Rechtsgedanken aus § 75 Satz 1 V w G O wird daher ein Unterlassen den objektiven Tatbestand der Benachteiligung nur dann erfüllen, wenn über die Bewerbung „ohne zureichenden G r u n d nicht in angemessener Frist sachlich entschieden" wird, denn dann ist die Verletzung schutzwürdiger Interessen zweifelsfrei (vgl. zu verwandten Problemen: Schaff stein, Die Vollendung der Unterlassung, in dieser Festschrift, S. 147). 89
Vgl. BVerfGE Bd. 2, S. 266 ff. (286); Bd. 5, S. 17 ff. (22); Bd. 39, S. 334 ff. (368); h. M. — Zu dem Streit, ob das verpönte Auswahlkriterium der einzige oder (nur) der ausschlaggebende G r u n d f ü r die Benachteiligung oder Bevorzugung gewesen sein muß, vgl. einerseits: B A G in N J W 1973, S. 77 ff.; B G H Z Bd. 11 Anh. S. 34 ff. (59—60); Hamann-Lenz (Fn. 19), Anm. Β 13 a zu Art. 3 G G ; anderseits: von Münch-Gubelt (Fn. 3), Rdz. 89 zu A r t . 3 G G ; Seibert in DVB1. 1959, S. 869 ff. (870); wohl auch von Mangoldt-Klein (Fn. 20), Anm. V 3 c (a. E.) zu A r t . 3 GG. — Das B V e r f G (a. a. O.) erwähnt diese seltsamen Kausalitätstheorien mit Recht nicht einmal andeutungsweise. 80 So BVerfGE Bd. 39, S. 334 ff. (368). 91 Vgl. BVerfGE Bd. 7, S. 155 ff. (170—171) betr. A b b e r u f u n g aus politischen Gründen. — Wenn aber die Abberufung wegen eines auf politischen Gründen beruhenden Mißtrauens zulässig ist, kann es keinen Sinn haben, bei der Berufung die Berücksichtigung eben dieses Grundes zu verbieten; im Erg. ebenso: Model-Müller, G G , 8. Aufl. 1976, Anm. 9 zu A r t . 3 G G u. Anm. 2 zu Art. 33 G G ; Seibert in DVB1. 1959, S. 869—870; Fischbach (Fn. 71), Anm. II zu % 8 BBG.
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Strafrecht und Strafrechtsreform
[606] Regierung erforderlich ist92. Und schließlich findet das Verbot der Differenzierung nach politischen Anschauungen sein Ende dort, wo ihm das verfassungsrechtliche Verbot der Einstellung von Personen entgegentritt, die nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintreten 9 3 . D a ß solche Ausnahmen vom Verbot der Differenzierung nach politischen Anschauungen aus dem vorgeschlagenen Straftatbestand ausscheiden, sichert unser Modell dann noch auf eine zusätzliche Weise: Unsere Rohskizze ergänzt die Umschreibung des Handlungstatbestands noch durch die Formel, daß die geschilderte Rechtsverletzung „unter Mißbrauch" der Befugnis zur Ernennung von Beamten begangen sein müsse. Diese Mißbrauchsklausel hat hier nicht — wie in manchen Normen 9 4 — nur den Sinn einer sprachlichen Verdeutlichung ohne zusätzlichen materiellen Gehalt und hat audi nicht nur — wie in einigen Straftatbeständen 9 5 — die Bedeutung einer Abgrenzungshilfe für Grenz- und Zweifelsfälle. Sie bringt vielmehr eine davon unabhängige, selbständige Klarstellung in mehreren Richtungen: Zum einen drückt sie aus, daß nur eine durch die Handhabung der E r nennungsbefugnis bewirkte, nicht aber eine sonstige Benachteiligung oder Bevorzugung durch den zur Ernennung befugten Amtsträger unter den Tatbestand fällt. Zum anderen sichert sie das Ausscheiden der soeben erläuterten Ausnahmen des Gleichbehandlungsgebots; denn ein „Mißbrauch" der Ernennungsbefugnis liegt begrifflich nicht vor, wenn die Verfassung die Handhabung erlaubt oder gar vorschreibt. Und schließlich scheidet die Formel schon von vornherein alle Fälle aus, in denen die Ernennungsbefugnis aus anderen Gründen des ein-
92 Vgl. § 31 Abs. 1 BRRG; § 36 BBG; BVerfGE Bd. 7, S. 155 ff. (166—167) u. Bd. 8, S. 332 ff. (347) betr. Versetzung in den einstw. Ruhestand aus politischen Gründen. — Dann aber kann auch hier (wie bei Fn. 91) ein sinnvoller Schluß nur dahingehen, daß schon bei der Ernennung der politischen Beamten nach dem politischen Gleichklang mit der Regierung differenziert werden darf; so im Erg. die h. M.: von Mangoldt-Klein (Fn. 20), Anm. VI 6 zu Art. 33 GG; Maunz (Fn. 20), Rdz. 23 1 zu Art. 33 GG; von Münch-Matthey (Fn. 3), Rdz. 17 zu Art. 33 GG; eingehend: Modell-Müller wie Fn. 91. — A . A . : Scbmidt-Bleibtreu¡Klein, GG, 3. Aufl. 1973, Rdz. 4 zu Art. 33 GG, wo dies mit einer „Mitwirkung der Parteien bei der Besetzung der Beamtenstellen" verwechselt wird. 93 Vgl. BVerfGE Bd. 13, S. 46 ff. (49); Bd. 39, S. 334 ff. (368 f.); VG Berlin in ZBR 1975, S. 83 ff., mit zahlr. w. Nachw.; Stern, Zur Verfassungstreue der Beamten, 1974, S. 26. 94 Vgl. nur den oben (sub Β I) behandelten Tatbestand des Verfassungsverrats sowie Art. 18 GG u. zu diesem statt vieler: Dürig in JZ 1952, S. 513 ff. (516). 95 Vgl. etwa §§ 32—34 WStG u. dazu: Scholz, Wehrstrafrecht, 2. Aufl. 1975, Rdz. 7 zu § 32 WStG; Sdowenck, Wehrstrafrecht, 1973, Anm. 2 zu § 32 WStG.
Der Mißbrauch öffentlicher Macht und das Strafrecht
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fachen [607] Rechts" gar nicht anders gehandhabt werden durfte, so daß es dort mangels eines „Mißbrauchs" auf weitere Überlegungen nicht mehr ankommt. — So bleibt nur nodi eines anzumerken, mit dem sich der Kreis der Überlegungen schließt: Wie in allen Straftatbeständen, die den Terminus „Mißbrauch" verwenden 97 , gewinnt dieser Begriff auch hier seinen spezifischen Sinn aus dem tatbestandlichen Zusammenhang. Wenn nämlich die Tathandlung bei der Benachteiligung nicht nur in einem Tun, sondern auch in einem Unterlassen bestehen kann 98 , ergibt der Sinnzusammenhang des Tatbestands, daß auch das korrespondierende Merkmal des „Mißbrauchs" Tun und Unterlassen einschließt — ein „doppelsinniger" Mißbrauchsbegriff also, wie er dem Strafrecht auch sonst geläufig ist99. c) Nun lassen sidi folgende Schlußfolgerungen ziehen: Unser Modell und seine Interpretation haben — audi bei Beschränkung auf einen Beispielsfall — gezeigt, daß es möglich ist, die Verletzung des Gleichbehandlungsgebots bei der Ämtervergabe tatbestandlich einzufangen. Daß wir unser Muster aus den unangebrachten Höhen des Verfassungsverrats in die Niederungen des Amtsdelikts hinabholten, hat manchen Ballast abgeworfen; der Tatbestand enthält nichts mehr, was nicht justiziabel wäre 100 . Man wende nun nicht ein, daß die Möglichkeit zur Tarnung der wahren Gründe die Tat unbeweisbar mache. Daß sich — gerade hier — stichhaltige Vorwände nicht so leicht erfinden lassen, ist schon aus berufenerem Munde gesagt worden 101 ; vor Ort weiß man dies ohnehin besser: Die politischen Diskriminierungen und Privilegierungen bei der Ämtervergabe sind sehr oft verblüffend durchsichtig und überdies vielfach durch die Paarung mit fachlichem Defizit des Er-
** Z. B. beim Fehlen von Ernennungsvoraussetzungen, vgl. § 4 Abs. 1 Nr. 1 u. 3, Abs. 2 BRRG; § 7 Abs. 1 Nr. 1 u. 3, Abs. 2 BBG. 97 Vgl. die lange Liste unter dem Stichwort „Mißbrauch" im Sachverzeichnis bei Dreher, Fn. 27. 98 Vgl. zu u. mit Fn. 88. "· Vgl. z . B . § 7 0 Abs. 1 StGB u. dazu: Lang-Hinrichsen in Heinitz-Festschrift, 1972, S. 477 ff. (491 ff.); ferner § 2 6 6 Abs. 1 (1. Alternat.) StGB u. dazu: RGSt. Bd. 11, S. 412 ff.; RG in GA Bd. 36 (1888), S. 400 ff.; RGSt. Bd. 65, S. 333 ff.; BGHSt. Bd. 13, S. 276 ff.; Cramer in Schönke-Schröder (Fn. 18), Rdz. 14 zu § 266 StGB; Hübner in LK (Fn. 18), Rdz. 40 zu § 266 StGB. 100 Auch die erwähnten Probleme der (seltenen) Begehung durch Unterlassen (Fn. 88 u. 99) und der Kausalität (Fn. 89) gehören zum täglichen Brot jedes Strafrichters und Staatsanwalts. 101 Vgl. Dürig (Fn. 20), Rdz. 318 zu Art. 3 Abs. 1 GG u. Rdz. 159 zu Art. 3 Abs. 3 GG; Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1931/1966, S. 448.
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Strafrecht und Strafrechtsreform
wählten [608] sogar offensichtlich. Strafrichter werden mit ganz anderen Beweisproblemen fertig. Man versuche auch nicht, mit der Prognose zu schrecken, eine solche Strafnorm produziere eine Flut unbegründeter Anzeigen. D a ß die Seuche der Ämterpatronage eine Fülle von Anzeigen bewirken würde, ist freilich gewiß; sie wären indessen nur allzu oft begründet. Und unbegründete Anzeigen querulatorischer N a t u r — von denen ja auch integere Berufe wie die Richter sub specie Rechtsbeugung ein Lied singen können — sind kein Argument gegen die Existenz einer Strafnorm. Es wird also einfach sein, Argumente zur Sache von solchen pro domo zu unterscheiden. Man leugne schließlich audi nicht das Versagen des öffentlichen Rechts bei der Verhinderung auch nur der schlimmsten Auswüchse der Ämterpatronage, denn dieses Versagen ist offenkundig; dazu genügen Stichworte: Die unter Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot erfolgte Einstellung des politisch bevorzugten Bewerbers in den öffentlichen Dienst ist unstreitig gültig und auch rechtsbeständig 102 . Der dem benachteiligten Bewerber gewährte (vorbeugende und nachträgliche) Rechtsschutz, dessen verwickelte Einzelheiten hier nicht dargestellt werden können, kann unstreitig nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen unmittelbar zu der erstrebten, aus verpöntem Grunde verweigerten Einstellung selbst führen 1 0 3 . D a ß die Aufsichtsinstanzen entweder nicht willens oder nicht in der Lage sind, ihre (begrenzten) Kontrollmöglichkeiten gegen eine planmäßige Mißachtung des Gleichbehandlungsgebots zu effektuieren, ist zumindest regional unbestreitbar. Zwar bildet der Verstoß gegen das Verbot der politischen Differenzierung bei der Ämtervergabe ein Dienstvergehen 104 ; dodi hat die Möglichkeit zur Einleitung von Disziplinarverfahren, von deren N u t zung man übrigens kaum je gehört hat, offenkundig keinen Einfluß auf die Ämterpatronage. Vor diesem Hintergrund hat dann der rührend-hilflose Vorschlag, nach dem Muster des Ombudsman's einen „Beamtenbeauftragten" zur Überwachung der Einhaltung des Gleichbehandlungsgebots bei der Ämtervergabe zu schaffen 105 , nur den — freilich bedeutsamen — Sinn eines Eingeständnisses der Ohnmacht von Verfassung und öffentlichem Dienstrecht gegenüber der Ämterpatronage.
102 Vgl. dazu statt vieler: von Mündi, Besond. Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1972, S. 43; Maunz (Fn. 20), Rdz. 17 zu Art. 33 GG. 103 Näheres dazu in den N a d i w . bei Fn. 102; ferner: Wolff-Bachof S. 503; BVerfGE Bd. 39, S. 334 ff. (354). 104 Vgl. Fischbach (Fn. 71), Anm. III 2 zu § 8 BBG. 105 Vgl. Wilhelm in ZBR 1967, S. 165 ff.
(Fn. 71),
Der Mißbrauch öffentlicher Macht und das Strafrecht
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[609] Nun kann das Fazit nur noch lauten: Im Bereich des verfassungswidrigen Machtmißbrauchs bei der Amtervergabe ist das Strafrecht auf exemplarische Weise als ultima ratio ausgewiesen. Und an der Strafwürdigkeit unserer Fälle kann schwerlich zweifeln, wer hinter den Verfassungsprinzipien auch die beruflichen Schicksale der aus politischen Gründen diskriminierten Bewerber sieht.
Empfiehlt es sich, neue Instrumente strafrechtlicher Art zur besseren Durchsetzung der Programmgrundsätze für Rundfunk- und Fernsehanstalten einzuführen („Verbraucherschutz")?* Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung zur Fragestellung des Gutachtens, zu den Programmgrundsätzen, zum Aufbau der Untersuchung A.
Inhaltliche Klärung der einzelnen Programmgrundsätze
I.
Die „inhaltliche Ausgewogenheit" des Programms 1. Versuch der Gewinnung einer Definition des Begriffs der „Ausgewogenheit" . a) anhand der Wortbedeutung des Begriffs b) anhand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts c) anhand rundfunkrechtlicher Normen 2. Verfassungsrechtliche Aspekte bei der inhaltlichen Bestimmung des Begriffs der „Ausgewogenheit" 3. Inhaltliche Bestimmung des Begriffs der „Ausgewogenheit" anhand seiner einzelnen Elemente a) „Staatsfreiheit" (Libertät) b) „Pluralität" c) „Parität" d) „Neutralität" e) Ergebnis
II. Die „Sachlichkeit" des Programms 1. Inhaltliche Bestimmung des Begriffs „Sachlichkeit" anhand seiner Wortbedeutung
2. Das Element der Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit der Berichterstattung 3. Der Grundsatz der Trennung von Fakten und Meinungen III. Die „gegenseitige Achtung" als Programmgrundsatz 1. Der Gesichtspunkt des Ehrenschutzes 2. Das Toleranzgebot B.
Vorfragen einer Pönalisierung de lege ferenda
I.
Die denkbaren Verstöße gegen die Programmgrundsätze 1. Verstöße gegen konkretisierende Ausfüllungsnormen 2. Verstöße gegen die eigentlichen Programmsätze
* Gutachten, zusammen mit Dagmar Junck verfaßt. Aus: Schriften der Gesellschaft für Rechtspolitik e.V. in Trier, B d . I : Rundfunkrecht, 1981, S. 125-192, C . H . Beck Verlag, München.
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Strafrecht und Strafrechtsreform
II. Die Strafbarkeit der dargestellten Verstöße de lege lata III. Die Reduktion der ζ. Z. straflosen Verstöße gegen die drei Programmgrundsätze auf Verstöße gegen ein umfassendes Ausgewogenheitsgebot 1. Sachlichkeit als Unterfall der Ausgewogenheit 2. Gegenseitige Achtung als Unterfall der Ausgewogenheit 3. Das Bezugsobjekt des Ausgewogenheitsgebots IV. Der Umfang einer in Aussicht genommenen Pönalisierung de lege ferenda C. Grundsätze staatlicher Strafbefugnis I.
Die Funktion des Strafrechts als Rechtsgüterschutzrecht 1. Der Begriff des Rechtsgutes im Strafrecht allgemein 2. Das Rechtsgut der erwogenen Strafnorm
II. Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit als Voraussetzungen staatlicher Pönalisierungsbefugnis 1. Strafwürdigkeit 2. Strafbedürftigkeit D. Die Bestimmbarkeit I.
des erwogenen Straftatbestandes
Der Adressat der Norm 1. Der institutionelle Rundfunkveranstalter a) Die juristische Person im Strafrecht b) Die juristische Person im Ordnungswidrigkeitenrecht 2. Die Organe der juristischen Person a) Probleme der Programmverantwortung beim ARD-Fernsehprogramm . . . b) Probleme der Programmverantwortung bei den einzelnen Rundfunkanstalten c) Probleme der anstaltsinternen Programmkontrolle
II. Die Tathandlung 1. Der Tatbestandstypus der erwogenen Norm a) Abstraktes Gefährdungsdelikt b) Unterlassungsdelikt 2. Die Tatzeit III. Das Verschulden 1. Vorsatz 2. Fahrlässigkeit IV. Zusammenfassung und Ergebnis E.
Verfassungsrechtliche Schlußfolgerungen
I.
Das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG
II. Die Rundfunkfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG F.
Ergebnis und Ausblick
Anhang: Auszugs weiser Abdruck von Rechtsvorschriften Verzeichnis der Abkürzungen Literaturverzeichnis
Vorbemerkung Der Vorstand der Gesellschaft für Rechtspolitik e. V. in Trier läßt im Anschluß an die 7. Bitburger Gespräche vom Januar 1977 durch mehrere
Programmgrundsätze für Rundfunk- und Fernsehanstalten
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Gutachten klären, ob es sich empfiehlt, neue Instrumente öffentlichrechtlicher, zivilrechtlicher oder strafrechtlicher Art zur besseren Durchsetzung der Programmgrundsätze für Rundfunk- und Fernsehanstalten einzuführen („Verbraucherschutz"). [127] Das vorliegende Gutachten befaßt sich auftragsgemäß nur mit der Frage einer strafrechtlichen Absicherung der Einhaltung dieser Programmgrundsätze. Unser Thema ist also: Empfiehlt sich eine Pönalisierung der Verstöße gegen die Programmgrundsätze für Rundfunk- und Fernsehanstalten? Um welche Programmgrundsätze es sich dabei handelt, ergibt sich aus dem berühmt gewordenen Fernsehurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Februar 19611. Dort hat das Bundesverfassungsgericht erklärt, im Hinblick auf die besondere Situation des Rundfunks verlange Art. 5 GG, daß für den Inhalt des Gesamtprogramms eines Rundfunks Leitgrundsätze verbindlich seien, „die ein Mindestmaß von inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung" gewährleisten2. Was allerdings im einzelnen unter diesen ausfüllungsbedürftigen Begriffen zu verstehen ist, wird vom Gericht nicht näher ausgeführt. Überlegungen zur Pönalisierung von Verstößen gegen die genannten Programmgrundsätze müssen daher mit einer Klärung des begrifflichen Inhalts dieser Grundsätze beginnen (Teil A des Gutachtens), um später diejenigen Verhaltensweisen bestimmen zu können, die einer etwaigen Strafandrohung unterworfen werden sollen. - Diese Klärung ist aber auch im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Gebot der Bestimmtheit von Strafvorschriften (Art. 103 Abs. 2 GG) zwingend erforderlich. Art. 103 Abs. 2 G G verlangt gesetzlich präzise gefaßte Straftatbestände, deren Inhalt zumindest durch Auslegung eindeutig ermittelt werden kann und die geeignet sind, eine feste und zuverlässige Grundlage für die Rechtsprechung zu bilden. Die Prüfung der Frage, ob die Begriffe der „Ausgewogenheit", „Sachlichkeit" und „gegenseitigen Achtung" unter Berücksichtigung dieser verfassungsrechtlichen Anforderungen Merkmale eines gesetzlichen Straftatbestandes sein könnten, setzt also gleichfalls die Klärung ihres Inhalts voraus. An diesen ersten Teil schließt sich die Untersuchung an, welche Verstöße gegen die geschilderten Programmgrundsätze tatbestandlich denkbar und welche davon bereits de lege lata mit Sanktionen strafrechtlicher oder sonstiger Art bewehrt sind, sowie die Fragen nach der Reichweite des Ausgewogenheitsgebots und dem tatsächlichen Umfang der in Aussicht genommenen Pönalisierung (Teil Β des Gutachtens). 1 2
BVerfGE 12, 205 ff. Vgl. BVerfGE 12, 263.
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Sodann ist zu überlegen, welche der verbleibenden sanktionslosen Verstöße sowohl strafwürdig als auch strafbedürftig erscheinen. Dies erfordert vorangehende Ausführungen zur Funktion des Strafrechts allgemein sowie zu den daraus resultierenden Grenzen der Pönalisierbarkeit (Teil C des Gutachtens). Der folgende Teil des Gutachtens gilt der Frage, ob es unter Berücksichtigung allgemein strafrechtlicher Grundsätze, insbesondere der für [128] die Bildung und den Aufbau von Straftatbeständen geltenden Anforderungen, rechtstechnisch überhaupt möglich ist, eine derartige Strafnorm zu schaffen (Teil D des Gutachtens). Als letztes bleibt zu prüfen, welche verfassungsrechtlichen Vorschriften von der in Aussicht genommenen Strafnorm berührt bzw. möglicherweise verletzt werden und deshalb der Einführung der Norm entgegenstehen, wobei in diesem Zusammenhang die Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 103 Abs. 2 G G untersucht werden (Teil E des Gutachtens).
A. Inhaltliche Klärung der einzelnen Programmgrundsätze Es kann nicht Aufgabe des vorliegenden Gutachtens sein, umfassende Erörterungen öffentlich-, insbesondere verfassungsrechtlicher Art zum Begriff der durch Art. 5 G G ausgestalteten Rundfunkfreiheit und zu den ihrer Sicherung dienenden Programmgrundsätzen anzustellen. Vielmehr sollen die hier interessierenden Begriffe lediglich insoweit einer definitorischen Klärung zugeführt werden, als dies im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 G G erforderlich erscheint, um die Frage einer Strafbewehrung prüfen zu können. I. Die „inhaltliche Ausgewogenheit" des Programms3 1. a) Bei der Untersuchung und Klärung von Begriffen bietet es sich zunächst an, von der Wortbedeutung des Begriffs auszugehen. „Ausgewogen" bedeutet „genau", „sorgfältig abgestimmt", „harmonisch", „sich in einem bestimmten Gleichgewicht befindend" 4 . Ausgewogenheit bezeichnet danach also ein Gleichgewicht der Kräfte. b) Dies ergibt sich auch aus den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts, wenn es sagt, Art. 5 GG verlange, daß der Rundfunk „weder dem Staat noch einer gesellschaftlichen Gruppe ausgeliefert" werde und 3 Soweit im folgenden der Einfachheit halber von „Rundfunk", „Rundfunkprogramm" oder einfach „Programm" die Rede ist, wird darunter stets der gesamte Rundfunkbereich unter Einschluß des Fernsehens verstanden. 4 Vgl. Duden, Das Große Wörterbuch der Deutschen Sprache, 1976, Bd. 1, Stichwort „ausgewogen".
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daß Veranstalter von Rundfunkdarbietungen so organisiert sein müßten, „daß alle in Betracht kommenden Kräfte in ihren Organen Einfluß haben und im Gesamtprogramm zu Wort kommen können" 5 . Danach ist die für den Programminhalt verlangte sachliche Ausgewogenheit von der sog. personellen Ausgewogenheit zu unterscheiden. [129] Unter personeller Ausgewogenheit versteht man die gleichmäßige Besetzung der Rundfunkgremien mit Vertretern aller gesellschaftlich relevanten Gruppen'. Näher auf die personelle Ausgewogenheit einzugehen, erübrigt sich, da die Fragestellung unseres Gutachtens lediglich Verstöße gegen die inhaltliche (sachliche) Ausgewogenheit betrifft. Insbesondere erübrigt es sich zunächst auch, darauf einzugehen, ob etwa bereits die personelle Ausgewogenheit genügend Gewähr für eine inhaltliche (sachliche) Ausgewogenheit bietet; denn im vorliegenden Zusammenhang interessiert zunächst nicht, wie die inhaltliche Ausgewogenheit eines Programms sichergestellt werden kann, sondern lediglich, was sie bedeutet: nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts also das im Ge&iwtprogramm Zu-Worte-Kommen aller in Betracht kommenden Kräfte. Diese Definition des Bundesverfassungsgerichts trägt nicht sehr viel zur Klärung des Begriffes der Ausgewogenheit bei. Sie ermöglicht insoweit lediglich zwei Negativabgrenzungen: (1) Inhaltliche Ausgewogenheit ist nicht die Ausgewogenheit einer einzelnen Sendung. Sie ist vielmehr auf einen größeren Rahmen zu beziehen. Das Bundesverfassungsgericht spricht von „Gesamtprogramm". (2) Inhaltliche Ausgewogenheit liegt dann nicht vor, wenn der Rundfunk die Interessen einer Gruppe vertritt oder sich mit bestimmten Zielen oder Vorstellungen identifiziert. c) Da sich somit aus den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts selbst eine vollständige Begriffsklärung nicht gewinnen läßt, sind als nächstes die Rundfunkgesetze als Hilfsmittel einer Klärung heranzuziehen7. Dabei finden sich in allen Rundfunkgesetzen ausführliche Vorschriften, die dem Gebot der inhaltlichen Ausgewogenheit Rechnung tragen. 5 BVerfGE 12, 262 f. ' Vgl. z. B. Art. 6 des Bayr. Rundfunkgesetzes über die Zusammensetzung des Rundfunkrates; oder Art. 22 der Satzung des Norddeutschen Rundfunks über die Wahl des Programmbeirates. 7 Ein vollständiger Überblick über die einschlägigen Vorschriften findet sich im Anhang.
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Teilweise ist ausdrücklich von der „Ausgewogenheit des Gesamtprogramms" die Rede 8 , bzw. davon, daß die „Gesamtheit der Sendungen" „inhaltlich ausgewogen" sein müsse', oder anders, daß die „verschiedenen Auffassungen im Gesamtprogramm ausgewogen . . . zu berücksichtigen" seien10. [130] Außerdem gibt es zahlreiche Einzelregelungen, die als Ausfluß des Ausgewogenheitsgebotes angesehen werden können: So findet z . B . in nahezu allen Rundfunkgesetzen (resp. Staatsverträgen, Satzungen etc.) das Verbot der Einseitigkeit, also das Verbot, einseitig einer Regierung, einer politischen Partei, einem Bekenntnis, einer Weltanschauung, einem Berufsstand, einer Interessengemeinschaft oder einer sonstigen Gruppe zu dienen oder deren Werkzeug zu sein". Weiterhin ist von der Verpflichtung zur „Uberparteilichkeit" die Rede12 sowie von der „Unabhängigkeit" des Rundfunks bzw. von
„allgemeiner, unabhängiger und objektiver
Nachrichtengebung"11.
Daneben finden sich Vorschriften über die „angemessene Zuteilung von Sendezeiten" an politische Parteien (z.B. vor Wahlen)14, an Religionsgemeinschaften15, an die Vertretungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber16 und über das Recht auf „Rede und Gegenrede" unter gleichen Bedingungen17. Schon dieser kurze Uberblick über die geltenden rundfunkrechtlichen Bestimmungen zeigt, daß sich auch in ihnen nirgendwo eine positive Definition des Begriffs der „inhaltlichen Ausgewogenheit" findet, sondern daß - abgesehen von dem öfters normierten allgemeinen Ausgewogenheitspostulat - jeweils lediglich einzelne Aspekte der inhaltlichen Ausgewogenheit normiert sind. ! Vgl. ζ. B. III Zi. 5 der Richtlinien für die Sendungen des Z D F . ' Vgl. z . B . § 3 Abs. 1 der Satzung des SFB. 10 Vgl. z. B. Art. 4 Abs. 2 Zi. 1 des Bayr. Rundfunkgesetzes. 11 Vgl. z . B . A r t . 4 A b s . 2 Z i . 7 des Bayr. Rundfunkgesetzes; § 4 A b s . 2 des N D R Staatsvertrages; § 2 A b s . 6 des Gesetzes „Radio Bremen"; § 10 Abs. 1 des Saarl. Rundfunkgesetzes N r . 8 0 6 ; § 3 Abs. 1 der Satzung des S F B ; § 2 Abs.3 der Satzung des S D R ; § 5 Abs. 2 des SFW-Staatsvertrages; § 4 des Gesetzes über den W D R ; § 2 3 des Gesetzes über die Bundesrundfunkanstalten. 12 Vgl. z. B. Art. 4 Abs. 2 Zi. 9 des Bayr. Rundfunkgesetzes; § 3 Zi. 1 des Gesetzes über den H R ; § 2 A b s . 6 des Gesetzes „Radio Bremen"; III Zi.5 der Richtlinien für die Sendungen des Z D F ; Art. 5 Abs. 3 der Satzung des SWF. " Vgl. z . B . § 3 Zi. 1 des Gesetzes über den H R ; § 2 3 des Gesetzes über die Bundesrundfunkanstalten; § 4 Abs. 1 des NDR-Staatsvertrages; § 4 des Gesetzes über den W D R . 14 Vgl. z. B. Art. 4 Abs. 2 Zi. 2 des Bayr. Rundfunkgesetzes; § 3 Zi. 6 des Gesetzes über den H R . 15 Vgl. z . B . § 2 Abs.4 Zi. 1 der Satzung des SDR. 16 Vgl. z . B . A r t . 5 Abs.4 lit. d der Satzung des SWF. 17 Vgl. z. B. § 2 Abs. 8 des Gesetzes „Radio Bremen" ; § 27 Abs. 4 des Gesetzes über die Bundesrundfunkanstalten; § 2 Abs. 4 Zi. 2 der Satzung des S D R .
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Das gleiche Ergebnis zeigt sich bei einem Blick in die rundfunkrechtliche Literatur, die gelegentlich ausführlich die inhaltliche Ausgewogenheit erörtert, ohne jedoch eine positive Definition geben zu können18. Dies legt den Schluß nahe, daß der Begriff der „Ausgewogenheit" im Hinblick auf Rundfunkprogramme möglicherweise positiv gar nicht definierbar [131] ist, sondern daß im Wege der Negativabgrenzung lediglich festgestellt werden kann, was jedenfalls nicht Ausgewogenheit ist. 2. Hinzu kommt, daß bei der definitorischen Klärung der hier untersuchten Programmgrundsätze eine wichtige Wechselwirkung zu beachten ist: Das Bundesverfassungsgericht hat die Gebote der „inhaltlichen Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitigen Achtung" aufgestellt, um zu verhindern, daß durch einen Mißbrauch der Monopolstellung der Rundfunkanstalten die in Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG gewährleistete Rundfunkfreiheit gefährdet wird". Es ist aber nicht zu verkennen, daß das Gebot solcher Programmgrundsätze seinerseits wieder reglementierend und beschränkend in das Grundrecht der Rundfunkfreiheit eingreift. Es handelt sich also um Grundsätze, die die Ausübung eines Grundrechts beschränken, um einen durch unbeschränkten Gebrauch möglichen Mißbrauch des Grundrechts zu verhindern. In einem solchen Fall aber ist bei den Anforderungen an derartige Grundsätze streng darauf zu achten, daß sie das Grundrecht nur insoweit einschränken, als es zur Verhinderung grober Mißbräuche unerläßlich erscheint20. Ausgewogenheit ist ein Begriff der Naturwissenschaft, wo gewogen und gemessen wird. Eine 100% ige Ausgewogenheit eines Rundfunkprogramms kann es nie geben. Denn wenn ein Rundfunkprogramm mit „Stoppuhr, Farbenlehre oder Bandmaß auf eine numerische Ausgewogenheit hingebogen werden soll, dann ist dies eine Kampfansage gegen die konstituierende Funktion eines freien Rundfunks" 21 . Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen und mit Hilfe der vorstehend erwähnten Rundfunkgesetze sowie der rundfunkrechtlichen Literatur soll nun versucht werden, zu klären, was inhaltliche Ausgewogenheit ist bzw. nicht ist. 18 Vgl. ζ. B. den ausführlichen Aufsatz von Aufermann, Jörg in: Media-Perspektiven 1977, 301 ff, über „Rundfunkfreiheit und Programmausgewogenheit" und dort insbesondere den Eingrenzungsversuch auf S.314. " BVerfGE 12, 261; BVerfGE 31, 314 (326). 20 Vgl. Geiger, Willi: Sicherung der Informationsfreiheit des Bürgers, in: AfP 1977,256 (263). 21 Vgl. Hoffmann, Rüdiger in: Der Programmauftrag des Westdeutschen Rundfunks, 1975, S. 50.
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3. Der Blick in die Rundfunkgesetze und die rundfunkrechtliche Literatur läßt im wesentlichen vier Elemente erkennen, die - von unterschiedlicher Bedeutung für das Ganze - konstitutiv sind für den Begriff der inhaltlichen Ausgewogenheit von Rundfunkprogrammen: 1. 2. 3. 4.
die die die die
Staatsfreiheit (Libertät) Pluralität Parität Neutralität. [132]
Stern/Bethge22 verstehen unter Ausgewogenheit das Verbot der Auslieferung des Rundfunks an eine staatliche (Staatsfreiheit), gesellschaftliche oder private Macht und damit korrelierend das Gebot der Pluralisierung des Rundfunks (Pluralität) in Gestalt angemessener Partizipation und Repräsentation der für das Gemeinwesen gewichtigen Einflußgruppen (Parität) mit dem Ziel der Neutralisierung der in dieses Medium einmündenden divergierenden Auffassungen (Neutralität)23. a) Das Element der Staatsfreiheit bedeutet zum einen das Verbot eines Staatsrundfunks, wie es vom Bundesverfassungsgericht im „Fernsehurteil" ausgesprochen worden ist, aber auch das aus Art. 5 GG direkt resultierende Verbot staatlicher Einflußnahme auf die Gestaltung der Rundfunkprogramme 24 . Hierbei ist jedoch zu beachten, daß dem Element der Staatsfreiheit lediglich mindere Bedeutung zukommt, da es keineswegs konsequent im Grunde genommen sogar nur beschränkt - Anwendung findet: Die Rundfunkanstalten sind öffentlich-rechtlich organisiert; sie unterliegen einer beschränkten staatlichen Rechtsaufsicht; in den Rundfunkgremien sitzen Vertreter des Staates. Eine staatliche Einflußnahme ist daher in zahlreichen Bereichen des Rundfunks gegeben. Aus diesem Grunde ist davon auszugehen, daß sich das Gebot der Staatsfreiheit konkret nur auf das Verbot direkter oder indirekter staatlicher Einflußnahme auf die sachliche Programmgestaltung, also die Programminhalte, bezieht. Sobald der Staat nämlich unter den Gesichtspunkten „nützlich" oder „schädlich", „politisch erwünscht" oder „politisch unerwünscht" auf die 22
Stem/Bethge: Öffentlichrechtlicher und privatrechtlicher Rundfunk, 1971, S. 43. Vgl. auch Krüger, Herbert: Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S.877. 24 Vgl. BVerfGE 12, 262; 31, 329; Klein, Hans: Die Rundfunkfreiheit, 1978, S.53; Geiger (Fn. 20), S. 262 £; Herrmann, Günter: Fernsehen und Hörfunk in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, 1975, S. 325; Bettermann, Karl-August: Rundfunkfreiheit und Rundfunkorganisation, in: DVB1. 1963, 41 (42); Leibholz, Gerhard: Rechtsgutachten zur staatüchen Rechtsaufsicht über die Programmgestaltung, 1973, S. 35; Lenz, Helmut: Rundfunkorganisation und öffentliche Meinungsbildungsfreiheit, in: JZ 1963, 338 (340); Riklin, Frank: Die Programmfreiheit von Radio und Fernsehen, 1973, S.41. 23
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Programminhalte Einfluß nehmen würde, verstieße dies gegen Art. 5 Abs. 1 GG, da derartige Bestimmungen keine „allgemeinen Gesetze" i. S. des Art. 5 Abs. 2 GG wären25. Derartige staatliche Einflußmöglichkeiten verstießen dann auch gegen den Grundsatz der Ausgewogenheit, da eine solche selektive Einflußnahme eine Ausgewogenheit wenn nicht ganz verhindern, dann doch zumindest stark beeinträchtigen würde. Während das aus Art. 5 Abs. 1 GG abgeleitete Verbot sich gegen den Staat richtet, der sich staatlicher Einflußnahme auf die Programminhalte [133] enthalten muß, finden sich in den Rundfunkgesetzen entsprechende an die Anstalt gerichtete Verbote, „mittelbar oder unmittelbar ein Werkzeug einer Regierung" zu sein26 bzw. „einseitig in den Dienst einer Regierung" zu treten27. Dem entspricht auch, daß in den meisten Rundfunkgesetzen den Regierungen ein gesondertes Verlautbarungsrecht für amtliche Verlautbarungen eingeräumt wird. Abschließend bleibt noch zu überlegen, was hier unter dem Begriff des Staates zu verstehen ist. Man wird dazu zunächst einmal die Legislative rechnen müssen, und zwar insoweit, als sie die Grenzen des Art. 5 Abs. 2 GG überschreitet, ferner aber auch die Exekutive, soweit sich die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für ihr Handeln nicht gleichfalls in den Grenzen des Art. 5 Abs. 2 GG hält. Zusammenfassend ist also festzuhalten: Staatsfreiheit bedeutet das Verbot eines „Staatsrundfunks" sowie das Verbot einer über die Grenzen des Art. 5 Abs. 2 GG hinausgehenden Einflußnahme von Legislative und Exekutive. b) Die Pluralitât ist wohl das wichtigste Element der Ausgewogenheit. Es findet sich entweder positiv formuliert wie beim Bundesverfassungsgericht28 „..., daß alle in Betracht kommenden Kräfte im Gesamtprogramm zu Wort kommen können ..
oder negativ dergestalt formuliert, daß es dem Rundfunk bzw. seinen Angestellten untersagt ist, einseitig in den Dienst einer Regierung, politischen Partei, Kirche oder sonstigen Gruppen zu treten oder Son-
25
Vgl. Geiger (Fn. 20), S.263. Vgl. z.B. §2 Abs.2 der Satzung des SDR. 27 Vgl. z. B. Art. 5 Abs. 3 der Satzung des SWF. 28 BVerfGE 12, 263. 2 ' Vgl. auch BVerfGE 31, 314 (329); Klein (Fn.24), S. 53f; Stern/Bethge (Fn. 22), S.43; Jank, Klaus-Peter: Die Verfassung der deutschen Rundfunkanstalten, in: DVB1. 1963, 44 (46). 26
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derinteressen, seien sie wirtschaftlicher oder persönlicher Natur, zu dienen30. Pluralität bedeutet danach zunächst negativ „keine Einseitigkeit", gebietet auch in diesem Bereich die Einhaltung des Grundsatzes: audiatur et altera pars, und bezweckt somit auch den Schutz der Bevölkerung vor einseitiger Meinungsbeeinflussung31. Positiv bedeutet dies Meinungsvielfalt. Pluralität bedeutet danach aber auch Chancengleichheit, also die gleiche Möglichkeit für jede gesellschaftlich relevante Gruppe, im Rahmen der [134] Rundfunkprogramme angemessen zu Wort zu kommen und an der Rundfunkkommunikationsfreiheit teilzuhaben32. „Zu Wort kommen" bedeutet aber auch, daß Repräsentanten dieser Gruppen die Gelegenheit haben müssen, selbst zu Wort zu kommen, und daß es nicht ausreicht, wenn lediglich über deren Forderungen und Auffassungen von den Rundfunkjournalisten berichtet wird33. Auch dies folgt aus dem in Art. 5 GG verankerten Recht des Bürgers auf Informationsfreiheit, gegen das verstoßen wird, wenn ohne zwingenden sachlichen Grund lediglich eine mittelbare Pluralität sichergestellt wird34. Die Probleme bei der Verwirklichung der Pluralität setzen aber dort ein, wo es darum geht, auszuwählen, welche Gruppen oder Meinungen ohne Verletzung der Pluralität außer acht gelassen werden dürfen, denn sicherlich ist es unmöglich, jede gesellschaftliche Splittergruppe zu Wort kommen zu lassen oder jede Meinungsvariante darzustellen35. Teilweise wird in diesem Zusammenhang davon gesprochen, es müßten alle gesellschaftlich relevanten (bedeutenden) Kräfte zu Worte kommen36. (Was aber bedeutet wiederum gesellschaftlich relevant/bedeutend?) In einer anderen Formulierung heißt es, diejenigen, die Rundfunk betrieben, müßten den „tatsächlich existierenden gesellschaftlichen Plu- *
30 Vgl. z.B. Art.4 Abs.2 Zi.7 des Bayr. Rundfunkgesetzes; Art.5 Abs.3 der Satzung des SWF. 51 Vgl. Riklin (Fn. 24), S.92; Aufermann (Fn. 18), S.303. 52 Lenz (Fn. 24), S.344; Herrmann (Fn.24), S.325; Klein (Fn.24), S.54; Aufermann (Fn. 18), S. 306; Krause-Ablaß, Günter B.: Die Neutralitätspflicht der Rundfunkanstalten, in: RuF 1962, 113 (119). 35 Vgl. BVerfGE 12, 263; Geiger (Fn.20), S.259. 34 Vgl. Geiger (Fn.20), S.259. 35 Vgl. Starck, Christian: Rundfunkräte und Rundfunkfreiheit, in: ZRP 1970, 217
(218). 54 Vgl. BVerfGE 12, 261; Scheuner, Ulrich: Das Rundfunkmonopol und die neuere Entwicklung des Rundfunks, in: AfP 1977, 367 (369); derselbe: Pressefreiheit, in: W D S t L 22 (1965), 1 (14).
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ralismus abbilden" 37 . (Mit einer derartigen Formulierung ist schon gar nichts gewonnen.) Wirft man einmal einen Blick auf die personelle Ausgewogenheit und zieht die Vorschriften des Art. 6 Abs. 3 des Bayr. Rundfunkgesetzes oder des § 4 Abs. 2 der Satzung des S D R über die Besetzung der Rundfunkräte heran, in denen normiert ist, welche gesellschaftlichen Gruppen in den Gremien repräsentiert sein müssen, so zeigt sich, welche Kräfte in diesen Sendegebieten als gesellschaftlich relevant angesehen werden. Beansprucht diese Aufzählung aber Vollständigkeit? Somit zeigt sich, daß auch die Pluralität nicht positiv, sondern nur negativ bestimmbar ist. Pluralität liegt also dann nicht vor, wenn unter Verletzung der
Chancengleichheit einseitig lediglich bestimmte parteipolitische, gesellschaftspolitische oder sonstige Interessen zu Gehör gebracht werden. [135]
c) Parität heißt auf deutsch zunächst einmal „Gleichheit", „Gleichwertigkeit". Sie bezieht sich, wie die Pluralität, zum einen auf die organisatorische Struktur, also die personelle Besetzung der Rundfunkgremien, zum anderen aber auch auf die inhaltliche Programmgestaltung. Nun bedeutet Gleichheit nie absolute Gleichheit in dem Sinne, daß. auch Ungleiches gleich zu behandeln wäre, sondern Ungleiches ist stets seinen wesenseigenen Merkmalen entsprechend ungleich zu behandeln. Parität bedeutet, soweit sie die inhaltliche Ausgewogenheit der Programme betrifft, Gleichwertigkeit in der Art und Weise des GehörBekommens. Dazu gehört zum einen die Dauer der eingeräumten Sendezeiten. Es würde sicher dem Ausgewogenheitsgebot widersprechen, würde man einer unserer großen politischen Richtungen, sei es der Regierung oder der Opposition, ζ. B. doppelt so viel Sendezeit widmen wie der anderen Seite. Es würde sicher genauso dem Ausgewogenheitsgebot widersprechen, würde man die Meinungen der einen Gruppe stets am Abend im Hauptprogramm, die der anderen immer nur im Vormittagsprogramm zu Worte kommen lassen. Parität bedeutet daher auch Gleichwertigkeit der Sendezeit38. Auch über die Parität finden sich zahlreiche Einzelvorschriften in den Rundfunkgesetzen :
37 38
Vgl. Klein (Fn. 24), S.54. Vgl. auch Krause-Ablaß (Fn.32), S. 115.
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Da ist die Rede von „gleicher" bzw. „gleichlanger" Sendezeit39, von „gleichwertiger" Sendezeit40 bzw. dem Recht auf Rede und Gegenrede unter jeweils „gleichen" Bedingungen41. Nun kann aber nicht alles im Hauptprogramm zu Wort kommen. Es kann auch sicherlich nicht jeder Splittergruppe das gleiche Gewicht eingeräumt werden. Ebenso wie bei der Frage, welche Gruppen überhaupt zu Wort kommen sollen, so ist es auch hier wieder bei der Frage, wann und in welchem Umfang sie zu Wort kommen sollen, erforderlich, daß von seiten des Rundfunks gewichtet und ausgewählt wird. Wie bei allen Wertungen bedeutet dies aber eine stete Quelle für Fehler. Das Bundesverfassungsgericht spricht lediglich von einem „angemessenen Verhältnis"42. Aber wann kommen die verschiedenen Richtungen „angemessen" zur Geltung? Geht es nach der Verbreitung der jeweiligen Interessen in der Bevölkerung? Geht es nach dem Gewicht der Argumente43? [136] Zudem stellt sich wie bei der Pluralität auch hier die Frage, in welchem Zeitraum - ζ. B. einem Tag, einer Woche, einem Monat - die Parität hergestellt sein muß. Man stelle sich vor, an einem bestimmten Tag sei eine bundesweite Anti-Kernkraft-Demonstration angesetzt. In der Woche davor kämen ausschließlich die Kernkraftgegner zu Wort. In der Woche danach kämen dann allerdings die Kernkraftbefürworter mit gleicher Sendelänge und gleicher Sendezeit zu Wort. Diese Sendezeit wäre dann nicht mehr paritätisch, da es ja für die Parität nicht nur auf die Dauer der Sendezeit ankommt, sondern eben auch auf deren Gleichwertigkeit. Es zeigt sich also, daß diese Fragen im Grunde genommen einer generellen Beantwortung nicht zugänglich sind. Damit beschränkt sich der Begriff der Parität, wie der verfassungsrechtliche Gleichheitsgrundsatz überhaupt, auf ein Willkürverbot dergestalt, daß keine der in den Programmen zu Wort kommenden Interessen willkürlich in Dauer und Wertigkeit unangemessene Sendezeiten erhalten dürfen. So wäre eben z.B. kein sachlicher Grund einzusehen, warum die Kernkraftbefürworter erst nach dem Demonstrationstage zu Wort kommen sollen. Ist vorher nur eine bestimmte Sendezeit verfügbar, ist diese eben „angemessen" auf beide Kontrahenten zu verteilen.
3 ' Vgl. z. B. Art. 4 Abs. 2 Zi. 4 des Bayr. Rundfunkgesetzes; § 3 Zi. 6 des Gesetzes über den H R ; § 2 Abs. 5 des Gesetzes „Radio Bremen". 40 Vgl. z. B. § 3 Zi. 8 des Gesetzes über den HR. 41 Vgl. z. B. § 3 Zi. 7 des Gesetzes über den HR. 42 BVerfGE 12, 261. 41 Vgl. dazu: Maunz, Theodor: Staatsaufsicht über den Rundfunk, in: BayVBl. 1977, 526 (529).
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Was aber ohne Überschreitung der Grenzen des Willkürverbots „sachlich" und „angemessen" ist, kann - wenn überhaupt - nur von Fall zu Fall beurteilt werden und muß daher zunächst dem pflichtgemäßen journalistischen Ermessen überlassen bleiben. Parität bedeutet also das „angemessene" Zu-Wort-Kommen aller nach dem Gebot der Pluralität darzustellenden Meinungen durch eine differenzierte Gleichheit und Gleichwertigkeit von Sendedauer und Sendezeit im Sinne eines Verbots von willkürlichen Regelungen in diesem Bereich. d) Als letztes, wesentliches, Element der Ausgewogenheit ist das Gebot der Neutralität zu nennen, das eigentlich schon logisch aus den drei vorgenannten Elementen folgt44. Neutralität, in diesem Zusammenhang „Unparteilichkeit" bzw. „Überparteilichkeit" 45 , bedeutet „Nichtidentifikation" mit bestimmten Gruppeninteressen46. Nicht durch die Neutralitätspflicht ausgeschlossen sind ζ. B. als solche gekennzeichnete Kommentarsendungen, in denen der Kommentator pointiert eine Meinung vertritt, solange derartige Sendungen im Sinne [137] eines ausgewogenen Pro und Kontra den Anforderungen der Pluralität und Parität genügen47. Daher ist auch das Recht auf Kommentare in den Rundfunkgesetzen teilweise direkt vorgesehen48, teilweise sprechen die Gesetze in anderem Zusammenhang von „Kommentaren" oder „Stellungnahmen", woraus sich ergibt, daß diese als zulässig angesehen werden. Der Vollständigkeit halber bleibt anzufügen, daß die Neutralitätspflicht nur im Rahmen des „demokratischen Meinungsmarktes" besteht49, d.h. nur solchen Meinungen, Auffassungen und Interessen gegenüber, die sich in dem vom Grundgesetz vorgegebenen Rahmen halten. Jenseits dieses Rahmens wandelt sich die passive Neutralitätspflicht in eine Pflicht zum aktiven Eintreten für die freiheitliche demokratische Grundordnung50. Neutralität bedeutet also Nichtidentifikation der Rundfunkanstalten mit einzelnen Gruppen- oder Sonderinteressen, bedeutet Unparteilichkeit bzw. Uberparteilichkeit. 44 Vgl. dazu: Herrmann (Fn.24), S.388; Klein (Fn.24), S.66; Krause-Ablaß (Fn.32), S. 113 ff. 45 Vgl. z . B . § 2 Abs.6 des Gesetzes „Radio Bremen"; A r t . 5 Abs.3 der Satzung des SWF; Klein (Fn.24), S.66; Riklin (Fn.24), S.92. 46 Vgl. Maunz (Fn. 43), S. 529; Aufermann (Fn. 18), S. 301. 47 Vgl. Herrmann (Fn.24), S.326; Aufermann (Fn. 18), S.305. 41 Vgl. Art. 4 Abs. 2 Zi. 7 des Bayr. Rundfunkgesetzes. 49 Vgl. Lenz (Fn.24), S.344. 50 Vgl. z. B. § 2 des Staatsvertrages über das Z D F ; § 3 der Satzung des SFB; § 10 Abs. 2 des Saarl. Rundfunkgesetzes.
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e) Mit den vier Begriffen der Staatsfreiheit, Pluralität, Parität und Neutralität ist vorstehend versucht worden, eine Klärung des Begriffs der verfassungsgerichtlich verlangten „inhaltlichen Ausgewogenheit" von Rundfunkprogrammen herbeizuführen. Die Ausführungen haben gezeigt, wie überaus schwierig dies ist. Es kommen aber noch weitere Schwierigkeiten hinzu. Die Frage nach der „Ausgewogenheit" eines Rundfunkprogramms ist stets nur ex post zu beurteilen. Völlig unklar aber bleibt, welcher Zeitpunkt für eine solche ex-post-Beurteilung zu wählen ist. Das Bundesverfassungsgericht spricht lediglich von der Ausgewogenheit des „Gesamtprogramms". Ist dies das Programm eines Tages, einer Woche, eines Monats? Müssen nicht die Zeitabschnitte für eine jeweilige ex-post-Beurteilung von Fall zu Fall wechseln, wie das Beispiel der Anti-Kernkraft-Demonstration zeigt? Fragen, die allgemeingültig nicht zu beantworten sind und die hier nur kurz angedeutet werden sollen. Sie werden später bei der Frage der Pönalisierbarkeit von Verstößen gegen den Grundsatz der Ausgewogenheit eine Rolle spielen. [138] II. Die „Sachlichkeit" des Programms Ist die Literatur über den Begriff der „Ausgewogenheit" von Rundfunkprogrammen zahlreich - ohne daß dies allerdings zu einer Konkretisierung dieses Begriffs führen würde - , so findet man über die Grundsätze der „Sachlichkeit" und „gegenseitigen Achtung" nahezu keine Ausführungen. Dies mag zum einen seinen Grund darin haben, daß die politische Brisanz lediglich in der Frage der (mangelnden) Ausgewogenheit von Rundfunkprogrammen liegt, zum anderen möglicherweise aber auch darin, daß man meint, die Begriffe der Sachlichkeit und gegenseitigen Achtung - der täglichen Umgangssprache entlehnt - verstünden sich aus sich selbst heraus. Wenn dies auch bis zu einem gewissen Grad zutrifft, so handelt es sich doch in beiden Fällen um sog. wertausfüllungsbedürftige Begriffe, so daß dem Rechtsanwender für die Einzelfallbeurteilung Subsumtionsmaßstäbe an die Hand gegeben werden müssen. 1. „Sachlichkeit" bedeutet zunächst nach seiner Wortbedeutung ein „nicht von Gefühlen oder Vorurteilen bestimmtes", „nüchternes", „objektives" Verhalten51. Aber diese Definition allein führt nicht sehr weit. So wird „objektiv" seinerseits wieder mit „sachlich", „unvoreinge-
51
Vgl. Der Große Duden, Bd. 10, 1970, Stichwort: sachlich.
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nommen" definiert52. Im wesentlichen ist es aber im Sinne von „neutral", „nicht wertend", „überparteilich" zu verstehen53. Danach ist Objektivität eine Zielvorstellung journalistischer Arbeit; denn um dem Publikum eine selbständige Beurteilung zu ermöglichen, sollen die Gegenstände so dargestellt werden, wie sie aus sich selbst heraus erscheinen. Allerdings findet die absolute Objektivität immer ihre Grenzen an der Perspektivität, d.h. der Ausschnitthaftigkeit, die jeder menschlichen Erkenntnis eigen ist54. 2. Sodann handelt es sich bei dem Grundsatz der „Sachlichkeit" um die Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit der Berichterstattung55. In ausnahmslos allen Rundfunkgesetzen ist die Pflicht zu wahrheitsgetreuer/objektiver/sachlicher Berichterstattung erwähnt. Teilweise ist kumulativ von „wahrheitsgetreuer und sachlicher" Berichterstattung die Rede56. [139] Es kann jedoch kaum einem Zweifel unterliegen, daß die Wahrheitspflicht gegenüber der Sachlichkeit kein aliud, sondern weitgehend dekkungsgleich ist. Denn eine sachliche (objektive) Berichterstattung ohne Einhaltung der Wahrheitspflicht ist kaum vorstellbar. Wahrheit ist in diesem Zusammenhang stets die gesamte Wahrheit, nicht etwa nur Teilwahrheit, denn auch eine Teilwahrheit kann eine Unwahrheit sein. Dies steht jedoch nicht Sendungen entgegen, die nur einen Aspekt eines Problems erörtern, sofern nur dem Hörer erkennbar ist, daß nicht das gesamte Problem dargestellt werden soll. Es soll hier nun nicht näher untersucht werden, welche Sorgfaltsanforderungen im einzelnen an die journalistische Wahrheitsermittlungspflicht zu stellen sind. Fest steht jedenfalls, daß aus der Bedeutung dieses Grundsatzes die Pflicht zu größtmöglichem Bemühen folgt, Zweifel am Wahrheitsgehalt der Meldung kundzutun (ständige Formel: „Eine Bestätigung dieser Meldung liegt nicht vor") und Falschmeldungen zu berichtigen. 3. Aus dem Grundsatz der Sachlichkeit folgt schließlich auch die Pflicht zu eindeutiger Trennung von Fakten (Nachrichten, Berichten) und Spekulationen (Meinungsäußerungen, Kommentare)57; denn wo Meinungsäußerungen und Kommentare nicht eindeutig als solche kenntlich
52
Vgl. Meyers Enzyklopädisches Lexikon, 9. Aufl., Bd. 17, 1976, Stichwort: objektiv. Vgl. Meyer (Fn. 52), Stichwort: Objektivität. 54 Meyer (Fn.52), Stichwort: Objektivität. 55 Vgl. Mallmann, Walter: Zur Rechtsaufsicht über das ZDF, 1975, S. 82. 54 Vgl. Art. 4 Abs. 2 Zi. 9 des Bayr. Rundfunkgesetzes; §3 Abs. 1 des ZDF-Staatsvertrages. 57 Vgl. z. B. Art. 6 Abs. 1 der Satzung des SWF; § 3 Abs. 1 der Satzung des WDR. 53
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sind, besteht die Gefahr, daß das, was lediglich eine subjektive Meinung darstellt, als objektives Faktum angesehen wird.
„Sachlichkeit" bedeutet danach eine von der Pflicht zur Wahrhaftigkeit bestimmte, von persönlichen Vorurteilen oder Gefühlen freie, nach Meinungen und Fakten getrennte objektive Berichterstattung. III. Die „gegenseitige Achtung" als Programmgrundsatz
1. Was unter dem Begriff der „gegenseitigen Achtung" zu verstehen ist, scheint auf den ersten Blick ganz klar zu sein. So wird auch im wesentlichen bei der Erläuterung der Beleidigungsdelikte dçj §§ 185 ff StGB auf den Begriff der Achtung (bzw. Nichtachtung/Mißachtung) zurückgegriffen; er findet sich sogar im Gesetztestext: „verächtlich machen", §§186, 187 StGB. Rechtsgut der §§ 185 ff StGB ist die Ehre. Für die Frage, was darunter zu verstehen ist, kann auf die einschlägige Rechtsprechung und Literatur zu den §§ 185 ff StGB verwiesen werden. Es kann aber nun nicht sein, daß unter dem vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsatz der „gegenseitigen Achtung" lediglich das Gebot der Wahrung der persönlichen Ehre zu verstehen sei, also das [140] Verbot ehrverletzender Programmgestaltung. Dafür hätte es nicht eines vom Bundesverfassungsgericht aufzustellenden Grundsatzes der „gegenseitigen Achtung" bedurft; denn daß die Programmgestaltungsfreiheit ihre Grenzen in den §§ 185 ff StGB findet, versteht sich von selbst und folgt schon aus Art. 5 Abs. 2 GG. Der Grundsatz der „gegenseitigen Achtung" muß darüber hinaus also noch mehr beinhalten. 2. Ein Blick in die Rundfunkgesetze zeigt, was in etwa dort unter dem Begriff der „gegenseitigen Achtung" verstanden wird. So ist die Rede davon, daß solche Sendungen verboten seien, die Vorurteile gegen einzelne oder gegen Gruppen wegen ihrer Rasse, ihres Volkstums, ihrer Religion oder Weltanschauung verursachen oder zu deren Herabsetzung Anlaß geben könnten58, oder solche Sendungen, welche die sittlichen und religiösen Überzeugungen der Bevölkerung nicht achten59. Ferner heißt es auch, der Rundfunk habe sich für die Ideale von Duldsamkeit und Achtung vor der einzelnen Persönlichkeit einzusetzen60. 58 Vgl. z . B . A r t . 4 Abs.2 Zi. 11 des Bayr. Rundfunkgesetzes; § 3 Zi. 3 des Hess. Rundfunkgesetzes; § 2 Abs.3 des Gesetzes „Radio Bremen"; § 2 Abs.4 Zi.9 der Satzung des SDR; Art. 5 Abs. 2 der Satzung des SWF. 55 Vgl. z. B. § 4 Abs. 1 des NDR-Staatsvertrages; § 10 Abs. 1 des Saarl. Rundfunkgesetzes; § 4 des Gesetzes über den W D R ; § 23 des Gesetzes über die Bundesrundfunkanstalten. 60 Vgl. z . B . § 2 des Gesetzes „Radio Bremen"; § 2 Abs. 1 der Satzung des SDR.
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„Gegenseitige Achtung" bedeutet demnach nicht nur die Wahrung der persönlichen Ehre des einzelnen bzw. einer beleidigungsfähigen Gruppe, sondern darüber hinaus auch das Verbot der Diffamierung und Diskriminierung sittlicher, religiöser oder sonstiger in der Bevölkerung verbreiteter Uberzeugungen im Sinne eines umfassenden Toleranzgebotes gegenüber Andersdenkenden und Andershandelnden. Es bedeutet weiter das Verbot für die Rundfunkanstalten, sich auf dem Gebiet ethischer und moralischer Werte zum Richter aufzuspielen. Damit wird jedoch keine Schrankenlosigkeit der Toleranz propagiert; denn diese besteht nur im Rahmen der verfassungsrechtlich vorgegebenen Grundwerte. Außerhalb dieses Rahmens wandelt sich die Toleranzpflicht in eine Pflicht zum aktiven Kampf zur Erhaltung dieser Grundwerte. Somit ist der Grundsatz der „gegenseitigen Achtung" möglicherweise einer der wichtigsten Grundsätze überhaupt, denn das Funktionieren einer freiheitlich-demokratischen pluralistischen Gesellschaftsordnung ist ohne den Faktor „Toleranz" eigentlich schwer vorstellbar61. Nach alledem ist in dem Grundsatz der „gegenseitigen Achtung" sicherlich auch der Schutz der persönlichen Ehre enthalten. Seine eigentliche Bedeutung aber liegt in dem Gebot zur Toleranz. [141] „Gegenseitige Achtung" bedeutet danach Toleranz gegenüber anderen Wertvorstellungen sowie Respekt vor der persönlichen Ehre und Würde. B. Vorfragen einer Pönalisierung de lege ferenda Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, wie vielschichtig und problematisch die Antwort auf die Frage nach Verstößen gegen die erörterten Programmgrundsätze sein kann, was im wesentlichen darauf zurückzuführen ist, daß es sich eben um Programijigrundsätze im Sinne der eigentlichen Wortbedeutung handelt, also um Grundsätze lediglich programmatischer Natur. Prüft man einmal den genauen Wortlaut der Entscheidungsgründe des „Fernsehurteils", so ist dort nicht etwa von den „Programmgrundsätzen der inhaltlichen Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitigen Achtung" die Rede, sondern von „Leitgrundsätzen", die ein „Mindestmaß von Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung" gewährleisten sollen62. „Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitige Achtung" stellen demnach eine programmatische Forderung im Sinne einer überschriftar-
" Vgl. Werner, Fritz: Recht und Toleranz, in: Recht und Gericht in unserer Zeit, 1971, S. 420 ff (426 f). 62 BVerfGE 12, 263.
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tigen Zielsetzung dar, die es mittels ganz bestimmter Regeln („Leitgrundsätze") sicherzustellen gilt. Diese wiederum sind die Summe aller rundfunkrechtlichen Normen, die in irgendeiner Weise in Bezug zur inhaltlichen Programmgestaltung stehen. Dazu gehören genauso die Vorschriften über das „Wie" der Programmgestaltung wie über das „Wer", also darüber, wer auf das Programm gestaltend oder zumindest kontrollierend Einfluß nehmen kann (personelle Ausgewogenheit). Daß diese geltenden rundfunkrechtlichen Normen den verfassungsrechtlichen Anforderungen zur Sicherstellung von „Ausgewogenheit", „Sachlichkeit" und „gegenseitiger Achtung" genügen, hat das Bundesverfassungsgericht an gleicher Stelle ausdrücklich festgestellt. Ob dies (heute noch) zutrifft, kann hier dahinstehen, denn die Fragestellung unseres Gutachtens gilt lediglich der Einführung neuer Normen im strafrechtlichen, aber nicht im rundfunkrechtlichen Bereich. I. Die denkbaren Verstöße gegen die Programmgrundsätze Bei der Frage nach den möglicherweise zu pönalisierenden Verstößen muß die Prüfung daher auf zwei Ebenen durchgeführt werden: Zunächst sind die Verhaltensweisen zu prüfen, welche sich als Verstöße [142] gegen die einzelnen, den programmatischen Obersatz konkretisierenden und ausfüllenden Normen darstellen. Im Anschluß daran sind auf einer zweiten, höheren Ebene jene Verhaltensweisen zu prüfen, die - ohne gegen konkretisierende Ausfüllungsnormen zu verstoßen möglicherweise dennoch den programmatischen Obersatz verletzen, was diesem dann den Charakter einer Auffangregel geben würde. 1. Wenn zunächst auf der unteren Stufe der sog. Ausfüllungsnormen mögliche Verstöße geprüft werden und dabei die Rundfunkgesetze herangezogen werden, so müssen als erstes alle diejenigen Vorschriften ausgeschieden werden, die sich - wenn auch vielleicht mit anderen Worten - lediglich als Wiederholung der genannten programmatischen Obersätze darstellen. Denn es hieße die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts ad absurdum führen, wollte man als alleinigen Leitgrundsatz zur Sicherung ζ. B. des Ausgewogenheitsgebotes eine rundfunkrechtliche Norm des Inhalts ausreichen lassen, daß das Programm des . . . Rundfunks inhaltlich ausgewogen zu sein habe. Es sind also zunächst die Vorschriften auszuscheiden, die von „Ausgewogenheit des Gesamtprogramms"' 3 , von „Uberparteilichkeit"64, von „sachlicher Berichterstattung"'5, von „allgemeiner, unabhängiger und 63 M 65
Vgl. ζ. B. III Zi. 5 der Richtlinien für Sendungen des ZDF. Art. 4 Abs. 2 Zi. 9 des Bayr. Rundfunkgesetzes. § 3 Abs. 1 des ZDF-Staatsvertrages.
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objektiver Nachrichtengebung"66 oder davon sprechen, daß die sittlichen und religiösen Überzeugungen der Bevölkerung zu achten seien67. Bei dem in nahezu allen Rundfunkgesetzen enthaltenen Verbot der Einseitigkeit68 ist es fraglich, ob es sich hier um eine konkretisierende Ausfüllungsnorm oder um eine Wiederholung des Programmsatzes mit anderen Worten handelt: Gemäß der oben (A I 3 b) erwähnten Negativdefinition der Pluralität wird der Begriff der Einseitigkeit hier wörtlich verstanden und als eines der wenigen brauchbaren Kriterien zur negativen Bestimmung des Begriffs der „Ausgewogenheit" (wann diese nämlich auf keinen Fall vorliegt) angesehen. Insoweit stellen dann die entsprechenden rundfunkrechtlichen Vorschriften echte Ausfüllungsnormen dar. Dem Verbot der Einseitigkeit ist das Verbot, Sonderinteressen zu dienen, gleichzusetzen. Anders wäre die Sache zu beurteilen, sähe man als „einseitig" schon das bloße Überwiegen einer Meinung an. Denn zwischen dem Überwiegen einer Meinung und dem Begriff „unausgewogen" kann wohl ein konkretisierbarer inhaltlicher Unterschied nicht gefunden werden. In diesem Fall wäre dann auch das Verbot der Einseitigkeit nur als Wiederholung des Programmsatzes der „Ausgewogenheit" mit anderen Worten zu verstehen. [143] Danach wäre also das Ausstrahlen eines Rundfunkprogramms, das darauf abzielt, einseitig und allein dem Interesse einer Gruppe - sei sie politischer, wirtschaftlicher, religiöser oder sonstiger Art - zu dienen, ein Verstoß gegen das rundfunkrechtliche Verbot der Einseitigkeit. Auch die Pflicht zu wahrheitsgetreuer Berichterstattung ist als Ausfüllungsnorm zu dem Obersatz der Sachlichkeit anzusehen. Die Verbreitung falscher Nachrichten wäre ein Verstoß dagegen. Als echte, den Programmsatz der „gegenseitigen Achtung" konkretisierende Ausfüllungsnormen sind wohl auch diejenigen Vorschriften zu verstehen, die Sendungen verbieten, welche Vorurteile gegen einzelne Gruppen wegen ihrer Rasse, ihres Volkstums etc. verursachen oder zu deren Herabsetzung Anlaß geben könnten. Sendungen rassistischen Charakters würden beispielsweise hiergegen verstoßen. Blickt man auf die im Anhang aufgeführten Vorschriften, so zeigt sich, daß diejenigen Ausfüllungsnormen, die nunmehr noch übrig sind, im weitesten Sinne organisatorischen Charakter haben. Es sind Regeln über die Zuteilung von Sendezeiten, über das Recht der Gegenrede etc. Hierher gehören auch die Vorschriften über die Besetzung derjenigen
64 67 68
Vgl. z.B. §4 Abs. 1 des NDR-Staatsvertrages. Vgl. z.B. §4 Abs. 1 des NDR-Staatsvertrages. Siehe oben unter A I 1 c, Fn. 11.
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Rundfunkgremien, die gestaltend oder kontrollierend Einfluß auf die Programminhalte haben (ζ. B. Rundfunkräte, Programmbeiräte). In diesem Bereich wären Verstöße theoretisch unschwer vorstellbar (ζ. B. eine Sendeanstalt weigert sich, der evangelischen Kirche Sendezeit einzuräumen; ein Rundfunkgremium weist nicht die vom Gesetz geforderte pluralistische Besetzung auf), dürften praktisch aber kaum oder gar nicht vorkommen, so daß eventuelle Verstöße in diesem Bereich im Hinblick auf eine etwaige Pönalisierung wohl schadlos außer acht gelassen werden können. Es bleibt also festzuhalten, daß auf dieser unteren Stufe der Prüfung von Verstößen gegen Ausfüllungsnormen lediglich die Verstöße gegen das Verbot der Einseitigkeit, die Pflicht zu wahrheitsgetreuer Berichterstattung und das Verbot rassistischer etc. Sendungen für die weitere Untersuchung von Interesse sind. 2. Damit sind aber alle diejenigen Fälle nicht erfaßt, in denen ζ. B. allein durch die entsprechend geschickte Darstellung verschiedener Meinungen eine tendenziöse Berichterstattung erreicht wird; ferner die Fälle, in denen lediglich eine - wichtige - von mehreren Meinungen nicht dargestellt wird oder aber eine Meinung stets etwas überwiegt; oder Fälle, in denen die Interessen eines Bevölkerungsteils, z.B. der Landbevölkerung, nicht berücksichtigt oder gar verspottet und nicht toleriert werden. Alle diese Verhaltensweisen mehr oder weniger starker Gleichgewichtsverschiebungen stellen sich daher nur als Verstöße gegen die Programmobersätze der „Ausgewogenheit", „Sachlichkeit" und „gegenseitiger Achtung" dar. [144] II. Die Strafbarkeit der dargestellten Verstöße de lege lata Verstöße gegen die Programmgrundsätze, seien es nun Ausfüllungsnormen oder die eigentlichen Programmsätze, sind nach geltendem Recht nicht pönalisiert, d. h. es gibt keine presse- oder rundfunkrechtlichen Sondertatbestände, die Verstöße gegen die Programmgrundsätze als solche (als Straftat oder Ordnungswidrigkeit) ahnden. Zwar gibt es - über die allgemeinen Gesetze hinaus - rundfunkrechtliche Sonderstraftatbestände"; diese regeln aber lediglich das Wer und Wie organschaftlicher Haftung und setzen dabei stets die tatbestandliche
69 Vgl. z.B. §25 LPG Bremen; §25 LPG Baden-Württemberg; §23 LPG Berlin; §25 LPG Niedersachsen; §25 LPG Nordrhein-Westfalen; §24 LPG Rheinland-Pfalz; §25 LPG Schleswig-Holstein; § 19 Bayr. Rundfunkgesetz; §§28, 35 Gesetz über die Bundesrundfunkanstalten; § 7 des ZDF-Staatsvertrages.
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Verletzung einer außerrundfunkrechtlichen Norm voraus (sog. Rundfunkinhaltsdelikte)70. Darüber hinaus finden sich noch rundfunkrechtliche Tatbestände, die nicht auf die allgemeinen Strafgesetze zurückgreifen, sondern Schutzgut und Verletzungshandlung selbst normieren so ζ. B.: Art. 18 Bayr. RundfunkG = Verweigerung der Gegendarstellung; § 53 Saarl. RundfunkG = unbefugte Veranstaltung von Rundfunksendungen; § 55 Saarl. RundfunkG = Verletzung von Auskunftspflichten.
Im Gegensatz zur ersten Gruppe strafrechtlicher Sondernormen für den Bereich des Rundfunks hat die letztere Gruppe mit der Gestaltung der Programminhalte im eigentlichen Sinn nichts zu tun. Eine strafrechtliche Ahndung der hier gemeinten Verstöße gegen die Programmgrundsätze kommt daher stets nur im Rahmen der allgemeinen Strafgesetze in Betracht, d.h. immer nur dann, wenn durch die Ausstrahlung eines Rundfunkprogramms über die Programmgrundsätze hinaus noch andere Normen verletzt sind. Bei der Frage, welche Verstöße gegen die Programmgrundsätze gleichzeitig andere Normen verletzen und daher als Straftat oder Ordnungswidrigkeit geahndet werden können, scheiden Verstöße gegen die Ausgewogenheit (im Sinne von Staatsfreiheit, Pluralität, Parität und Neutralität) von vornherein aus. In diesem Bereich finden sich keine Strafnormen. Nicht anders ist es im Bereich der Sachlichkeit: Die bloße Lüge, die bloße Halbwahrheit, die Polemik (soweit sie nicht beleidigenden Charakter hat) sind allein nicht strafbar. [145] Gewiß ist die Verwirklichung von Straftatbeständen durch eine Rundfunksendung denkbar, die gleichzeitig den Grundsatz der Sachlichkeit verletzt71. Aber auch hier erfolgt die strafrechtliche Ahndung nur, weil eine andere Norm verletzt ist und auch nur wegen Verletzung dieses außerrundfunkrechtlichen Schutzgutes, nicht aber etwa wegen Verletzung des Grundsatzes der Sachlichkeit. Das gleiche gilt auch für den Grundsatz der gegenseitigen Achtung: Dieser ist zwar durch die §§185 ff StGB, eventuell auch durch die §§201 ff, 130, 166 StGB, noch am weitesten abgesichert. Aber auch hier wird ja nicht die Verletzung eines Programmsatzes geahndet, sondern es geht um die Verletzung der Ehre, des öffentlichen Friedens etc.
70 Scharnke, Dieter: Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der leitenden Personen des Rundfunks, 1978, S.16ff. 71 Vgl. z.B. §4 UWG = strafbare Werbung.
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Soweit es bei dem Grundsatz der gegenseitigen Achtung um das Toleranzgebot geht (ζ. B. auch im Bereich „fahrlässige Beleidigungen"), sind Verstöße strafrechtlich nicht sanktioniert. Festzuhalten bleibt also, daß von den Verstößen auf der Ebene der Ausfüllungsnormen die Zuwiderhandlungen gegen das Verbot der Einseitigkeit und gegen die Wahrheitspflicht strafrechtlich nicht sanktioniert sind. Soweit es um das Verbot rassistischer etc. Sendungen geht, wird man den allgemeinen strafrechtlichen Schutz der §§185 ff, 130 StGB als ausreichend ansehen können. Strafrechtlich nicht bewehrt sind weiterhin alle auf der zweiten Stufe erörterten Verstöße gegen die eigentlichen Programmsätze der „Ausgewogenheit", „Sachlichkeit" und „gegenseitigen Achtung". III. Die Reduktion der zur Zeit straflosen Verstöße gegen die drei Programmgrundsätze auf Verstöße gegen ein umfassendes Ausgewogenheitsgebot Betrachtet man die demnach für eine etwaige Pönalisierung in Frage kommenden Verhaltensweisen, so zeigt sich, daß sie sich im wesentlichen auf Verstöße gegen ein umfassendes Ausgewogenheitsgebot zurückführen lassen. 1. Geht man von der oben (A II am Ende) gegebenen Definition der Sachlichkeit aus, so zeigt sich, daß Sachlichkeit und Ausgewogenheit inhaltlich zueinander in Bezug stehen und daß sich die Sachlichkeit unter einen entsprechend verstandenen Ausgewogenheitsbegriff subsumieren läßt: Die Pflicht zur Wahrheit wird von den Elementen der Pluralität und Neutralität erfaßt. Denn eine Teilwahrheit, die zum Zwecke der Meinungsmanipulation nicht alle Aspekte einer Angelegenheit darstellt, verletzt [146] den Grundsatz der Pluralität. Eine bewußte Lüge dient stets einem bestimmten Zweck und verletzt damit den Grundsatz der Neutralität. Ebenso unter das Element der Neutralität fällt auch die Pflicht zu objektiver Berichterstattung, denn wie oben (A II 1) festgestellt, bedeutete „sachlich" soviel wie „objektiv", und dieses Wort wurde wiederum mit dem Begriff „neutral" erläutert. 2. Ähnliches gilt von dem Verhältnis des Begriffs „gegenseitige Achtung" zu dem der „Ausgewogenheit" ; denn soweit es das Toleranzgebot betrifft, so läßt sich dieses ohne Schwierigkeiten unter die Elemente der Pluralität und Neutralität subsumieren72. 71
Vgl. auch Krause-Ablaß (Fn.32), S. 118.
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Der Bereich des Ehrenschutzes kann für die weitere Untersuchung außer Betracht bleiben, da er strafrechtlich ausreichend geschützt ist. Es mögen zwar insbesondere im Bereich der sog. „fahrlässigen Beleidigungen" Fälle übrigbleiben, die nicht auch von dem Grundsatz der inhaltlichen Ausgewogenheit erfaßt werden. Unterstellen wir beispielsweise, erst nach der Sendung eines Spielfilmes merke man anhand von Protesten, daß dieser Film auf bestimmte Bevölkerungs- oder Berufsgruppen diffamierend wirken mußte und daß man dies bei sorgfältiger Uberprüfung der Sendung vorher hätte feststellen können. Dann ist möglicherweise der Grundsatz der gegenseitigen Achtung verletzt, aber (zumindest noch) nicht der Grundsatz der Ausgewogenheit. Dieser Aspekt kann aber schadlos für die vorgegebene Fragestellung außer acht gelassen werden. Denn es besteht weder ein kriminalpolitisches Bedürfnis, noch aus der Sondersituation des Rundfunks heraus ein Anlaß, die Ehrverletzungsdelikte über die Grenzen des StGB auf unbestimmte Personenkreise als Verletzte bzw. auf fahrlässige Begehungsweisen zu erweitern. In diesem Bereich ließe sich auch kein Unterschied zwischen Rundfunk und Presse machen. Diese Fälle sind wohl auch kaum das Anliegen derjenigen, die sich derzeit über die mangelnde Einhaltung der Programmgrundsätze durch (bestimmte) Rundfunkanstalten beklagen. Der Gegenstand der vorliegenden Fragestellung läßt sich daher auf ein umfassendes Ausgewogenheitsgebot von Rundfunkprogrammen reduzieren. Verstöße gegen diesen Grundsatz als solchen ziehen derzeit keine strafrechtlichen, sondern gegebenenfalls lediglich zivilrechtliche - speziell presserechtliche (Gegendarstellungsanspruch) - oder anstaltsinterne (Abberufung verantwortlicher Personen) Rechtsfolgen nach sich bzw. als äußerste Konsequenz die Folgen des Art. 18 G G (Verwirkung von Grundrechten). 3. Als letztes gilt es das Bezugsobjekt dieses umfassenden Ausgewogenheitsgebotes zu klären. [147] Damit stellt sich die eingangs (Abschnitt A I 3 e) angedeutete Frage, ob das Ausgewogenheitsgebot für jede Sendung oder Sendereihe, für einzelne Programmsparten oder für das Gesamtprogramm gilt. Das Bundesverfassungsgericht spricht von dem „Gesamtprogramm", für das ein Mindestmaß an inhaltlicher Ausgewogenheit gewährleistet sein müsse73. Das Sendeprogramm könne nicht in einzelne Teile zerlegt, sondern müsse als einheitliche Veranstaltung gesehen werden74, denn
75 74
BVerfGE 12, 263. BVerfGE 31, 326.
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auch die Art der Auswahl, Gestaltung und Zusammenstellung von Nachrichten, Kommentaren, politischen Sendereihen, Hör- bzw. Fernsehspielen, musikalischen Darbietungen usw. könne meinungsbildend wirken75. Danach gilt das Ausgewogenheitsgebot nicht für jede einzelne Sendung, sondern für das Gesamtprogramm 7 '. Auch die Mehrzahl der rundfunkrechtlichen Regelungen sieht das „Gesamtprogramm" oder die „Sendungen in ihrer Gesamtheit" als Bezugsobjekt des Ausgewogenheitsgebotes an77. Vereinzelt finden sich dagegen auch Regelungen, die das Ausgewogenheitsgebot auf die einzelnen Programmsparten beziehen78. Daß das Ausgewogenheitsgebot nicht für jede einzelne Sendung gelten kann, versteht sich von selbst. Dies wäre ein so massiver Eingriff in die journalistische Gestaltungsfreiheit, daß von einer solchen Gestaltungsfreiheit fast schon nicht mehr gesprochen werden könnte. Es würde jede Sendung unmöglich machen, in der bewußt zur Verdeutlichung eines Problems nur ein Aspekt ins Visier genommen wird. Es würde die Verflachung jeder journalistischen Brisanz bedeuten und wäre in der Realität auch gar nicht durchführbar, denn „Geschichte und Politik passieren nach allen anderen Gesetzen, sicherlich nicht nach dem der Ausgewogenheit" 7 '. Danach steht also fest, daß jedenfalls nicht die einzelne Sendung ausgewogen sein muß. Dabei ist freilich nicht zu verkennen, daß zahlreiche Pflichten, die sicherlich auch teilweise Elemente der Ausgewogenheit sind, aus ihrer Natur heraus gerade einzelne Sendungen betreffen; ζ. B. die Wahrheitspflicht; das Verbot diffamierender Äußerungen; das Verbot, wirtschaftlichen, politischen oder persönlichen Sonderinteressen zu dienen80. [148] So wäre es sicherlich unzulässig, wenn ein Journalist in einer Sendung zur unbedingten Befolgung eines Streikaufrufs riete (auch wenn in einer anderen Sendung ein anderer Journalist die Arbeitgeber zur Aussperrung aufruft), nicht aber, wenn er ζ. B. in einem Kommentar den Streik für gerechtfertigt hielte und möglicherweise auch seine persönliche Sympathie dafür bekunden würde. BVerfGE 31, 326. Vgl. auch: Hoffmann (Fn. 21), S. 50; Herrmann, Günter in: Der Programmauftrag des WDR, 1976, S. 71; Aufermann (Fn. 18), S. 309. 77 Vgl. z.B. Art.4 Abs.2 Zi. 1 des Bayr. Rundfunkgesetzes; §23 des Gesetzes über die Bundesrundfunkanstalten; III Zi. 5 der Programmrichtlinien für Sendungen des ZDF. 78 § 3 Abs. 1 S. 4 der Satzung des SFB; Zi. 1 Abs. 2 der Grundsätze über die Zusammenarbeit im ARD-Gemeinschaftsprogramm „Deutsches Fernsehen". Λ Vgl. Hoffmann (Fn.21), S.50f. 80 Vgl. z.B. § 2 Abs.6 des Gesetzes „Radio Bremen". 75
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Vorliegend wird allerdings das Wesen bzw. der Kern des Ausgewogenheitsgebotes verstanden als umfassende Meinungsvielfalt (Pluralität) und Chancengleichheit ohne Bevorzugung bestimmter Meinungen oder Interessen (Parität). Diese Pflicht kann nur auf das Gesamtprogramm bezogen werden. IV. Der Umfang einer in Aussicht genommenen Pönalisierung Es hat sich gezeigt, daß die hier interessierenden Fälle von Verstößen gegen die Programmgrundsätze derzeit strafrechtlich nicht erfaßt sind. Wir haben weiter gesehen, daß sich die ganz überwiegende Mehrheit dieser Fälle nicht als Verstöße gegen konkrete rundfunkrechtliche Ausfüllungsnormen darstellt, so daß sie von einer Pönalisierung von Verstößen gegen diese Ausfüllungsnormen nicht erfaßt würden. D. h. also, daß für eine in Aussicht genommene Pönalisierung von Verstößen gegen das Ausgewogenheitsgebot nicht auf vorhandene rundfunkrechtliche Vorschriften tatbestandlich Bezug genommen werden kann (z.B.: Wer gegen die Vorschrift des § . . . des . . . Gesetzes verstößt, wird . . . bestraft), sondern daß die zu pönalisierenden Verhaltensweisen tatbestandlich selbständig formuliert werden müßten. Jede Untersuchung über die Schaffung neuer Straftatbestände muß nun zwangsläufig mit der Überlegung beginnen, welche konkreten Lebenssachverhalte, d.h. welche Verletzungen welcher Schutzgüter man pönalisieren will. Hier ergeben sich nun wiederum zwei Möglichkeiten: Entweder versucht man, den gesamten vielschichtigen Problemkreis mit Hilfe mehr oder weniger unbestimmter Tatbestandsmerkmale in den Griff zu bekommen, auf die Gefahr hin, daß eine derartige Norm den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 G G nicht standhält; oder man reduziert das Problem auf eine kasuistische Aufzählung (die auch lediglich einen Fall umfassen kann) von Lebenssachverhalten, deren rechtsgutverletzender Charakter, deren Strafwürdigkeit und -bedürftigkeit auf der Hand liegen, jetzt aber auf die Gefahr hin, daß dieses Gesetz leerläuft, weil diese eindeutigen Fälle praktisch nicht vorkommen. Auf die vorliegende Fragestellung angewandt, bedeutet dies konkret folgendes: Man könnte den Grundsatz der Ausgewogenheit auf die Pluralität und [149] diese wiederum auf das Verbot der Einseitigkeit (vgl. oben A I 3 b) zurückführen. Danach wäre eine Strafnorm folgenden Inhalts denkbar: „Wer Rundfunkprogramme ausstrahlt, die bestimmt und geeignet sind, einseitig den Interessen einer Partei, eines Bekenntnisses, einer Weltanschauung, eines Berufsstandes, einer Interessengemeinschaft oder einer sonstigen Gruppe zu dienen und deren Ziele zu fördern, wird mit . . . bestraft."
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Die Einführung einer solchen Norm erübrigt sich aber, denn daß ein solcher Fall derzeit praktisch würde, ist gar nicht denkbar. Daher kann auch die Vereinbarkeit einer solchen Norm mit dem Bestimmungsgebot des Art. 103 Abs. 2 G G und den Grundrechten des Art. 5 G G hier dahinstehen. Vielmehr sind es ja die Grenzfälle äußerst subtiler Gleichgewichtsverschiebungen, die die Gemüter bei der Diskussion um mangelnde Ausgewogenheit von Rundfunkprogrammen erhitzen. Diese sind nicht mit einer kasuistischen Aufzählung zu erfassen. Es müssen zur Beschreibung des zu pönalisierenden Lebenssachverhalts daher allgemeine - auch unbestimmte - Begriffe herangezogen werden. O b und - wenn ja - wie es mit ihrer Hilfe möglich wäre, eine Strafnorm zu schaffen, die den strafrechtlichen sowie verfassungsrechtichen Anforderungen an eine Pönalisierung von Verhaltensweisen standhält, wird im folgenden zu untersuchen sein.
C. Grundsätze staatlicher Strafbefugnis Nachdem festgestellt worden ist, welche tatsächlichen Verhaltensweisen von der erwogenen Strafnorm erfaßt werden sollen, gilt es nunmehr zu prüfen, ob dem Gesetzgeber überhaupt die Befugnis zum Erlaß einer solchen Norm zusteht. Damit ist nicht etwa eine Befugnis im Sinne einer formellen Gesetzgebungskompetenz gemeint, sondern es geht um die materiellen Voraussetzungen, unter denen es dem Gesetzgeber gestattet ist, mit einer Kriminalstrafe in bestimmte Freiheitsräume einzugreifen. Denn nach heute ganz unbestrittener Auffassung ist der Gesetzgeber nicht frei in der Entscheidung, welche Lebenssachverhalte er pönalisieren will, sondern er ist dabei an ganz bestimmte verfassungsrechtliche Anforderungen gebunden81. [150] Im folgenden sollen diese Anforderungen kurz erläutert und anschließend jeweils daraufhin überprüft werden, ob sie bei der in Aussicht genommenen Strafnorm erfüllt wären.
81 Vgl. z.B. Hamann, Andreas: Grundgesetz und Strafgesetzgebung, 1963, S.25ff; Müller-Dietz, Heinz: Strafe und Staat, 1973, S.32 \Jescbeck, Hans-Heinrich: Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 1978, S. 2 f; Zipf, Heinz: Kriminalpolitik, 1973, S. 63 f, 66; Sax, Walter: Grundsätze der Strafrechtspflege, in: Bettermann-NipperdeyScheuner: Die Grundrechte, Bd. III/2, S. 909 (916); Günther, Hans-Ludwig: Die Genese eines Straftatbestandes, in: JuS 1978, 8 (8f); Gallwas, Hans-Ulrich: Strafnormen als Grundrechtsproblem, in: MDR 1969, 892 (893); W'oesner, Horst: Grundgesetz und Strafrechtsreform, in: NJW 1966, 1729 (1730). - A.A. noch RGZE 139, 177 (189); 118, 325 (327).
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I. Die Funktion des Strafrechts als Rechtsgüterschutzrecht Entscheidende Bedeutung bei der inhaltlichen Bestimmung staatlicher Strafbefugnis kommt der Funktion des Strafrechts zu. Nach heute wohl im wesentlichen einhelliger Meinung ist Aufgabe des Strafrechts der Rechtsgüterschutz82. Aus dieser Funktion heraus ist daher zu Beginn der Pönalisierungsiiberlegungen zunächst das zu schützende Rechtsgut zu bestimmen sowie anschließend dessen Stellenwert im sozialen Gefüge, denn nicht jedes Rechtsgut, sondern nur die sogenannten Grundwerte der Sozialordnung dürfen mit dem stärksten aller staatlichen Sanktionsmittel, der Kriminalstrafe, geschützt werden83. I. Danach spielt der Begriff des Rechtsgutes für die Bestimmung der Voraussetzungen staatlicher Strafbefugnis eine große Rolle, da eben nach ganz überwiegender Meinung nur ein solches Verhalten kriminalisiert werden darf, das Rechtsgüter - der Allgemeinheit oder des einzelnen - angreift84. Es würde den Rahmen dieses Gutachtens überschreiten, an dieser Stelle die verschiedenen Rechtsgutslehren erschöpfend zu behandeln85. Es kommt auch nicht so sehr darauf an, wie man den Begriff des Rechtsgutes nun im einzelnen definiert, ob als „rechtlich geschütztes Interesse"86, ob als „Lebensgüter, Sozialwerte und rechtlich anerkannte Interessen des einzelnen oder der Allgemeinheit"87 oder als „ideeller Wert der Sozialordnung"88. [151] Entscheidend ist im wesentlichen nur, ob man einen materiellen Rechtsgutsbegriff des Inhalts vertritt, das Rechtsgut sei ein dem Strafgesetzgeber vorgegebener sozialer Wert, oder ob man einem formellen Rechtsgutsbegriff folgt, nach dem erst der Gesetzgeber durch den Gesetzgebungsakt bestimme, welchem sozialen Wert der Rang eines geschützten Rechtsgutes zukomme89. 82 Baumann, Jürgen: Strafrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 1977, S. 9f; Wessels, Johannes: Strafrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 1978, S. 2; Günther (Fn. 81), S. 9; Lackner, Karl: § 13 StGB - eine Fehlleistung des Gesetzgebers?, in: Festschrift für Wilhelm Gallas, 1973, S. 117 (118); Rudolphi, Hans: Die verschiedenen Aspekte des Rechtsgutsbegriffs, in: Festschrift für Richard M.Honig, 1970, S.151 (151); Jescheck (Fn.81), S.5f. " Vgl. ζ. B. Jescheck (Fn. 81), S. 5; Peters, Karl: Die Beschränkung der Tatbestände im Besonderen Teil, in: ZStW 77 (1965), 470 (474); Welzel, Hans: Das Deutsche Strafrecht, II. Aufl. 1966, S.5. 84 Vgl. Günther (Fn. 81), S.9. 85 Vgl. dazu insbesondere Rudolphi (Fn. 82), S. 151 f; Marx, Michael: Zur Definition des Begriffs „Rechtsgut", 1972; Sax (Fn.81), S.911. 86 Vgl. Baumann (Fn. 82), S. 137. 87 Vgl. Wessels (Fn. 82), S.2. 88 Vgl. Jescheck (Fn.81), S.206. " Vgl. z.B. Günther (Fn.81), S.9; Rudolphi (Fn.82), S. 152ff.
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Allgemein wird heute ein eher materieller Rechtsgutsbegriff vertreten, nach welchem dem Strafgesetzgeber eine bestimmte Rechtsgüterordnung vorgegeben ist, die es dann gegebenenfalls mit den Mitteln der Kriminalstrafe zu schützen gilt90. Maßstab für die Festlegung dieser Rechtsgüterordnung sind die Wertentscheidungen des Grundgesetzes, die dann im einzelnen durch die Schutzordnung des Strafrechts konkretisiert werden". 2. Auf die Frage, welches Rechtsgut bzw. welche Rechtsgüter es mit dem Ausgewogenheitsgebot zu schützen gilt, gibt Art. 5 GG, im Hinblick auf den das Bundesverfassungsgericht das Ausgewogenheitsgebot postuliert hat, Auskunft: Diese Vorschrift enthält neben dem Zensurverbot vier verschiedene Grundrechte: 1. die Meinungsfreiheit, 2. die Informationsfreiheit, 3. die Pressefreiheit sowie 4. die Rundfunkfreiheit. Als Schutzgüter kommen hier die Informations- und die Rundfunkfreiheit in Betracht. Das Bundesverfassungsgericht hat seine von ihm aufgestellten Anforderungen an Organisation und Programmgestaltung von Rundfunkanstalten mit der Verwirklichung und Aufrechterhaltung der Rundfunkfreiheit begründet' 2 . Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG gewährleiste eine institutionelle Freiheit des Rundfunks. Diese aufrechtzuerhalten und die Freiheit der Berichterstattung zu sichern, erfordere es, Vorkehrungen zu treffen, um den Rundfunk von Beeinflussung durch bestimmte Interessengruppen freizuhalten und demgegenüber die Einflußnahme aller in Betracht kommenden Kräfte auf den Rundfunk sicherzustellen'3. Das Bundesverfassungsgericht gründet seine Argumentation auf die Begrenztheit der technischen Möglichkeiten im Rundfunkbereich (begrenzte Anzahl vorhandener Sendefrequenzen) und den außergewöhnlich großen finanziellen Aufwand für die Veranstaltung von Rundfunkdarbietungen, [152] die es nicht jedem beliebigen gestatteten, Rundfunkdarbietungen zu veranstalten; daher - so das Bundesverfassungsgericht - müsse eben der angemessenen anteiligen Heranziehung aller am Rundfunk Interessierten Genüge getan werden'4. Nach allem sprechen die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts dafür, daß es dem Gericht mit dem Ausgewogenheitspostulat in 90 Vgl. z.B. Jescheck (Fn.81), S.206; Rudolphi (Fn.82), S. 157; Otto, Harro: Die strafrechtliche Bekämpfung unlauterer Einflußnahmen auf öffentliche Versteigerungen, in: NJW 1979, 681 (683); Jäger, Herbert: Strafgesetzgebung und Rechtsgüterschutz bei Sittlichkeitsdelikten, 1957, S.21; Marx (Fn.85), S. 17. 91 Vgl. ζ. B. Sax (Fn. 81), S. 911 f; Peters (Fn. 83), S. 474 f; Zipf (Fn. 81), S. 64; Rudolphi (Fn. 82), S. 161 ; Hamann (Fn. 81), S. 25. 92 BVerfGE 12, 261; 31, 326. " BVerfGE 12, 261; 31, 326. « BVerfGE 12, 261 f.
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erster Linie nicht um den Rezipientenschutz ging, sondern um den Schutz „aller am Rundfunk Interessierten"95, also all derjenigen, die an dem begrenzten Angebot „Rundfunk" teilhaben und in den jeweiligen Programmen ihre Interessen zu Gehör bringen wollen. Es ging also um die Sicherung eines „freien" - im Sinne von nach allen Seiten offenen Rundfunks. Schutzgut des Ausgewogenheitspostulats wäre demnach die Rundfunkfreiheit. Nun hat freilich die inhaltliche Gestaltung von Rundfunkprogrammen auch Auswirkungen auf die Informationsfreiheit des Bürgers. Ein ausgewogenes Programm fördert sie; ein einseitig ausgerichtetes beschneidet sie oder erschwert sie zumindest. Dabei könnte es sich jedoch um eine Art Reflexwirkung handeln", da Rundfunk- und Pressefreiheit ja eigentlich Voraussetzungen der Informationsfreiheit sind. Nach Herzog ist die Informationsfreiheit - wie die Meinungsäußerungsfreiheit - lediglich ein Abwehrrecht in klassischem Sinne. Sie gebe dem Bürger keinen Anspruch auf bestimmte oder bestimmt geartete Informationsquellen. Lediglich dann, wenn auf andere Weise eine auf objektiver Information beruhende öffentliche Meinungsbildung nicht sichergestellt sei, sei der Staat infolge des Demokratieprinzips zur Schaffung und Ausgestaltung von Informationsquellen berechtigt und verpflichtet'7. Nach dieser Ansicht ließe sich das Ausgewogenheitsgebot für · Rundfunkprogramme wohl nicht mit der Informationsfreiheit begründen. Anderer Ansicht ist insoweit Geiger, der die Auffassung vertritt, der Staat sei von Verfassungs wegen verpflichtet, alles ihm Mögliche zu tun, um auf dem Feld der Telekommunikation die Möglichkeiten zu erweitern, zu erleichtern, zu verbessern, damit sich der Bürger nach eigener Wahl objektiv und zuverlässig informieren könne98. Geiger stellt damit im wesentlichen auf die Informationsfreiheit des Bürgers ab. Bezogen auf die Informationsfreiheit des Bürgers müßte das Ausgewogenheitsgebot [153] u.E. dann aber auch für die Presse gelten, besonders dort, wo eine bestimmte Presse infolge einer Pressekonzentration ein faktisches Monopol innehat. Wenn das rundfunkrechtliche Ausgewogenheitsgebot auf jeden einzelnen Sender bezogen wird, weil dem Bürger nicht zugemutet werden könne, eine Vielzahl von einseitigen Programmangeboten auf verschiedenen Kanälen zu verfolgen99, 95
BVerfGE 12, 262. Vgl. allgemein zu der Möglichkeit von Reflexwirkungen im Rechtsgüterbereich des Strafrechts: Burgstaller, Manfred: Zur Einwilligung im Strafrecht, in: ÖRZ 1977, 1 (2). 97 Maunz-Dürig-Herzog-Scholz: Kommentar zum Grundgesetz, 4. Aufl. 1978, Rdz.101 zu Art. 5 GG. '« Geiger (Fn. 20), S.258. 99 Vgl. z.B. Aufermann (Fn. 18), S.310. %
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dann müßte die gleiche Argumentation u. E. auch für die Tagespresse gelten, da sicherlich die Mehrzahl aller Bürger wohl nur eine und wohl auch immer dieselbe Tageszeitung liest. Wir möchten sogar annehmen, daß die Mehrzahl der Bürger täglich mehr unterschiedliche Rundfunkund Fernsehprogramme als Presseerzeugnisse konsumiert. Das Ausgewogenheitsgebot auch auf die Presse zu übertragen, das hat jedoch noch niemand gefordert. Hinzu kommt, daß die Informationsfreiheit zur Begründung des rundfunkrechtlichen Ausgewogenheitsgebots auch nur im Bereich der echten Information herangezogen werden kann. Ausgewogenheit gilt aber für den gesamten Programmbereich, also auch für den Unterhaltungsbereich100. Es ist jedoch nur schwer ersichtlich, wie man Ausgewogenheit im Unterhaltungsprogramm mit dem Grundrecht des Bürgers auf Informationsfreiheit begründen könnte. Und eine Grenze zu ziehen zwischen Information und reiner Unterhaltung, dürfte schwer, wenn nicht oft überhaupt unmöglich sein. Nach alledem erscheint uns das Postulat der Ausgewogenheit von Rundfunkprogrammen lediglich mit der Rundfunkfreiheit begründbar. Dabei wird allerdings nicht die Schwierigkeit verkannt, Rundfunk- und Informationsfreiheit im Bereich der Rundfunkprogrammgestaltung überhaupt zweifelsfrei voneinander zu trennen. Geht man nämlich davon aus, daß Rundfunk- und Pressefreiheit nicht als Selbstzweck garantiert sind, sondern als Faktoren des für ein demokratisches Gemeinwesen unerläßlichen demokratischen Meinungsbildungsprozesses101, dann zeigt sich, daß die Freiheit von Presse und Rundfunk als den heutzutage wichtigsten Quellen öffentlicher Information ihrerseits nur auf die Informationsfreiheit bezogen werden kann, daß also Regeln zum Schutz dieser Freiheiten zugleich auch die Informationsfreiheit schützen. Aus dieser engen Beziehung heraus kann wohl auch die Informationsfreiheit trotz aller Bedenken dem Ausgewogenheitsgebot - über die Wirkung eines bloßen Rechtsreflexes hinaus - als Schutzgut zugeordnet werden. Aus der vorgeschilderten Problematik heraus ergeben sich für die Lösung unserer Frage schon folgende Bedenken: Die dem Gutachten vorgegebene Fragestellung zielt unter dem Stichwort „Verbraucherschutz" allein [154] auf den Rezipientenschutz, also die Informationsfreiheit, ab. Vertritt man nun die Ansicht, Schutzgut des Ausgewogenheitsgebotes sei lediglich die Rundfunkfreiheit und der Schutz der Informationsfreiheit stelle sich als bloßer Reflex dar, dann käme eine
100 101
Vgl. Aufermann (Fn.18), S.312Í. Vgl. BVerfGE 12, 260.
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Pönalisierung - jedenfalls unter dem Gesichtspunkt des Rezipientenschutzes - nicht in Betracht. In diesem Zusammenhang sei auf folgendes hingewiesen: Die hier untersuchten Programmgrundsätze sind vom Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung aufgestellt worden, in der es um die Verfassungsmäßigkeit einer allein in staatlicher Hand befindlichen Fernsehanstalt ging. Das Gericht hatte sich daher vornehmlich mit der Frage auseinanderzusetzen, wer Rundfunk betreiben darf, wie eine Rundfunkanstalt organisiert zu sein hat und wer alles am Rundfunk zu beteiligen ist. Das Gericht brauchte sich also im wesentlichen nur mit der Rundfunkfreiheit zu befassen. Wenn indessen heute von dem Ausgewogenheitsgebot die Rede ist, wird dieses nahezu ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des Rezipientenschutzes diskutiert. Die ursprünglich zum Schutz der Rundfunkfreiheit aufgestellten Grundsätze sind dabei automatisch auf den Schutz der Informationsfreiheit übertragen worden. Ob dies dogmatisch zulässig ist, bedürfte wohl einer eingehenderen Prüfung, als sie an dieser Stelle möglich ist. Für die erwogene Strafnorm sollen daher im folgenden beide Rechtsgüter — sowohl die Rundfunk- als auch die Informationsfreiheit - in Betracht gezogen werden. Diese könnten durch Verstöße gegen das Ausgewogenheitsgebot zumindest gefährdet werden. Daß es sich zudem bei Rundfunk- und Informationsfreiheit um elementare und daher mit staatlichen - notfalls auch mit strafrechtlichen - Mitteln zu schützende Rechtsgüter handelt, versteht sich von selbst und bedarf keiner weiteren Ausführungen. II. Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit als Voraussetzungen staatlicher Pönalisierungsbefugnis Die Feststellung der Verletzung oder Gefährdung eines schützenswerten Rechtsgutes reicht für sich allein genommen jedoch noch nicht für die Zulässigkeit einer Pönalisierung aus. Fest steht, daß nicht jede Verletzung oder Gefährdung eines Rechtsgutes pönalisiert werden darf102. Dies ist vielmehr nur dort zulässig, wo es zum Schutz der Gesellschaft unvermeidlich ist103. [155] Die Frage nach den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Voraussetzungen der Pönalisierung bestimmter rechtsgutverletzender oder -gefährdender Verhaltensweisen versucht man heute mit zwei zentralen Begriffen zu beantworten: 102 103
Vgl. ζ. B. Jescheck (Fn. 81), S.2f; Müller-Dietz (Fn. 81), S. 32; Sax (Fn. 81), S. 916. Vgl. BVerfGE 39, 1 (47); Müller-Dietz (Fn.81), S. 32f; Jescheck (Fn.81), S.3.
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1. der Strafwürdigkeit, 2. der Strafbedürftigkeit"*.
1. Strafwürdigkeit im Sinne des Strafe-Verdienens bedeutet nach Sax die Feststellung, daß der Unwertgehalt eines gemeinschaftsstörenden Verhaltens hinreichend massiv sei, um zu dem erheblichen Maß an Unwert, das dem Handelnden durch Bestrafung bescheinigt werde, in eine erträgliche Proportion zu treten105. Mit dem Begriff der Strafwürdigkeit soll also versucht werden, die verfassungsrechtlichen Grenzen strafrechtlichen Unrechts zu ziehen106; es sollen damit diejenigen Verhaltensweisen bestimmt werden, die das in jeder Strafnorm liegende sozialethische Unwerturteil verdienen107. Strafwürdigkeit bedeutet danach ein sozialethisch zu mißbilligendes Verhalten, ein gemeinschaftswidriges und sozialschädliches Verhalten108. Strafwürdig ist ein Verhalten, das nach seinem Unrechtsgehalt und dem Maß seiner Sozialschädlichkeit besonders massiv und gravierend ist109, das eine grobe Störung oder Belästigung der sozialen Ordnung darstellt110, das eine empfindliche Störung des Rechtsfriedens bedeutet und ein unerträgliches Beispiel im Sozialleben darstellt111. Müller-Emmert umschreibt das wesentliche Element der Strafwürdigkeit, die Sozialschädlichkeit, wie folgt: Sozialschädlich, weil die Bedingungen menschlichen Zusammenlebens störend, seien Handlungen, die die Existenz des Staates - nach innen wie nach außen - selbst bedrohten, die rechtlich geregelten Funktionsabläufe der Daseinsvorsorge im weitesten Sinne störten oder in die individuellen Interessen eingriffen und damit das Nebeneinander der Interessen aus dem Gleichgewicht brächten112. [156] Dies alles zeigt, daß die Frage nach der Strafwürdigkeit eines Verhaltens im wesentlichen eine Frage nach seiner Sozialschädlichkeit ist113. 104
Vgl. z.B. Müller-Dietz (Fn.81), S.32; Günther (Fn.81), S . l l f ; Stratenwerth, Günter: Objektive Strafbarkeitsbedingungen im Entwurf eines Strafgesetzbuches 1959, in: ZStW 71 (1959), 565 (567); Gallwas (Fn.81), S.894; Woesner (Fn.81), S. 1730; Sax (Fn.81), S.924, der sich insoweit - allerdings nur terminologisch - unterscheidet, als er Strafwürdigkeit als Oberbegriff des „Strafe-Verdienens" und „Strafe-Bedürfens" auffaßt. 105 Sax (Fn.81), S.927. 106 Vgl. Gallwas (Fn.81), S.894. 107 Vgl. BVerfGE 27, 18 (29). 108 Vgl. Müller-Dietz (Fn.81), S.34. 109 Vgl. Günther (Fn.81), S.12. 110 Vgl. BGHStE 24, 318 (319). 111 Vgl. Schmidhausen Eberhard: Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1975, S. 29. 112 Müller-Emmert, Adolf: Sozialschädlichkeit und Strafbarkeit, in: GA 1976, 291 113
Vgl. zum Begriff der Sozialschädlichkeit auch: Gallas, Wilhelm: Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968, S. 16; Badura, Peter, in: Protokolle des Sonderausschusses für Strafrechtsreform, VI.WP, 30.Sitzung, S. 1091 (1092); Ermecke, in: Protokolle des Son-
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Diese wiederum zu bestimmen, ist ein Vorgang des Bewertens114, wobei der Grad der Sozialschädlichkeit, jenseits dessen die Strafwürdigkeit zu bejahen ist, nicht genau bestimmt werden kann, dem Gesetzgeber also insoweit ein Beurteilungsspielraum verbleiben muß115. Es braucht hier nicht abschließend untersucht zu werden, inwieweit und wann Verstöße gegen das Ausgewogenheitsgebot diesen Grad an Sozialschädlichkeit erreichen; denn es wird sich später zeigen, daß eine solche Strafnorm noch aus anderen Gründen unzulässig wäre. Daher genügt es, an dieser Stelle auf folgendes hinzuweisen: Es hieße das Problem verkennen, wollte man für die Beurteilung der Sozialschädlichkeit auf die tatsächlich gesendeten Programminhalte abstellen, denn für die Frage der Sozialschädlichkeit kommt es auf die Gefährdung oder Verletzung der geschützten Rechtsgüter an116. Dies zeigt sich besonders deutlich bei folgenden Überlegungen: Würde man in unserem Falle auf die Sozialschädlichkeit der Sendeinhalte abstellen, dann käme man - außer in den Fällen der eklatanten Sozialschädlichkeit eines indoktrinierenden Tendenzrundfunks (Beispiel: die Rundfunksender in der DDR) - nur schwer zu einem solchen Urteil. Denn in den allein praktischen zahlreichen schwierigen Grenzfällen der Auswahl und Darstellung von Informationen und Meinungen würde ein unterschiedloses Operieren mit den Begriffen der Sozialschädlichkeit und der sozialethischen Mißbilligung dann auf erhebliche Bedenken stoßen: Vom Programminhalt her wäre es beispielsweise schon im politischen Bereich höchst fraglich, ob mit einem „sozialethischen Unwerturteil" belegt werden könnte, wenn etwa eine Rundfunkanstalt einseitig auf Oppositionskurs gegenüber der Regierung gehen oder - der umgekehrte Fall - einseitig mit ihr sympathisieren würde. Noch deutlicher würde dies im Falle eines unausgewogenen Programms im außerpolitischen, also im kulturellen, religiösen etc. Bereich; hier ist es nur schwer vorstellbar, ein etwa einseitig auf eine Konfession ausgerichtetes Programm als „sozialschädlich" zu bezeichnen. Darauf kommt es jedoch - wie gesagt - nicht an. Es geht bei der Frage [157] nach der Sozialschädlichkeit vornehmlich um die durch die Tathandlung betroffenen Rechtsgüter·. Stellt man auf die Rundfunkfreiheit als Schutzgut des Ausgewogenheitsgebotes ab, so wird dann, wenn beispielsweise „gesellschaftlich derausschusses für Strafrechtsreform, VI.WP, 30.Sitzung, S. 1055 (1057 ff) ; Woesner (Fn. 81), S. 1730. 114 Vgl. Sax (Fn. 81), S.923. 115 Vgl. Günther (Fn. 81), S. 13; Badura (Fn. 113), S. 1095. 116 Vgl. dazu: Ermecke (Fn.113), S. 1058; Woesner (Fn.81), S.1730; Müller-Emmen (Fn. 112), S. 293.
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relevante" Gruppen von einer Einflußnahme auf die Programminhalte ausgeschlossen werden, in deren Recht auf Teilhabe an der Institution „Rundfunk" in sozial-relevanter Weise eingegriffen, ohne daß es auf die Frage der konkreten gesendeten Programminhalte ankäme. Eine solche Handlungsweise würde sicherlich, insbesondere unter Berücksichtigung der vom Bundesverfassungsgericht normierten Grundsätze zur Rundfunkfreiheit, ein sozialwidriges Verhalten darstellen. Stellt man auf die Informationsfreiheit als Schutzgut ab, so geht es bei der Ausgewogenheit darum, dem Bürger die für eine Demokratie unverzichtbare objektive Information zu sichern, ohne die eine freie Meinungsbildung nicht möglich ist. In diese Informationsmöglichkeit wird durch einseitige, unausgewogene Rundfunkprogramme eingegriffen, ohne daß es darauf ankäme, was einseitig gesendet wird. Daß ein solcher Eingriff in die Informationsmöglichkeiten sozialwidrig sein kann, ist offenkundig. Dies trifft indessen nur für die Programminhalte zu, die der Information dienen. Im Unterhaltungsbereich müßte die Frage der Sozialschädlichkeit wohl verneint werden, denn ein Recht des Bürgers auf ausgewogene Unterhaltung kann - wie bereits erwähnt (oben C 12) wohl mit der Informationsfreiheit nicht begründet werden. Zum großen Teil wird es jedoch bei der Frage nach der Sozialschädlichkeit von Verstößen gegen das Ausgewogenheitsgebot um Maßfragen gehen, nämlich darum, von welchem Ausmaß des Eingriffs an die Grenze zur Sozialschädlichkeit überschritten ist. In diesen Grenzfragen aber einen Konsens über das Unwerturteil „sozialschädlich" zu erzielen, dürfte äußerst schwierig sein, weil mit Sicherheit - je nach der interessenspezifischen Ausrichtung - die Meinungen differieren werden117. Eindeutig ist ζ. B. das Urteil der Sozialschädlichkeit in den Fällen einer eklatanten Meinungsmanipulation, wenn etwa vor Wahlen eine Rundfunkanstalt bewußt falsche Informationen ausstrahlen würde, um das Wahlergebnis für die von ihr favorisierte Partei günstig zu gestalten. Die Sozialwidrigkeit ist aber nur selten so offenkundig; sie in den früher erwähnten Grenzfällen zu bestimmen, dürfte überaus schwierig sein. 2. Neben der Strafwürdigkeit müßte weiterhin noch die Strafbedürftigkeit als Voraussetzung für eine Pönalisierung bejaht werden können. Strafbedürftigkeit ist die Kurzbezeichnung für die Beurteilung, daß bei Verhaltensweisen, die unmittelbar oder mittelbar Werte verletzen und [158] daher an sich Strafe verdienen, Strafe auch wirklich das einzige Mittel ist, um die Gemeinschaftsordnung hinreichend zu schützen118. 117 Vgl. zur Notwendigkeit eines Konsenses über die Sozialschädlichkeit bestimmten Verhaltensweise: Müller-Dietz (Fn. 81), S.24, 26. 1,8 Vgl. Sax (Fn. 81), S.925.
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Dieses Urteil gründet sich nach Sax vorwiegend auf kriminologische Tatsachenforschungen, die erkannt hätten, daß diese Verletzungshandlungen wegen ihrer Häufigkeit, Nachhaltigkeit und Schädlichkeit ein kriminalpolitisches Problem darstellten1". Mit dem Begriff der Strafbedürftigkeit ist also die ultima-ratio-Funktion des Strafrechts oder - anders ausgedrückt - dessen Subsidiarität gegenüber anderen Sanktionsmöglichkeiten angesprochen120. Schließlich darf eine Strafnorm auch nicht mehr Schaden als Nutzen stiften121. An diesem Punkt ergeben sich weitere Bedenken; denn derzeit spricht noch nichts dafür, daß die Einhaltung des Ausgewogenheitsgebotes nur noch mit strafrechtlichen Mitteln erreicht werden könnte, daß z.B. die wirksame Ausübung der anstaltsinternen Kontrolle oder ein Ausbau dieser Kontrollmechanismen nicht ausreiche. Zudem sind die Gefahren, die sich für die Programmgestaltungsfreiheit der Rundfunkanstalten ergeben, so augenfällig, daß auch unter Berücksichtigung des MehrSchaden-als-Nutzen-Prinzips Zweifel an der Zulässigkeit einer solchen Norm auftreten müssen. Alle diese hier nur kurz angedeuteten Bedenken sind u. E. so erheblich, daß man schon an dieser Stelle die Zulässigkeit einer Pönalisierung nach dem Grundsatz „in dubio pro liberate" verneinen könnte122. Da diese Bedenken jedoch - je nach dem rechtstheoretischen Ausgangspunkt - möglicherweise unterschiedlich beurteilt werden können und zudem auch keine abschließende Antwort auf die gestellte Frage erlauben, ist es erforderlich, die Untersuchung zur Pönalisierbarkeit von Verstößen gegen das Ausgewogenheitsgebot noch auf weitere Überlegungen auszudehnen.
D. Die Bestimmbarkeit des erwogenen Straftatbestandes Nachdem wir Inhalt, Umfang und Grenzen der in Aussicht genommenen Pönalisierung erörtert haben, wenden wir uns nunmehr der konkret [159] zu schaffenden Strafnorm zu. Dabei sollen, nachdem wir (unter C I 2) bereits ausführlich das mögliche Rechtsgut bestimmt haben, im folgenden nur diejenigen Elemente im Aufbau eines Delikts Sax (Fn. 81), S.925. Vgl. Müller-Dietz (Fn.81), S.33; Günther (Fn.81), S. 11; Sax (Fn.81), S.925; Jescheck (Fn.81), S.3; Hanack, Emst-Walter: Zur Revision des Sexualstrafrechts in der Bundesrepublik Deutschland, 1969, S.38; BVerfGE 39, 47. 121 Vgl. z. B. Baumann (Fn. 82), S. 3; Hanack (Fn. 120), S. 38. 122 Vgl. allgemein zum Grundsatz „in dubio pro liberate": Müller-Dietz (Fn.81), S.40ff; Günther (Fn.81), S. 10; Lenckner, Theodor: Strafgesetzgebung in Vergangenheit und Gegenwart, in: Tübinger Festschrift 1977, S.239 (251). 120
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näherer Prüfung unterzogen werden, deren Bestimmbarkeit in diesem Zusammenhang problematisch erscheint. Es sind dies der Adressat der Norm (Täterkreis), die Tathandlung sowie das Verschulden. I. Der Adressat der Norm Bei der Frage nach dem Täterkreis, also den möglichen Normadressaten, unterscheidet man - soweit hier von Bedeutung - die allgemeinen und die Sonderdelikte. Bei den allgemeinen Delikten kann jedermann der Täter sein {„Wer stiehlt, wird bestraft"); bei den Sonderdelikten kommen nur besonders bezeichnete Personen als Täter in Betracht (ζ. B. Amtsträger, Rechtsanwälte etc.)123. Da sich das rundfunkrechtliche Ausgewogenheitsgebot nicht an jedermann richtet, sondern Adressat dieses Gebotes nur bestimmte, im Rundfunkbereich verantwortliche Personen sein können (was im einzelnen sogleich noch genauer untersucht werden wird), kann es sich bei der in Aussicht genommenen Strafnorm nur um ein Sonderdelikt handeln. Den Kreis der möglichen Täter eines solchen Sonderdelikts gilt es im folgenden zu bestimmen. Dabei hängt die Frage, wer als Adressat der erwogenen Strafnorm in Betracht kommt, davon ab, wer überhaupt Adressat des Ausgewogenheitsgebotes ist; denn nur der kann wegen einer Verletzung dieses Gebotes bestraft werden, der verpflichtet ist, ihm Folge zu leisten. 1. Adressat des Ausgewogenheitsgebotes ist zunächst einmal der institutionelle Rundfunkveranstalter, also die juristische Person des öffentlichen Rechts selbst124. Es fragt sich aber, ob diese auch als Adressat einer entsprechenden Strafnorm in Betracht kommt. a) Nach heute im wesentlichen gefestigter Auffassung kommt den juristischen Personen im deutschen Kriminalstrafrecht keine Deliktsfähigkeit zu (societas delinquere non potest)125, wobei im wesentlichen nur noch streitig ist, ob dies auf der Handlungsunfähigkeit oder der Schuldunfähigkeit der juristischen Person beruht126. [160] * Die Frage der Strafbarkeit der juristischen Personen war auch ein Gegenstand der Erörterungen des 40. Deutschen Juristentages 1953 in Vgl. statt aller: Jescbeck (Fn.81), S.213. Vgl. Aufermann (Fn. 18), S.311. 125 Vgl. R G S t E 47, 90 (91); BVerfGE 20, 323 (336); Blei, Hermann: Strafrecht, Allgemeiner Teil, 17. Aufl. 1977, S. 67; Maurach-Zipf: Strafrecht, Allgemeiner Teil, T e i l b d . l , 5. Aufl. 1977, S. 192f; Jescbeck (Fn.81), S. 180f; Baumann (Fn.82), S . 1 9 8 f ; Schönke-Schröder-Cramer: Kommentar zum Strafgesetzbuch, 19. Aufl. 1978, Vorbem. §§25 ff, Rdn.89. 126 Vgl. dazu Baumann (Fn. 82), S. 198, mit umfassenden Nachweisen. 125 124
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Hamburg127. Auch dort ist es abgelehnt worden, die Strafbarkeit auf juristische Personen auszudehnen128. Es scheint daher entbehrlich, diese Frage hier erneut zu vertiefen. b) Anders ist die Rechtslage im Bereich des Ordnungswidrigkeitenrecbts129. Nach § 30 O W i G ist es möglich, unter ganz bestimmten Voraussetzungen gegen juristische Personen eine Geldbuße - sei es als Nebenfolge eines schuldhaften Verhaltens ihrer Organe (Abs. 1), sei es als selbständige Buße (Abs. 4) - festzusetzen. Nach Göbler soll diese Vorschrift ihrem Wortlaut nach auch auf juristische Personen des öffentlichen Rechts anwendbar sein130; jedoch werde es nach dem Zweck, der mit der Verhängung von Geldbußen gegen juristische Personen erstrebt werde, nur selten - wenn überhaupt - in Betracht kommen, eine solche Sanktion gegen juristische Personen des öffentlichen Rechts festzusetzen131. Uns scheint die Verhängung einer Geldbuße gegen die juristische Person als solche hier schon aus einer ganz praktischen Überlegung nicht in Betracht zu kommen: Die Rundfunkanstalten finanzieren sich im wesentlichen aus den Gebühren der Rundfunkempfänger. Es kann daher nicht sinnvoll sein, eine auf den „Verbraucherschutz" angelegte Norm mit einer Geldbuße zu bewehren, die dann mit den von diesen „Verbrauchern" aufgebrachten finanziellen Mitteln beglichen wird. Im Ergebnis bleibt also festzuhalten, daß die Verhängung einer Kriminalstrafe oder einer Geldbuße gegen die Rundfunkanstalt als solche nicht in Betracht kommt. Die Anstalt scheidet daher als Adressat der erwogenen Norm aus. 2. Wenden wir uns nun den natürlichen Personen innerhalb der Rundfunkanstalt zu und versuchen wir, hier den möglichen Täterkreis zu bestimmen. Da eine juristische Person nicht als solche, sondern nur durch ihre Organe den ihr obliegenden Pflichten nachkommen kann132, ist nun-
127 Vgl. das Gutachten von Heinitz (Teil E Bd. I der Verhandlungen des 40. DJT, S. 65 ff) und die Referate von Engisch und Härtung (Teil E Bd. II der Verhandlungen des 40. DJT, S. 7 ff, S. 43 ff). 128 Vgl. Beschluß Bd. II der Verhandlungen des 40. DJT, Teil E, S. 88. 129 Vgl. z.B. Jescheck (Fn.81), S. 181. 130 Göhler, Erich: Kommentar zum Ordnungswidrigkeitengesetz, 5. Aufl. 1977, §30 Anm. 1A; vgl. auch OLG Frankfurt NJW 1976, 1276. 131 Göhler (Fn. 130), §30, Anm. 1A; Pohl-Sichtermann, Rotraut: Die von §26 OWiG betroffenen Verbände und Personen, in: VOR 1973, 411 (415), die die Anwendbarkeit dieser Vorschrift (heute §30 OWiG) auf juristische Personen des öffentlichen Rechts überhaupt ablehnt; vgl. jedoch OLG Frankfurt NJW 1976, 1276. 132 Vgl. Jescheck (Fn.81), S. 181.
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mehr [161] zu prüfen, wer innerhalb der juristischen Person zur Sicherung der Programmausgewogenheit verpflichtet ist. Es stellt sich hier also die Frage nach den für die Programminhalte verantwortlichen Personen. Da wir oben (B III 3) das Bezugsobjekt des Ausgewogenheitsgebots nicht in der einzelnen Sendung, sondern im „Gesamtprogramm" gesehen haben, kann nicht der für die einzelne Sendung verantwortliche Journalist oder Redakteur aus dem Ausgewogenheitsgebot verpflichtet sein, sondern nur eine Person mit gehobener Programmverantwortung. Auf den ersten Blick scheint diese Frage nach der Programmverantwortung im Rundfunkbereich einfach zu beantworten zu sein. Denn nach allen Rundfunkgesetzen trägt übereinstimmend der Intendant die Verantwortung für das Gesamtprogramm133. Es liegt danach nahe, ihn auch als Adressaten des Ausgewogenheitsgebotes anzusehen. a) Erste Schwierigkeiten tauchen aber schon bei dem 1. Deutschen Fernsehen, dem Gemeinschaftsprogramm der ARD, auf134. Gemäß den „Grundsätzen für die Zusammenarbeit im ARD-Gemeinschaftsprogramm" richtet sich die Programmverantwortung der einzelnen Intendanten nach den jeweiligen landesrechtlichen Regelungen. Diese enthalten, wie wir oben ( A l l e ) gesehen haben, Vorschriften, die ausdrücklich oder sinngemäß das Gebot der inhaltlichen Ausgewogenheit für das gesamte von der jeweiligen Rundfunkanstalt ausgestrahlte Programm normieren. Bedeutet dies nun, daß der Anteil jeder Rundfunkanstalt am Gemeinschaftsprogramm ausgewogen sein muß (und das auch noch nach Programmsparten, vgl. Nr. 1 Abs. 2 der „Grundsätze über die Zusammenarbeit im ARD-Gemeinschaftsprogramm")? Daß dies bei einem Programmanteil des Senders am Gemeinschaftsprogramm von 3 % (Radio Bremen, Saarl. Rundfunk) oder 8 % (SFB, Hess. Rundfunk, Süddt. Rundfunk)135 gar nicht möglich sein wird, liegt auf der Hand. Hinzu kommt, daß der einzelne Intendant ja wenig Einfluß darauf hat, wann eine bestimmte von seinem Sender angebotene Sendung im Gemeinschaftsprogramm gesendet wird. Daß aber der Zeitpunkt einer Sendung für die Frage der Ausgewogenheit erhebliche Bedeutung haben
153 Vgl. z.B. Art. 12 Abs.2 des Bayr. Rundfunkgesetzes; §16 Abs.2 des Hess. Rundfunkgesetzes; § 13 Abs.4 des Gesetzes „Radio Bremen"; §27 Abs. 1 des Saarl. Rundfunkgesetzes; §11 des SFB-Gesetzes etc. 134 Vgl. auch Ossenbühl, Fritz: Rundfunkprogramm - Leistung in treuhänderischer Freiheit, in: Jahrbuch der Gesellschaft für Rechtspolitik, 1977. 135 Vgl. Zi. 5 der „Verwaltungsvereinbarung der Landesrundfunkanstalten über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Fernsehens".
Programmgrundsätze für Rundfunk- und Fernsehanstalten
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kann, ist oben (A I 3 e) schon angedeutet worden und wird später noch näher erläutert werden. Das Fernsehgemeinschaftsprogramm erarbeitet die aus den Intendanten der beteiligten Rundfunkanstalten oder deren Vertretern bestehende [162] Programmkonferenz136. Diese legt auch die Sendetermine fest137. Sie kann Programmvorschläge der einzelnen Rundfunkanstalten ablehnen138. Ihre Beschlüsse faßt die Programmkonferenz mit einfacher Mehrheit139. Geht man nun davon aus, daß sich das Ausgewogenheitsgebot nicht auf die einzelne, von einer bestimmten Sendeanstalt beigesteuerte Sendung bezieht, sondern - wie man es richtigerweise tun muß - auf das Gemeinschaftsprogramm als solches, so enden hier die Überlegungen bezüglich der Strafbarkeit des Adressaten des Ausgewogenheitsgebotes: Strafrechtliche Verantwortlichkeit ist stets Individualverantwortlichkeit140. Es gibt keine (globale) „Gremienstrafbarkeit". Daher ist es undenkbar, eine Strafnorm an ein Gremium als solches zu adressieren, das seine Entscheidungen durch Abstimmung trifft. Bliebe zu prüfen, ob der einzelne Intendant als Mitglied der Programmkonferenz wegen seiner in diesem Gremium getroffenen Entscheidung strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden könnte. Dies wirft die Frage der Nachweisbarkeit einer entsprechenden Tathandlung auf. Stimmt nämlich die Programmkonferenz geheim ab, so kann sich - abgesehen von den Fällen der Einstimmigkeit - jeder Intendant darauf berufen, er habe dagegen gestimmt. Dem einzelnen wird in der Regel das Gegenteil nicht zu beweisen sein, so daß jedes Mitglied der Programmkonferenz im Falle einer möglichen Anklage nach dem Grundsatz „in dubio pro reo" freizusprechen wäre. Damit erweist sich eine gegen die Intendanten als Mitglieder der Fernsehprogrammkonferenz gerichtete Strafnorm als wenig praktikabel. Das Wesen des Rundfunks besteht jedoch nicht nur im Erstellen von Programmen, sondern auch im Ausstrahlen derselben. Diese sogenannte „Ausstrahlungsverantwortlichkeit"141 liegt auch beim ARD-Gemeinschaftsprogramm bei dem einzelnen Intendanten. Dieser ist daher auch berechtigt, jederzeit auf die Ausstrahlung von
134 Vgl. Zi. 3 a, 4 der „Verwaltungsvereinbarung der Landesrundfunkanstalten über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Fernsehens"; §5 Abs. 1 der „Geschäftsordnung der Fernseh-Programmkonferenz". 137 §5 Abs. 2 der „Geschäftsordnung der Fernseh-Programmkonferenz". 138 §6 Abs. 1 der „Geschäftsordnung der Fernseh-Programmkonferenz". 139 §2 der „Geschäftsordnung der Fernseh-Programmkonferenz". 140 Vgl. Baumann (Fn.82), S. 374; ]escheck (Fn.81), S. 181. 141 Vgl. Schamke (Fn. 70), S. 76.
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Teilen des Fernsehgemeinschaftsprogramms zu verzichten und sie durch einen eigenen Beitrag zu ersetzen142. Es ist nun umstritten, ob dem einzelnen Intendanten auf Grund der Ausstrahlungsverantwortlichkeit eine Prüfungspflicht bezüglich der im [163] Rahmen des ARD-Gemeinschaftsprogramms übernommenen fremdproduzierten Sendungen obliegt143. Verneint man nun eine solche Prüfungspflicht, so kommt dem einzelnen Intendanten für den überwiegenden - nämlich den übernommenen Teil des Gemeinschaftsprogramms im Rahmen der Ausstrahlungsverantwortlichkeit keine Programmverantwortung mehr zu. Bejaht man im Rahmen der Ausstrahlungsverantwortlichkeit eine solche Prüfungspflicht, so wäre theoretisch eine Verletzung dieser Pflicht denkbar. Praktisch aber ergibt sich folgendes: Da sich das Ausgewogenheitsgebot nicht auf eine einzelne Sendung bezieht, ist es mit der Absetzung einer einzelnen Sendung144 in den wenigsten Fällen getan. Wollte man nun den Intendanten im Rahmen der „Ausstrahlungsverantwortlichkeit" zum Adressaten einer gegen Verletzungen des Ausgewogenheitsgebots gerichteten Strafnorm machen, würde jeder Intendant verpflichtet sein, das beschlossene Gemeinschaftsprogramm vor Ausstrahlung (Übernahme) durch seine eigene Anstalt auf dessen Ausgewogenheit zu untersuchen und dann möglicherweise ein entsprechendes eigenes Programm auszustrahlen. Daß dies zu einem heillosen Chaos und praktisch zum Ende des ARD-Fernsehprogramms führen würde, liegt auf der Hand. Zudem kann eine derart weitgehende Pflicht des einzelnen Intendanten auch schon wegen der praktischen Unmöglichkeit ihrer Erfüllung nicht zugrunde gelegt werden; denn es dürfte dem einzelnen Intendanten unmöglich sein, die Inhalte aller übernommenen Sendungen vor der Ausstrahlung durch die eigene Rundfunkanstalt auf ihre Gesamtausgewogenheit hin zu überprüfen. Da die Rechtsordnung aber stets nur die Erfüllung solcher Pflichten gebietet, deren Erfüllung dem Verpflichteten auch möglich ist145, kommt daher auch im Rahmen der Ausstrahlungs142
Vgl. Zi. 6 Abs. 1 der „Verwaltungsvereinbarung der Landesrundfunkanstalten über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Fernsehens". 143 Vgl. v. Bismarck, Klaus: Die Verantwortung eines Intendanten für Rundfunk und Fernsehen, 1966, S. 19; Schamke (Fn. 70), S. 75 f; Bausch, Hans: Die Programmverantwortung des Intendanten, in: RuF 1967, 226 (228). i« Vgl. Zi. 6 Abs. 1 der „Verwaltungsvereinbarung der Landesrundfunkanstalten über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Fernsehens"; vgl. auch die „Grundsätze über die Zusammenarbeit im ARD-Gemeinschaftsprogramm ,Deutsches Fernsehen'". 145 Vgl. Baumann (Fn. 82), S.242; Jescheck (Fn.81), S.500; Schmidhäuser ( F n . l l l ) , S.660.
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Verantwortlichkeit der einzelne Intendant - soweit es um das A R D Fernsehprogramm geht - nicht als Adressat der erwogenen Strafnorm in Betracht. Hinsichtlich des ARD-Gemeinschaftsprogramms läßt sich daher an dieser Stelle folgendes Zwischenergebnis festhalten: (1) Die Fernsehprogrammkonferenz kommt - da strafrechtliche Verantwortlichkeit Individualverantwortlichkeit ist - als solche nicht als Normadressat der erwogenen Strafbestimmung in Betracht. [164] (2) Ebenso scheiden die einzelnen Intendanten als Mitglieder dieser Programmkonferenz als Normadressaten aus, da ihnen infolge der Beschlußfassung durch (geheime) Abstimmung ein entsprechendes Handeln in der Regel nicht nachzuweisen sein würde. (3) Gleichfalls kommt der einzelne Intendant im Rahmen einer möglichen Ausstrahlungsverantwortlichkeit auch für fremdproduzierte übernommene Sendungen nicht als Normadressat in Betracht; denn es hieße von ihm Unmögliches verlangen, wollte man ihn für verpflichtet halten, alle übernommenen Sendungen vor ihrer Ausstrahlung auf ihre Gesamtausgewogenheit hin zu überprüfen. (4) Letztlich scheidet aber auch der Intendant der die jeweilige Sendung produzierenden und zum Gemeinschaftsprogramm beisteuernden Rundfunkanstalt in dieser Eigenschaft als Adressat der erwogenen Strafnorm zum Schutz des Ausgewogenheitsgebotes aus, da - wie nun schon mehrfach erwähnt - das Ausgewogenheitsgebot gerade nicht für die einzelne Sendung gilt. Es zeigt sich also, daß es - jedenfalls im Bereich des ARD-Fernsehgemeinschaftsprogramms - unmöglich ist, den Adressaten für die geplante Strafnorm zu bestimmen. Damit würden sich im Grunde genommen schon weitere Überlegungen erübrigen, denn eine Strafnorm, die unser wohl wichtigstes Rundfunkprogramm - das ARD-Fernsehen - nicht zu schützen geeignet ist, liefe in wichtigen Bereichen leer, wäre damit wohl schon als ungeeignet anzusehen und verstieße möglicherweise sogar gegen das verfassungsrechtliche Willkürverbot (Art. 3 G G ) , da dann bei Einführung einer solchen N o r m das ARD-Fernsehen gegenüber den anderen Rundfunkprogrammen - insbesondere gegenüber dem Z D F - ohne sachlichen Grund möglicherweise privilegiert wäre. b) Wenden wir uns aber wieder den monokratisch geführten einzelnen Rundfunkanstalten zu und überprüfen weiter, ob vielleicht auch in diesen Bereichen die Einführung einer gegen die Verletzung des Ausgewogenheitsgebotes gerichteten Strafnorm gar nicht möglich wäre. Wie oben (D II 2 a) festgestellt, trägt der jeweilige Intendant die
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Programmverantwortung. Mit der Feststellung der rundfunkrechtlichen Programmverantwortung des Intendanten ist aber für dessen strafrechtliche Verantwortlichkeit noch nicht viel gewonnen. Denn die in den Rundfunkgesetzen normierte Programmverantwortung des Intendanten ist eine anstaltsinterne, öffentlich-rechtliche Verantwortlichkeit. Es ist die Verantwortung gegenüber den anstaltsinternen Kontrollorganen144. Hier [165] läßt sich eine Parallele zu der in der öffentlichen Verwaltung geltenden Ministerverantwortlichkeit ziehen147. Diese ist politische Verantwortlichkeit gegenüber den parlamentarischen Kontrollinstanzen und hat mit strafrechtlicher Verantwortlichkeit nichts zu tun. Bei den sog. Rundfunkinhaltsdelikten, d.h. also der Produzierung und Ausstrahlung einzelner Sendungen strafbaren Inhalts, ist es - mit Einschränkungen - noch relativ einfach, den Täter zu ermitteln: Es ist derjenige - z.B. der verantwortliche Redakteur - , der die Sendung produziert und gesendet hat (Begehungsdelikt), oder derjenige, zu dessen Aufgabenkreis es gehört hätte, diese Sendungen strafbaren Inhalts zu verhindern (Unterlassungsdelikt), z.B. Abteilungsleiter, Hauptabteilungsleiter, Direktor, Programmdirektor, Intendant148. Es ist auch klar, daß man für eine einzelne Sendung immer einen Verantwortlichen finden kann, dem vorzuwerfen ist, daß er sich nicht vorher vom Inhalt der Sendung informiert und deren Ausstrahlung dann gegebenenfalls vom Programm abgesetzt hat. Praktisch erfolgt vor der Ausstrahlung jeder Sendung ja auch eine anstaltsinterne „Abnahme" der Sendung durch einen leitenden Mitarbeiter149. Den für die Abnahme der einzelnen Sendung Zuständigen kann man aber nicht für die mangelnde Ausgewogenheit des Gesamtprogramms strafrechtlich haften lassen. Hier kommen nur Personen mit umfassender Programmverantwortlichkeit in Betracht: also Intendant, Programmdirektor und, soweit man das Ausgewogenheitsgebot auf die einzelnen Programmsparten bezieht, die Hauptabteilungsleiter. Damit diese Personen aber Adressaten einer Strafnorm zum Schutz des Ausgewogenheitsgebotes sein könnten, müßte von ihnen verlangt werden können, daß sie sich vorher vom Inhalt aller Sendungen informieren und diese auf die Ausgewogenheit in ihrer Gesamtheit überprüfen. Daß dies bei der Fülle der täglichen Sendungen - insbesondere der aktuellen tagespolitischen Magazinsendungen, deren Sendeinhalte nicht längere Zeit im voraus feststehen - für den Intendanten oder den 146 Vgl. die ausdrückliche Vorschrift des § 13 Abs. 4 des Gesetzes „Radio Bremen" ; vgl. auch Herrman, Günter: Rechtsfragen der Rundfunkorganisation, in: RuF 1971, 267 (280). 147 Vgl. Bausch (Fn. 143), S. 227. 148 Vgl. auch Schamke (Fa. 70), S. 10, 19 f. 149 Vgl. Herrmann (Fn. 146), S.280; Schamke (Fn. 70), S.20.
Programmgrundsätze für Rundfunk- und Fernsehanstalten
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Programmdirektor unmöglich ist, liegt auf der Hand150. Das gleiche dürfte wohl auch auf den Hauptabteilungsleiter zutreffen. Denn auch für ihn dürfte es unmöglich sein, in seinem Programmbereich die Gesamtheit aller Sendungen vor Ausstrahlung auf ihre inhaltliche Ausgewogenheit zu überprüfen. Wie wir oben (D II 2 a) gesehen haben, gebietet die Rechtsordnung aber nichts Unmögliches151. Verlangt werden könnte allenfalls die Erfüllung der Pflicht, die Mitarbeiter [166] zur Einhaltung der Programmgrundsätze - und damit auch zu einem ständigen Bemühen um inhaltliche Ausgewogenheit durch Dienstanweisungen, Einzelentscheidungen, Gespräche anzuhalten. Hier aber die Grenze zu den Verhaltensweisen zu ziehen, die strafloses Unterlassen bleiben sollen, ist nahezu unmöglich. c) Hinzu kommt, daß bei hierarchischen Organisationen wie den Rundfunkanstalten jeweils die nächsthöhere Ebene die Entscheidung infolge ihrer Weisungsbefugnisse an sich ziehen kann. Zwar trägt der Intendant die Programmverantwortlichkeit. Die Programmkontrolle üben aber die verschiedenen Anstaltsgremien - d.h. Rundfunk- oder Verwaltungsrat - aus. Sie überwachen die Einhaltung der für die Rundfunksendungen maßgeblichen Grundsätze152. In zwei Fällen, nämlich beim Norddeutschen und beim Westdeutschen Rundfunk, ist das Aufsichtsorgan - in diesen Fällen der Verwaltungsrat - sogar berechtigt (und aus seiner Kontrollfunktion heraus dann wohl auch verpflichtet), die Einhaltung der Programmgrundsätze durch Einzelanweisungen abzusichern153. Dadurch kann aus der Programmkontrollfunktion eine Programmleitungsfunktion werden154. Ein solches Weisungsrecht wird man, soweit es lediglich um Rechtmäßigkeitskontrolle geht - und das wäre bei der Überwachung des Ausgewogenheitsgebotes ja der Fall - , auch den Aufsichtsorganen der anderen Rundfunkanstalten zubilligen müssen, bei denen ein Weisungsrecht nicht ausdrücklich im Gesetz vorgesehen ist155.
150 Vgl. V. Bismarck (Fn. 143), S.29; Bausch (Fn.143), S.233; Herrmann (Fn.146), S. 280. 151 Vgl. Fn. 145. 152 Vgl. z.B. Art.7 Abs.3 Zi. 8 des Bayr. Rundfunkgesetzes; §9 Zi.2 des Hess. Rundfunkgesetzes; §6 Zi.3 des Gesetzes „Radio Bremen"; §15 Abs.2 des Saarl. Rundfunkgesetzes; §7 Abs. 1 lit. c des SFB-Gesetzes etc. 153 Vgl. §14 Abs. 3 des NRD-Staatsvertrages; §14 Abs. 4 des WDR-Gesetzes. 154 Vgl. Stern/Bethge: Die Rechtsstellung des Intendanten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, 1972, S.33. 155 Vgl. Stern/Bethge (Fn.154), S.33.
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Daß die Mitglieder eines solchen Beschlußgremiums nicht als Adressaten der erwogenen Strafnorm in Betracht kommen, ist oben (D I 2 a) dargelegt worden. Zudem wäre es ein unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht zu vertretendes Ergebnis, in denjenigen Fällen, in welchen der Rundfunkoder Verwaltungsrat von seinem Weisungsrecht pflichtwidrig Gebrauch macht, (nur) den dieser Weisung folgenden Intendanten strafrechtlich haftbar machen zu wollen, während die Gremienmitglieder - wie erörtert - nicht Normadressaten sein könnten. Die vorstehenden Ausführungen lassen sich demnach dahingehend zusammenfassen, daß die Einführung eines Straftatbestandes zum Schutze des rundfunkrechtlichen Ausgewogenheitsgebotes schon daran scheitert, daß der Normadressat nicht genügend und - vor allem - nicht strafrechtlich einwandfrei bestimmbar ist. [167] II. Die Tathandlung Nachdem wir dargelegt haben, daß sich der Täterkreis der erwogenen Strafnorm nicht bestimmen läßt, werden wir nunmehr aufzeigen, daß das gleiche für die Tathandlung gilt. Dazu ist es allerdings erforderlich, von einem hypothetischen Täter auszugehen. Die vorstehenden Ausführungen (D I) haben ergeben, daß insoweit allenfalls Intendant, Programmdirektor und Hauptabteilungsleiter als Personen mit umfassender Programmverantwortlichkeit in Betracht kämen. 1. Im folgenden gilt es zunächst einmal den Tatbestandstypus der erwogenen Strafnorm zu bestimmen. a) Insoweit käme hier ein abstraktes Gefährdungsdelikt in Betracht. Die abstrakten Gefährdungsdelikte unterscheiden sich von den konkreten Gefährdungsdelikten sowie den Verletzungsdelikten dadurch, daß weder ein Verletzungserfolg noch eine real eintretende Gefährdung des geschützen Rechtsguts zum Tatbestand der Strafnorm gehören156. Bei den abstrakten Gefährdungsdelikten ist die generelle Gefährlichkeit der Handlung für bestimmte Rechtsgüter lediglich gesetzgeberisches Motiv, ohne sich zum Tatbestandsmerkmal verdichtet zu haben. Geht man nun - worauf auch die unserem Gutachten gestellte Frage hinausläuft - von der Informationsfreiheit als dem geschützten Rechtsgut aus, so kann es nicht auf den Eintritt einer konkreten Gefahr für die Informationsfreiheit des Bürgers oder gar den Eintritt einer Verletzung dieses Rechtsguts ankommen, zumal ein solcher Nachweis wohl äußerst 154
Vgl. statt aller: Jescheck (Fn.81), S.211.
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schwierig zu führen sein dürfte. Abzustellen wäre hier vielmehr auf die generelle Gefährlichkeit der Ausstrahlung einseitiger, unausgewogener Rundfunkprogramme für die Informationsfreiheit des Bürgers, mithin auf das nicht im Tatbestand erscheinende gesetzgeberische Motiv. So wäre auch die oben (Β IV) formulierte fiktive Strafnorm ein abstraktes Gefährdungsdelikt, was sich schon aus dem Wortlaut ergibt, in dem auf eine bestimmte „Geeignetheit" der Tathandlung abgestellt ist157. b) Es fragt sich weiterhin, ob die erwogene Norm als Begehungs- oder Unterlassungsdelikt konzipiert werden müßte. Als Täter eines Begehungsdelikts käme nur jemand in Betracht, der aktiv die Ausstrahlung unausgewogener Rundfunkprogramme bewirkt. Dem Intendanten/Programmdirektor/Hauptabteilungsleiter wird nur in den wenigsten Fällen ein aktives Tun im Hinblick auf unausgewogene [168] Rundfunkpro gramme zur Last fallen, da diese Personen nur selten aktiv an der Produktion und Ausstrahlung der konkreten Sendeinhalte beteiligt sind158. Mithin käme praktisch nur ein Unterlassungsdelikt in Betracht, und zwar des Inhalts, daß es der Täter im Rahmen seiner Programmverantwortlichkeit unterlassen hat, die Ausstrahlung eines unausgewogenen Rundfunkprogramms zu verhindern, bzw. es unterlassen hat, ein bisher einseitiges Programm durch Ansetzen anders gerichteter Sendungen auszugleichen. Eine solche Norm würde dann ein echtes Unterlassungsdelikt darstellen. Nach umstrittener, aber herrschender Meinung unterscheiden sich die echten von den unechten Unterlassungsdelikten dadurch, daß erstere sich in der Nichtvornahme einer vom Gesetz geforderten Handlung, dem Untätigbleiben gegenüber dem Normbefehl einer Gebotsvorschrift erschöpfen159, letztere in der Zuwiderhandlung gegen eine Verbotsnorm durch Nichthinderung des Eintritts eines tatbestandsmäßigen Erfolges entgegen einer Garantenpflicht bestehen160. Da mit der in Aussicht genommenen Strafnorm nicht auf den Eintritt eines tatbestandsmäßigen Verletzungs- oder Gefährdungserfolges abgestellt werden soll (vgl. oben D II 1 a), sondern auf das Untätigbleiben
157 Vgl. zum Begriff der „Eignung" der Tathandlung bei abstrakten Gefährdungsdelikten: Jescheck (Fn.81), S.212. , 5 ! Vgl. Scharnke (Fn.70), S.20. 155 Vgl. RGStE 61, 360 (361); BGHStE 14, 280 (281); Jescheck (Fn.81), S.491, mit umfangreichen Nachweisen zur h . M . ; terminologisch a.A.: Schmidhäuser (Fn. 111), S. 658, vgl. zum Meinungsstreit S. 654 ff. 160 Vgl .Jescheck (Fn.81), S.491.
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gegenüber dem Gebot der Ausgewogenheit, würde es sich bei der erwogenen Norm um ein echtes Unterlassungsdelikt handeln. Eine derartige Norm würde dann auch den derzeit geltenden Vorschriften über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der leitenden Personen des Rundfunks bei Rundfunkinhaltsdelikten entsprechen, die in der Regel gleichfalls als (wohl aber unechte) Unterlassungsdelikte ausgestaltet sind, nämlich es unterlassen zu haben, einer Pflicht zur Verhinderung von Sendungen strafbaren Inhalts nachzukommen" 1 . Allerdings handelt es sich bei jenen Vorschriften um eine Art organschaftlicher Subsidiarhaftung, da in erster Linie ja der produzierende Journalist Adressat des Verbots von Sendungen strafbaren Inhalts ist, während in unserem Fall primärer Adressat des Ausgewogenheitsgebotes die Rundfunkanstalt und damit ihr Organ - der Intendant - ist. Dem Einwand einer möglichen Strafbarkeitslücke bei einem - seltenen - aktiven Tun der Programmverantwortlichen wäre mit der Schaffung einer aus zwei Alternativen bestehenden Norm zu begegnen, die sowohl aktives Tun als auch Unterlassen umfaßt. [169] Gleichgültig aber, ob die Strafnorm als Begehungs- oder echtes Unterlassungsdelikt ausgestaltet wird, so muß doch in jedem Fall der Zeitpunkt der Tat bestimmbar sein. Wie aber soll der Zeitpunkt bestimmt werden, an dem um der Ausgewogenheit willen eine Sendung hätte abgesetzt, eine andersgerichtete hätte eingefügt werden müssen? Dieses Problem bedarf im folgenden näherer Prüfung: 2. Die Bestimmbarkeit des Tatzeitpunkts spielt im Strafrecht eine unverzichtbare Rolle. So bestimmen Art. 103 Abs. 2 G G und ihm folgend § 1 StGB, daß eine Tat nur bestraft werden darf, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Gemäß § 8 StGB ist eine Tat zu der Zeit begangen, zu der der Täter gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen. Aber nicht nur für die Frage nach dem anzuwendenden Strafgesetz spielt der Zeitpunkt der Tat eine Rolle. So ist ζ. B. der Beginn der Tat für die Frage nach der Begehung eines strafbaren Versuchs von Bedeutung (vgl. §22 StGB) oder die Beendigung der Tat für die Frage der Verjährung (vgl. § 78 a StGB). Nicht zuletzt aber muß es dem Täter bei der Begehung der Tat wenigstens möglich sein, die Strafbarkeit seines Verhaltens zu erkennen, um daraus Konsequenzen (z.B. Rücktritt) ziehen zu können. Diese Möglichkeit wird ihm aber genommen, wenn es ihm erst aus einer 161 Vgl. z . B . § 2 3 Abs. 1 i . V . m . § 1 9 Abs.2 Zi. 1 LPG-Berlin; § 2 5 Abs.4 Nds.-LPG; § 2 8 Abs. 1 des Gesetzes über die Bundesrundfunkanstalten; § 7 Abs. 1 S.2 des Z D F Staatsvertrages.
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rückschauenden Betrachtung möglich ist, die Strafbarkeit seines Verhaltens zu beurteilen. Beginn und Vollendung (sowie die etwaige Beendigung) von Verstößen gegen das Ausgewogenheitsgebot zu bestimmen, ist aber nicht möglich, wie sich aus folgenden Überlegungen ergibt: Ausgewogenheit kann zwar in abstracto inhaltlich bestimmt werden, wie es eingangs versucht worden ist. Für die Praxis ist jedoch damit nichts gewonnen. Denn praktisch ist dieser Begriff so untrennbar mit Zeiträumen und Geschehnissen verbunden, daß er über den Charakter eines programmatischen Satzes hinaus kaum normierbar ist"2. Das Ausgewogenheitsgebot gilt - wie erörtert - nicht für jede einzelne Sendung, den einzigen Zeitabschnitt, der genau bestimmbar wäre. Damit aber ist der Zeitraum, in dem das Ausgewogenheitsgebot zur Wirkung kommen soll, völlig offen. Er kann auch nicht pauschal angesetzt werden, etwa auf einen Monat oder ein halbes Jahr, denn die Zeiträume sind je nach den Gegebenheiten unterschiedlich anzusetzen. Dies zeigte schon unser Beispiel der geplanten Anti-Kernkraft-Demonstration (vgl. oben unter A I 3 c); es zeigt sich aber auch bei dem Zeitraum vor Wahlen und beispielsweise bei Ereignissen wie dem unerwarteten Besuch eines auswärtigen Staatsoberhaupts. Wäre es Ausgewogenheit, wenn man [170] vor einem solchen Besuch ständig kritisch auf die Mißstände dieses Regimes hinwiese, so - vielleicht ganz ungewollt den Boden für heftige Demonstrationen bereitete und nach dem Besuch dann auch in weiteren Sendungen auf die Vorteile und Fortschritte dieses Regimes hinwiese? In einem solchen Fall ist es ausnahmsweise sogar denkbar, daß sich das Ausgewogenheitsgebot auf eine einzelne Sendung reduziert. Wie, wenn die Ereignisse mit dem Ausgewogenheitsgebot nicht in Einklang zu bringen sind? Wenn beispielsweise aus einem bestimmten Land ständig neue Nachrichten über Folterungen und Erschießungen von politischen Gegnern der dort herrschenden rechtsgerichteten Diktatur kommen, erfordert es dann das Ausgewogenheitsgebot, um den möglichen Eindruck von Linkslastigkeit zu vermeiden, daß nun auch ein Bericht über die unmenschlichen Zustände in den sowjetischen Arbeitslagern in Sibirien gesendet wird? Und - bejaht man letzteres - welches ist dann der Zeitpunkt, an dem diese Sendung hätte gesendet werden müssen, was wäre also der Zeitpunkt des möglichen pflichtwidrigen Unterlassens? Der nächste, der übernächste Tag? Die darauffolgende Woche? Die Frage also, wo die Grenze zu ziehen ist zwischen dem Ende der Ausgewogenheit und dem Beginn der Unausgewogenheit, die Frage 162
Vgl. auch zur Bedeutung der Programmrichtlinien: Bausch (Fn. 143), S.229.
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nach Beginn und Vollendung einer solchen Straftat ist nicht zu beantworten. Hinzu kommt, daß bei den zahlreichen von tagespolitischen Ereignissen bestimmten Sendungen (z.B. Magazinsendungen, die täglich oder mehrmals täglich über den Sender gehen: Rundschau am Morgen, Mittag, Abend) ein Großteil der Sendeinhalte erst ganz unmittelbar vorher produziert wird und daß es daher für den Programmverantwortlichen praktisch gar nicht möglich ist, diese Sendeinhalte vorher auf ihre Vereinbarkeit mit dem Ausgewogenheitsgebot zu überprüfen. Es ist daher stets nur eine ex-post-Beurteilung
möglich.
Aufgabe der Warnfunktion des Strafrechts aber ist es, daß sich der Täter stets ex ante informieren kann, ob das von ihm geplante Tun oder Unterlassen der Rechtsordnung entspricht1'3. Es zeigt sich also, daß auch die Tathandlung mit der für das Strafrecht erforderlichen Genauigkeit nicht bestimmbar ist. III. Das Verschulden Wenden wir uns abschließend noch der Frage des möglichen Verschuldens der Programm verantwortlichen zu. Strafrechtliche Verantwortlichkeit setzt im Gegensatz zur zivilrechtlichen Verantwortlichkeit (vgl. dort die Gefährdungshaftung) stets ein Verschulden [171] voraus (nulla poena sine culpa)164. Strafbar ist daher stets nur vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln (vgl. § 15 StGB). 1. Vorsatz, in der Form des direkten Vorsatzes, ist sicheres „Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung", d.h. der zum gesetzlichen Tatbestand gehörenden objektiven Merkmale"5; in der Form des Eventualvorsatzes bedeutet er, die Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes für möglich halten und einverständlich in Kauf nehmen166. Dies wirft zunächst einmal die praktische Frage auf, ob ein solcher direkter Vorsatz oder Eventualvorsatz den Programmverantwortlichen jemals nachzuweisen wäre. Diese Frage müßte man in der Regel wohl verneinen; zumindest dürfte ein solcher Nachweis äußerst schwierig zu führen sein. 163
Vgl. z.B. Schönke-Schröder-Eser (Fn. 125), §1, Rdn.20-Jescheck (Fn.81), S.259. Vgl. BVerfGE 6, 389 (439); 20, 323 (331); Maunz-Dürig-Herzog-Scbolz (Fn.96), Art. 1, Rdn. 32; Jescheck (Fn. 81), S. 17. 165 Vgl. RGStE 58, 247 (248); 70, 257 (258); Schönke-Schröder-Eser (Fn. 125), §15, Rdn. 15; Jescheck (Fn.81), S.235; Maurach-Zipf (Fn. 125), S.319. 164 Vgl. Baumann (Fn.82), S.413; Blei (Fn.125), S.107; Rudolphi-Samson-HornSchreiber, Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 1977, §16, Rdn. 43, mit Nachweisen zur unterschiedlichen Terminologie; Dreher-Tröndle, Strafgesetzbuch, 38. Aufl. 1978, §15, Rdn. 11. 164
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Es stellt sich dabei aber noch eine weitere Frage, nämlich ob sich der Vorsatz auf die Eigenschaft des Programms als unausgewogen beziehen muß oder ob die Kenntnis der tatsächlichen Sendeinhalte, aus denen sich das Werturteil „unausgewogen" ergibt, genügt. Bei den Merkmalen eines Straftatbestandes unterscheidet man die deskriptiven und die normativen Tatbestandsmerkmale. Von deskriptiven Tatbestandsmerkmalen spricht man dann, wenn deren Feststellung im allgemeinen durch sinnliche Wahrnehmung erfolgen kann (z.B. §§211, 212 - Mensch), von normativen dagegen, wenn deren Feststellung nur durch ein (Wert-)Urteil erfolgen kann, das nur unter der logischen Voraussetzung einer Norm vorgestellt oder gedacht werden kann. Hierzu zählen insbesondere die eigentlichen Rechtsbegriffe (z.B. § 242 StGB - Fremdheit der Sache) und die wertausfüllungsbedürftigen Begriffe (z.B. §226a - Verstoß gegen die guten Sitten)167. Bei dem Begriff der Ausgewogenheit handelt es sich offensichtlich um ein wertausfüllungsbedürftiges, also normatives Tatbestandsmerkmal. Bei normativen Tatbestandsmerkmalen muß sich der Vorsatz des Täters jedoch nicht auf die juristisch exakte Wertung (hier also das Werturteil „unausgewogen") beziehen; sondern es genügt die sog. „Parallelwertung in der Laiensphäre", d.h. die Erfassung des unrechtstypisierenden Bedeutungsgehalts des jeweiligen Merkmals von der eigenen Gedankenwelt [172] aus (z.B. bei der Urkundenfälschung muß der Täter wissen, daß das Schriftstück im Rechtsverkehr ein besonderes Vertrauen genießt bzw. etwas beweisen soll); es genügt das Verständnis des sozialen Sinngehalts168. Danach brauchte sich hier der Vorsatz des Täters nicht auf die Wertung als unausgewogen zu beziehen. Es würde aber auch die bloße Kenntnis der tatsächlichen Sendeinhalte nicht ausreichen. Der Täter müßte vielmehr wissen, daß ζ. B. bei einer Berichterstattung ständig ein wichtiger Aspekt unberücksichtigt bleibt, daß zu einem Problem eine bedeutende Gruppe nie gehört wird, etc. Die Frage aber, ob etwas „nicht berücksichtigt", jemand „nicht gehört" worden ist, läßt sich immer nur im Zusammenhang mit bestimmten Zeiträumen bestimmen (heute nicht zu Wort gekommen, in dieser Sendung nicht zu Wort gekommen, in dieser Sendereihe nicht zu Wort gekommen). Für die Programmverantwortlichen ist dies in aller Regel erst aus einer 167 Vgl. zur Unterscheidung von normativen und deskriptiven Tatbestandsmerkmalen: Schönke-Schröder-Cramer (Fn. 125), §15, Rdn.18; Jescheck (Fn.81), S.216f; Blei (Fn. 125), S. 93 f; Maurach-Zipf {Fn. 125), S.308Í. 168 Vgl. Schönke-Schröder-Cramer (Fn.125), §15 Rdn.45; Jescheck (Fn.81), S.236f; Biet (Fn. 125), S. 112; Maurach-Zipf (Fn. 125), S. 349; Welzel (Fn. 83), S. 75 ff.
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retrospektiven Gesamtschau des Programms möglich (vgl. oben unter D II 2 b), insbesondere bei den tagespolitischen aktuellen, nicht vorher feststehenden Sendeinhalten. Dies bedeutet, daß die geforderte „Parallelwertung in der Laiensphäre" erst dann möglich wird, wenn sich die unrechtsbegründenden Tatsachen (die Ausstrahlung des unausgewogenen Programms) bereits ereignet haben. Dies steht aber mit der Natur des Vorsatzes in Widerspruch, da der Vorsatz bei Begehung der Tat vorliegen muß. Einen sogenannten dolus subsequens kennt unsere Strafrechtsordnung nicht169. Daraus folgt, daß auch der Vorsatz des Täters nicht bestimmbar wäre. Nun könnte man argumentieren, daß der Intendant - etwa dann, wenn er die die Unausgewogenheit begründenden tatsächlichen Merkmale erkannt hat - verpflichtet wäre, nun für Sendeinhalte zu sorgen, die die bisher vernachlässigten Aspekte, Meinungen und Interessenvertreter berücksichtigen, um so die Ausgewogenheit wieder herzustellen. Zu dem Zeitpunkt aber, zu dem es dem Intendanten möglich ist, die Bedeutungskenntnis der die Unausgewogenheit begründenden tatsächlichen Merkmale zu gewinnen, liegt schon ein begangener Verstoß gegen die Ausgewogenheit vor, für den - wie oben ausgeführt - der Vorsatz nicht bestimmbar war. Das Ansetzen andersgerichteter Sendungen kann daher lediglich für die Ausgewogenheit in der Zukunft Bedeutung haben. Man könnte es höchstens als eine Art „tätige Reue" nach Vollendung der Tat auffassen. Diese würde aber eine Strafnorm gegen das Ausgewogenheitsgebot leerlaufen lassen. [173] 2. Ebenso wie der Vorsatz ist aber auch die Fahrlässigkeit nicht bestimmbar. Ohne an dieser Stelle auf die unterschiedlichen Lehren zum Wesen der Fahrlässigkeit eingehen zu wollen, kann grundsätzlich gesagt werden, daß sie auf einer Sorgfaltspflichtverletzung beruht170. Fahrlässigkeit läge also - vergröbernd gesagt - dann vor, wenn der Täter die Unausgewogenheit bei Anwendung pflichtgemäßer Sorgfalt hätte erkennen und verhindern können. Da aber diese Erkenntnis, wie oben (D III 1) ausgeführt, nur retrospektiv möglich ist, fehlt es auch an der nötigen Bestimmbarkeit der Fahrlässigkeit. IV. Zusammenfassung und Ergebnis Betrachten wir die in diesem Kapitel gewonnenen Ergebnisse, so zeigt sich, daß es einer Strafnorm zum Schutz des Ausgewogenheitsgebotes Vgl. Baumann (Fn.82), S.416; Welzel (Fn. 83), S.71. Vgl. zum Wesen der Fahrlässigkeit: Schönke-Schröder-Cramer Rdn. 102 ff; Jescheck (Fn. 81), S. 454 ff; Blei (Fn. 125), S. 263 ff. 170
(Fn. 125), §15,
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(und das gleiche würde für eine N o r m des Ordnungswidrigkeitenrechts gelten) an jedweder Bestimmbarkeit fehlt. Wir haben zunächst festgestellt, daß sich der mögliche Täterkreis der erwogenen Strafvorschrift nicht bestimmen läßt: Ausgehend von der Frage nach dem Normadressaten des Ausgewogenheitsgebotes, sind wir zu dem Ergebnis gekommen, daß weder der institutionelle Rundfunkveranstalter - wegen der Deliktsunfähigkeit juristischer Personen Adressat der entsprechenden Strafnorm sein kann, noch der einzelne Journalist oder Redakteur, da das Ausgewogenheitsgebot in der Regel nicht für eine einzelne Sendung gilt. Die Androhung eines Bußgeldes gegen die Rundfunkanstalt als solche schied schon aus wirtschaftlichen Gründen aus. Aber auch die in einer Rundfunkanstalt für das Gesamtprogramm verantwortlichen Personen - Intendant/Programmdirektor/Hauptabteilungsleiter - kommen als Adressaten einer solchen N o r m nicht in Betracht. Es hat sich gezeigt, daß es allein sinnvoll erschien, die strafrechtliche Verantwortlichkeit dieser Personen an ein Unterlassen zu knüpfen, nämlich an deren Pflicht, unausgewogene Rundfunkprogramme zu verhindern. D a sich aber eine Erfüllung dieser Pflicht im Sinne einer vorherigen Überprüfung der gesamten Sendeinhalte auf ihre Ausgewogenheit als unmöglich erwiesen hat, kommt auch eine Pönalisierung dieser Pflichtverletzung nicht in Betracht. Wir haben weiterhin festgestellt, daß auch die Tathandlung nicht bestimmbar ist. Dies ist darauf zurückzuführen, daß Bezugspunkt des Ausgewogenheitsgebotes nicht die einzelne Sendung - der einzig generell [174] bestimmbare Zeitabschnitt - ist, sondern das Rundfunkgesamtprogramm. Die Folge davon ist, daß bei Verstößen gegen das Ausgewogenheitheitsgebot weder Beginn noch Vollendung der Tathandlung bestimmbar sind. Schließlich haben die Untersuchungen dieses Kapitels ergeben, daß auch das Verschulden nicht mit der für eine strafrechtliche Verurteilung notwendigen Genauigkeit bestimmbar ist, da die für Vorsatz und Fahrlässigkeit erforderliche Kenntnis der unrechtsbegründenden Tatsachen in der Regel erst retrospektiv möglich ist. E. Verfassungsrechtliche Schlußfolgerungen Die Schwierigkeiten, die sich somit bereits auf Grund der Regeln über die Bildung von Straftatbeständen einer Pönalisierung von Verstößen gegen das Ausgewogenheitsgebot entgegenstellen, haben indessen auch verfassungsrechtliche Bedeutung. Auf diese verfassungsrechtlichen Konsequenzen und einige damit zusammenhängende spezielle verfassungsrechtliche Probleme ist abschließend hinzuweisen.
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I. Das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG Neben dem Verbot rückwirkender, analoger und gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung enthält Art. 103 Abs. 2 GG das Gebot der Bestimmtheit von Strafvorschriften171. Dieses Gebot soll gewährleisten, daß jedermann vorhersehen kann, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist172. Wann im einzelnen eine Norm dem Bestimmtheitsgebot genügt, darüber bestehen unterschiedliche Auffassungen. Einigkeit besteht jedoch darin, daß die Norm geeignet sein muß, eine feste und zuverlässige Grundlage für die Rechtsprechung zu bilden173. Sinn und Umfang des [175] Straftatbestandes müssen sich wenigstens durch Auslegung eindeutig ermitteln lassen174. Diese Anforderungen der Berechenbarkeit und Auslegungsfähigkeit gewinnen besondere Bedeutung bei der Verwendung normativer, wertausfüllungsbedürftiger Tatbestandsmerkmale sowie insbesondere bei der Verwendung von Generalklauseln, worunter normative Merkmale von besonders großer Unbestimmtheit, Allgemeinheit und Verschwommenheit zu verstehen sind175. Über die Zulässigkeit solcher generalklauselartigen Begriffe im Strafrecht besteht keine Einigkeit176. Daß das Strafrecht jedoch auf allgemeine Begriffe, die in besonderem Maße einer Deutung durch den Richter bedürfen, nicht verzichten kann, hat das Bundesverfassungsgericht in Vgl. BVerfGE 4, 325 (327); 14, 245 (251); 25, 269 (285); 37, 201 (207). Vgl. BVerfGE 14, 245 (251); 37, 201 (207); BayVerfGH BayGVBl. 1953, 75 (76); Schönke-Schröder-Eser (Fn. 125), §1, Rdn. 20; Maunz-Dürig-Herzog-Scholz (Fn.97), Art. 103 Abs. 2, Rdn. 106; Kohlmann, Günter: Der Begriff des Staatsgeheimnisses und das verfassungsrechtliche Gebot der Bestimmtheit von Strafvorschriften, 1969, S. 252. 175 Vgl. Maunz-Dürig-Herzog-Scholz (Fn.97), Art. 103 Abs.2, Rdn. 107; SchönkeSchröder-Eser (Fn. 125), § 1, Rdn. 21 ; Grünwald, Gerald: Bedeutung und Begründung des Satzes „nulla poena sine lege", in: ZStW 76 (1964), 1 (16); Heinitz, Ernst: Zur Verfassungsmäßigkeit der Strafbestimmung gegen groben Unfug, in: Festschrift für E.Hirsch, 1968, S. 55. 174 Vgl. BGHStE 11, 365 (377); KG in J R 1965, 392 (393); Maunz-Dürig-HerzogScholz (Fn.97), Art. 103 Abs.2, Rdn. 107; Schönke-Schröder-Eser (Fn. 125), § 1, Rdn.22; vgl. auch zum Bestimmtheitsgrundsatz im Bereich des Rundfunkstrafrechts ausführlich: Jahn, Bernd-Uwe: Die Anwendbarkeit allgemeiner presse- und rundfunkgesetzlicher Straftatbestände auf den Rundfunk und das Bestimmtheitsgebot des Grundgesetzes, 1973, S. 45-63. 175 Vgl. zum Begriff der Generalklausel: Naucke, Wolf gang: Uber Generalklauseln und Rechtsanwendung im Strafrecht, 1973; Haft, Fritjof: Generalklauseln und unbestimmte Begriffe im Strafrecht, in: JuS 1975, 477ff; Lenckner, Theodor: Wertausfüllungsbedürftige Begriffe im Strafrecht und der Satz „nullum crimen sine lege", in: JuS 1968, 249 ff, 304 ff; Class, Wilhelm: Generalklauseln im Strafrecht, in: Festschrift für Eb. Schmidt, 1961, S. 122 ff. 176 Bejahend: Lenckner (Fn. 175), S. 255; verneinend: Class (Fn. 175), S. 133. 171
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mehreren Urteilen ausgesprochen177. Voraussetzung ist indessen stets, daß sie den zuvor geschilderten Anforderungen genügen. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sowie der in den vorstehenden Kapiteln gewonnenen Ergebnisse läßt sich feststellen, daß es nicht möglich ist, eine den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genügende Strafnorm zu formulieren: Die Untersuchungen haben ergeben, daß weder der Täterkreis genügend bestimmbar wäre, noch Beginn und Vollendung der Tathandlung, noch das Verschulden. Letzteres war im wesentlichen darauf zurückzuführen, daß die Kenntnis der unrechtsbegründenden Merkmale in der Regel erst retrospektiv möglich ist. Dies aber widerspricht dem Vorhersehbarkeitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG178. Aber auch der Inhalt der Tathandlung wäre nicht mit einer Art. 103 Abs. 2 GG genügenden Genauigkeit formulierbar. In den Kapiteln A und Β des Gutachtens haben wir die ganze Weite des Begriffs der „Ausgewogenheit" und die Vielgestaltigkeit der denkbaren Verstöße dargelegt. Wir sind dabei zu der Feststellung gekommen, daß eine kasuistische Aufzählung der ganz eindeutigen Fälle nicht, geeignet wäre, das Problem zu [176] lösen. Es müßte daher eine allgemeinere Bestimmung der Tathandlung mit Hilfe des Begriffs der „Ausgewogenheit" erfolgen. Diesen generalklauselartigen Begriff aber als Tatbestandsmerkmal zu verwenden, dürfte gegen das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen, da er - wie sich aus unseren Ausführungen im Kapitel A ergibt - jeder Berechenbarkeit und verläßlichen Interpretierbarkeit ermangelt. An diesem Ergebnis der mangelnden Bestimmbarkeit des erwogenen Straftatbestandes ändert sich auch nichts, wenn man das Ausgewogenheitsgebot entgegen den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts und der in diesem Gutachten zugrunde gelegten Ansicht auf die einzelne Sendung oder Sendereihe übertrüge. In diesem Falle wäre zwar der Täter bestimmbar; denn für eine einzelne Sendung strafbaren Inhalts wäre-in Anlehnung an die Grundsätze über die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Rundfunkinhaltsdelikte - in der Regel ein Verantwortlicher zu finden, sei es nun der produzierende Journalist oder Redakteur oder seien es Aufsichtspersonen (Intendant, Programmdirektor, Hauptabteilungsleiter, Abteilungsleiter). Beginn und Vollendung der Tatzeit wären gleichfalls bestimmbar; sie würden sich nach der Zeit der Sendung richten. Auch ein Verschulden könnte in diesem Fall festgestellt werden. Das Problem der mangelnden Bestimmtheit des Inhalts der Tathand-
BVerfGE 4, 352 (358); 11, 234 (237); 14, 245 (251); 37, 201 (208). ' Vgl. oben Fn. 172.
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lung, also der Verstöße gegen die Ausgewogenheit, bliebe aber das gleiche. Daher läßt sich an dieser Stelle festhalten, daß die Ergebnisse der gesamten bisherigen Untersuchung in die Feststellung einmünden, daß es nicht möglich ist, eine dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG genügende Strafnorm zum Schutze des Ausgewogenheitsgebotes zu formulieren. II. Die Rundfunkfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S.2 G G Abschließend bleibt noch darzulegen, daß auch im Hinblick auf das Grundrecht der Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) erhebliche Bedenken gegen die Einführung einer Strafbestimmung zum Schutz des rundfunkrechtlichen Ausgewogenheitsgebotes bestehen. Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG garantiert die Freiheit der Berichterstattung durch den Rundfunk. Zur Rundfunkfreiheit aber zählt ganz wesentlich die Programmgestaltungsfreiheit (vgl. oben unter A I 3 a). In diese würde durch eine derartige Strafnorm eingegriffen. Gemäß Art. 5 Abs. 2 GG finden die Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG ihre Schranken in den „allgemeinen Gesetzen". Als „allgemeine Gesetze" galten früher solche Vorschriften, die sich nicht gegen eine bestimmte Meinung oder die Meinungsäußerungsfreiheit als solche richteten17'. [177] Neuerdings hat aber das Bundesverfassungsgericht auch auf den Adressaten der Norm abgestellt und ausgeführt, daß ein „allgemeines Gesetz" dann nicht vorläge, wenn es sich ausschließlich an die Presse (resp. den Rundfunk) richte und sich nur in diesem Bereich auswirke180. So hat Bettermann ausgeführt, die Ansicht, „allgemeine Gesetze" seien nur solche, die sich nicht gegen eine bestimmte Meinung richteten, könne nicht richtig sein, da ja Eingriffe, die sich nur gegen eine bestimmte Meinung richteten, weniger schwerwiegend seien als Gesetze und Maßnahmen, die sich gegen die Meinungsäußerungsfreiheit überhaupt richteten, ohne Rücksicht auf das Gesagte oder Geäußerte. Daher seien „allgemeine Gesetze" solche, die unabhängig davon seien, ob der Bürger ein Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG oder nur seine allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG ausübe. Sinn und Grund des 179 Vgl. Maunz-Dürig-Herzog-Scholz (Fn.97), Art. 5, Rdn.242ff; Leibholz-Rinck, Kommentar zum Grundgesetz, 5. Aufl. 1975, Art. 5, Rdn. 11. leo BVerfGE 21, 271 (280); vgl. auch: v. Münch, Ingo: Kommentar zum Grundgesetz, 1975, Art. 5, Rdn. 48; Bettermann, Karl-August: Die allgemeinen Gesetze als Schranken der Pressefreiheit, in: JZ 1964, 600 (604); Ridder, Helmut: Urteilsanmerkung, in: JZ 1961, 537 (539); Scheuner, Ulrich: Das Rundfunkmonopol und die neuere Entwicklung des Rundfunks, in: AfP 1977, 367 (370).
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Gesetzesvorbehalts der „allgemeinen Gesetze" sei ein Privilegierungsverbot für die entsprechenden Grundrechtsträger. „Allgemeine Gesetze" seien daher solche Gesetze, deren Nichtanwendung auf die entsprechenden Grundrechtsträger bzw. auf die Ausübung der entsprechenden Grundrechte zu einer Privilegierung dieser Träger oder Verhaltensweisen führen würde181. Nach Ridder sind „allgemeine Gesetze" solche, die sich nicht nur im Schutzbereich des Grundrechts auswirken bzw. in deren Anwendungsbereich nicht überwiegend nur die Grundrechtsträger fielen182. Danach stellen die Grundsätze zur Sicherung der Ausgewogenheit im Programmbereich der Rundfunkanstalten keine „allgemeinen Gesetze" dar183, da sie sich nur gegen den Rundfunk richten und sich nur in diesem Bereich auswirken. Das Bundesverfassungsgericht hat auch die Berechtigung zum Erlaß von Grundsätzen über die organisatorische und inhaltliche Programmgestaltung von Rundfunkanstalten nicht aus dem Schrankenvorbehalt des Art. 5 Abs. 2 G G hergeleitet, sondern aus der Pflicht des Staates, ein Grundrecht und die durch dieses gewährleistete Freiheit in ihrem Bestand zu schützen184. Infolgedessen sind nur solche gesetzlichen Beschränkungen der Rundfunkfreiheit zulässig, die zu ihrer Aufrechterhaltung (und gegebenenfalls zum Schutze der Informationsfreiheit) unumgänglich erforderlich sind185. [178] Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen muß festgestellt wer-
den, daß die erwogene Strafnorm kein „allgemeines Gesetz" im Sinne des Art. 5 Abs. 2 G G wäre. Ihre Zulässigkeit könnte überhaupt nur dann bejaht werden, wenn besondere Umstände die Einführung einer solchen Norm zur Verwirklichung der Rundfunk- und Informationsfreiheit notwendig machten186. Davon kann jedoch nicht gesprochen werden, da für eine Überwachung des Ausgewogenheitsgebotes die - wenn auch vielleicht verbesserungswürdigen und verbesserungsbedürftigen - anstaltsinternen Kontrollmechanismen zur Verfügung stehen187. Hinzu kommt, daß die Ahndung von Verstößen gegen das Ausgewogenheitsgebot einer staatlichen Programmkontrolle nahekäme. Denn hier ginge es nicht um die Strafbarkeit ganz konkreter Sendeinhalte, Bettermann (Fn.180), S.603. Ridder (Fn. 180), S.539. 183 Vgl. auch Scheuner (Fn. 180), S.370. m BVerfGE 12, 261, vgl. auch Scheuner (Fn. 180), S.370. 185 Vgl. Geiger (Fn.20), S.263; Scheuner (Fn. 180), S.370. 186 Vgl. Scheuner (Fn. 180), S.370. 187 Vgl. v. Seil, Friedrich-Wilhelm Freiherr: Programmverantwortung und redaktionelle Mitbestimmung, in: RuF 1970, 13 (17). ,S1
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sondern um die Programmgestaltung als solche. Wenn es sich auch immer erst um eine nachträgliche Ahndung handeln würde, so dürfte ihre Wirkung auf die zukünftige Programmgestaltung doch so erheblich sein, daß sie einem tatsächlichen Eingriff in die Programmgestaltung gleichkäme. Solcher Eingriffe aber hat sich der Staat gerade zu enthalten188. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu ausgeführt: „Ebensowenig läßt die Rundfunkfreiheit von vornherein eine Unterscheidung der Sendungen nach dem jeweils verfolgten Interesse oder der Qualität der Darbietung zu; eine Beschränkung auf ,seriöse', einem anerkennenswerten privaten oder öffentlichen Interesse dienende Produktion liefe am Ende auf eine Bewertung und Lenkung durch staatliche Stellen hinaus, die dem Wesen dieses Grundrechts gerade widersprechen würde 18 '."
Hinzu kommt, daß schon die bloße Auswahl und Gestaltung von Sendungen meinungsäußernden und meinungsbildenden Charakter hat" 0 , insoweit also auch Meinungsäußerung ist. Folgt man dem, so könnte die Strafbarkeit wegen Verletzung des Ausgewogenheitsgebotes sogar zu einer Strafbarkeit wegen der in dieser Auswahl und Gestaltung liegenden Meinungsäußerung werden. Es zeigt sich also, daß auch Art. 5 Abs. 1 G G der Einführung einer solchen Strafbestimmung entgegensteht. [179] F. Ergebnis und Ausblick Die von dem Gutachten zu klärenden Frage, ob es sich empfehle, eine Strafbestimmung zur Durchsetzung des rundfunkrechtlichen Ausgewogenheitsgebots einzuführen, muß klar verneint werden. Unsere Überlegungen haben gezeigt, wieviele Bedenken der Einführung einer solchen Norm entgegenstehen und daß dies sogar aus rechtstechnischen Gründen unmöglich ist. Besinnen wir uns abschließend noch einmal auf den Ausgangspunkt, von dem aus das Bundesverfassungsgericht seinerzeit - im Jahre 1961 die hier untersuchten Grundsätze zur Rundfunkprogrammgestaltung postuliert hatte: Es waren allein und ausschließlich die beschränkten technischen Möglichkeiten im Sendebereich, die das Bundesverfassungsgericht dazu veranlaßt hatten, zum Schutze der Freiheit des Rundfunks im Gegensatz zur Presse - bestimmte Anforderungen an die Organisation und Programmgestaltung der Rundfunkanstalten zu stellen. Heute - 1 8 Jahre später - stehen wir vermutlich vor einer Umwälzung der 188 Vgl. oben unter A I 3 a, Stichwort: Staatsfreiheit; vgl. auch BVerfGE 25, 296 (307); 35, 202 (222). 1 ! ' BVerfGE 35, 222. Vgl. BVerfGE 12, 260; 31, 326; 35, 222.
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bislang eher festgefügten Medienlandschaft. Technische Fortschritte auf dem Gebiet der Funkübertragung, der Kabeltechnik, die Einführung von Bildschirmtext, Bildschirmzeitung und Kabelfernsehen setzen völlig neue Maßstäbe für Information und Kommunikation. Es ist daher äußerst fraglich, ob der Ausgangspunkt, von dem aus das Bundesverfassungsgericht argumentiert hat, heute noch zutrifft" 1 . Mit Sicherheit wird dies in naher Zukunft nicht mehr der Fall sein. Außerdem ist der Streit um die Einführung privater Rundfunkanstalten gerade in vollem Umfang im Gange. Es zeigt sich also, daß die Voraussetzungen, unter denen die Programmausgewogenheit einst postuliert wurde, zumindest im Wanken begriffen sind. Man sollte nicht versuchen, in diesen Prozeß des Wandels mittels Strafnormen statuserhaltend einzugreifen. Die Programmkontrolle sollte daher weiterhin den pluralistisch besetzten Anstaltsgremien überlassen bleiben. Inwieweit sich diese Kontrolle verbessern läßt, ist Gegenstand anderer Gutachten. (abgeschlossen im September 1979)
1,1
Vgl. zu diesen Bedenken auch Scheuner (Fn. 180), S.369.
Anhang Auszugsweiser Abdruck von Rechtsvorschriften zitiert nach Ring, Wolf-Dieter (Hrsg.), Deutsches Presse- und Rundfunkrecht (Textsammlung), 1979 I. Gesetz über die Errichtung und die Aufgaben einer Anstalt des öffentlichen Rechts „Der Bayerische Rundfunk" v. 10. Aug. 1948 i.d.F. v. 26. Sept. 1973 Art. 4 (Grundsätze und Verpflichtungen für Sendungen, Werbesendungen). (1) Die Sendungen des Bayerischen Rundfunks dienen der Bildung, Unterrichtung und Unterhaltung. Sie sollen von demokratischer Gesinnung, von kulturellem Verantwortungsbewußtsein, von Menschlichkeit und Objektivität getragen sein und der Eigenart Bayerns gerecht werden. (2) Hieraus ergeben sich insbesondere folgende Verpflichtungen: 1. In allen Angelegenheiten von öffentlichem Interesse sind die verschiedenen Auffassungen im Gesamtprogramm ausgewogen und angemessen zu berücksichtigen. 2. Zur Vorbereitung von Wahlen ist allen politischen Parteien und Wählergruppen, die in Bayern einen gültigen Wahlvorschlag zum Landtag oder Bundestag eingereicht haben, bis zum Wahltag Gelegenheit zur Äußerung im Rundfunk zu geben. 3. Den Vertretern der anerkannten Religionsgemeinschaften sind auf ihren Wunsch angemessene Sendezeiten einzuräumen. Das gleiche gilt für Körperschaften des öffentlichen Rechts gem. Art. 143 Abs. 2 Satz 2 der Bayerischen Verfassung. 4. Den Vertretern der Organisationen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber sind angemessene Sendezeiten gleichen Umfangs einzuräumen. 5. Die Bayerische Staatsregierung hat das Recht, Gesetze, Verordnungen und andere wichtige, im öffentlichen Interesse gelegene Mitteilungen über den Rundfunk bekanntzugeben. 6. Die Sendungen, die für den Unterricht in bayerischen Schulen bestimmt sind, haben die für diese Schulen gültigen Lehr- und Bildungspläne zu beachten. 7. Die Angestellten des Bayerischen Rundfunks dürfen bei der Programmgestaltung weder einseitig einer politischen Partei oder Gruppe noch Sonderinteressen, seien sie wirtschaftlicher oder persönlicher Art, dienen. Sie können jedoch in eigenen Kommentaren und in Sendungen, die kritisch Stellung nehmen, ihre persönliche Meinung äußern. 8. Bei Beschäftigung der unter Nummer 7 genannten Personen ist Absatz 1 Satz 2 zu beachten. 9. Alle Nachrichten und Berichte sind wahrheitsgetreu und sachlich zu halten. Die Redakteure sind bei der Auswahl und Sendung der Nachrichten zu Objektivität und Uberparteilichkeit verpflichtet. 10. Der Rundfunk kann im Rahmen des publizistischen Anstandes sachliche Kritik an Personen sowie an Einrichtungen, Vorkommnissen des öffentlichen Lebens üben. I I . Die in der Verfassung festgelegten Grundrechte und Grundpflichten müssen Leitlinien der Programmgestaltung sein. Insbesondere sind Sendungen verboten, die Vorurteile gegen einzelne oder Gruppen wegen ihrer Rasse, ihres Volkstums, ihrer Religion oder Weltanschauung verursachen oder zu deren Herabsetzung Anlaß geben können, ferner solche Sendungen, die das sittliche oder religiöse Gefühl verletzen.
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(3) Der Bayerische Rundfunk kann Sendezeiten für wirtschaftliche Werbezwecke vergeben. Die Werbesendungen müssen als solche gekennzeichnet sein. Der Anteil der Werbesendungen an der gesamten Sendezeit wird auf Vorschlag des Intendanten durch übereinstimmenden Beschluß von Rundfunkrat und Verwaltungsrat festgelegt. 2. Gesetz über den Hessischen Rundfunk v. 2. Okt. 1948, zuletzt geändert durch Gesetz v. 12. Mai 1970 §J (Grundsätze verbindlich:
für Sendungen).
Die folgenden Grundsätze sind für die Darbietungen
1. Der Rundfunk ist Sache der Allgemeinheit. Er wird in voller Unabhängigkeit überparteilich betrieben und ist von jeder Beeinflussung fernzuhalten. 2. Die Darbietungen sollen Nachrichten und Kommentare, Unterhaltung, Bildung und Belehrung, Gottesdienst und Erbauung vermitteln und dem Frieden, der Freiheit und der Völkerverständigung dienen. 3. Die Darbietungen dürfen nicht gegen die Verfassung und die Gesetze verstoßen oder das sittliche und religiöse Gefühl verletzen. Sendungen, die Vorurteile oder Herabsetzungen wegen der Nationalität, Rasse, Farbe, Religion oder Weltanschauung eines Einzelnen oder einer Gruppe enthalten, sind nicht gestattet. 4. Die Berichterstattung muß wahrheitsgetreu und sachlich sein. Nachrichten und Stellungnahmen dazu sind deutlich von einander zu trennen. Zweifel an der Richtigkeit sind auszudrücken. Kommentare zu den Nachrichten müssen unter Nennung des Namens des dafür verantwortlichen Verfassers als solche gekennzeichnet werden. 5. Die Landesregierung hat das Recht, Gesetze, Verordnungen und andere wichtige Mitteilungen durch den Rundfunk bekanntzugeben. Hierfür ist ihr angemessene Sendezeit unverzüglich und unentgeltlich einzuräumen. 6. Während des Wahlkampfes ist lediglich den politischen Parteien, die in allen Wahlkreisen Wahlvorschläge eingereicht haben, Sendezeit zu gewähren. Die Sendezeit muß gleichlang und gleichwertig sein. 7. Wenn Vertretern der politischen Parteien und der verschiedenen religiösen, weltanschaulichen und wirtschaftlichen Richtungen, insbesondere auch Vertretern von Organisationen der Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, Gelegenheit zur Aussprache gegeben wird, so ist ihnen die Möglichkeit der Rede und Gegenrede unter jeweils gleichen Bedingungen zu gewähren. Einen Anspruch auf Teilnahme an solcher Aussprache haben nur die in Ziffer 6 bezeichneten politischen Parteien, die über das ganze Land verbreiteten Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen, sowie die Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften des Landes. 8. Im Rundfunk angegriffenen Dienststellen oder Persönlichkeiten der öffentlichen Verwaltung oder des öffentlichen Lebens ist zur Abwehr gleichwertige Sendezeit zu gewähren. 9. Eine unwahre Behauptung ist auf Verlangen einer beteiligten Behörde oder Privatperson zu berichtigen. § 10 des Hessischen Gesetzes über Freiheit und Recht der Presse in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. November 1958 (GVB1. S. 183) ist sinngemäß anzuwenden. 10. Reklamesendungen bedürfen der Zustimmung des Rundfunkrats. 3. Staatsvertrag über den Norddeutschen Rundfunk v. 16. Febr. 1955 §4 (Grundsätze für Sendungen). (1) Der N D R hat seine Sendungen im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung zu halten. Er hat die weltanschaulichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Richtungen zu berücksichtigen. Die sittlichen und religiösen Überzeugungen der Bevölkerung sind zu achten. Der landsmannschaftlichen Gliederung des
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Sendegebiets ist Rechnung zu tragen. Die Nachrichtengebung muß allgemein, unabhängig und objektiv sein. (2) Der N D R soll die internationale Verständigung fördern, zum Frieden und zur sozialen Gerechtigkeit mahnen, die demokratischen Freiheiten verteidigen und nur der Wahrheit verpflichtet sein. Er darf nicht einseitig einer politischen Partei oder Gruppe, einer Interessengemeinschaft, einem Bekennntnis oder einer Weltanschauung dienen. 4. Gesetz über die Errichtung und die Aufgaben einer Anstalt des öffentlichen Rechts „Radio Bremen" v. 22. Nov. 1948, zuletzt geändert durch Gesetz v. 18.2.1975 §2 (Grundsätze für Sendungen, Sendezeit für Dritte). (1) Die Sendungen von „Radio Bremen" dienen durch Unterrichtung, Belehrung und Unterhaltung der gesamten Bevölkerung. Sie sollen von kulturellem Verantwortungsbewußtsein zeugen und die künstlerische Aufgabe des Rundfunks deutlich werden lassen. Die Sendungen des Rundfunks sollen von demokratischer Gesinnung und unbestechlicher Sachlichkeit getragen sein. Der Rundfunk hat sich mit allen Kräften für die Ideale von Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrheit, Duldsamkeit und Achtung vor der einzelnen Persönlichkeit einzusetzen. (2) Die Gestaltung der Sendungen von „Radio Bremen" muß frei sein von der Beeinflussung durch die Regierung oder durch politische, wirtschaftliche, religiöse und andere Interessengruppen. (3) Die Sendungen von „Radio Bremen" dürfen nicht Verfassung und Gesetze verletzen oder gegen das sittliche und religiöse Gefühl verstoßen. Niemand darf wegen seiner Nationalität, seiner Abstammung, seiner politischen Überzeugung und seines religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses und seines Berufes in einer seine Persönlichkeit, sein Ansehen und seine Menschenwürde schädigenden Weise angegriffen werden. (4) Der Senat hat das Recht auf kostenlose Bekanntgabe von Gesetzen, Verordnungen und anderen wichtigen Mitteilungen durch den Rundfunk. (5) Den anerkannten Religionsgemeinschaften und zugelassenen politischen Parteien, Vertretungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber ist bei strittigen Fragen von öffentlicher Bedeutung auf Wunsch ebenfalls eine angemessene Sendezeit zuzuerkennen. Die Vertreter entgegengesetzter Interessengruppen haben Anspruch auf die gleiche Sendezeit. (6) Die Mitarbeiter des Rundfunks müssen bei allen Sendungen einen überparteilichen Standpunkt einnehmen und dürfen keinen Sonderinteressen, sei es wirtschaftlicher oder persönlicher Art, dienen. (7) Alle Nachrichten und Berichte müssen nach Inhalt, Stil und Wiedergabe wahrheitsgetreu und sachlich sein. Jede offene oder versteckte Kommentierung ist zu unterlassen. Bei Nachrichtenübermittlung ist nur solches Material zu benutzen, das aus Nachrichtenagenturen und Quellen stammt, die in Beurteilung und Wiedergabe einen objektiven Standpunkt erkennen lassen. Ist diese Gewähr nicht gegeben, dann ist dies unmißverständlich zum Ausdruck zu bringen. (8) Der Rundfunk hat das Recht, nach gewissenhafter Prüfung der Gründe an Ungerechtigkeiten, Mißständen oder Unzulänglichkeiten bei Persönlichkeiten oder Einrichtungen des öffentlichen Lebens sachliche Kritik zu üben. Der Gegenseite ist die Möglichkeit einer sachlichen Entgegnung oder Rechtfertigung zu geben und zwar zu gleicher Sendezeit und bei gleicher Sendedauer. 5. Gesetz Nr. 806 über die Veranstaltung von Rundfunksendungen im Saarland v. 2. Dez. 1964, zuletzt geändert durch Ges. v. 28.3.1977 § 10 Grundsätze für Sendungen. (1) Der Saarländische Rundfunk hat seine Sendungen im Rahmen der verfassungsmäßigen, freiheitlichen und demokratischen Ordnung zu
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gestalten. Die Sendungen sollen eine unabhängige Meinungsbildung ermöglichen und dürfen nicht einseitig einer Partei, einem Bekenntnis, einer Weltanschauung, einem Berufsstand, einer Interessengemeinschaft oder einer sonstigen Gruppe dienen. Sie haben den religiösen, sittlichen und kulturellen Belangen der Bevölkerung des Saarlandes Rechnung zu tragen. (2) Der Saarländische Rundfunk soll die internationale Verständigung fördern, zum Frieden und zur sozialen Gerechtigkeit mahnen, die demokratischen Freiheiten verteidigen und nur der Wahrheit verpflichtet sein. 6. Satzung der Rundfunkanstalt „Sender Freies Berlin" v. 12. Nov. 1953 i.d.F. v. 5. Dez. 1974 5 3 (Grundsätze für Sendungen). (1) Die Sendungen des Senders Freies Berlin müssen von demokratischer Gesinnung und Treue zu dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und der Verfassung von Berlin, von kulturellem Verantwortungsbewußtsein und vom Willen zur Sachlichkeit getragen sein. Sie sollen für Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit wirken und eine unabhängige Meinungsbildung ermöglichen. Die Anstalt darf nicht Werkzeug einer Regierung, einer Gruppe oder einer einzelnen Persönlichkeit sein. Darüber hinaus muß die Gesamtheit der Sendungen der einzelnen Programmsparten des Hörfunks und des Fernsehens diesen Grundsätzen entsprechend inhaltlich ausgewogen sein. (2) Auf Wahlkampfsendungen, die von den politischen Parteien selbst gestaltet werden, findet Absatz 1 keine Anwendung. Solche Sendungen sind jedoch unzulässig, wenn damit gegen Strafgesetze verstoßen würde. 7. Satzung für den „Süddeutschen Rundfunk" in Stuttgart v. 21. Nov. 1950, zuletzt geändert durch Gesetz v. 2. Aug. 1951 5 2 (Grundsätze und Richtlinien für Sendungen). (1) Auf dem Wege zur Schaffung eines freien, demokratischen und friedliebenden Deutschlands, das wiederum seinen Platz in der Familie der Nationen als geachtetes und sich selbst achtendes Mitglied einnehmen wird, muß das deutsche Rundfunkwesen mit allen Kräften bemüht sein, ohne Kompromisse sich der Förderung der menschlichen Ideale von Wahrheit, Toleranz, Gerechtigkeit, Freiheit und Achtung vor den Rechten der individuellen Persönlichkeit zu widmen. (2) Zu diesem Zweck wird das deutsche Rundfunkwesen seine Unabhängigkeit aufrechterhalten. Es wird sich nicht den Wünschen oder dem Verlangen irgendeiner Partei, eines Glaubens, eines Bekenntnisses oder bestimmter Weltanschauungen unterordnen. Es wird weder mittelbar noch unmittelbar ein Werkzeug der Regierung, einer besonderen Gruppe oder einer Persönlichkeit sein, sondern in freier, gleicher, offener und furchtloser Weise dem ganzen Volke dienen. (3) Der Rundfunk wird allein die Sache der Gerechtigkeit und die gemeinsame Sache der Menschheit verfechten. (4) Der „Süddeutsche Rundfunk" hat deshalb bei der Veranstaltung seiner Rundfunkdarbietungen folgende Richtlinien zu beachten: 1. den Vertretern der hauptsächlichsten religiösen Bekenntnisse, die den Wunsch äußern, gehört zu werden, eine angemessene Sendezeit einzuräumen; 2. den Vertretern verschiedener Richtungen bei strittigen Fragen von allgemein öffentlichem Interesse eine angemessene Sendezeit zu gewähren; 3. den Vertretern der gesetzlich zugelassenen Organisationen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber bei der Behandlung sie betreffender Fragen von allgemein öffentlichem Interesse das Recht auf eine angemessene Sendezeit zu gewährleisten;
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4. den politischen Parteien angemessene Sendezeiten einzuräumen; dies gilt insbesondere während ihrer Beteiligung an öffentlichen Wahlen; 5. den festangestellten Sprechern, Kommentatoren oder Programmverfassern nicht zu gestatten, bei Sendungen, an denen sie beteiligt sind, ihren Namen zur Werbung für irgendeine politische Partei herzugeben; 6. die ganze Berichterstattung auf ein hohes Niveau wahrheitsgetreuer Objektivität an Inhalt, Stil und Wiedergabe einzustellen und bei Nachrichtensendungen jede offenbare oder versteckte Kommentierung zu unterlassen; 7. bei Nachrichtenübermittlung nach bester Möglichkeit objektives Material, das aus freien und unabhängigen Quellen stammt, zu benützen; 8. demokratisch gesinnten Kommentatoren und Vortragenden das Recht zur Kritik an Ungerechtigkeiten, Mißständen oder Unzuträglichkeiten bei Persönlichkeiten oder Amtsstellen der öffentlichen Behörden und der Staatsregierung zu sichern; der Regierung und allen etwa auf diese Art kritisierten Persönlichkeiten, Amtsstellen und Organisationen das Recht zu sichern, sich zu gleichwertiger Sendezeit und in angemessener Weise gegen solche Angriffe zu verteidigen oder verteidigen zu lassen; der Regierung und ihren Mitgliedern (Ministern) ferner das Recht zu sichern, den Rundfunksender für amtliche Verlautbarungen zu benützen; 9. keine Sendung zu gestatten, die irgendwie Vorurteile oder Diskriminierung gegen Einzelpersonen oder Gruppen wegen ihrer Rasse, Religion oder Farbe verursachen könnte; 10. zu verhindern, daß der Sender Gedanken oder Begriffe verbreitet, die in grober Weise gegen die moralischen Gefühle großer Teile der Zuhörerschaft verstoßen. 8. Staatsvertrag Uber den Südwestfunk v. 27. Aug. 1951, zuletzt geändert durch Staatsvertrag v. 27.2.1959/16.3.1959 §5 (Grundsätze für Sendungen). (1) Die Programme des Südwestfunks müssen vom Geiste demokratischer Freiheit und der Verständigung unter den Völkern getragen sein. (2) Der Südwestfunk darf nicht einseitig in den Dienst einer Regierung, politischen Partei, Kirche, religiösen Gemeinschaft, weltanschaulichen Richtung, eines Berufsstandes oder Interessenverbandes treten. (3) Nachrichten und Berichte müssen im Inhalt wahrheitsgetreu und in der Wiedergabe sachlich sein. Zweifel an der Zulässigkeit einer Nachricht sind zum Ausdruck zu bringen. Nachrichten sind von Kommentierungen und Stellungnahmen zu trennen. 9. Satzung des Südwestfunks v. 20. Juni 1952 i.d.F.v. 7. Juni 1974 Art. 5 (Grundsätze für Sendungen, Sendezeiten für Dritte). (1) Die Programme des Südwestfunks müssen vom Geiste demokratischer Freiheit und der Verständigung unter den Völkern getragen sein. Sie haben die im Grundgesetz und in den Länderverfassungen festgelegten Grundrechte und Grundpflichten zu achten. (2) Die Sendungen dürfen gegen die Gesetze nicht verstoßen, das sittliche oder religiöse Gefühl nicht verletzen und keine Vorurteile gegen Einzelne oder Gruppen wegen ihrer Rasse, ihres Volkstums, ihrer Religion oder Weltanschauung zum Ausdruck zu bringen. (3) Der Südwestfunk hat das Recht zu angemessener und sachlicher Kritik am öffentlichen Leben; Hörfunk- und Fernsehsendungen müssen in Wort und Bild über den Gegenstand in seinem objektiven Zusammenhang und die darüber bestehenden wesentlichen Meinungen hinreichend unterrichten. Dabei darf der Südwestfunk nicht einseitig in den Dienst einer Regierung, politischen Partei, Kirche, religiösen Gemeinschaft, weltanschaulichen Richtung, eines Berufsstandes oder Interessenverbandes treten. Die eigenen
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Sprecher, Kommentatoren oder Mitarbeiter des Südwestfunks haben in Sendungen, in denen sie mitwirken, einen überparteilichen Standpunkt zu wahren. Sie dürfen hierbei keine persönlichen Interessen vertreten oder verfolgen. (4) a) Den Kirchen und staatlich anerkannten Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften sind auf ihren Wunsch angemessene und zweckentsprechende Sendezeiten einzuräumen. b) Die Bundesregierung und die Landesregierung des Sendegebietes haben das Recht, Gesetze, Verordnungen und andere wichtige Mitteilungen durch den Südwestfunk kostenlos bekanntzugeben. Zur angemessenen Vertretung ihrer Auffassungen werden ihnen zweckentsprechende Sendezeiten eingeräumt. c) Soweit politische Parteien in einem der vertragschließenden Länder Fraktionsstärke besitzen, ist ihnen angemessene Sendezeit zu gewähren; dies gilt insbesondere während ihrer Beteiligung an öffentlichen Wahlen. d) Den Organisationen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber ist zur Behandlung sie betreffender Fragen von allgemein öffentlichem Interesse das Recht auf eine angemessene Sendezeit zu gewährleisten. e) Parteien und Bewegungen, die darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, haben keinen Anspruch auf Sendezeit. 10. Gesetz über den „Westdeutschen Rundfunk Köln" v. 25. Mai 1954, zuletzt geändert durch Gesetz v. 9.7.1974 §4 (Grundsätze für Sendungen). Der Westdeutsche Rundfunk Köln hat seine Sendungen im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung zu halten. Er hat die weltanschaulichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Richtungen zu berücksichtigen. Die sittlichen und religiösen Uberzeugungen der Bevölkerung sind zu achten. Der landsmannschaftlichen Gliederung des Sendegebiets soll Rechnung getragen werden. Die Nachrichtengebung muß allgemein, unabhängig und objektiv sein. Der Westdeutsche Rundfunk soll die internationale Verständigung fördern, zum Frieden und zur sozialen Gerechtigkeit mahnen, die demokratischen Freiheiten verteidigen und nur der Wahrheit verpflichtet sein. Er darf nicht einseitig einer politischen Partei oder Gruppe, einer Interessengemeinschaft, einem Bekenntnis oder einer Weltanschauung dienen. 11. Gesetz über die Errichtung von Rundfunkanstalten des Bundesrechts v. 29. Nov. 1960, zuletzt geändert durch Gesetz v. 14.12.1976 §23 Gestaltung der Sendungen. Die Sendungen müssen in ihrer Gesamtheit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung entsprechen. Sie dienen einer unabhängigen Meinungsbildung und dürfen nicht einseitig eine Partei, eine Religionsgemeinschaft, einen Berufsstand oder eine Interessengemeinschaft unterstützen; die sittlichen und religiösen Empfindungen der Rundfunkteilnehmer sind zu achten. §27 Anspruch auf Sendezeit. (1) Parteien, die im Bundestag oder in einer gesetzgebenden Körperschaft eines Landes vertreten sind, haben während ihrer Beteiligung an Bundestagswahlen Anspruch auf angemessene Sendezeit. Das gleiche gilt für Parteien, die bei einer Bundestagswahl mindestens einen Landeswahlvorschlag eingereicht haben. (2) Die in Absatz 1 Satz 1 genannten Parteien sollen im übrigen die Möglichkeit haben, ihre Auffassungen zu angemessener Sendezeit zu vertreten. (3) Den Kirchen und den anderen über das ganze Bundesgebiet verbreiteten Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts sind auf Wunsch angemessende Sendezeiten für die Übertragung gottesdienstlicher Handlungen und Feierlichkeiten sowie sonstiger religiöser
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Sendungen, auch solcher über Fragen ihrer öffentlichen Verantwortung, zu gewähren. Mit den israelitischen Kultusgemeinden sind entsprechende Vereinbarungen zu treffen. (4) Wenn Vertretern der politischen Parteien, der Kirchen, der verschiedenen religiösen und weltanschaulichen Richtungen und den Vertretern der Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer Gelegenheit zur Aussprache gegeben wird, so ist ihnen die Möglichkeit der Rede und Gegenrede unter jeweils gleichen Bedingungen zu gewähren. Einen Anspruch auf Teilnahme an solcher Aussprache haben nur die in Absatz 1 Satz 1 bezeichneten politischen Parteien, die Kirchen und die anderen über das ganze Bundesgebiet verbreiteten Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts sowie über das ganze Bundesgebiet verbreitete Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer. 12. Staatsvertrag über die Errichtung der Anstalt des öffentlichen Rechts „Zweites Deutsches Fernsehen" v. 6. Juni 1961 § 2 Gestaltung der Sendungen. In den Sendungen der Anstalt soll den Fernsehteilnehmern in ganz Deutschland ein objektiver Uberblick über das Weltgeschehen, insbesondere ein umfassendes Bild der deutschen Wirklichkeit vermittelt werden. Diese Sendungen sollen vor allem auch der Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit und der Verständigung unter den Völkern dienen. Sie müssen der freiheitlichdemokratischen Grundordnung entsprechen und eine unabhängige Meinungsbildung ermöglichen. §6 Anspruch auf Sendezeit. (1) Parteien, die im Bundestag vertreten sind, haben während ihrer Beteiligung an Bundestagswahlen Anspruch auf angemessene Sendezeit. Das gleiche gilt für Parteien, die bei einer Bundestagswahl mindestens einen Landeswahlvorschlag eingereicht haben. (2) Parteien, die im Bundestag oder in den gesetzgebenden Körperschaften von mindestens drei Ländern vertreten sind, sollen im übrigen die Möglichkeit haben, ihre Auffassungen zu angemessener Sendezeit zu vertreten. (3) Den Kirchen und den anderen über das ganze Bundesgebiet verbreiteten Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts sind auf Wunsch angemessene Sendezeiten für die Übertragung gottesdienstlicher Handlungen und Feierlichkeiten sowie sonstiger religiöser Sendungen, auch solcher über Fragen ihrer öffentlichen Verantwortung, zu gewähren. Mit den israelitischen Kultusgemeinden sind entsprechende Vereinbarungen zu treffen. (4) Wenn Vertretern der politischen Parteien, der Kirchen, der verschiedenen religiösen und weltanschaulichen Richtungen und den Vertretern der Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer Gelegenheit zur Aussprache gegeben wird, so ist ihnen die Möglichkeit der Rede und Gegenrede unter jeweils gleichen Bedingungen zu gewähren. 13. Richtlinien für die Sendungen des „Zweiten Deutschen Fernsehens" v. 11. Juli 1963 I. 1. Die Würde des Menschen, seine Freiheit und Eigenverantwortlichkeit sind in allen Sendungen zu wahren. 2. Jeder Mensch hat ein Recht auf Eigenleben. Die Intimsphäre ist in den Sendungen zu achten. 3. Das Programm soll dem einzelnen die eigene Urteilsbildung ermöglichen. Es soll das Gewissen schärfen. 4. Die Berichterstattung muß von vorbehaltlosem Willen zur Wahrhaftigkeit und Sachlichkeit bestimmt sein. III. 1. Die Grundsätze des demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grund-
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gesetzes sind im Programm überzeugend zu vertreten. Es ist zu einer kritischen Haltung allen undemokratischen Erscheinungen gegenüber verpflichtet. Im Programm sollen gemeinschaftlicher Wille zur Demokratie und übereinstimmende Uberzeugung ebenso Ausdruck finden wie unterschiedliche Meinungen. Das Programm soll das Verstehen zwischen den verschiedenen politischen, sozialen und landschaftlichen Gruppierungen unseres Volkes fördern. Durch sachgemäße Information ist die politische Urteilsfähigkeit zu stärken, durch Darstellung von Aufgaben und Entscheidungsmöglichkeiten die Verantwortungsfähigkeit und die Verantwortungswilligkeit zu fördern. Das Programm soll über die deutsche Wirklichkeit umfassend informieren und einen objektiven Uberblick über das Weltgeschehen bieten. Hierzu gehören Darstellungen der deutschen Geschichte, des geschichtlichen Weges des deutschen Volkes, der Mannigfaltigkeit der deutschen Stämme, Länder und Kulturkreise. Die Informationssendungen müssen durch Darstellung der wesentlichen Materialien der eigenen Meinungsbildung dienen. Sie dürfen dabei nicht durch Weglassen wichtiger Tatsachen, durch Verfälschung oder durch Suggestivmethoden die persönliche Entscheidung zu bestimmen versuchen. Die Anstalt ist zur Uberparteilichkeit verpflichtet. Die Ausgewogenheit des Gesamtprogramms bedingt jedoch nicht Überparteilichkeit in jeder Einzelsendung. Sendungen, in denen bei strittigen Fragen ein Standpunkt allein oder überwiegend zur Geltung kommt, bedürfen eines entsprechenden Ausgleichs. Wenn in Einzelsendungen zu strittigen Fragen eine bestimmte Meinung vertreten wird, so ist in ihnen möglichst auf die ergänzende(n) Sendung(en) hinzuweisen. Es ist darauf zu achten, daß gegensätzliche Standpunkte möglichst gleichwertig behandelt werden. Werturteile über Personen und Tatbestände müssen als persönliche oder redaktionelle Meinung zu erkennen sein.
Verzeichnis der Abkürzungen a. A Abs AfP Anm ARD Art Aufl BayGVBl bayr BayVBl BayVerfGH Bd BGHStE BVerfGE bzw d. h DJT DLF DVB1 DW etc f, ff Fn GA GG h. M HR Hrsg i. S i. V. m JR JuS JZ KG lit LPG MDR NDR nds NJW Nr ÖRZ OLG
anderer Ansicht Absatz Archiv für Presserecht Anmerkung Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands Artikel Auflage Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt bayerisch Bayerisches Verwaltungsblatt Bayerischer Verfassungsgerichtshof Band Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, Amtliche Sammlung Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Amtliche Sammlung beziehungsweise das heißt Deutscher Juristentag Deutschlandfunk Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Welle et cetera folgende Fußnote Goltdammer's Archiv für Strafrecht Grundgesetz herrschende Meinung Hessischer Rundfunk Herausgeber im Sinne in Verbindung mit Juristische Rundschau Juristische Schulung Juristenzeitung Kammergericht litera Landespressegesetz Monatsschrift für Deutsches Recht Norddeutscher Rundfunk niedersächsisch Neue Juristische Wochenschrift Nummer Österreichische Richterzeitung Oberlandesgericht
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OWiG Rdn Rdz resp RGStE RGZE RuF saarl SDR SFB SFW sog StGB u. E UWG vgl VOR Vorbem WDStL WDR WP ζ. Β ZDF Zi ZRP ZStW
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Ordnungswidrigkeitengesetz Randnummer Randziffer respektive Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen, Amtliche Sammlung Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen, Amtliche Sammlung Rundfunk und Fernsehen saarländisch Süddeutscher Rundfunk Sender Freies Berlin Südwestfunk sogenannte Strafgesetzbuch unseres Erachtens Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb vergleiche Zeitschrift für das Verkehrs- und Ordnungswidrigkeitenrecht Vorbemerkung Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer Westdeutscher Rundfunk Wahlperiode zum Beispiel Zweites Deutsches Fernsehen Ziffer Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft
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Bemerkungen zu Methodik und Dogmatik des Strafschutzes für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter"' A.
Bei der Frage, ob ein ausländisches Rechtsgut - d. h. ein Rechtsgut, dessen Träger ein Ausländer oder ein ausländischer Staat ist1 - durch eine Strafnorm der Bundesrepublik Deutschland geschützt ist, geht es um den tatbestandlichen Schutzbereich der jeweiligen Strafvorschrift 2 . Deren Untersuchung kann eine normimmanente Selbstbegrenzung auf den Schutz inländischer Rechtsgüter, aber auch eine Ausdehnung des Schutzbereichs der N o r m durch die Tatbestandsfassung oder durch sie erweiternde Sondervorschriften auf ausländische Rechtsgüter ergeben3. Soweit dies nicht schon aus dem klarstellenden Wortlaut der Strafvorschrift selbst oder aus solchen den Straftatbestand gezielt erweiternden Sondervorschriften hervorgeht 4 , ist es durch Auslegung der Strafvorschrift zu ermitteln 5 . Dabei besteht Einigkeit darüber, daß Individualrechtsgüter ohne Rücksicht darauf geschützt sind, ob sie einem inländischen oder einem ausländischen Rechtsgutträger zustehen'. Das Pro-
* Aus: Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Gebunstag, Verlag Duncker & Humblot, Berlin, 1985, S. 121-178. 1 Zur Unterscheidung zwischen inländischen und ausländischen Rechtsgütern nach der Nationalität der Rechtsgutträger vgl. etwa Binding, Handbuch des Strafrechts, l . B d . , 1885, §80 I I I , S.391; von Weber, Der Schutz fremdländischer staatlicher Interessen im Strafrecht, in: Festgabe für von Frank, Bd. II, 1930, Neudruck 1969, S.269, 276; aus neuerer Zeit Reschke, Der Schutz ausländischer Rechtsgüter durch das deutsche Strafrecht, Diss. Freiburg i. Br., 1962, S. 28-30; heute wohl allg. Sprachgebrauch. 2 Vgl. Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 3. Aufl. 1978 (im folg.: AT), § 1 8 III 8, S. 141; ganz h . M . 3 Grundlegend dazu Vogler, Geltungsanspruch und Geltungsbereich der Strafgesetze, in: Aktuelle Probleme des Internationalen Strafrechts, Geburtstagsgabe für Grützner, 1970, S. 149, 150-153. 4 Vgl. Vogler (Fn.3), S. 152-153. 5 Vgl. Jescheck, Gegenstand und neueste Entwicklung des Internationalen Strafrechts, in: Festschrift für Maurach, 1972, S. 579, 583 = in: Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft, Ausgewählte Beiträge, 1980 (im folg.: Beiträge), S.615, 618-619; Jescheck, A T (Fn.2), S. 141. ' Näheres dazu bei Jescheck (Fn. 5). - Siehe ferner unten Abschnitt Β I V 1 a mit weiteren Einzelheiten.
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blem stellt sich praktisch also nur bei Strafnormen, die „öffentliche" Rechtsgüter (des Staates oder der Allgemeinheit) schützen [122]. Entsprechendes gilt, wenn Rechtsgüter überstaatlicher Gemeinschaften in Rede stehen7. Nur der Strafschutz für solche „fremden öffentlichen" Rechtsgüter ist unser Thema. Bei unseren folgenden Erörterungen hierüber ist nicht an eine rechtshistorische, rechtsvergleichende oder rechtstheoretische Grundlegung gedacht; damit befassen sich bereits gründliche Monographien. Ebensowenig ist eine Auflistung aller erdenklichen Anwendungsfälle und Einzelprobleme beabsichtigt; Großkommentare leisten dies ohnehin längst. Wir wollen vielmehr - gestützt auf eine Reihe von Beispielen - einige methodische und dogmatische Aspekte des Strafschutzes für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter behandeln, bei denen wir Bedenken gegen verbreitete Lehren anmelden möchten; es geht also nur um einen Ausschnitt aus der Gesamtproblematik. Dabei soll der Schutz ausländischer (öffentlicher) Rechtsgüter im Mittelpunkt stehen; supranationale Rechtsgüter werden nur gelegentlich erwähnt werden. Aus Raumgründen müssen wir unser Thema noch in einer weiteren Hinsicht eingrenzen: Die in völkerrechtlichen Verträgen bzw. den dazu ergangenen Ausführungsgesetzen, im Recht der Europäischen Gemeinschaften und in verwandten Regelungsbereichen enthaltenen (inzwischen zahlreichen) Sondervorschriften, die den tatbestandlichen Anwendungsbereich von Strafnormen ausdrücklich auf den Schutz von ausländischen oder supranationalen Rechtsgütern erweitern8, bleiben außer Betracht; sie werfen Probleme eigener und anderer Art auf, die einer gesonderten Erörterung bedürfen'. Eine andere Einschränkung unseres Themas ergibt sich aus der Natur der Sache: Die hier zu behandelnde Frage nach dem tatbestandlichen Einschluß oder Ausschluß fremder öffentlicher Rechtsgüter ist wesensverschieden von der anderen Frage nach dem internationalen Geltungsbereich der nationalen Strafnormen, die das sog. Internationale Strafrecht oder Strafrechtsanwendungsrecht10 beantwortet; über [123] die Vgl. Vogler (Fn. 4). Vgl. dazu die Übersichten über die Sondervorschriften zum Schutze von ausländischen und überstaatlichen Rechtsgütern bei Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. 1983 (im folg.: IntStrR), Rdn.21ff, 34, 150, 720, 808f, 847ff, 912ff, 1004. Ferner etwa Pabsch, Der strafrechtliche Schutz der überstaatlichen Hoheitsgewalt, 1965. 9 § 1 5 2 StGB ist keine „Sondervorschrift" im hier gemeinten Sinne, weil er nur gesetzestechnisch getrennt Fragen regelt, die bis zum Inkrafttreten des EGStGB vom 2. März 1974 (BGBl. 1974, Teil I, S. 469 ff) in den Straftatbeständen der §§146 ff a . F . StGB selbst ihren Platz hatten. 10 Der Streit um die richtige Bezeichnung dieser Materie muß hier auf sich beruhen; vgl. dazu statt vieler Jescheck, AT (Fn. 2), § 18 11, S. 129; Maurach/Zipf, Strafrecht, Allg. Teil, Teilbd.l, 6. Aufl. 1983 (im folg.: A T I ) , §11 I, S. 132f. 7 8
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strikte Trennung beider Materien besteht auch zwischen Vertretern unterschiedlicher Grundkonzeptionen betreffend die „logische Reihenfolge" dieser beiden Fragen Einigkeit". Fragen nach dem internationalen .Geltungsbereich der zu erörternden Strafvorschriften bleiben daher ebenfalls durchweg außer Betracht12. Unser Thema engt sich also auf ausgewählte methodische und dogmatische Probleme ein, die sich bei der Frage nach dem Schutz fremder öffentlicher Rechtsgüter aus den Tatbeständen der inländischen Strafnormen selbst ergeben. Bei der Untersuchung dieser Probleme sind Strafnormen, die einen - wie auch immer gearteten - „Auslandsbezug" aufweisen, ebenso zu bedenken wie Straftatbestände, die insoweit „neutral" abgefaßt sind, denn daraus werden sich unterschiedliche Argumentationsprobleme ergeben. Gestützt auf solche Beispiele wollen wir zunächst die methodischen und dogmatischen Grundsatzfragen herausarbeiten, um die es uns geht (Abschnitt Β I-IV). Anschließend wollen wir auf dieser Basis gesondert vier (teils umstrittene, teils vernachlässigte) Beispiele - nämlich die §§ 132 a Abs. 1 Nr. 1 und 4,152,184 Abs. 1 N r . 9 und 264 Abs. 6 StGB - einer kritischen Einzeluntersuchung unterziehen (Abschnitt Β V). Ein kurzes Schlußkapitel (Abschnitt C) soll die wenig ermutigende Bilanz ziehen und die Frage nach dem richtigen Weg für einen rechtsstaatlich einwandfreien Schutz fremder öffentlicher Rechtsgüter aufwerfen. B. Die Fragestellung, ob die tatbestandliche Auslegung von Strafnormen zum Ausschluß oder zur Einbeziehung fremder öffentlicher Rechtsgüter führt, ist längst über die „klassischen" Beispiele der Staatsschutzdelikte i. w. S. (§§ 81-101 a, 105-109 k StGB) einerseits und der Straftaten gegen ausländische Staaten (§§ 102-104 a StGB) andererseits hinausgewachsen; sie hat in den letzten Jahrzehnten immer weitere wichtige Materien des
11 Vgl. einerseits Jescheck, AT (Fn.2), S. 129 und 141; Vogler (Fn.3), in: Geburtstagsgabe für Grützner, 1970, S. 149, 150; andererseits Oebler, Theorie des Strafanwendungsrechts, in: Geburtstagsgabe für Grützner, 1970, S. 110, 116, und ders., IntStrR (Fn. 8), Rdn. 123. 12 Die (unbestritten notwendige) Trennung der beiden Materien (tatbestandlicher Schutzbereich und internationaler Geltungsbereich der Strafnorm) hat daher - wie im Blick auf unsere späteren Erörterungen in Abschnitt Β III und IV bemerkt sei - auch nichts damit zu tun, ob das Ubiquitätsprinzip des §9 StGB beispielsweise bei Distanzdelikten (hier etwa bei §§ 145 d, 164 StGB) sowie bei Anstiftung und Beihilfe (hier etwa zu § 154 StGB) neben dem ausländischen auch einen inländischen Tatort bereitstellt, da der Tatort nichts über den tatbestandlichen Ausschluß oder Einschluß fremder (öffentlicher) Rechtsgüter aussagt; vgl. dazu Oebler, IntStrR (Fn. 8), Rdn. 240 und 783.
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Strafrechts erfaßt, über die verdienstvolle [124] Zusammenstellungen" Aufschluß geben. Das Hin und Her in dieser Entwicklung und manche Kontroversen im gegenwärtigen Stand zeigen: Die Lösungen sind seit altersher von Regellosigkeit geprägt14. Der Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter ist heute ebenso wie früher mit vielen Zweifeln behaftet15; und diese Unsicherheit hat auch solche Strafvorschriften erfaßt, die einen ausdrücklichen Bezug auf das Ausland enthalten16. Alles dies liegt nicht zuletzt an den in Rechtsprechung und Lehre zur Lösung unserer Frage verwendeten Kriterien. I. Wenn es um die Auslegung solcher Strafnormen geht, deren Tatbestände einen ausdrücklichen „Auslandsbezug" aufweisen, fällt auf, mit welcher Unbefangenheit die Doktrin sich gelegentlich selbst dann vom Wortlaut des Gesetzes freizeichnet, wenn sich in ihm das Gewollte deutlich manifestiert, und wie weit auch sonst in weniger deutlichen Fällen die Emanzipation der Interpretation vom Gegenstand der Exegese fortgeschritten ist; anders ausgedrückt: wie sehr theoretische Konzepte nicht selten gestützt auf Historie und auf Äußerungen im Gesetzgebungsverfahren - die Anknüpfung an die positivrechtliche Regelung überspielen. Bevor wir dies exemplifizieren, ist es hilfreich, sich auf die Grundsätze zu besinnen, die das Bundesverfassungsgericht für die Handhabung der grammatischen, systematischen, historischen und teleologischen Interpretation aufgestellt hat: Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck gekommene „objektivierte Wille des Gesetzgebers", so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe und Personen. Die Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kann nur mit einer gewissen Zurückhaltung - in der Regel bloß unterstützend (zur Bestätigung eines
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Vgl. Oehler, IntStrR (Fn. 8), Rdn. 232 ff und 779 ff; Tröndle, in: Leipziger Kommentar, 10. Aufl. 1978 (im folg.: LK), Vor § 3 Rdn. 25-40; Reschke (Fn. 1), S. 175 ff; Sandweg, Der strafrechtliche Schutz auswärtiger Staatsgewalt, Diss. Berlin, 1965, S. 70 ff. 14 Vgl. von Weber (Fn. 1). 15 Vgl. Jescheck, Straftaten gegen das Ausland, in: Festschrift für Rittler, 1957, S. 275, 277; Oehler, Strafrechtlicher Schutz ausländischer Rechtsgüter, insbesondere bei Urkunden, in der Bundesrepublik Deutschland, JR 1980, 485. 16 Vgl. vorerst nur die §§102 ff StGB und dazu Jescheck (Fn. 15).
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gewonnenen Ergebnisses, zur Beseitigung verbliebener Zweifel) - verwertet werden17. [125] Ein krasses Beispiel für ein Ausscheren aus diesen Grundsätzen ist die Auslegung der §§102-104 a StGB durch einen Teil der Rechtslehre. Zwar ist bei den Straftaten gegen ausländische (früher: befreundete) Staaten das geschützte Rechtsgut seit jeher umstritten gewesen; die Lehre hat stets geschwankt, ob hier die ausländischen Staaten selbst (in ihren Organen, Repräsentanten und Symbolen) geschützt seien oder ob das eigene (deutsche) Interesse an ungestörten Beziehungen zum Ausland das geschützte Rechtsgut sei18. Und auch anläßlich der Einführung der heutigen §§102 ff StGB durch das 3. StÄG1' hat es Stimmen im Gesetzgebungsverfahren gegeben, die weiterhin vom Schutz freundschaftlicher internationaler Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland sprachen20. Indessen kommt es auf alles dies nicht entscheidend an; maßgebend ist in erster Linie, ob in der Neufassung des Gesetzes selbst der Wille, ausländische Rechtsgüter zu schützen, Gestalt angenommen hat. Dies ist in der Tat der Fall: Die neue Abschnittsüberschrift „Straftaten gegen ausländische Staaten" gibt bereits die Deliktsrichtung an; die in den §§102-104 StGB umschriebenen ausländischen Tatobjekte (Organe, Vertreter und Hoheitszeichen) repräsentieren in völkerrechtlicher Sicht den ausländischen Staat, so daß die in §§ 102 ff StGB vertypten Tathandlungen sich gegen den ausländischen Staat richten21; dem Umstand, daß der ausländische Staat selbst durch die Tat verletzt ist, trägt schließlich das in §104 a StGB normierte Erfordernis eines Strafverlangens der ausländischen Regierung Rechnung. Es ist nicht zu sehen, auf welche andere Weise die Intention des Gesetzes, ausländische
17 Vgl. BVerfGE 1, 299, 312; 10, 234, 244; und besonders 11, 126, 130-131. Grundlegend dazu mit zahlreichen weiteren Nachweisen Schwalm, Der objektivierte Wille des Gesetzgebers, in: Festschrift für Heinitz, 1972, S.47ff. - Wenn Nagler, Die Widersetzlichkeit gegen die ausländische Staatsgewalt, in: Festgabe für Heilborn, 1931, S.31, 36, gerade für unseren Bereich eine solche Anknüpfung an die positiv-rechtliche Regelung abgelehnt hat, so ist dies nur noch von historischem Interesse. " Vgl. die Nachweise über die ältere Lit. bei Jescheck (Fn. 15). - Die vereinzelte ältere Lehre, daß die Vorläufer der heutigen §§ 102 ff StGB „Delikte gegen den Frieden" enthalten hätten (so Gerland, Feindliche Handlungen gegen befreundete Staaten, VDStB, Bd. 1, 1906, S. 113, besonders S. 158, 167, 205-206, 209), wird zum heutigen Recht nicht mehr vertreten; vgl. hiergegen von Weber (Fn. 1), S. 277 ff, und Jescheck (Fn. 15). " Vgl. 3. StÄG vom 4. August 1953 - BGBl. 1953, Teil I, S. 735 ff. 20 Die durch das 3. StÄG (Fn.19) eingeführten §§102-104 a StGB gingen auf den unerledigten Rest des Entwurfs eines (l.)StÄG 1950 zurück (vgl. Dreher, Das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz, JZ 1953, 421). Vgl. daher aus den Materialien zu beiden Gesetzen BT-Drucks. 1/1307, besonders S. 39; Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 265. Sitzung vom 12. März 1953, I.WP, S. 13016 (BMJ Dehler). 21 Vgl. Reschke (Fn. 1), S. 109-110.
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Rechtsgüter zu schützen, in der Gesetzessprache noch deutlicher hätte zum Ausdruck kommen können 22 . Dennoch finden sich auch unter der Neufassung [126] des Gesetzes noch einzelne Stimmen, die den §§ 102 ff StGB ein ausländisches Rechtsgut absprechen und nach wie vor nur ein inländisches Rechtsgut - das Interesse an ungestörten Beziehungen zum Ausland - anerkennen 23 . Die h. M. ist dem - wie wir meinen: aus zwingenden Gründen - nicht gefolgt; sie nimmt entweder an, daß durch die §§102 ff StGB nur ausländische Rechtsgüter - die ausländischen Staaten in ihren Organen, Repräsentanten und Symbolen - geschützt seien24, oder sie geht von einer Mehrheit von Rechtsgütern aus, indem sie neben diesen ausländischen Schutzgütern auch das erwähnte nationale Rechtsgut bejaht 25 . Darauf wird noch zurückzukommen sein. Die Frage, ob in anderen weniger deutlichen Fällen die A n k n ü p f u n g an den Wortlaut der positiv-rechtlichen Regelung zu kurz gekommen ist, werden wir - im Verein mit anderen methodischen Fragen - bei den angekündigten Beispielen der §§ 132 a, 152, 184 und 264 StGB erörtern, die sämtlich einen ausdrücklichen „Auslandsbezug" enthalten. Hier ging es zunächst nur darum, an einem schon „klassischen" und vielerörterten Beispiel die grundsätzliche Problematik sichtbar zu machen, die sich bei einer (unstatthaften) Vernachlässigung der Fingerzeige des Gesetzes selbst einstellt. II. Bei dem (wirklichen oder vermeintlichen) nationalen Rechtsgut des Interesses an ungestörten Beziehungen zum Ausland begegnen wir einer ebenso charakteristischen wie aufschlußreichen Unsicherheit. Dieses Rechtsgut findet sich in der Lehre nicht nur bei den schon erwähnten 22
Vgl. dazu statt vieler Dreher, JZ 1953, 421, 426-427. Vgl. Sandweg (Fn. 13), S. 56-58, 74-80; Preisendanz, 30. Aufl. 1978, Vor § 102; Blei, Strafrecht II, Besonderer Teil, 12. Aufl. 1983 (im folg.: BT), §120, S.471; Schmidhausen Strafrecht, Besonderer Teil, 2. Aufl. 1983 (im folg.: BT), 20. Kap., S.222. 24 Vgl. Dreher, JZ 1953, 421, 426-427; Oehler, Die Grenzen des aktiven Personalitätsprinzips im internationalen Strafrecht, in: Festschrift für Mezger, 1954, S. 83, 97; Manrack/Sckroeder, Strafrecht, Besonderer Teil, Teilbd.2, 6. Aufl. 1981 (im folg.: BT2), §89 I V I , S.288; Dreher/Tröndle, 41.Aufl. 1983, Vor §102 Rdn.2; Oehler, IntStrR (Fn.8), Rdn. 232. 25 Vgl. Jescheck (Fn. 15); Willms, in: LK, Vor §102 Rdn. 1; Rudolphi, in: Systematischer Kommentar, 1982 (im folg.: SK), Vor §102 Rdn.2; Lackner, 15.Aufl. 1983, Vor § 102. - Ähnlich, aber mit Vorrang des inländischen Rechtsgutes Eser, in: Schönke/ Schröder, 21.Aufl. 1982, Vor §102 Rdn.2; Otto, Grundkurs Strafrecht, Die einzelnen Delikte, 1977 (im folg.: BT), §861, S.401. - Wieder anders Arzt/Weher, Strafrecht, Besonderer Teil, LH 5, 1982, A I 1, S. 10. - Endlich Reschke (Fn. 1), S. 181, der zusätzlich als 3. Rechtsgut noch die Individualrechtsgüter der angegriffenen ausländischen Repräsentanten als geschützt ansieht; vgl. hiergegen statt vieler BT-Drucks. 1/1307, S. 39. 25
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Straftaten gegen ausländische Staaten (§§ 102-104 a StGB), sondern [127] auch sonst, beispielsweise bei dem noch zu erörternden Unternehmen der Ausfuhr pornographischer Schriften, um sie im Ausland unter Verstoß gegen die dort geltenden Strafvorschriften zu verbreiten (§ 184 Abs. 1 N r . 9 StGB)26. Bei der ebenfalls noch zu besprechenden Fälschung von Geld eines fremden Währungsgebietes (§§ 146 ff, 152 StGB) taucht es jedoch nirgends auf27. Wo dieses Rechtsgut bejaht wird, erscheint es teils kumulativ, teils exklusiv: Im letzteren Falle fehlt gelegentlich - wie fast stets bei §184 Abs. 1 N r . 9 StGB - jedwede Untersuchung der Frage, ob daneben noch ein anderes - etwa ausländisches - Rechtsgut in Betracht kommt. Und wo umgekehrt die Frage nach dem Schutz ungestörter Auslandsbeziehungen - wie bei 152 StGB gar nicht erwähnt wird, ist offen, warum dies geschieht. In dieser Regellosigkeit sind Grundsätze nicht zu erkennen. Wenn wir richtig sehen, hat es bisher nur einen grundlegenden Versuch zur methodischen Klärung dieser Problematik, und zwar durch von Weber, gegeben28; in Anlehnung an seine Studie ließe sich in stark verkürzter Form sagen: Es müsse unterschieden werden zwischen Straftatbeständen, in denen der Gesetzgeber Störungen der auswärtigen Beziehungen als eines innerstaatlichen Rechtsgutes unter Strafe stelle, und solchen Straftatbeständen, bei denen die Erhaltung dieser ungestörten Beziehungen nur gesetzgeberisches Motiv für den Schutz anderer Rechtsgüter sei. Im ersteren Falle strafe der Staat, weil die auswärtigen Beziehungen (durch die Tat) gestört worden seien; im letzteren Falle hingegen, damit sie nicht (durch Nichtverfolgung der Tat) gestört würden. Das bloße gesetzgeberische Motiv sei für den Tatbestand gleichgültig; so aber liege es im deutschen Strafrecht beim Schutz ausländischer Interessen. Man wird dieser Lehre heute nicht mehr in vollem Umfange folgen können; dennoch lassen sich in ihr Anstöße für eine kritische Uberprüfung der von uns soeben konstatierten Regellosigkeit finden: Einerseits erscheint es nicht mehr angängig, die Frage nach dem Vorliegen oder Nichtvorliegen eines bestimmten Rechtsgutes „generell" für alle in Betracht kommenden Deliktstatbestände lösen zu wollen, seien es nun (in der Sprache von Webers) „ausländische Interessen" oder sei es das nationale „Interesse an ungestörten Auslandsbeziehungen"; [128] es ist heute selbstverständlich, daß die Frage nach dem geschützten Rechts-
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Vgl. dazu unten Abschnitt Β V 1. Vgl. dazu unten Abschnitt Β V 3. 28 Vgl. von Weber (Fn. 1), S. 276 ff. Dort war - in Auseinandersetzung mit Gerland (Fn. 18) - freilich die Rede vom „Interesse an Vermeidung von Störungen in den äußeren Beziehungen des Staates", verstanden als „Interesse an der Erhaltung des Friedens". Letzteres wollen wir - weil nicht mehr aktuell (Fn. 18) - beiseite lassen. 27
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gut für jede einzelne Strafnorm gesondert geprüft werden muß 2 '. Auch ein strikter Monismus des Schutzgutes ist heute nicht mehr akzeptabel; es gehört zum gesicherten Bestand der Rechtsgüterlehre, daß ein und dieselbe Strafnorm dem Schutze mehrerer Rechtsgüter dienen kann 30 ; daher können sehr wohl ein ausländisches Rechtsgut und das nationale Rechtsgut der ungestörten internationalen Beziehungen zusammentreffen. Es ist deshalb sicher, daß in den hier gemeinten Fällen die Bejahung eines Rechtsgutes - des nationalen Interesses an ungetrübten Auslandsbeziehungen - nicht die Frage nach dem Vorliegen eines weiteren - etwa ausländischen - Rechtsgutes (und umgekehrt) erspart oder gar abschneidet. Mithin ist es methodisch richtig, wenn die Rechtslehre bei den §§102 ff StGB nach beiden Rechtsgütern fragt; und es ist methodisch fragwürdig, wenn die Doktrin bei anderen Tatbeständen mit Auslandsbezug - beispielsweise bei § 184 Abs. 1 Nr. 9 StGB - nach der Bejahung eines deutschen Rechtsgutes (des Interesses an ungestörten Beziehungen zum Ausland) abbricht, ohne nach einem ausländischen Rechtsgut weiterzufragen. Bei unseren angekündigten vier Beispielen wollen wir daher anders verfahren. Was andererseits die durch von Weber betonte rechtsbegriffliche Unterscheidung zwischen Rechtsgut und bloßem gesetzgeberischem Motiv anlangt, so muß ihr im Grundsatz zugestimmt werden; denn daß das Rechtsgut 31 nicht mit der ratio legis und schon gar nicht mit den Gründen gleichgesetzt werden darf, die den Gesetzgeber zur Normierung der Straftatbestände bewogen haben, entspricht der heute herrschenden Rechtsgüterlehre 32 . Indessen geht es nicht an, ein bestimmtes „Interesse" - seien es nun „ausländische Interessen", sei es das nationale Interesse an ungestörten Auslandsbeziehungen - bei Tatbeständen mit Auslandsbezug „pauschal" als bloßes gesetzgeberisches Motiv abstempeln zu wollen; die Unterscheidung zwischen [129] Rechtsgut und gesetzgeberischem Motiv kann vielmehr sinnvoll nur für jeden Straftat2 ' Vgl. allgemein Blei, Strafrecht I, Allg. Teil, 18. Aufl. 1983 (im folg.: AT), §24 II u. III, S. 89 ff; Mauracb/Zipf, AT 1 (Fn. 10), § 19 II A1, S. 251 ff. - Für die Frage, ob nur inländische oder auch ausländische Rechtsgüter durch eine Strafnorm geschützt sind, gilt nichts anderes: Dies ist für jede Strafnorm gesondert zu prüfen; vgl. insbesondere Nowakowski, Anwendung des inländischen Strafrechts und außerstrafrechtliche Rechtssätze, JZ 1971, 633, 634; Oehler (Fn. 15), JR 1980, 485 ff; Tröndle, in: LK, Vor §3 Rdn.23. 30 Vgl. statt vieler Maurach/Zipf, AT 1 (Fn. 10), § 19 IIA3, S.257ff. - Die Frage, ob dann beide Rechtsgüter gleichrangig nebeneinander stehen oder ob eines dieser Rechtsgüter dem anderen im Range nachgeordnet ist (dazu Maurach/Zipf, a. a. O.), braucht hier nicht weiter verfolgt zu werden. 31 Den Begriff „Rechtsgut" verstehen wir wie Jescbeck, AT (Fn. 2), S. 6 und S. 205 ff. 32 Vgl. dazu statt vieler Rudolpbi, Die verschiedenen Aspekte des Rechtsgutsbegriffs, in: Festschrift für Honig, 1970, S. 151, 152-154.
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bestand gesondert vorgenommen werden. Und hier fällt nun auf, daß diese heute doch durchweg anerkannte Unterscheidung seltsamerweise in unserem Bereich kaum je auftaucht. In der Besinnung hierauf könnte aber ein Mittel liegen, das regellose pragmatische Hantieren mit dem (wirklichen oder vermeintlichen) Rechtsgut des nationalen Interesses an ungestörten internationalen Beziehungen zu problematisieren und so den Blick auf andere - etwa ausländische - Rechtsgüter freizumachen. Die somit prinzipiell notwendige Unterscheidung zwischen dem Rechtsgut eines Straftatbestandes und einem bloßen gesetzgeberischen Motiv für die Pönalisierung begegnet bei ihrer praktischen Realisierung freilich nicht unerheblichen Schwierigkeiten. Es fragt sich daher, ob die weitere erläuternde Unterscheidung von Webers danach, ob der Staat strafe, weil die auswärtigen Beziehungen durch die Tat gestört worden seien, oder ob er strafe, damit diese Beziehungen nicht durch Nichtverfolgung der Tat gestört würden, dabei weiterhilft. Das will auf den ersten Blick so scheinen; denn wenn das Strafrecht Rechtsgüterschutzrecht ist und wenn das Verbrechen (zumindest auch) als Angriff auf ein gewährleistetes Gut (als dessen Verletzung oder Gefährdung) verstanden wird, wie es der h. M. entspricht, dann liegen Bedenken dagegen nahe, eine Tat, die das in concreto in Rede stehende Rechtsgut gar nicht angreift, als tatbestandsmäßige Handlung zu begreifen33, und dieses Manko könnte schwerlich durch die anderweitigen Folgen einer Nichtverfolgung kompensiert werden. Gleichwohl glauben wir nicht, daß eine solche Argumentation unser Problem löst; denn die Antwort darauf, ob die Tat oder erst ihre Nichtverfolgung die auswärtigen Beziehungen beeinträchtigt, beantwortet nicht die hier gemeinte logische Vorfrage, ob überhaupt die betreffende Strafnorm das nationale Interesse an ungestörten Auslandsbeziehungen schützt: Rechtsgut einer Strafnorm ist nicht alles das, was durch die Tat verletzt werden kann; umgekehrt ist zunächst der Tatbestand zu befragen, welches Rechtsgut er meint; erst danach kann geprüft werden, ob in einer Handlung eine Verletzung dieses Rechtsgutes liegt34. Frühestens hier - also dann, wenn das Rechtsgut schon ausgemacht ist - könnte die „Kontrollfrage" von Webers ihren systematischen Platz haben. Wir bleiben also auch in unseren Beispielsfällen darauf angewiesen, zunächst das geschützte Rechtsgut - mit Hilfe der anerkannten Interpretationsmethoden - durch Auslegung des jeweiligen [130] Straftatbestands und seines Sinnzusammenhangs zu ermitteln
33 Vgl. (im folg.: 34 Vgl. 74 (1962),
zu verwandten Gedankengängen Baumann, Strafrecht, Allg. Teil, 8. Aufl. 1977 AT), § 1 2 I I 3 c ß , S. 141. dazu näher Bockelmann, Literaturbericht: Strafrecht - Besonderer Teil II, ZStW S. 311, 314-315.
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und dabei die Unterscheidung zwischen Rechtsgut und bloßem gesetzgeberischem Motiv vorzunehmen. Wenn wir nun unser bisheriges Hauptbeispiel als Erprobungsmodell weiterführen, dann ergibt sich dafür folgendes: Daß bei den Straftaten gegen ausländische Staaten ausländische Rechtsgüter geschützt sind, folgt - wie erörtert - zwingend aus Wortlaut und Sinn der §§ 102-104 a StGB. - O b zu diesem ausländischen Rechtsgut noch das nationale Rechtsgut des Interesses an ungestörten Auslandsbeziehungen hinzutritt, ist hingegen weniger deutlich35, aber wohl zu bejahen. Zwar läßt sich dafür nicht mehr - wie früher - die Abschnittsüberschrift ins Feld führen, die nicht mehr von „befreundeten", sondern von „ausländischen" Staaten spricht. Auch muß der Umstand, daß die §§ 102 ff StGB entstehungsgeschichtlich eine Wurzel in dem Grundsatz „aut dedere, aut punire" haben, durchaus nicht dafür sprechen, daß die ungestörten Auslandsbeziehungen ein Rechtsgut der §§ 102 ff StGB seien36; denn dies könnte ebensogut auf ein bloßes gesetzgeberisches Motiv (für den Schutz der ausländischen Rechtsgüter) hindeuten 37 . Schließlich ist das in der Rechtslehre übliche Rekurrieren auf die Auslegung der (anderslautenden) Vorläufer und auf die Entstehungsgeschichte der heutigen §§ 102 ff StGB38 schon aus den früher erwähnten grundsätzlichen Erwägungen39 nur eine schwache Hilfe. Die Lösung kann nur in der eingangs postulierten Anknüpfung an Wortlaut und Sinn der positiv-rechtlichen Regelung40 liegen: Das in §104 a StGB aufgestellte Erfordernis des Bestehens diplomatischer Beziehungen deutet darauf hin, daß es auch um den Schutz eben dieser Beziehungen geht; dann aber läßt sich die nach § 104 a StGB notwendige Verfolgungsermächtigung der Bundesregierung als Ausdruck dieses eigenen Interesses der Bundesrepublik Deutschland verstehen 41 . Dies erlaubt den Schluß, daß das deutsche Interesse an ungestörten internationalen Beziehungen nicht nur ein gesetzgeberisches Motiv, sondern ein zusätzliches [131] Rechtsgut der
35 Möglicherweise hat Jescheck, AT (Fn. 2), S. 141 - im Gegensatz zu seinen Ausführungen in: Festschrift für Rittler (Fn. 15), S. 277f - aus diesem Grunde neuerdings davon gesprochen, daß bei den §§102-104 StGB „nur an das Ausland gedacht" sei. 36 So aber anscheinend Jescheck, in: Festschrift für Rittler (Fn. 15), S. 277-278. 37 So möchten wir Gerland (Fn. 18), VDStB, Bd. I, S. 113, 122, auf den diese Anknüpfung an Hugo Grotius zurückgeht, verstehen, wenn er von den Folgen von Nichtbestrafung und Nichtauslieferung spricht. 38 Vgl. oben zu und mit Fn. 18-20. 39 Vgl. den Text oben vor Fn. 17. 40 Vgl. oben Abschnitt Β I. 41 Vgl. dazu statt vieler Jescheck (Fn. 36); Willms, in: LK, Vor § 102 Rdn. 1.
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§§ 102 ff StGB ist42; sein Schutz ist in den §§ 102-104 a StGB unmittelbar angelegt und deshalb nicht nur eine sog. Reflexwirkung des Strafschutzes für die ausländischen Rechtsgüter43. Wie schon mehrfach angedeutet, werden auch diese Fragen bei der späteren Erörterung unserer angekündigten Beispiele eine erhebliche Rolle spielen; es ging vorerst vor allem darum, ihre grundsätzliche Bedeutung für unser Thema darzutun, die weit über die ausgewählten Fälle hinausgeht. III. Die meisten Strafvorschriften zum Schutze öffentlicher Rechtsgüter enthalten keinen ausdrücklichen Auslandsbezug der bisher besprochenen Art, sondern sind insoweit „neutral" abgefaßt. Bei ihnen scheidet folglich eine Anknüpfung an den Wortlaut der Straftatbestände aus; die Frage, ob sie auch nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter schützen, läßt sich hier nur aus Sinn und Zusammenhang des jeweiligen Tatbestands beantworten. Bei der Behandlung dieser Frage in Rechtsprechung und Lehre findet sich eine überraschend große Fülle von Argumenten, die nur selten miteinander verbunden, zumeist aber punktuell gestreut sind. Aus methodologischen Gründen wollen wir versuchen, sie zu systematisieren: Zunächst werden wir den Ausgangspunkt und diejenigen Thesen behandeln, die der Problematik durch Ausschlußgründe beizukommen suchen (hier III 1—4); anschließend werden wir diejenigen Lehren erörtern, die (umgekehrt) nach Kriterien für den Einschluß fremder öffentlicher Rechtsgüter fragen (Abschnitt IV). Bei alledem sollen nicht Einzelfälle, sondern rechtsgrundsätzliche Überlegungen im Mittelpunkt stehen; diese werden sich zum Teil auch auf unsere angekündigten Beispiele auswirken. 1. Ausgangspunkt pflegt durchweg die (zutreffende) Erwägung zu sein, daß es primär Aufgabe jedes Strafrechts ist, die nationalen Rechts-
42 Die Frage, ob beide Rechtsgüter im Verhältnis der Kumulation oder der Alternativität zueinander stehen und welche Auswirkung diese Einordnung hätte, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Da beide hier in Rede stehenden Rechtsgüter „öffentliche" Rechtsgüter sind, müssen die hier auftauchenden Fragen nicht notwendig in allen Einzelheiten identisch mit denjenigen Fragen sein, die für das Zusammentreffen eines öffentlichen Rechtsgutes mit einem Individualrechtsgut charakteristisch sind; vgl. zu letzterem etwa Herdegen, in: LK, §164 Rdn. 1 - 3 ; eingehend Langer, Die falsche Verdächtigung, 1973, und Hirsch, Zur Rechtsnatur der falschen Verdächtigung, in: Gedächtnisschrift für Schröder, 1978, S. 307ff; ferner Lenckner, in: Schönke/Schröder, § 164 Rdn. 1-2. 45 Vgl. zu den Reflexwirkungen im Rechtsgüterbereich allgemein etwa Langer (Fn.42), S. 38 und 40; Burgstaller, Zur Einwilligung im Strafrecht, Ö R Z 1 9 7 7 , 1 , 2 ; Hirsch (Fn. 42), S. 322; Maurach/Schroeder, BT 2 (Fn.24), § 9 7 I, S.315; Rudolphi, in: SK, §164 Rdn. 1.
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giiter [132] zu schützen 44 . Ebenso findet sich oft die (gleichfalls zutreffende) Feststellung, daß in der Regel nur inländische Rechtsgüter geschützt sind bzw. - umgekehrt gewendet - daß nur ausnahmsweise ausländische Rechtsgüter in den Strafschutz einbezogen sind45. Bei letzterem handelt es sich jedoch nur um eine Beschreibung des tatsächlich bestehenden Zustands im geltenden Strafrecht, nicht aber - wie im Blick auf unsere anschließenden Erörterungen betont sei - um einen Rechtsgrundsatz nach Art eines (rechtlichen) Regel-Ausnahme-Verhältnisses, das die Auslegung der einzelnen Tatbestände von vornherein einengen würde. Das ist auch in Rechtsprechung und Lehre zum Ausdruck gekommen; so wenn betont wurde, aus dem Umstand, daß manche Strafvorschriften ausdrücklich ausländische Rechtsgüter schützen 46 und manche andere Strafnormen ausdrücklich nur für inländische Rechtsgüter gelten47, dürften keine Umkehrschlüsse gezogen werden 48 ; ferner wenn darauf hingewiesen wurde, daß auch sonst (d. h. außerhalb dieser Fälle) keine Vermutung für den Ausschluß ausländischer Rechtsgüter spreche, zu deren Widerlegung es anderweitiger positiver Bestimmungen bedürfe 49 ; vor allem aber, wenn immer wieder betont wird, auch der (soeben erwähnte) Umstand, daß es primär Aufgabe jedes Strafrechts ist, die nationalen Rechtsgüter zu schützen, schließe es nicht aus, daß in den Strafschutz auch ausländische Rechtsgüter einbezogen seien50. Damit harmoniert es, wenn die heute h. M. - mit Recht, wie wir früher sahen51 - davon ausgeht, daß die Frage nach dem etwaigen Ausschluß oder Einschluß nichtdeutscher Rechtsgüter für jeden Straftatbestand gesondert (nach seinem Wortlaut und Sinnzusammenhang) geprüft werden muß52. Für diese Auslegung sind die „neutral" abgefaßten Straftatbestände prinzipiell „offen"; ihre Auslegung ist nicht durch „rechtliche
44 Vgl. z.B. BGHSt. 22, 282, 285; OLG Saarbrücken NJW 1975, 506, 507; OLG Stuttgart NJW 1977, 1601, 1602. 45 Vgl. z.B. Oehler (Fn.24), Festschrift für Mezger, S.83, 97; Jescheck (Fn.5), Festschrift für Maurach, S. 579, 583; Vogler, Der Fall Kappler in international-strafrechtlicher Sicht, NJW 1977, 1866, 1867; Jescheck, AT (Fn.2), S. 141. 44 Hier werden zumeist die §§ 102 ff StGB genannt; vgl. dazu oben Abschnitt ΒI. 47 Hierfür werden zumeist die Staatsschutzdelikte angeführt; vgl. zu den bei diesen geschützten Rechtsgütern Lüttger, Internationale Rechtshilfe in Staatsschutzverfahren?, GA 1960, 33, 43-58. 48 Vgl. RGSt. 8, 53, 56-57; von Weber (Fn. 1), Festgabe für von Frank, Bd. II, S. 269,
281. 49 so
Vgl. von Weber (Fn. 1), Festgabe für von Frank, Bd. II, S. 283. Vgl. ζ. B. OLG Saarbrücken und OLG Stuttgart wie Fn. 44; ferner BGHSt. 21, 277,
280. 51 52
Vgl. oben Abschnitt Β II bei Fn. 29. Vgl. BGHSt. 21, 277, 280; Nowakowski,
Oehler und Tröndle wie Fn.29.
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Ausgangszwänge" von vornherein generell eingeengt53; sie hängt von weiteren Überlegungen ab. [133] 2. In Rechtsprechung und Lehre findet sich häufig ein (anderes) Prinzip, mit dessen Hilfe ein Teil der ausländischen öffentlichen Rechtsgüter aus den Tatbeständen der „neutral" abgefaßten Strafnormen zum Schutze öffentlicher Rechtsgüter eliminiert werden soll: Auf Angriffe gegen einen fremden Staat, soweit es dabei um seine Souveränität und Staatsgewalt, seine innere Ordnung, seine hoheitliche (z.B. rechtsprechende) Tätigkeit oder seine Verwaltungs- und Fiskalinteressen gehe, seien die entsprechenden deutschen Strafvorschriften nicht anwendbar54. Dieser mithin auf bestimmte Deliktsgruppen beschränkte55 - Rechtsgedanke wird teils als dort ausnahmslos geltendes Prinzip formuliert56, teils mit der Einschränkung „grundsätzlich" bzw. „in der Regel" versehen57. Die Begründungen für diese These58 sind unterschiedlich: Gelegentlich wird gesagt, die betreffenden deutschen Straftatbestände seien unanwendbar, weil es nicht Aufgabe des deutschen Strafrechts sei, die vorbezeichneten Rechtsgüter ausländischer Staaten zu schützen5'. Oft wird betont, eine Ausdehnung des Strafschutzes auf die beschriebenen fremden öffentlichen Rechtsgüter stelle eine unzulässige Einmischung in fremde Souveränität dar60. Ferner findet sich die Begründung, daß eine solche Erstrekkung des Strafschutzes Vertrauen in die Integrität der fraglichen Staats53 Im Ergebnis ebenso Nowakowski (Fn. 29). - Unausgesprochen liegt dies den zahlreichen Stimmen in Rspr. und Lehre zugrunde, die ohne solche Vorbedingungen (zutreffend) für jede Strafnorm gesondert aus deren eigenem Verständnis heraus die Frage der Einbeziehung fremder öffentlicher Rechtsgüter prüfen. 54 Vgl. dazu im einzelnen Eser, in: Schönke/Scbröder, Vor §3 Rdn. 16, an dessen Formulierung sich der Text anlehnt. Ferner BGH in LM, §3 StGB, Nr. 2; BGHSt. 22, 275, 285; 29, 85, 89; OLG Hamm JZ 1960, 576; OLG Düsseldorf NJW 1982, 1242, 1243; Oehler (Fn.24), Festschrift für Mezger, S. 83, 99; Tröndle, in: LK, Vor §3 Rdn. 24; von Bubnoff, in: LK, § 113 Rdn. 7. Zahlreiche weitere Nachweise bei]escheck, Zur Reform der Vorschriften des StGB über das Internationale Strafrecht, IRuD 1956, 75, 81 mit Anm. 46 dortselbst = in: Beiträge, S.521, 528. 55 Samson, in: SK, §3 Rdn. 13, will das deutsche Strafrecht ohne die oben im Text gemachten materiellen Einschränkungen (also schlechthin) auf „Angriffe gegen (seil.: öffentliche) Rechtsgüter fremder Staaten" nicht anwenden. 56 Vgl. z. B. BGHSt. 29, 85, 89. 57 Vgl. z. B. Eser und Tröndle wie Fn. 54. 58 Oehler hat die von ihm in: Festschrift für Mezger (Fn. 24), S. 99, gegebene (weitere) Begründung, der deutsche Gesetzgeber könne nicht Gehorsam gegenüber ausländischen Normen verlangen, in seinen späteren Schriften - soweit ersichtlich - nicht wiederholt. Es geht hier in der Tat ja auch nicht um Gehorsam gegenüber ausländischen Normen, sondern gegenüber deutschen Strafgesetzen, die ggf. ein ausländisches Rechtsgut in ihren Schutz einbeziehen; im Ergebnis ebenso Nowakowski, JZ 1971, 633, 634. 59 Vgl. etwa: OLG Düsseldorf NJW 1982, 1242, 1243. 60 Vgl. z.B. BGHSt. 22, 275, 285; 29, 85, 89; von Bubnoff, in: LK, §113 Rdn.7.
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tätigkeit bzw. ein Urteil über die Schutzwürdigkeit dieser fremden Rechtsgüter voraussetze, das der deutsche Richter nicht fällen könne61. [134] Und schließlich wird darauf hingewiesen, daß eine grenzenlose Ausdehnung auf die entsprechenden Rechtsgüter aller übrigen Staaten den Verlust der tatbestandlichen Garantiefunktion bewirke 62,6 \ Zwar hat sich die praktische Bedeutung dieser Thesen drastisch verringert, seit der Gesetzgeber durch das 2.StrRG 6 4 mit Hilfe der Begriffsbestimmungen des §11 Abs. 1 Nr. 2 - 4 StGB den tatbestandlichen Anwendungsbereich aller Strafnormen über sog. Amtsdelikte und über Straftaten gegen Amtsträger auf die Verantwortlichkeit und den Strafschutz deutscher Amtsträger usw. beschränkt hat65, soweit nicht besondere Ausnahmen bestehen66. Gleichwohl bleiben zahlreiche andere Straftatbestände67, von denen insbesondere die § § 1 4 5 d , 153 ff, 164, 170 b StGB hier eine besondere Rolle in Rechtsprechung und Lehre gespielt haben68. Wir müssen daher den geschilderten Argumenten nachgehen. a) Keine Lösung können jene Stimmen bringen, welche die Unanwendbarkeit der gemeinten Strafvorschriften damit „begründen" wollen, daß es nicht Aufgabe des deutschen Strafrechts sei, ausländische [135] öffentliche Rechtsgüter der hier gemeinten Art zu schützen. Denn einmal wird dabei vorausgesetzt, was zu begründen war; und zum anderen kann mit " Vgl. ζ. B. Schröder, Grundlagen und Grenzen des Personalitätsprinzips im internationalen Strafrecht, JZ 1968, 241, 244; Eser, in: Schönke/Schröder, Vor §3 Rdn. 17; Tröndle, in: LK, Vor §3 Rdn. 28; Samson, in: SK, §3 Rdn. 13. 62 Ähnlich schon Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, Besonderer Teil, Bd. II/2, 1905, §190 II, S. 373 („Blankettstrafgesetze von geradezu unheimlichem Umfange"); heute etwa Tröndle, in: LK, Vor §3 Rdn.28; Oehler, IntStrR (Fn. 8), Rdn. 782; Niewerth, Strafrechtlicher Schutz der öffentlichen Gewalt der D D R als inländische Staatsgewalt?, NJW 1973, 1219. - Vgl. in diesem Zusammenhang ferner Jescheck (Fn. 15), Festschrift für Rittler, S.275, 284; Schröder, Urteilsanmerkung, JZ 1954, 672. 63 Die vorstehend aufgezählten Argumente tauchen innerhalb der vorangestellten Deliktsgruppe (vor Fn. 54) oft nur bei einigen der dazugehörenden Straftatbestände auf; ihre zusammenfassende Darstellung ist aber methodisch gerechtfertigt, weil sie sämtlich ihrer Art nach auf einen pauschalen Ausschluß fremder öffentlicher Rechtsgüter der hier behandelten Gruppe hinauslaufen. - Eine abweichend strukturierte Lehre wird anschließend (sub Β III 3) getrennt behandelt. 64 Vgl. 2. StrRG vom 4. Juli 1969 - BGBl. 1969, Teil I, S.717ff. 65 Daß die Legaldefinitionen des §11 Abs. 1 Nr. 2-4 StGB auf alle einschlägigen Tatbestände des B T anwendbar sind, ist unstreitig; vgl. Eser, in: Schönke/Schröder, §11 Rdn. 15. - In der Sache war diese Einschränkung schon vor Inkrafttreten des 2. StrRG (Fn. 64) weithin anerkannt; vgl. statt vieler BGHSt. 2, 396, 397-398, mit Nachweisen. 66 Vgl. die Übersicht über Sondervorschriften in völkerrechtlichen Verträgen und in Spezialgesetzen bei Dreher/Tröndle, § 113 Rdn. 2. - Zu der Frage, ob sonstige ungeschriebene Erweiterungen bestehen, vgl. unten Abschnitt Β IV 2 a und b. 67 Vgl. die Übersichten bei Tröndle, in: LK, Vor §3 Rdn. 26-40. 68 Zur Frage des internationalen Geltungsbereichs vgl. oben zu und mit Fn. 11 und 12.
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solchen apodiktischen Aussagen nicht a limine ausgeschlossen werden, daß der „objektivierte Wille des Gesetzgebers" gleichwohl nach Sinn und Zusammenhang einer konkreten Strafnorm ein solches ausländisches Rechtsgut mit einschließt. b) Auch die These, ausländische öffentliche Rechtsgüter der geschilderten Art seien deshalb nicht erfaßt, weil eine solche Ausdehnung des Strafschutzes eine unzulässige Einmischung in fremde Souveränität darstelle, greift nicht durch. Es ist anzunehmen, daß dieser Gedanke irgendwann einmal aus dem sog. Internationalen Strafrecht oder Strafrechtsanwendungsrecht" entlehnt worden ist. Hier bestehen in der Tat völkerrechtliche Schranken für die Ausdehnung des internationalen Geltungsbereichs des nationalen Strafrechts; denn eine solche Ausdehnung erfordert „sinnvolle Anknüpfungspunkte", wie sie sich in den anerkannten Prinzipien des Internationalen Strafrechts entwickelt haben, und hat ihre Grenze im völkerrechtlichen Mißbrauchsverbot70. Und dort findet sich der Rechtsgrundsatz, daß es eine völkerrechtswidrige Einmischung in fremde Souveränität darstellt, wenn ein Staat durch sein Strafrecht ein Verhalten im Ausland verbietet, das dort entweder vorgeschrieben oder doch erlaubt ist71. Um derartiges geht es hier aber nicht: Hier steht nicht der internationale Geltungsbereich des nationalen Strafrechts, sondern der tatbestandliche Schutzbereich von Strafnormen in Rede72. Ein völkerrechtliches Verbot, ausländische öffentliche Rechtsgüter in den tatbestandlichen Schutzbereich des inländischen Strafrechts einzubeziehen, existiert aber nicht73. Damit reduziert sich das Argument von der Einmischung in fremde Souveränität hier auf eine rechtspolitische Erwägung, von der nicht einmal sicher ist, ob sie de lege ferenda durchgreift; denn der fremde Staat wird kaum etwas dagegen einzuwenden haben, daß sein eigenes Strafrecht von jenseits der Grenzen her gedeckt und unterstützt wird74, es sei denn, man wollte bei Reformplänen Revolution und Umsturz zum Maß der Dinge machen75. [136] " Vgl. oben Fn. 10. 70 Vgl. dazu statt vieler Jescheck, AT (Fn.2), §18 12, S. 130, und §18 II und III, S. 132 ff; ders. (Fn.5), Festschrift für Maurach, S.579, 580-581 = in: Beiträge, S.615, 616-617. 71 Eingehend dazu Jescheck, in: Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, Allg. Teil, 38. Sitzung, 4. Bd., S. 11 ff, besonders S. 14-15. - Vgl. auch die allgemeinen Nachweise bei Reschke (Fn. 1), S. 96-97. 72 Vgl. oben zu und mit Fn. 10-12. 73 Vgl. Nowakowski, JZ 1971, 633, 634. 74 So in bezug auf das Internationale Strafrecht Jescheck (Fn. 71). Das muß für den tatbestandlichen Schutzbereich aber erst recht gelten. 75 BGHSt. 22, 282, 285, spricht zurückhaltender von „innenpolitischen Auseinandersetzungen".
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c) Bedenken begegnet auch jene These, die mit den Stichworten „nicht feststellbare Vertrauenswürdigkeit (Integrität) oder Schutzwürdigkeit" die geschilderten fremden öffentlichen Rechtsgüter pauschal aus dem Strafschutz herausnehmen will. Eine solche Begründung wäre nur akzeptabel, wenn sich die Geltung eines derartigen einschränkenden Prinzips nachweisen ließe; bloße Unterstellungen könnten jene Folgerung nicht tragen. Unser Strafrechtssystem kennt aber keine solche „Diskriminierung auf Verdacht" mit der Folge eines generellen Ausschlusses von (wirklich oder vermeintlich) nicht „vertrauenswürdigen" Staaten und ihren Rechtsgütern. Das zeigt sich zunächst beim Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland in Strafsachen nach dem IRG76. Ihm ist ein pauschaler Ausschluß von Staaten mit in rechtsstaatlicher Sicht bedenklichen Strukturen fremd; auch die ordre-public-Klausel77 des §73 IRG ermöglicht derartiges nicht, sondern sperrt nur die Leistung von Auslieferung und sonstiger Rechtshilfe im davon betroffenen Einzelfall78. Dabei hat die gesetzliche Beschränkung dieses ordre public auf den Widerspruch der nachgesuchten Rechtshilfe mit „wesentlichen" Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung eine Ausdeutung erfahren, die nicht nur zahlreiche zwingende Grundsätze des einfachen deutschen Rechts, sondern sogar manche grundgesetzlich verankerte Prinzipien ausklammert und so den nationalen Verschiedenheiten der Rechtsordnungen in (erstaunlich) hohem Maße Rechnung trägt79. Dahinter steht der Gedanke, daß das Grundgesetz keine Werturteile über fremde Rechtsordnungen fällt und daß nicht auf dem Umwege über Auslieferung und sonstige Rechtshilfe den eigenen (deutschen) Vorstellungen vom Rechtsstaat „Allgemeinverbindlichkeit" verschafft werden kann80. Von einer „pauschalen" Diskriminierung nicht „vertrauenswürdiger" Staaten kann also selbst bei der aktiven Unterstützung ausländischer Strafverfahren durch Leistung von Rechtshilfe nicht die Rede sein81. [137] 76 Vgl. Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) vom 23. Dezember 1982 - BGBl. 1982, Teil I, S. 2071 ff. 77 Vgl. dazu näher Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, 1970, S. 202 ff und 219ff; ders., in: Vogler/Wilkitzki/Walter, §73 IRG Rdn.5-9, in: Grützner/Pätz, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 2. Aufl. 1984. 78 Dasselbe gilt für die §§6 Abs. 2 und 49 Abs. 2 Nr. 2 IRG. 79 Vgl. die umfassende Darstellung bei Vogler (Fn.77), §73 IRG Rdn. 1-3, 12-43, mit zahlreichen Nachweisen. 10 Vgl. dazu Vogler (Fn. 77), § 8 IRG Rdn. 4 und 8, sowie § 73 IRG Rdn. 4 und 25. 81 Das hat bedeutsame Konsequenzen: Der ordre public des § 73 IRG bedarf nicht nur als (lediglich) allgemeine Richtschnur der rechtlichen Konkretisierung; seine Anwendung muß auch die Umstände des konkreten Falles und die Art der erbetenen Rechtshilfe berücksichtigen; vgl. dazu Vogler (Fn. 77), §73 IRG Rdn. 10 und 11. In der Praxis haben sich bereits Fallgestaltungen ergeben, in welchen aus diesem Grunde die Ablehnung des
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Noch deutlicher wird dies bei der innerdeutschen Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen nach dem RHG 8 2 . Bei ihr wird in Kauf genommen, daß Gerichtsorganisation und Strafverfahren der D D R bei weitem nicht den rechtsstaatlichen Vorstellungen unseres Grundgesetzes entsprechen; und dennoch ist Rechts- und Amtshilfe - freilich unter den sehr engen Voraussetzungen der § § 1 , 2 R H G - zulässig83. Auch hier führt mithin nicht etwa „mangelnde Vertrauenswürdigkeit" der Justiz der D D R zu einem generellen Ausschluß aktiver Unterstützung ihrer Strafverfahren durch Leistung von Rechtshilfe84, mag auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu einer Reduzierung auf seltene Fälle geführt haben85. Auch im materiellen Strafrecht findet sich keine Stütze für die erörterte These. So schützen die §§ 102-104 a StGB keineswegs nur „vertrauenswürdige" Staaten86, sondern alle ausländischen Staaten, mit denen die Bundesrepublik Deutschland diplomatische Beziehungen unterhält, auch wenn es sich dabei um kommunistische Staaten oder um Diktaturen handelt87. Und in einem Strafverfahren wegen Meineids - also bei einem Straftatbestand, der hinsichtlich des geschützten öffentlichen Rechtsgutes „neutral" abgefaßt ist - hat der Bundesgerichtshof es abgelehnt, den Begriff „Gericht" i. S. des §154 StGB davon [138] abhängig zu machen, ob das (fremde) Gericht, vor dem der Eid geleistet worden war, nach rechtsstaatlichen Grundsätzen zusammengesetzt gewesen sei
konkreten Rechtshilfeersuchens als unzulässig mit der allgemeinen Begründung, die Justiz des ersuchenden Staates biete derzeit keine Gewähr für die Einhaltung der international anerkannten Mindestregeln eines rechtsstaatlichen Verfahrens, schlicht rechtsfehlerhaft war; vgl. dazu Vogler, a. a. O., § 73 IRG Rdn. 10. 82 Vgl. Gesetz über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen vom 2. Mai 1953 - BGBl. 1953, Teil I, S. 161 ff; in der jetzt geltenden Fassung abgedruckt bei Kleinknecht/Meyer, 36.Aufl. 1983, Anh. D l . ° Vgl. BVerfGE 11, 150, 158 ff; 37, 57, 64 ff; eingehende Darstellung bei Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, 23. Aufl. 1979 (im folg.: LR), 5. Bd., vor und zu §§1, 2 RHG. Allgemein zum Strafrechtssystem der D D R Jescheck, Strafrecht und Strafrechtsanwendung in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands, 1962. 84 Von einer derartigen Folgerung ist aus gesamtdeutschen Erwägungen ganz bewußt abgesehen worden; vgl. Schäfer, in: LR, Vor § 1 R H G Rdn. 6 und 8 a. 85 Vgl. Schäfer, in: LR, Vor § 1 R H G Rdn. 19, mit Nachweisen. Es bleiben aber die Übernahme eines Verfahrens aus der D D R und die Durchführung eines neuen Verfahrens nach Verurteilung in der D D R gemäß §§ 10 ff R H G . 86 Daß die §§102 ff StGB ausländische Rechtsgüter schützen, ist oben Abschnitt Β I dargetan. 87 Vgl. dazu Jescheck (Fn. 15), Festschrift für Rittler, S.275, 282. - Ein Regulativ liegt (nur und erst) in dem prozessualen Erfordernis der Ermächtigung zur Strafverfolgung durch die Bundesregierung nach § 1 0 4 a StGB.
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und ob es nach solchen Grundsätzen amtiert habe88. In der Sache läuft dies auf eine Ablehnung der These vom Ausschluß wegen präsumtiven Mangels an Vertrauens- und Schutzwürdigkeit hinaus, denn der dort entschiedene Fall hätte sich dafür geradezu angeboten89. Auch sonst läßt sich im materiellen Strafrecht eine pauschale Diskriminierung der öffentlichen Rechtsgüter fremder Staaten auf den bloßen „Verdacht" mangelnder Vertrauenswürdigkeit hin nicht nachweisen. Die Vertreter dieser Lehre bemühen sich auch gar nicht, diesen von ihnen propagierten Grundsatz aus dem geltenden Recht abzuleiten. Die von ihnen als Begründung angeführte praktische Schwierigkeit, daß der Richter in concreto die „Vertrauens- oder Schutzwürdigkeit" kaum feststellen könne, rechtfertigt aber nicht die weitergehende Schlußfolgerung, daß deshalb der Strafschutz ohne Rücksicht auf die wirkliche Lage schon „auf Verdacht" von Rechts wegen generell ausgeschlossen sei. Die befremdlichen Konsequenzen dieser Lehre zeigen sich schließlich darin, daß hier gestandene Rechtsstaaten mit demselben Mißtrauen behandelt werden wie weltweit berüchtigte Unrechtssysteme. Aus alledem folgt: Einen Rechtsgrundsatz des Inhalts, daß fremde öffentliche Rechtsgüter der hier in Rede stehenden Art wegen präsumtiv mangelnder Vertrauenswürdigkeit der fraglichen Staatstätigkeit und nicht feststellbarer Schutzwürdigkeit jener Rechtsgüter unbesehen90 generell aus dem Strafschutz eliminiert seien, gibt es ebensowenig, wie es derartige generelle Schranken im Recht der internationalen [139] und der innerdeutschen Rechtshilfe gibt. Dabei stellen wir vorsorglich noch einmal klar: unsere Kritik gilt der geschilderten Begründung, nicht d e n möglicherweise anders zu rechtfertigenden - Ergebnissen.
! 8 Vgl. B G H GA 1955, 178 ff, betr. ein Gericht der DDR. In einer Reihe von Verfahren wegen falscher Verdächtigung gegenüber fremden Behörden hat die Rechtsprechung die sich dort aufdrängende Frage nach der „Vertrauenswürdigkeit" der fremden Staatstätigkeit und der „Schutzwürdigkeit" des fremden öffentlichen Rechtsgutes - und zwar zumeist durch ein Rekurrieren auf das nach einer verbreiteten Ansicht von § 1 6 4 StGB zusätzlich geschützte Individualrechtsgut (vgl. dazu die Nachweise in Fn. 42) stillschweigend übergangen; vgl. B G H N J W 1952, 1385, betr. eine Dienststelle der Besatzungsbehörden; B G H J R 1965, 306 f, betr. eine polnische Dienststelle; O L G Celle HESt. 1, 42, 45, betr. eine Dienststelle der Besatzungsmacht; O L G Köln N J W 1952, 117, betr. die Volkspolizei der D D R .
" Die Rechtsprechung hat vielmehr statt dessen betont, daß die Strafbarkeit gerade hier mit Rücksicht auf besondere Konfliktslagen aus anderen Erwägungen - insbesondere wegen Rechtfertigungsgründen - entfallen könne; vgl. B G H GA 1955, 178 ff, betr. Meineid; ferner die bei Dreher/Tröndle, § 34 Rdn. 22, mitgeteilte unveröffentlichte Entscheidung des B G H vom 25. Juni 1953 - 5 StR 699/52 - , betr. Urkundenfälschung. Grundlegend Schroeder, Zur Strafbarkeit der Fluchthilfe, J Z 1974, 113 ff, mit zahlreichen Nachweisen. K Zu einem differenzierenden anderen Lösungsversuch vgl. unten Abschnitt Β III 3.
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d) Wieder anders steht es mit der These, die uneingeschränkte Einbeziehung aller fremden öffentlichen Rechtsgüter der hier gemeinten Gruppe in den Schutz der einschlägigen deutschen Strafvorschriften führe zum Verlust der tatbestandlichen Garantiefunktion; dieses Argument geht zurück auf Bindings viel zitiertes Wort über die dann drohenden „Blankettstrafgesetze von geradezu unheimlichem Umfange"". Hierzu können wir uns kurz fassen. Zunächst kann dahinstehen, daß es sich hier nicht um „Blankettgesetze" im technischen Sinne handelt92; denn Binding ging es ersichtlich um eine drastische Verdeutlichung seiner Bedenken hinsichtlich der tatbestandlichen Bestimmtheit der Strafvorschriften. Ebenso mag auf sich beruhen, daß dieses Problem seit Inkrafttreten des §11 Abs. 1 Nr. 2-4 StGB - wie schon erörtert93 - für einen weiten, besonders neuralgischen Bereich von Strafvorschriften gegenstandslos geworden ist. Wir brauchen auch nicht zu entscheiden, ob in dem verbliebenen Bereich - insbesondere bei den Delikten gegen die Rechtspflege i. w. S.94 - allein schon durch die große Zahl der möglicherweise einzubeziehenden fremden öffentlichen Rechtsgüter - etwa der fremden Rechtspflege-Institutionen - Art. 103 Abs. 2 GG auf den Plan gerufen würde, sofern dies durch Auslegung als der objektivierte Wille des Gesetzgebers eindeutig feststellbar wäre und somit von einer tatbestandlichen Unbestimmtheit im gewohnten Sinne gar keine Rede sein könnte95; denn keine heute vertretene Richtung in Rechtsprechung und Strafrechtslehre nimmt derartiges an oder läßt es auch nur im Ungewissen. In der Literatur fungiert der Hinweis auf die tatbestandliche Bestimmtheit hier durchweg auch nur zur Unterstützung anderer auf den Ausschluß der fremden öffentlichen Rechtsgüter gerichteten Argumente96; es ist gelegentlich wohl mehr eine „juristische Drohgebärde", und das trifft sogar den Kern: Denn da die Interpretation des einfachen Rechts der Prüfung der Vereinbarkeit [140] einer Norm mit dem Grundgesetz vorauszugehen hat97, wird die ganze Frage schon aus methodischen Gründen gegenstandslos, wenn die Auslegung des Strafrechts eine
" Vgl. Binding (Fn. 62); dazu Jescheck, Oehler und Niewerth wie Fn. 62. 92 Vgl. statt vieler BVerfGE 14, 245, 252; Jescheck, AT (Fn. 2), § 12 III 2, S. 86f. " Vgl. dazu oben zu und mit Fn. 64-65. 54 Vgl. dazu Oehler und Schröder wie Fn. 62. 95 Vgl. zum Grundsatz von der gesetzlichen Bestimmtheit der Straftatbestände statt vieler BVerfGE 26, 41, 42-43; eingehende Übersicht über die Rspr. des BVerfGs bei Leibholz/Rinck, 6. Aufl. ab 1979, Art. 103 GG, Anm.20; ferner Jescheck, AT (Fn.2), §15 III 3, S. 107 f, mit zahlreichen Nachweisen aus der strafrechtlichen Literatur. * Vgl. Binding, Tröndle, Oehler und Schröder wie Fn. 62. 97 Vgl. dazu BVerfGE 50, 142, 152-153, mit zahlreichen Nachweisen. - Zu einem Fall von methodisch verfehlter umgekehrter Prüfungs-Reihenfolge vgl. Tröndle, in: LK, § 1 Rdn. 51.
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Lage, die das Eingreifen der Verfassung heraufbeschwört, gar nicht erst entstehen läßt. Da auch wir - wenngleich aus anderen (strafrechtlichen) Gründen nicht zu einer uneingeschränkten Einbeziehung fremder öffentlicher Rechtsgüter kommen werden, brauchen wir uns auch zur Abstützung unserer eigenen Ansicht mit dieser (verfassungsrechtlichen) pauschalen Radikallösung nicht weiter zu befassen. 3. Gesonderter Betrachtung bedarf eine anders strukturierte, von (Dehler vertretene Lehre, welche die Frage des Ausschlusses fremder öffentlicher Rechtsgüter bei „neutral" abgefaßten Straftatbeständen ohne Beschränkung auf bestimmte Deliktsgruppen und ohne Pauschalurteil lösen will. Sie besagt mit den Worten einer von Oehler gegebenen Definition: „Sind die öffentlichen Rechtsgüter ganz eng mit den Eigenarten des deutschen staatlichen Aufbaus, der deutschen Rechtsorganisation oder Rechtsstruktur, den deutschen kulturellen, sozialen oder sittlichen Verhältnissen verbunden, so daß sie inhaltlich nicht auf entsprechende ausländische Güter übertragen werden können, dann werden diese um ihrer selbst willen von der entsprechenden deutschen Vorschrift nicht geschützt". 98 Dazu ist mehreres zu bemerken: Zwar hat Oehler vereinzelt - statt von öffentlichen Rechtsgütern von „speziell aus dem Hoheitsrecht Deutschlands sich ergebenden Rechtsgütern" gesprochen"; eine gegenständliche Beschränkung auf bestimmte Materien war damit jedoch offensichtlich nicht gemeint. Denn Oehler hat seine Lehre nicht nur bei Delikten durchgespielt, die sich gegen Rechtsgüter „hoheitlicher" Art im eigentlichen Sinne des Wortes richten, wie etwa die Rechtspflege i. w. S. bei den §§153 ff., 145 d, 164 StGB und wie etwa die fiskalischen Belange bei § 370 A O und § 170 b StGB100. Er hat vielmehr in seine Überlegungen auch Strafvorschriften [141] einbezogen, die - summarisch gesprochen - den Rechtsund Beweisverkehr (§§271-273, 277-279 StGB) bzw. die öffentliche O r d n u n g , die innere Sicherheit und den Gemeinschaftsfrieden schützen (§§111, 124-127, 129, 129 a, 131 StGB). Es ist also davon auszugehen, daß diese Lehre Geltung für alle öffentlichen Rechtsgüter (des Staates
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Vgl. Oehler, JR 1980, 485 ff; ders., Urteilsanmerkung, JR 1980, 381 f; den., IntStrR (Fn.8), Rdn. 233-240, 778-788, insbesondere Rdn.233 und 778. Die Formulierungen schwanken im einzelnen; der Text folgt wörtlich der Definition Oehlers, in: JR 1980, 485. 99 Vgl. Oehler, IntStrR (Fn. 8), Rdn. 233. wo Vgl. hierzu und zu den im Text folgenden Beispielen jeweils die Stellungnahmen Oehlers in den bei Fn. 98 bezeichneten Fundstellen. - Wegen der Rechtsgüter, die durch die im Text aufgezählten Strafnormen geschützt sind, muß hier summarisch auf die Literatur verwiesen werden, ohne daß wir auf bestehende Kontroversen eingehen können.
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und der Allgemeinheit) beansprucht101. - Daß weiter die Frage nach der geschilderten engen Verbundenheit der öffentlichen Rechtsgüter mit den deutschen Verhältnissen nicht generell beantwortet werden kann, sondern für jede Strafnorm gesondert zu prüfen ist, hat Oehler - wohl zur Abgrenzung von anderen, mit Pauschalurteilen operierenden Lehren wiederholt betont102. Es kommt also auf das Funktionieren der Definition zur Lösung der darunter fallenden Einzelfälle an. Befassen wir uns zunächst mit der Kernfrage der Definition, wann die strafrechtlich geschützten öffentlichen Rechtsgüter „ganz eng mit den Eigenarten des deutschen staatlichen Aufbaus, der deutschen Rechtsorganisation oder Rechtsstruktur, den deutschen kulturellen, sozialen und sittlichen Verhältnissen verbunden" sind. Oehler hat selbst eingeräumt, daß die Grenzziehung schwierig sei103; wir haben jedoch in zweifacher Hinsicht ganz erhebliche grundsätzliche Bedenken gegen eine solche Formel als Mittel tatbestandlicher Abgrenzung. Diese Bedenken gründen sich zunächst auf die umfassende Häufung großräumiger „Einbettungs-Materien", welche die Formel zu einem Blankett von unbestimmter Weite machen; denn damit stellt sich die Frage nach der rechtsstaatlichen Bestimmtheit dieser die Reichweite der Straftatbestände mitbestimmenden Formel. Auch wenn man einen Unterschied zwischen einer den Straftatbestand begrenzenden unbestimmten Formel und den die Strafbarkeit mitbegründenden unbestimmten, wertausfüllungsbedürftigen Begriffen machen will, liegt es nahe, sich vergleichsweise - zumindest grundsätzlich - an den für letztere vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Prinzipien104 zu orientieren, damit die Handhabung der Formel nicht in individuelles Belieben abgleitet. Dann wäre zu fordern, daß sich auch hier mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden oder auf Grund einer gefestigten Rechtsprechung eine - einigermaßen - zuverlässige Grundlage für die Auslegung und Anwendung der Formel gewinnen ließe. Die herkömmlichen [142] Auslegungsmethoden können indessen allenfalls noch zu einer Konkretisierung der Verbundenheit eines Rechtsgutes mit der deutschen Rechtsorganisation führen, soweit darunter beispielsweise die Rechtspflege verstanden wird; sie stoßen aber schon auf Schwierigkeiten, wenn es um die Verbundenheit mit den Eigenarten des deutschen
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Oehler hat in diesem Zusammenhang übrigens auch Strafnormen erörtert, die ein Individualrechtsgut schützen, wie Hausfriedensbruch (§123 StGB), Auswanderungsbetrug (§ 144 StGB) und einzelne Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 176,182 StGB); vgl. Oehler, IntStrR (Fn.8), Rdn.235, 237, 781. 102 Vgl. Oehler, JR 1980, 381, und ders., IntStrR (Fn. 8), Rdn.233. 105 Vgl. Oehler, IntStrR (Fn.8), Rdn.233. 104 Vgl. BVerfGE 45, 363, 370-372; 47, 109, 120-121; 48, 48, 56-57.
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staatlichen Aufbaus oder mit der deutschen Rechtsstruktur geht, denn was dazu gehört, kann Gegenstand trefflichen Streits sein; und die Verbundenheit mit den - schlechthin allumfassenden - deutschen kulturellen, sozialen und sittlichen Verhältnissen entzieht sich gänzlich einer interpretatorischen Verfestigung. Eine gefestigte Rechtsprechung, die ebenfalls die Formel präzisieren könnte, existiert nicht, weil die Judikatur auch dort, wo sie mit den von Oehler entwickelten Ergebnissen übereinstimmt, nicht dessen Formel, sondern andere Lösungskriterien verwendet105. Somit bleibt schon die Basis der Formel weitgehend unbestimmt. Hinzu kommen sodann Bedenken gegen den Maßstab, den die Definition anlegt, wenn sie sagt, daß die erwähnte Verbundenheit mit den deutschen Verhältnissen „ganz eng" - der Gegensatz wäre: „weniger eng" oder „lose" - sein müsse; denn auch diesem Merkmal gehen hinreichend bestimmte oder bestimmbare Konturen ab; seine Ausfüllung ist eine Frage des Rechtsgefühls. Auch wer die (wiederentdeckte) Rolle des Rechtsgefühls in der Rechtswissenschaft106 nicht gering achtet, wird aber nicht bereit sein, Fragen der tatbestandlichen Bestimmtheit weitgehend dem Gefühl zu überlassen. Auch der Schlußteil der Definition - daß eine „inhaltliche Übertragung" auf die entsprechenden fremden Rechtsgüter ausscheide - ändert an diesem Ergebnis nichts. Wir sind nicht sicher, wie Oehler die Funktion dieses Zusatzes seiner Definition verstanden wissen will: Möglicherweise handelt es sich dabei nur um die Schlußfolgerung aus dem Kernsatz der Definition, denn Oehler hat bei der Darlegung seiner Lehre wiederholt auf diesen Zusatz verzichtet107. Möglicherweise ist dieser Schlußteil der Definition aber auch als eine Art von „Gegenprobe" zu verstehen; denn Oehler hat wiederholt darauf abgestellt, daß das betreffende Rechtsgut bei einer Übertragung auf ein fremdes Gut einen „anderen Sinn und Inhalt" bekäme108. Doch auch dann [143] könnte der Zusatz dem Kernsatz der Definition nicht die nötige Bestimmtheit geben, da er allenfalls eine - zwar nützliche, aber eben nur - allgemeine Wertung erlaubt, mit deren Hilfe sich konkrete Grenzlinien nicht finden lassen. Im Bemühen um ein korrektes Verständnis wollen 105 Vgl. beispielsweise zu §§153 ff, 145 d, 164 StGB O L G Düsseldorf NJW 1982, 1242 f; zu § 164 StGB ferner BGHSt. 18, 333 f; zu § 170 b StGB BGHSt. 29, 85 ff; zu § 370 A O O L G Hamburg J R 1964, 350ff, und BayOLG JR 1980,514ff; zu § 140 StGB BGHSt. 22, 282ff; zu §§271 ff und 277ff StGB BGHSt. 18, 333-334, und BayObLG NJW 1980, 1057 f. 106 Vgl. Rehbinder, Fragen an die Nachbarwissenschaften zum sog. Rechtsgefühl, J Z 1982, 1 ff, mit zahlreichen Nachweisen. 107 So ζ. B. in J R 1980, 381, und in IntStrR (Fn. 8), Rdn. 233. 108 Vgl. die Erörterungen Oeblers in IntStrR (Fn. 8), Rdn. 778 und 779 a. E.
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wir jedoch auch die letztgenannte Deutungsmöglichkeit berücksichtigen. Eine kurze Bemerkung zur Anwendung dieser Lehre auf einige von ihr erfaßte öffentliche Rechtsgüter mag das bisher Gesagte verdeutlichen: Bei der Rechtspflege (§§ 153 ff, 145 d, 164 StGB) läßt sich wegen ihrer spezifischen Ausformung gewiß eine „enge Verbundenheit mit der deutschen Rechtsorganisation" feststellen, so daß dieses Rechtsgut nicht auf eine fremde Rechtspflege übertragbar ist109, wenngleich Oehler die für die Struktur unserer Rechtspflege maßgeblichen Prinzipien nur sehr knapp angedeutet hat110; wir lassen daher offen, ob hier Raum für Grenzund Zweifelsfälle bleibt111. - Bei den Steuerforderungen und den Leistungen der Sozialkassen (§ 370 Abs. 1-5 A O ; § 170 b StGB) läßt Oehler „die enge Verbundenheit" mit der deutschen Souveränität bzw. Finanzhoheit als Ausschlußgrund genügen112. Damit reduziert sich aber die Verbundenheit dieser Rechtsgüter mit den deutschen staatlichen und sozialen Verhältnissen (und damit der Kernsatz der Definition) bereits auf eine Art von „Ursprungs-Zertifikat". Der Zusatz zur Definition läuft hier ersichtlich leer, dann es ist schwerlich darzutun, wodurch sonst diese Forderungen und Leistungen sich „inhaltlich" von den entsprechenden fremden Rechtsinstituten unterscheiden würden. - Bei den Rechtsgütern „öffentliche Ordnung, innere Sicherheit und Gemeinschaftsfriede" (§§111, 124-127, 129, 129 a, 131 StGB), die Oehler ebenfalls als nicht übertragbar bezeichnet113, müßte die Definition jedoch zum gegenteiligen Ergebnis führen: Hier beschränken sich die Besonderheiten der Rechtsgüter auf ihre „Lokalisation" und den darin liegenden Bezug auf die staatlichen Verhältnisse der Bundesrepublik. Es ist schon schwer, darin eine Verbundenheit „mit den Eigenarten des [144] deutschen staatlichen Aufbaus, der deutschen Rechtsorganisation oder Rechtsstruktur, den deutschen kulturellen, sozialen und sittlichen Verhältnissen" zu finden; gewiß aber handelt es sich nicht um eine „(ganz) enge" Verbundenheit mit diesen Bezugsmaterien, wenn Worte noch m Vgl. Oehler, IntStrR (Fn.8), Rdn.234. - Hingegen hat Oehler, a.a.O., Rdn. 782, ohne Rücksicht auf die Definition die Verknüpfung der Rechtspflege mit der Souveränität als Ausschlußgrund genügen lassen; darüber sogleich im Text. 110 Vgl. Oehler, IntStrR (Fn.8), Rdn.234 und 782. 111 Solche Grenz- und Zweifelsfälle können nicht auftauchen, wenn man die Verknüpfung der Rechtspflege mit der Souveränität als Ausschlußgrund genügen läßt (so Oehler, IntStrR [Fn. 8], Rdn. 782), wohl aber, wenn man die im Text geschilderte Definition zugrunde legt (so Oehler, a. a. O., Rdn. 234), denn es gibt auch der deutschen Rechtsstruktur sehr eng verwandte Rechtspflegesysteme, bei denen es ohne Herausarbeitung der als maßgeblich erachteten Strukturprinzipien schwer fällt, zu sagen, daß das Rechtsgut „Rechtspflege" einer Übertragung auf sie „inhaltlich" nicht fähig wäre. 1.2 Vgl. Oehler, JR 1980, 486; den., IntStrR (Fn.8), Rdn.236 und 786. 1.3 Vgl. Oehler, IntStrR (Fn.8), Rdn.237 und 781.
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einen Sinn haben sollen. Und ganz sicher ließen sich diese. Rechtsgüter „inhaltlich" auf die entsprechenden Güter jedes anderen rechtsstaatlich strukturierten Staates übertragen, ohne einen „anderen Sinn und Inhalt" zu bekommen. Bei der gegenteiligen Auslegung Oehlers zeigt sich, daß nicht nur der Zusatz der Definition seine Wirkung verfehlt, sondern auch ihr Kernsatz offenbar beliebig dehnbar ist" 4 . - Aus Raumgründen müssen wir es bei diesen drei Beispielsgruppen bewenden lassen. Die Schwäche dieser Lehre besteht also keineswegs nur in Unklarheiten bei Einzelfällen, wie sie sich aus Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben können und dann durchaus tolerierbar sind115, sondern darin, daß sie einen Blankettbegriff verwendet, der sich - von einem Kernbereich abgesehen - der notwendigen Verfestigung entzieht und der die Ergebnisse in wichtigen Anwendungsbereichen dem Rechtsgefühl des Rechtsanwenders überantwortet. Wir vermögen darin eine brauchbare Methode nicht zu erblicken. 4. Wenn wir richtig sehen, haben wir damit das Feld derjenigen Lehren abgesteckt, welche die Frage nach dem Strafschutz für fremde öffentliche Rechtsgüter durch Ausschlußgründe einengen wollen116; wir haben sie sämtlich verworfen. Damit ist jedoch für unser Problem noch nichts verloren: In einem primär mit dem Strafschutz für nationale Rechtsgüter befaßten Strafrechtssystem kommt es gar nicht (so sehr) darauf an, in welchen Fällen eine Erstreckung des Strafschutzes auf fremde Rechtsgüter ausscheidet, sondern vielmehr darauf, ob Kriterien vorliegen, die umgekehrt ihren Einschluß begründen117. Anders ausgedrückt: Auch wenn (negativ) kein solcher Ausschlußgrund vorliegt, bedarf es noch (positiv) der Suche nach einem Einbeziehungsgrund. Dieser anderen Seite unseres Themas wollen wir uns nunmehr zuwenden. [145] IV. In Rechtsprechung und Lehre gibt es eine Reihe von Theorien, die sich bei „neutral" abgefaßten Straftatbeständen um die Aufstellung von Kriterien für den Einschluß fremder Rechtsgüter in den nationalen Strafschutz bemühen. Sie betreffen gelegentlich nur einzelne Strafnor114 Hier zeigt sich auch die Gefahr, daß die als Differenzierungsmethode gedachte Lehre (Fn. 102) zu einem Pauschalurteil über öffentliche Rechtsgüter wird. 115 Vgl. dazu BVerfGE 50, 142, 164-166. 116 Nicht hierhin gehört die Lehre Nowakowskis, JZ 1971, 633, 634, welche die Frage nach dem „Wesensgehalt" der inländischen Rechtsgüter und nach dem „Sinngehalt" der entsprechenden ausländischen Rechtsgüter erst ins Spiel bringt, nachdem festgestellt ist, daß die jeweilige Strafvorschrift überhaupt ausländische Rechtsgüter in den nationalen Strafschutz einbezieht. 117 Vgl. oben Abschnitt Β III 1.
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men oder bestimmte Gruppen von Strafvorschriften; in anderen Fällen fehlt ihnen eine solche gegenständliche Beschränkung. Öfter sind in diesen Überlegungen fremde Individualrechtsgiiter und fremde öffentliche Rechtsgüter verbunden; unser Augenmerk gilt aber vornehmlich den letzteren, wie es der Begrenzung unseres Themas entspricht. 1. Die wohl am meisten verbreitete These beurteilt die Ausdehnung des Strafschutzes auf fremde Rechtsgüter nach der Formel, ob es sich um allen zivilisierten Staaten gemeinsame Rechtsgüter (Rechtswerte) handele118. Manchmal lautet die Formel auch, ob es um allgemein in der zivilisierten Welt anerkannte (elementare) Rechtswerte (Rechtsgüter) gehe11'. Gelegentlich wird gefragt, ob es um den Schutz von Werten gehe, die nicht mehr als eine Angelegenheit eines einzelnen Landes betrachtet werden könnten bzw. ein gemeinsames Anliegen der zivilisierten Staaten seien120. Vereinzelt ist die Rede davon, daß diese allgemein anerkannten Rechtswerte allgemeinen (also auch deutschen) Schutz verdienten bzw. allgemein schutzwürdig seien121. Oftmals finden sich auch Mischformen und Doppelungen dieser Wendungen, namentlich bei den beiden erstgenannten Formeln, die ersichtlich synonym gebraucht werden; die Bezeichnungen „Rechtsgut" und „Rechtswert" werden vielfach austauschbar verwendet. Alle diese Formeln finden sich vorwiegend in der Rechtsprechung, aber nur selten in der neueren Literatur122; sie erwecken vielfältige Bedenken. Bei [146] deren Darlegung beginnen wir mit den beiden erstgenannten Versionen, die schon wegen der Häufigkeit ihres Auftretens das Bild prägen. Vgl. BGHSt. 21, 277, 280; OLG Saarbrücken NJW 1975, 506, 507; OLG Stuttgart NJW 1977, 1601, 1602; OLG Karlsruhe NJW 1978, 1754, 1755; Oehler (Fn.24), Festschrift für Mezger, S. 83, 98; Kunz, Ist die Strafbewehrung der Unterhaltspflicht auch auf Ausländer anwendbar?, NJW 1977, 2004. 119 Vgl. BGHSt. 29, 85, 88; OLG Saarbrücken NJW 1975, 508; OLG Karlsruhe NJW 1978, 1754, 1755. 120 Vgl. BGHSt. 8, 349, 355; 18, 333, 334; 21, 277, 281. - In BGHSt. 18, 333, 334, heißt die Formel, daß die geschützten Belange ein gemeinsames Anliegen der zivilisierten Staaten seien „und . . . damit ihrem Wesen nach keine besondere Beziehung zum Inland" hätten. Dieser in den übrigen Entscheidungen fehlende Zusatz dürfte nur als (pleonastische) Verdeutlichung des vorangestellten Gedankens zu verstehen sein. 121 Vgl. OLG Saarbrücken NJW 1975, 506, 507; OLG Karlsruhe NJW 1978, 1754, 1755. 122 Bei Kohlrausch/Lange, 43.Aufl. 1961, §3 Anm.2, findet sich eine andere Formel: Entscheidend sei, ob die Handlung ihrer Natur nach als Verbrechen erscheine, ob ein Rechtswert gemeinsames Kulturgut sei oder nur Bestandteil einer positiven fremden Ordnung (Sperrungen im Original). Wir lassen diese Formel beiseite, weil sie offensichtlich zu unbestimmt und nicht praktikabel ist (vgl. Tröndle, in: LK, Vor § 3 Rdn. 23), wenn sie nicht gar - abgesehen von Individualrechtsgütern - nur eine Leerformel darstellt (vgl. Wiedenbrüg, Schutz ausländischer öffentlicher Urkunden durch §§271, 273 StGB?, NJW 1973, 301, 303). - Anders aber Reschke (Fn. 1), S. 86 ff.
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In der Literatur ist die Formel von den „allen zivilisierten Staaten gemeinsamen Rechtsgütern" vereinzelt bereits deshalb abgelehnt worden, weil dieser Begriff dem Gedankenkreis des Internationalen Strafrechts angehöre123. Man darf vermuten, daß der Grund dafür in der verbalen Verwandtschaft dieser Formel mit dem Begriff der „international geschützten Rechtsgüter" liegt, der zum Begriffsarsenal des Internationalen Strafrechts gehört und den heute beispielsweise § 6 StGB als Normüberschrift verwendet. Kategorien des Internationalen Strafrechts wären in der Tat - wegen der strikten Trennung von tatbestandlicher Reichweite und internationalem Geltungsbereich einer Strafnorm124 - für die hier in Rede stehende Frage der Tatbestandsmäßigkeit ohne Bedeutung125. Wir nehmen jedoch nicht an, daß das Internationale Strafrecht bei jener Formel Pate gestanden hat, weil dies keinen Sinn ergäbe: Die internationalstrafrechtliche Kategorie der „international geschützten Rechtsgüter" dient als Sammelbezeichnung für die nach dem Weltrechtsprinzip dem deutschen Strafrecht unterstellten - ihrer Art nach völlig unterschiedlichen - Rechtsgüter126; sie stellt nur einen rechtstechnischen Ausdruck ohne weitere definitorische Ambitionen dar. Die strafrechtliche Formel von den „allen zivilisierten Staaten gemeinsamen Rechtsgütern" hat aber (in allen ihren geschilderten Spielformen) eine definitorische Intention: Sie will offensichtlich als ein Begriff verstanden werden, aus dem im Wege der Deduktion die Antwort auf die Frage nach der Einbeziehung nichtdeutscher Rechtsgüter gewonnen werden könnte. Dies wollen wir in zwei Schritten überprüfen: Zunächst wollen wir fragen, welchen sachlichen Anwendungsbereich es für eine solche Formel überhaupt gibt; anders ausgedrückt: inwieweit besondere Rechtssätze die von dieser Formel erhoffte Antwort bereits vorwegnehmen. Sodann wollen wir für den verbleibenden Bereich untersuchen, ob die Formel nach Inhalt und Aussage tauglich ist, die ihr aufgegebene Frage zu beantworten. a) Zu den „allen zivilisierten Staaten gemeinsamen Rechtsgütern", die aus eben diesem Grunde auch dann Strafschutz genießen sollen, [147] wenn sie nichtdeutschen Rechtsgutträgern zustehen, zählt die Rechtsprechung (zunächst) Individualrechtsgüter wie Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen127. Indessen beruht der Einschluß dieser
Vgl. Nowakowski, J Z 1971, 633, 635 und 636. Vgl. Abschnitt A zu und mit Fn. 10-12. 125 Vgl. Eser, in: Schönke/Schröder, Vor § 3 Rdn.14. 124 Vgl. Eser, in: Schönke/Schröder, Vor § 3 Rdn. 14. 127 Vgl. z . B . BGHSt. 21, 277, 281; 29, 85, 88; O L G Saarbrücken N J W 1975, 506, 507; O L G Stuttgart N J W 1977, 1601, 1602; BayObLG N J W 1980, 1057. 123 124
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(und auch anderer) fremder Individualrechtsgüter in den nationalen Strafschutz nicht auf jener Formel, sondern auf zwingenden Rechtssätzen; dabei ist wie folgt zu unterscheiden: Die Ausdehnung des Strafschutzes auf Individualrechtsgüter nichtdeutscher Personen ergibt sich daraus, daß nach völkerrechtlichem Fremdenrecht Delikte gegen Fremde (Ausländer und Staatenlose 128 ), die sich im Inland aufhalten, ebenso zu ahnden sind wie solche gegen Inländer; die insoweit gegebene Gleichstellung von Fremden und Inländern ist eine allgemeine Regel des völkerrechtlichen Fremdenrechts 129 , die nach Art. 25 G G Bestandteil des Bundesrechts ist130. Es kommt deshalb in der Regel gar nicht mehr darauf an, daß bei denjenigen Individualrechtsgiitern, die Ausdruck eines nicht nur den Deutschen, sondern jedermann zustehenden Grundrechts sind, eine Ungleichbehandlung auch aus (sonstigen) verfassungsrechtlichen Gründen unzulässig wäre131. Mit Recht haben daher auch Autoren, welche die erwähnte Formel ablehnen oder sie ignorieren, den Strafschutz auch auf Individualrechtsgüter von Nichtdeutschen erstreckt 132 . Soweit fremde Staaten Träger von Individualrechtsgütern wie Eigentum und Vermögen sind, beruht deren Einbeziehung in den Strafschutz nicht auf völkerrechtlichem Fremdenrecht, das die Rechtsstellung von Individuen regelt, sondern auf einer [148] anderen - ebenfalls nach Art. 25 G G bindenden - allgemeinen Regel des universellen Völkerrechts; danach hat jeder Staat dem Eigentum anderer Staaten, das sich erlaubtermaßen auf seinem Staatsgebiet befindet, denselben Schutz zu gewähren, der
128 Vgl. Doehring, Die allgemeinen Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts und das deutsche Verfassungsrecht, 1963, S. 19 ff; Bleckmann, Grundgesetz und Völkerrecht, 1975, S. 342. 129 Vgl. Schnitzer, Art. „Fremdenrecht", in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts (WVR), 1. Bd. 1960, S.566, 568; Doehring (Fn. 128), S.81; Bleckmann (Fn. 128), S. 344; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 2. Aufl. 1981, S.587; SeidlHohenfeldern, Völkerrecht, 5. Aufl. 1984, Rdn.1199; Jescheck (Fn.5), Festschrift für Maurach, S.579, 583 = in: Beiträge, S.615, 618-619; ders., AT (Fn.2), § 1 8 III 8, S. 141; Vogler, N J W 1977, 1866, 1867; Lackner, Vor § 3 A n m . 5 ; Hettinger, Die völkerrechtliche Verpflichtung der Staaten zur Bestrafung einzelner und das materielle Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland, jur. Diss. München, 1965, S. 40 ff; mit anderer Begründung auch Reschke (Fn. 1), S. 136 ff. 130 Vgl. zum Verhältnis zwischen völkerrechtlichem Fremdenrecht und Art. 25 GG allgemein Doehring und Bleckmann wie Fn. 128, passim; ferner Doehring, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, W D S t R L , Bd. 32,1974, S. 7 ff; Bleckmann, Allgemeine Grundrechtslehren, 1977, S. 90 ff. 131 Vgl. dazu O L G Karlsruhe N J W 1978, 1754, 1756; eingehend zum Verhältnis zwischen Art. 25 GG und Art. 3 GG Doehring und Bleckmann wie Fn. 128 und 130, passim; vgl. zu verfassungsrechtlichen Fragen des Eigentumsschutzes für Ausländer auch Reschke {Fn. 1), S. 136 ff. 132 Vgl .Jescheck, Vogler und Lackner wie F n . 1 2 9 ; Tröndle, in: LK, Vor § 3 Rdn.24; Eser, in: Schönke!Schröder, Vor § 3 Rdn. 15 und 22.
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dem Eigentum von Ausländern allgemein nach dem internationalen Standard zu gewähren ist 1 ". Da der Begriff „Eigentum" im Zusammenhang mit seinem völkerrechtlichen Schutz in einem weiteren, auch Vermögensrechte umfassenden Sinne zu verstehen ist134, hat die Strafrechtslehre mit Recht Eigentum und Vermögen fremder Staaten - ohne Rückgriff auf die geschilderte Formel - in den tatbestandlichen Strafschutz einbezogen135. - Der Bereich, in dem die Formel überhaupt von Bedeutung sein könnte, ist also drastisch eingeschränkt. b) Im übrigen aber bleibt zu prüfen, ob die Formel von den „allen zivilisierten Staaten gemeinsamen Rechtsgütern (Rechtswerten)" - oder eine ihrer Spielformen - geeignet ist, Antwort auf die Frage nach der Einbeziehung fremder Rechtsgüter zu geben. Davon kann indessen nicht die Rede sein; bei der Darlegung unserer Bedenken wollen wir ohne Auseinandersetzung mit der Kasuistik - von der Exegese der Formelbestandteile zu prinzipiellen Erwägungen über den Aussagewert der Formel vordringen, weil auf diese Weise am ehesten eine Ubersicht über die vielfältigen Gründe ihrer Untauglichkeit gewonnen werden kann. Beginnen wir mit der anspruchsvollen Floskel: „alle zivilisierten Staaten"; bei ihr drängen sich in zweifacher Richtung Bedenken auf: Wollte man das Wort „alle" so nehmen, wie es dasteht, dann wäre für eine Bejahung der Formel buchstäblich eine weltweit greifende Rechtsvergleichung nötig. Freilich könnte die Spielform von den in der zivilisierten Welt „allgemein" anerkannten Rechtswerten dafür sprechen, sich - wie bei ähnlichen Formeln in anderen Rechtsmaterien - mit einer Anerkennung durch die „überwiegende Mehrheit der Staaten" bzw. durch die „hauptsächlichsten Rechtssysteme der Welt" zu begnügen136, was immer dies bedeuten mag; indessen müßte auch dies festgestellt werden. Uns ist jedoch kein Fall bekannt, in dem die Rechtsprechung [149] derartiges auch nur versucht hätte; sie hat vielmehr zur Bejahung ganz summarische Beurteilungen genügen lassen137. Dies mag daran liegen, daß der 133 Vgl. Wengler, Völkerrecht, Bd. II, 1964, S. 1054. Wengler verlangt für das Eigentum fremder Staaten in völkerrechtlicher Sicht sogar einen - an Person und Eigentum von Diplomaten orientierten - verstärkten Schutz; das kann hier auf sich beruhen. 134 Vgl. Dahm, Völkerrecht, Bd.I, 1958, S.506. 135 Vgl. Schröder, UrteilsanmerkungJR 1964, 351, 353-Jescbeck, AT (Fn.2), § 18 III 8, S. 141; Tröndle, in: LK, Vor § 3 Rdn.37; Reschke (Fn. 1), S. 139 ff, mit weiteren Einzelheiten. 136 Vgl. zu ähnlichen Formeln im Völkerrecht etwa BVerfGE 15, 25, 34; 16, 27, 33; 46, 342, 367; Verdross/Verosta/Zemanek, Völkerrecht, 5. Aufl. 1964, S. 149. 1,7 Vgl. ζ. B. BGHSt. 18, 333, 334; 21, 277, 281. - Daß umgekehrt zur Verneinung der Formel die negativ ausfallende Prüfung einzelner Auslandsrechte genügen soll, ergibt sich z.B. aus O L G Saarbrücken N J W 1975, 506, 508; BGHSt. 29, 85, 89.
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hohe Anspruch jener Floskel in der Praxis gar nicht erfüllbar ist; eben dies zeigt aber die erste Schwäche der Formel an. - Für besonders mißlich halten wir sodann die Wendung von den „zivilisierten Staaten"; sie hat hier zentrale Bedeutung, weil es der Formel zufolge nur auf die Gemeinsamkeiten dieser „zivilisierten" Staaten ankommen soll, während die Befindlichkeiten anderer - eben „nicht zivilisierter" - Staaten per definitionem unerheblich sein sollen. Damit stellt sich unentrinnbar die Frage, nach welchen Kriterien zu beurteilen ist, welche Staaten als „zivilisiert" anzusehen wären: Soll es auf die Erreichung eines Mindeststandes „kultureller" Entwicklung ankommen und wie soll dieser angesichts der gravierenden Unterschiede in den Kulturen der Völker bestimmt werden? Soll die „rechtliche Struktur" der Staaten maßgeblich sein und was soll dann angesichts der Vielfalt der staatlichen Systeme und der Unbegrenztheit der Anknüpfungspunkte einer solchen rechtlichen Bewertung als unverzichtbarer „Mindeststandard" gelten? Soll auch der organisatorische, wirtschaftliche oder soziale Entwicklungsstand eine Rolle spielen und wie weit muß dann ein Staat „entwickelt" sein, um „zivilisiert" zu heißen? Sollen schließlich auch junge Staaten am „Zivilisationsgrad" alter Staaten gemessen werden, was immer dies bedeutet? Und wie sollen endlich Strafgerichte feststellen, ob ein Staat solchen oder anderen Mindestanforderungen genügt, ohne in unvertretbare Pauschalurteile mit allen ihren (auch politischen) Implikationen abzugleiten? Wir müssen nicht erst beweisen, daß solche Fragen schlicht unlösbar sind. Es sollte zu denken geben, welches Schicksal der in Art. 38 Abs. 1 lit. c der Satzung des IGH 138 verwendete Begriff „civilized nations" erlitten hat: Es besteht heute weithin Einigkeit darüber, daß dieser historisch erklärbare Begriff antiquiert ist, daß die dort implizierte Unterscheidung zwischen zivilisierten und anderen Staaten hinfällig ist und daß die Formel von den „civilized nations" entweder leer läuft oder ein Synonym für alle souveränen Staaten - namentlich die Mitglieder der U N O - ist139. Jedenfalls täuscht die hier besprochene Formel mit ihrem Rekurs auf die „zivilisierten Staaten" eine [150] Differenzierung vor, die nicht realisierbar ist; das ist ihre zweite Schwäche. Auf Bedenken stößt auch die Methode, mit der die Rechtsprechung feststellt, ob ein von den zivilisierten Staaten „anerkanntes Rechtsgut" vorliegt. In den Entscheidungen, die sich damit näher befassen, dient als 138 Vgl. Statut des Internationalen Gerichtshofs i. d. F. vom 26. Juni 1945 - BGBl. 1973, Teil II, S. 505 ff. 139 Vgl. statt vieler Verdross/Verosta/Zemanek (Fn. 136); Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 2. Aufl. 1984, S. 243 ff; Billib, Die allgemeinen Rechtsgrundsätze gemäß Art. 38 Ic des Statuts des Internationalen Gerichtshofs, jur. Diss. Göttingen, 1972, S. 45 ff, mit Nachweisen.
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Kriterium hierfür der Umstand, ob das betreffende Rechtsgut in den ausländischen Staaten strafrechtlich geschützt ist140. Gelegentlich hat die Rechtsprechung sogar darauf abgestellt, ob Unterschiede in der Ausgestaltung der materiellrechtlichen Tatbestände und Besonderheiten in den Verfahrensvoraussetzungen - verglichen mit dem deutschen Strafrecht bestehen141 ; andere Entscheidungen haben solche Unterschiede für nicht maßgeblich erklärt142. Geblieben ist jedoch das Grundkonzept: Das Vorhandensein von Strafnormen bedeutet Anerkennung der Rechtsgüter durch den ausländischen Staat; das Fehlen solcher Strafnormen bedeutet Nichtanerkennung 143 . Dies ist aber alles andere als selbstverständlich; um das zu erläutern, wollen wir vergleichsweise vom deutschen Recht ausgehen und dann weiterfragen: In der deutschen Rechtsgüterlehre ist es ein altes Problem, ob Rechtsgüter erst durch das Strafrecht geschaffen werden oder ob Rechtsgüter Werte (Interessen, Zustände, Funktionseinheiten) sind, die dem Strafrecht vorgegeben sind und durch dieses lediglich - und zwar nur unter bestimmten Voraussetzungen - einen besonderen Schutz beigemessen erhalten144. Wir folgen der letztgenannten, heute überwiegend vertretenen Auffassung, die auch das Bundesverfassungsgericht praktiziert hat, als es erörterte, wann ein (dort: in der Verfassung) vorgegebenes Rechtsgut mit außerstrafrechtlichen Mitteln geschützt werden darf und wann es mit den Mitteln des Strafrechts geschützt werden muß145. Das heißt aber: Die Pönalisierung von Angriffen ist nicht der Existenzgrund eines Rechtsgutes; das Fehlen einer schützenden Strafnorm ist allein kein Beweis für seine Nichtexistenz; Existenz und „Anerkennung" eines Rechtsgutes können sich nicht nur in strafrechtlichen [151] Schutzvorschriften, sondern auch auf mannigfache andere Weise kundtun. - N u n ist es gewiß unzulässig, die Subtilitäten der deutschen Rechtsgüterlehre unbesehen auf ausländische Rechtssysteme zu übertragen; aber es ist ebenso ausgeschlossen, unbesehen für
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Vgl. ζ. B. OLG Saarbrücken NJW 1975, 506, 508; OLG Stuttgart NJW 1977, 1601, 1602; OLG Frankfurt NJW 1978, 2460; BGHSt. 29, 85, 89 (sämtlich zu § 170b StGB); ferner BGHSt. 21, 277, 282 (zur StVO). 141 Vgl. OLG Saarbrücken NJW 1975, 506, 508; OLG Stuttgart NJW 1977,1601,1602; OLG Frankfurt NJW 1978, 2460; BGHSt. 29, 85, 89. 142 Vgl. BGHSt. 21, 277, 282; OLG Karlsruhe NJW 1978, 1754, 1756. 143 Vgl. noch die Nachweise in Fn. 137 a. E. 144 Vgl. aus der unübersehbaren Literatur etwa Rudolphi (Fn. 32), Festschrift für Honig, S. 151 ff, mit zahlreichen Nachweisen; umfangreiche Nachweise auch bei Günther, Genese eines Straftatbestandes, JuS 1978, 8, 9. - Wie im anschließenden Text Nowakowski, JZ 1971, 633, 637. 145 Vgl. BVerfGE 39, 1, 36, 44-47, 57. - Zum Schutz von Rechtsgütern durch das Ordnungswidrigkeitenrecht vgl. Jescheck, AT (Fn.2), §37 V 3 b, S.45f; zum zivil- und öffentlich-rechtlichen Schutz von Rechtsgütern vgl. etwa Müller-Dietz, Strafe und Staat, 1973, S.9.
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alle ausländischen Staaten zu unterstellen, in ihren Rechtssystemen seien nur strafrechtlich geschützte Werte als „Rechtsgüter anerkannt". Die Antwort kann sich nur aus dem jeweiligen ausländischen Recht selbst ergeben. Sie kann theoretisch vom Nichtvorhandensein wirklich vergleichbarer Begriffe - mit manchen Zwischenstufen - über einen formalen Rechtsgutsbegriff bis hin zu einem materiellen Rechtsgutsbegriff gehen146; und Existenz oder „Anerkennung" eines Rechtsguts mögen sich auch in ausländischen Rechten - abgesehen von auch dort etwa „vorgegebenen" Rechtsgütern - nicht nur in schützenden Strafnormen, sondern auch in Normen manifestieren, die repressive staatliche Sanktionen anderer Art für Verletzungen androhen147. Nur eines ist gewiß: Die unbesehene, pauschale Gleichsetzung von mangelndem Strafschutz mit Nichtanerkennung eines Rechtsgutes (Rechtswertes) für alle ausländischen Rechte ist voreilig und läuft Gefahr, sich als Rechtsfehler herauszustellen. Darin liegt eine dritte Schwäche der besprochenen Formel. Erhebliche Bedenken bestehen aber vor allem gegen die den bisher behandelten Formen eigene Schlußfolgerung: Die Rechtsprechung stellt zunächst fest, ob ein Rechtsgut in der zivilisierten Welt „allgemein anerkannt" - d. h. also jetzt: strafbewehrt - ist, wobei sie dann oft von einem „gemeinsamen" Rechtsgut der zivilisierten Staaten spricht. Aus dieser Prämisse folgert die Judikatur, daß der jeweilige deutsche Straftatbestand auch das entsprechende ausländische Rechtsgut schütze. Indessen wird diese Schlußfolgerung von jener Prämisse nicht getragen: Wenn ausländische Rechte ein bestimmtes Rechtsgut gleichförmig oder in ähnlicher Weise strafrechtlich (oder sonstwie) schützen, dann besagt dies nur, daß sie - ebenso wie das deutsche Recht - allesamt je in ihrem Bereich einen Schutz für das betreffende nationale Rechtsgut eingerichtet haben; insoweit mag man - mit den oben erörterten Vorbehalten von einem „allgemein anerkannten Rechtsgut" reden. Es ist aber schon schief, hier von einem „gemeinsamen Rechtsgut" zu sprechen; denn dieser terminus erweckt - um es bildhaft auszudrücken - fälschlich den Eindruck eines „horizontalen Rechtsguts-Verbunds", während es in Wirklichkeit um „vertikal getrennte", [152] parallel nebeneinander stehende Rechtsgüterschutz-Systeme geht. Die hier entscheidende Frage, ob das deutsche Strafrecht - außer den allemal geschützten nationalen Rechtsgütern - zusätzlich auch fremde Rechtsgüter schützt, hat aber mit l w Zur Rechtsgüterlehre in ausländischen Rechten kann hier nur auf die LiteraturNachweise bei ]escheck, A T (Fn.2), S. 203 ff und S.206, Anm. 11, verwiesen werden. 147 Zur Rechtsvergleichung betr. Verwaltungsstrafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht vgl. Mattes, Untersuchungen zur Lehre von den Ordnungswidrigkeiten, 1. Halbbd., 1977, S. 183 ff.
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der Frage, wie es andere Staaten mit dem Strafschutz ihrer eigenen Rechtsgüter halten, nichts zu tun; ein Schluß von der ausländischen „Anerkennung" einer bestimmten Rechtsgutart auf die Einbeziehung fremder Rechtsgüter dieser Art in den nationalen Strafschutz ist daher gar nicht möglich. Es ist schwer verständlich, wie es zu dem Fehlschluß von den ausländischen „Parallel-Regelungen" auf eine „übergreifende Ausdehnung" des deutschen Strafschutzes kommen konnte. c) Einige besondere Bemerkungen erfordert jedoch die Formelversion, welche die Einbeziehung fremder Rechtsgüter in den deutschen Strafschutz danach beurteilen will, ob es um den Schutz von Werten gehe, die nicht mehr als Angelegenheit eines einzelnen Landes betrachtet werden könnten bzw. die ein gemeinsames Anliegen der zivilisierten Staaten seien148. Der Sinn der Formel ist nicht eindeutig: In diesen Formulierungen könnte zunächst die Vorstellung einer Art von „Internationalisierung" der betreffenden Rechtsgüter zum Ausdruck kommen und es fragt sich, ob dies einen plausiblen Grund hätte. Die Rechtsprechung hat - soweit wir sehen - bisher mit dieser Formel Rechtsgüter wie die Sicherheit des Rechts- und Beweisverkehrs oder die Sicherheit des Straßenverkehrs erfaßt. Rechtsgüter dieser Art werden (bei nicht einheitlicher Terminologie) zumeist innerhalb der Gruppe der Universalrechtsgüter (= öffentlichen Rechtsgüter) - im Unterschied von den staatlichen Rechtsgütern - zu den sog. überstaatlichen Gemeinschaftswerten (= Rechtsgütern der Allgemeinheit) gezählt14'. Die Zugehörigkeit eines Rechtsgutes zur Sparte der überstaatlichen Gemeinschaftswerte hat indessen nichts mit einer „Internationalisierung" dieser Rechtsgüter zu tun150, denn jener terminus meint nicht Rechtsgüter mit „Allerwelts-Bezug", sondern eine Gruppe nationaler Rechtsgüter, die sich durch den Rechtsgutträger von den Rechtsgütern des Staates unterscheiden; er enthält also keine Aussage über eine Ausdehnung des tatbestandlichenSchutzbereichesderbetreffendenStrafnormauffremdeRechtsgüter151. Eine derartige Deutung der Formel scheidet daher aus. [153] 148
Vgl. die Nachweise in Fn. 120. Vgl. statt vieler Jescbeck, AT (Fn.2), §26 I 3, S.207; Maurach/Zipf, AT 1 (Fn. 10), §19 II 1, S. 254 f. 150 So aber anscheinend Schroeder, JZ 1974, 113, 115, mit Nachweisen. Es dürfte sich um eine Vermengung der Begriffe „überstaatlicher Gemeinschaftswert" und „allen Staaten gemeinsamer Rechtswert" (oben Abschnitt Β IV 1 b) handeln. 151 Zu den (übrigens nicht immer scharf von den „staatlichen" Rechtsgütern abgrenzbaren) „überstaatlichen Gemeinschaftswerten" rechnen zahlreiche Rechtsgüter, bei denen eine solche „Internationalisierung" geradezu absurd wäre; vgl. die Aufzählung bei Maurach/Zipf (Fn. 149). - Zu den (nur teilweise durch die Gesetzeslage überholten) Folgen einer solchen „Internationalisierung" bei dem Rechtsgut „Sicherheit des Straßenverkehrs" vgl. Uckner, Urteilsanmerkung, JR 1968, 268 ff (zu BGHSt. 21, 277 ff). 149
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Denkbar ist weiter, daß die Formel nur eine andere Umschreibung für die schon behandelte Formel von den „allen zivilisierten Staaten gemeinsamen Rechtsgütern" sein soll. Daß daraus jedoch kein Schluß auf die Einbeziehung fremder Rechtsgüter in den nationalen Strafschutz gezogen werden kann, haben wir soeben eingehend dargetan. Im Zusammenhang mit dem hier in Rede stehenden Schutzaspekt könnte die Formel schließlich dahin zu verstehen sein, daß es sich um (fremde) Rechtsgüter handele, die auch deutschen Strafschutz verdienten; dann wäre die Formel inhaltsgleich mit der nunmehr zu erörternden letzten Version. Eine eigenständige, zum Ziel führende Bedeutung ist jedenfalls nicht zu erkennen. d) Die letzte Formel beurteilt die Einbeziehung fremder Rechtsgüter danach, ob es sich um allgemein anerkannte Rechtswerte handele, „die allgemeinen Schutz verdienen" bzw. „allgemein schutzwürdig" seien152. Soweit wir sehen, sind die letztgenannten Wendungen niemals isoliert, sondern nur im Verbund mit den anderen, schon behandelten Formeln verwandt worden; da wir diese jedoch sämtlich bereits abgelehnt haben, müssen wir den eigenen Aussagewert jener Wendungen prüfen153. Indessen glauben wir nicht, daß sie einen Beitrag zur Lösung unseres Problems leisten können; dies näher auszuführen, halten wir auch deshalb für angebracht, weil hinter allen bisher erörterten Formeln im Grunde dasselbe Anliegen steht. Daß ein Rechtsgut „Schutz verdient" bzw. „schutzwürdig" ist, besagt noch nicht, ob es auch „Schutz genießt". Welches Rechtsgut geschützt ist, bestimmt sich nach dem in der lex lata verkörperten, ggf. durch Auslegung zu ermittelnden objektivierten Willen des Gesetzgebers. Welches Rechtsgut Schutz verdient, ist hingegen eine kriminalpolitische [154] Frage154, von der erst darzutun ist, ob und welche Rolle sie bei dieser Auslegung spielt; m. a. W.: ob mit ihrer Hilfe fremde Rechts152
Vgl. O L G Saarbrücken NJW 1975, 506, 507, und O L G Karlsruhe N J W 1978,1754,
1755. 153 Daran ändert es nichts, daß diese Wendungen in der Rspr. vornehmlich an Individualrechtsgütern erprobt worden sind, die wir bereits mit Hilfe völkerrechtlicher und verfassungsrechtlicher Erwägungen aus dem Anwendungsbereich der besprochenen Formeln herausgenommen haben (vgl. oben Abschnitt Β IV 1 a); denn sie sind nicht expressis verbis hierauf beschränkt worden und haben prinzipielle Bedeutung auch für solche öffentlichen Rechtsgüter, welche die Rspr. - wie erörtert - als „allgemein anerkannte Rechtswerte" ansieht. 154 Auf den ungeschlichteten Streit um die Abgrenzung zwischen Kriminalpolitik und Rechtspolitik wollen wir uns gar nicht erst einlassen. Ebenso lassen wir die (von uns nicht geteilte) gelegentlich vertretene Minderheitsmeinung beiseite, daß sich Rechtsanwendung und Rechtspolitik nicht trennen ließen; dagegen mit Recht Krey, Zur Problematik richterlicher Rechtsfortbildung contra legem, JuS 1978, 361, 367-368, mit Nachweisen.
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güter in den (primär für nationale Rechtsgüter geltenden) Strafschutz einbezogen werden können. Dabei stehen hier gar nicht die anerkannten vielfältigen Verflechtungen zwischen Kriminalpolitik und Strafrecht zur Debatte: Es geht nicht um die Verknüpfung der Kriminalpolitik mit den Allgemeinen Lehren des Strafrechts155. Es geht auch nicht um den Einfluß der kriminalpolitischen Frage des Strafschutzbedürfnisses auf die teleologische Auslegung der Merkmale eines Straftatbestandes, dessen geschütztes Rechtsgut schon feststeht156. Da wir sämtliche erörterten Formeln für die Einbeziehung fremder Rechtsgüter abgelehnt haben, ist unsere Ausgangslage eine andere: Es geht um die Frage, ob aus dem kriminalpolitischen Grunde der „Schutzwürdigkeit" bzw. des „Schutzverdienens" ein fremdes Rechtsgut in den nationalen Strafschutz einbezogen werden kann, für dessen Einschluß sonst kein Anhalt besteht. Diese Frage ist eindeutig zu verneinen: Wenn die Strafbarkeit im Gesetz selbst nicht mehr angelegt ist, kann dieser Mangel durch noch so gewichtige kriminalpolitische Gründe nicht überspielt werden157. Die Bestimmung der schutzwürdigen Werte ist eine Aufgabe des Gesetzgebers, der damit die „Strafzone" festlegt158; nur er kann daher ein hinsichtlich schutzwürdiger ausländischer Rechtsgüter bestehendes Vakuum schließen159; wollte der Richter derartiges unternehmen, so würde er in den Kompetenzbereich des Gesetzgebers einbrechen160. In der Sache läge dann nicht mehr Auslegung, sondern unzulässige Analogie vor, denn dies wäre eine Ausdehnung der Strafzone über den vom gesetzlichen Tatbestand gezogenen Rahmen hinaus auf eine vom Gesetz nicht geregelte Materie; mangels gesetzlicher Grundlage für die Kriminalisierung wäre es unzulässige freie Rechtsfindung. Art. 103 Abs. 2 G G verbietet dies unzweideutig. [155] Rein vorsorglich wollen wir anfügen, daß wir auch Bedenken dagegen hätten, bei der Suche nach dem geschützten Rechtsgut solchen kriminalpolitischen Erwägungen dann eine (auch nur) unterstützende Rolle zuzubilligen, wenn die (sonstige) Auslegung eines Straftatbestandes den Einschluß fremder Rechtsgüter immerhin als möglich, jedoch nicht als sicher erscheinen ließe. Erwägungen über die Schutzwürdigkeit fremder
Vgl. Roxin, Kriminalpolitik und Strafrecht, 1970. Vgl. z . B . BGHSt. 10, 194, 196-197; Blei, Strafschutzbedürfnis und Auslegung, in: Grundfragen der gesamten Strafrechtswissenschaft, Festschrift für Henkel, 1974, S. 109 ff; Schünemann, Methodologische Prolegomena zur Rechtsfindung im Besonderen Teil, in: Festschrift für Bockelmann, 1979, S. 117, 131. 157 Vgl. zu einem eng verwandten Fall Lackner, J R 1968, 268, 269. 158 Vgl. Maurach/Zipf, A T 1 (Fn. 10), § 7 1, S.81. 159 Vgl. O L G Hamm J Z 1960, 576, 577. 160 Vgl. dazu näher Schünemann (Fn. 156), S. 126. 155
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öffentlicher Rechtsgüter sind seit jeher ein Beispiel für den zeitlichen Wandel der Anschauungen und für ihre Abhängigkeit von politischen Wertungen161; die komplexen Probleme, die sich allgemein mit den Stichworten „Strafwürdigkeit" und „Strafbedürftigkeit" verbinden162, kommen hinzu; vielfach sind deshalb unterschiedliche Entschließungen möglich. Die Beurteilung der „Schutzwürdigkeit" fremder öffentlicher Rechtsgüter ist daher eine genuin legislatorische Aufgabe; in der Hand des Richters müßte es zwangsläufig zu unterschiedlichen Deutungen der Strafzone kommen163. Dies bedeutet: Wenn das von einer Strafnorm geschützte Rechtsgut festliegt, mag es (gemäß der h. M.) angehen, mit Hilfe einer kriminalpolitisch orientierten teleologischen Interpretation der Tatbestandsmerkmale den Strafschutz dieses Rechtsgutes enger oder weiter zu bemessen, denn hier ändert sich nicht die Identität der Strafzone, nur ihre Ränder verschwimmen. Wenn aber kriminalpolitische Erwägungen bereits den Ausschlag dafür geben, ob und welche fremden Rechtsgüter in den Strafschutz einbezogen werden, dann betrifft dies die Strafzone selbst, denn damit ändern sich die zu ihr zu zählenden Rechtsgut-Materien. In diesem Falle kann der Rechtsunterworfene die Abgrenzung zwischen Erlaubtem und Verbotenem schon dem Schutzgegenstand nach nicht mehr durch Auslegung des Straftatbestandes erkennen164; kriminalpolitische Wertungen, die hinsichtlich der Regelungsmaterie objektiv und subjektiv unterschiedlich ausfallen können, sind für ihn unberechenbar. Hier zeigt sich eine entscheidende Einbuße des Bestimmtheitsgebots, die sowohl die Garantiefunktion der Strafgesetze als auch die von den Strafnormen ausgehende Generalprävention in Mitleidenschaft zieht. Fazit: Wo erst kriminalpolitische Erwägungen den Ausschlag dafür geben, ob ein fremdes Rechtsgut in den Strafschutz einzubeziehen ist, zwingt der Grundgedanke des Art. 103 Abs. 2 G G dazu, diese Entscheidung der Prärogative des Gesetzgebers zu überlassen. [156] Das sollte zu ertragen sein, denn der „Schmerz der Grenze" ist ohnehin unaufhebbar. e) Bei alledem haben wir jene versprengten Einzelentscheidungen außer Betracht gelassen, die einfach aus der „neutralen" Fassung von Strafvorschriften gefolgert haben, daß (deshalb) auch fremde Rechtsgüter in den
161 Vgl. statt vieler von Weber (Fn. 1), Festgabe für von Frank, Bd. 2, S.269, 283-284 und die Nachweise in OLG Hamm JZ 1960, 576 ff. " 2 Vgl. Müller-Dietz (Fn. 145), S.32ff; Günther, JuS 1978, 8, 11-13, mit zahlreichen Nachweisen. 163 Vgl. auch die Warnungen von Schröder, JZ 1968, 241, 244. - Subjektiv eigenmächtige Entscheidungen des Richters über die Reichweite der Straftatbestände zu verhindern, ist aber gerade Sinn des Bestimmtheitsgebots; vgl. Jescheck, AT (Fn. 2), § 13 III 3, S. 108. 164 Vgl. dazu die Nachweise in Fn. 95.
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Strafschutz einbezogen seien. Wir haben nämlich geglaubt, daß Absurdes nicht erst aufwendig dargestellt werden müsse: Die „neutrale" Fassung dieser Tatbestände ist ja die Voraussetzung unseres Problems, nicht seine Lösung. Damit haben wir alle bisher besprochenen Formeln abgelehnt. Die auffällige Zurückhaltung der Standardliteratur gegenüber diesen Formeln hat sich als wohlberechtigt herausgestellt. Zur Abrundung des Bildes sind jedoch noch einige andere Fragen zu untersuchen. 2. In Rechtsprechung und Lehre gibt es noch einige andere Thesen, die sich unter Beschränkung auf bestimmte Straftatbestände mit der Einbeziehung fremder öffentlicher Rechtsgüter in den deutschen Strafschutz befassen. a ) Zu den ältesten Lehren im Bereich unseres Themas gehört die These, daß Widerstand gegen die Amtsgewalt (§113 StGB)165 auch dann strafbar sei, wenn die Tat sich gegen ausländische Beamte richte, die mit Ermächtigung der zuständigen deutschen Amtsstellen für ihren Heimatstaat im (deutschen) Inland amtlich tätig seien166. Diese These hat sich aus der Zeit, in der Rechtsprechung und Lehre (nach altem Recht) - zumindest teilweise - angenommen haben, daß § 113 StGB nicht nur die deutsche, sondern auch ausländische Amtsgewalt schütze167, über die Zeit, in der die Rechtsprechung die Anwendbarkeit des §113 StGB auf den Schutz der deutschen Amtsgewalt beschränkte168, in die Gegenwart herübergerettet, obgleich inzwischen durch §11 Abs. 1 Nr. 2 StGB die Anwendbarkeit des §113 StGB gesetzlich auf den Widerstand gegen Personen, die nach deutschem Recht Amtsträger sind, begrenzt worden ist169. Jene These ist unhaltbar170: [157] Wenn ein fremder Beamter für seinen Heimatstaat im (deutschen) Inland Amtshandlungen vornimmt, dann bleibt er trotz der ihm von den zuständigen deutschen Stellen erteilten Ermächtigung Vertreter einer
Und einige damit verwandte Delikte. Vgl. M. E. Mayer, Der Widerstand gegen Amtshandlungen, in: VDBSt. Bd. I, 1906, S. 434, 439 Anm. 4, mit Nachweisen; Binding, LB II/2 (Fn. 62), S. 376; von Weber (Fn. 1), Festgabe für von Frank, Bd. 2, S. 269, 285 f; Nagler (Fn. 17), Festgabe für Heilborn, S. 31, 4 2 f f , mit Nachweisen; Reschke (Fn. 1), S . 1 8 9 f ; Tröndle, in: LK, Vor §3 Rdn.37; von Bubnoff, in: LK, § 113 Rdn. 7; Maurach/Schroeder, BT 2 (Fn.24), §68 II 2, S. 136; Eser, in: Schönke/Schröder, § 113 Rdn. 7; zahlreiche weitere Nachweise bei Sandweg (Fn. 13), S. 112 ff. 167 Vgl. die Nachweise bei von Weber (Fn. 1), Festgabe für von Frank, S. 269 ff. 168 Vgl. BGHSt. 2, 396 ff; O L G Hamm JZ 1960, 576 ff. Vgl. die Nachweise in Fn. 65. 170 Ablehnend Sandweg (Fn.13), S. 113 ff; wohl auch Oehler, IntStrR (Fn. 8), Rdn. 232. 165 164
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fremden Staatsgewalt171; das gilt für den ausländischen Richter, dem Beweisaufnahmen im Inland gestattet werden, ebenso wie für den ausländischen Polizeibeamten, dem eigene Ermittlungen erlaubt werden172, wie für alle sonstigen kraft Ermächtigung im Inland hoheitlich tätig werdenden fremden Beamten. Die den fremden Amtsträgern erteilte Ermächtigung beseitigt lediglich die völkerrechtliche Sperre, die jedem Staat die Vornahme hoheitlicher Handlungen auf fremdem Staatsgebiet als Einmischung in die dortigen inneren Verhältnisse untersagt173; sie macht (nur) das Handeln des fremden Amtsträgers völkerrechtlich erlaubt. In der Literatur ist zur Begründung dafür, daß in dieser Ermächtigung zugleich die Einbeziehung in den Strafschutz liege, wiederholt - sehr emotional - bemerkt worden, daß es eine Perfidie sei, die Tätigkeit zu gestatten und sie zugleich für „vogelfrei" zu erklären174; dies geht indessen am Problem vorbei175: Ganz abgesehen davon, daß schon in tatsächlicher Hinsicht in der bloßen Ermächtigung zur Tätigkeitsaufnahme durchaus nicht die Zusicherung von Strafschütz nach § 113 StGB für fremde hoheitliche Tätigkeit liegt176, wäre eine solche Zusicherung auch strafrechtlich belanglos: Sie macht weder den ausländischen Richter oder Beamten zum Amtsträger nach deutschem Recht noch deren Betätigung fremder Hoheitsgewalt zur Ausübung deutscher Amtsgewalt; vor allem aber kann eine solche behördliche Zusicherung nicht gewissermaßen „gesetzesvertretend" - die gesetzlichen Grenzen des Straftatbestandes erweitern177. Die Anwendung des § 113 StGB auf diese Ermächtigungsfälle - und damit seine partielle Ausdehnung auf den Schutz fremder Amtsgewalt - ist mithin verbotene Analogie (Art. 103 Abs. 2 GG). [158] Mit diesen Ermächtigungsfällen dürfen jene Fälle nicht verwechselt werden, in denen fremde Amtsträger - etwa als Spezialisten - zur Unterstützung deutscher Behörden hinzugezogen, zeitweilig in die deutsche Behörde aufgenommen und an der Ausübung deutscher Amtsgewalt beteiligt werden. Hier können - je nach der konkreten tatsächli-
171 So auch Nagler (Fn. 17), Festgabe für Heilborn, S.31, 42 ff; Sandweg (Fn. 13), S. 113 ff. 172 Vgl. Nr. 186 ff der RiVASt. (Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten), abgedruckt unter I A 4 in Grützner/Pötz (Fn. 77). 175 Vgl. Wengler (Fn. 133), Bd. 2, S. 962ff und 968; Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, 1. Bd., 1975, S. 309; Seidl-Hohenveldem (Fn. 129), Rdn.1085, 1133-1135. - Vgl. auch Nr. 160 RiVASt. (Fn. 172). 174 Vgl. Binding und Nagler wie Fn. 166. 175 Das Wort „vogelfrei" stimmt in Ansehung allgemeiner Delikte (z.B. §§185ff, 223 ff, 240 StGB) ohnehin nicht. 176 Vgl. Sandweg (Fn. 13), S. 113 ff. 177 Vgl. Fn. 176.
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c h e n u n d r e c h t l i c h e n A u s g e s t a l t u n g - d u r c h a u s die V o r a u s s e t z u n g e n des § 11 A b s . 1 N r . 2 b o d e r c S t G B vorliegen. D i e s ist aber n i c h t
der
Regelfall d e r internationalen b e h ö r d l i c h e n Z u s a m m e n a r b e i t , die - beispielsweise i m P o l i z e i b e r e i c h - vielfach n u r i m Z u s a m m e n w i r k e n m e h r e rer ( „ g e t r e n n t " bleibender) nationaler Staatsgewalten besteht. I n f o l g e dessen ist es a u c h u n r i c h t i g , w e n n die L i t e r a t u r o h n e w e i t e r e D i f f e r e n z i e r u n g sagt, § 1 1 3 S t G B sei i m Falle der „kriminalistischen Z u s a m m e n a r b e i t " a u c h auf die beteiligten ausländischen B e a m t e n
anwendbar 1 7 8 .
D a s s e l b e gilt - e n t g e g e n S t i m m e n in d e r Literatur 1 7 9 - für die Z u s a m m e n arbeit d e r d e u t s c h e n P a ß - u n d Z o l l k o n t r o l l e m i t den e n t s p r e c h e n d e n ausländischen
Beamten,
die ja n u r r ä u m l i c h bedingt ist u n d
deren
Tätigkeit nicht zur Ausübung deutscher Amtsgewalt macht. H i n g e g e n ist eine vielfältige E r w e i t e r u n g des tatbestandlichen S c h u t z bereichs des § 1 1 3
S t G B 1 8 0 auf den S c h u t z ausländischer
Amtsträger
d u r c h ratifizierte v ö l k e r r e c h t l i c h e V e r t r ä g e b z w . d u r c h d a z u e r g a n g e n e A u s f ü h r u n g s g e s e t z e 1 8 1 erfolgt 1 8 2 . M a n c h e v o n ihnen betreffen d e n z u v o r e r w ä h n t e n P a ß - u n d Z o l l k o n t r o l l - B e r e i c h 1 8 5 u n d liefern d a m i t [ 1 5 9 ] ein 171 So aber von Bubnoff, Maurach/Schroeder und Eser wie Fn. 166. - INTERPOL/ Paris bleibt außer Betracht, weil sie nicht deutsche Amtsgewalt ausübt. INTERPOL ist ein von den Mitgliedstaaten zu unterscheidendes Völkerrechtssubjekt; vgl. dazu Randelzhofer, Rechtsschutz gegen Maßnahmen von INTERPOL vor deutschen Gerichten?, in Staatsrecht - Völkerrechtrecht - Europarecht, Festschrift für Schlochauer, 1981, S. 531, 539 ff, mit Nachweisen. - Vgl. zur Frage der Völkerrechtssubjektivität weiter unten Abschnitt Β IV 2 b (2).
Vgl. von Bubnoff und Eser wie Fn. 166. Vgl. Fn. 165. ,S1 Je nachdem, ob die Verträge self-executing-Charakter hatten oder eine Staatenverpflichtung zum Erlaß (erweiternder) Strafrechtsnormen enthielten; vgl. dazu Wengler (Fn. 133), Bd. 1, S.460 f; Berber (Fn.173), S.98; Seidl-Hohenveldern (Fn. 129), Rdn. 394 ff. 112 Es kommt auch hier nicht - wie von Weber und Eser (Fn. 166) sagen - darauf an, ob die ausländischen Beamten „aufgrund internationaler Verträge" im Inland tätig werden, sondern darauf, ob diese Verträge zugleich die im Text besprochene strafrechtliche Gleichstellung betreffen und dies durch Ratifikation bzw. Ausführungsgesetz (Fn. 181) innerstaatlich geltendes Recht geworden ist. Ein solcher strafrechtlicher Vertragsinhalt ist bei Kooperationsverträgen durchaus nicht selbstverständlich, ganz abgesehen davon, daß solche Vereinbarungen aus vorübergehendem Anlaß und für begrenzte Zeit - mangels völkerrechtlicher Formvorschriften (vgl. Seidl-Hohenveldern [Fn. 129], Rdn. 149 ff) auch mündlich abgeschlossen werden können. Dann gilt das zu den Ermächtigungsfällen Gesagte. 179
1,0
185 Vgl. Art. 11 Abs. 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Errichtung nebeneinander liegender Grenzabfertigungsstellen und die Grenzabfertigung in Verkehrsmitteln während der Fahrt vom l.Juni 1961 - BGBl. 1962, Teil II, S.879ff; Art. 15 des Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über den Durchgangsverkehr auf der Roßfeldstraße vom 17. Februar 1966 - BGBl. 1967, Teil II, S. 2085 ff; Art. 16 des Ubereinkommens zwischen Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Ita-
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bedeutsames a r g u m e n t u m e c o n t r a r i o gegen die soeben erörterte „stills c h w e i g e n d e " A u s d e h n u n g des Strafschutzes auf ausländische G r e n z b e amte an den v o n den V e r t r ä g e n nicht erfaßten Teilen der Staatsgrenzen. A n d e r e Sondervorschriften dieser A r t betreffen den Strafschutz für Soldaten u n d B e a m t e der N A T O - S t a t i o n i e r u n g s t r u p p e n 1 8 4
sowie für
ausländische A m t s t r ä g e r im See- u n d Fischerei-Bereich 1 8 5 . Sie alle sind nicht unser T h e m a , zeigen aber, welchen W e g der Gesetzgeber für n o t w e n d i g hält, w e n n es u m die tatbestandliche A u s d e h n u n g des § 1 1 3 S t G B ( u n d anderer Vorschriften) geht 186 . b)
Ein
ebenfalls sehr alter Streit dreht sich u m die F r a g e , o b
die
Strafvorschriften über Aussage- u n d Eidesdelikte ( § § 153 ff S t G B ) außer der deutschen auch eine ausländische Rechtspflege schützen 1 8 7 . E i n e
-
meist ältere - Minderheitsmeinung bejaht dies 1 8 8 ; die heute [ 1 6 0 ] h. M . verneint es jedoch 1 8 9 . H i e r wirken sich deutlich die früher besprochenen
lien, Luxemburg und den Niederlanden über die gegenseitige Unterstützung ihrer Zollverwaltungen vom 7. September 1967 - BGBl. 1969, Teil II, S.65ff; Art. 8 Abs.l, und 9 Abs. 1 des Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Straße zwischen Lörrach und Weil am Rhein auf schweizerischem Gebiet vom 25. April 1977 - BGBl. 1978, Teil II, S. 1201 ff. 184 Vgl. Art. 29 des Zusatzabkommens zu dem Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrages über die Rechtsstellung ihrer Truppen hinsichtlich der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten ausländischen Truppen vom 3. August 1959 BGBl. 1961, Teil II, S.1218ff, und Art.7 (Abs.2 Nr.5) des 4.StÄG vom 11.Juli 1957 BGBl. 1957, Teil I, S. 597 ff, in der nach mehrfachen Änderungen heute geltenden Fassung abgedruckt in Schönfelder, Nr. 86. 185 Vgl. die Aufzählung bei Dreher/Tröndle (Fn. 24), §113 Rdn. 2; ferner die bei Grützner, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, l.Aufl., Teil III, unter Nr. III Ν 2, III T 1 und III U 1 abgedruckten Verträge und Gesetze. 186 Zur geplanten Erweiterung des Strafschutzes auf die Beamten und anderen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften vgl. die (ζ. Z. ruhenden) Vertragsentwürfe nebst zugehörenden Strafrechts-Protokollen und Begründungen in BR-Drucks. 546/76, S. 1-20. 187 Hier geht es nicht um die Frage, ob ein vor einem fremden Gericht (bzw. einer sonstigen zuständigen Stelle) begangenes Aussage- oder Eidesdelikt deshalb vom deutschen Strafrecht erfaßt wird, weil mittelbar Individualinteressen verletzt seien; vgl. dazu mit Recht ablehnend Tröndle, in: LK, Vor §3 Rdn. 29; Samson, in: SK, §3 Rdn. 13, jeweils mit Nachweisen. 188 Vgl. RGSt. 3, 70ff; 64, 15ff; Binding, LB II/2 (Fn.62), S. 375 Anm.3; Frank, 18. Aufl. 1931, § 153 Anm. I, und § 154 Anm. 11; Jescheck (Fn. 15), Festschrift für Rittler, S.275, 285; Reschke (Fn. 1), S. 194-198; Sandweg (Fn. 13), S. 124ff, 131-132. 189 Vgl. Oehler (Fn.24), Festschrift für Mezger, S. 83, 99; Vogler (Fn.3), Festgabe für Grützner, S. 149, 151; Tröndle, in: LK, Vor §3 Rdn. 28; Eser, in: Schönke/Schröder, Vor §3 Rdn. 22; Rudolphi, in: SK, §3 Rdn. 13; Samson, in: SK, Vor §153 Rdn. 4; Oehler (Fn. 8), IntStrR, Rdn. 234 und 782; Dreher/Tröndle, §3 Rdn. 2 a, und §153 Rdn. 2; Vogler, Strukturen und Methoden der internationalen und regionalen Zusammenarbeit in der Strafrechtspflege, Generalbericht, ZStW 96 (1984), S.531, 540.
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Grundkonzeptionen aus: Die Antwort muß unterschiedlich ausfallen, je nachdem ob fremde Rechtspflege wegen eines der geschilderten Ausschlußgründe aus dem Strafschutz eliminiert190 oder aufgrund eines der erörterten Einschließungsgründe - etwa wegen ihrer Schutzbedürftigkeit - einbezogen werden soll191. Zwar haben wir alle diese (positiven wie negativen) Erwägungen verworfen; indessen sind auch sonstige Ausdehnungsgründe nicht ersichtlich, die (in einem primär mit dem Schutz nationaler Rechtsgüter befaßten Strafrecht) eine Ausweitung des Strafschutzes begründen könnten. Daher bleibt es in unserer Sicht bei dem Ausgangsgrundsatz, daß „neutral" abgefaßte Strafnormen zum Schutze öffentlicher Rechtsgüter dann eben nur das entsprechende deutsche Rechtsgut schützen; wir stimmen also mit der heute h. M. im Ergebnis überein: Die §§153 ff StGB schützen eine ausländische Rechtspflege nicht. Es fragt sich nur, ob es davon Ausnahmen gibt. (1) In Rechtsprechung und Lehre finden sich Stimmen, die eine solche Ausnahme für die Rechtspflege der aufgrund des NATO-Truppenstatuts192 und des Zusatzabkommens193 in der Bundesrepublik Deutschland stationierten nichtdeutschen NATO-Streitkräfte annehmen194. Die Begründungen dafür sind unterschiedlich; zum besseren Verständnis ist es nützlich, zunächst den rechtlichen Status dieser Militärgerichte klarzustellen und dabei mit einem verdeutlichenden Vergleich zu beginnen. Die seiner Zeit geplante, aber am Votum Frankreichs gescheiterte Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) war als überstaatliche Gemeinschaft mit eigenen Hoheitsrechten, überstaatlichen Streitkräften, europäischen Gerichtsbehörden und übernationalem Strafrecht [161] konzipiert 195 ; ihre Gerichtshöfe wären als Gerichte einer überstaatlichen Gemeinschaft und daher eines „anderen" Völkerrechtssubjekts eine „fremde Rechtspflege" gewesen. - Die N A T O ist zwar als Verteidi-
Vgl. oben Abschnitt Β III 2 und 3. Vgl. oben Abschnitt Β IV 1. 1,2 Vgl. Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrags vom 19. Juni 1951 über die Rechtsstellung ihrer Truppen (NATO-Truppenstatut) - BGBl. 1961, Teil II, S. 1190 ff. 1,5 Vgl. Fn. 184. "" Vgl. A G Tauberbischofsheim mit Anm. von Theisinger, NStZ 1981, 221 f; Wagner, Zur Ablösung des Anhangs A zum Truppenvertrag durch Art. 7 des Vierten Strafrechtsänderungsgesetzes (Teil II), MDR 1964, 93, 95; Willms, in: LK, §153 Rdn.7; Maurach/ Schroeder, BT 2 (Fn.24), §68 II 2, S.136, und §73 III 2, S.173f; Rudolphi, in: SK, Vor §153 Rdn.4. 1,5 Vgl. Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) vom 27. Mai 1952 - BGBl. 1954, Teil II, S.342. - Eingehend dazu Jescheck, Das Strafrecht der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, ZStW 65 (1953), S. 113 ff. 191
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gungsbündnis souveräner Staaten selbst kein Völkerrechtssubjekt1"; an der „Fremdheit" der gemeinten Militärgerichte ändert dies jedoch - aus anderen, in der Struktur der N A T O und in den zitierten Verträgen begründeten Erwägungen - nichts: Die Stationierungstruppen bleiben nämlich (ausländische) nationale Kontingente, über die der jeweilige Entsendestaat die Hoheitsgewalt behält; die Streitkräfte und ihre Einrichtungen sind Träger fremder Hoheit; ihre Militärgerichte sind deshalb nationale Institutionen des Entsendestaates und üben dessen hoheitliche Justizgewalt aus197; sie repräsentieren mithin eine - zwar nicht überstaatliche, aber ausländische (US-amerikanische, britische, französische) und daher - „fremde" Rechtspflege. - Entgegen vereinzelten Stimmen in der Literatur198 dürfen die in Berlin (West) stationierten Truppen der Schutzmächte und ihre Militärgerichte damit nicht vermengt werden; ihre Anwesenheit beruht nicht auf dem NATO-Truppenstatut und dem Zusatzabkommen, sondern auf Besatzungsrecht199; sie üben daher aus einem gänzlich anderen Grunde eigene (und damit „fremde") Hoheitsgewalt aus200. Für unsere folgenden Erörterungen bleiben sie deshalb außer Betracht. - Nach dieser Vorbemerkung wollen wir uns den Lehren zuwenden, welche die Militärgerichte der nichtdeutschen NATO-Stationierungstruppen in den Strafschutz der §§153 ff StGB einbeziehen möchten. [162] Vereinzelt ist gesagt worden, zwar sei durch die §§ 153 ff StGB allein die inländische Rechtspflege geschützt; dies dürfe jedoch nicht in einem zu engen organisatorischen Sinne verstanden werden; Organe der „inländischen Gerichtsbarkeit" seien daher auch die im Inland bestehenden Gerichte der verbündeten NATO-Truppen 201 . Dieser Argumenta-
1%
Vgl. Moritz, Die gemeinsame Anwendung des Kriegsvölkerrechts in den Streitkräften der NATO, Wehrwissenschaftl. Rundschau 1961, 63, 67-69; ders., Völkerrechtliche Probleme der NATO-Integration, NZWehrrecht 1965, 53, 58-59; Ipsen, Die rechtliche Institutionalisierung der Verteidigung im atlantisch-westeuropäischen Raum, JöR n. F. 21 (1972), S. 1 ff (passim); Tomuschat, in: BK, Art. 24 GG Rdn. 113. 197 Vgl. Menzel, Nationale und internationale Strukturformen der NATO, EuropaArchiv 1963 (Bd. 16), Teil I, S.593, 598; Neubauer, Die Rechtsstellung ausländischer NATO-Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland, AVR 1964 (Bd. 12), S.34, 43; Rumpf, Das Recht der Truppenstationierung in der Bundesrepublik, 1969, S. 15; Sennekamp, Die völkerrechtliche Stellung der ausländischen Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland, NJW 1983, 2731, 2732 Anm.5, mit Nachweisen. 198 Vgl. Willms, in: LK, § 153 Rdn. 7. 199 Vgl. Neubauer, AVR 1964, 34, 41; Sennekamp, NJW 1983, 2731, 2733. - Art. 29 Abs. 1 Satz 2 ZusAbk. hat daher zu einer gesonderten Einbeziehung der im Land Berlin anwesenden Truppen der Drei Mächte in den Strafschutz nach Art. 7 des 4. StÄG geführt. 200 Vgl. Wengler (Fn. 133), Bd. 2, S. 1415-1430; Seidl-Hohenveldern (Fn.129), Rdn. 1339. 201 So Rudolphi, in: SK, Vor § 153 Rdn. 4.
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tion kann nicht gefolgt werden202: Wenn Rechtsprechung und Rechtslehre von einem „inländischen" Rechtsgut sprechen, dann ist dies ein Synonym für ein nationales, deutsches Rechtsgut; dabei erfolgt die Unterscheidung zwischen deutschen und ausländischen Rechtsgütern nach der Nationalität der (individuellen oder öffentlichen) Rechtsgutträger203. Es gibt keinen Anhalt dafür, daß den Aussage- und Eidesdelikten ein von der allgemeinen Rechtsgüterlehre abweichender Rechtsgutsbegriff eigen sein könnte. Bei den §§153 ff StGB ist daher mit dem Rechtsgut „inländische Rechtspflege" ausschließlich die Rechtspflege der Bundesrepublik Deutschland - und zwar ohne Rücksicht auf den Raum des Amtierens ihrer Organe204 - gemeint, nicht aber eine Rechtspflege mit ausländischem Rechtsgutträger, selbst wenn die fremde Justiz im (deutschen) Inland amtiert; denn der Ort des Tätigwerdens der Organe besagt nichts über die Nationalität der dahinterstehenden Rechtsgutträger. Mit dieser Begründung lassen sich also die Militärgerichte der NATO-Stationierungstruppen nicht in den Strafschutz der §§ 153 ff StGB einbeziehen. Weiter ist versucht worden, die Anwendbarkeit der §§ 153 ff StGB mit der Erwägung zu begründen, die Gerichte der in der Bundesrepublik stationierten NATO-Truppen seien aufgrund des NATO-Truppenstatuts und des Zusatzabkommens den Organen der inländischen Strafrechtspflege gleichgestellt205. Vereinzelt ist dies näher erläutert worden mit den vertraglichen wechselseitigen Verpflichtungen zur Unterstützung in Strafverfahren; ferner mit dem Hinweis, der Begriff der zuständigen Stelle in den §§ 153 ff StGB sei völkerrechtsfreundlich auszulegen; und schließlich mit der These, die Justiz des Vertragspartners entscheide materiell über den deutschen Strafanspruch, [163] der aufgrund der Konkurrenzregeln des NATO-Truppenstatuts vom anderen Teil ausgeübt werde206. - Nichts von alledem greift durch: Daß zunächst NTS und ZusAbk. eine förmliche Gleichstellung der fremden Militärgerichte mit der deutschen Rechtspflege zur Anwendung der §§153 ff StGB nicht enthalten, zeigen die Vertragstexte. Das in Erfüllung der Staatenver-
202 Die „gegenständliche" Ausdrucksweise bei Rudolpbi, in: SK, Vor § 153 Rdn.4, und in unserem folgenden Text wird zwar der Vergeistigung des Rechtsgutsbegriffs als eines ideellen Wertes der Sozialordnung (vgl.Jescheck, AT [Fn. 2], § 2 6 1 2 , S. 206) nicht gerecht, läßt sich aber verbal hier nur schwer vermeiden. 203 Vgl. oben zu und mit Fn. 1. 204 Vgl. dazu insbesondere den Fall, daß ein deutsches Gericht mit Ermächtigung der ausländischen Regierung eine Beweisaufnahme im Ausland durchführt; N r . 189 ff RiVASt. (Fn. 172). 205 Vgl. Maurach /Schroetter, BT 2 (Fn. 24), § 68 II 2, S. 136, und § 73 III 2, S. 173 f; A G Tauberbischofsheim mit Anm. von Theisinger, NStZ 1981, 221 f. m Vgl. A G Tauberbischofsheim mit Anm. von Theisinger, NStZ 1981, 221 f.
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pflichtung zur Gewährung von Strafschutz für die Stationierungs-Streitkräfte (Art. 29 ZusAbk.) ergangene 4. StÄG207 stellt zwar in seinem Art. 7 Rechtsgüter der Streitkräfte für zahlreiche Strafvorschriften den deutschen Rechtsgütern gleich; die §§153 ff StGB befinden sich aber nicht darunter. Das argumentum e contrario liegt auf der Hand208. Aber auch sinngemäß ergibt sich eine solche Gleichstellung nicht: Die wechselseitigen Pflichten der Vertragsparteien zur Unterstützung ihrer jeweiligen Strafverfahren (vgl. z . B . Art.VII Abs.5ff NTS, Art.37 ZusAbk.) haben schon inhaltlich mit einer Ausweitung bestehender Straftatbestände nichts zu tun. Im übrigen kann von „Gleichstellungsklauseln" nur die Rede sein, wenn sie dies auch zum Ausdruck bringen. Das geschieht, wie zahlreiche andere Verträge zeigen20', stets in ausdrücklicher Form. Etwas anderes wäre auch mit dem Gesetzlichkeitsprinzip nicht zu vereinbaren. - Was weiter die erwähnte „völkerrechtsfreundliche Auslegung" der §§153 ff StGB anlangt, so kann dahinstehen, was dieser Begriff im einzelnen bedeutet210; denn keinesfalls können damit die verfassungsrechtlichen Anforderungen des Bestimmtheitsgebots unterlaufen und Straftatbestände auf Materien erweitert werden, die der objektivierte Wille des Gesetzgebers nicht einmal andeutungsweise einbezogen wissen will211. - Fehl geht auch die geschilderte Deutung der im N T S (Art.7) enthaltenen „Konkurrenzregeln", welche die Aufteilung der Strafgerichtsbarkeit zwischen den Militärjustizbehörden und den deutschen Rechtspflegeorganen bestimmen. Der dort verwendete Begriff der Strafgerichtsbarkeit ist nämlich rein strafprozessualer Natur und läßt daher unstreitig sowohl die materielle Strafgewalt (das jus puniendi) der beteiligten Staaten als auch das sonstige materielle Strafrecht unberührt212. Es bleibt also dabei: Die Militärgerichte üben ihre eigene hoheitliche Strafgewalt aus und nehmen nicht etwa stellvertretend [164] einen deutschen Strafanspruch wahr213; und an den Straftatbeständen der §§153 ff StGB ändert sich gar nichts.
Vgl. Fn. 184. Vgl. zu einer verwandten Problematik Vogler, N J W 1977, 1866, 1867. 209 Vgl. die Nachweise in Fn. 183, 185, 186, 235 und 236. 210 Vgl. dazu: BVerfGE 6, 309, 362 f; 18, 112, 121; 31, 58, 75 ff; Doehring (Fn. 128), S. 122 ff; Isensee, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, W D S t R L , Bd. 32, S.45, 57 ff. 211 Vgl. die Nachweise in Fn. 95. 212 Vgl. Jescheck, A T (Fn. 2), § 18 I 3, S. 130 f; Maurach/Zipf, AT 1 (Fn. 10), § 11 II Β 3, S. 146. 213 Da wir nicht wissen, ob es sich bei der im Text abgelehnten These um einen mißverstandenen Begriff aus dem (hier gar nicht in Rede stehenden) Internationalen Strafrecht handelt, sei ergänzend auf folgendes hingewiesen: Selbst in den Fällen der sog. „stellvertretenden Strafrechtspflege" des Internationalen Strafrechts üben die deutschen 207 208
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Schließlich ist noch angenommen worden, die Einbeziehung der gegenüber den Militärjustizbehörden der in der Bundesrepublik stationierten NATO-Streitkräfte begangenen Aussage- und Eidesverletzungen in den Strafschutz der §§ 153 ff StGB ergebe sich aus § 3 StGB, da auf Inlandstaten deutsches Strafrecht anzuwenden sei, auch wenn die Tat ausländische Interessen berühre oder ausländische Rechtspflege im Inland ausgeübt werde214. Dieses Rekurrieren auf § 3 StGB geht jedoch schon deshalb fehl, weil es hier nicht um den Geltungsbereich des nationalen Strafrechts, sondern um den tatbestandlichen Schutzbereich einer Strafnorm geht, der mit Fragen des Internationalen Strafrechts nichts zu tun hat215. Das Internationale Strafrecht nimmt die Straftatbestände so, wie es sie vorfindet: Weder ersetzt es fehlende Straftatbestände noch modifiziert es den tatbestandlichen Schutzbereich bestehender Strafnormen; Lücken und Grenzen der Straftatbestände lassen sich daher mit seiner Hilfe nicht überspielen. Wenn eine Strafnorm nur deutsche Rechtsgüter, nicht aber fremde Rechtsgüter schützt, so ändert das Internationale Strafrecht hieran folglich nichts; dazu hat es gar nicht die Kraft216. Auf die Einzelheiten der geschilderten Argumentation kommt es daher nicht mehr an; wir haben sie im wesentlichen schon vorher widerlegt. Das Fazit unserer Überlegungen lautet also: Die Rechtspflege der NATO-Stationierungstruppen ist - ebenso wie eine (sonstige) ausländische Rechtspflege - kein von den §§ 153 ff StGB geschütztes Rechtsgut. Dies mag man durchaus als bedauerliche Lücke empfinden, zumal Art. 12 des früheren Truppenvertrags217 eine Erweiterung des deutschen Strafrechts auf Meineid und andere strafbare Handlungen vor Militärjustizbehörden der Streitkräfte enthielt218. Warum eine ähnliche Vorschrift nicht in Art. 7 des 4. StÄG aufgenommen worden [165] ist, läßt sich den veröffentlichten Materialien nicht entnehmen21'. Wahrscheinlich ist es
Strafgerichte nicht eine fremde, sondern deutsche Strafgewalt aus; vgl. ]escheck, AT (Fn.2), § 1 8 II 6, S. 136. 214 Vgl. Wagner wie Fn. 194. 215 Vgl. dazu oben Abschnitt A zu und mit Fn. 10-12. 216 So Oehler (Fn. 11), Geburtstagsgabe für Grützner, S. 110, 116; ders. (Fn.8), IntStrR, Rdn.123; ganz h . M . ; vgl. etwa noch BGHSt. 21, 277, 280; O L G Hamm J Z I960, 576, 577. 217 Vgl. Vertrag über die Rechte und Pflichten ausländischer Streitkräfte und ihrer Mitglieder in der Bundesrepublik Deutschland vom 26. Mai 1952 - BGBl. 1955, Teil II, S. 321 ff. 218 Vgl. dazu Jescheck, Das Strafrecht nach dem Truppenvertrag, ZStW 65 (1953), S. 293, 304. 219 Vgl. Entwurf eines 4. StÄG BT-Drucks. 2 . W P / 3 0 3 9 ; Schriftl. Bericht - BTDrucks. 2. WP/3407 und zu 3407; Prot, der 190., 191. und 192. Sitzung des BT, 2 . W P ,
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die Folge davon, daß es bei der Schaffung des 4. StÄG ganz bewußt nicht darum ging, ein lückenloses Netz von Strafvorschriften aufzubauen220, sondern nur darum, den Strafschutz der Stationierungstruppen mit demjenigen der Bundeswehr gleichzustellen221 ; das hatte dann mit Aussage- und Eidesdelikten nichts zu tun. Man kann dies für eine sachlich falsche legislatorische Entschließung halten; aber nun muß sich der Gesetzgeber beim Wort nehmen lassen; die Gerichte könnten ihn nicht korrigieren und das Vakuum nicht schließen; dies ist Sache der Legislative222. (2) In der Literatur findet sich vereinzelt die These, der Schutzbereich der §§ 153 ff StGB erstrecke sich auch auf Verfahren vor internationalen und supranationalen Gerichtshöfen mit für die Bundesrepublik Deutschland relevanter Entscheidungsgewalt223 bzw. auf überstaatliche Rechtsprechungsgremien, an denen die Bundesrepublik beteiligt sei224. Das trifft in dieser Form nicht zu. Dabei brauchen wir uns auf die wissenschaftlichen Kontroversen um den Begriff „supranational" nicht einzulassen; denn supranationale Organisationen sind in jedem Falle internationale Organisationen, wenn auch solche eines besonderen Typs225. Entscheidend für uns ist nur die Frage, ob es sich um internationale Organisationen mit eigener (wenn auch auf bestimmte Aufgabenstellungen beschränkter) Völkerrechtssubjektivität handelt, so daß ihre etwaigen Gerichtshöfe eine für die Mitgliedstaaten - und damit ggf. für die Bundesrepublik Deutschland - „fremde" Hoheitsgewalt ausüben. Das ist für die hier interessierenden und in der strafrechtlichen Literatur oft erwähnten Beispiele der Fall: Die Europäischen Gemeinschaften (EAG, E W G und Montanunion) sind (von den Mitgliedstaaten verschiedene) Völkerrechtssubjekte; ihre Organe üben eine selbständige, unabhängige öffentliche Gewalt und nicht etwa deutsche öffentliche Gewalt aus. Der Umstand, daß die Bundesrepublik an den Europäischen Gemeinschaften beteiligt ist und [166]
S. 10850 ff, 10908 ff und 10930 ff; dazu Lackner, Das 4. Strafrechtänderungsgesetz, J Z 1957, 401 f u n d 405 f. 220 So BMJ von Merkatz, BT-Prot. 2. WP, S. 10854. 221 Vgl. Entwurf des 4. StÄG - BT-Drucks. 2.WP/3039, Begründung S.22. 222 Vgl. BVerfGE 47, 109, 124, - eine überaus bedeutsame Klarstellung der Grenzen jeder Interpretation. 223 So Willms, in: LK, Vor § 153 Rdn.3. 224 So Rudolphi, in: SK, Vor § 153 Rdn. 4. 225 Vgl. Bleckmann (Fn. 128), S. 199; Berber (Fn. 173), 3. Bd., §38, S. 318 ff; Menzel/ Ipsen, Völkerrecht, 2. Aufl. 1979, § 2 8 III, S.208; Seidl-Hohenveldern, Das Recht der Internationalen Organisationen einschließlich der Supranationalen Gemeinschaften, 3. Aufl. 1979, Rdn. 0113 ff; ders. (Fn.129), Rdn. 600 ff.
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daß deren Organe eine für die Bundesrepublik relevante Entscheidungsgewalt haben, ändert daran nichts226. Der (gemeinsame227) Gerichtshof der drei Europäischen Gemeinschaften repräsentiert daher eine „fremde" - nämlich von einem „anderen" Rechtsgutträger getragene Rechtspflege. - Der Europarat hat nach inzwischen überwiegender Ansicht ebenfalls den Charakter eines Völkerrechtssubjekts228. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte229 übt daher nicht deutsche, sondern fremde Rechtspflege aus. - Das im Rahmen der O E C D (früher O E E C ) bei der Europäischen Kernenergie-Agentur - einem Völkerrechtssubjekt mit eigener Hoheitsgewalt230 - als Instanz zur Anfechtung von Kontrollanordnungen errichtete Gericht231 stellt ebenfalls eine fremde Rechtspflege dar. - Und auch das aufgrund des Uberleitungsvertrags232 in Berlin errichtete Oberste Rückerstattungsgericht hat internationalen Charakter und übt - trotz der Mitbeteiligung der Bundesrepublik - keine deutsche öffentliche Gewalt aus233. - Diese Beispiele mögen genügen. Da - wie erörtert - die §§153 ff StGB nur die Rechtspflege, deren Rechtsgutträger die Bundesrepublik Deutschland ist, schützen, sind internationale und supranationale Gerichtshöfe, welche die Hoheitsgewalt eines anderen Völkerrechtssubjekts repräsentieren, nur dann in den Strafschutz gegen Aussage- und Eidesdelikte einbezogen, wenn und soweit durch Sondervorschriften - in der Regel durch ratifizierte völkerrechtliche Verträge - mit Hilfe von ausdrücklichen Gleichstellungsklauseln eine entsprechende Erweiterung des tatbestandlichen Schutzberichts
226 Vgl. BVerfGE 22, 293, 296-297; 37, 271, 277-278; Tomuschat, in: BK, Art. 24 GG, Rdn.39 und 42; Seidl-Hohenveldem (Fn.225), Rdn.0107, 0302, 0306; ders. (Fn. 129), Rdn.602, 605, 609 f. 227 Vgl. Art. 3 u. 4 des Abkommens über gemeinsame Organe für die europäischen Gemeinschaften vom 25. März 1957 - BGBl. 1957, Teil II, S. 1156ff, neueste Fassung in: Sartonus II, Nr. 220. 228 Vgl. Berber (Fn.173), 3.Bd., §31 II, S.285; Seidl-Hohenveldem (Fn.225), Rdn.0112; den. (Fn. 129), Rdn.609d und 609zzg; Bleckmann (Fn. 128), S. 153. 229 Vgl. Art. 19, 38 ff der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 - BGBl. 1952, Teil II, S.686, 953; neueste Fassung in: Sartorius II, Nr. 130. 230 Vgl. Tomuschat, in: BK, Art. 24 GG Rdn.110; Rojahn, in: von Münch, 2. Aufl. 1983, Art.24 GG R d n . 2 4 a ; ferner allgemein Seidl-Hohenveldem (Fn.225), Rdn.0225 und 0240. 231 Vgl. Teil III, Art. 12 ff des Übereinkommens über die Errichtung einer Sicherheitskontrolle auf dem Gebiet der Kernenergie vom 20. Dezember 1957 - BGBl. 1959, Teil II, S. 985 ff. 232 Vgl. III. Teil, Art. 6 des Vertrages zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen vom 26. Mai 1952 - BGBl. 1955, Teil II, S. 405 ff. 233 Vgl. BVerfGE 6, 15, 17-18; Seidl-Hohenveldem (Fn.225), Rdn.0307a.
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der § § 1 5 3 ff S t G B erfolgt ist 234 . Dies ist nur für einzelne [ 1 6 7 ] der genannten internationalen und supranationalen Gerichtshöfe geschehen, wie für den G e r i c h t s h o f der E u r o p ä i s c h e n Gemeinschaften 2 3 5 und für das G e r i c h t der nuklearen Sicherheitskontrolle 2 3 6 ; in anderen Fällen fehlt es daran noch 2 3 7 . Diese Sondervorschriften sind nicht unser T h e m a ; sie zeigen jedoch, w e l c h e n W e g der Gesetzgeber z u r Einbeziehung einer supranationalen o d e r internationalen Rechtspflege in den Strafschutz der § § 1 5 3 ff S t G B für erforderlich hält und drängen einen unsere Auffassung zusätzlich bestärkenden U m k e h r s c h l u ß betreffend sonstige internationale G e r i c h t s h ö f e der geschilderten A r t auf. 3.
Somit haben sich auch diejenigen L e h r e n , die unter B e s c h r ä n k u n g auf
einige spezielle Fälle eine A u s d e h n u n g des deutschen Strafrechts auf den S c h u t z f r e m d e r öffentlicher R e c h t s g ü t e r erstreben, als verfehlt erwiesen. Zugleich aber hat sich dabei die überragende B e d e u t u n g v o n S o n d e r v o r schriften z u r E r w e i t e r u n g des Strafschutzes herausgestellt, die w i r n o c h einmal aufgreifen w e r d e n .
254 So im Ergebnis mit Recht Tröndle, in: LK, Vor §3 Rdn. 30; Eser, in: Scbönke/ Schröder, Vor §3 Rdn. 22; Zieher, Das sog. Internationale Strafrecht nach der Reform, 1977, S. 120; wohl auch Oehler, IntStrR (Fn. 8), Rdn. 782 und 912 ff. 235 Vgl. folgende durch völkerrechtliche Verträge der Mitgliedstaaten geschaffene Vorschriften: Art. 27 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 17. April 1957 - BGBl. 1957, Teil II, S. 1166 ff - (neueste Fassung in Sartorius II, Nr. 221); Art. 28 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Atomgemeinschaft vom 17. April 1957-BGB1. 1957, Teil II, S. 1194 f f (gleichlautend). - Ferner Art. 28 Abs. 4 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 18. April 1951 - BGBl. 1952, Teil II, S. 482 ff - (neueste Fassung in: Sartorius II, Nr. 222), mit einer höchst problematischen Klausel; vgl. dazu Sandweg (Fn. 13), S. 155 ff; Johannes, Das Strafrecht im Bereich der Europäischen Gemeinschaften, Europarecht 1968, 63, 95 ff; Oehler, IntStrR (Fn. 8), Rdn. 912 ff. 236 Vgl. Art. 13 des (durch völkerrechtlichen Vertrag der Mitgliedsstaaten geschaffenen) Protokolls über das durch das Ubereinkommen zur Einrichtung einer Sicherheitskontrolle auf dem Gebiet der Kernenergie errichtete Gericht vom 20. Dezember 1957 - BGBl. 1959, Teil II, S.585, 610ff; dazu Sandweg (Fn. 13), S. 157f. 237 Art. 43 Satz 2 der Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 18. September 1959 i. d. F. vom 17. Januar 1979 - BGBl. 1979, Teil II, S. 212 ff - (Sartorius II, Nr. 137) ist nicht durch völkerrechtlichen Vertrag der Mitgliedsstaaten geschaffen, sondern durch den Gerichtshof selbst erlassen worden und enthält keine Gleichstellungsklausel, sondern regelt nur die „Mitteilungen" von Eidesverletzungen an den jeweiligen Mitgliedsstaat; eine tatbestandliche Erweiterung der §§ 153 ff StGB liegt aus diesen Gründen nicht vor; vgl. dazu Sandweg (Fn. 13), S. 158 f; Schellenberg, Das Verfahren vor der Europäischen Kommission und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, 1983, S. 227f. - Der noch bei Tröndle, in: LK, Vor § 3 Rdn. 30, zitierte An. 57 der Verfahrensordnung der Europäischen Kommission für Menschenrechte ist in deren Neufassung (Sartorius II, Nr. 136) nicht mehr enthalten; vgl. dazu: Schellenberg, a.a.O., S. 137 f.
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Bei alledem haben wir die Probleme beiseite gelassen, die dann entstehen, wenn eine Strafnorm eine Doppelnatur hat, indem sie [168] neben einem deutschen öffentlichen Rechtsgut auch ein Individualrechtsgut schützt und wenn die Tat sich dann gegen ein tatbestandlich nicht geschütztes fremdes öffentliches Rechtsgut richtet238. Ebenso haben wir die Fälle außer acht gelassen, in denen eine Strafnorm nur ein deutsches öffentliches Rechtsgut, nicht aber zugleich ein Individualrechtsgut schützt, jedoch von der gegen ein tatbestandlich nicht geschütztes fremdes öffentliches Rechtsgut gerichteten Tat - mittelbar, sekundär, als Nebenwirkung - normfremde deutsche Interessen nachteilig betroffen sind239. Denn alle dort auftretenden Schwierigkeiten haben nichts mit den fremden öffentlichen Rechtsgütern zu tun, sondern resultieren aus jenen zusätzlichen Konstellationen. Diese sind aber nicht unser Thema.
V. Wenden wir uns nun den angekündigten vier Beispielen der §§ 132 a Abs. 1 N r . 1 und 4, 152, 184 Abs. 1 Nr. 9 und 264 Abs. 6 StGB zu, die sämtlich einen ausdrücklichen „Auslandsbezug" aufweisen. Die Erwartung, daß deshalb in diesen Fällen die Bestimmung des jeweils geschützten Rechtsgutes keine Schwierigkeiten bereite, wäre indessen trügerisch. Diese Beispielsfälle belegen nämlich - je zu ihrem Teil - die Angelpunkte unserer bisherigen Ausführungen: eine Vernachlässigung der positivrechtlichen Regelung bei der Suche nach dem geschützten Rechtsgut; eine Uberbewertung von Äußerungen in gesetzgebenden Organen gegenüber Wortlaut und Sinn der lex lata; das Fehlen einer Frage nach dem Zusammentreffen mehrerer Rechtsgüter; den Mangel einer Unterscheidung zwischen Rechtsgut und gesetzgeberischem Motiv; und das Totschweigen des Unterschieds zwischen Rechtsgüterschutz und Schutzreflex. Insgesamt ist die Szene hier - wo das Gesetz selbst Fingerzeige gibt - von einer überraschenden spröden Zurückhaltung gegenüber nichtdeutschen Rechtsgütern gekennzeichnet. Eben deshalb haben wir diese Beispiele gewählt, weil es uns auch hier weniger um die Exegese einzelner Straftatbestände als vielmehr um das methodische Anliegen geht. Bei der Erörterung der Beispiele dreht es sich nur noch um Spezifika; das Grundsätzliche ist bereits gesagt. Wir machen nur noch die Probe aufs Exempel. 1. § 184 Abs. 1 N r . 9 StGB pönalisiert - kurz gefaßt - das Unternehmen der Ausfuhr pornographischer Schriften, um sie im Ausland unter 238 239
Vgl. betr. § 164 StGB die Nachweise in Fn.24 a.E. Vgl. betr. §§ 153 ff StGB die Nachweise in Fn. 187.
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Verstoß gegen die dort geltenden Strafvorschriften zu verbreiten. Die weit überwiegende Lehre nimmt an, daß mit dieser Strafnorm Konflikten mit dem Ausland vorgebeugt werden solle, wie sie - nach der [169] sog. Liberalisierung des Sexualstrafrechts in der Bundesrepublik - eintreten könnten, wenn von hier aus ausländische Staaten, die ein Pornographie-Verbreitungsverbot kennen, mit Pornographie überschwemmt würden. Die h. M. ist daher der Ansicht, geschütztes Rechtsgut sei hier das deutsche (staatliche, außenpolitische) Interesse an ungestörten Beziehungen zum Ausland; mit der Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung habe die Vorschrift nichts zu tun; sie stehe daher im 13. Abschnitt des B T des StGB am falschen Platz. Bei alledem stützt sich die h. M. auf Äußerungen in den parlamentarischen Beratungen240. Dem kann nicht gefolgt werden. Richtig ist zwar, daß diese h. M. einer Ansicht entspricht, die mehrfach im Gesetzgebungsverfahren geäußert worden ist241, doch hat es damit eine eigenartige Bewandtnis. Im Zusammenhang mit der Reform des Sexualstrafrechts hat die Bundesrepublik seiner Zeit das Abkommen zur Bekämpfung der Verbreitung unzüchtiger Veröffentlichungen242 gekündigt. Namentlich die Schweiz nahm dies zum Anlaß, auf rechtliche Vorkehrungen gegen eine Überflutung mit (deutscher) Pornographie zu dringen243. Zu diesem Zweck wurde zunächst erwogen, die Ausfuhr von Pornographie aufgrund von § 7 Abs. 1 Nr. 3 A WG244 - strafbewehrt durch § 34 A W G - zu untersagen, um „zu verhüten, daß die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland erheblich gestört" würden. Dagegen erhoben sich jedoch Bedenken, weil durch eine Ausfuhr von Pornographie keine Störungen mit dem vom Gesetz geforderten Erheblichkeitsgrad zu erwarten seien245. Daraufhin entschloß man sich, das Ausfuhrverbot in
240 Vgl. im einzelnen Laußütte, Viertes Gesetz zur Reform des Strafrechts, JZ 1974, 46, 49; Dreher, Die Neuregelung des Sexualstrafrechts - eine geglückte Reform?, JR 1974, 45, 47; Maurach/Schroeder, BT 1, 1977 (Fn.24), §23 II, S. 197-198; Otto, BT (Fn.25), §66 VIII 2, S. 326; Preisendanz (Fn.23), §184 Anm.4e; Horn, in: SK, §184 Rdn.62; Lenckner, in: Schönke/Schröder, §184 Rdn.3; Arzt/Weber (Fn.25), LH 2, 1983, G Nr. 488; Dreher/Tröndle, §184 Rdn.5; Lackner, §184 Anm. 1. 2.1 Vgl. die Prot, über die 65. und 66. Sitzung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (SA) des BT vom 19. und 20. Januar 1972, 6. WP (im folg.: Prot.), S. 1910-1911, 1925-1926, 1937-1938; Schriftl. Bericht des SA in BT-Drucks. VI/3521, S.61. 2.2 Vom 4.Mai 1910 - RGBl. 1911, S.209ff; abgedruckt bei Grützner (Fn. 185) unter Nr. III U 2. 243 Vgl. Prot. (Fn.241), S. 1910, 1925. 244 Außenwirtschaftsgesetz vom 28. April 1961 - BGBl. 1961, Teil I, S. 481 ff, in der jetzt geltenden Fassung abgedruckt in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Nr. A217. 245 Vgl. Prot. (Fn.241), S. 1910-1911, 1937-1938. - Vgl. zu dem Begriff „erhebliche Störung" Fuhrmann, in: Erbs/Kohlhaas (Fn. 244), §34 A WG, Anm. 4.
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§184 StGB aufzunehmen und nannte dabei als Grund weiterhin die Gefahr von Störungen der auswärtigen Beziehungen246. [170] Diese Erörterungen hatten indessen einen ganz ungewöhnlichen Hautgout: Bei den parlamentarischen Beratungen war nämlich wiederholt die Rede davon, daß diese Vorschrift „nur eine Alibifunktion" habe, um sich „scheinbar entschuldigen zu können", wenn vom Ausland der Vorwurf erhoben werde, durch die Freigabe der Pornographie trage die Bundesrepublik zur Überschwemmung des Auslands mit Pornographie bei247. Wir wollen hier nicht vertiefen, ob solche - für parlamentarische Beratungen befremdliche - Alibi-Planungen bei der Suche nach dem geschützten Rechtsgut überhaupt ernst genommen werden können; denn entscheidend ist dafür ohnehin nicht die Meinung der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten; ausschlaggebend ist vielmehr, welches Rechtsgut sich aus Wortlaut und Sinnzusammenhang der lex lata ergibt248. Fragt man danach, so ergibt sich ein anderer objektivierter Wille des Gesetzgebers: § 184 Abs. 1 Nr. 9 StGB verbietet das Unternehmen der Ausfuhr nur, wenn es in der Absicht geschieht, die pornographischen Schriften unter Verstoß gegen die im Ausland geltenden Strafvorschriften
zu verbreiten,
öffentlich zugänglich zu machen oder eine solche Verwendung zu ermöglichen. Bezugspunkt der Absicht sind also ausländische Verwendungsarten, die den dort bestehenden Strafgesetzen zuwiderlaufen; bei diesen ausländischen Strafvorschriften handelt es sich um Normen des Sexualstrafrechts. Mit anderen Worten: §184 Abs. 1 Nr.9 StGB gibt diesen ausländischen Verboten eine Hilfestellung von außen her; §184 Abs. 1 Nr. 9 StGB ist objektiv darauf angelegt, zu verhüten, daß Verbote des ausländischen Sexualstrafrechts mit Hilfe von aus Deutschland eingeschleuster Pornographie verletzt werden. Dieser unmittelbar aus dem Gesetz selbst ablesbare Grundgedanke ist - was die Literatur bisher nicht zur Kenntnis genommen hat - auch in den parlamentarischen Beratungen von einzelnen Beteiligten erkannt worden; es hieß dort nämlich: Für die Eingliederung der Nr. 9 in § 184 StGB spreche, daß es hier um die Beteiligung an in einem fremden Land unter dem Gesichtspunkt des Sexualstrafrechts strafbaren Handlungen gehe249. Das ist zwar recht untechnisch ausgedrückt; aber wir können ohnehin darauf verzichten, solche Bemerkungen aus den kontroversen parlamentarischen Beratungen - auch nur unterstützend250 - heranzuziehen, denn aus dem Gesetz selbst ergibt sich: M
Vgl. Prot, Vgl. Prot. 248 Vgl. oben 249 Vgl. Prot. 2S ° Fn. 248. 247
wie Fn.241, 243, 245. (Fn.241), S. 1926, 1937, 1938. Abschnitt Β I zu und mit Fn. 17. (Fn.241), S.1938.
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Die parlamentarischen Überlegungen über den Schutz der deutschen auswärtigen Beziehungen waren ein - nachgerade klassischer - Fall eines bloßen gesetzgeberischen Motivs, das zur Schaffung eines Straftatbestands [171] geführt hat, in dem sich nach Wortlaut und Sinn ein ganz anderes Rechtsgut manifestiert: die ausländische Sexualordnung251. § 184 Abs. 1 Nr. 9 StGB steht also am rechten Fleck. Er schützt ein ausländisches Rechtsgut, und zwar nur dieses252; denn sonstige Rechtsgüter haben in dem auf den Beistand für ausländisches Sexualstrafrecht ausgerichteten Gesetz keinen Niederschlag gefunden. Wenn die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik von dem deutschen Strafschutz für die ausländische Sexualordnung profitieren, dann handelt es sich dabei nicht um ein weiteres Rechtsgut, sondern um einen bloßen Schutzreflex. Freilich geht infolge der Bezugnahme auf das jeweilige ausländische Sexualstrafrecht der helfende Schutz des § 184 Abs. 1 Nr. 9 StGB zugunsten der ausländischen Sexualordnung u. U. weiter als der Inlandsschutz des § 184 StGB für die sexuelle Selbstbestimmung; denn die Ausfuhr ist nicht nur dann strafbar, wenn die beabsichtigte Verbreitung im Ausland gegen ähnlich eng verklausulierte Tatbestände wie in den übrigen Alternativen des § 184 StGB verstoßen würde, sondern auch dann, wenn sie dort einem - in der Bundesrepublik nicht existierenden - allgemeinen Pornographie-Verbreitungsverbot zuwiderlaufen würde253. Aber mit dem Mehr an Schutz für das Ausland wird nicht der Gegenstand des Schutzes verändert; es geht allemal nur um die - eben anders strukturierte - jeweilige ausländische Sexualordnung. 2. §132 a Abs. 1 Nr. 1 und 4 StGB pönalisiert die unbefugte Führung inländischer oder ausländischer Amts- oder Dienstbezeichnungen, akademischer Grade, Titel oder öffentlicher Würden sowie das unbefugte Tragen inländischer oder ausländischer Uniformen, Amtskleidungen oder Amtsabzeichen. Soweit es sich dabei um inländische Titel usw. handelt, wird als geschütztes Rechtsgut nahezu einhellig das besondere Vertrauen der (inländischen) Allgemeinheit angesehen, das diese den Trägern von Titeln, Amtsbezeichnungen, Uniformen usw. entgegenbringe und das vor
251 Es ist verfehlt, wenn die Literatur (oben Fn.240) bei § 184 Abs. 1 Nr. 9 StGB ein Delikt gegen die „sexuelle Selbstbestimmung" vermißt, denn diese deutschen Rechtsbegriffe lassen sich nicht unbesehen auf ausländische Strafrechte übertragen; ganz abgesehen davon, daß § 184 StGB ganz unterschiedliche Rechtsgüter zum Gegenstand hat; vgl. Lackner, § 184 Anm. 1. 252 253
So mit Recht Jescheck, AT (Fn.2), § 1 8 III 8, S. 141. Vgl. Lenckner, in: Schönke/Schröder, § 1 8 4 Rdn.3.
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Hochstaplern geschützt werden müsse254. Die Frage, ob daneben [172] als weiteres - ggf. sekundäres - Rechtsgut auch die Autorität der Titel oder der titelvergebenden Stellen bzw. die durch die Amtsbezeichnungen repräsentierten Behörden usw. geschützt sind, ist hier ganz zurückgetreten; sie wird ersichtlich nirgends ausdrücklich verneint, gelegentlich sinngemäß dahingestellt, vereinzelt bejaht255. In beiden Fällen geht es um nationale Rechtsgüter. Anders liegt es bei den ausländischen Titeln usw. Zwar wird auch hier überwiegend angenommen, daß es um den Schutz des besonderen Vertrauens gehe, das im Inland auch ausländischen Titeln, Amtsbezeichnungen, Uniformen usw. entgegengebracht werde256. O b daneben auch ein ausländisches Rechtsgut geschützt sei, hat die Rechtsprechung offengelassen, wobei sie vom „Interesse des betreffenden ausländischen Staates" sprach257. In der Rechtslehre wird der Schutz eines ausländischen Rechtsgutes jedoch vereinzelt lapidar bejaht, ohne daß sich eine präzise Benennung dieses ausländischen Rechtsgutes findet258. Dabei ist oft unklar, ob das fremde Rechtsgut allein oder zusätzlich gemeint ist. Dazu ist folgendes zu sagen: Es mag unterstellt werden, daß auch heute noch zumindest ein Teil der inländischen Bevölkerung - selbst ausländischen - Titeln, Amtsbezeichnungen, Uniformen usw. im allgemeinen ein besonderes Vertrauen entgegenbringt. Indessen sind längst nicht alle ausländischen Bezeichnungen - namentlich bei „entlegenen Sprachen" - für die Masse der sprachunkundigen Inländer in gleicher Weise verständlich wie die in vielen Sprachen ähnlich klingenden Doktor- und Professor-Titel. Was so aus Gründen der Sprachbarriere für viele ausländische Amts- oder Dienstbezeichnungen, akademische Grade, Titel und öffentliche Würden gilt, mag aus Gründen mangelnder Verständlichkeit auch für manche fremdartige Amtskleidungen und Amtsabzeichen sowie vielleicht auch für exotische Uniformen gelten. Zwar kommt es für den Tatbe-
254 Vgl. BayObLG NJW 1979, 2359; von Bubnoff, in: LK, § 132 a Rdn. 2; Rudolphi, in: SK, §132 a Rdn. 2; Cramer, in: Schönke/Schröder, §132 a Rdn. 3. - Kritisch Mäurach/ Schroeder, BT 2 (Fn.24), §77 I, S.207. 255 Zurückhaltend („nicht in 1. Linie", etc.) von Bubnoff, Rudolphi und Cramer wie Fn. 254; Otto, BT (Fn.25), §89 IV 1, S.409. - Bejahend Maurach/Schroeder (Fn.254), („Schutz der staatlichen Ämterzuweisung und der Verleihung von Berufsbezeichnungen"); Reschke (Fn. 1), S. 213-214 (Schutz der Titel selbst). - Daß die „berechtigten Träger" der Titel usw. geschützt seien, wird ersichtlich nicht mehr angenommen. 256 Vgl. BGH GA 1966,279; von Bubnoff, Rudolphi und Cramer wie Fn. 254; Lackner, §132 a Anm. 1. 257 Vgl. BGH GA 1966, 279 („nicht, jedenfalls nicht nur"). 258 Vgl. Sandweg (Fn. 13), S. 100; Tröndle, in: LK, Vor §3 Rdn.32; Dreher/Tröndle, §3 Rdn. 2 a; Oehler, IntStrR (Fn.8), Rdn. 238.
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stand des § 132 a StGB nicht darauf an, ob durch das unbefugte Führen des Titels oder das unbefugte Tragen der Uniform ein anderer getäuscht worden ist259; aber wo infolge von Unverständlichkeit [173] sich ein auf jene Merkmale gestütztes besonderes Vertrauen von vornherein gar nicht mehr - oder nur noch bei Experten - bilden kann, erklärt der Vertrauensschutz das Rechtsgut des § 132 a StGB nur noch unvollständig, und nur darum geht es hier: Wo sich die Funktion des Tatbestands zum Schutze des Vertrauens der Allgemeinheit nicht mehr halten läßt, muß die Strafnorm noch einen anderen Schutzzweck haben260. Dafür gibt das Gesetz selbst mit dem ausdrücklichen Auslandsbezug in § 132 a Abs. 1 Nr. 1 und 4 StGB den richtungweisenden Fingerzeig261: Die Lösung liegt in der Bejahung eines ausländischen Rechtsgutes262. Welcher der genannten Versionen dabei der Vorzug zu geben ist, ist hier ohne größere Bedeutung; wir neigen dazu, das Interesse des ausländischen Staates an der Autorität seiner Titel, Amtsbezeichnungen, Uniformen usw. als geschütztes Rechtsgut anzusehen. Es dürfte der Sachlage am ehesten entsprechen, hier ein Zusammentreffen des nationalen Rechtsguts des Vertrauensschutzes und des vorbezeichneten ausländischen Interesses anzunehmen263. 3. Die Strafvorschriften der §§ 146 ff StGB schützen nach ganz h. M. das öffentliche Interesse an der Sicherheit und Funktionsfähigkeit des Geldverkehrs bzw. des Rechtsverkehrs mit Wertzeichen und Wertpapieren264. Dabei handelt es sich zunächst - wie stets - um ein nationales Rechtsgut. Die Frage ist nur, ob infolge der Einbeziehung von Geld, Wertzeichen und Wertpapieren eines fremden Währungsgebietes (§ 152 StGB; früher ähnlich betr. ausländisches Geld: §146 a. F. StGB) ein fremdes öffentli-
Vgl. RGSt. 61, 7, 8; BGH MDR 1976, 413. Vgl. dazu (wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen) Mauracb/Scbroeder (Fn. 254). - Vgl. zur Verfehlung des Schutzzwecks des §132 a StGB allgemein BayObLG MDR 1973, 778 f, mit Nachweisen. 261 Wenn Cramer (Fn. 254) dahin zu verstehen sein sollte, daß in dem ausdrücklichen „Auslandsbezug" des § 132 a StGB ein Argument gegen die Annahme eines ausländischen Rechtsgutes liege, dann würden wir eine solche Umkehrung in einen „Auslands-Ausschluß" für verfehlt halten. Cramers weiteres Argument, daß das StGB normalerweise ausländische staatliche Institutionen nicht schütze, muß selbst für die Anhänger dieser von uns (oben Abschnitt Β III 2) abgelehnten Lehre versagen, wo das Gesetz wie hier ausdrückliche Bezüge zum Ausland herstellt. 262 Im Ergebnis ebenso die in Fn. 258 genannten Autoren. 265 Die Annahme von Alternativität der beiden Schutzzwecke könnte naheliegen; vgl. dazu Fn. 42. 264 Gelegentlich wird zusätzlich vom Vertrauen in die Sicherheit und Zuverlässigkeit des Geldverkehrs usw. gesprochen; vgl. statt vieler RGSt. 67, 294, 297; BGH NJW 1974, 564; Stree, in: Schönke/Schröder, § 146 Rdn. 1, § 148 Rdn. 1. 259 260
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ches Rechtsgut hinzutritt265. In der älteren [174] Literatur ist gelegentlich angenommen worden, der Strafschutz für ausländisches Geld erfolge vornehmlich deshalb, weil durch dessen Fälschung der inländische Geldverkehr in Mitleidenschaft gezogen werde, ohne daß damit der Schutz eines ausländischen Rechtsgutes ausgeschlossen wurde266. Seit der Reform der §§ 146 ff StGB durch das E G S t G B 1974267 pflegt die Literatur (mit dem Blick auf § 152 StGB) davon zu sprechen, durch die §§ 146 ff StGB seien die Sicherheit und Funktionsfähigkeit des nationalen und internationalen Geldverkehrs (bzw. Verkehrs mit Wertzeichen und Wertpapieren) geschützt268. Diese Formel beantwortet jedoch noch nicht die Frage, welcher Rechtsgutträger mit der sehr allgemeinen Bezeichnung „internationaler Geldverkehr" gemeint ist. Andere Stimmen sprechen insoweit davon, daß hier ein ausländisches Rechtsgut geschützt sei269, ohne daß eine nähere Begründung hierfür gegeben und das gemeinte ausländische Rechtsgut näher bezeichnet wird. Was die erste Frage anlangt, so sind wir zwar der Meinung, daß der ausdrückliche Auslandsbezug des §152 StGB durchaus genügen würde, um die Einbeziehung eines fremden Rechtsgutes zu begründen; indessen gibt es dafür noch einen weiteren triftigen Grund: Die tatbestandliche Ausdehnung des Strafschutzes auf ausländische Wertträger entsprach, soweit es sich um Geld und Postwertzeichen handelt, Verpflichtungen, welche Deutschland in zwei völkerrechtlichen Verträgen eingegangen war, an denen die meisten Staaten der Welt beteiligt sind, nämlich im Internationalen Abkommen zur Bekämpfung der Falschmünzerei270 und im Weltpost-Vertrag271 ; diese Staaten Verpflichtung realisiert § 152 StGB.
265 Die bei Maurach/Schroeder, BT 2 (Fn.24), § 6 7 I 3, S. 128-129, vertretene Auffassung, daß § 152 StGB nur klarstellende Bedeutung habe, lassen wir beiseite; sie beruht auf einer Vermengung der Begriffe „überstaatliches Rechtsgut" und „wegen der Schutzwürdigkeit allen Staaten gemeinsames Rechtsgut" (vgl. dazu oben Abschnitt Β IV 1 c und d; siehe besonders oben Fn. 150); die bei Maurach/Schroeder, a . a . O . , zitierten Fundstellen besagen das Gemeinte nicht.
Vgl. von Weber (Fn. 1), Festgabe für von Frank, Bd. 2, S.269, 279, 285. Vgl. EGStGB vom 2. März 1974 - BGBl. 1974, Teil I, S. 469 ff. 268 Vgl. Dreher/Kanein, Der gesetzliche Schutz der Münzen und Medaillen, 1975, Vor § 146 StGB, S. 67; Rudolphi, in: SK, Vor § 146 Rdn. 2; Schmidhausen BT (Fn. 23), S. 179. 269 Vgl. Jescheck, AT (Fn.2), § 1 8 III 8, S. 141; Tröndle, in: LK, Vor § 3 Rdn. 32; Oehler (Fn. 8), IntStrR, Rdn. 238 u. 792; Dreher/Tröndle, § 3 R d n . 2 a ; Sandweg (Fn. 13), S.100. 270 Vgl. Art. 3 und 5 des Internationalen Abkommens zur Bekämpfung der Falschmünzerei vom 20. April 1929 - RGBl. 1933, Teil II, S. 913 ff; abgedruckt bei Grützner (Fn. 185) unter Nr. III F l . 271 Vgl. Art. 14 des Weltpostvertrags vom 10. Juli 1964 - BGBl. 1965, Teil II, S. 1609 ff; dazu aus der Zeit des Erlasses des EGStGB (Fn.267); BT-Drucks. 7/550, S.231. - Heute Art. 13 des Weltpostvertrags i. d. F. vom 26. Oktober 1979 - BGBl. 1981, Teil II, S. 704 ff. 266
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Wenn Staaten solche Verträge abschließen, dann verfolgen sie zwar gewiß das eigene Interesse, ihre Währung (usw.) weltweit geschützt zu sehen; aber dieses Ziel erreichen sie nur, [175] indem sie auch das Interesse fremder Staaten am auswärtigen Schutz ihrer jeweiligen Währ u n g akzeptieren; dieses ausländische Interesse schützt §152 StGB. Daß bei § 152 StGB ein ausländisches Rechtsgut im Spiel ist, bestätigt indirekt § 6 N r . 7 StGB, der ebenfalls teilweise auf eine internationale Verpflichtung zurückgeht 272 und der auch in den Fällen des § 152 StGB ohne Rücksicht auf das Recht des Tatortes und die Staatsangehörigkeit des Täters - Auslandstaten der Geld- und Wertpapierfälschung sowie deren Vorbereitung dem Weltrechtsprinzip unterstellt; mit anderen Worten: Nach den §§ 146,152 StGB ist auch ein Brasilianer strafbar, der in Kolumbien mexikanische Banknoten fälscht, um sie in Peru unauffällig umzusetzen. Das ist nicht mehr erklärlich, wenn § 152 StGB nicht ausländische Rechtsgüter schützt: Denn das Internationale Straf recht nimmt - wie schon erörtert273 - die Strafvorschriften so, wie es sie vorfindet, ohne ihren tatbestandlichen Schutzbereich - namentlich die von ihnen geschützten Rechtsgüter - zu verändern. Was diese anlangt, läßt sich zwar sagen, jeder Staat - also auch die Bundesrepublik - habe ein Interesse daran, daß nirgendwo in der Welt durch Falsifikate der internationale Geldkreislauf beeinflußt werde274; aber dieses Interesse ist derart vage, daß es nicht mehr die Konturen dieses Rechtsgutes hat, sondern nur die ratio legis oder gar lediglich die Gründe bezeichnet, die den Gesetzgeber bei der Normierung (mit-)beeinflußt haben275. Diese Probleme sind gelöst, wenn § 152 StGB - richtigerweise - auch ausländische Rechtsgüter schützt276. Das in § 152 StGB gemeinte ausländische Rechtsgut ist das Interesse desjenigen Staates an der Sicherheit und Zuverlässigkeit seiner Wertträger, gegen dessen Währung usw. die Tat sich richtet. 4. Welches Rechtsgut die Strafvorschrift gegen Subventionsbetrug (§264 StGB) schützt, ist Gegenstand eines noch andauernden wissenschaftlichen Streits; genannt werden insbesondere: die Planungs- und
272 Vgl. Art. 9 des in Fn. 270 bezeichneten Abkommens; dazu näher Zieher (Fn.234), S. 163 ff. 273 Vgl. oben Abschnitt Β IV 2 b (1) zu und mit Fn. 215-216. 274 Vgl. Zieher (Fn.272). 275 Vgl. dazu näher oben Abschnitt Β II zu und mit Fn. 31 und 32. - Die Fälle des § 152 StGB liegen eben anders als Auslandstaten nach §§146, 149, 151 StGB, die sich auf Geld und Wertpapiere der Bundesrepublik Deutschland beziehen. 276 Der Grundsatz der Alternativität der Schutzzwecke (vgl. Fn. 42) würde die im Text gemeinten Fälle lösen, in denen nicht von einem Angriff auf ein deutsches Rechtsgut gesprochen werden könnte.
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Dispositionsfreiheit der öffentlichen Hand im Bereich der Wirtschaftsförderung, die Subventionierung als Instrument der staatlichen Wirtschaftsförderung [176] und die damit verbundenen wirtschaftspolitischen Zwecke, das Interesse an einer wirksamen staatlichen Wirtschaftsförderung, das Vermögen des staatlichen Subventionsgebers u. a. m., wobei unterschiedliche Kombinationen das Bild noch weiter verwirren277. Dem kann hier nicht nachgegangen werden; wir neigen zu der Annahme, daß §264 StGB in erster Linie die Subventionierung als Instrument der staatlichen Wirtschaftsförderung und zusätzlich das Vermögen des Subventionsgebers schützt. In diesem Streit ist die Frage nahezu untergegangen, ob es sich dann, wenn die Subvention eine Leistung aus öffentlichen Mitteln nach dem Recht der Europäischen Gemeinschaften ist (§ 264 Abs. 6 StGB), um ein nichtdeutsches Rechtsgut, nämlich ein solches der EG handelt. Diese Frage ist zu bejahen, weil der Auslandsbezug - besser: „Europabezug" insoweit besonders deutlich ist: Es handelt sich nicht nur der Herkunft nach um öffentliche Mittel der E G ; auch die Gewährung dieser Mittel muß nach Gemeinschaftsrecht erfolgt sein278; die Subventionierung ist hier ein wirtschaftsforderndes Instrument der EG. Geschützt sind daher Rechtsgüter der Europäischen Gemeinschaften 279 . Soweit es dabei um die Subventionierung als Gemeinschaftsinstrument geht, hat damit ein öffentliches Rechtsgut supranationaler Gemeinschaften Einzug in das StGB gehalten280. C. N u n bleibt uns noch, eine kurze Bilanz zu ziehen und einen Ausblick zu wagen. Strafschutz für nichtdeutsche Rechtsgüter haben wir nur in einigen Fallgruppen bejahen können: Zunächst aus völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Gründen bei Individualrechtsgütern, die wir auf diesem Wege aus der Umklammerung durch fragwürdige Formeln herausgelöst haben. Ferner bei öffentlichen Rechtsgütern - abgesehen [177] 277 Vgl. statt vieler Hack, Probleme des Tatbestands Subventionsbetrug, § 264 StGB, 1982, passim; Ubersicht auch bei Tiedemann, in: LK, §264 Rdn. 8 ff. 278 Das ist nicht nur dann der Fall, wenn die EG-Subventionen unmittelbar von Stellen der EG vergeben werden, sondern auch dann, wenn sie nach dem Vergaberecht der EG von deutschen Stellen gewährt werden; vgl. BT-Drucks. 7/5291, S. 10; h.M. 279 Vgl. Oehler (Fn. 8), IntStrR, Rdn. 926 (geschützt werden „Rechtsakte der Gemeinschaften"); Samson, in: SK, §264 Rdn. 29 („Subventionsbetrug zum Nachteil der Europäischen Gemeinschaften"). 2,0 Ein solches öffentliches Rechtsgut supranationaler Gemeinschaften liegt auch dann vor, wenn man die Planungs- und Dispositionsfreiheit der EG oder die Wirtschaftsförderung der EG als hier geschütztes öffentliches Rechtsgut ansieht.
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von Sondervorschriften - dann, wenn ein ausdrücklicher Auslandsbezug - wie bei den §§ 102 ff, 132 a, 152, 184, 264 StGB - einen auf Einbeziehung fremder Rechtsgüter gerichteten objektivierten Willen des Gesetzgebers erkennen läßt; hier fanden wir uns oftmals überraschend im Gegensatz zu verbreiteten Lehren. Hingegen haben wir bei den „neutral" abgefaßten Strafnormen zum Schutze öffentlicher Rechtsgüter eine Ausdehnung auf fremde Rechtsgüter abgelehnt; dabei haben sich Divergenzen zu Rechtsprechung und Lehre teilweise schon bei Rechtsgütern des Staates, vor allem aber bei Rechtsgütern der Allgemeinheit (sog. überstaatlichen Rechtsgütern) herausgestellt. Wir sind uns bewußt, daß diese Gedanken bestenfalls den Beginn einer Diskussion darstellen können. Aber wir hoffen, gezeigt zu haben, daß die von uns behandelte Materie ein unterentwickeltes Gebiet ist, das dringend der Entwicklungshilfe bedarf. Daß diese Hilfe - unbeschadet aller wissenschaftlichen Bemühungen - letztlich nur vom Gesetzgeber kommen kann, ist schon aus berufenerem Munde gesagt worden281; vom Boden unserer Konzeption aus können wir dem nur zustimmen: Nur der Gesetzgeber kann die Frage, welche nichtdeutschen öffentlichen Rechtsgüter deutschen Strafschutz genießen, dem Meinungsstreit entreißen; Muster dafür gibt es genug. Ein vorläufiges Programm für wünschenswerte legislatorische Klarstellungen ist leicht zusammengestellt: Da sind zunächst die Fälle des Widerstands gegen ausländische Amtsträger, die mit Ermächtigung der zuständigen deutschen Stellen im Inland hoheitlich tätig werden282; ihre gesetzliche Klärung ist schon vor Jahrzehnten angeregt worden283. Da sind weiter die Aussage- und Eidesverletzungen vor den Gerichten der NATO-Stationierungstruppen, die nur durch eine Erweiterung der §§ 153 ff StGB auf diese nichtdeutsche Rechtspflege erfaßt werden können284. Dasselbe gilt für Aussage- und Eidesdelikte vor solchen internationalen Gerichtshöfen, für die noch keine Gleichstellungsklauseln in Sondervorschriften existieren285. Und daß die so oft vorgeschlagene Erweiterung der §§102 ff StGB auf den Schutz der Organe über- oder zwischenstaatlicher Einrichtungen286 noch immer nicht realisiert ist, bleibt ein Anachronismus. [178] 281 Vgl. von Weber (Fn. 1), Festgabe für von Frank, Bd. 2, S. 269, 285-286; Schröder, J Z 1968, 241, 245-246. 282 Vgl. oben Abschnitt Β IV 2 a. 285 Vgl. Jescheck (Fn. 15), Festschrift für Rittler, S.275, 284 f. 284 Vgl. oben Abschnitt Β IV 2 b (1). 285 Vgl. oben Abschnitt Β IV 2 b (2), besonders Fn.237 betr. den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. 286 Vgl. Jescheck (Fn.283), S. 279 ff; §§480-484 des StGB - E 1962, BT-Drucks. IV/ 650.
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Vom Standpunkt unserer Konzeption aus müßte aber vor allem überprüft werden, bei welchen (sonstigen) Strafvorschriften zum Schutze von Rechtsgütern des Staates und der Allgemeinheit durch ausdrückliche Klauseln die Einbeziehung fremder Rechtsgüter klargestellt werden soll. So war es in unserer Sicht durchaus kein Verdienst, daß 1943 der bis dahin in §267 StGB enthaltene Auslandsbezug gestrichen worden ist287. Und daß bei den Straßenverkehrsdelikten eine solche Klärung bitter nötig ist288, bedarf kaum der Erwähnung. Diese Beispiele genügen, um zu zeigen, was gemeint ist. Wir glauben, daß manches davon - namentlich in der letztgenannten Gruppe - dringlich ist, weil die von der h. M. zur Ausdehnung des Strafschutzes auf fremde öffentliche Rechtsgüter benutzten Formeln und Thesen schwerwiegende rechtsstaatliche Bedenken auslösen. Doch wer will schon Hoffnung auf Reformen bei einem Thema hegen, bei dem seit einem halben Jahrhundert die Einsicht in die Notwendigkeit eines Eingreifens des Gesetzgebers mit der resignierenden Feststellung verbunden ist, daß die Zeiten dafür nicht günstig seien289 und daß das Ziel noch in weiter Ferne liege290! Das Idealbild eines Strafrechts, in dem der Gesetzgeber diejenigen Strafvorschriften zum Schutze öffentlicher Rechtsgüter, welche auch fremde Rechtsgüter einschließen, durch Gleichstellungsklauseln abschließend - also unter Ausschluß aller anderen Fälle - kennzeichnet, wird wohl eine Utopie bleiben.
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Vgl. VO vom 29.Mai 1943 - RGBl. 1943, Teil I, S.339ff; vgl. zu den bei §§267ff StGB bestehenden Schwierigkeiten Tröndle, in: LK, Vor §3 Rdn. 34, mit Nachweisen. 2,8 Vgl. dazu die Problem-Übersicht bei Tröndle, in: LK, Vor §3 Rdn. 38-40. 289 Vgl. Nagler (Fn. 17), Festgabe für Heilborn, S.31, 49-51. 2,0 Vgl. von Weber (Fn. 1), Festgabe für von Frank, Bd. 2, S.286.
Strafverfahrensrecht
Die Änderung des Schuldspruchs durch das Revisionsgericht in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone* Ist von einem der Prozeßbeteiligten Revision [Rev.] gegen ein Strafurteil eingelegt worden, das materiellrechtliche Subsumtionsfehler1 aufweist, so erhebt sich die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen das RevGericht den fehlerhaften Schuldspruch des angefochtenen Urteils selbst abändern darf oder gar abändern muß und welchen Einfluß eine solche Schuldspruchänderung (SchA) auf den Strafausspruch hat. Die Bedeutung dieses Problems ergibt sich nicht nur aus der Fülle der dabei zu klärenden Rechtsfragen, sondern auch aus der praktischen Auswirkung einer solchen Urteilskorrektur: einerseits ist sie ein prozeßökonomisch wichtiges Mittel zur Vermeidung von Aufhebungen und Zurückverweisungen; andererseits bedeutet sie ein nicht zu unterschätzendes Risiko für den Rev. einlegenden Angeklagten2. Es ist das Verdienst von Wimmer 3 , das Rechtsinstitut der ändernden Sachentscheidung des RevGerichts - wohl erstmalig - systematisch untersucht und dabei - unabhängig von der Rechtsprechung des R G zur SchA4 richtungweisende Grundsätze aufgestellt zu haben. Die zeitlich nach der Abhandlung von Wimmer einsetzende, umfangreiche Judikatur des O G H zur SchA ist nur wenig bekannt geworden und in Rechtsprechung und Rechtslehre vereinzelt auf Ablehnung gestoßen5. Eine umfassende Darstellung des Beitrags, den der O G H in seiner nunmehr zweijährigen Spruchpraxis zum hier angeschnittenen Problem geliefert hat, fehlt bis
* Aus: Deutsche Rechts-Zeitschrift 1950, S. 348-351. 1 Bei Verfahrensverstößen kommt eine Schuldspruchänderung nicht in Betracht. 2 Vgl. dazu Seibert: Zur Rev. in Strafsachen, DRZ 48, 371. 5 Wimmer: Die ändernde Sachentscheidung des RevGerichts in Strafsachen, MDR 48, 69. * Vgl. die Nachweise bei Wimmer, a. a. O. Siehe dazu auch Härtung: RevUrteil oder RevBeschluß? D R Z 50, 219. 5 Vgl. ζ. B. O L G Braunschweig in N J W 50, 36, das eingehend erörtert, ob eine in jener Sache vom O G H vorgenommene SchÄ der unter Ziff. II 5 dieses Aufsatzes behandelten Art überhaupt statthaft gewesen sei, und diese Frage mit dem Hinweis auf die nach § 358 I StPO bindende Wirkung der Entscheidung des O G H offen läßt. - Vgl. dazu auch: Niese in JuV 50, 77 Ziff. 6 sowie Härtung in DRZ 50, 219 ff.
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Strafverfahrensrecht
heute und soll deshalb im folgenden versucht werden. Dabei ergibt die Auswertung aller bisher ergangenen, veröffentlichten und nicht veröffentlichten Urteile und Beschlüsse des OGH 6 ein bereits überraschend weit ausgearbeitetes System, dessen Grundsätze weitgehend Richtschnur für die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zu werden verdienen. I. Recht und Pflicht zur Schuldspruchänderung Da es an einer positiven gesetzlichen Regelung der Befugnis des RevGerichts zur Selbständerung eines fehlerhaften Schuldspruchs fehlt7, hat der O G H die Berechtigung des RevGerichts zur SchÄ in einer Reihe von Entscheidungen näher begründet. Dabei stand naturgemäß die Frage, ob eine SchÄ nachteiliger Art auch bei alleiniger Revision des Angeklagten statthaft ist, im Vordergrund. Der O G H hat - auch für den letzteren Fall - das Recht des RevGerichts zur Selbständerung des Schuldspruchs mit folgenden überzeugenden Argumenten bejaht: 1. Das RevGericht hat das Recht und die Pflicht zur allseitig erschöpfenden rechtlichen Nachprüfung des Sachverhalts. In diesen Aufgabenbereich fällt auch die SchÄ, weil sie lediglich die Beseitigung einer materiellen Gesetzesverletzung bezweckt, die bei Anwendung des Rechts auf den bedenkenfrei und lückenlos festgestellten Sachverhalt unterlaufen ist, ohne daß durch sie die dem Urteil zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen berührt werden8. 2. Eine Beschwerung des Angeklagten ist zwar für die Zulässigkeit seiner Rev. von Bedeutung; sie begrenzt aber (bei zulässigem Rechtsmittel) nicht notwendig das Recht und die Pflicht des RevGerichts zur allseitig erschöpfenden rechtlichen Prüfung des Sachverhalts'.
' Für diese Darstellung wurden als Material die vom O G H bis zum l.Juni 1950 ausgelieferten, ungekürzten beglaubigten Abschriften sämtlicher Urteile und Beschlüsse benutzt. Aus Raumgründen sind im Einvernehmen mit der Redaktion der DRZ in den folgenden Fußnoten stets nur die Aktenzeichen der Entscheidungen angegeben. Soweit die zitierten Entscheidungen überhaupt veröffentlicht worden sind, sind sie zugleich ganz oder auszugsweise in der amtlichen Entscheidungssammlung des O G H für Strafsachen abgedruckt. Daher darf auf diese Fundstelle verwiesen werden. Lediglich die in der amtl. Sammig. nicht enthaltene Entscheidung StS 8/48 ist in MDR 48, 303 nachzulesen. Im übrigen sind die in der amtl. Sammig. nicht enthaltenen, nachfolgend zitierten Entscheidungen des O G H noch nicht veröffentlicht. 7 Vgl. §§353, 354 StPO, die nur Aufhebung und Zurückverweisung, Freisprechung, Einstellung des Verfahrens sowie Verhängung absolut bestimmter Strafen und gesetzlicher Mindeststrafen kennen. 8 O G H StS 70/48; 71/48; 2/48; 5/48; 139/48; 72/48; 284/49. ' O G H StS 2/48; 70/48.
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3. Die SchÄ ist als Ausfluß des Rechts und der Pflicht des RevGerichts zu erschöpfender rechtlicher Nachprüfung des Sachverhalts von der Stellung hierauf gerichteter Anträge nicht abhängig; sie ist daher auch dann zulässig, wenn sie nicht erstrebt wird10. 4. Das in §358 II StPO (in der Fassung der AAR Nr. 2) verankerte Verbot einer reformatio in peius verhindert - auch bei alleiniger Revision des Angeklagten - eine nachteilige Änderung des Schuldspruchs nicht, sondern untersagt nur eine Verschlechterung im Strafausspruch11. 5. Nach § 358 I StPO wäre der Tatrichter im Falle einer Aufhebung und Zurückverweisung an die der Aufhebung zugrunde liegende rechtliche Beurteilung des RevGerichts gebunden und müßte daher den Schuldspruch ohnehin ändern; eine erneute Verhandlung über die Schuldfrage würde mithin nur nutzlose Vergeudung von Zeit und Arbeitskraft bedeuten12. 6. Auf der Basis dieser verfahrensrechtlichen und prozeßökonomischen Erwägungen bietet die analoge Anwendung des § 354 I StPO die gesetzliche Grundlage für eine SchÄ durch das RevGericht". Da das RevGericht nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zur allseitig erschöpfenden rechtlichen Nachprüfung des Sachverhalts hat, hat der O G H folgerichtig nicht nur die Befugnis, sondern auch die Verpflichtung des RevGerichts zur Selbständerung des Schuldspruchs bejaht14. Darin darf eine Bestätigung des von Wimmer a. a. O . betonten Grundsatzes erblickt werden, daß es unstatthaft ist, bei alleiniger Revision des Angeklagten von der Korrektur der ihm günstigen Subsumtionsfehler mangels Beschwer abzusehen15. Es ist demnach Aufgabe des RevGerichts, den Schuldspruch auch dann rechtlich richtig zu stellen, wenn dies dem Angeklagten zum Nachteil gereicht, sofern nur die (unter Ziffer III dargestellten) Voraussetzungen einer SchÄ vorliegen. O G H StS 5/48. O G H StS 73/48; 5/48; 18/48; 26/48. 12 O G H StS 3/48; 6/48; 8/48; 5/48; 37/48. 15 O G H StS 3/48; 5/48; 6/48; 8/48; 18/48; 37/48; 72/48; 73/48; 139/48; 156/48; 184/49; 284/49; 490/49; 329/49. » O G H StS 5/48; 70/48. 15 Wenn der O G H in manchen Entscheidungen die Frage nach der zusätzlichen Anwendbarkeit weiterer Strafvorschriften bei alleiniger Rev. des Angekl. „mangels Beschwer" ungeklärt gelassen hat, so wird dies nicht als eine Preisgabe des in StS 5/48 und 70/48 ausgesprochenen Grundsatzes von der Verpflichtung des RevGerichts zur Selbständerung des Schuldspruchs gewertet werden können. Soweit erkennbar, fehlte es anscheinend jeweils an den unter Ziffer III dieses Aufsatzes erörterten Voraussetzungen einer SchÄ. 10 11
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Strafverfahrensrecht
II. Die Anwendungsfälle der Schuldspruchänderung Die vom O G H vorgenommenen SchAen lassen sich in folgende Fallgruppen einteilen16: [349] 1. Das RevGericht kann zunächst (in unmittelbarer Anwendung des §354 I StPO) den Angeklagten unter Aufhebung einer rechtsirrigen Verurteilung ganz oder teilweise freisprechen bzw. das Verfahren (ζ. B. wegen Verjährung) ganz oder teilweise einstellen". 2. Die SchÄ kann in der ersatzlosen Streichung (Wegfall) einer rechtsirrig in Tateinheit angewandten Strafnorm bestehen18. Hier bleibt der Schuldspruch hinsichtlich der übrigen in Idealkonkurrenz verletzten Strafvorschriften unberührt. 3. Das RevGericht kann ferner eine vom Tatrichter rechtsirrig angewandte Strafnorm durch eine andere mildere oder schwerere Strafvorschrift ersetzen, also eine Auswechselung von Strafnormen vornehmen. Dabei ist es gleichgültig, ob es sich um eine Auswechselung von Vorschriften des allgemeinen oder des besonderen Teils des StGB oder auch beider zugleich handelt (ζ. B. Ersetzung von Versuch durch Vollendung, von Beihilfe durch Täterschaft, von Tateinheit durch Tatmehrheit oder umgekehrt; Ersetzung von §252 durch §251 StGB, von §251 durch §250 StGB, von §340 durch §223 StGB oder dergl.). Es kann auch eine einzelne Strafnorm innerhalb einer im übrigen unberührt bleibenden Tateinheit ausgewechselt werden19. - Einen Sonderfall stellt die Ersetzung einer rechtsirrigen eindeutigen Verurteilung durch eine Wahlfeststellung dar20. 4. Die SchÄ kann aber auch in der Hinzufügung
(Ergänzung)
einer
" Der Fall einer bloßen Richtigstellung ungenau formulierter Schuldsprüche aus den zutreffenden Urteilsgründen ist hier nicht erwähnt, da er - wie Wimmer a. a. O. zutreffend betont hat - von der Änderung eines materiell fehlerhaften Schuldspruchs zu unterscheiden ist. Solche Berichtigungen in Form von klärenden Zusätzen oder Streichungen zwecks Anpassung ungenauer Schuldsprüche an die materiell richtigen Urteilsgründe hat auch der O G H in zahlreichen Fällen vorgenommen: vgl. StS 35/48; 44/48; 74/48; 146/48; 87/49; 229/49; 291/49; 409/49 und 1 StS 2/50. 17 O G H StS 76/48; 95/48; 119/48; 162 u. 163/48 betr. ganzen oder teilweisen Freispruch; 374/49 betr. teilweise Einstellung des Verfahrens. - Dieser Fall ist hier wegen der unter Ziffer VI 1 des Aufsatzes erörterten Auswirkungen eines Teilfreispruchs bzw. einer Teileinstellung auf den übrigen Strafausspruch erwähnt. 18 O G H StS 18/48; 44/48; 71/48; 75/48; 108/48; 122/48; 137/48; 156/48; 161/48; 8/49; 15/49; 36/49; 68/49; 439/49; 372/49 ; 392/49; 329/49. " Vgl. im einzelnen: O G H StS 3/48; 5/48; 56/48; 73/48; 121/48; 150/48; 106/49; 177/ 49; 284/49; 329/49. 20 O G H StS 198/49.
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weiteren in Tateinheit verletzten Gesetzesvorschrift bestehen, die der Tatrichter rechtsirrig nicht angewandt hat21. 5. Schließlich hat der O G H auf Rev. der StA hin unter Aufhebung eines rechtsirrigen Freispruchs oder einer rechtsirrigen (ζ. B. wegen angeblicher Verjährung erfolgten) Einstellung des Verfahrens den Angeklagten selbst verurteilt21. Dabei handelte es sich nur um eine „Schuldigsprechung", also eine Fällung des Schuldspruchs, da die Verhängung einer absolut bestimmten Strafe oder einer gesetzlichen Mindeststrafe gemäß §354 I StPO nicht in Betracht kam. Die Befugnis zu einer solchen Schuldigerklärung hat der O G H unter analoger Anwendung des §354 StPO daraus abgeleitet, daß der Tatrichter gemäß §358 I StPO ohnehin an die Rechtsauffassung des RevGerichts über die Schuldfrage gebunden wäre. Auch wenn man mit den (in Fußnote 5 angeführten) Kritikern Bedenken gegen die soeben erörterte „Schuldigsprechung" erheben will, so bietet das vom O G H entwickelte System der SchA den RevGerichten im übrigen dennoch die Möglichkeit, fast jeden denkbaren, Subsumtionsfehler zu korrigieren, sofern nur die nunmehr zu erörternden materiellen und formellen Voraussetzungen einer Abänderung des Schuldspruchs vorliegen. III. Die Voraussetzungen der Schuldspruchänderung Eine SchA in der Form der Auswechselung oder Hinzufügung eines rechtlichen Gesichtspunktes sowie einer erstmaligen Verurteilung (vgl. oben Ziffer II, 3, 4, 5) ist nach ständiger Rspr. des O G H nur unter folgenden Voraussetzungen statthaft: 1. Zunächst müssen die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils ausreichen, d.h. bedenkenfrei und vollständig sein, um eine abschließende Beurteilung der Schuldfrage hinsichtlich des nunmehr zur Anwendung gelangenden rechtlichen Gesichtspunktes zu gestatten23. 2. Außerdem muß der Angeklagte auf den jetzt zur Anwendung kommenden rechtlichen Gesichtspunkt bereits in der Anklageschrift oder durch Belehrung gemäß § 265 StPO hingewiesen worden sein, so daß er dazu schon vor dem Tatrichter Stellung nehmen konnte und zu einer
21 O G H StS 2/48; 6/48; 18/48; 26/48; 37/48; 45/48; 70/48; 72/48; 80/48; 89/48; 99/48; 106/48; 133/48; 139/48; 143/48; 156/49; 184/49; 189/49; 490/49. 22 O G H StS 8/48; 37/48; 17/49; 21/49; 191/49; 458/49. - Vgl. hierzu die Kritik von Härtung in D R Z 50, 220. 2 O G H StS 5/48; 2/48; 3/48; 45/48; 106/48; 17/49; 156/49. - Vgl. auch StS 8/48; 21/49; 458/49; 189/49; 490/49.
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zusätzlichen tatsächlichen Verteidigung in erneuter Hauptverhandlung mithin nicht in der Lage sein würde24. Dagegen ist eine SchA der genannten Arten unzulässig, wenn auch nur eine dieser Voraussetzungen fehlt. Eine derartige Selbständerung des Schuldspruchs durch das RevGericht scheidet daher nach ständiger Rspr. des O G H aus: 1. wenn die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils nicht hinreichen, um den möglicherweise anwendbaren rechtlichen Gesichtspunkt abschließend zu beurteilen25, 2. oder wenn der Angeklagte auf diesen rechtlichen Gesichtspunkt weder in der Anklageschrift noch durch Belehrung aus §265 StPO hingewiesen worden ist, so daß er also insoweit noch keine Gelegenheit zur Verteidigung hatte26. Eine SchA in der Form des Freispruchs, der Einstellung des Verfahrens und der Streichung von Strafnormen (vgl. oben Ziffer II 1 u. 2) ist selbstredend stets ohne weiteres zulässig. IV. Die prozessuale Form und Ausdehnung der Schuldspruchänderung 1. Das RevGericht kann einen fehlerhaften Schuldspruch nicht nur durch Urteil, sondern auch durch Beschluß gem. § 349 III StPO (in der Fassung der AAR Nr. 2) ändern, und zwar auch dann, wenn es die Rev. im übrigen gemäß § 349 II StPO als offensichtlich unbegründet verwirft. Für die Zulässigkeit der Entscheidung durch Beschluß macht es keinen Unterschied, ob die SchÄ einen Freispruch, die Streichung, Auswechselung oder Hinzufügung eines rechtlichen Gesichtspunktes oder eine erstmalige Verurteilung betrifft27. 2. Handelt es sich um eine dem Angeklagten günstige SchA, so bietet §357 StPO dem RevGericht die Handhabe, die Änderung auch auf andere Angeklagte, die selbst nicht Rev. eingelegt haben, auszudehnen, gleichgültig, ob die Entscheidung durch Urteil oder durch Beschluß ergeht28. Dabei ist es nicht nötig, daß das Urteil gegen die anderen 24
O G H StS 37/48; 3/48; 18/48; 26/48; 45/48; 73/48; 106/49. O G H StS 134/48; 38/48; 106/48; 70/48; 189/49; 206/49; 346/49. 26 O G H StS 26/48; 40/48; 47/48; 75/48; 89/48; 105/48; 120/48. 27 O G H StS 15/49; 68/49; 439/49 betr. Streichung einer irrig in Tateinheit angewandten Strafnorm durch Beschluß unter Verwerfung der Revision im übrigen. - O G H StS 191/49; 458/49 betr. Schuldigsprechung durch Beschluß unter Aufhebung eines rechtsirrigen Freispruchs. Vgl. zu letzterem die Kritik von Härtung in DRZ 50, 220. 28 O G H StS 121/48 (Normauswechselung durch Urteil auf andere Angekl. ausgedehnt); 122/48 (Streichung einer Norm durch Urteil auf andere Angekl. ausgedehnt); 68/ 49 (Streichung einer Strafnorm durch Beschluß auf andere Angekl. ausgedehnt). 25
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Angeklagten auf derselben, identischen Rechtsverletzung beruht; es genügt vielmehr, daß bei den anderen Angeklagten eine gleichartige Gesetzesverletzung vorliegt2'.
V. Die Entscheidung bei Fehlen der Voraussetzungen einer Schuldspruchänderung Scheidet eine Selbständerung des Schuldspruchs in der Form der Auswechselung oder Hinzufügung eines rechtlichen Gesichtspunktes oder einer erstmaligen Verurteilung (vgl. oben Ziffer II 3, 4, 5) infolge Fehlens der (unter Ziffer III) erörterten Voraussetzungen aus, so erhebt sich die Frage, ob das angefochtene Urteil wegen des Subsumtionsfehlers gemäß §§ 353, 354 II StPO im Schuld- und [350] Strafausspruch aufgehoben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen werden darf oder muß. Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, ob der Beschwerdeführer durch den Rechtsfehler des Urteils beschwert ist30. Daraus ergeben sich folgende Grundsätze: 1. Hat nur der Angeklagte Rev. eingelegt, so ist eine Aufhebung und Zurückverweisung lediglich zwecks Ergänzung der (für eine zusätzliche Verurteilung nötigen) tatsächlichen Feststellungen oder zwecks Nachholung des dazu fehlenden rechtlichen Hinweises mangels Beschwer unstatthaft31. 2. Hat dagegen (allein oder auch) die StA Rev. eingelegt, so ist Aufhebung und Zurückverweisung im Schuld- und Strafausspruch zwecks Nachholung der (zusätzlichen oder erstmaligen) Verurteilung geboten32. 3. Indessen kann das RevGericht eine wegen Unzulässigkeit einer SchA notwendig werdende teilweise Aufhebung und Zurückverweisung hinsichtlich nebensächlicher Anklagepunkte dadurch vermeiden, daß es das Verfahren insoweit mit Zustimmung der StA gemäß § 153 III StPO einstellt33.
29 30 31 32 33
So grundlegend O G H StS 159/48. O G H StS 134/48. O G H StS 134/48; 106/48; 3 8 / 4 8 ; 7 0 / 4 8 ; 75/48; 105/48. O G H StS 4 0 / 4 8 ; 120/48; 81/48; 189/49; 206/49. O G H StS 2 9 / 4 9 .
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VI. Die Auswirkungen der Schuldspruchänderung auf den Strafausspruch Ändert das RevGericht den Schuldspruch, so ist in jedem Fall zu prüfen, welchen Einfluß dies auf den Strafausspruch hat. Hierzu hat der O G H folgende Grundsätze entwickelt: 1. Bei ganzem oder teilweisem Freispruch bzw. bei ganzer oder teilweiser Einstellung des Verfahrens ist die irrige Verurteilung selbstredend insoweit aufzuheben 34 . Dabei kann das RevGericht im Falle eines Teilfreispruchs oder einer Teileinstellung des Verfahrens eine wegen eines zweiten bestehenbleibenden Delikts vom Tatrichter verhängte Einsatzstrafe unter Auflösung der Gesamtstrafe als alleinige Strafe im Tenor aufrechterhalten 35 . Ist dagegen aus mehreren anderen bestehenbleibenden Einsatzstrafen nunmehr eine neue Gesamtstrafe zu bilden, so bedarf es der Aufhebung hinsichtlich der Gesamtstrafe und der Zurückverweisung zwecks neuer Gesamtstrafenbildung 3 '. 2. Bei Streichung (Wegfall) eines vom Tatrichter rechtsirrig in Tateinheit angewandten Strafgesetzes ist folgendes zu unterscheiden: a) Eine Aufhebung und Zurückverweisung hinsichtlich des Strafausspruchs ist hier - auch wenn der Angeklagte Rev. eingelegt hat - nicht nötig, wenn sich durch den Wegfall der Strafnorm an den Strafzumessungstatsachen nichts ändert und wenn die Strafzumessungsgründe des angefochtenen Urteils ergeben, daß sie durch die Streichung der Strafvorschrift nicht zugunsten des Angeklagten berührt werden, insbesondere wenn sich der gesetzliche Strafrahmen nicht ändert und die wegfallende N o r m keine vom Tatrichter eingehaltene Mindeststrafe enthielt oder wenn der Tatrichter die Mindeststrafe der wegfallenden Strafvorschrift bereits irrig unterschritten hatte37. b) Dagegen ist hier eine Aufhebung und Zurückverweisung hinsichtlich des Strafausspruchs notwendig, wenn die Möglichkeit einer milderen Strafzumessung besteht, insbesondere wenn es nach den Strafzumessungsgründen des angefochtenen Urteils nicht auszuschließen ist, daß das zu Unrecht als vorliegend erachtete Delikt die Strafhöhe beeinflußt hat, oder wenn die wegfallende Strafvorschrift eine Mindeststrafe vorsah, die der Tatrichter eingehalten hat. In solchen Fällen darf das RevGericht nicht selbst entscheiden, ob die Strafe auch noch nach 34
O G H StS 76/48; 95/48; 119/48; 162 u. 163/48; 374/49. O G H StS 162 u. 163/48. 36 O G H StS 374/49; vgl. auch noch die verwandten Fälle: O G H StS 71/48 und 106/49. 37 Vgl. im einzelnen: O G H StS 108/48; 122/48; 44/48; 156/48; 161/48; 15/49; 68/49; 71/48; 439/49; 372/49 ; 392/49. 35
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Wegfall der tateinheitlichen Norm angemessen ist58. - Dies gilt auch dann, wenn der Tatrichter in den Urteilsgründen nach Erkennen des Fehlers zum Ausdruck gebracht hat, die irrige Gesetzesanwendung habe keinen Einfluß auf die Strafhöhe gehabt, da eine solche nach Urteilsfällung angestellte Erwägung das Versehen nicht ausgleichen kann39. 3. Bei Ersetzung (.Auswechselung) einer irrig angewandten Strafnorm durch eine andere Strafvorschrift macht der O G H folgende Unterschiede: a) Wird an die Stelle der irrig angewandten Norm eine mildere Vorschrift gesetzt, so ist grundsätzlich Aufhebung und Zurückverweisung im Strafausspruch geboten, da eine neue Strafzumessung nötig ist, die dem RevGericht versagt ist40. Eine Ausnahme gilt aber trotz Einfügung der milderen Strafvorschrift und trotz etwaiger RevEinlegung durch den Angeklagten dann, wenn die ausgewechselte Norm in Tateinheit mit einer anderen schwereren, bestehenbleibenden Vorschrift steht, aus der die Strafe entnommen ist, und wenn der Strafrahmen der gleiche bleibt sowie auch die der Strafzumessung zugrunde liegenden Tatsachen in keiner Weise verändert werden. Dann ist eine Aufhebung und Zurückverweisung hinsichtlich des Strafausspruchs nicht notwendig41. Folgender Sonderfall der Auswechselung verdient Hervorhebung: Hat der Tatrichter irrig Tatmehrheit (§74 StGB) angenommen und demgemäß eine Gesamtstrafe gebildet, ändert das RevGericht den Schuldspruch aber dahin, daß Tateinheit (§ 73 StGB) vorliegt, so muß das angefochtene Urteil im Strafausspruch aufgehoben werden, da nunmehr statt der Gesamtstrafe eine Einheitsstrafe (unter Berücksichtigung der Mindeststrafe der verletzten milderen Gesetze) auszuwerfen ist. Dies ist dem RevGericht selbst dann verwehrt, wenn es die bisherige Strafhöhe für angemessen hält42. b) Wird an die Stelle einer irrig angewandten milderen Strafvorschrift eine schwerere Strafnorm gesetzt, so bleibt bei alleiniger Rev. des Angeklagten der Strafausspruch bestehen, da einerseits §358 II StPO (Verbot der reformatio in peius) eine höhere Bestrafung untersagt und da andererseits wegen der schwereren Belastung eine mildere Bestrafung 58 Vgl. im einzelnen: O G H StS 71/48; 75/48; 137/48; 8/49; 36/49; 106/49; 329/49. - In allen diesen Fällen handelte es sich um Revisionen der Angekl. nicht der StA. " O G H StS 36/49. " O G H StS 3/48; 106/49; 329/49. - Auch in diesen Fällen handelte es sich um Revisionen der Angekl., nicht der StA. 41 O G H StS 121/48; ähnlich StS 150/48. « O G H StS 184/49.
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ausscheidet, insbesondere eine Veränderung des Strafrahmens oder der Strafzumessungstatsachen zugunsten des Angeklagten nicht in Betracht kommt43. Dagegen muß die Einfügung einer schwereren Strafnorm an Stelle einer irrig angewandten milderen Vorschrift bei Rev. der StA zur Aufhebung und Zurückverweisung hinsichtlich des Strafausspruchs führen, da nicht auszuschließen ist, daß die Strafhöhe durch die rechtsirrige Auffassung des Tatrichters beeinflußt sein kann44. Aufhebung und Zurückverweisung hinsichtlich des Strafausspruchs erübrigen sich hier nur dann, wenn das RevGericht nunmehr selbst gemäß § 354 I StPO auf eine absolut bestimmte Strafe erkennen kann45. 4. Bei Hinzufügung (Ergänzung) einer weiteren in Tateinheit verletzten Strafvorschrift gelten folgende Grundsätze: a) Hat nur der Angeklagte Rev. eingelegt, so ist bei Hinzutritt weiterer tateinheitlicher Gesetzesverstöße eine Aufhebung und Zurückverweisung hinsichtlich des Strafausspruchs unstatthaft, da einerseits § 358 II StPO eine höhere Bestrafung verbietet und da andererseits eine mildere Strafe wegen des Hinzutritts weiterer tateinheitlicher [351] Gesichtspunkte nicht verhängt werden dürfte, insbesondere wenn die Strafe jetzt aus einem hinzutretenden schwereren Gesetz zu entnehmen wäre (§ 73 StGB)46. Auch hier verdient ein vom O G H in ständiger Rspr. entwickelter Sonderfall besondere Hervorhebung: Fügt das RevGericht zu mehreren im angefochtenen Urteil richtig festgestellten, untereinander realkonkurrierenden Delikten zusätzlich eine schwerere Einheitstat (z.B. ein Verbrechen gegen KRG Nr. 10) hinzu, die ihrerseits zu den anderen Straftaten in Tateinheit steht47, so bedarf es bei alleiniger Rev. des Angeklagten einer Aufhebung im Strafausspruch nicht. Vielmehr kann das RevGericht die vom Tatrichter gebildete Gesamtstrafe unter Umbenennung als Strafe aus dem nunmehr hinzugetretenen schwereren Strafgesetz (§73 StGB) aufrechterhalten, da einerseits §358 II StPO eine härtere Bestrafung verbieten würde und da andererseits der Hinzutritt des schwereren Gesetzes eine mildere Bestrafung nicht zu rechtfertigen vermöchte48. O G H StS 5/48; ähnlich StS 177/49. O G H StS 56/48. 45 O G H StS 284/49. 46 Vgl. im einzelnen: O G H StS 18/48; 26/48; 70/48; 45/48; 80/48; 106/48. 47 Dasselbe muß gelten, wenn zu den im tatrichterlichen Urteil angenommenen realkonkurrierenden Delikten eine Fortsetzungstat hinzutritt, die ihrerseits zu jenen Straftaten in Tateinheit steht. 48 O G H StS 70/48; 89/48; 99/48. 43 44
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b) H a t dagegen (allein oder auch) die StA Rev. eingelegt, so ist bei Hinzutritt weiterer tateinheitlicher Gesetzesverstöße Aufhebung und Zurückverweisung hinsichtlich des Strafausspruchs geboten, da nunmehr unter Berücksichtigung eines neuen Unwertgehalts der Tat eine neue Strafzumessung nötig ist, insbesondere wenn jetzt die Strafe aus einem breiteren Strafrahmen oder aus einem hinzugefügten schwereren Strafgesetz (unter Einhaltung der Mindeststrafe des tateinheitlich verletzten milderen Gesetzes) zu entnehmen ist (§73 StGB). In diesen Fällen darf das RevGericht nicht selbst prüfen, ob der Tatrichter trotz der veränderten rechtlichen Beurteilung bei der gleichen Strafe bleiben wird oder nicht, da dies bereits eine Frage der dem RevGericht versagten Strafzumessung ist49. - Dies gilt auch dann, wenn der Tatrichter in den Urteilsgründen bereits erklärt hat, die Strafe wäre auch bei zusätzlicher Anwendung der von ihm (irrig) abgelehnten Rechtsnorm nicht anders ausgefallen, da er infolge der Verneinung des fraglichen rechtlichen Gesichtspunktes auch dessen besonderem Unrechtsgehalt nicht Rechnung getragen hat50. 5. Bei (erstmaliger) Verurteilung unter Aufhebung eines rechtsirrigen Freispruchs oder einer rechtsirrigen Einstellung des Verfahrens ist selbstredend stets hinsichtlich des Strafausspruchs Zurückverweisung nötig, da nur der Tatrichter die jetzt nötig werdende Strafzumessung vornehmen kann 51 , sofern nicht die Verhängung einer absolut bestimmten Strafe oder einer gesetzlichen Mindeststrafe in Betracht kommt (§354 I StPO). Diese aus der reichhaltigen Kasuistik des O G H gewonnenen Grundsätze über den Einfluß einer SchÄ auf den Strafausspruch lassen ein wohldurchdachtes System erkennen, das bei aller gebotenen Zurückhaltung gegenüber der ausschließlich dem Tatrichter vorbehaltenen Strafzumessung in prozeßökonomischer Weise unnötige Urteilsaufhebungen vermeidet.
49 Vgl. im einezlnen OGH StS 6/48; 72/48; 37/48; 133/48; 139/48; 143/48; 156/49; 189/ 49; 490/49. 50 OGH StS 72/48. 51 OGH StS 8/48; 37/48; 17/49; 21/49; 191/49; 458/49.
Das Recht des Verteidigers auf Akteneinsicht"" Zu den in der Praxis des Strafverteidigers wichtigsten Problemen gehören die Fragen, in welchem Umfange der Verteidiger den ihm durch Akteneinsicht bekanntgewordenen Inhalt der Strafakten dem Beschuldigten mitteilen, von ihm angefertigte Aktenauszüge dem Beschuldigten überlassen und die ihm zu treuen Händen übergebenen Gerichtsakten dem Beschuldigten zugänglich machen darf. Diese Fragen sind neuerdings Gegenstand lebhafter Diskussionen in Anwaltskreisen; über sie haben in jüngster Zeit die Vorstände verschiedener Rechtsanwaltskammern Entschließungen gefaßt, die teilweise zu recht unterschiedlichen Ergebnissen gelangt sind. Es erscheint daher nützlich, diese Probleme einer näheren Untersuchung zu unterziehen. Dabei wird sich zeigen, daß Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung des Akteneinsichtsrechts Ausgangspunkt dieser Betrachtung sein müssen. I. Das Recht des Verteidigers auf Akteneinsicht und auf Anfertigung von Aktenauszügen § 147 StPO gibt (in den dort angegebenen Grenzen) dem Verteidiger ein Recht auf Akteneinsicht. Dagegen ist ein Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten dem Strafprozeßrecht fremd und wird daher von der einhelligen Rechtsprechung und Rechtslehre verneint1. Der Grund dieser Regelung liegt darin, daß der [745] Verteidiger als Organ der Rechtspflege (vgl. § 1 Satz 1 RAO BrZ) das Vertrauen genießt, mit seiner Kenntnis des Akteninhalts keinen Mißbrauch zu treiben2 und die Integrität der Akten zu gewährleisten, während bei Einsichtnahme durch den Beschuldigten oder gar bei Überlassung der Akten an diesen die Gefahr einer Beseitigung der Akten oder einer Veränderung des Akteninhalts bestände3. Der Grundsatz, daß nur der Verteidiger Anspruch auf * Aus: Neue Juristische Wochenschrift 1951, S. 744-747. 1 Vgl. RGSt. 72, 275; RG Rspr. St. 4, 351-352; EGH 29, 214 = J W 36, 264; EGH 30, 159 = J W 36, 3549; Lobe und Alsberg in J W 26, 2725 ff; Löwe-Rosenberg, 19. Aufl. 1934 Anm. 10 zu § 147 StPO; Schwarz, 13. Aufl. 1950 Anm. 1 A zu § 147 StPO; KleinknechtMüller-Reitberger, 1950 Anm. 8 zu § 147 StPO; Erbs, 1950 Anm. I zu § 147 StPO; Dalcke, 35. Aufl. 1950 Anm. 2 zu § 1 4 7 StPO. 2 3
So EGH 29, 214 = J W 36, 264. So Lobe und Alsberg, aaO; EGH 30, 159 = J W 36, 3549.
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Akteneinsicht hat, kommt ebenfalls in §75 Abs. 2 WiStrG zum Ausdruck, der auch im Bußgeldverfahren der Verwaltungsbehörden nur dem Verteidiger, nicht aber dem Betroffenen ein Akteneinsichtsrecht gewährt; er wird weiter durch die §§385 Abs. 4, 397 StPO bestätigt, wonach selbst der Privatkläger und der Nebenkläger das Recht auf Akteneinsicht nur durch einen Rechtsanwalt ausüben können. Wie sehr es auf die Vertrauensstellung des am Strafverfahren persönlich uninteressierten Verteidigers ankommt, ergibt sich auch daraus, daß nach einhelliger Ansicht selbst ein in dem betreffenden Verfahren beschuldigter Rechtsanwalt kein Akteneinsichtsrecht hat4. Wo dem Gesetzgeber mit Rücksicht auf die besondere Natur eines sich nach den Regeln der StPO vollziehenden Verfahrens eine Ausnahme angebracht erschien, hat er diese besonders normiert, so ζ. B. im ehrengerichtlichen Zulassungsverfahren, das keinen Beschuldigten, sondern einen Antragsteller kennt, dem der Gesetzgeber das für ein Akteneinsichtsrecht erforderliche Vertrauen entgegengebracht hat (§18 Abs. 2 Satz 4 R A O BrZ). Dem allem steht nicht entgegen, daß Richter und Staatsanwalt ihrerseits die Befugnis haben, dem Beschuldigten Akteneinsicht zu gewähren, wenn dies nach ihrem pflichtmäßigen Ermessen zur Aufklärung des Sachverhalts geboten ist 5 ; denn einmal kann aus einer solchen Ermessensbefugnis der Strafverfolgungsbehörden noch kein Recht des Beschuldigten hergeleitet werden und zum anderen besteht diese Befugnis nicht im Interesse des Beschuldigten, sondern im Interesse der Sachaufklärung. Einigkeit besteht auch darüber, daß der Verteidiger das Recht hat, sich einen Aktenauszug anzufertigen6. Es kann dabei dahinstehen, ob das Recht auf Anfertigung von Aktenauszügen „selbstverständlich" aus dem Recht zur Akteneinsicht folgt 7 ; denn jedenfalls ist - vor allem in großen Strafsachen - eine Verteidigung ohne Anfertigung eines Aktenauszugs kaum möglich. Der Grundsatz der „Waffengleichheit" gebietet es daher, die Anfertigung von Aktenauszügen durch den Verteidiger zu gestatten. Dabei hat der Verteidiger die Wahl, sich bei Akteneinsicht an Gerichtsstelle Notizen über den Akteninhalt zu machen oder bei treuhänderischer Überlassung der Akten (§ 147 Abs. 4 StPO) Abschriften
4 So RG Rspr. St. 4, 351-352; O L G München in Goltd. Arch. Bd.37, 226; LöweRosenberg, Anm. 10 zu § 147 StPO; Schwarz, Anm. 1 A zu § 147 StPO; Erbs, Anm. I zu § 147 StPO; Dalcke, Anm.2 zu § 147 StPO. 5 Vgl. Burchardi-Klempahn, Der Staatsanwalt und sein Arbeitsgebiet, 1941, Bern. 156; EGH 30, 159 = J W 36, 3549. 6 Vgl. BayOhLG St. 3, 4 4 - 4 5 ; EGH 1, 130-131; Lobe und Alsberg, aaO S.2725ff; Löwe-Rosenberg, A n m . 9 zu § 1 4 7 StPO; Schwarz, Anm. I B b zu §147 StPO; Erbs, Anm. I zu § 147 StPO; Kleinknecht-Müller-Reitberger, Anm. 6 zu § 147 StPO. 7 So Lobe und Alsberg, aaO.
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durch seine Kanzlei anfertigen zu lassen8. Daß der Verteidiger seine Kanzleiangestellten mit der Anfertigung von Aktenauszügen beauftragen darf, ist nicht nur eine praktische Notwendigkeit; es ist auch unbedenklich, weil der Verteidiger standesrechtlich für den Betrieb seiner Kanzlei verantwortlich ist und vor allem dafür Sorge tragen muß, daß die Kanzlei nicht Maßnahmen trifft, die er selbst nicht treffen kann'. Der Verteidiger muß daher durch Auswahl vertrauenswürdiger Angestellten, durch entsprechende Belehrungen und durch hinreichende Aufsicht sicherstellen, daß sein Personal keinen Mißbrauch mit der Kenntnis des Akteninhalts treibt und die Integrität der Akten achtet. Diese Pflichten sind die notwendige Folge aus dem in der treuhänderischen Überlassung der Akten liegenden Vertrauensbeweis. Im Mittelpunkt des Interesses steht hier jedoch die Frage, ob der Verteidiger befugt ist, Fotokopien der Akten anzufertigen. Soweit der Verteidiger selbst über die technischen Hilfsmittel hierzu verfügt, ist eine Fotokopierung der Akten aus denselben Gründen und unter denselben Vorsichtsmaßnahmen zulässig, wie sie für die kanzleimäßige Fertigung von Aktenabschriften gelten; jede andere Auslegung wäre unlogisch. Muß der Verteidiger jedoch - wie es regelmäßig der Fall ist - die Fotokopien durch ein Atelier anfertigen lassen, so ergeben sich schwerwiegende Einschränkungen. Der unbestrittene Grundsatz, daß unbeteiligte Dritte kein Akteneinsichtsrecht haben10, die Verschwiegenheitspflicht, die dem Verteidiger im Interesse seines Mandanten obliegt", sowie die Gefahren, die sich hier für die Unversehrtheit der Akten und durch eine etwaige mißbräuchliche Verwertung des Akteninhalts ergeben können, verbieten es dem Verteidiger schlechthin, die zu fotokopierenden Akten dritten Personen zu treuen Händen zu überlassen. Eine Fotokopierung durch fremde Kräfte kann daher nur unter Aufsicht und nur so stattfinden, daß eine Kenntnisnahme vom Inhalt der Akten ausgeschlossen ist. Ist dies nicht möglich, so muß der Verteidiger im Interesse höherer Werte notgedrungen auf die Nutzbarmachung dieses fortschrittlichen technischen Hilfsmittels verzichten.
8 So auch BayObLG St. aaO. mit zahlr. Nachweisen. ' So wörtlich Nr. 62 Abs. I der von der Vereinigung der Rechtsanwaltskammern der brit. Zone herausgegebenen „Richtlinien für die Ausübung des Anwaltsberufs", Ausgabe 1949. 10 Löwe-Rosenberg, Anm. 10 zu § 147 StPO; Kleinknecht-Müller-Reitberger, Anm. 8 zu § 147 StPO; Schwarz, Anm. 1 A zu § 147 StPO. 11 Friedländer, RRAO 3. Aufl. 1930 S. 152 ff; Noack, RRAO 2. Aufl. 1937 S. 115 ff; Nr. 23 der Richtlinien für die Ausübung des Anwaltsberufs, 1949.
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II. Vom Recht des Verteidigers zur Mitteilung des Akteninhalts an den Beschuldigten Unzweifelhaft ist eine zweckgerechte Verteidigung nur möglich, wenn der Verteidiger die Straftat so, wie sie sich aus den von ihm eingesehenen Akten ergibt, mit dem Beschuldigten bespricht. Es ist daher allgemein anerkannt, daß der Verteidiger das Recht und ggf. sogar die Pflicht hat, den Akteninhalt dem Beschuldigten sinngemäß oder auch wörtlich mitzuteilen12. Jedoch haben die standesrechtliche Literatur und die ehrengerichtliche Rechtsprechung dieses Recht stets in gewichtiger Weise begrenzt. Diese Einschränkungen der Mitteilungsbefugnis des Verteidigers sind neuerdings - teils grundsätzlich, teils in Einzelfragen umstritten; sie bedürfen daher einer kritischen Uberprüfung. 1. Die Verfechter eines grundsätzlich uneingeschränkten Mitteilungsrechts verkennen dessen alleinige Aufgabe: die Befugnis des Verteidigers zur Bekanntgabe des Akteninhalts an den Beschuldigten soll lediglich eine sachgemäße Verteidigung gewährleisten. Das Mitteilungsrecht leitet also seinen Sinn und Zweck nur aus den Aufgaben des Verteidigers ab und findet darin zugleich auch seine Grenzen. Es ist mithin keineswegs so, als ob das Recht des Verteidigers zur Bekanntgabe des Akteninhalts begrifflich oder gar - wie behauptet worden ist - vom Rechtsstaat her gesehen einer Einschränkung nicht fähig wäre. Daraus, daß das Mitteilungsrecht nur Ausfluß und Mittel der Verteidigung ist, ergibt sich vielmehr, daß es seinem Wesen nach auch auf die Zwecke der Verteidigung beschränkt ist. Es fragt sich daher nur, welche Einschränkungen sich hieraus ergeben und ob sie heute noch tragbar sind. 2. Zunächst sei der bisher überwiegend vertretene Grundsatz erörtert, daß der Verteidiger dem Beschuldigten nicht mehr [746] mitteilen darf, al? für eine pflichtgemäße Verteidigung dieses Mandanten geeignet und erforderlich ist13. In der neuerlichen Diskussion ist das starke Wort gebraucht worden, es handle sich bei diesem Grundsatz um „nationalsozialistisches Gedankengut". Abgesehen davon, daß der genannte Grundsatz sich bereits in der aus dem Jahre 1883 stammenden Entscheidung E G H Bd. 1 S. 130 findet, sollte hier auch schon die Tatsache zur Vorsicht mahnen, daß die Vereinigung der Rechtsanwaltskammern der brit. Zone, der man sicherlich Mangel an demokratischer und rechts12 Vgl. EGH 1, 130; EGH 29, 214 = J W 36, 264; EGH 30, 159 = J W 36, 3549; Lobe und Alsberg, aaO; Friedländer, S. 185; Noack, S. 128-129; Schwarz, Anm. 1 Β c zu § 147 StPO; Erbs, Anm. I zu § 1 4 7 StPO; Kleinknecht-Müller-Reitberger, Anm.6 zu § 1 4 7 StPO. 13 Vgl. EGH 1, 130; EGH 29, 214 = J W 36, 264; EGH 30, 159 = J W 36, 3549; Noack, S. 129; Kleinknecht-Müller-Reitberger, Anm. 6 zu § 147 StPO.
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staatlicher Gesinnung nicht vorwerfen kann, diesen Grundsatz in den von ihr im Jahre 1949 herausgegebenen „Richtlinien für die Ausübung des Anwaltsberufes" ausdrücklich verankert hat. Dort ist in Nr. 47 gesagt, daß der Strafverteidiger den Inhalt der von ihm nach § 147 StPO eingesehenen Strafakten nur insoweit - wörtlich oder inhaltlich - seinem Auftraggeber mitteilen darf, als dies die gewissenhafte Erfüllung seiner Verteidigerpflicht erfordert! Was im übrigen die gegen diesen Grundsatz vorgebrachten sachlichen Argumente angeht, so verkennen die Kritiker14, daß die Kenntnis aller für die Verteidigung irrelevanten Aktenteile doch für den Beschuldigten völlig nutzlos ist! Solche Bestandteile enthält aber die Mehrzahl der Gerichtsakten; man denke nur an Vorgänge, die ausschließlich andere Beschuldigte oder etwa eine prozessuale Kontroverse zwischen Gericht und einzelnen Prozeßbeteiligten betreffen. Eine Bekanntgabe derartiger Vorgänge liegt nicht mehr im Rahmen der Verteidigung; sie wird deshalb auch durch die Aufgaben und Pflichten des Verteidigers nicht mehr gerechtfertigt und ist daher unstatthaft. Das letzthin in die Debatte geworfene Schlagwort, es gebe im Rechtsstaat keine „Geheimakten", ist eben doch nicht richtig: Aktenteile, die den Beschuldigten und seine Verteidigung nicht berühren, bleiben ihm ohne Nachteil verschlossen. - Hier sei bemerkt, daß der soeben erörterte Grundsatz dem Mitteilungsrecht des Verteidigers nicht nur eine sachliche, sondern u. U. auch eine zeitliche Schranke setzt. Die Bekanntgabebefugnis des Verteidigers kann entfallen, wenn das Strafverfahren beendet ist15. Dann dienen Mitteilungen über den Akteninhalt eben „nicht mehr" der Verteidigung16. Der erörterte Grundsatz hat aber nicht nur eine negative, sondern auch eine positive Seite: der Verteidiger darf umgekehrt alles, was für eine pflichtgemäße Verteidigung geeignet und erforderlich ist, dem Beschuldigten mitteilen. Darunter fallen sämtliche den Beschuldigten entlastenden oder belastenden Aussagen von Mitbeschuldigten und Zeugen, Sachverständigengutachten und polizeiliche Schluß- oder Ermittlungsberichte. Problematisch sind allein die oftmals in den Akten enthaltenen Leumundszeugnisse von Privatpersonen und die bisweilen als „vertraulich" bezeichneten Rufberichte der Polizei über den Beschuldigten. Zwar sind solche Leumundszeugnisse und Rufberichte bei Gefahr eines revisiblen Rechtsverstoßes schlechthin nicht verlesbar17, so daß der 14
Vgl. bes. Lobe und Alsberg, aaO. Vgl. E GH 29, 214 = JW 36, 264; Kleinknecbt-Müller-Reitberger, Anm.6 zu §147 StPO. " Uber zwei wichtige Ausnahmen vgl. Ziffer II 4. 17 Vgl. Löwe-Rosenberg, Anm.2 zu §256 StPO; Schwarz, Anm. 1 Bb zu §256 StPO; Kleinknecbt-Müller-Reitberger, Anm. 4 zu §256 StPO; Erbs, Anm.V zu §256 StPO; Dalcke, Anm. 3 zu §256 StPO. 15
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Verteidiger die Möglichkeit hat, ihre Verwertung zu verhindern. Dennoch wird man die Besorgnis des Verteidigers, ein in den Akten enthaltenes schlechtes Leumundszeugnis möge unbewußt „abfärben", verstehen müssen. Der Verteidiger wird auch das begreifliche Bestreben haben, dem durch Benennung „guter" Leumundszeugen entgegenzuwirken. Wenn nun in den Leumundszeugnissen und polizeilichen Rufberichten konkrete Vorwürfe erhoben sind, die es zu widerlegen gilt, so wird dem Verteidiger vielfach gar nichts anderes übrigbleiben, als dem Beschuldigten vom Vorhandensein des Leumundszeugnisses und seinem Inhalt Kenntnis zu geben. Die vereinzelt geäußerte Ansicht, Leumundszeugnisse und polizeiliche Rufberichte seien jeder Mitteilung entzogen 18 , kann daher jedenfalls in dieser Ausschließlichkeit nicht gebilligt werden. Daran ändert es nichts, wenn der polizeiliche Rufbericht als „vertraulich" bezeichnet ist, denn unseren Prozeßmaximen ist ein vertrauliches Belastungsmaterial unbekannt. Insoweit gibt es in der Tat keine „Geheimakten". O b es indessen nötig ist, den Aussteller des Leumundszeugnisses bekanntzugeben, hängt von der Lage des Falles ab. 3. Ein anderer, wohl auch heute unbestrittener Grundsatz geht dahin, daß der Verteidiger von seiner Aktenkenntnis keinen den Zwecken des betreffenden Strafverfahrens und der Rechtspflege zuwiderlaufenden Gebrauch machen darf". D e r Verteidiger darf daher keine den Zweck der Untersuchung gefährdenden Mitteilungen aus den Akten machen. So darf er z . B . dem Beschuldigten nicht bekanntgeben, daß noch bestimmte weitere Ermittlungen, insbesondere Zeugenvernehmungen über gewisse belastende Momente, eingeleitet seien, da hierdurch ein Anreiz zur Verdunkelung des Sachverhalts, insbesondere zur Beeinflussung jener Zeugen, gegeben würde. E r darf auch ζ. B . seinem Mandanten nicht mitteilen, daß nach ihm oder anderen Beschuldigten gefahndet werde, weil sonst die Gefahr einer Durchkreuzung dieser Maßnahmen besteht. Die Unzulässigkeit solcher und ähnlicher Mitteilungen ergibt sich nicht nur daraus, daß sie aus dem Rahmen der Verteidigung fallen, sondern vor allem auch aus der Erwägung, daß sie den Verteidiger in den Verdacht einer Begünstigung zu bringen vermögen 20 . Der Anwalt hat aber die anerkannte Standespflicht, auch den bloßen Anschein strafbarer oder sonst unstatthafter Handlungen zu vermeiden, und darf sich nicht leichtfertig einem derartigen Verdacht aussetzen 21 . - Den Zwecken der Rechtspflege läuft es auch zuwider, wenn der Verteidiger den Erstatter einer „vertraulichen Anzeige" preisgibt. Es ist allgemein bekannt, daß " Vgl. EGH 29, 214 = JW 36, 264; Noack, S. 129. " Vgl. Friedländer, S. 185; EGH 29, 214 = JW 36, 264. 20 Vgl. Erbs, Anm. I zu § 147 StPO. 21 Vgl. Friedländer, S. 192.
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oft schwerwiegende Tatbestände nur durch die Hilfe ungenannter Personen aufgerollt werden, die ein berechtigtes Interesse daran haben können, nicht als Veranlasser des Verfahrens bekannt zu werden. Auf ihre Hilfe ist die Strafjustiz angewiesen. Dem Beschuldigten entsteht aber kein Nachteil dadurch, daß er den Anzeigenden nicht kennt, da er ja das gesamte auf die Anzeige hin ermittelte Beweismaterial erfährt, gegen das allein er sich zu verteidigen hat. Eine selbstverständliche Ausnahme besteht jedoch dann, wenn sich die „vertrauliche" Anzeige als vorsätzlich oder leichtfertig falsch herausstellt. Falsche Anschuldigungen dienen nicht „den Zwecken der Rechtspflege"; sie hat der Staatsanwalt von Amts wegen zu verfolgen. Um so weniger kann es dem Verteidiger verwehrt sein, seinem Mandanten den „vertraulichen Denunzianten" bekanntzugeben. Das Recht des Anzeigers auf Anonymität endet dort, wo das Verbot des § 164 StGB verletzt ist. 4. Schließlich ist der Grundsatz aufgestellt worden, daß der Verteidiger seine Aktenkenntnis nicht zu außerhalb der Verteidigung liegenden Zwecken mißbrauchen dürfe22. Dies gilt sicherlich, soweit Mitteilungen an unbeteiligte Dritte oder ähnliche Mißbräuche in Rede stehen23, bedarf aber einer klarstellenden Einschränkung. Es ist kein „Mißbrauch zu verteidigungsfremden Zwecken", wenn der Verteidiger seine Aktenkenntnis dazu gebraucht, gegen einen Belastungszeugen wegen falscher Anschuldigung oder falscher Aussage vor Gericht pp. vorzugehen. Ein solches Vorgehen kann sehr wohl im Rahmen pflichtgemäßer [747] Verteidigung liegen; der Begriff der Verteidigung ist nicht auf passive Abwehr beschränkt, sondern umfaßt je nach der Sachlage auch den aktiven Angriff (vgl. z . B . den Fall des §364 StPO). - Weiter ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß es dem Verteidiger erlaubt sein muß, seine Kenntnis vom Akteninhalt in einem mit dem Strafverfahren sachlich zusammenhängenden, für denselben Klienten geführten Zivilprozeß zu verwerten24. Hier handelt es sich zwar um einen „verteidigungsfremden Zweck", aber es liegt kein standesrechtlich zu mißbilligender „Mißbrauch" vor. Jede andere Auslegung ginge an der Tatsache vorbei, daß z . B . in ungezählten Unfallsachen der Verteidiger des Beschuldigten im Strafverfahren auch als dessen Prozeßbevollmächtigter im Schadensersatzprozeß auftritt, ohne daß dies jemals für unstatthaft gehalten worden wäre - von den praktischen Vorzügen dieser Doppeltätigkeit ganz zu schweigen! 22 Vgl. EGH 4, 216; EGH 15, 140; EGH 16, 385 ff; Lobe in J W 26, 2725 ff; Noack, 5. 128, 129. 23 EGH 1, 131; EGH 4, 216; EGH 15, 140; EGH 16, 385 ff; Lobe in J W 26, 2725 ff; Schwarz, Anm. 1 Β c zu § 147 StPO. 24 So Friedländer, S. 185.
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Wer die vorstehend erörterten Schranken des Mitteilungsrechts des Verteidigers unbefangen prüft, wird zugeben müssen, daß sich in ihrem Rahmen eine ungehinderte Verteidigung entfalten läßt. Dann ist aber das Verlangen nach einer uneingeschränkten Bekanntgabebefugnis unbegründet. Was nötig ist, kann ohnehin geschehen. III. Über die Aushändigung von Aktenauszügen und Originalakten an den Beschuldigten Die Frage, ob der Verteidiger einen von ihm gefertigten Aktenauszug dem Beschuldigten zur Einsicht in der Kanzlei oder gar zum häuslichen Studium und zur Verteidigung in der Hauptverhandlung überlassen darf, wird teils bejaht25 und teils verneint26. Die Logik erfordert es jedoch, dies in gleichem Umfange zuzulassen, wie die mündliche Bekanntgabe des Akteninhalts. Demnach darf der Verteidiger dem Beschuldigten Notizen, Abschriften oder Fotokopien aus den Akten nur insoweit und nur so lange zugänglich machen, als dies zur Verteidigung erforderlich ist; er darf nichts ausfolgern, was die Untersuchung gefährdet oder den Zwecken der Strafrechtspflege zuwiderläuft; er darf schließlich die genannten Unterlagen nicht zu verteidigungsfremden Zwecken zur Verfügung stellen (vgl. im einzelnen Ziff. II). Verstöße gegen diese Grundsätze stellen eine Umgehung der für die mündliche Mitteilung des Akteninhalts geltenden standesrechtlichen Schranken dar. Dagegen ist es prozessual unzulässig und daher standeswidrig, wenn der Verteidiger die ihm zu treuen Händen überlassenen Originalakten dem Beschuldigten zur Einsichtnahme zugänglich macht oder sie ihm gar zum häuslichen Studium überläßt27. Dieser Grundsatz, an dem trotz aller neuerdings gegen ihn erhobenen Angriffe uneingeschränkt festgehalten werden muß, ergibt sich zwangsläufig aus den (unter Ziff. I erörterten) Gründen, die den Gesetzgeber veranlaßt haben, lediglich dem Verteidiger ein Akteneinsichtsrecht zu gewähren: Bei Weitergabe der Akten an den Beschuldigten bestände zunächst die Gefahr einer mißbräuchlichen Verwertung des Akteninhalts, die gerade durch die (unter Ziff. II dargestellten) standesrechtlichen Bindungen des allein zur Akteneinsicht berechtigten Verteidigers ausgeschaltet werden soll. Auch würde dann wiederum Gefahr für die Unversehrtheit der Akten drohen. Dem kann nicht entgegengehalten werden, daß der Verteidiger durch
Lobe in JW 26, 2725 ff; Löwe-Rosenberg, Anm. 9 zu § 147 StPO. Dalcke, Anm. 2 zu § 147 StPO. 27 So RGSt. 72, 275; EGH 30, 159 = JW 36, 3549ff; Kleinknecht-Müller-Reitberger, Anm. 6 zu § 147 StPO. Vgl. auch EGH 27, 141. 25
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geeignete Maßnahmen (z.B. durch Überwachung der Akteneinsicht, durch Überlassung nur an vertrauenswürdige Klienten usw.) hiergegen Vorsorge treffen könne. Denn abgesehen davon, daß ein Verteidiger niemals mit voller Sicherheit Gewähr dafür leisten kann, daß sein Mandant sich einer Beseitigung oder Veränderung der Akten enthalten werde28, hätte eine solche Überwachungsmöglichkeit ja auch bei Gericht bestanden, ohne daß der Gesetzgeber dies zum Anlaß genommen hat, dem Beschuldigten ein Akteneinsichtsrecht zu gewähren. Entscheidend aber ist, daß die treuhänderische Überlassung der Akten gemäß § 147 Abs. 4 StPO dem Verteidiger keine weiteren Rechte als die Einsichtnahme an Gerichtsstelle gemäß § 147 Abs. 1 StPO geben will: sie gestattet ihm nur die eigene Einsicht unter erleichterten Bedingungen29. Keinesfalls geht also damit die (oben unter Ziff. I erörterte) Ermessensbefugnis des Richters oder Staatsanwalts, in besonderen Fällen auch dem Beschuldigten Akteneinsicht zu gewähren, auf den Verteidiger über30. Jede Verabfolgung der dem Verteidiger zu treuen Händen überlassenen Gerichtsakten an den Beschuldigten stellt daher eine Umgehung der gesetzlichen Regelung des Akteneinsichtsrechts dar.
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So mit Recht EGH 30, 159 = JW 36, 3549 ff. So richtig EGH 30, 159 = JW 36, 3549. So mit Recht EGH 30, 159 = JW 36, 3549; siehe auch EGH 27, 141.
Der „genügende Anlaß" zur Erhebung der öffentlichen Klage* I. Vorbemerkung + Nach §152 II StPO ist der Staatsanwalt verpflichtet, wegen aller gerichtlich strafbaren und verfolgbaren Handlungen einzuschreiten, * Aus: Goltdammer's Archiv für Strafrecht 1957, S. 193-218. + Verzeichnis der in den folgenden Fußnoten abgekürzt zititierten Schriften: Beling: Deutsches Reichsstrafprozeßrecht, 1928. Bennecke/Beling: Lehrbuch des deutschen Reichs-Strafprozeßrechts, 1900. Binding: Grundriß des deutschen Strafprozeßrechts, 5. Aufl. 1904. Burchardi/Klempahn: Der Staatsanwalt und sein Arbeitsgebiet, 2. Aufl. 1956 (zit.: Burchardi, Rdz. = Randziffer). Dallinger/Lackner: Jugendgerichtsgesetz, Komm., 1955. Ditzen: Dreierlei Beweis im Strafverfahren, 1926. Erbs: Handkommentar zur StPO, 1950. Gerland: Der deutsche Strafprozeß, 1927. Graf zu Dohna: Das Strafprozeßrecht, 2. Aufl. 1925. Hahn: Die gesamten Materialien zur StPO und zum Einführungsgesetz zu derselben, I.Abt. 1880, II.Abt. 1881. Henkel: Strafverfahrensrecht, Lehrbuch 1953. Kern: Strafverfahrensrecht, Studienbuch, 4. Aufl. 1956. Kleinknecht/Müller/Reitberger: Kommentar zur StPO und zum GVG, 3. Aufl. 1954 (zit.: KMR). Krug/Schäfer/Stolzenburg: Strafrechtliche Verwaltungsvorschriften, 3.Aufl. 1943 (zit.: Krug). Löwe-Rosenberg: StPO und GVG, Kommentar, 20. Aufl. 1953ff (zit.: Löwe. - Soweit die 19. Aufl. 1934 gemeint ist, ist dies besonders vermerkt). Lucas/Dürr: Anleitung zur strafrechtlichen Praxis, l.Teil: Das formelle Strafrecht, 5. Aufl. 1931. Peters: Strafprozeß, Lehrbuch, 1952. Potrykus: Kommentar zum Jugendgerichtsgesetz, 4. Aufl. 1955. Sauer: Grundlagen des Prozeßrechts, 2. Aufl. 1929. Sauer: Allgemeine Prozeßrechtslehre, 1951. Schmidt, Eb.: Lehrkommentar zur StPO und zum GVG, Teil I 1952, Teil II 1953ff. Schwarz: StPO, GVG und Nebengesetze, Komm., 19. Aufl. 1956. Stock: Strafprozeßrecht, Grundriß, 1952. von Hippel: Der deutsche Strafprozeß, 1941. von Kries: Lehrbuch des deutschen Strafprozeßrechts, 1892. von Marck/Kloß/Schwedersky: Die Staatsanwaltschaft bei den Land- und Amtsgerichten in Preußen, 3. Aufl. 1913 (zit.: von Marek). Aus Raumgründen konnte nur vereinzelte ältere Literatur angeführt werden. In den Fußnoten zitierte §§ ohne Gesetzeszusatz sind solche der StPO.
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sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen (Legalitätsprinzip) und soweit nicht gesetzlich ein anderes bestimmt ist (= sog. Opportunitätsfälle). Diese Vorschrift enthält in dreifacher Hinsicht einen Oberbegriff: Das in § 152 II StPO erwähnte „Einschreiten" zerfällt gemäß §§ 160 I, 170 I StPO in die Vornahme von Ermittlungen und in die Erhebung der öffentlichen Klage1. Demgemäß beinhaltet die in § 152 II StPO statuierte „Pflicht zum Einschreiten" nicht nur einen Ermittlungszwang, sondern auch einen Anklagezwang, so daß das Legalitätsprinzip für die gesamte Verfolgungstätigkeit des Staatsanwalts gilt2. Da das Gesetz zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens den „Verdacht" einer strafbaren Handlung genügen läßt (§160 I StPO), für die Anklageerhebung aber voraussetzt, daß „die Ermittlungen [194] genügenden Anlaß dazu bieten" (§ 170 I StPO), haben auch die „zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte" des § 152 II StPO - wie im einzelnen noch zu erörtern ist - bei den verschiedenen Stadien und Formen des staatsanwaltschaftlichen „Einschreitens" eine ganz unterschiedliche Bedeutung 3 . Daß für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, dessen Aufgabe gerade in der Erforschung des Sachverhalts und oft auch in der Feststellung des zunächst noch unbekannten Beschuldigten besteht, ein sehr geringes Maß von tatsächlichen Anhaltspunkten zureichen muß, ist geradezu selbstverständlich. Es genügen daher hier auch dürftige und noch ungeprüfte Anzeichen, ζ. Β eine bloße - nicht von vornherein haltlose, wenn auch unvollständige - Anzeige 4 . Dieser ermittlungsmäßig ungesicherten Grundlage entsprechend versteht man unter dem für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens notwendigen und ausreichenden „Verdacht" i. S. des § 160 I StPO auch nur die - durch solche Verdachtsanzeichen ausgewiesene, also nicht schon die rein theoretische 5 - bloße „Möglichkeit", daß der Tatbestand irgendeiner gerichtlich strafbaren und verfolgbaren Handlung - wenn auch von einer unbekannten Person - verwirklicht worden ist6, so daß es die Einleitung eines ErmittlungsTreffend zur Systematik des Gesetzes: Oetker in GS 99, 244; Niese in SJZ 1950, 891. So schon die Motive bei Hahn, I, 710; heute ganz h. M. 3 Ebenso Oetker in GS 99, 244. 4 Treffend dazu: KMR, Anm. 3 b zu § 152 u. Anm. 2 zu § 160. 5 Insoweit zutreffend: Hellwig in GS 88, 418. 6 Treffend dazu: Eb. Schmidt, Erl. 10 zu § 152; ferner: Nagler in GS 111, 361; Peters, 421, 422; aA. zu Unrecht: Hellwig in GS 88, 4 1 7 f . - Wie in tatsächlicher Hinsicht die „Möglichkeit" eines strafbaren Geschehens genügt, so reicht es in rechtlicher Hinsicht aus, daß die für möglich erachtete Begebenheit unter irgendeinem strafrechtlichen Gesichtspunkt (evtl. alternativ einem von mehreren) relevant sein kann (vgl. Sauer, Grundlagen, 218 f; ferner: Eb. Schmidt, Erl. 10 zu §152, der sich mit „rechtlichen Anhaltspunkten" begnügt). Ebenso darf die Verfolgbarkeit der mutmaßlichen Straftat durchaus noch fraglich sein, jedoch sind dann die Ermittlungen zunächst auf die Klärung möglicher Verfahrenshindernisse zu beschränken (KMR, Anm. 2 b zu §160). - Daß sich der „Ver1
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Verfahrens nicht hindert, wenn die Zweifel am Vorliegen einer verfolgbaren Straftat noch überwiegen7. Kraft des Legalitätsprinzips und in dessen Grenzen ist der Staatsanwalt sogar schon unter solchen - recht geringen - Voraussetzungen zur Betreibung von Ermittlungen verpflichtet, es sei denn, daß von vornherein eine Möglichkeit zur Aufklärung nicht besteht8. Während somit der Begriff des „Verdachts" i.S. des §160 I StPO einen generell bestimmbaren (Mindest-)Inhalt hat, differenziert sich der Begriff des „genügenden Anlasses" [195] zur Anklageerhebung i.S. des §1701 StPO (aus noch zu erörternden Gründen) je nach der in Rede stehenden Anklageform'. Es ist daher nötig, den „genügenden Anlaß" für jede Anklageform gesondert zu untersuchen. Dabei soll zunächst die tatsächliche und sodann die rechtliche Seite dieses Begriffs erörtert werden10. II. Der zur (unmittelbaren) Einreichung einer Anklageschrift genügende tatsächliche Anlaß Wenn der Staatsanwalt die öffentliche Klage durch (unmittelbare) Einreichung einer Anklageschrift erhebt (§170 I StPO), so verfolgt er mit dieser Form der Anklageerhebung gleichzeitig und uno actu ein doppeltes prozessuales Ziel: er begehrt einmal, das beschließende
dacht" noch nicht gegen eine bestimmte Person zu richten braucht, folgt daraus, daß die Feststellung des Beschuldigten ein Ziel, nicht aber eine Voraussetzung des Ermittlungsverfahrens ist, so daß es auch „gegen Unbekannt" eingeleitet werden kann und muß. - Schon hieraus ergibt sich, daß die Voraussehbarkeit eines positiven Ermittlungsergebnisses entgegen einer verbreiteten Ansicht (Oetker in GS 99, 242-244: gewisses Maß von Uberführungsaussicht; Sauer, Grundlagen, 101 u. passim: Voraussehbarkeit einer Anklage; KMR, Anm. 3 b zu § 152: geringe Wahrscheinlichkeit der Erzielung hinreichenden Verdachts) weder zum Wesen des „Tatverdachts" i. S. des § 160 I gehört noch sonst Voraussetzung für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ist. Vgl. dazu weiter das in den Fußnoten 7 und 8 Gesagte. 7 Vgl. Sauer, Grundlagen, 81 u. passim; Nagler in GS 111, 361. - Daß auch (selbst überwiegende) Zweifel an der „Beweisbarkeit" der mutmaßlichen Straftat die Einleitung von Ermittlungen nicht hindern, folgt aus dem in Fußnote 6 a. E. Gesagten. 8 Ähnlich: Eb. Schmidt, Erl. 9 zu § 160. - Einen mangels jedweder Beweismittel unmöglichen sowie einen mangels tauglicher Beweismittel von vornherein erkennbar gänzlich aussichtslosen und daher sinnlosen Versuch einer Aufklärung gebietet das Legalitätsprinzip auch bei Vorliegen von „Tatverdacht" nicht, zumal es dann wohl auch an den für ein Einschreiten „zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten" fehlen wird. ' Oetker in GS 99, 244; Gerland, 308 f; Graf zu Dohna, 133; Eb. Schmidt, Erl. 18 ff zu §170; Löwe, Anm. 6 zu § 170; KMR, Anm. 3 a zu § 160; Peters, 135-136; von Marek, 329. 10 Diese Trennung der Tatsachenfrage von der Rechtsfrage ist nicht nur rechtstheoretisch möglich (Sauer, Grundlagen, 63), sondern wegen der Unterschiede in der Betrachtungsweise (vgl. einerseits Abschnitte II und III, anderseits Abschnitt IV) sogar nötig.
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Gericht möge das Hauptverfahren eröffnen (§199 II 1 StPO), und erstrebt weiter, das erkennende Gericht möge die in der Anklageschrift bezeichnete Tat zum Gegenstand seiner Untersuchung (Hauptverhandlung) und Entscheidung (Urteilsfindung) machen (§§155, 264 StPO)11. Da der zunächst erstrebte Eröffnungsbeschluß für das weiter erstrebte Hauptverfahren die Bedeutung einer unverzichtbaren Prozeßvoraussetzung hat12, verfehlt eine Anklageerhebung durch Einreichung einer Anklageschrift ihren Sinn, wenn sie nicht einmal einen Eröffnungsbeschluß herbeizuführen vermag13. Die ganz herrschende Lehre identifiziert daher im Falle der unmittelbaren Einreichung einer Anklageschrift den „genügenden Anlaß" zur Anklageerhebung (§170 I StPO) in tatsächlicher Hinsicht zu Recht mit dem für den Erlaß eines Eröffnungsbeschlusses notwendigen und genügenden „hinreichenden Verdacht" einer strafbaren (und verfolgbaren) Handlung (§ 203 StPO)14. Der Begriff des „hinreichenden Verdachts" i. S. des §203 StPO hat nun seinerseits einen bestimmten (Mindest-)Inhalt: Zunächst folgt aus dem Gesetzeswortlaut ( nach den Ergebnissen des vorbereitenden Verfahrens..."), daß der „hinreichende Verdacht" auf einer gesicherten Grundlage beruhen muß; es genügen also nicht mehr - wie beim eingangs erörterten „Verdacht" des § 160 I StPO - ungeprüfte unsichere Anzeichen, sondern es müssen erwiesene Belastungsmomente, „prozeßgegenständlich" gewordene Tatsachen und Beweise [196] vorliegen15. Da der so begründete Verdacht „hinreichend" für eine Eröffnung des Hauptverfahrens sein muß, ist es erforderlich, bei der Bestimmung des Verdachtsmaßes den prozessualen Zweck der Entscheidung über Eröffnung oder Nichteröffnung des Hauptverfahrens zu berücksichtigen: Das
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Näheres dazu bei: Eb. Schmidt, Erl. 5-7, 9 zu §170. RGSt. 24, 65; 41, 155; 67, 59; 68, 107; RG in JW 1928, 2262ff. 13 Da das petitum, Eröffnungsbeschluß und Urteil auszulösen, für jede mittels Einreichung einer Anklageschrift erfolgende Klageerhebung wesenhaft ist, wäre es eine Pervertierung der öffentlichen Klage, wenn man sie nur erheben wollte, um - etwa aus „taktischen" Gründen - über die an sich gebotene Einstellung des Verfahrens durch einen die Eröffnung des Hauptverfahrens ablehnenden Beschluß des Gerichts entscheiden zu lassen. 14 Bennecke/Beling, 474, 482, 491; Gerland, 308; Beling, 356 Fußnote 4; Kern, 142-143; Peters, 136, 424; Henkel 139, 358f; Sauer, Grundlagen, 83, 658; ders., Prozeßrechtslehre, 149 ff; Hellwig in GS 88, 419 f; Heimansohn in Würzb.Abh. 1933, Heft 25„ S.23; Eb. Schmidt, Erl. 18-19 zu § 170; Löwe, Anm. 6 zu § 170; KMR, Anm. 3 a zu § 160; von Marek, 329. - Vgl. auch die zutreffende Formulierung in Nr. 88 I 1 RiStV 1953. 15 Eb. Schmidt, Erl. 19 zu § 170; Beling, 356; Oetker in GS 99, 256; Sauer, Grundlagen, 101; ders., Prozeßrechtslehre, 154. - Auf die Anstellung förmlicher Ermittlungen kommt es dabei nicht an; daher kann eine glaubhafte Selbstbezichtigung durchaus ein zur Anklageerhebung hinreichendes prozeßgegenständliches Belastungsmoment darstellen; vgl. Burchardi, Rdz. 57. 12
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dem Hauptverfahren vorgeschaltete Zwischenverfahren funktioniert auch als „erste Verteidigungslinie" gegen grundlose Anklagen 16 ; die hier erfolgende „gerichtliche Anklageprüfung" 17 soll eine „negative Kontrollfunktion" ausüben und alle „verhandlungsunwürdigen" Anklagen ausmerzen 18 . Daher ist nur ein die Verhandlungswürdigkeit der Strafsache begründender Verdacht zur Eröffnung des Hauptverfahrens hinreichend. Eine solche Verhandlungswürdigkeit und demnach auch ein zur Eröffnung des Hauptverfahrens hinreichender Verdacht i. S. des § 203 StPO liegen aber nach ganz herrschender Meinung nur vor, wenn nach dem Inhalt der Akten 1 ' in tatsächlicher Hinsicht (mindestens) die „Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung" besteht20, da es nur bei solcher Verurteilungsaussicht gerechtfertigt ist, den Beschuldigten den mit einer Hauptverhandlung verbundenen Nachteilen zu unterwerfen 21 . - Daraus folgt ein Mehrfaches: Die eingangs erörterte, für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens in tatsächlicher Hinsicht genügende bloße „Möglichkeit" eines strafbaren Geschehens muß sich bis zur „Wahrscheinlichkeit" der strafbaren Begebenheit gesteigert haben; davon kann erst gesprochen werden, wenn die „positiven Gründe" überwiegen22 und somit - wie es für ein Wahrscheinlichkeitsurteil wesenhaft ist - die Zweifel an der Begehung einer Straftat nicht mehr überwiegen23, wenn Nagler in GS 111, 349 mit Nachw. Vgl. dazu statt vieler: Biechtler in N J W 1950, 530 ff; O L G Kiel in Alsberg Entsch. II Nr. 30. 1S Beling, 361; Henkel, 362, 364; Eb. Schmidt, I, S.82, Fußnote 152 a. " Daß nicht der möglicherweise unvollständige oder unzutreffende Inhalt der Anklageschrift, sondern das aktenkundige Ergebnis des Ermittlungsverfahrens entscheidet, ergibt sich aus § 2 0 3 StPO; vgl. dazu statt vieler: Löwe, Anm. 5 zu §203. 20 K M R , Anm. 2 a zu § 2 0 3 ; Schwarz, Anm. 1 A zu § 2 0 3 ; Erbs, Anm. I V zu §203. Sachlich nicht weniger als die im Text gemeinte einfache (nicht gesteigerte) Wahrscheinlichkeit (und sicherlich nicht die bloße „Möglichkeit") einer Verurteilung dürften Formulierungen wie „einige Wahrscheinlichkeit" bzw. „eine gewisse Wahrscheinlichkeit der Verurteilung" sowie die „in etwa wahrscheinliche" Verurteilung bedeuten; so nämlich die Motive bei Hahn, I, 171; O L G Rostock in H R R 1932 Nr. 1809; Bennecke/Beling, 491; Graf zu Dohna, 146; Jaffa in ZStrW 25, 427-428; Löwe, A n m . 4 zu § 2 0 3 ; ferner: Kern, 143 u. 151; Henkel, 358-359; Stock, 121. - Daß diese „Wahrscheinlichkeit der Verurteilung" sich (wie im Text) nur auf die Tat- und Beweisfrage, nicht auch auf die Rechtslage (über diese Abschnitt IV) bezieht, wird besonders klar betont von: Peters, 136, 361; Nagler in GS 111, 361 ff; Sauer, Grundlagen, 82, 91, 224. 16
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21 Eb. Schmidt, Vorb. 4 vor §158. - Wenn bisweilen definiert wird, die Verurteilung müsse so ernsthaft möglich bzw. wahrscheinlich sein, daß es einer Hauptverhandlung und einer Entscheidung des erkennenden Gerichts „bedürfe" (so von Hippel, 244, 482; Eb. Schmidt, Erl. 10 zu §203), so hilft dies nicht weiter: Die (übrigens recht dehnbare) Notwendigkeit des Hauptverfahrens ist nicht der Maßstab für den hinreichenden Verdacht, sondern die Folge seines aus der Beweislage resultierenden Stärkegrades. 22 23
Nagler in GS 111, 362. Sauer, Grundlagen, 81 ff; vgl. zum Ganzen auch: Wimmer in D R Z 1950, 390ff.
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sie auch nicht - wie bei der vollen richterlichen Überzeugung anläßlich der Urteilsfindung - völlig überwunden [197] zu sein brauchen24. Diese Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer Straftat macht indessen allein noch nicht die hier in Rede stehende „Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung" aus; vielmehr muß zu jener retrospektiven Beurteilung der Sachlage, der Rekonstruktion des Lebensvorgangs - wiederum im Unterschied vom „Verdacht" des § 160 I StPO25 - noch eine prozessuale Prognose, nämlich eine Vorausberechnung des mutmaßlichen Ausgangs einer Hauptverhandlung hinzutreten26. Da eine Verurteilung nur erfolgen darf, wenn die Begehung der Straftat zur Gewißheit des Gerichts feststeht, ist es Gegenstand dieser Prognose, ob das vorhandene Beweismaterial nach forensischer Erfahrung ausreichen wird, dem erkennenden Gericht jene volle Uberzeugung zu verschaffen27. Weil jedoch nur eine „Wahrscheinlichkeit" künftiger Verurteilung abzuschätzen ist, genügt es, wenn die prozessuale Prognose zu dem Ergebnis führt, daß die Erbringung des vollen Beweises, die Überführung des Beschuldigten wegen der für wahrscheinlich erachteten Straftat, eher als ein „non liquet" erwartet werden kann28, so daß auch hier die wohl immer möglichen Zweifel an der Ausschließbarkeit eines Freispruchs nicht völlig ausgeräumt zu sein brauchen29. Fehlt es an solcher „Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung", dann ist die Eröffnung des Hauptverfahrens gemäß § 204 StPO aus tatsächlichen Gründen abzulehnen30. Daß endlich eine Eröffnung des Hauptverfahrens - wiederum im Gegensatz zur Einleitung des Ermittlungsverfahrens - nicht „gegen Unbekannt", sondern nur gegen einen bestimmten Angeschuldigten31 möglich ist, folgt
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Vgl. statt vieler: Graf zu Dohna, 148. Vgl. Fußnoten 6 a. E., 7, 8. 26 Treffend dazu: Nagler in GS 111, 361-362. - Dieser Doppelspurigkeit der Betrachtungsweise trägt die Praxis durchaus Rechnung; so wenn die Gerichte die Eröffnung des Hauptverfahrens ablehnen oder die Außerverfolgungssetzung beschließen mit der häufig vorkommenden Begründung, es bestehe zwar ein erheblicher Verdacht, daß der Angeschuldigte sich strafbar gemacht habe, eine Verurteilung könne aber aufgrund des vorhandenen Beweismaterials nicht mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden (vgl. BGH-Beschluß vom 21.9.1956 - 2 StE 17/56); oder wenn die staatsanwaltschaftlichen Einstellungsverfügungen teils mit mangelndem Tatverdacht und teils mit mangelndem Beweise für bestehenden Tatverdacht begründet werden. 27 Ähnlich: Nagler in GS 111, 361 f; auch Burchardi, Rdz. 173. 28 Vgl. dazu bes.: Beling, 356 Fußnote 4, 362; Nagler in GS 111, 362; Ditzen, 67; Oetker in GS 99, 256; Sauer, Grundlagen, 101 ff u. passim; ders., Prozeßrechtslehre, 154. 29 Heimansohn in Würzb. Abh. 1933, Heft 25, S. 35. 30 BGH-Beschluß vom 21.9.1956 - 2 StE 17/56 - . 31 Daß dazu eine Bezeichnung des Angeschuldigten mit seinem Namen nicht unbedingt erforderlich ist, sondern daß notfalls auch eine anderweitige Individualisierung des nur der Person, nicht aber dem Namen nach bekannten Beschuldigten genügt, ist allg. Ansicht; 25
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aus dem Begriff der Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung ebenso wie aus dem Wortlaut des § 2 0 3 StPO. Da im Falle der (unmittelbaren) Einreichung einer Anklageschrift wie oben erörtert - der „genügende Anlaß" zur Anklageerhebung i. S. des § 170 I StPO gleichbedeutend mit dem „hinreichenden Tatverdacht" des § 203 StPO ist, setzt auch die Anklageerhebung voraus, daß nach den aktenkundigen Ergebnissen des Ermittlungsverfahrens in tatsächlicher Hinsicht (mindestens) dieselbe „Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung" des Beschuldigten besteht32. Der Staatsanwalt [198] hat daher - ebenso wie das eröffnende Gericht - zu prüfen, ob die Wahrscheinlichkeit besteht, daß der Beschuldigte die ihm zur Last gelegte Straftat begangen habe und sich dies in der Hauptverhandlung auch beweisen lassen werde 33 . Ergibt sich dabei die Wahrscheinlichkeit von Tatbegehung und Uberführung, so (darf und) muß der Staatsanwalt gemäß dem eingangs erwähnten Anklagezwang die Anklage erheben34, sofern nicht einer der Opportunitätsfälle vorliegt 35 . Ergibt sich hingegen eine solche Wahrscheinlichkeit der Verurteilung nicht, so ist - wenn weitere Ermittlungen ausscheiden und daher auch ein Antrag auf gerichtliche Voruntersuchung nicht in Betracht kommt 36 - die Einstellung des Verfahrens mangels Tatverdachts bzw. mangels Beweises geboten ( § 1 7 0 II 1 StPO) 37 38. vgl. von Kries, 501; Bennecke/Beling, 476 Fußnote 6; Gerland, 329 mit Fußnote 269; Graf zu Dohna, 144; Eb. Schmidt, Erl. 5 zu § 2 0 0 ; K M R , A n m . 3 a zu §200. 32 Vgl. die Nachw. in Fußnote 14; ferner: von Kries, 483; von Hippel, 340. Zutreffend hieß es in Nr. 156 II 2 der früheren RiStV (AV des R J M vom 13.4.1935 abgedruckt bei Krug, 120), der Staatsanwalt solle vor jeder Anklageerhebung mit Sorgfalt prüfen, ob eine Verurteilung zu erwarten sei! Ahnlich schon die bei von Marek, 329-330, mitgeteilten älteren RVen des preuß. J M . Leider ist diese instruktioneile Klarstellung in Nr. 88 RiStV 1953 nicht mehr enthalten. Vgl. dazu Binding, 190-191; Gerland, 304; Burchardi, Rdz.173. Von Hippel, 340, 482; Gerland, 308; Beling, 356; Kern, 143; Peters, 135; K M R , Anm. 3 c zu § 1 5 2 ; vgl. auch Nr. 88 I 1 RiStV; a.A. zu Unrecht: Burchardi, Rdz.173. 35 In den Opportunitätsfällen muß zur (gleichermaßen notwendigen) Wahrscheinlichkeit der Verurteilung die Bejahung der Opportunität durch den Staatsanwalt hinzukommen, um eine Anklageerhebung auszulösen; Gerland, 308. 36 Uber dessen geringere Erfordernisse s. später Abschnitt III 1. 37 Das gilt auch für die Opportunitätsfälle: Trifft bei ihnen mangelnde Aussicht auf Verurteilung mit mangelndem öffentlichen Interesse pp. zusammen, so ist das Verfahren ebenfalls aus § 170, nicht aber aus § 153 ff einzustellen: Niese in SJZ 1950, 892; Burchardi, Rdz. 158; Kohlhaas in G A 1956, 242; einschränkend: Peters, 139. 38 Daß die Einstellung des Verfahrens nicht alsbald zu erfolgen braucht, wenn die Erwartung einer Verstärkung der unsicheren Verdachtsmomente ein angemessenes Abwarten mit der Abschlußverfügung rechtfertigt (vgl. dazu: Lucas/Dürr, 50; Löwe, Anm. 9 zu § 152; insoweit unbefriedigend: B G H in J Z 1956, 374f), sollte schon deshalb nicht streitig sein, weil ja die Ermittlungen auch nach Einstellung des Verfahrens jederzeit wieder aufgenommen werden können. 33 34
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Aus diesem Begriff des „hinreichenden Tatverdachts" und des „genügenden Anlasses" zur Anklageerhebung folgt ein Mehrfaches: a) Einen nach Stufen oder Graden der „Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung" abgegrenzten Spielraum, innerhalb dessen der Staatsanwalt die Wahl zwischen Anklageerhebung oder Einstellung des Verfahrens hätte, gibt es entgegen vereinzelten derartigen Lehrmeinungen3' nicht. Das folgt zunächst daraus, daß - wie oben erörtert - das Zwischenverfahren alle Anklagen, die die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung des Beschuldigten nicht für sich haben, unterbindet und daß das Legalitätsprinzip diejenigen Anklagen, denen jene Wahrscheinlichkeit zukommt, erzwingt, so daß es wegen der begrifflich lückenlosen Aufeinanderfolge von Anklageverbot und Anklagegebot im Gradmaß der Verurteilungsaussichten an einem abgrenzbaren Zwischenraum zur Ausübung eines staatsanwaltschaftlichen Wahlrechts fehlt40. Zudem würde die Anerkennung eines solchen - etwa zwischen einfacher und hoher Wahrscheinlichkeit der Verurteilung [199] gelegenen41 - Spielraums für eine Wahl zwischen Anklageerhebung und Einstellung des Verfahrens für diesen Bereich nichts anderes als eine Verdrängung des Legalitätsprinzips durch das sog. Opportunitätsprinzip bedeuten, das ja die Frage betrifft, ob die Erhebung einer begründeten Anklage unterlassen werden darf - und begründet ist die Anklage doch schon bei hinreichendem Tatverdacht, d.h. bei (einfacher) Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung! Es ist aber unstreitig, daß die gesetzlichen Lockerungen des Verfolgungszwangs nicht erweiterungsfähig sind42 und daß das Ausmaß des Verdachts im geltenden Recht nicht als Anknüpfungspunkt des Opportunitätsprinzips anerkannt ist43. Schließlich würde ein solcher Spielraum auch dazu führen, daß das Gericht das Hauptverfahren bereits bei „hinreichendem Verdacht" (= einfacher Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung) eröffnen 39 So Burchardi, Rdz. 173: Die Anklage könne erhoben werden, wenn der Beschuldigte der Tat hinreichend verdächtig sei, sie müsse aber erst erhoben werden, wenn seine Verurteilung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei, so daß ein weiter Spielraum für die Entscheidung des Staatsanwalts bestehe! 40 Der durchaus denkbare Fall eines Gleichgewichts zwischen „positiven" und „negativen" Gründen wird damit nicht geleugnet; er hat aber als „Grenzfall" mit einem „Spielraum" nichts zu tun; bei ihm führt das Gleichmaß der Aussichten für Verurteilung und Freispruch zur Verneinung der durch ein Übergewicht der „positiven" Gründe charakterisierten „Wahrscheinlichkeit" der Verurteilung und damit notwendig zur Einstellung des Verfahrens; so auch: Sauer, Grundlagen, 223. - Desgleichen entsteht ein solcher meßbarer „Spielraum" nicht dadurch, daß der Ubergang von der bloßen „Möglichkeit" zur „Wahrscheinlichkeit" einer Verurteilung fließend ist und Erkenntnisschwierigkeiten birgt (vgl. dazu Abschnitt II e). 41 So offenbar Burchardi, Rdz. 173. « OLG Stuttgart in HESt. 2, 91 f; BGHSt. 2, 327. 43 Vgl. §§ 153-154 c, 376 StPO und §45 JGG.
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müßte, der Staatsanwalt aber zur Anklageerhebung erst bei einem dieses „Normal- oder Mittelmaß" übersteigenden „Ubermaß" des Verdachts ( = gesteigerter Verurteilungswahrscheinlichkeit) verpflichtet wäre44. Ganz abgesehen davon, daß eine derartige Reduzierung des Verfolgungszwangs schwerwiegende Folgen für das Klageerzwingungsverfahren haben und es nahezu bedeutungslos machen würde45, was schwerlich vom Gesetz gewollt sein kann, bieten aber auch weder das geltende Recht noch die Rechtsentwicklung Anhaltspunkte für die Existenz eines solchen „gerichtsfreien Verdachtsübermaßes". Es hat in der Zeit von 1942 bis 1950 lediglich umgekehrt eine Einschränkung der gerichtlichen Anklageprüfung hinsichtlich des „Untermaßes" an Verurteilungsaussicht gegeben, als das Gericht die (damals an die Stelle des Eröffnungsbeschlusses getretene) Anordnung der Hauptverhandlung nur ablehnen konnte, wenn „mit Sicherheit" 46 bzw. „mit großer Wahrscheinlichkeit" 47 - statt etwa mit einfacher Wahrscheinlichkeit48 - zu erwarten war, daß der Angeschuldigte in der Hauptverhandlung nicht verurteilt werde4'. Seitdem jedoch diese Regelung aus rechtsstaatlichen Erwägungen50 beseitigt ist, widerspricht eine Diskrepanz zwischen Anklagepflicht und Eröffnungszwang dem geltenden Recht. b) Das Ausmaß der für Anklageerhebung und Eröffnung des Hauptverfahrens notwendigen und genügenden „Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung" differenziert sich nicht nach der Art und Schwere der zu untersuchenden Delikte. Zwar ist einerseits die Ansicht vertreten worden51, bei geringfügigen Strafsachen - ζ. B. bei Übertretungen - genüge zur Eröffnung des Hauptverfahrens (und damit zur Anklageerhebung) ein geringeres Maß von Beweisen als in anderen Sachen, weil eine genauere Aufklärung hier nicht selten einen größeren Ubelstand als eine voreilige Eröffnung des Hauptverfahrens darstelle; und andererseits ist auch [200] die Meinung geäußert worden52, bei wichtigeren Strafsachen müsse im Interesse des Beschuldigten ein höherer Grad von WahrscheinDas nimmt Burchardi, Rdz. 173, auch an. Der in § 174 I gemeinte „genügende Anlaß" zur Anklageerhebung ist identisch mit dem des § 1 7 0 I (Eb. Schmidt, Erl. 3 zu §174). Das Klageerzwingungsverfahren reicht nicht weiter als der Verfolgungszwang. 46 So § 2 0 3 i . d . F . der V O vom 13.8.1942 - RGBl. I, 512. 47 So § 2 0 3 i . d . F . der A A R N r . 2 der MilReg. 48 Daß bereits die „Indifferenzfälle" der Einstellung unterliegen, ist oben in Fußnote 40 ausgeführt. 49 Näheres dazu bei Biechtler in N J W 1950, 530 ff. 50 Durch das Gesetz vom 12.9.1950 - BGBl. 455 ff. 51 So in den Motiven bei Hahn, I, 169, denen von Marek, 329, gefolgt ist; vgl. auch Hell wig in GS 88, 427. 52 So von Sauer, Grundlagen, 127. 44
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lichkeit vorliegen. Für beide Thesen fehlt es jedoch an einer stichhaltigen Begründung: Die Voraussetzungen für Anklageerhebung und Eröffnung des Hauptverfahrens sind in den § § 1 7 0 I, 203 StPO nicht kasuistisch nach der Art der in Rede stehenden Delikte, sondern generell und damit ersichtlich „deliktsneutral" (gleichförmig für alle Delikte) bestimmt. Die §§ 170 I, 203 StPO bieten daher keinen Anhalt für die Annahme, daß die Wahrscheinlichkeit der Verurteilung sich nach Deliktskategorien differenziere. Wenn man aber gleichwohl eine solche Variierung der Verurteilungswahrscheinlichkeit anderweitig mit den angeführten - zweifelhaften - prozeßökonomischen Erwägungen 53 bzw. mit den erwähnten hier ebenfalls fragwürdigen - Gesichtspunkten der Wichtigkeit der Sache54 und des Interesses des Beschuldigten55 begründen will, so beweist doch das dabei erzielte Ergebnis die Unrichtigkeit der Thesen: Wenn man nämlich bei Bagatelldelikten ein „Untermaß" an Verurteilungsaussicht genügen läßt56 und für Kapitalverbrechen ein „Ubermaß" an Verurteilungswahrscheinlichkeit fordert, so erweitert man den Verfolgungszwang bei den Delikten, an deren Ahndung nur ein mäßiges staatliches Interesse besteht57, und man beschränkt den Verfolgungszwang dort, wo ein gesteigertes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung vorliegt; zugleich benachteiligt man dadurch den harmlosen Rechtsbrecher und begünstigt den Schwerverbrecher - eine wahrhaft verblüffende Entartung des Strafprozesses! - Es ist aber auch unzulässig, wegen des
53 Es ist nämlich in höchstem Maße prozeß««wirtschaftlich, wenn man bei Bagatelldelikten die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen durch Abstriche am „hinreichenden Verdacht" zu vereinfachen sucht, da hierdurch die Gerichte verstärkt mit verhandlungsunwürdigen, zum Freispruch führenden Anklagen befaßt werden, die einen größeren Arbeitsund Kostenaufwand verursachen als die ersparten Ermittlungen. 54 Zwar läßt sich mit Sauer (Grundlagen, 127) aus den Vorschriften über die notwendige Voruntersuchung entnehmen, daß das Gesetz den schwereren Delikten eine besondere Wichtigkeit beimißt; jedoch hat dieser Gesichtspunkt der „Wichtigkeit der Sache" nur zu einer Änderung der Verfahrensart, nicht aber auch zu einer Beeinflussung des Verfahrensergebnisses geführt: Das Gesetz hat zwar bei der Voruntersuchung die Sachaufklärung in die Hand eines Richters gelegt, jedoch dadurch die Aufgabe der nunmehr richterlichen Ermittlungen - nämlich die Klärung der Frage, ob gegen den Angeschuldigten ein zur Eröffnung des Hauptverfahrens hinreichender Verdacht bestehe (§§ 190 I, 203) - nicht im geringsten geändert (vgl. die Nachweise in Fußnote 85). Wenn jedoch schon die Funktion der Voruntersuchung insoweit mit der des Ermittlungsverfahrens übereinstimmt, dann fehlt es aber mangels gegenteiliger gesetzlicher Vorschrift auch an einem stichhaltigen Grund für die weitere Annahme, daß das Ergebnis der Voruntersuchung ein gegenüber dem Ermittlungsverfahren graduell verschiedener „hinreichender Verdacht" sein müsse. 55 Das bei Kapitalverbrechen größere Interesse des Beschuldigten wird doch gewiß von dem hier ebenfalls gesteigerten staatlichen Verfolgungsinteresse mindestens aufgewogen! 56 Dagegen auch: Sauer, Grundlagen, 127; Mayer in GS 99, 97. 57 Daß das staatliche Verfolgungsinteresse nach dem Grade der Tatschwere abgestuft ist, folgt schon aus §§ 153 ff, 376 StPO und § 4 5 J G G .
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unterschiedlichen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung in Umkehrung der soeben abgelehnten Lehrmeinungen für Bagatelldelikte eine gesteigerte Verurteilungswahrscheinlichkeit zu fordern und bei Kapitaldelikten eine mindere Verurteilungsaussicht genügen zu lassen. Das verbietet sich nämlich ebenfalls nicht nur wegen der deliktsneutralen Fassung der §§170 I, 203 StPO, sondern auch aus der Erwägung, daß der Verfolgungs- und Anklagezwang „ohne Ansehung der Sache"58 statuiert ist und daher [201] einer Differenzierung des „hinreichenden Tatverdachts" und des „genügenden Anlasses" zur Anklageerhebung nach dem Grade des öffentlichen Interesses an der jeweiligen Strafsache entgegensteht. - Es sollte daher außer Streit stehen, daß bei Anklageerhebung und Eröffnung des Hauptverfahrens weder ein Zwang noch auch nur eine Möglichkeit zur Verdachtsabstufung nach Deliktskategorien oder nach dem Grade der Tatschwere besteht. - Damit hat es nichts zu tun, daß zur Begründung dieser gleichmäßigen Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung je nach der Art des zu untersuchenden Delikts durchaus unterschiedliche Ermittlungen erforderlich sein können. Es ist sogar eine alltägliche Erfahrung, daß Schwierigkeit und Umfang der Sachverhalts- und Persönlichkeitserforschung oftmals mit der Schwere der Tat steigen und mit deren Bedeutungslosigkeit sinken. Jedoch beruht der bisweilen59 aus dem Umfang der Ermittlungen auf das dabei zu erzielende Verdachtsergebnis gezogene Schluß auf einer unzulässigen Verquickung von Mittel und Zweck. c) Das Ausmaß der für Anklageerhebung und Eröffnung des Hauptverfahrens erforderlichen und ausreichenden „Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung" differenziert sich auch nicht nach Persönlichkeit und Vorleben der Beschuldigten. Zwar ist dies vereinzelt behauptet worden60, jedoch verträgt sich auch diese Ansicht nicht mit dem geltenden Recht: Daß die §§170 I, 203 StPO den „genügenden Anlaß" zur Anklageerhebung und den zur Eröffnung des Hauptverfahrens „hinreichenden Verdacht" nicht nach der Persönlichkeit der Beschuldigten abstufen und daher diese Begriffe ersichtlich „täterneutral" (gleichmäßig für alle Beschuldigten) bestimmen, folgt aus dem Gesetzeswortlaut. Sodann verbieten es das Postulat der Objektivität und der Grundsatz der
58 So treffend: KMR, V o r b . l a vor §158. - An diesem Grundsatz sollte man nicht rütteln, wenn man nicht die Objektivität der Anklagepraxis gefährden will! 59 So von Sauer, Grundlagen, 127. 60 So von Burchardi, Rdz. 175: Wenn der Beschuldigte nach seiner sonstigen Lebensführung keine Rücksicht verdiene, so werde kein Grund bestehen, ihm das Hauptverfahren zu ersparen; dagegen solle gegen eine geachtete Person wegen einer nicht sonderlich schweren Tat Anklage nur dann erhoben werden, wenn ihr Erfolg in hohem Maße wahrscheinlich sei! - Vgl. dazu auch: Hellwig in GS 88, 426 ff.
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Gleichheit aller vor dem Gesetz, mit unterschiedlichem Verdachtsmaße zu messen. Im übrigen aber erweist sich auch hier die Unrichtigkeit der These an ihrem Ergebnis: Wenn man das bedenkliche Vorleben bzw. umgekehrt die „Achtbarkeit" des Beschuldigten zum Anlaß einer Variierung der Verurteilungswahrscheinlichkeit nimmt, erweitert bzw. beschränkt man je nach Vorleben und Ruf des Beschuldigten den doch gewiß „ohne Ansehung der Person" statuierten Verfolgungszwang61 und macht ihn überdies noch vom Zufall zutreffender Persönlichkeitserforschung und damit letztlich von den ominösen „Leumundszeugnissen" abhängig62. Es sollte daher nicht zweifelhaft sein, daß nur ein für alle Beschuldigten gleichförmiges Mindestmaß von Verurteilungsaussicht eine gesetzesgemäße Anklage- und Eröffnungspraxis gewährleistet. Dieser Ablehnung einer Verdachtsabstufung nach Persönlichkeit und Vorleben des Täters steht nicht entgegen, daß die Einlassung eines üblen Kriminellen durchaus weniger glaubhaft sein kann als die Einlassung eines allseits geachteten Beschuldigten und daß Vorstrafen wegen einschlägiger vergleichbarer Vortaten ein Indiz für die Uberführung wegen einer neuerlichen für den Beschuldigten „typischen" Straftat sein mögen, denn dies hat nur Bedeutung dafür, welches Ausmaß von Beweisen zur Widerlegung der Einlassung [202] und damit zur Erzielung des bei allen Beschuldigten ohne Ansehung der Person notwendigen und genügenden „hinreichenden Verdachts" erforderlich ist. d) Eine „Wahrscheinlichkeit der Verurteilung" kann begrifflich nur vorliegen, wenn von allen zur Verurteilung nachzuweisenden Bestandteilen des Sachverhalts gesagt werden kann, daß sie wahrscheinlich vorliegen und auch wahrscheinlich nachweisbar sein werden. Entfällt dies auch nur bei einem notwendigen Tatbestandsteil, so ist eine Verurteilung eben unwahrscheinlich. Entsprechendes gilt für solche Bestandteile des Sachverhalts, deren Ausräumung Voraussetzung einer Verurteilung ist. Daher besteht heute - im Gegensatz zu vereinzelten Stimmen in der älteren Rechtslehre - Einmütigkeit darin, daß die Erweislichkeit des objektiven und des subjektiven Tatbestands der in Rede stehenden Straftat sowie die Entkräftung etwaiger Rechtfertigungs-, Schuld- und Strafausschließungsgründe gleichermaßen wahrscheinlich sein müssen, wenn Anklage und Eröffnungsbeschluß gerechtfertigt sein sollen63. Des" So treffend: KMR, Vorb. 1 a vor § 158. - Das in Fußnote 58 Gesagte gilt auch hier. 62 Das ist noch bedenklicher, als die der Wahrheitserforschung durch die Verquickung mit der Persönlichkeitsdiagnose drohende Beeinträchtigung (vgl. dazu: Eb. Schmidt, Erl. 5 zu § 160; Hellwig in GS 88, 445 ff). " Vgl. dazu bes.: Sauer, Grundlagen, 84; ders., Prozeßrechtslehre, 153; Nagler in GS 111, 362; Oetker in GS 99, 257; Beling, 363 Fußnote 4; KMR, A n m . 2 a zu § 2 0 3 ; Eb. Schmidt, Erl. 10 zu § 2 0 3 ; Peters, 361; Erbs, Anm.IV zu §203.
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gleichen kann von einer „Wahrscheinlichkeit der Verurteilung" nur dann gesprochen werden, wenn auch die Wahrscheinlichkeit einer Ausräumung etwaiger Verfahrenshindernisse besteht64. So erwächst also die Entscheidung über den „hinreichenden Tatverdacht" und damit über den „genügenden Anlaß" zur Anklageerhebung aus einer Summe von Wahrscheinlichkeitsurteilen65. e) Die bei der Bewertung des „hinreichenden Verdachts" und des „genügenden Anlasses" zur Erhebung der öffentlichen Klage zu fällenden Wahrscheinlichkeitsurteile stoßen jedoch auf eine Reihe anderer Schwierigkeiten. Zunächst geht die (hier nicht genügende) bloße „Möglichkeit" - nicht nur begrifflich, sondern auch in der Psyche des Beurteilenden - fließend und unmerklich, ohne scharfe und markante Abgrenzung in die (hier nötige) „Wahrscheinlichkeit" einer Verurteilung über66, so daß schon der an die Verurteilungsaussichten anzulegende Maßstab Unsicherheiten bergen kann. Sodann ist der zu bewertende Prozeßstoff in diesem Verfahrensabschnitt erst „provisorisch", ohne die besseren Erkenntnismöglichkeiten einer Hauptverhandlung aufgeklärt; dies bringt im Verein mit den aller menschlichen Erkenntnis gesetzten Grenzen weitere Unsicherheit in die Rekonstruktion der tatsächlichen Vorgänge und in die Vorausberechnung des Verfahrensergebnisses67, das zudem von unvorhersehbaren Ereignissen in der Hauptverhandlung abhängen kann. Endlich stellen sowohl das retrospektive Wahrscheinlichkeitsurteil als auch die prozessuale Prognose wie jede Denkoperation eine individuelle geistige Leistung dar, die jeder Staatsanwalt und jeder Eröffnungsrichter - legitimiert durch die gerichtliche Erfahrung68 - nach seinen Fähigkeiten und Erkenntnissen erbringt, so daß sie je nach der Persönlichkeit des Beurteilenden unterschiedlich auszufallen vermag69. Aus allen diesen Gründen ist es auch nicht unberechtigt, wenn die Entscheidung der Frage, [203] ob in tatsächlicher Hinsicht „genügender Anlaß" zur Anklageerhebung (und damit ein zur Eröffnung des Hauptverfahrens „hinreichender Verdacht") vorliegt, oftmals als „Ermessens-
" Nur voraussichtlich »»behebbare Zweifel am Vorliegen der Prozeßvoraussetzungen können nach dem (hier allerdings streitigen) Grundsatz „in dubio pro reo" Anklage und Eröffnungsbeschluß hindern. Nichts anderes meinen - wie mir Kleinknecht dankenswerterweise mitteilt - KMR, Anm. 3 zu §203, mit der Wendung, daß die Eröffnung des Hauptverfahrens abzulehnen sei, wenn die Möglichkeit eines Prozeßhindernisses „nicht auszuschließen" sei. So treffend: KMR, Anm. 2 a zu §203. " Vgl. dazu statt vieler: Sauer, Prozeßrechtslehre, 151 ff; Hellwig in GS 88, 423 ff. 67 Treffend dazu: Nagler in GS 111, 360ff. " Nagler in GS 111, 362. " Vgl. dazu: Eb. Schmidt, I N. 215; Hellwig in GS 88, 423; Jaffa in ZStrW 25, 428. 65
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entschließung" bezeichnet wird 70 , zumal es keine andere praktikable Lösung gibt, als die Beurteilung der Verdachtsfrage - wie auch sonst bei der Würdigung von Tatsachen und Beweisen - dem pflichtgemäßen subjektiven Werturteil des jeweiligen Staatsanwalts (bzw. Eröffnungsrichters) zu überlassen 71 . Damit werden die früher gewonnenen Ergebnisse nicht in Frage gestellt: Die Einsicht, daß es einen nach Graden der Wahrscheinlichkeit abgegrenzten Spielraum für eine Wahl zwischen Anklageerhebung und Einstellung des Verfahrens nicht gibt, daß ferner die Wahrscheinlichkeit der Verurteilung weder nach Deliktskategorien noch nach Vorleben und Ruf der Beschuldigten abgestuft werden darf und daß endlich jenes Wahrscheinlichkeitsurteil für alle Bestandteile des Sachverhalts gleichermaßen vonnöten ist, setzt dem erörterten Ermessen bedeutsame Schranken und verhütet zugleich rechtsgrundsätzliche Ermessensfehler. Die geschilderten Unsicherheitsfaktoren machen die Existenz der Zweifelsfälle erklärlich, bei denen der Staatsanwalt (bzw. Eröffnungsrichter) eine unterschiedliche Bewertung der Verurteilungsaussichten für vertretbar hält und daher zwischen einer positiven und einer negativen Beurteilung schwankt 72 . Wegen ihrer Unvermeidbarkeit und ihrer Häufigkeit werfen sie sogar ein rechtsgrundsätzliches Problem auf 73 , die Frage nämlich, ob der Staatsanwalt diese ihm zweifelhaft erscheinenden Fälle grundsätzlich durch Anklageerhebung zur gerichtlichen Nachprüfung des hinreichenden Tatverdachts im Zwischenverfahren stellen oder 70 Graf zu Dohna, 59, 133; Kern, 141; Henkel, 190, 358; Löwe, Anm.9 zu §152. Daß dieser Ermessenscharakter des Wahrscheinlichkeitsurteils nichts mit dem sog. Opportunitätsprinzip zu tun hat, folgt schon daraus, daß hier nicht die für Opportunitätsfälle charakteristische Frage in Rede steht, ob die Erhebung einer begründet erscheinenden Anklage unterlassen werden darf, sondern die logisch und rechtlich frühere Frage, ob die Anklage sich überhaupt genügend begründen läßt; ähnlich: Löwe, Anm.9 zu §152. 71 Vgl. dazu Beling, 164 f. - Das von Sauer (Grundlagen, 72 ff u. passim) gemeinte „normale" (objektive) Wahrscheinlichkeitsurteil eines imaginären (so Nagler in GS 111, 362) „Normal- oder Durchschnittsrichters bzw. -Staatsanwalts" kann wegen seiner fiktiven Natur eine praktische Richtschnur nicht abgeben, wie Sauer (aaO. 80) wohl auch selbst anerkennt. 72 Die hier gemeinten „Zweifelsfälle" mag man theoretisch durchaus von den in Fußnote 40 erörterten „Grenzfällen" unterscheiden können: Bei jenen „Grenzfällen" nimmt der Staatsanwalt (bzw. Eröffnungsrichter) ein Gleichgewicht zwischen „positiven" und „negativen" Gründen an; bei den „Zweifelsfällen" kann er auch dessen unsicher sein. Praktische Folgen hat dies jedoch nicht; vgl. dazu Fußnote 82. 73 Fehlentschließungen des Staatsanwalts (bzw. Eröffnungsrichters) außerhalb dieser Zweifelsfälle - etwa infolge eines reinen „Versehens" beim Aktenstudium - sind nicht rechtsgrundsätzlich bedeutsam; ihre Korrektur erfolgt ohne Schwierigkeit mit den prozessualen Mitteln der §§ 172ff u. des §204 (bzw. des §210 II). Diese Mittel sind dagegen bei den im Text gemeinten Zweifelsfällen oft ebenso problematisch wie die diesen Rechtsbehelfen voraufgegangenen Entschließungen.
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ob er sie durch Einstellung des Verfahrens „im Zweifel zugunsten" des Beschuldigten lösen soll74. Der erstgenannte Grundsatz einer einheitlichen Uberstellung dubioser Fälle an das Gericht würde zwar die Garantie bieten, daß jede mögliche Schmälerung des Verfolgungszwangs auf ein Mindestmaß (nämlich auf die irrtümlich negativ beurteilten Fälle) herabgesetzt würde; doch stehen diesem Vorteil zahlreiche entscheidende Bedenken und Nachteile entgegen: Eine Verpflichtung des Staatsanwalts zur Anklageerhebung in allen Zweifelsfällen tatsächlicher [204] Art könnte nur bejaht werden, wenn der Staatsanwalt stets die dem Beschuldigten ungünstigere Auslegung des Sachverhalts zugrunde legen müßte und wenn somit bei der Verdachtsprüfung ein Primat des Eröffnungsgerichts bestände; beides trifft jedoch nicht zu. Der Grundsatz des „in dubio pro duriore" hat - insbesondere im Bereich der Tatfrage mangels gesetzlicher Grundlage keine allgemeine Anerkennung gefunden75 und der gedachte Primat des Eröffnungsrichters ist mit der Verfahrensherrschaft des Staatsanwalts im Ermittlungsverfahren sowie mit dem Recht und der Pflicht des Staatsanwalts zu eigenverantwortlicher Abschlußentscheidung ebenso unvereinbar wie er auch extra legem zu einer dem Eröffnungsrichter nicht zustehenden gerichtlichen Kontrolle der Respektierung des Verfolgungszwangs führen würde, die allein dem Strafsenat im Klageerzwingungsverfahren zukommt. Der Staatsanwalt ist aber nicht einmal berechtigt, die ihm selbst zweifelhaft gebliebenen Fälle schlechthin zur Anklage zu bringen76: Zunächst würde dies eine indiskutable Flucht aus der Verantwortung bedeuten, die dem Staatsanwalt nicht angesonnen werden sollte. Sodann stellt schon die Anklageerhebung für den Beschuldigten eine schwere Belastung und oft auch eine erhebliche Schädigung dar, was „im Zweifel" zu verantwortungsbewußter Vorsicht nötigt77. Weiter gefährdet eine gegenüber Zweifeln kritiklose Anklagepraxis wegen der sich dann häufenden Freisprüche das Ansehen der Strafrechtspflege78. Endlich ist es nicht auszuschließen, daß solche Anklagen trotz ihrer zweifelhaften tatsächlichen Grundlage nicht zuletzt wegen der bisweilen von Laienrichtern unbewußt oder bewußt empfundenen „strafrechtlichen Stigmatisierung" des Beschul-
74 Die analoge Frage stellt sich auch im Verhältnis zwischen Eröffnungsrichter und erkennendem Gericht; vgl. Nagler in GS 111, 364; Sauer, Grundlagen, 84. 75 Nagler in GS 111, 364; Sauer, Grundlagen, 84. 76 Für die Anklageerhebung mittels Antrags auf gerichtliche Voruntersuchung gilt Abweichendes; vgl. dazu Abschnitt III 1. 77 Ähnlich: Löwe, Anm. 7 zu § 170; KMR, Anm. 3 a aa zu § 170; Nagler in GS 111,344. - Vgl. auch Nr. 88 I 2 RiStV. 7! Vgl. dazu Nr. 88 I 2 RiStV.
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digten durch die Anklage79 - die Gefahr eines „Justizirrtums" erhöhen. Daher spricht alles dafür, die nach Ausschöpfung sämtlicher Aufklärungsmöglichkeiten noch für zweifelhaft erachteten Fälle - d.h. die Fälle, in denen der Staatsanwalt schwankt, ob die besseren Erkenntnismittel der Hauptverhandlung eine „positive" Klärung der Tatfrage „wahrscheinlich" oder nur „möglich" machen - durch Anlegung eines strengen Maßstabes80 an die Festigkeit seines Wahrscheinlichkeitsurteils zur Einstellung zu bringen und damit den legitimen „prohibitiven Zweck" des Ermittlungsverfahrens81 voll zur Auswirkung kommen zu lassen82.
III. Der bei den übrigen Anklageformen und den verwandten Anträgen genügende tatsächliche Anlaß 1. beim Antrag auf gerichtliche Voruntersuchung Wenn der Staatsanwalt die öffentliche Klage durch Stellung des Antrags auf gerichtliche Voruntersuchung erhebt (§ 170 I StPO), so hat dies einen wesentlich anderen Sinn als die soeben erörterte Anklageerhebung durch (unmittelbare) Einreichung [205] einer Anklageschrift: Mit dem Antrag auf gerichtliche Voruntersuchung begehrt der Staatsanwalt noch nicht die Eröffnung des Hauptverfahrens, da dieser Antrag erst nach Abschluß der Voruntersuchung gestellt wird (§198 StPO); er begehrt vielmehr nur die Eröffnung einer sich zwischen das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren und das gerichtliche Zwischenverfahren einschiebenden richterlichen Untersuchung (§§179, 184 StPO) 85 . Diese Untersuchung ist jedoch ihrem Wesen nach nichts anderes als ein in die Hand des Untersuchungsrichters gelegtes Ermittlungsverfahren84, dessen Zweck - ebenso wie beim staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren - in der Klärung der Frage besteht, ob gegen den Beschuldign Was Nagler in GS 111, 356 hierzu treffend vom Eröffnungsbeschluß sagt, gilt der Sache nach auch für die Anklage (aaO. 344). 80 So auch Eb. Schmidt, Erl. 18 zu §170. " Bennecke/Beling, 465. 82 Im Ergebnis erfahren daher die „Zweifelsfälle" die gleiche Behandlung wie die oben in den Fußnoten 40 und 72 erörterten „Grenzfälle", was gerechtfertigt erscheint, da der Staatsanwalt die „Wahrscheinlichkeit" einer Verurteilung bei den letzteren verneint und bei den ersteren nicht sicher festzustellen vermag. 83 Auf den literarischen Streit um den weiteren Inhalt des „Klagebegehrens" beim Antrag auf Eröffnung der Voruntersuchung braucht hier nicht eingegangen zu werden; vgl. dazu Eb. Schmidt, Erl. 5 ff zu § 170 mit Nachw. 84 Henkel, 345; Eb. Schmidt, I N . 2 8 4 ; Löwe, Vorb. 1 vor § 1 7 8 ; KMR, Anm. 1 zu § 1 9 0 ; Sauer, Grundlagen, 123; Gerland, 314; Lucas/Dürr, 65; von Marek, 351; ebenso schon die Motive bei Hahn, I, 163. - Vgl. auch oben Fußnote 54.
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ten ein zur Eröffnung des Hauptverfahrens „hinreichender Verdacht" vorliegt (SS 190 I, 203 StPO)85. Demzufolge ist auch der „genügende Anlaß" zur Anklageerhebung beim Antrag auf Voruntersuchung ein gänzlich anderer als bei der Einreichung einer Anklageschrift: Da erst ermittelt werden soll, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für eine Eröffnung des Hauptverfahrens vorliegen, braucht die „Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung" des Beschuldigten noch nicht zu bestehen. Es genügen vielmehr geringe tatsächliche Anhaltspunkte dafür, daß die Voruntersuchung jenen „hinreichenden Verdacht" gegen den Beschuldigten ergeben könne; m. a. W.: die durch konkrete Verdachtsanzeichen ausgewiesene bloße „Möglichkeit" des Vorliegens einer Straftat und einer Uberführung des Beschuldigten reicht aus86, so daß in der Prognose für den Ausgang der Voruntersuchung ein weiter Raum für Zweifel an deren „Erfolg" verbleibt. Zwischen diesem den „genügenden Anlaß" zur Stellung des Antrags auf Voruntersuchung bildenden Verdacht und dem eingangs erörterten für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zureichenden „Verdacht" i. S. des §160 I StPO besteht ein wesentlicher Unterschied: Während nämlich ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren auch gegen „Unbekannt" und wegen einer in ihrer tatsächlichen Gestaltung und in ihrer rechtlichen Qualifizierung noch unbestimmten Tat eingeleitet und geführt werden kann87, ist ein Antrag auf Voruntersuchung nur gegen einen bestimmten Beschuldigten und nur wegen einer in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht (wenn auch nur vorläufig) bezeichenbaren Tat zulässig (§179 StPO)88. Der (möglicherweise) unbestimmte „Verdacht" i. S. des § 160 I StPO muß sich also - notfalls durch Vorermittlungen des
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Eb. Schmidt, 1 N. 284 u. Erl. 21 zu § 170; Löwe, Vorb. 1 vor § 178; KMR, Anm. 1 zu § 190; Sauer, Grundlagen, 123; Gerland, 314; Lucas-Dürr, 65; von Mauck, 351 ; ebenso schon die Motive bei Hahn I, 163. - Vgl. auch oben Fußnote 54. 86 Löwe, Anm.6 zu §170; von Marek, 329; Peters, 135, 424; von Kries, 483; Gerland, 308f; Graf zu Dohna, 133; Eb. Schmidt, Erl.21 ff zu §170; KMR, Anm. 3 a zu §160 u. Anm.6 zu §179; teilweise abweichend: Oetker in GS 99, 244; ganz abw.: Beling, 359 Fußnote 1, der zu Unrecht annimmt, es brauche nicht geprüft zu werden, ob irgendwelcher Verdacht bestehe; das hieße aber doch, beim Antrag auf Voruntersuchung eine Anklageerhebung gegen unverdächtige Personen gestatten! 87 Näheres dazu in Fußnote 6. !8 Vgl. dazu statt vieler: Eb. Schmidt, Erl. 14 u. 22 zu § 170; Löwe, Vorb. 1 vor § 178 u. Anm. 4 zu § 179; KMR, Anm. 2 u. 3 zu § 179; Schwarz, Anm. 1 zu § 179. - Daß hierzu eine Benennung des Beschuldigten mit seinem Namen nicht unbedingt erforderlich ist, sondern daß auch eine anderweitige Individualisierung des Beschuldigten genügt, ist allgemeine Ansicht (vgl. z.B. von Marek, 351 ff; Eb. Schmidt, Erl.2 zu §179; Löwe, Anm. 4 a zu § 179; KMR, Anm. 2 zu § 179).
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Strafverfahrensrecht
Staatsanwalts" - bis zum [206] Verdächtigsein eines bestimmten Beschuldigten und bis zum Möglichsein einer bestimmten Strafttat verdichtet haben, bevor der Staatsanwalt die öffentliche Klage durch Stellung des Antrags auf gerichtliche Voruntersuchung erheben kann. Auch bei Vorliegen dieses „konkretisierten" Verdachts hat der Staatsanwalt jedoch in den Grenzen des § 178 StPO nach seinem Ermessen ein doppeltes Wahlrecht, nämlich einmal, ob er die Voruntersuchung beantragen oder statt dessen die Ermittlungen selbst betreiben und sich nach deren positivem Abschluß für eine andere Anklageform entscheiden will90, und zum anderen, ob er den etwaigen Antrag auf Voruntersuchung alsbald oder erst nach Durchführung des sog. ersten Angriffs stellen soll". Das beruht darauf, daß diese Entschließungen nicht das „Ob", sondern das „Wie" und „Wann" der Anklageerhebung betreffen und daher den eingangs erörterten Anklagezwang nicht berühren. 2. bei der
Nachtragsanklage
Die vom Staatsanwalt in der Hauptverhandlung erhobene Nachtragsanklage vermag zu einer Aburteilung der in ihr bezeichneten Straftat nur zu führen, wenn das erkennende Gericht sie durch Beschluß in das Verfahren einbezieht (§266 I StPO). Dieser Einbeziehungsbeschluß des erkennenden Gerichts nimmt dann die Stelle eines vom beschließenden Gericht erlassenen Eröffnungsbeschlusses ein92. Das berechtigt zu der Folgerung, daß auch der Einbeziehungsbeschluß - ebenso wie der Eröffnungsbeschluß - das Vorliegen eines „hinreichenden Verdachts", d. h. der Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung voraussetzt. Zu diesem Ergebnis führt auch die Überlegung, daß § 266 StPO zwar aus prozeßökonomischen Gründen das Verfahren vereinfacht und beschleunigt93, jedoch damit die sachlichen Voraussetzungen von Anklage und Eröffnung (= Einbeziehung)94 nicht erkennbar verringert hat. Dann darf aber auch ein Einbeziehungsbeschluß nicht ergehen, wo ein Eröffnungsbe-
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So schon die Motive bei Hahn, I, 160 f. Löwe, Anm. 11 b zu § 178; KMR, Anm. 4 zu § 178. 91 Von Marek, 351; vgl. dazu auch Nr. 84 I 2 RiStV. 92 BayObLGSt. 1953, Iff = in NJW 1953, 674; Löwe, Anm.5d zu §266; KMR, Anm. 1 zu §266; Gerland, 327. » Vgl. dazu die Motive bei Hahn, II, 1354 f, 1565; Eb. Schmidt, Erl. 2 zu §266; Löwe, Anm. 3 zu § 266. 94 Sauer, Grundlagen, 26, 119, 158, 212 ff, 658, bezeichnet den „hinreichenden Verdacht" als „Sachgestaltungsvoraussetzung" für Anklage und Eröffnungsbeschluß, was inhaltlich auch dann zutrifft, wenn man ihn mit Beling, 164, 166, als „Prozeßgestaltungsvoraussetzung" bezeichnet. Es ist aber kein triftiger Grund ersichtlich, demzufolge für Nachtragsanklage und Einbeziehungsbeschluß etwas anderes gelten sollte. 90
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Schluß ausgeschlossen wäre95. Mithin besteht auch nur bei Vorliegen eines hinreichenden Verdachts ein „genügender Anlaß" zur Erhebung einer Nachtragsanklage'6. Fehlt er, so muß der Staatsanwalt die weitere Straftat zunächst zum Gegenstand besonderer Ermittlungen machen und sich bei positivem Ermittlungsergebnis für eine der übrigen Anklageformen entscheiden. Aber auch bei Vorliegen des hinreichenden Tatverdachts liegt die Erhebung der Nachtragsanklage im Ermessen des Staatsanwalts, der statt dessen auch den Weg eines gesonderten Verfahrens wählen kann'7, da dieses Wahlrecht den Anklagezwang als solchen nicht beeinträchtigt. [207] 3. bei der Anklage im beschleunigten Verfahren und beim Antrag auf Entscheidung im vereinfachten Jugendverfahren a) Wenn der Staatsanwalt Aburteilung im beschleunigten Verfahren beantragt (§212 StPO), so entfällt ein Eröffnungsbeschluß (§212 a I StPO). Daraus ist verschiedentlich'8 der Schluß gezogen worden, mit dem Wegfall des Zwischenverfahrens seien auch das Prüfungsrecht und die Prüfungspflicht des Gerichts, ob der Beschuldigte „hinreichend verdächtig" sei, beseitigt worden, so daß selbst die sichere Erwartung eines Freispruchs der Durchführung der Hauptverhandlung nicht entgegenstehen könne. Diese Lehre verkennt, daß es keineswegs sicher ist, ob zusammen mit den für das beschleunigte Verfahren bei einfachem Sachverhalt entbehrlich erscheinenden Formalitäten" auch die sachlichen Voraussetzungen des Zwischenverfahrens, also insbesondere die mit dem hinreichenden Verdacht zusammenfallende Verhandlungswürdigkeit der Strafsache, in Fortfall kommen sollten100; sie würde zudem dazu führen, daß der Staatsanwalt durch ein Ausweichen in diese Verfahrensart auch unverdächtige Personen einer Hauptverhandlung mit allen ihren Nachteilen und Folgen unterwerfen könnte, ohne daß das Gericht dieses 95 Das dem Gericht in § 2661 eingeräumte Ermessen („kann") ist nur bei der Ablehnung der Einbeziehung völlig frei; bei der Bejahung der Einbeziehung ist es auch sonst an Schranken gebunden (Zuständigkeit, Zustimmung des Angeklagten, Prozeßvoraussetzungen). * Ebenso KMR, Anm. 3 a zu § 160 u. Anm. 4 zu § 170. 97 Beling, 368. 98 So von Erbs, Anm.III zu §212; Löwe, Anm.2 zu §212a; Eb. Schmidt, Erl.5 zu §212 a. 99 Vgl. dazu die Motive bei Hahn, I, 174 f, 818 f. 100 Das in Fußnote 94 Gesagte gilt für die Anklage im beschleunigten Verfahren entsprechend. - Auch beim vereinfachten Jugendverfahren und beim Strafbefehlsverfahren folgert - soweit ich sehe - niemand aus dem Wegfall des Eröffnungsbeschlusses, daß es eines hinreichenden Verdachts nicht bedürfe (vgl. dazu Abschnitte III 3 b u. 4). Der im Text abgelehnte gegenteilige Schluß beim beschleunigten Verfahren ist daher systemwidrig.
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unbillige Ansinnen abzuwehren vermöchte - ein (trotz seiner akademischen Natur) im Rechtsstaat gewiß unerträgliches Ergebnis101. Das Gesetz selbst ermöglicht denn auch eine andere Lösung: Allerdings kann das Gericht infolge des Wegfalls des Zwischenverfahrens bei Mangel an hinreichendem Tatverdacht nicht gemäß § 204 StPO die „Eröffnung des Hauptverfahrens" ablehnen102; es kann aber solchenfalls gemäß § 212 b I 1 StPO die Aburteilung im beschleunigten Verfahren ablehnen103. Zwar sieht §212 b I 1 StPO diese Ablehnung seinem Wortlaut nach nur für den Fall vor, daß sich die Sache zur Verhandlung im beschleunigten Verfahren nicht eignet; eine Strafsache, die sich jedoch nicht einmal für das normale Strafverfahren eignet, ist erst recht für das - die Verteidigung des Beschuldigten ohnehin erschwerende-beschleunigte Verfahren ungeeignet104. Da weiter bei „Ungeeignetheit" der Strafsache das Gericht den Antrag auf Aburteilung im beschleunigten Verfahren nicht nur ablehnen darf, sondern ihn im Interesse des Beschuldigten sogar ablehnen muß105, ist die Durchführung des beschleunigten Verfahrens ohne Vorliegen eines hinreichenden Verdachts nicht nur ablehnbar, sondern ausgeschlossen. Folgerichtig setzt auch die Anklageerhebung im beschleunigten Verfahren (§ 212 a II StPO) - und damit schon der meist voraufgegangene Antrag auf Aburteilung im beschleunigten Verfahren (§212 StPO) [208] - einen „hinreichenden Tatverdacht", d. h. die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung voraus106. O b der Staatsanwalt bei Vorliegen des hinreichenden Tatverdachts jedoch das beschleunigte Verfahren betreiben oder statt dessen eine andere Verfahrensart wählen will, steht wiederum in seinem Ermessen107. b) Das soeben Ausgeführte gilt sinngemäß auch für das vereinfachte Jugendverfahren, das Gegenstück des beschleunigten Verfahrens: Wenn der Staatsanwalt den einer Anklage gleichstehenden Antrag auf Entscheidung im vereinfachten Jugendverfahren stellt (§ 76 I J G G ) , entfällt
Ähnlich: Werner in D R Z 1947, 146f. Das verkennt Werner in D R Z 1947, 146 f. 103 So mit Recht: Schwarz, Anm. 1 A zu § 2 1 2 b . - Über Wirkung und Anfechtbarkeit eines solchen Beschlusses vgl. Schwarz, aaO.; Werner in D R Z 1947, 146 f; Erbs, Anm. III zu §212. 104 Das ist ζ. B. für den - ebenfalls nicht unter den Wortlaut des § 212 b I 1 fallenden Mangel der sachlichen Zuständigkeit und der übrigen Prozeßvoraussetzungen einhellig anerkannt; vgl. Eb. Schmidt, Erl.2 zu § 2 1 2 a ; Löwe, Anm.3—4 zu § 2 1 2 a ; Erbs, Anm.IV zu §212; K M R , Anm. 1 a zu § 2 1 2 b . 105 So richtig: Löwe, Anm. 3 zu § 212 b. 106 So mit Recht: KMR, Anm. 3 a zu § 160 u. Anm. 4 zu § 170. 107 Beling, 368; Eb. Schmidt, Erl.5 zu §212; Löwe, Anm.4 zu §212; KMR, Anm.2 zu §212. - Vgl. dazu auch Nr. 129 RiStV. 101
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ebenfalls das Zwischenverfahren108, jedoch entbindet dies den Jugendrichter nicht von der Pflicht zur Prüfung, ob „hinreichender Tatverdacht" vorliegt. Fehlt dieser, so hat der Jugendrichter aus den schon beim beschleunigten Verfahren angestellten Erwägungen die Entscheidung im vereinfachten Jugendverfahren gemäß § 77 I 1 JGG abzulehnen109. Dementsprechend setzt auch der Antrag auf Entscheidung im vereinfachten Jugendverfahren das Bestehen hinreichenden Tatverdachts voraus110. Auch hier hat jedoch der Staatsanwalt bei Vorliegen des hinreichenden Tatverdachts die Wahl zwischen dem Antrag auf Entscheidung im vereinfachten Jugendverfahren und einer Anklage im normalen Jugendstrafverfahren 111 .
4. beim Antrag auf Erlaß eines
Straßefehls
Wenn der Staatsanwalt den Erlaß eines Strafbefehls beantragt, so entfällt ebenfalls ein Eröffnungsbeschluß, gleichgültig, ob der Amtsrichter den beantragten Strafbefehl erläßt oder ob er statt dessen Hauptverhandlung anberaumt (§408 StPO)112. Aus dem Wegfall des Zwischenverfahrens darf jedoch nicht der Schluß gezogen werden, daß damit auch die Prüfung seiner Voraussetzungen, also insbesondere des hinreichenden Tatverdachts, entfiele; vielmehr nimmt der Richter diese sachliche Prüfung bei der von ihm auf den Strafbefehlsantrag hin zu treffenden Entschließung vor113, wie sich aus folgendem ergibt: Nach § 408 12 StPO scheidet der Erlaß eines Strafbefehls aus, wenn ihm Bedenken entgegenstehen; solche Bedenken bestehen in tatsächlicher Hinsicht aber, wenn hinreichender Tatverdacht fehlt, da es dem Richter dann erst recht unmöglich ist, sich auf Grund des Akteninhalts die für jede gerichtliche Bestrafung nötige Uberzeugung von der Schuld des Beschuldigten zu verschaffen114. Bei mangelndem Tatverdacht [209] kommt aber auch die 108 Dallinger/Lackner, Anm. 6 zu §77 J G G ; Potrykus, Anm.3 zu §76 u. Anm. 1 zu § 77 J G G . - Vgl. auch § 78 III 1 J G G u. Richtl. 1 S. 2 zu § 77 J G G . 109 Vgl. dazu: Dallinger/Lackner, Anm. 9 zu § 77 J G G ; Potrykus, Anm. 2 zu § 77 J G G . - Bei beiden auch Näheres über Wirkung und Anfechtbarkeit dieses Beschlusses. 110 So mit Recht: Dallinger/Lackner, Anm. 6 zu § 76 J G G . - Das in Fußnote 94 Gesagte gilt auch hier entsprechend. 111 Dallinger/Lackner, Anm. 10 zu § 76 J G G . 112 Heute h.M.; vgl. KMR, Anm. 4 b zu §408 mit Nachw.; Mayer in GS 99, 94; Löwe, 19. Aufl., A n m . 4 a zu §408; a. A. neuerdings: Michaelsen in DRiZ 1952, 133f. 115 So richtig: KMR, A n m . 4 b zu §408; Michaelsen in DRiZ 1952, 133f. 114 Daß für den Erlaß eines Strafbefehls mindestens hinreichender Tatverdacht nötig ist, ist unstreitig; streitig ist je nach der rechtstheoretischen Auffassung vom Wesen des Strafbefehlsverfahrens (dazu bes. Mayer in GS 98, 300 ff u. 99, 36 ff mit zahlreichen Nachw.; Henkel, 458 mit Fußnote 2) nur, ob hinreichender Tatverdacht ausreicht (so offenbar KMR, Anm. 1 b, 2 b, 3 u. 4 b zu § 408, oder ob dringender Tatverdacht (so Beling, 474 Anm. 2), Glaubhaftsein (so Mayer in GS 99,45, 66 u. 83-87) oder gar - wie im
402
Strafverfahrensrecht
Anberaumung einer Hauptverhandlung gemäß § 4 0 8 II 1 StPO nicht in Betracht; diese erfolgt vielmehr nur dann, wenn der Amtsrichter zwar den hinreichenden Tatverdacht bejaht, die volle Uberzeugung von der Schuld des Beschuldigten aber aufgrund des bloßen Akteninhalts nicht zu gewinnen vermag und daher Bedenken trägt, ohne Hauptverhandlung zu entscheiden" 5 . Dies ergibt sich auch daraus, daß der Strafbefehlsantrag gemäß §§408 II, 4 1 1 1 StPO die Funktion einer „ E v e n t u a l klage"116 ausübt, also auch die Voraussetzungen einer normalen Anklage nicht umgehen darf. Vielmehr kann und muß der Amtsrichter, wenn hinreichender Tatverdacht fehlt und auch weitere Ermittlungen aussichtslos sind oder erfolglos bleiben117, den Antrag auf Erlaß des Strafbefehls durch Beschluß zurückweisen118. Dies ist zwar im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehen, folgt aber daraus, daß die Beschlußbescheidung die einzig mögliche, auch sonst ohne nähere gesetzliche Regelung anerkannte119 und sachlich notwendige Erledigung von (unzulässigen oder) unbegründeten Anträgen darstellt. Da mithin ein „hinreichender Tatverdacht" AffWesivoraussetzung für ein Einschreiten des Gerichts ist, besteht auch nur bei solch hinreichendem Verdacht „genügender Anlaß" zur Stellung eines Antrags auf Erlaß eines Strafbefehls120. Wenn somit auch der Strafbefehlsantrag gesetzlich nicht mehr als hinreichenden Verdacht voraussetzt, da er dann jedenfalls zur Anberaumung einer Hauptverhandlung führt, so wird doch der Staatsanwalt praktisch einen
T e x t - v o l l e richterliche Uberzeugung (so Henkel, 460 Fußnote 8; Stock, 184; Erbs, Anm. III zu §408) erforderlich ist. Es soll zwar gewiß nicht geleugnet werden, daß sich die abweichenden Ansichten formal begründen lassen, doch scheint mir im Rechtsstaat die Vorstellung unerträglich, daß der Richter mit Hilfe theoretischer Konstruktionen im Strafbefehlsverfahren - unter Bruch mit einem sonst selbstverständlichen Grundsatz - „auf Verdacht" und in der Erwägung, daß der Beschuldigte ja Einspruch einlegen könne, wenn er nicht schuldig sei, Strafen verhängen könne oder gar müsse, von deren Berechtigung er selbst nicht „überzeugt" ist! Daß die richterliche Uberzeugungsbildung hier in einem summarischen schriftlichen Verfahren unter Verzicht auf die besseren Aufklärungsmöglichkeiten einer Hauptverhandlung vor sich geht, mindert zwar die Erkenntnisquellen, sollte aber am Überzeugungsergebnis nichts ändern. So richtig: Erbs, Anm. III zu § 4 0 8 ; Peters, 451 f. Vgl. dazu Beling, 473 ff. 117 Darüber, ob die nötigen Ermittlungen vom Amtsrichter oder vom Staatsanwalt vorzunehmen sind, vgl.: N r . 1 6 3 III RiStV; Peters, 452; Henkel, S . 4 5 9 f ; K M R , A n m . 3 zu § 4 0 8 ; Löwe, 19. Aufl., A n m . 4 c zu § 4 0 8 ; Mayer in GS 99, 97-99. 118 So richtig: Peters, 452; Henkel, 460; Löwe, 19.Aufl., Anm.2 zu § 4 0 8 ; KMR, Anm. 2 b zu § 4 0 8 ; Erbs, Anm. III zu § 4 0 8 ; Beling, 474 f; Mayer in GS 99, 95-97. - Bei diesen auch Näheres über Wirkung und Anfechtbarkeit dieses Beschlusses. Z. B. bei der Beschlußverwerfung eines unzulässigen Einspruchs gegen einen Strafbefehl; vgl. dazu statt vieler: O L G Köln in G A 1956, 92. 120 So richtig: Nr. 160 II 1 RiStV; K M R , Anm. 3 a zu § 1 6 0 , Anm. 4 zu § 1 7 0 u. Anm. 1 b zu § 4 0 8 ; Mayer in GS 99, 83 u. 97. 115 116
Der „genügende Anlaß" zur Erhebung der öffentlichen Klage
403
Strafbefehlsantrag nur bei „völlig bedenkfreier" Sachlage121, d . h . bei einem durch gründliche Ermittlungen besonders gefestigten Tatverdacht stellen dürfen, damit nicht der Zweck seines Antrags - die Ersparung von Hauptverhandlung und Urteil - verfehlt und die (hilfsweise) Anordnung der Hauptverhandlung zur Regel wird. Aus diesem - praktischen, nicht rechtlichen - Erfordernis eines gesteigerten Tatverdachts 122 folgt, daß alle nicht vollständig aufgeklärten Straffälle für das Strafbefehlsverfahren ungeeignet sind123. Auch bei Vorliegen dieses gesteigerten [210] Tatverdachts hat der Staatsanwalt jedoch nach seinem Ermessen die Wahl zwischen dem Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls und anderen Anklageformen 124 . 5. bei der Antragsschrift
im objektiven
Sicherungsverfahren
N a c h §429 a StPO kann der Staatsanwalt den selbständigen Antrag auf Unterbringung eines Beschuldigten in einer Heil- oder Pflegeanstalt stellen, wenn „Anhaltspunkte" dafür vorliegen, daß der Beschuldigte eine mit Strafe bedrohte Handlung im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit begangen habe und - § 42 b StGB ! - die öffentliche Sicherheit die Unterbringung erfordere. Diese - mißglückte - gesetzliche Terminologie darf jedoch nicht dahin verstanden werden, daß das objektive Sicherungsverfahren schon bei einem geringeren Verdachtsmaße zulässig wäre, als es für das persönliche Strafverfahren erforderlich ist; vielmehr hat die auch hier nötige Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung nur einen anderen Inhalt, wie sich aus folgendem ergibt: Nach § 429 b I S t P O ergeht auch im Sicherungsverfahren ein Eröffnungsbeschluß, der nach dem für „sinngemäß" anwendbar erklärten §203 StPO das Vorliegen eines „hinreichenden Verdachts" für die Verwirklichung des objektiven Tatbestands der in der Antragsschrift bezeichneten Taten und für eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch künftige mit Strafe bedrohte Handlungen des Beschuldigten voraussetzt 125 , also nur erlassen werden darf, wenn die Anordnung der Unterbringung in einer Heiloder Pflegeanstalt mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist126. Demzufolge bestehen auch nur bei solcher Wahrscheinlichkeit eines Unterbringungsurteils genügende „Anhaltspunkte" für einen selbständigen Unterbrin121
So richtig: von Marek, 388. Daß durch dieses Erfordernis eines gesteigerten Tatverdachts die Vorteile des summarischen gerichtlichen Verfahrens „aufgehoben" würden, vermag ich KMR, Anm. 1 b zu §408, nicht zuzugeben; der gesteigerte Tatverdacht ermöglicht diese Vorteile erst, da nur er den Strafbefehlserlaß „unbedenklich" macht. 125 So richtig: Nr. 160 V RiStV. 124 Erbs, Anm. II zu §407; Gerland 461 f; Löwe, 19. Aufl., Anm. 6 zu §407. 125 Henkel, 487; KMR, Anm. 1 b zu §429b; Burchardi, Rdz.218. 126 Peters, 361; Erbs, Anm. I zu §429 a u. Anm. I zu §429b. 122
404
Strafverfahrensrecht
gungsantrag127. Auch bei Vorliegen dieser Voraussetzungen steht jedoch die Betreibung des Sicherungsverfahrens ganz im Ermessen des Staatsanwalts128, da hier eine Ahndung von strafbaren Handlungen i. S. des § 152 II StPO nicht in Rede steht und somit das Legalitätsprinzip außer Anwendung bleibt. 6. beim Antrag im selbständigen Einziehungsverfahren Wenn der Staatsanwalt im objektiven Verfahren den selbständigen Antrag auf Einziehung (oder gewisse gleichgestellte Maßnahmen) stellt (§430 ff StPO), so bedarf es eines Eröffnungsbeschlusses nicht129. Auch hier wird man jedoch aus dem Wegfall des Zwischenverfahrens nicht schließen dürfen, daß damit dem angerufenen Gericht die Ausschaltung aussichtsloser Verfahren verwehrt sein soll. Zur Vermeidung eines unnützen Leerlaufs wird man vielmehr in analoger Anwendung der für die anderen erörterten Verfahrensarten geltenden Rechtsregeln annehmen dürfen, daß das Gericht den Einziehungsantrag durch Beschluß zurückweisen kann130, wenn nicht die Wahrscheinlichkeit besteht, daß auf Einziehung [211] erkannt werde. Dann darf aber auch der Staatsanwalt den selbständigen Antrag auf Einziehung nur stellen, wenn nach der Sach- und Beweislage eine antragsgemäße Entscheidung mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann. Dafür spricht auch, daß der selbständige Einziehungsantrag eine Sonderform der Anklageerhebung darstellt131 und daher zwanglos ähnlichen Anforderungen an seine sachlichen Voraussetzungen wie jene unterworfen werden kann. Aber selbst dann, wenn ein Erfolg des Einziehungsantrags wahrscheinlich ist, steht die Stellung des Antrags ganz im Ermessen des Staatsanwalts132, da es sich dabei nicht um eine dem Legalitätsprinzip unterfallende Verfolgung einer strafbaren Handlung i. S. des § 152 II StPO handelt.
127 128 129
29.
So mit Recht: Burchardi, Rdz.218; KMR, Anm.4 zu §170. RGSt. 72, 144; RG in J W 1935, 532; Nr. 169 RiStV; h. M. RGSt. 37, 270ff; BayObLGSt. 1954, 13; heute h.M.: a. A. Nagler in GS 113, 10 u.
130 Gemeint ist also nicht die (bei fehlendem Verhandlungsantrag und nach Anhörung der Beteiligten ergehende) Beschlußentscheidung aus §431 IV, sondern eine im Wege der Rechtsanalogie zu §§204, 212 b, 429 b StPO und §77 JGG erfolgende Erledigung des unbegründeten Einziehungsantrags durch einen im Gesetz nicht vorgesehenen, aber nach allgemeinen Grundsätzen (vgl. oben Abschnitt III 4 mit Fußnote 119) zulässigen Verwerfungsbeschluß. 131 Löwe, 19. Aufl.; Anm.4 a zu §430; Schwarz, Anm. 1 B zu §430; Beling, 215; Nagler in GS 113, 8 mit Fußnote 11. 132 BGHSt. 7, 356ff, 2, 34; BayObLGSt. 1952, 73 u. 152; vgl. auch Nr. 170 I RiStV.
Der „genügende Anlaß" zur Erhebung der öffentlichen Klage
405
IV. Der zur Anklageerhebung genügende rechtliche Anlaß Daß der „genügende Anlaß" zur Anklageerhebung (ebenso wie der für den Eröffnungsbeschluß „hinreichende Verdacht") nicht nur eine tatsächliche Seite hat, sondern ebenfalls von rechtlichen Erwägungen (von der Subsumtion der Tatsachen unter ein Strafgesetz, von der Bejahung formeller Fragen usw.) abhängt, ist selbstverständlich. Jedoch vollzieht sich die Beurteilung der Rechtslage nach anderen Gesichtspunkten als die Bewertung der Tatfrage: Zunächst gibt es in der Rechtsfrage kein „Unentschieden" (non liquet) mit der Folge des „in dubio pro reo"; hier muß sich der Staatsanwalt (ebenso wie das eröffnende und das erkennende Gericht) für ein „Ja" oder „Nein" entscheiden133 und darf es nicht bei einem „wahrscheinlich strafbar und verfolgbar" bewenden lassen. Sodann ist die Beurteilung der Rechtslage - im Gegensatz zur erörterten Tat- und Beweisfrage - von einer Prognose für den „Erfolg" der Anklage, also von einer Abschätzung der „rechtlichen Verurteilungswahrscheinlichkeit" unabhängig134; vielmehr gelten für die rechtliche Beurteilung - wie im einzelnen noch zu erörtern ist - andere Grundsätze, die im Bereich der Rechtsfrage eine solche Wahrscheinlichkeit der Verurteilung keineswegs immer verbürgen135. Rechtsfragen entscheidet der Staatsanwalt - ebenso wie der Richter grundsätzlich nach seiner Überzeugung136; jedoch ist diese Freiheit der Entschließung im Rechtsraum nicht schrankenlos, sondern von überzeugungsbildenden Faktoren - nämlich Rechtsprechung und Lehre beeinflußt. Dabei geht der Streit nur um Art und Ausmaß dieses Einflusses. Eine Bindung des Staatsanwalts im Rechtssinne an Präjudizien besteht entgegen einer verbreiteten Ansicht137 selbst dann nicht, wenn es sich um eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung handelt138. Das folgt nicht nur aus der [212] institutionellen Selbständigkeit der Staatsanwaltschaft als solcher, sondern auch aus der Unabhängigkeit des Staatsanwalts in seiner einzelnen Entschließung von jeder Einflußnahme der Treffend dazu: Nagler in GS 111, 363. Vgl. dazu: Nagler in GS 111, 363; Sauer, Grundlagen, 82, 87, 91 u. passim; Peters, 136 u. 361. 135 Wenn Peters, 136 u. 361, definiert, die Verurteilung brauche in rechtlicher Hinsicht nicht wahrscheinlich, sondern nur gerechtfertigt zu sein, so hilft dies wenig, da die Frage offen bleibt, wann die Verurteilung gerechtfertigt ist. 136 KMR, Anm. 3 abb zu §170; Eb. Schmidt, Erl. 20 zu §170. - Das von Sauer, Grundlagen, 88 ff u. passim, gemeinte Rechtsurteil eines „Normal- oder Durchschnittsstaatsanwalts" ist fiktiv und kann eine praktische Richtschnur nicht abgeben. 137 Von Kries, 483; von Marek; 328f; ähnlich Löwe, Anm. 7 zu §179; KMR, Anm.3abb zu §170. 138 So auch: Binding, 190f; ähnlich Eb. Schmidt, Erl. 20 zu §170. 153
131
406
Strafverfahrensrecht
Gerichte (§150 GVG) 139 , die nur in gesetzlich geregelten Ausnahmefällen durchbrochen ist (vgl. §§175, 208 II StPO; §32 OWiG). Für den Staatsanwalt gilt somit nichts anderes als für die Instanzgerichte, die ebenfalls nur in seltenen Ausnahmefällen an Entscheidungen höherer Gerichte gebunden sind (vgl. §358 I StPO; §121 II GVG). Obgleich somit die Möglichkeit zu einer Abweichung vom Präjudizien besteht, wird der Staatsanwalt grundsätzlich nicht von einer im Einzelfall zur Anklageerhebung führenden gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung abweichen und solchenfalls nicht seine eigene gegenteilige Rechtsansicht zur Grundlage einer Einstellung des Verfahrens machen. Das folgt zwar nicht - wie behauptet worden ist140 daraus, daß die Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts in der Regel eine der herrschenden Ansicht entsprechende Sachbehandlung gebiete; denn die Weisungsmöglichkeit als solche verpflichtet den Staatsanwalt im Gegensatz zur im Einzelfall erteilten Weisung noch zu nichts. Es ergibt sich aber aus der Erwägung, daß eine von höchsten Gerichten unter Abwägung des Für und Wider entwickelte und fortlaufend bestätigte Rechtsansicht in aller Regel eine höhere Gewähr gegen rechtsirrtümliche Gesetzesauslegung bietet als eine davon abweichende Einzelmeinung, daß ferner eine konstante Rechtsprechung zur Bildung von Gewohnheitsrecht zu führen vermag141 und daß aus diesen Gründen ein Abweichen von gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung im Falle der Einstellung des Verfahrens die Gefahr einer schwerlich zu verantwortenden Verletzung des Legalitätsprinzips mit sich bringt. Hinzu kommt, daß die Staatsanwaltschaft wie jede andere Justizbehörde ihren Teil zur Wahrung der Rechtseinheit beizutragen hat, hinter der jede „Eigenbrötelei" und jede „Rechthaberei" zurückzutreten haben142. Es ist daher keine capitis deminutio, sondern ein Gebot der Rechtstreue, daß der Staatsanwalt grundsätzlich trotz abweichender eigener Rechtsansicht eine nach höchstrichterlicher Rechtsprechung aussichtsreiche Anklage erhebt143. Dabei bleibt es ihm unbenommen, das eröffnende Gericht in der Begleitverfügung zur Anklageschrift und das erkennende Gericht im Schlußvortrag auf seine Bedenken gegen die herrschende Rechtsprechung hinzuweisen und diese Bedenken auch durch Einlegung von
139 Aus diesem Grunde kann z . B . das eröffnende Gericht - abgesehen vom Fall des § 2 0 8 II - nicht verlangen, daß der Staatsanwalt eine der rechtlichen Auffassung des Gerichts entsprechende Anklageschrift einreiche; so mit Recht O L G Kassel in Alsberg Entsch. II Nr. 21 = in GA 40, 183; zustimmend Olbricht in GA 55, 209ff. 140 Von KMR, Anm. 3 abb zu § 170; dagegen auch Eb. Schmidt, Erl. 20 zu § 170. 141 Vgl. statt vieler: O L G Köln in N J W 1953, 1932ff = MDR 1954, 119ff. 142 Vgl. dazu Burchardi, Rdz. 174 u. 240. 145 Im Ergebnis ebenso: Eb. Schmidt, Erl. 20 zu § 170; Löwe, Anm. 7 zu § 170; KMR, Anm. 3 abb zu § 170; von Marek, 329, Burchardi, Rdz. 174.
Der „genügende Anlaß" zur Erhebung der öffentlichen Klage
407
Rechtsmitteln gegen bei der bisherigen Rechtsprechung verbleibende Erkenntnisse zur Austragung auf höchster Ebene zu bringen; das ist nicht nur sein gutes Recht, sondern bei ernsten Rechtsbedenken mindestens nobile officium144. Diese Grundsätze schließen es jedoch keinesfalls von Rechts wegen aus, daß der Staatsanwalt aus neu auftauchenden triftigen oder gar zwingenden Gründen von einer höchstrichterlichen Rechtsprechung [213] abweicht und zur Einstellung des Verfahrens gelangt145; nur werden solche Fälle ausgesprochen Seltenheitswert haben. Anderes gilt jedoch im umgekehrten Falle, wenn die Zugrundelegung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Einstellung des Verfahrens führen würde, der Staatsanwalt jedoch triftige Bedenken gegen die Richtigkeit der bisherigen Judikatur geltend machen kann. In diesem Falle ist der Staatsanwalt nicht gehindert, aufgrund seiner abweichenden Rechtsansicht Anklage zu erheben, um die Rechtsfrage erneut und gegebenenfalls auf höchster Ebene zur Diskussion zu stellen146. Das folgt nicht nur aus dem erörterten Fehlen einer Bindung des Staatsanwalts an Präjudizien, sondern vor allem auch daraus, daß bei dieser Art der Abweichung von höchstrichterlicher Rechtsprechung der Verfolgungszwang nicht verletzt werden kann. Zwar nötigt die gebotene Rücksichtnahme auf die berechtigten Interessen des Beschuldigten zu besonders sorgfältiger Prüfung des von der bisherigen Judikatur abweichenden Rechtsstandpunktes147; sie zwingt den Staatsanwalt jedoch nicht zu einem Verzicht auf tätige Anteilnahme an der Fortbildung des Rechts, da das Gesetz auch sonst (nämlich in § 153 I StPO) das öffentliche Interesse an der Herbeiführung einer gerichtlichen Entscheidung als Rechtfertigung einer anderenfalls nicht erhobenen Anklage anerkennt und die Austragung einer Rechtsfrage zu Lasten des Beschuldigten erlaubt148. Es mag sogar Fälle geben, in denen das öffentliche Interesse an erneuter Überprüfung einer - etwa unter dem Einfluß der Rechtslehre - zweifelhaft gewordenen Judikatur dem Staatsanwalt als dem berufenen „Wäch-
144 Vgl. dazu auch Eb. Schmidt, Erl. 20 zu §170. Daß ein solcher Kompromiß zwischen dem der höchstrichterlichen Rechtsprechung geschuldeten Tribut und den Bedenken des eigenen Rechtsgewissens aus berufsethischen Gründen Anerkennung, nicht aber aus „taktischen" oder „optischen" Gründen Tadel verdient, sollte sich im Rechtsstaat von selbst verstehen. 145 Wer wollte den Staatsanwalt tadeln, der etwa die Lehre vom Verbotsirrtum bereits vor ihrem Durchbruch beim B G H seiner Einstellungspraxis zugrundegelegt hätte! 144 Ebenso: KMR, A n m . 3 a b b zu § 1 7 0 ; Löwe, A n m . 7 zu § 1 7 0 ; Eb. Schmidt, Erl.20 zu § 170; Peters, 136. - In diesen Fällen fehlt es mithin im Bereich der Rechtsfrage an der für die Tatfrage nötigen „Wahrscheinlichkeit" einer Verurteilung; vgl. dazu oben Abschnitt IV zu Beginn. 147 148
Ähnlich: KMR, A n m . 3 a b b zu §170. Vgl. dazu statt vieler: Kohlhaas in GA 1956, 249-250.
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Strafverfahrensrecht
ter des Gesetzes"149 nicht nur das Recht verleiht, sondern auch die wohlverstandene Pflicht auferlegt, durch eine der bisherigen Rechtsprechung zuwiderlaufende Anklageerhebung eine Korrektur der traditionellen Gesetzesauslegung zu ermöglichen. Weitaus problematischer sind die Fälle, in denen die Entscheidung über Strafbarkeit oder Straflosigkeit der Tat und damit über Anklageerhebung oder Verfahrenseinstellung von einer in der höchstrichterlichen Rechtsprechung noch nicht geklärten und mit guten Gründen unterschiedlich lösbaren zweifelhaften Rechtsfrage abhängt. Dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich um eine neu auftauchende Zweifelsfrage oder um eine in der Rechtslehre bzw. in der Rechtsprechung bereits streitige Rechtsfrage handelt, ob nur Erkenntnisse lokaler Gerichte ohne allseitige Durchsetzung oder nur vereinzelt gebliebene und auf Widerspruch gestoßene Entscheidungen höherer Gerichte vorliegen. Bei solchen rechtlichen Zweifeln soll der Staatsanwalt nach überwiegender Ansicht zur Anklageerhebung verpflichtet sein150 - eine These, die weder überzeugend begründet noch im Ergebnis zutreffend ist. Ein solcher Zwang zur Anklageerhebung in rechtlichen Zweifelsfällen kann zunächst nicht mit der Erwägung begründet werden, daß nicht der Staatsanwalt, sondern die Gerichte endgültig über die Strafbarkeit einer Tat zu entscheiden hätten151 und daß den Gerichten in der Rechtsprechung [214] ein Primat zustehe152. Diese Argumentation scheitert nämlich an der gesetzlich gewollten Funktionsteilung zwischen Staatsanwalt und (eröffnendem bzw. erkennendem) Gericht153, die dem Staatsanwalt die Verfahrensherrschaft im Ermittlungsverfahren mitsamt dem Recht und der Pflicht zu eigenverantwortlicher Abschlußverfügung überträgt und diese Verfahrensherrschaft nebst dem Recht und der Pflicht zur Entscheidung nur und erst aufgrund einer vom Staatsanwalt erhobenen Anklage auf das (eröffnende und erkennende) Gericht übergehen läßt (§ 151 StPO). Da kein gesetzlicher Anhalt für die Annahme besteht, daß diese Legitimation des Staatsanwalts zu selbständiger Entscheidung über den „genügenden Anlaß" zur Anklageerhebung auf die beim „hinreichenden Verdacht" zu prüfende Tat- und Beweisfrage beschränkt sei, besteht gerade umgekehrt bis zu der erst mit der Anklageerhebung eintretenden Verfahrenszäsur ein Primat des Staatsanwalts zur Entschei-
Von Savigny, zitiert nach Eb. Schmidt, I N . 87. So von Kries, 483-484; Graf zu Dohna, 133; Löwe, A n m . 7 zu §170; KMR, A n m . 3 a b b zu §170; von Marek, 328; einschränkend Eb. Schmidt, Erl.20 zu §170 („Anklage geboten, jedenfalls ratsam"). - A . A . Binding, 190-191. 151 So von Kries, 484. 152 So KMR, A n m . 3 a b b zu §170. 153 Vgl. dazu statt vieler: Eb. Schmidt, I N . 85 ff. 150
Der „genügende Anlaß" zur Erhebung der öffentlichen Klage
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dung auch über die bei dieser Prüfung auftauchenden Rechtsfragen. Dieser Primat des Staatsanwalts zur Entscheidung über Strafbarkeit oder Straflosigkeit der Tat im Ermittlungsverfahren wird dadurch, daß der Strafsenat im Klageerzwingungsverfahren die negative Entschließung des Staatsanwalts zu überprüfen vermag, ebensowenig in Frage gestellt wie der jenseits der erörterten Verfahrenszäsur einsetzende Entscheidungsprimat des Gerichts durch die Möglichkeit zur Einlegung von Rechtsmitteln. Wenn endlich das Gesetz die Kontrolle darüber, ob der Staatsanwalt zu Recht oder zu Unrecht von einer Anklageerhebung abgesehen und dadurch das (eröffnende und erkennende) Gericht von der Entscheidung über Strafbarkeit oder Straflosigkeit der Tat ausgeschlossen hat, nur dem Strafsenat im Klageerzwingungsverfahren übertragen hat, so folgt daraus, daß jeder Versuch, das eröffnende und erkennende Gericht mit Hilfe eines Zwangs zur Anklageerhebung in rechtlich zweifelhaften Fällen dennoch an dieser Kontrolle der staatsanwaltschaftlichen Respektierung des Legalitätsprinzips zu beteiligen, dem System des geltenden Prozeßrechts zuwiderläuft und zur Verwirrung von wohl erwogenen, sorgsam abgegrenzten Funktionen und Kompetenzen führt. - Der gedachte Zwang zur Anklageerhebung in rechtlichen Zweifelsfällen kann auch nicht mit der Erwägung gerechtfertigt werden, daß der Staatsanwalt verpflichtet sei, sich bei mehreren noch ungeklärten Auslegungsmöglichkeiten stets der strengeren, dem Beschuldigten ungünstigeren, die Strafbarkeit bejahenden Meinung anzuschließen 154 ; denn dieser Grundsatz des „in dubio pro duriore" hat - ebenso wie im Bereich der Tatfrage155 - auch im Bereich der Rechtsfrage keine allgemeine Anerkennung gefunden 156 ; er hat keine Grundlage im Gesetz und die mit ihm zwangsläufig verbundene Rolle des „einseitigen Scharfmachers" ist mit der gerade nicht einseitig ausgerichteten objektiven Aufgabe des Staatsanwalts im Prozeß unvereinbar. - Auch aus der schon mehrfach erörterten Pflicht des Staatsanwalts, sich nicht in die Gefahr einer Verletzung des Verfolgungszwangs zu begeben, folgt nichts Entscheidendes für einen solchen Zwang zur Anklageerhebung bei zweifelhafter Rechtslage, da weder eine Gewähr noch auch nur ein Anhalt dafür besteht, daß die strengere Gesetzesauslegung den Willen des Gesetzes grundsätzlich 157 treffender wiedergebe als die [215] mildere Auffassung. Zudem wiegt eine Verletzung des Verfolgungszwangs, wie sie durch eine
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So von Kries, 484. Vgl. Abschnitt II e mit Fußnote 75. 156 Ebenfalls verneinend: Binding, 190-191; Sauer, Grundlagen, 84, 90. 157 D. h. ohne Rücksicht darauf, ob im Einzelfall die für die Strafbarkeit sprechenden Gründe eine größere Durchschlagskraft als die für die Straflosigkeit entsprechenden Gegengründe haben. 155
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Strafverfahrensrecht
auf irriger Gesetzesauslegung beruhende Verfahrenseinstellung im Einzelfall unterlaufen kann, nicht schwerer als der an den Rechtsgütern eines sich als straflos herausstellenden Beschuldigten angerichtete Schaden, wie er durch eine kritiklose Anklageerhebung bei jedwedem Rechtszweifel gehäuft verursacht werden würde. - Schließlich besteht auch kein Bedürfnis nach einer solchen Bindung der staatsanwaltschaftlichen Entschließung im Bereich der rechtlichen Prüfung, da Dienstaufsichtsbeschwerde, Klageerzwingungsverfahren und Petitionsrecht ein Höchstmaß rechtsstaatlicher Kontrolle verbürgen, das ja auch im Bereich der nicht minder schwierigen und nicht weniger bedeutsamen Tat- und Beweisfrage allseits für ausreichend erachtet wird. Zudem ist es eine unbewiesene Unterstellung, daß die Entscheidung von zweifelhaften Rechtsfragen durch das (die Eröffnung des Hauptverfahrens ablehnende) Gericht statt durch den (das Verfahren einstellenden) Staatsanwalt eine höhere Gewähr gegen Rechtsirrtum biete. - Es spricht daher alles dafür, die Entscheidung zweifelhafter Rechtsfragen - ebenso wie die Beurteilung der Tat- und Beweisfrage - dem pflichtgemäßen Ermessen des Staatsanwalts zu überlassen, so daß gerade bei den Zweifelsfällen der vorangestellte Grundsatz Geltung behält, daß der Staatsanwalt Rechtsfragen ebenso wie das Gericht nach seiner Überzeugung entscheide. Gewiß wird der Staatsanwalt die gegen seine Rechtsmeinung sprechenden Gründe mit peinlicher Sorgfalt prüfen und sich den überzeugenderen Argumenten beugen, und gewiß hat er das Recht und unter Umständen sogar die Amtspflicht, das öffentliche Interesse an höchstrichterlicher Klärung der streitigen Rechtsfrage in einem Musterprozeß durch eine seiner eigenen Rechtsansicht zuwiderlaufende Anklageerhebung wahrzunehmen158 - eine weitergehende Pflicht des Staatsanwalts zur Anklageerhebung in von ihm negativ beurteilten rechtlichen Zweifelsfällen besteht jedoch nicht. Daß nämlich dem Gros der Zweifelsfälle nicht recht ist, was im Modellfall billig ist, folgt daraus, daß nicht allen Rechtsfragen grundsätzliche Bedeutung zukommt und daß im Musterfall nicht der Rechtszweifel als solcher, sondern das - durchaus nicht immer und gewiß nicht in mehr als einem Fall derselben Art zu bejahende - öffentliche Interesse an der Klärung der zweifelhaften Rechtsfrage die Anklageerhebung trotz abweichender Rechtsansicht des Staatsanwalts rechtfertigt und geboten erscheinen läßt. Diese für den „genügenden rechtlichen Anlaß" zur Anklageerhebung entwickelten Grundsätze gelten prinzipiell für alle Anklageformen. Besonderheiten bestehen nur dann, wenn der Staatsanwalt mit seiner 15S Auch in diesen Fällen fehlt es dann im Bereich der Rechtsfrage an der für die Tatfrage nötigen „Wahrscheinlichkeit" der Verurteilung; vgl. dazu Abschnitt IV zu Beginn.
Der „genügende Anlaß" zur Erhebung der öffentlichen Klage
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Anklage gegen eine höchstrichterliche Judikatur angehen oder eine bisher zweifelhafte Rechtsfrage zur gerichtlichen Austragung bringen will; hier erweisen sich einzelne Anklageformen als ungeeignet: So kann die (fakultative) Voruntersuchung nur wegen der Schwierigkeit der Sachaufklärung, nicht aber zur Klärung zweifelhafter Rechtsfragen beantragt werden159. - Auch ist es in den genannten Fällen unangebracht, das beschleunigte Verfahren oder das vereinfachte Jugendverfahren einzuschlagen, weil das Gericht gemäß § 212 b StPO bzw. gemäß §77 J G G die Aburteilung im beschleunigten Verfahren bzw. die Entscheidung im vereinfachten Jugendverfahren ablehnen kann und im Interesse des Beschuldigten sogar ablehnen muß160, wenn [216] die Sache sich wegen ihrer rechtlichen Schwierigkeiten hierzu nicht eignet, weil der Beschuldigte durch die Anwendung dieser Verfahren in seiner (rechtlichen) Verteidigung beeinträchtigt werden würde oder weil eine ausreichende Vorbereitung des Gerichts bei solcher Verfahrensweise nicht gewährleistet wäre161. - In den erwähnten Fällen ist es weiter untunlich, den Erlaß eines Strafbefehls zu beantragen, weil der Amtsrichter den Beschuldigten vor Erlaß des Strafbefehls nicht mehr hört, und weil infolgedessen der Beschuldigte keine Möglichkeit zu einer vorgängigen rechtlichen Verteidigung gegen den ihm in aller Regel unbekannten Strafbefehlsantrag hat, so daß der Amtsrichter im Interesse des Beschuldigten Bedenken haben müßte, ohne Hauptverhandlung entgegen einer höchstrichterlichen Rechtsprechung oder in rechtlichen Zweifelsfällen zu entscheiden. Hinzu kommt, daß der Amtsrichter Hauptverhandlung anberaumen muß, wenn er den Sachverhalt rechtlich anders würdigt als der Staatsanwalt, da ihm der Erlaß eines vom Antrag des Staatsanwalts abweichenden Strafbefehls verwehrt ist162. Wenn es aber aus dem einen oder anderen Grunde ohnehin zur Anberaumung einer Hauptverhandlung kommt, verfehlt der Strafbefehlsantrag seinen primären Zweck. Schließlich ist in den erörterten Fällen auch die Erhebung einer Nachtragsanklage nicht empfehlenswert, weil das Gericht ihre Einbeziehung gemäßt § 266 I StPO nach freiem Ermessen ablehnen kann163 und weil es hierzu begreiflicherweise neigen wird, wenn es unvorbereitet mit einer rechtlich schwierigen Nachtragsanklage befaßt wird. Eine Anklage mit
159 O L G Hamm in N J W 1951, 495; Erbs, Anm. III zu § 178; Eb. Schmidt, Erl. 8 u. 17 zu § 1 7 8 ; Löwe, A n m . 9 b u. 11c zu §178. 160 Vgl. dazu Abschnitt III 3 a und Fußnote 105. 161 S. dazu Burchardi, Rdz.212; Peters, 456; Nr. 129 I 4 RiStV. 162 Peters, 451; Henkel, 460 Fußnote 7; KMR, Anm. 3 zu § 4 0 8 ; Erbs, Anm. III zu § 4 0 8 ; Löwe, 19. Aufl., Anm. 3 zu §408. 163 Eb. Schmidt, Erl. 12 zu § 2 6 6 ; Löwe, A n m . 5 d zu § 2 6 6 ; Erbs, Anm. IV zu § 2 6 6 ; KMR, Anm. 8 zu § 2 6 6 ; Schwarz, Anm. 1 Β zu §266.
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in rechtlicher Hinsicht unsicherer Erfolgsaussicht sollte daher nur durch (unmittelbare) Einreichung einer Anklageschrift erhoben werden.
V. Der genügende Anlaß zur Anklageerhebung und die Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts Nach §§ 146,147 G V G hat der Staatsanwalt den dienstlichen Weisungen seiner Vorgesetzten nachzukommen. Da diese Anweisungen nicht nur generelle Richtlinien, sondern auch die Behandlung einzelner Dienstgeschäfte betreffen können164, sind solche Weisungen grundsätzlich auch für die Entschließung über Anklageerhebung oder Verfahrenseinstellung möglich" 5 . Diese Weisungsmöglichkeit ist jedoch weitgehend dadurch eingeschränkt, daß auch die Vorgesetzten des Staatsanwalts (einschließlich des Justizministers) an das Legalitätsprinzip gebunden sind166, so daß eine gegen das Legalitätsprinzip verstoßende Weisung rechtswidrig sowie für den angewiesenen Staatsanwalt unverbindlich ist und daß sie ebenso für den anweisenden Vorgesetzten strafbar sein kann wie sie den ihr Folge leistenden Staatsanwalt nicht schlechthin von seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit [217] befreit (§§344, 346 StGB) 167 . Daraus folgt, daß der Vorgesetzte in diesem Bereich nur Weisungen für eine Sachbehandlung erteilen kann, die dem Staatsanwalt auch aus eigener Entschließung möglich wäre. Die Anwendung dieser Erkenntnis auf die denkbaren Einzelfälle wird zeigen, daß hier - abgesehen von Weisungen zur Durchsetzung des Legalitätsprinzips in positiver oder negativer Hinsicht - Raum für Weisungen nur im Rahmen der (früher erörterten) staatsanwaltschaftlichen Ermessensentscheidungen besteht168. Für die Tat- und Beweisfrage ergibt sich daraus folgendes: Der Vorgesetzte kann nicht Anklageerhebung trotz Fehlens eines hinreichenden Tatverdachts und nicht Einstellung des Verfahrens trotz Vorliegens des hinreichenden Verdachts anordnen169; er kann nicht die Ignorie164 RGSt. 44, 77; Löwe, A n m . 3 a zu §146 GVG; Henkel, 190; KMR, A n m . l b zu § 146 GVG; Schwarz, Anm. 1 zu § 146 GVG. 145 Eb. Schmidt, I N . 3 2 8 ; KMR, A n m . l b zu §146 GVG; Schwarz, A n m . 2 A b zu §152 StPO. 166 Das ist heute nicht nur herrschende Lehre (vgl. statt vieler: Eb. Schmidt I N. 328 ff; Löwe, Anm. 3 a zu § 146 GVG), sondern auch offizieller Standpunkt der Justiz (so BJMin. Neumayer in BAnz. 1956 Nr. 82 S . 8 f = in DRiZ 1956, 133; ferner für den Bund der Richter und Staatsanwälte: Großer in DRiZ 1956, 238). 167 Vgl. dazu statt vieler: Eb. Schmidt, I N . 328 ff mit Fußnoten; Löwe, Anm. 10 zu §152 StPO. 168 Ebenso BJMin. Neumayer in BAnz. 1956 Nr. 82 S.8ff = DRiZ 1956, 133; Löwe, Anm. 3 a zu § 146 GVG; ähnlich Henkel, 190. KMR, A n m . l c zu § 1 4 6 GVG; Henkel, 191; Peters, 131.
Der „genügende Anlaß" zur Erhebung der öffentlichen Klage
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rung von vorhandenem Entlastungs- oder Belastungsmaterial befehlen170 und nicht eine allen Erfahrungen und anerkannten Regeln widersprechende Beweiswürdigung verlangen171. Wohl aber kann er, wenn die Sach- und Beweislage verschiedenartige Bewertungen der Erfolgsaussichten einer Anklageerhebung möglich und vertretbar macht172, die Zugrundelegung der von ihm für richtig gehaltenen Beurteilung des „hinreichenden Verdachts" bindend vorschreiben173, weil es sich bei der Bewertung des „genügenden Anlasses" zur Anklageerhebung - wie erörtert - weitgehend um eine persönlichkeitsbedingte Ermessensentschließung handelt. - Dies alles gilt sinngemäß auch bei der Entschließung darüber, ob der erörterte, für den Antrag auf gerichtliche Voruntersuchung nötige und ausreichende (bloße) „Verdacht" vorliegt. Für die Rechtsfrage ergibt sich aus dem vorangestellten Grundsatz folgendes: Der Vorgesetzte kann nicht eine nach unangefochtener höchstrichterlicher Rechtsprechung unhaltbare Rechtsansicht aufoktroyieren174, wohl aber geht bei streitigen Rechtsfragen seine Rechtsansicht vor175. Auch kann er die Anweisung erteilen, durch eine der bisherigen Judikatur zuwiderlaufende Anklageerhebung Gelegenheit zur Uberprüfung einer fragwürdig gewordenen Rechtsprechung zu geben oder in einem Modellfall durch eine - wenn auch seiner eigenen Rechtsansicht zuwiderlaufende - Anklageerhebung das öffentliche Interesse an gerichtlicher Klärung einer streitigen Rechtsfrage wahrzunehmen, weil diese Maßnahmen sich im Rahmen der früher erörterten staatsanwaltschaftlichen Befugnisse halten176. Soweit das Legalitätsprinzip gesetzlich durchbrochen ist (also in den Fällen der §§ 153-154 c, 376 StPO und des §45 JGG) oder ganz außer Anwendung bleibt (d. h. beim objektiven Sicherungsverfahren und beim selbständigen Einziehungsverfahren), steht dem Vorgesetzten in den Grenzen des jeweils eröffneten Ermessens177 auch die bindende Entscheidung über die Opportunität der Anklageerhebung bzw. Antragstellung zu. [218] Endlich hat der Vorgesetzte das Recht, bindende Weisungen für die Wahl der Anklageform zu geben178, da es sich hierbei - wie erörtert - um eine von Zweckmäßigkeitserwägungen beeinflußte Ermessensausübung 170 171 172 173 174 175 176 177 178
Henkel, 191. KMR, Anm. 1 c zu § 146 GVG. Also bei den tatsächlichen Zweifelsfällen der in Abschnitt II e erörterten Art. Ähnlich Peters, 131; vgl. auch Henkel, 190; KMR, Anm. 1 c zu § 146 GVG. KMR, Anm. 1 c zu § 146 GVG. KMR, Anm. 1 c zu § 146 GVG; Peters, 131. Vgl. dazu Abschnitt IV. Näheres dazu bei: Eb. Schmidt, I N.329; Kohlhaas in GA 1956, 241 ff. Vgl. z.B.: Henkel, 190.
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handelt, die durchaus unterschiedliche Beurteilungen erlaubt und das Legalitätsprinzip nicht berührt. So erweist sich beiläufig, daß das oft beschworene Gespenst der Weisungen gerade im wichtigsten Bereich der staatsanwaltschaftlichen Tätigkeit bei näherer Betrachtung seine Schrecken verliert.
Ist die Staatsanwaltschaft an die ständige oder gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung
Daß ich zu den Gegnern der These von der „Bindung des Staatsanwalts an die ständige oder gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung" gehöre, brauche ich hier nicht mehr zu betonen, denn Herr Nowakowski und Herr Schwalm waren so freundlich, sich mit den von mir zu diesem Thema literarisch geäußerten Gedankengängen97 auseinanderzusetzen. Gerade deshalb ergreife ich gern und dankbar die Gelegenheit zu einer Erwiderung. Dabei spreche ich ebenso wie mein Kollege Schwalm nur für mich und nicht für das Bundesjustizministerium, dem wir beide angehören. Die zeitlichen Schranken eines Diskussionsbeitrags zwingen mich in allem folgenden zu einem Verzicht auf Detailfragen. Etwas untröstlich bin ich darüber, daß ich an einzelnen Stellen meines vorbereiteten Diskussionsbeitrags von den Richtlinien, die der Herr Vorsitzende für die Ausgestaltung der Diskussion gegeben hat, abweichen muß, um meine Auffassung zu begründen. Vielleicht wird der Herr Vorsitzende mir dies verzeihen, weil er für seine „Richtlinienkompetenz" eine „Bindungsthese" nicht in Anspruch genommen hat. An den Anfang möchte ich einige kurze Überlegungen zu Art. 20 Abs. 3 GG stellen. Danach sind die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden. Nun ist die materielle Aussage des Art. 20 Abs. 3 GG für die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung dieselbe: beide sind gleichermaßen und ohne Unterschied an Gesetz und Recht gebunden. Daraus folgt, daß die vollziehende Gewalt und die Staatsanwaltschaft, wie immer man sie im leidigen Streit der Meinungen einordnen mag, jedenfalls vermöge des Art. 20 Abs. 3 GG nur insoweit gebunden sind, als auch die rechtsprechende Gewalt gebunden ist. Daraus ergibt sich wiederum zweierlei: Erstens: Soweit die Rechtsprechung sich dank ihrer Kontinuität und dank hinzugetretener opinio necessitatis zu Gewohnheitsrecht verdichtet hat, ist die Staatsanwaltschaft an die so entstandenen Rechtsnormen ebenso gebunden wie das Gericht. Dabei kann hier ganz dahinstehen, ob * Vorbereiteter Diskussionsbeitrag aus den Verhandlungen der Strafrechtlichen Abteilung des 45. Deutschen Juristentages 1964, C . H . Beck Verlag, 1965, Bd. II/D, S. 69-77. 97 Vgl. G A 1957, 193 ff.
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das Gewohnheitsrecht im Strafrecht wirklich solche Ausmaße hat, wie die fast resignierenden Worte von Maunz-Dürig98 [D70] über die im Strafrecht „durchwuchernden gewohnheitsrechtlichen Bildungen" vermuten lassen könnten, und welchen schmalen Raum Art. 103 Abs. 2 G G für die Neubildung von Gewohnheitsrecht im strafrechtlichen Bereich überhaupt läßt; denn alles das wären im Zusammenhang mit unserem Bindungsproblem nur Maßfragen. Ebenso ist es hier ohne prinzipielles Interesse, wie sich verläßlich feststellen ließe, wann Rechtsprechung sich zu Gewohnheitsrecht verdichtet hat. Wichtiger ist vielmehr zweitens, ob Rechtsprechung auch ohne diese Voraussetzung als sogenanntes „Richterrecht" die Staatsanwaltschaft zu binden vermag. Dabei bedarf es hier keines Eingehens auf die vielfältigen Theorien über die Natur dieses Richterrechts. Denn - wie Eberhard Schmidt" und Sarstedt100 jüngst überzeugend dargetan haben - kann angesichts der Praxis nicht ernstlich bestritten werden, daß die Gerichte von einer noch nicht zu Gewohnheitsrecht gediehenen Rechtsprechung - übrigens mit Fug und Recht - abgehen, sobald sie diese als irrig oder überholt erkennen; ein Umstand, der entscheidend gegen einen Normencharakter des Richterrechts i. S. von Art. 20 Abs. 3 G G spricht.101 Da aber Art. 20 Abs. 3 G G eine für alle Normadressaten inhaltsgleiche Aussage hat und überdies nur Rechtsnormen meint, kann auf Art. 20 Abs. 3 G G eine Bindung der Staatsanwaltschaft an solches sogenanntes „Richterrecht" jedenfalls nicht gegründet werden. Der kürzlich in einer angesehenen Zeitschrift zu lesende Satz „Recht ist, was die Richter sagen", hat zwar eine Pointe, ist aber beklagenswert falsch.102 Selbst dort, wo das Prozeßrecht wie in § 137 G V G von „Fortbildung des Rechts" durch die Gerichte spricht, kann es schon wegen der eben erwähnten mangelnden Bindung der Gerichte selbst - entgegen mancherlei Lehrmeinungen103 - nicht Schaffung von ungeschriebenen verbindlichen Normen, sondern nur Rechtsauslegung meinen. Nach alledem entfällt zunächst die Möglichkeit, die Bindungsthese aus dem Wesen der Gerichtsentscheidungen selbst herauszulesen; darin glaube ich mich mit meinem Kollegen Schwalm einig. Ein weiterer Lösungshinweis ergibt sich aus Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG, demzufolge die Staatsgewalt durch besondere Organe der Gesetzge-
" Vgl. Maunz-Dürig, Rdz. 112 zu Art. 103 Abs. 2 GG. " Vgl. Eb.Schmidt in M D R 1964, 718. 100 Vgl. Sarstedt in N J W 1964, 1756. 101 Vgl. dazu Pohle in Stein-Jonas-Pohle, 19. Aufl. 1964, Einl. CV = Nachweisen. 102 Trefflich dazu Schumacher in DRiZ 1964, 172. 103 Vgl. z . B . Brüggemann in J R 1963, 162ff mit Nachweisen.
S.6/7 mit
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bung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt wird. Der hier verankerte Grundsatz der Gewaltenteilung hat unter einer gewissen Prämisse auch für unser Problem [D71] prinzipielle Bedeutung. Eberhard Schmidt,104 Sarstedt105 und Nowakowski106 haben nämlich kürzlich dargelegt, daß nach ihrer Auffassung die Staatsanwaltschaft nicht zur rechtsprechenden Gewalt zähle; daraus ist die Konsequenz gezogen worden, daß die Staatsanwaltschaft zur vollziehenden Gewalt gehöre. Dies würde freilich - um das einzufügen - nicht hindern, daß die Staatsanwaltschaft innerhalb der vollziehenden Gewalt als „Rechtspflegeorgan" eine einzigartige, unvergleichlich herausgehobene Stellung sui generis hätte;107 ich lasse jedoch hier und in allem folgenden offen, ob ich dieser These und den daraus gezogenen Konsequenzen beitrete. Wer aber dieser Auffassung folgt und sich zugleich zu der Bindungsthese bekennt, dem müßte es ernstlich zu denken geben, wenn namhafte Kommentatoren des Grundgesetzes wie von Mangoldt-Kleinm und ähnlich Wernicke109 ausführen: „Mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung als Ganzem unvereinbar ist . . . jede Anreicherung der Kompetenzen einer der drei Gewalten - und sei sie auch noch so „legal" betrieben oder als Gewaltenhemmung aufgezogen - , die unter Einbruch in den Kernbereich der Zuständigkeit einer der beiden anderen Gewalten eine irgendwie geartete Diktatur der einen über die anderen Gewalten ermöglicht, so daß diese nicht mehr weisungsunabhängig . . . sind." Die Anhänger der Bindungsthese müßten dann also zunächst einmal dartun, daß es kein solcher Einbruch in den Kernbereich der staatsanwaltschaftlichen Aufgaben wäre, wenn die Staatsanwaltschaft in ihren Entschließungen über die Einstellung der Verfahren und über die Erhebung der öffentlichen Klage schlechthin - also nicht nur in den exzeptionellen Sonderfällen der §§ 175 und 208 StPO - an die gefestigte Rechtsansicht der Gerichte gebunden sein soll. Aber auch wenn man - wie ich angesichts der sonst zahlreichen Grenzverschiebungen zwischen den drei Gewalten weit entfernt von einer Uberbewertung jener von Wernicke und von Mangoldt-Klein vertretenen Lehrmeinung ist, würde immer bei Unterstellung der aus den erwähnten Thesen von Eberhard Schmidt, Sarstedt und Nowakowski gezogenen Konsequenz, also bei einer Scheidung zwischen rechtsprechender Gewalt und Staatsanwaltschaft - deutlich, daß die institutionelle Selbständigkeit der Staatsanwalt-
Vgl. Eb.Schmidt in MDR 1964, 629ff u. 713ff. Vgl. Sarstedt in NJW 1964, 1752 ff. 106 Vgl. Nowakowski, Gutachten für den 45. Deutschen Juristentag, S. 10 ff. 107 Ähnlich Eb. Schmidt und Sarstedt, aaO. ™ Vgl. von Mangoldt-Klein, 2. Aufl. 1957, Anm.V5b zu Art.20 GG. 105 Vgl. Wernicke in Bonner Kommentar, Anm. II 2 g zu Art. 20 GG. 104 105
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schaft, die prozessuale Funktionsverteilung zwischen Gericht und Staatsanwaltschaft und der in §150 GVG ausgedrückte Grundsatz der Unabhängigkeit der staatsanwaltschaftlichen amtlichen Verrichtungen von den Gerichten durchaus verfassungsrechtliche Bedeutung [D72] hätten; denn dann wären diese Prinzipien ein Anwendungsfall des Grundsatzes der Gewaltenteilung, wie es Herr Herrmann - freilich mit sehr beachtlichen feinen Nuancierungen - hervorgehoben hat. Das müßte aber dann zwangsläufig ein Hindernis für die von den Anhängern der Bindungsthese unternommenen Versuche bilden, den Aussagegehalt dieser prozessualen Prinzipien und insbesondere den rechtlichen Gehalt des §150 GVG herabzumindern. Die Anhänger der Bindungsthese haben dann Art. 92 GG ins Feld geführt, demzufolge die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut ist. Ich glaube nicht, daß Art. 92 G G eine taugliche Stütze für die Bindungsthese liefert. Wenn man mit Nowakowski, Schwalm, Eberhard Schmidt und Sarstedt die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft nicht zur rechtsprechenden Gewalt zählt, fällt ohnehin schon viel von der Einschlägigkeit des Art. 92 G G dahin. Jedenfalls aber hat der Verfassungsgeber die dem deutschen Strafprozeßrecht und Gerichtsverfassungsrecht eigentümliche Trennung der Funktionen des Richters und des Staatsanwalts vorgefunden, und es spricht - wie Nowakowski110 richtig betont nichts dafür, daß der Grundgesetzgeber an der Stellung der Staatsanwaltschaft und an deren Verhältnis zu den Gerichten Grundsätzliches habe ändern wollen. Dann entfällt aber die Möglichkeit, aus Art. 92 GG ein Recht der Gerichte zur Einflußnahme auf die amtlichen Verrichtungen der Staatsanwaltschaft abzuleiten, wie sie in einer Unterwerfung unter die gefestigte Rechtsansicht der Gerichte zu erblicken wäre. Nüsem und ähnlich wohl auch Nowakowski haben jedoch angenommen, aus Art. 92 G G folge, daß der Staatsanwalt nicht befugt sei, den Gerichten eine Sache vorzuenthalten, wenn seine Rechtsansicht nicht mit der Rechtsprechung übereinstimme, weil er dadurch den Entscheidungsbereich der Gerichte verkürze. Diese schon recht alte These vom „Primat der Gerichte" widerspricht aber dem Befund, daß die vom Grundgesetz vorgefundene und nicht geänderte Regelung des einfachen Rechts die erwähnte prozessuale Funktionsteilung enthält und - von der atypischen Ausnahme des Klageerzwingungsverfahrens abgesehen - „Rechtsprechung" erst nach Erhebung der öffentlichen Klage vorsieht. Kennt aber das vom Grundgesetz hingenommene einfache Recht vor der dem Staatsanwalt übertragenen Anklageerhebung keine Funktion der Gerichte, so kann in diesem Raum auch ein Entscheidungsbereich der 110 111
Nowakowski, Gutachten, S. 32. Nüse in JR 1964, 281 ff.
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Gerichte nicht verkürzt werden. Das entspricht im Ergebnis dem, was Sarstedt112 in so eindrucksvollen Worten über den Begriff der rechtsprechenden Gewalt gesagt hat: es gehört zu ihrem Wesen, daß sie [D73] wartet, bis sie angerufen wird, und untätig bleibt, wenn man sie nicht anruft; diese Initiative aber ist Sache der Staatsanwaltschaft. Ich stimme daher Herrn Herrmann zu, wenn er gesagt hat, Art. 92 G G begründe zwar das Richtermonopol - ich möchte hinzufügen, in ihrem Funktionsbereich - , sage aber nichts über einen Einfluß auf den öffentlichen Kläger. Auf gar keinen Fall aber kann man die These, der Staatsanwalt dürfe den Gerichten nicht kraft seiner abweichenden Rechtsansicht eine Sache vorenthalten, auf den Gleichheitsgrundsatz113 und auf den Grundsatz des gesetzlichen Richters114 stützen, wie es Nüse115 getan hat. Denn der Gleichheitsgrundsatz sagt nichts über die Abgrenzung des Kompetenzbereichs von Gericht und Staatsanwalt und über eine Abhängigkeit der Staatsanwaltschaft von der Rechtsansicht der Gerichte aus. Und von einer Entziehung des gesetzlichen Richters kann in einem Stadium keine Rede sein, in dem das Gesetz überhaupt noch keine richterliche Tätigkeit vorgesehen hat. Auch ist es - wie Eberhard Schmidt116 gesagt hat nicht möglich, dem Grundsatz der Gleichheit aller vor dem Gesetz den Befehl zu einem Präjudizienkult zu entnehmen. Nach alledem kann dem Verfassungsrecht m. E. keine Bestätigung der Bindungsthese entnommen werden; es liefert vielmehr triftige Anhaltspunkte dafür, daß die Staatsanwaltschaft grundsätzlich von den Gerichten unabhängig ist. Vom Verfassungsrecht her steht daher dem Satz nichts entgegen, daß Auslegung und Anwendung der Rechtssätze im Einzelfall Sache der jeweils damit befaßten Gewalt ist, und daß ferner die eine Gewalt grundsätzlich nicht an die Rechtsansicht der anderen Gewalt gebunden ist, oder - um es für die Gegner der Thesen von Eberhard Schmidt zu formulieren - daß die Staatsanwaltschaft von der Rechtsauffassung der Gerichte unabhängig ist. Naturgemäß gibt es davon Ausnahmen: so etwa die vom Grundgesetz117 ausdrücklich zugelassene Gesetzeskraft verfassungsgerichtlicher Entscheidungen,118 die hier außer Betracht bleiben kann; ferner die aus dem Wesen der gerichtlichen Kontrolle der vollziehenden Gewalt nach Art. 19 Abs. 4 G G folgende Bindung im Einzelfall an ergangene Ent112 115 114 115 116 1.7 1.8
Sarstedt in NJW 1964, 1753, 1754. An. 3 Abs. 1 GG. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Vgl. Νäse in JR 1964, 282-283. Vgl. Eb. Schmidt in MDR 1961, 272. Art. 94, Abs. 2 GG. §31 Abs. 2 BVerfGG.
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Scheidungen, die auch nicht in unseren Fragenbereich fällt; und schließlich im speziellen Bereich unserer Erörterungen die Bindung des Staatsanwalts an gerichtliche Entscheidungen in den Fällen der §§ 175 und 208 Abs. 2 StPO, also im Klageerzwingungsverfahren [D 74] und im Eröffnungsverfahren. Diese letzteren durchaus singulären Ausnahmeregeln zwingen nach bisher herrschender, u. a. von Eberhard Schmidt119 vertretener Auffassung zu dem Umkehrschluß, daß es im übrigen - also außerhalb solcher positiver Regeln - keine Bindung der Staatsanwaltschaft an gerichtliche Entscheidungen gibt; eine Schlußfolgerung, die mit dem von Sarstedt120 hervorgehobenen Umstand übereinstimmt, daß unsere Gerichte jeweils nur den konkreten Einzelfall und nur mit Wirkung für diesen judizieren. Dem haben nun Nüseut und - zurückhaltender Nowakowskim entgegengehalten, diese vereinzelten Vorschriften, in denen eine Bindung des Staatsanwalts an gerichtliche Entscheidungen vorgesehen sei, bildeten nur zusätzliche gesetzliche Festlegungen eines allgemein geltenden Bindungsgrundsatzes. Ganz abgesehen davon, daß auch die §§ 175, 208 StPO nur eine Bindung im Einzelfall statuieren, enthielte aber doch diese These dann eine petitio principii, wenn es nicht gelingt, diesen angeblich vorgegebenen allgemein geltenden Bindungsgrundsatz anderweitig abzuleiten. Das ist - abgesehen von den schon eingangs behandelten verfassungsrechtlichen Stützungsversuchen - auf zweierlei Weise versucht worden: So hat Nüsem aus den Vorschriften der §§ 120, 121 und 136 G V G abgeleitet, die Staatsanwaltschaft dürfe sich ebensowenig wie die von diesen Vorlagepflichten betroffenen Gerichte über eine ihrer Rechtsauffassung zuwiderlaufende Rechtsprechung hinwegsetzen. Dieser Schluß erscheint mir nicht gangbar. Zunächst einmal bedeuten die §§ 120, 121, 136 G V G - wie Sarstedt124 treffend dargelegt hat - gar keine eigentliche Bindung an Präjudizien, sondern zeigen gerade einen Weg, auf dem selbst von wichtiger - und wie ich hinzufüge, gefestigter - Judikatur abgewichen werden kann. Sodann aber machen diese nur an einige Gerichte adressierten Vorschriften deutlich, daß das Gesetz den Gedanken der Rechtseinheit nur in einem fast erstaunlich eingeschränkten Umfang verwirklicht, ihn im übrigen aber zurücktreten läßt. Und schließlich richten sich diese Vorschriften nur an Gerichte·, das aber steht
" ' Vgl. Vgl. 121 Vgl. 122 Vgl. 123 Vgl. 124 Vgl. 120
Eb.Schmidt in MDR 1961, 271. Sarstedt in NJW 1964, 1756. Nüse in JR 1964, 283. Nowakowski, Gutachten, S. 30. Nüse in JR 1964, 283. Sarstedt in NJW 1964, 1756.
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der Annahme entgegen, es entspreche dem Willen des Gesetzes, diese Vorschriften - wenn auch nur ihrem Grundgedanken nach - auch auf die Staatsanwaltschaft zu beziehen. Nowakowski125 hat dann auch die These von der Pflicht der [D75] Staatsanwaltschaft zur Respektierung gefestiger Rechtsprechung anders begründet, nämlich mit der Erwägung, daß die Tätigkeit und die Entschließungen des Staatsanwalts auf die Rechtsprechungsfunktion des Gerichts hingeordnet seien und der Entscheidungsaufgabe des Gerichts dienen sollten; Thesen, die ungefähr dem entsprechen, was auch Herr Kollege Schwalm vorgetragen hat. Nun trifft dies gewiß schon für den Bereich der Einstellung des Verfahrens nicht zu, von der nach den Justizstatistiken immerhin 75 bis 80 % der Ermittlungsverfahren betroffen werden.126 Es ist jedoch auch für den übrigen Bereich der staatsanwaltschaftlichen Tätigkeit, insbesondere für die Anklagefunktion, nur eine zwar ungemein anschauliche, jedoch des selbständigen rechtlichen Gehalts entbehrende Formulierung. Jedenfalls beweist sie nicht eine Abhängigkeit der Staatsanwaltschaft von der gefestigten Rechtsauffassung der Gerichte, denn - wie Eberhard Schmidt gezeigt hat und wie hier nicht wiederholt werden soll - sprechen die vom Grundgesetz zumindest tolerierte Funktionsverteilung zwischen Gericht und Staatsanwaltschaft, die in § 150 GVG ausgedrückte Unabhängigkeit der staatsanwaltschaftlichen Amtshandlungen und die anderen früher erörterten Umstände dafür, daß der Staatsanwalt die ihm gesetzlich übertragenen Aufgaben selbständig und eigenverantwortlich sowie - abgesehen von den §§ 175 und 208 StPO - frei von Bindungen an die Gerichte ausübt. Spricht aber der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Normen für diese Selbständigkeit des Staatsanwalts, dann kann die aus eben diesem Gesamtzusammenhang abgeleitete Formel von der „Hinordnung des Staatsanwalts auf die Gerichte" nur ein anderes Wort für Zusammenarbeit, nicht aber für Unterordnung sein. Alle diese Überlegungen führen nach meiner Ansicht bereits dazu, eine über die vereinzelten positiven Verfahrensnormen hinausgehende Bindung des Staatsanwalts an selbst gefestigte Rechtsprechung zu verneinen, soweit nicht inzwischen Gewohnheitsrecht entstanden ist. Dann aber bleibt es bei dem, was Eberhard Schmidt in seinen Arbeiten über die Rechtstellung der Staatsanwaltschaft127 eindrucksvoll über ihr Wesen gesagt hat: Die Staatsanwaltschaft ist als Rechtspflegeorgan mit der unbedingten Intention auf Wahrheit und Gerechtigkeit nur vorstell125
Vgl. Nowakowski, Gutachten, S. 17 et passim. Vgl. Peters, Strafprozeß, 1952, S. 139, 360; Kohlbaas, Die Stellung der Staatsanwaltschaft als Teil der rechtsprechenden Gewalt, 1963, S. 19. 127 Vgl. insbes. Eb.Schmidt in M D R 1964, 629ff u. 713ff sowie in M D R 1961, 269ff. 126
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bar, wenn sie selbständig und eigenverantwortlich die Wahrheit und das Recht sucht. Sie steht im gleichen Verpflichtungsverhältnis zu Wahrheit und Gerechtigkeit wie das Gericht. Wo Entschließungen des Staatsanwalts voraussetzen, [D76] daß sie aus rechtlicher Uberzeugung zu treffen sind, muß er sie vor seiner Rechtsüberzeugung verantworten können. Diese verantwortliche Entscheidung kann dem Staatsanwalt wie Justizminister Leverenz einmal gesagt hat128 - niemand abnehmen, denn Uberzeugung kann nicht befohlen werden. Hier zeigt sich, daß die Bindungsthese das Wesen des Rechtspflegorgans Staatsanwaltschaft denaturiert: Sie macht aus der Helferin des Gerichts die Dienerin. 12 ' Sie setzt an die Stelle des gleichgeordneten Nebeneinander die Subordination. Sie beraubt die Staatsanwaltschaft der echten gestaltenden Teilhabe an der Justizgewährung.130 Sie macht die Staatsanwaltschaft zur unselbständigen Erfüllungsgehilfin der Gerichte in einem Verfahrensteil, der nach dem System des Gesetzes den Gerichten noch verschlossen ist. Hier zeigt sich, daß an Savignys Wort vom Staatsanwalt als dem „Wächter des Gesetzes" doch mehr Wahres ist als der modische Trend wahrhaben will: Es ist der treffliche Ausdruck der eigenverantwortlichen, selbständigen Hinordnung des Staatsanwalts auf Gesetz und Recht, nicht auf die Gerichte. Freilich ist es die unausweichliche Konsequenz dieser Ansicht, daß es zu Meinungsverschiedenheiten über die Rechtsauslegung zwischen der Rechtsprechung und der Auffassung der Staatsanwaltschaft kommen kann. Aber solche Meinungsverschiedenheiten, die es weit öfter zwischen den Gerichten selbst geben wird, sind von einer Rechtsordnung hingenommen, die die Aufgaben der Justizgewährung zwischen selbständige, unabhängige Justizorgane aufteilt131 und dabei die Vorschriften über die Wahrung der Rechtseinheit so betont einschränkt, wie dies in den §§120 ff G V G geschehen ist. Billigt unser Rechtssystem aber der Staatsanwaltschaft solchenfalls die eigenverantwortliche Entschließung zu, dann ist es - wie Eberhard Schmidt132 und Sarstedt133 so trefflich gesagt haben - keine Durchbrechung des Legalitätsprinzips durch Ermessen der Anklagebehörde, sondern dann ist dies und nur dies der Legalitätsgrundsatz: die von der eigenen Rechtsüberzeugung gebotene Handhabung des Verfolgungszwangs. Mir scheint, dies und nur dies macht Wesen, Würde und Bürde der Staatsanwaltschaft aus.
128 129 130 131 132 133
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
JM Leverenz in SchlHAnz. 1961, 37 = in DRiZ 1961, 102. dazu BJM Stammberger in Bulletin Nr. 63 vom 31. März 1962, S.526. Eb.Schmidt in M D R 1961, 271. Eb. Schmidt in M D R 1964, 718. Eb. Schmidt in M D R 1961, 272. Sarstedt in N J W 1964, 1757.
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Auch so werden weiterhin die Entschließungen unserer Gerichte dank der Uberzeugungskraft134 ihrer Gründe wie seit alters her jenen bestimmenden Einfluß ausüben, der ihnen zukommt. Für die Dame Justitia wird dies besser sein, als wenn man statt des inneren [D 77] Gewichts ihrer Aussprüche den äußerlichen Zwang zum Maß der Dinge setzen wollte. Und so ganz nebenher ist es zutiefst tröstlich, daß doch nicht das Mißtrauen gegen die Staatsanwaltschaft das beherrschende Ordnungsprinzip im rechtlichen Verhältnis zwischen den beiden Justizorganen ist. Ich bin mir bewußt, daß ich in diesem Diskussionsbeitrag die These von der Bindung der Staatsanwaltschaft an die Rechtsprechung ohne die Kompromisse und ohne die Einschränkungen abgelehnt habe, die ich noch vor einigen Jahren selbst für richtig hielt135 und auf die Herr Schwalm mit Recht hingewiesen hat. Aber die Einwände von Eberhard Schmidt136 und von Sarstedt137 haben mich von der mangelnden Folgerichtigkeit meiner damaligen Vorbehalte überzeugt.
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Vgl. Sarstedt in NJW 1964, 1756. In GA 1957, 193 ff, 211 ff. Vgl. Eb. Schmidt in MDR 1961, 273. Vgl. Sarstedt in NJW 1964, 1758.
Lockerung des Verfolgungszwanges bei Staatsschutzdelikten ?* + Ein Thema wie dieses muß sicherlich zunächst aus dem Bereich der Emotionen, der Vorurteile und der vorgefaßten Meinungen herausgehoben werden. Denn seltsamerweise gehört es zu den Eigentümlichkeiten der deutschen juristischen Diskussion, daß der damit angeschnittene Fragenkreis sogleich auf eine Fülle von Sentiments und Ressentiments stößt. So ist gerade die jüngste Vergangenheit reich an Stimmen, die geradezu beschwörend das schwere Geschütz der Verfassung, die besten Werte der deutschen Rechtstradition und das Schreckgespenst unheilvoller Justizkrisen gegen ein frevlerisches Handanlegen an den geradezu als sakrosankt empfundenen Verfolgungszwang aufbieten. Deshalb seien sogleich die rechten Maße abgesteckt: Niemand erwägt auch nur, anstelle des Legalitätsprinzips ein schrankenloses Opportunitätsprinzip - sei es allgemein, sei es für den Bereich der Staatsschutzdelikte - bei uns einzuführen. Es geht lediglich um die Frage, ob die geltenden Ausnahmen des Verfolgungszwanges - wie im einzelnen noch darzulegen sein wird - aus bestimmten Gründen und in bestimmter Weise vermehrt werden sollen. Dann aber zeigt sich vorab, daß unser Thema von den oft recht pathetischen Argumenten, die gegen eine völlige Beseitigung des Legalitätsprinzips vorgebracht werden, unangefochten bleibt. So etwa, wenn man liest, eine nicht erhobene Anklage sei als Schaden an der Gerechtigkeit vielfach unwiederbringlich1; denn sicherlich verletzt es nicht die Gerechtigkeit, wenn das Absehen von der Verfolgung kraft der vom Gesetzgeber selbst generell normierten Ausnahmen und nicht etwa kraft freien Ermessens des Staatanwalts geschieht. Dann verliert auch das Argument seine Wirkung, der Verfolgungszwang sei eine gewichtige Folge aus dem Gebot gleichmäßiger Anwendung der Gesetze auf alle2; denn gewiß kann und wird der Gesetzgeber die Voraussetzungen für ein * A u s : Juristenzeitung 1964, S. 569-576. + Geringfügig gekürzter und durch Anmerkungen erweiterter Vortrag, den der Verfasser auf Einladung des Rektors und des Dekans der Juristischen Fakultät der Freien Universität Berlin dort im Juni 1964 gehalten hat. 1 So Wagner ZStrW 75, 409, unter Hinweis auf Brüggemann, Die rechtsprechende Gewalt, S. 164. 2 Willms, Staatsschutz im Geiste der Verfassung, S. 16, 33 ff; Wagner ZStrW 75, 408 ff mit Nachw.
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Absehen von der Verfolgung rechtsstaatlich einwandfrei reglementieren. Und wenn gar - ersichtlich inspiriert von der These, der Verfolgungszwang sei ein unabdingbares Grundprinzip demokratischer Rechtsstaatlichkeit3 - in der öffentlichen Diskussion der jüngsten Zeit von der Gefahr einer Isolierung der Bundesrepublik im Konzert der westlichen Mächte gesprochen wurde, wie ernüchternd muß dann die verdienstvolle Arbeit von Sax „Zum Verfahren in Staatsschutzsachen im Ausland" 4 gewirkt haben, in der die hierzulande viel zu wenig bekannte Tatsache ins Gedächtnis gerufen wird, daß im Kreise der westlichen Kulturstaaten nur Osterreich und die Türkei ein uneingeschränktes Legalitätsprinzip in Staatsschutzsachen kennen und daß in einer ganzen Reihe bewährter Demokratien ganz allgemein das Opportunitätsprinzip für die Verfolgung aller Straftaten gilt. Wie wenig steht es uns doch an, alten bewährten Demokratien die Rechtsstaatlichkeit absprechen zu wollen, weil sie die Strafverfolgung nach anderen Prinzipien als wir geregelt haben5; und wie unrichtig ist es doch - trotz aller Verschiedenheit der Ausgestaltung im Detail - angesichts dieser prinzipiellen Ubereinstimmung vieler ausländischer Rechtssysteme, wenn beispielsweise die schweizerische Regelung als ein „Überbleibsel aus dem vorigen Jahrhundert"' und als ein „patriarchalisches Relikt" 7 apostrophiert wurde. Und vielleicht sollte bei allen diesen Überlegungen auch nicht ganz unberücksichtigt bleiben, was Giide8 mit der Erfahrung seines früheren Amtes und mit dem Freimut innerer Unabhängigkeit bekannt hat: daß nämlich eine völlig gleichmäßige Anwendung des Legalitätsprinzips in Staatsschutzsachen außerordentlich schwierig und daß daher die gegenwärtige Handhabung des Legalitätsprinzips in diesem Bereich nicht befriedigend sei, weil sie ein starkes Element von Unberechenbarkeit und Ungleichmäßigkeit enthalte. Für unser Problem wäre schon viel gewonnen, wenn die Eiferer aus diesen Worten wenigstens die Einsicht schöpfen wollten, daß die Bedeutung auch altehrwürdiger Prinzipien durchaus überschätzt werden kann9. Und noch etwas gilt es vorauszuschicken, um Mißverständnisse zu verhüten: Niemand hat nach Gründen für eine Lockerung des Verfolgungszwanges gesucht; sie haben sich gebieterisch und in zunehmendem Maße So neuestens Willms aaO S. 35. J Z 64, 41 ff. 5 Treffend dazu Güde M D R 58, 285. 6 Willms aaO S.47. 7 Wagner aaO S.403. 8 Probleme des politischen Strafrechts, S. 23. ' Vgl. dazu MdB Busse, Bedrängte Strafjustiz, in fdk - freie demokratische korrespond e n z - 15/45 v. 5.6.1964. 3 4
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aufgedrängt: Eine Reihe von Vorgängen der letzten Jahre hat nämlich die Ungereimtheiten und die Schwierigkeiten deutlich gemacht, die sich aus dem uneingeschränkten Legalitätsprinzip im Bereich des strafrechtlichen Staatsschutzes ergeben können und ergeben haben. So haben manche Strafverfahren in bedrückender Weise gezeigt, daß es in gewissen Fällen von Staatsschutzdelikten einfach nicht opportun ist, zu verfolgen und zu strafen. Ich denke dabei etwa an den Fall der „Zentralen Arbeitsgemeinschaft: Frohe Ferien für alle Kinder", in dem nach jahrelanger Untätigkeit der Exekutive plötzlich die Strafjustiz vor der Notwendigkeit eines Einschreitens stand; oder etwa an den Braunschweiger Fall der sechs FDJ-Vertreter, in dem offensichtlich irregeleitete junge Idealisten von den Machthabern der SBZ in die Rolle von „Märtyrern" getrieben werden sollten - zwei Beispiele, die für manche andere stehen mögen. Und weiter: Wie oft ist von wohlmeinender Seite angeregt worden, von der Verfolgung eines - vielleicht recht unwichtigen - Emissärs der SBZ abzusehen, um-die Freilassung von Bürgern der [570] Bundesrepublik zu erreichen, die in der SBZ in rechtsstaatswidriger Weise verfolgt und verurteilt worden sind. Solche Anregungen mußten jedoch - von besonders gelagerten Einzelfällen abgesehen - regelmäßig am Fehlen einer gesetzlichen Möglichkeit zur Einstellung des Verfahrens scheitern. Ich bitte mir zu glauben, daß infolgedessen Fälle von großer menschlicher Tragik ungelöst bleiben mußten. Und schließlich haben einige Strafverfahren der letzten Zeit die Gefahr von Repressalien durch die östlichen Machthaber, insbesondere der SBZ, hervorgerufen; diese aus dem Legalitätsprinzip in Staatsschutzsachen fließenden politischen - insbesondere gesamtdeutschen - Schwierigkeiten näher darzulegen, ist gewiß entbehrlich. Daß sich Fälle der geschilderten Problemgruppen täglich wiederholen können, ist sicher. Freilich genügt es nicht, die aus der kompromißlosen Anwendung des Legalitätsprinzips in Staatsschutzsachen resultierenden Schwierigkeiten zu nennen; man muß sich - will man an eine abhelfende Regelung herangehen - auch über ihre Gründe klar werden: Einer dieser Gründe liegt darin, daß die SBZ nach ganz unangefochtener Rechtsprechung für die Strafrechtsanwendung Inland darstellt10, was zur Folge hat, daß der Verfolgungszwang auch für Taten gilt, die in der SBZ begangen sind. Naturgemäß kann an dem Prinzip, daß die SBZ als Inland gilt, schon aus politischen, aber auch aus rechtlichen Gründen nicht gerüttelt werden. Es lag daher nahe zu überlegen, ob nicht der Verfolgungszwang für in der SBZ begangene Taten gelockert werden könne und solle.
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Vgl. z.B. BVerfGE 1, 332, 341 = JZ 52, 589, 590; BGHSt 5, 321; 7, 55; 8, 170.
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Damit wäre aber das Problem nicht gelöst. Vielmehr liegt ein weiterer Grund für die entstandenen Spannungen in der Auslegung, die §3 III StGB in der Rechtsprechung gefunden hat. Nach dieser Vorschrift, die nach einmütiger Ansicht nicht nur im internationalen, sondern zumindest sinngemäß auch im interlokalen Strafrecht gilt", ist eine Tat auch an dem Ort begangen, an dem der Erfolg eingetreten ist oder eintreten sollte. Dazu pflegt man in den Erläuterungsbüchern zu lesen, Erfolg i. S. dieser Vorschrift sei jede „tatbestandliche Folge" der Handlung, möge sie Verletzung oder Gefährdung sein; bei Gefährdungsdelikten sei die Tat daher auch dort begangen, wo die Gefahr eintrete12. Nun sind aber manche Staatsschutzdelikte - namentlich im Bereich der Staatsgefährdung - abstrakte Gefährdungsdelikte; bei ihnen kann eine durch sie hervorgerufene Gefahr für das geschützte Rechtsgut gewiß nicht mehr als „tatbestandliche" Deliktsfolge bezeichnet werden13. Man sollte daher annehmen, daß das in § 3 III StGB verankerte Prinzip bei diesen abstrakten Gefährdungsdelikten die Abgrenzungsfunktion der Rechtsanwendungsbereichsregeln zur Geltung gebracht hätte. Die Rechtsprechung ist jedoch andere Wege gegangen: Sie hat im Bereich der Agitation und Infiltration den Begriff des „Hineinwirkens in die Bundesrepublik" entwickelt14 und hat dieses „Hineinwirken" immer weniger als unmittelbare Auswirkung auf die Bundesrepublik verstanden, sondern es zunehmend abstrahiert. Damit entfernte sich die Rechtsprechung - wie ohne weiteres ersichtlich ist - in einem doppelten Sinne vom Begriff des „tatbestandlichen Erfolges" und verwendete ein die Regel des §3111 StGB eindeutig erweiterndes Anknüpfungsmerkmal15. Es liegt auf der Hand, daß infolgedessen zahlreiche Staatsschutzdelikte, die im klassischen Sinne des § 3 III StGB nur in der SBZ begangen gewesen wären, zugleich als in der Bundesrepublik selbst begangen gelten mußten. Aus dieser Erweiterung der Regeln des interlokalen Rechts ergibt sich zugleich, daß es zur Lösung unseres Problems nicht genügen könnte, den Verfolgungszwang für in der SBZ begangene Taten zu lockern. Daß eine solche Lösung ganz unvollkommen wäre, zeigt auch eine weitere, hier einschlägige Erscheinung in der Rechtsprechung: Seitdem der Bundesgerichtshof in einem Urteil vom 23.1.195716 die These aufgestellt hatte, tatbestandsmäßige Wühlarbeit gegen die Bundesrepublik sei strafbar, „wo auch immer" („gleichgültig von wo aus") sie begangen sei,
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Vgl. statt vieler: Schönke-Schröder, 11. Aufl. 1963, Rdz. 19 vor §3 StGB. Vgl. ζ. B. Schönke-Schröder, Rdz. 9 zu § 3 StGB mit Nachw. Vgl. zu diesem Begriff neuerdings: Schultz SchweizJZ 64, 84-85. Vgl. Ruhrmann ZStrW 72, 124 ff. Vgl. Schwarz-Dreher, 26. Aufl. 1964, Vorbem. 5 Β a. E. vor §3 StGB. 6 StR 75/56; vgl. dazu Ruhrmann ZstrW 72, 143-144.
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herrschte praktisch in manchen Bereichen der Staatsgefährdung sogar das ansonsten nur in gewissen Fällen des § 4 III StGB geltende Schutzprinzip17, bei dem der Tatort nun gar keine Rolle mehr spielt. Alle diese Spannungen mußten sich verstärken, als die Rechtsprechung sogar vom Tatbestand her eine Ausdehnung der Organisationsdeliktsnormen auf in der SBZ belegene Organisationen vornahm18, obwohl die Entstehungsgeschichte und die Anlehnung des § 90 a StGB und der §§ 42, 47 BVerfGG an die Art. 9 II und 21 II G G ihre Beschränkung auf den Geltungsbereich des Grundgesetzes nahegelegt hätten. Freilich ist dieses Problem vom Gesetzgeber in dem neuen Vereinsgesetz und durch die damit verbundene Novellierung der Organisationsdeliktsnormen bereinigt worden". Verbote von Vereinen, die ihren Sitz außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs des Gesetzes, aber Teilorganisationen innerhalb dieses Bereichs haben, erstrecken sich danach nur auf die Teilorganisationen innerhalb dieses Bereichs20; der neue § 90 b StGB pönalisiert nur die Zuwiderhandlungen gegen ein vorangegangenes förmliches Vereinsverbot und kann daher nicht weiter gehen als dieses Verbot selbst. Nichts anderes gilt für den die §§42, 47 BVerfGG ablösenden neuen §90 a StGB21. Es wird auch künftig nicht mehr möglich sein, diese Schranken mit Hilfe der in der Rechtsprechung entwickelten „Gesamtorganisation" 22 zu überspielen, die mit dem materiellen Kriterium der sog. „Westarbeit" und mit dem formellen Merkmal der „Steuerung durch die SED" aus vielen Organisationen hüben und drüben eine Vereinigung i. S. des § 90 a StGB (a. F.) und eine Ersatzorganisation i. S. des § 46 III BVerfGG machen wollte; denn - abgesehen von der soeben erwähnten räumlichen Begrenzung der Verbotswirkung - ist ferner klargestellt worden, daß sich der Vereinsbegriff nur auf echte Teilorganisationen erstreckt, das heißt nur auf solche Organisationen, die dem Verein derart eingegliedert sind, daß sie nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse als Gliederung dieses Vereins erscheinen23. Damit ist freilich nur eine Schwierigkeit ausgeräumt; es bleiben die anderen geschilderten Probleme, die die entstandenen und auch künftig 17
Vgl. Schwarz-Dreher, Vorbem. 5 Β a. E. vor §3 StGB. Vgl. statt vieler: BGHSt 15, 167 ff; dazu Ruhrmann ZStrW 72, 142 ff. " Gesetz zur Regelung des öffentlichen Vereinsrechts (VereinsG) vom 5.8.1964 (BGBl. I S. 593); vgl. insbes. auch BT-Drucks. IV/2145 (neu) und BRats-Drucks. 260/64. 20 § 18 VereinsG. 21 Vgl. insbes. S.7 der BT-Drucks. IV/2145 (neu), Abschnitt „Zur Einfügung eines §90c StGB". - Nach §28 des neuen VereinsG wird §42 BVerfGG aufgehoben; in §47 BVerfGG wird die Verweisung auf § 42 aaO gestrichen, so daß § 47 aaO keine Strafnorm mehr enthält. 22 BGHSt 15, 167 ff; kritisch dazu Seifert DÖV 62, 408 ff. 25 §3111 VereinsG. ,s
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noch möglichen politischen Spannungen und Gefahren hinreichend erklären. Sie werden durch die weite Auslegung, die manche Strafvorschriften des Staatsschutzrechts (ζ. B. die §§ 90 a, 92, 100 e StGB und die §§ 42, 47 BVerfGG) in der Rechtsprechung gefunden haben, sowie vor allem durch die Härte, mit der das Legalitätsprinzip ausgedeutet wird, wahrlich nicht leichter. So etwa, wenn der BGH die mit Recht von der Mehrheit der Autoren abgelehnte These von der Bindung des Staatsanwalts an feste höchstrichterliche Rechtsprechung aufstellte24 - eine „Diktatur des Präjudizes" 25 , [571] die den Staatsanwalt zwingen würde, entgegen seiner gewissenhaft gebildeten Uberzeugung z. B. einer Judikatur in Staatsschutzsachen zu folgen, die nach allgemeiner Ansicht der Rechtslehre rechtlich bedenklich und zu weit gegangen wäre. Oder wenn in der Literatur Hand in Hand damit die absonderliche These aufgestellt wurde, der Generalbundesanwalt sei zur Einstellung eines kraft seines Evokationsrechts 26 übernommenen Verfahrens nicht befugt27 - als ob es im deutschen Recht eine derart gespaltene staatsanwaltschaftliche Zuständigkeit minderen Rechts gäbe! Doch genug der Gründe, um die entstandenen Spannungen plausibel zu machen. Die durch manche Verfahren sichtbar gewordenen Schwierigkeiten haben den Ausschuß für gesamtdeutsche und Berliner Fragen des Deutschen Bundestages im Oktober 1963 zu der Bitte an den Bundesminister der Justiz bewogen, gesetzgeberische Vorschläge zu ihrer Behebung auszuarbeiten. Diese Arbeit begann im Bundesjustizministerium mit einer sorgfältigen Analyse der Frage, ob das gewünschte Ziel auf einem anderen Wege als durch eine Lockerung des Legalitätsprinzips erreicht werden könne. Das ist nach reiflicher Prüfung verneint worden. Ich darf die hierzu angestellten Erwägungen kurz aufzählen: Zunächst konnte nicht ernsthaft erwogen werden, die Regel des §3 III StGB zu ändern, denn sie ist ohne Frage im Bereich der allgemeinen Kriminalität unentbehrlich. Auch lagen die insoweit entstandenen
24 BGHSt 15, 155 = JZ 61, 330. - Ablehnend: Eb. Schmidt MDR 61, 269 ff; Göbel NJW 61, 856 ff; Arndt DRiZ 61, 374 und NJW 61, 1617; Pfenninger SchweizJZ 62,113 ff, 117; Jescheck, Pressefreiheit und militärisches Staatsgeheimnis, S. 32; Schwarz-Kleinknecht, 24. Aufl. 1963, Vorbem. 5 vor §141 StPO; Lüttger GA 1957, 193 ff, bes. S.211 ff mit zahlr. Nachw. aus älterer Zeit; vgl. auch Faller JZ 61, 478 ff, und Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, S. 81 ff. - Mit Einschränkungen zustimmend: Dünnebier JZ 61, 312 ff und Kohlhaas in Löwe-Rosenberg, 21. Aufl. 1962, Anm. 5 zu §170 StPO, der sich für seine Ansicht unverständlicherweise auf Eb. Schmidt aaO beruft. - Ohne nähere Begründung zustimmend: Schultz MDR 61, 108 ff; Woesner NJW 61, 535; Leverenz DRiZ 61, 101 ff = SchlHAnz. 61, 36 ff. 25 Schneider MDR 62, 524. 26 §74 a II GVG. 27 So Willms aaO S.46.
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Schwierigkeiten ja - wie ich dargelegt habe - nicht in der Fassung des Gesetzes, sondern in der dazu für den speziellen Bereich der Staatsschutzdelikte ergangenen Judikatur begründet. Der Rat, die Tatbestände des Staatsschutzstrafrechts enger zu gestalten, war leicht gegeben, aber ebenfalls kein Heilmittel. Wer die Problematik nur ein wenig überschaut, weiß, daß dazu eine umfassende Novellierung sehr vieler Strafnormen nötig wäre, wie es der Entwurf eines Strafgesetzbuchs - E1962 - in mancher Hinsicht versucht. Mit einer solchen Vorwegnahme einer derart umfangreichen Teilreform wäre aber der Sonderausschuß „Strafrecht" des Deutschen Bundestages überfordert; der Zeitplan für die Große Strafrechtsreform wäre zunichte gemacht. Auch könnte eine solche Teilreform - selbst wenn sie helfen könnte - erst auf lange Sicht verwirklicht werden; nötig ist jedoch eine schnelle Lösung. Überdies täusche man sich nicht darüber, um wieviel schwieriger es ist, im Bereich der Staatsschutzdelikte eine Tatbestandsbestimmtheit zu erreichen, wie sie bei anderen Strafvorschriften - z. B. im Bereich der Vermögensdelikte - längst erzielt ist; man verkenne auch nicht, wie schwierig es bei der besonderen Affinität zwischen dem Staatsschutzstrafrecht und dem Verfassungsrecht ist, die richtigen Grenzlinien zwischen Freiheit und Einschränkung zu finden; und man verkenne auf keinen Fall, wie viel selbst bei optimaler Fassung der gesetzlichen Tatbestände von einer besonnenen Auslegung durch die Gerichte abhängt, denen es dabei ebenfalls obliegt, das rechte Maß zwischen dem nötigen Schutz unseres Staates und der Freiheit des Bürgers zu finden und die „Schutzfunktion des Tatbestandsstrafrechts" transparent zu machen28. Entscheidend aber ist, daß eine solche Vorwegreform des Staatsschutzstrafrechts die Konfliktsfälle nur zahlenmäßig verringern, nicht aber gänzlich ausschalten könnte; denn diese Konfliktsfälle resultieren ja nur zu einem Teil aus der weiten Fassung oder der weiten Auslegung der Straftatbestände. Das glaube ich eingangs deutlich gemacht zu haben. Auf gar keinen Fall sollte erwogen werden, die Staatsschutzdelikte allgemein als Ermächtigungsdelikte auszugestalten. Eine solche Regelung, die im geltenden Recht bei den §§ 95, 97,100 c II StGB ihren guten Sinn hat, würde bei konsequenter, breiter Ausdehnung auf alle oder doch die meisten Staatsschutzdelikte mehr als jede andere Lösung zu einer Politisierung der Strafjustiz in diesem Bereich führen können29. Dann würden nämlich nicht Organe der Justiz nach gesetzlich festgeleg28 Vgl. Güde, Probleme des politischen Strafrechts. S. 12, 19ff, 25; Giide in Bulletin Nr.204 vom· 28.10.1961, 1915ff; Heinitz, Staatsschutz und Grundrechte, 1953, S.26 et passim. 29 Vgl. Wagner ZStrW 75, 406.
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ten Kautelen, sondern Regierungsstellen nach freiem Ermessen über die Verfolgung oder Nichtverfolgung entscheiden, denn die Entschließungen über die Erteilung der Verfolgungsermächtigung sind - im Gegensatz zu den Ausnahmen vom Legalitätsprinzip - traditionell nicht an bestimmte gesetzliche Voraussetzungen gebunden, sondern in das Ermessen der zuständigen Regierungsstelle gegeben. Dies mag - wie Sax30 gezeigt hat - in manchen westlichen Staaten seit altersher und gewiß auch ohne Mißstände praktiziert worden sein; unseren - aus den Erlebnissen der Vergangenheit geprägten - Vorstellungen entspricht dies gewiß nicht, mag auch niemand solchenfalls für die nächste Zukunft flagrante Verletzungen der Gleichheit aller vor dem Gesetz befürchten wollen. Im übrigen wäre eine solche Lösung aber auch nicht praktikabel; denn sie würde bedeuten, daß alle einschlägigen Fälle - und deren sind nach der Statistik nicht wenige - der über die Erteilung der Ermächtigung entscheidenden Stelle vorgelegt werden müßten, bevor die Strafverfolgung durchgeführt werden könnte. Das schießt weit über das Ziel hinaus, bei dem es ja nur um ein Absehen von der Verfolgung in bestimmten, noch näher darzulegenden Einzelfällen geht, in denen begründeter Anlaß zur Prüfung der Einstellungsvoraussetzungen besteht. Eine Blockierung ganzer Bereiche der Strafjustiz wäre die Folge. Außer diesen materiell-rechtlichen Lösungen sind auch einige prozeßrechtliche Lösungen erwogen und verworfen worden: So lag es nahe zu überlegen, ob $154 b III StPO in unmittelbarer oder entsprechender Anwendung eine Lösung ermögliche. Nach dieser Vorschrift kann von der Erhebung der öffentlichen Klage abgesehen werden, wenn der Beschuldigte aus dem Geltungsbereich des Gesetzes ausgewiesen wird. Da § 154 b III StPO nur die strafprozessualen Konsequenzen aus einer Ausweisung, nicht aber deren Voraussetzungen regelt, setzt eine unmittelbare Anwendung des § 1 5 4 b i l l StPO das Vorhandensein und die Anwendung von öffentlich-rechtlichen Vorschriften über eine Ausweisung voraus; ebenso könnte eine analoge Anwendung des § 154 b III StPO nur insoweit in Frage kommen, als öffentlich-rechtliche Vorschriften über eine - der Ausweisung vergleichbare - Abschiebung o. dgl. Platz greifen. Beides scheidet gegenüber Deutschen - wozu auch die in der SBZ beheimateten Deutschen gehören31 - nach geltendem Recht aus, wenn ich Berliner Sondervorschriften - wie etwa das Gesetz Nr. 8 der Alliierten Kommandantur Berlin32 außer Betracht lassen darf. Daß es Normen über eine „Ausweisung" von 30 31 32
JZ 64, 44 ff. BVerfGE 2, 266 ff = J Z 53, 459 mit Anrn. v.Dürig. Vgl. VOB1. für Groß-Berlin 1950, I, S. 165 ff.
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Deutschen nicht gibt, zeigt ein Blick auf die Ausländerpolizei VO 3 3 ; daran wird auch das sie demnächst ersetzende Ausländergesetz34 nichts ändern. Es fehlt aber auch an Vorschriften über eine „Abschiebung" von Deutschen aus dem Bundesgebiet. Eine solche Abschiebung könnte zunächst nicht auf die länderpolizeilichen Vorschriften über den sogenannten Platzverweis und das Abschieben von Gemeinde zu Gemeinde gestützt werden, da diese Vorschriften ein Abschieben aus dem Bundesgebiet nicht rechtfertigen. Denn die Freizügigkeit gehört zur ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes35; die Länder haben die Befugnis zur Gesetzgebung nur, wenn und soweit sie hierzu in einem Bundesgesetz ausdrücklich ermächtigt sind36. Zwar mögen die Länder nach § 31 des G über die Freizügigkeit37 [572] zu gewissen polizeirechtlichen Beschränkungen der innerterritorialen Freizügigkeit ermächtigt sein38; eine gültige Ermächtigung der Länder zum Erlaß von Rechtsvorschriften über eine gänzliche Abschiebung von Deutschen aus dem Bundesgebiet besteht jedenfalls nicht 3 '. Aus diesen Gründen kann eine Abschiebung von Deutschen aus dem Bundesgebiet auch nicht auf die allgemeine Generalklausel des Länderpolizeirechts gestützt werden, wobei hinzukommt, daß das Grundrecht der Freizügigkeit in diesem Sinne gewiß „polizeifest" ist40 und daß die polizeiliche Generalklausel der für eine gesetzliche Einschränkung der Freizügigkeit nötigen Konkretisierung ermangelt. Auch der neuerlich angestellte Versuch, die Abschiebung von agitierenden Zonenfunktionären als Vollstreckungsmaßnahme auf Grund des KPD-Verbotsurteils des Bundesverfassungsgerichts auszulegen, ist untauglich. Denn einmal ist das BVerfGG weder im formellen Sinn des Art. 1 9 1 G G noch im materiellen Sinn des Art. 11 II G G ein die Freizügigkeit einschränkendes Gesetz, da es weder das Grundrecht des Art. I I I G G förmlich als eingeschränkt bezeichnet noch sachlich auf eine Beschränkung der Freizügigkeit abzielt und nicht an die in Art. 11 II G G aufgeführten Einschränkungsgründe anknüpft. Das Verbotsurteil kann ebenfalls nicht als Grundlage für eine Abschiebung in Betracht V. 2 2 . 8 . 1 9 3 8 - RGBl. I S. 1053. Vgl. BT-Drucks. IV/868. 35 Art. 73 Nr. 3 GG. 36 Art. 71 GG. 37 V. 1 . 1 1 . 1 8 6 7 - R G B l . S.55-. 38 So Maunz-Därig, Rdz. 56 und 72 zu Art. 11 GG und Rdz. 10 zu Art. 71 GG; v. Mangoldt-Klein, 2. Aufl., Anm. IV3 zu Art. 11 GG; a. A. Wernicke in Bonner Kommentar, Anm. I I 2 a zu Art. 11 G G ; Drews-Wacke, Allgemeines Polizeirecht, 7. Aufl. 1961, S.141. 39 Vgl. dazu Maunz-Dürig, Rdz. 73 zu Art. 11 GG, wo sogar verneint ist, daß § 3 II des G über die Freizügigkeit als Grundlage für ein Abschieben von Bundesland zu Bundesland dienen könnte. 40 So schon Anschütz, WRV, 14. Aufl. 1933, Anm.3 zu Art. I l l WRV. 33 54
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kommen. Denn es richtet sich, wie sein durch Art. 21 II G G und durch § 4 6 1 und III BVerfGG vorgezeichneter Tenor zeigt, ausschließlich gegen den - jetzigen oder künftigen - organisatorischen Zusammenschluß der verfassungswidrigen Partei. Die der Exekutive übertragenen Vollstreckungsaufgaben dienen nur der Verwirklichung des verfassungsgerichtlichen Ausspruchs, z . B . in Gestalt der etwa notwendigen zwangsweisen Auflösung des organisatorischen Zusammenschlusses in persönlicher und sächlicher Beziehung, der Verhinderung eines neuen Zusammenschlusses und der Erfassung des eingezogenen Parteivermögens. Den persönlichen Zugriff auf einzelne Mitglieder oder Förderer der verbotenen Partei oder einer Ersatzorganisation sehen Gesetz und Urteil jedoch nicht vor; insoweit bewendet es bei den Strafvorschriften der §§ 42, 47 BVerfGG (künftig § 90 a - n. F. - StGB). Eine Ausdehnung der Vollstreckungsmaßnahmen auf - sonstige - freiheitsbeschränkende Maßnahmen der Exekutive gegen Einzelpersonen widerspäche mithin dem Zweck des Parteiverbotsverfahrens und überschritte die Wirkungsbreite des Verbotsurteils. Andere Rechtsquellen für eine Abschiebung von Deutschen aus dem Bundesgebiet sind nicht ersichtlich. Diese kurzen Andeutungen mögen genügen, um darzutun, daß auch keine Möglichkeit zu einer analogen Anwendung des § 154 b III StPO besteht. Diese Erkenntnis leitete über zu der Frage, ob es angezeigt wäre, eine solche - bisher fehlende - Rechtsnorm über die Abschiebung von Deutschen aus dem Bundesgebiet zu schaffen. Ein solcher Versuch ist indessen anläßlich der Einbringung des Entwurfs eines G über Einreise und Ausreise41 zunächst gescheitert, obgleich nicht wenige seinen Grundgedanken für begrüßenswert und für verwirklichungswürdig gehalten haben42. Ein solcher Versuch verspräche also wohl kaum Erfolg. Entscheidend aber ist, daß eine solche Abschiebungsnovelle nicht alle hier wichtigen Fälle lösen könnte. Denn Art. 11 II G G erlaubt in der hier interessierenden Alternative gesetzliche Einschränkungen der Freizügigkeit nur, „um strafbaren Handlungen vorzubeugen". Eine solche Novelle könnte also eine Abschiebung in folgenden zwei wichtigen Fallgruppen nicht ermöglichen: Einmal dann, wenn die strafbaren Handlungen schon in der SBZ - etwa im Rahmen der Zersetzungsarbeit gegen die Bundesrepublik - begangen sind und hier in der Bundesrepublik keine weiteren Straftaten drohen. Ferner dann, wenn eine Abschiebung nicht weiteren strafbaren Handlungen vorbeugen, sondern gerade eine Fortsetzung der Straftaten von der SBZ aus ermöglichen würde. Solche Fälle sind nicht selten. Mithin würde § 154 b III StPO auch bei Unterstellung einer Abschiebungsnovelle nur einen Teil der Fälle lösen. 41 Vgl. BT-Drucks. III/2372. "2 Vgl. Güde Bulletin Nr. 204 v. 28.10.1961, S. 1917-1918.
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Es ist daher auch vorgeschlagen worden, dem § 154 b StPO einen neuen Absatz einzufügen, demzufolge von der Erhebung der öffentlichen Klage auch dann abgesehen werden könne, wenn ein Beschuldigter den Geltungsbereich des Gesetzes freiwillig verlasse und nach den Umständen anzunehmen sei, daß er nicht zurückkehren werde43. Dabei sollte dieser Vorschlag auf solche Beschuldigte beschränkt bleiben, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Geltungsbereich des Gesetzes haben, aber nicht ausgewiesen werden können - eine Umschreibung für in der SBZ beheimatete Deutsche, denn Ausländer können unter den gesetzlichen Voraussetzungen ausgewiesen werden und fallen dann unmittelbar unter den geltenden § 154 b StPO. Bei diesem Vorschlag wurde es für möglich gehalten, die Regelung auf Fälle zu beschränken, in denen das Verfahren bestimmte, im Gesetz aufzuzählende Straftaten zum Gegenstand hätte und keine über ein bestimmtes Höchstmaß hinausgehende Freiheitsstrafe zu erwarten sei. Auch dieser Vorschlag hatte jedoch so offensichtliche Mängel, daß er sich nicht durchzusetzen vermochte. Denn einmal sollte es gewiß nicht in das Belieben des Beschuldigten gestellt werden, ob ein gegen ihn eingeleitetes Strafverfahren eingestellt werden kann oder durchgeführt werden muß44. Dann hätten nämlich letztlich die Machthaber der Zone es in der Hand, durch eine Weisung an den Beschuldigten, sich dem Verfahren zu stellen, „Märtyrer" zu schaffen; und sie könnten dies auch dann noch erreichen, wenn der Beschuldigte nach zunächst erfolgter Ausreise zurückkehren würde, da ihn mangels eines Aufenthaltsverbots niemand daran hindern könnte und da das Verfahren seinen Fortgang nehmen müßte45. Zum anderen aber müßte eine solche Erweiterung des § 154 b StPO auch versagen, wenn der Beschuldigte einen Doppelwohnsitz in der Bundesrepublik und in der Zone hat. Solche Fälle haben sich ebenfalls bereits ereignet. Alle diese Überlegungen zwangen zu anderweitigen Lösungsvorschlägen, die in Beratungen mit den beteiligten Bundesressorts, den Justizministern (-Senatoren) der Länder sowie Vertretern des Bundesgerichtshofs und der Bundesanwaltschaft wiederholt überarbeitet worden sind. Nachdem Einigkeit in den Grundzügen, wenn auch nicht in allen Einzelheiten bestand, sind diese Vorschläge auf Bitten des Ausschusses für gesamtdeutsche und Berliner Fragen am 5.5.1964 dem Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages als Formulierungshilfe des Bundesjustizministeriums im Rahmen der parlamentarischen Beratung des StPÄG 43 Möglicherweise wäre dann auch eine entsprechende Ergänzung des § 456 a StPO in Betracht zu ziehen. 44 Vgl. dazu Güde Bulletin Nr. 204 v. 28.10.1961, S. 1917. 45 Bei § 154 b StPO handelt es sich um eine vorläufige Einstellung des Verfahrens.
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unterbreitet worden 4 '. Diese Vorschläge bestehen aus zwei Teilen: einer Änderung des § 153 b StPO und einem neuen § 153 d StPO. Ich darf dies näher erläutern: Nach dem geltenden § 153 b Nr. 1 StPO kann die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung einer Tat absehen, die ein deutscher Staatsangehöriger im Ausland begangen hat. Die Formulierungshilfe des Bundesjustizministeriums lautet demgegenüber: „Die Staatsanwaltschaft kann von der Verfolgung einer Tat absehen, 1. die außerhalb des Geltungsbereichs dieses Bundesgesetzes begangen ist,...". [573] Der Vorschlag stellt also nicht mehr darauf ab, ob die Tat im Ausland begangen ist, sondern darauf, ob sie außerhalb des Geltungsbereichs des Gesetzes begangen ist. Damit ist - neben dem unverändert gemeinten Ausland - auch der räumliche Bereich der SB2 erfaßt. Die Formulierung lehnt sich dabei an zahlreiche gesetzliche Vorbilder an, in denen das Gebiet der SBZ ebenfalls durch die Worte „außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes" miterfaßt wird, wie z.B. die §§92, 100d, 100e StGB und viele andere. Dabei hat diese Formulierung den bewußt angestrebten Vorzug, zu vermeiden, daß eine nur für das Ausland geltende Norm auf die SBZ angewandt und so die SBZ als „Ausland" gelten würde; die SBZ gilt vielmehr - wie in allen anderen ebenso formulierten Vorschriften - weiterhin als Inland, das jedoch nicht zum räumlichen Geltungsbereich des Gesetzes zählt. Im übrigen ist die vorgeschlagene Neufassung ebenso wie der geltende § 153 b StPO nicht auf Staatsschutzdelikte beschränkt, sondern auf die gesamte Kriminalität bezogen47. Die Anwendung der Neufassung wäre jedoch nicht mehr wie der geltende § 153 b Nr. 1 StPO auf deutsche Staatsangehörige als Beschuldigte beschränkt, sondern würde auch für Ausländer gelten48. Infolgedessen bedurfte es auch eines Vorschlags für eine textliche Anpassung des § 153 b Nr. 2 StPO. Dieser erlaubt in der geltenden Fassung ja die Einstellung des Verfahrens u. a. wegen einer Tat, die ein Ausländer im Ausland begangen hat. Da diese Alternative der Nr. 2 schon von der vorgeschlagenen Neufassung der Nr. 1 erfaßt würde, ist ihre Streichung in Nr. 2 vorgeschlagen worden. Die vom Bundesjustizministerium vorgeschlagene Neufassung des § 153 b Nr. 1 StPO würde also den Verfolgungszwang für alle in der SBZ 46 Vgl. Stenogr. Protokoll über die 91. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages v. 5.5.1964, S. 6 ff, und Anlage dazu. 47 Die Anwendung des § 153 b StPO liegt nicht im freien, sondern im pflichtmäßigen Ermessen des Staatsanwalts; vgl. auch N r . 74, 194 RiStV. 48 Die Neufassung würde also auf die von Deutschen und von Ausländern im Ausland und in der SBZ begangenen Taten Anwendung finden.
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begangenen Taten lockern. Da jedoch - wie ich früher vortrug - bei vielen in der SBZ begangenen Staatsschutzdelikten zugleich ein Tatort in der Bundesrepublik angenommen wird, würde eine solche Änderung des § 153 b StPO längst nicht alle Fälle lösen. Freilich wäre ihre Wirkungsbreite größer, wenn die Rechtsprechung zur klassischen, engen Auslegung des § 3 III StGB zurückkehren würde; doch damit ist wohl vorerst nicht zu rechnen. Infolgedessen enthielt die Formulierungshilfe des Bundesjustizministeriums auch den Vorschlag, folgenden neuen § 153 d in die StPO einzufügen: „(1) H a t das Verfahren Straftaten 1. der Verbreitung hochverrätischer Schriften nach § 84 des Strafgesetzbuches, 2. der Staatsgefährdung nach den §§ 90 bis 93, 96, 96 a, 97 des Strafgesetzbuches, 3. der Agententätigkeit nach § 100 d Abs. 2, 3 des Strafgesetzbuches, 4. der Gefährdung der Landesverteidigung nach den §§ 109 d, 109 f des Strafgesetzbuches oder 5. der Beteiligung an verbotenen Vereinigungen, die politische Zwecke verfolgen, nach den § § 1 2 8 , 129 des Strafgesetzbuches, allein oder in Verbindung mit § 9 4 des Strafgesetzbuches, zum Gegenstand, so kann der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof von der Erhebung der öffentlichen Klage wegen einer solchen Tat absehen, wenn der Verfolgung überwiegende öffentliche Interessen entgegenstehen. (2) Ist die Klage bereits erhoben, so kann der Bundesgerichtshof mit Zustimmung des Generalbundesanwalts das Verfahren unter den in Absatz 1 bezeichneten Voraussetzungen einstellen."
An diesem Vorschlag bedürfen folgende drei Fragenkreise einer näheren Erläuterung: 1. die materiellen Voraussetzungen für die Einstellung des Verfahrens, 2. die Zuständigkeit zur Einstellung des Verfahrens und 3. der Katalog der Delikte, bei denen eine Einstellung des Verfahrens ermöglicht werden soll. Die materiellen Voraussetzungen für die Einstellung des Verfahrens sind mit der Klausel umschrieben, daß „der Verfolgung überwiegende öffentliche Interessen entgegenstehen". Diese Klausel war Gegenstand langer und gründlicher Überlegungen; denn sie mußte einerseits praktikabel sein und alle Fälle der eingangs erwähnten Schwierigkeiten decken, sollte aber andererseits möglichst präzise die Voraussetzungen für die Einstellung des Verfahrens umschreiben - eine ohne Frage sehr schwierige Aufgabe. Es kann daher nicht verwundern, daß zahlreiche andere Fassungen erwogen worden sind, von denen einige aufgezählt seien; sie lauteten: „ . . . wenn die Durchführung des Verfahrens eine die Folgen der Tat übersteigende
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schwere Gefährdung der verfassungsmäßigen Ordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland45 herbeiführen würde". „... wenn die Durchführung des Verfahrens einen die Folgen der Tat übersteigenden Schaden für die Bundesrepublik Deutschland herbeiführen würde". „ . . . wenn dies erforderlich ist, um eine Gefahr für die Bundesrepublik Deutschland abzuwenden". wenn die Durchführung des Verfahrens eine erhebliche Gefährdung wichtiger Interessen der Bundesrepublik Deutschland (oder ihrer Bevölkerung) herbeiführen würde". „... wenn die Durchführung des Verfahrens überwiegende wichtige öffentliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland ernstlich gefährden würde".
Ferner ist in Anlehnung an eine Formulierung, die der Entwurf eines Strafgesetzbuches - E 1962 - in seinem §38311 N r . 3 verwendet 50 , folgende Klausel vorgeschlagen worden: „ . . . wenn die Durchführung des Verfahrens die Gefahr eines schweren Nachteils für die Bundesrepublik Deutschland herbeiführen würde".
Schließlich ist eine Kombination dieser letztgenannten Klausel mit der in der Formulierungshilfe des Bundesjustizministeriums gewählten Klausel vorgeschlagen worden, um eine Richtschnur für deren Auslegung als außergewöhnlich gewichtigen Einstellungsgrund zu geben; diese Kombination sollte etwa lauten: wenn die Durchführung des Verfahrens die Gefahr eines schweren Nachteils für die Bundesrepublik Deutschland herbeiführen würde oder wenn der Verfolgung sonstige überwiegende öffentliche Interessen entgegenstehen".
Diese - auf den ersten Blick vielleicht ein wenig verwirrende Aufzählung abweichender Klauseln macht jedoch sogleich deutlich, daß die Mehrzahl davon zur Lösung unseres Problems ungeeignet ist. So ist ohne weiteres ersichtlich, daß bei einer Abstellung darauf, ob eine „Gefahr für die Bundesrepublik" bzw. für ihre „verfassungsmäßige Ordnung oder ihre Sicherheit" droht, zahlreiche Fälle der hier gemeinten Art nicht mehr erfaßt wären. Dasselbe gilt für die Abstellung auf einen drohenden „Schaden" für die Bundesrepublik und - wenn auch in geringerem Maße - für die Abstellung auf die „Gefahr eines schweren Nachteils für die Bundesrepublik". Und so verlockend es sein könnte, das Gewicht des Einstellungsgrundes durch Zusätze wie „schwere", „erhebliche" oder „ernstliche" Gefährdung zu verdeutlichen, so kann doch nicht außer Betracht bleiben, daß die Beratungen zur Großen Strafrechtsreform die dogmatische Fragwürdigkeit solcher Formeln
•" einschließlich West-Berlin. 50 Vgl. BT-Drucks. IV/650.
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gezeigt haben51. Wenn die Formulierungshilfe des Bundesjustizministeriums bei der Klausel von den der Verfolgung entgegenstehenden „überwiegenden öffentlichen Interessen" verblieben ist, so hat dies im wesentlichen folgende Gründe: Zunächst einmal ist es die bisher einzige Fassung, die zweifelsfrei alle in Rede stehenden Fälle zu decken vermag; es konnte aber nicht sinnvoll sein, eine Fassung zu wählen, die im konkreten Fall versagen würde. Sodann ist der Begriff der „öffentlichen Interessen" der Gesetzessprache nicht fremd, sondern bereits in manchen strafrechtlichen und strafprozessualen Vorschriften - wie z . B . in den § § 3 5 3 b und c StGB sowie [574] in den § § 1 5 3 1 und 376 StPO verwendet. Schließlich wird durch die Worte „überwiegende" öffentliche Interessen deutlich gemacht, daß nicht jedwedes - selbst gewichtige - Interesse der Allgemeinheit für eine Einstellung des Verfahrens ausreicht, sondern daß eine Abwägung zwischen dem staatlichen Interesse an der Strafverfolgung und dem der Verfolgung entgegenstehenden öffentlichen Interesse stattfinden muß. Das hat zur Folge, daß selbst gewichtige öffentliche Interessen außer Betracht bleiben, wenn das - je nach Lage des Falles und Schwere der Straftat unterschiedliche52 Verfolgungsinteresse überwiegt; leerlaufender Zusätze wie etwa des der überwiegenden „wichtigen" öffentlichen Interessen bedarf es daher nicht. In dem Abwägungsgebot liegt die Gewähr für eine einschränkende Auslegung der Klausel und die Gewähr gegen eine zu großzügige Handhabung. Zugleich erweist sich an diesem Abwägungsprinzip, daß die Klausel einen wesentlich konkreteren Gehalt hat, als dies bei erster flüchtiger Betrachtung scheinen mag. Im weiteren Verlauf der Beratungen wird sich zeigen müssen, ob die in der Gesetzessprache nur schwer zu umschreibenden überwiegend politischen Gründe durch eine andere Formel präziser bezeichnet werden können, ohne untragbare Lücken aufzureißen. Nicht minder schwierige und umfangreiche Überlegungen hat die Frage ausgelöst, welche Stelle der Justiz für die Einstellung des Verfahrens zuständig sein soll. A b s . I des vorgeschlagenen § 153 d, der das Absehen von der Erhebung der öffentlichen Klage, also die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens regelt, sieht dafür die ausschließliche Zuständigkeit des Generalbundesanwalts beim B G H vor, obgleich die einschlägigen Fälle - sei es
51 Vgl. dazu die Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission: Bd.8, S.380, 384, 418 u. 421; Bd.9, S.336, 337ff; Bd. 13, S.243ff. 52 Vgl. dazu Liittger GA 57, 200.
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kraft primärer Zuständigkeit 55 , sei es infolge einer Abgabe des Verfahrens durch den Generalbundesanwalt 54 - oftmals bei einer Landesstaatsanwaltschaft anhängig sein werden. Für diesen Vorschlag waren folgende Gründe maßgebend: Zunächst einmal schien es unerläßlich, eine einheitliche Auslegung und Anwendung der Vorschrift zu sichern, wie es nur bei Konzentration der Entscheidungen an einer Stelle möglich ist, die dann einen umfassenden Uberblick über sämtliche in Betracht kommenden Fälle gewinnt. Eine solche einheitliche Auslegung ist nicht nur ein Gebot der Rechtssicherheit, sondern auch deshalb vonnöten, damit nicht durch eine fast unvermeidbar unterschiedliche Praxis verschiedener zuständiger Stellen ein „Gefälle" in der Anwendung der Vorschrift heraufbeschworen wird, das die Täter anreizen könnte, in Bezirke auszuweichen, in denen eine ihnen günstigere Interpretation, eine großzügigere Anwendung der Vorschrift stattfände; es liegt auf der Hand, welche Gefahren für den Staat damit verbunden sein könnten. Eine Zersplitterung der Zuständigkeit würde überdies dazu führen, daß die zuständigen Stellen jeweils erst über die bisherige Handhabung, über die Hintergründe und über die politische Tragweite des Einzelfalles unterrichtet werden müßten, damit sie die Auswirkungen ihrer Entscheidung übersehen könnten. Das hätte kaum vertretbare Verzögerungen zur Folge; in den hier in Rede stehenden Fällen sind aber - wie sich bereits gezeigt hat - rasche Entscheidungen nötig. Für eine ausschließliche Zuständigkeit des Generalbundesanwalts zur Anwendung des § 153 d sprach ferner das insoweit übereinstimmende Modell des § 153 c StPO, das sich - damaligen düsteren Prophezeiungen zum Trotz 55 - vollauf bewährt hat. Dabei ist erwähnenswert, daß im Katalog des § 153 c StPO - ebenso wie in dem des vorgeschlagenen §153 d53 - auch Delikte aufgeführt sind, die zur Zuständigkeit der Landesjustiz gehören oder gehören können 56 . Daß gleichwohl in § 153 c StPO auch insoweit die Zuständigkeit des Generalbundesanwalts vorgesehen worden ist, rechtfertigt sich rückschauend - von allen anderen Gründen 57 abgesehen auch daraus, daß die Staatsschutzdelikte nach den in 13 Jahren gesammelten Erfahrungen durchweg Rechtsgüter des Bundes und - abgesehen von einzelnen Fällen der Verunglimpfung - nicht ausschließlich Rechtsgüter eines einzelnen Landes gefährden. Dasselbe gilt für den vorge-
53 Die meisten der in § 153 d I aufgezählten Straftaten gehören zum Zuständigkeitskatalog des § 74 a I G V G , einige - nämlich die Vergehen gegen die §§ 961 und II, 96 a I StGB unterliegen den allgemeinen Zuständigkeitsvorschriften. 54 §134 a II G V G : Wiedergabe von nach §74 a II G V G übernommenen Verfahren. 55 Vgl. Schultz M D R 58; gegen ihn mit Recht: Güde M D R 58, 285. * Vgl. dazu statt vieler: Kleinknecht J Z 57, 409. 57 Vgl. dazu statt vieler: BGHSt 11, 52 ff.
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schlagenen § 153 d, wo hinzukommt, daß die hier vorgesehenen Einstellungsgründe im Kern politischer Natur sind und gesamtdeutsche oder gegebenenfalls auch außenpolitische Belange wahren sollen - Umstände also, deren Beurteilung dem Bunde zusteht. Bei allen diesen Überlegungen hat schließlich auch der Zweifel daran eine große Rolle gespielt, ob der Generalbundesanwalt bei einer Aufsplitterung der Zuständigkeit die gebotene einheitliche Anwendung des vorgeschlagenen § 153 d durch Ausübung seines Evokationsrechts 58 sicherstellen könne. Ich darf hier daran erinnern, daß man bei der Schaffung des dem vorgeschlagenen § 153 d in seiner Konzeption vergleichbaren § 153 c StPO allgemein davon ausgegangen ist, daß damit eine Erweiterung des Evokationsrechts des Generalbundesanwalts nicht verbunden ist59. Vielmehr handelt es sich bei § 153 c StPO um ein Zwischenverfahren eigener Art60, in dem Generalbundesanwalt und Bundesgerichtshof nur über das Vorliegen oder Nichtvorliegen der besonderen Einstellungsgründe des § 153 c StPO zu entscheiden haben, während das Verfahren als solches - falls es zur Zuständigkeit der Landesjustiz gehört - bis zu einer positiven Entscheidung aus § 153 c StPO bei der jeweiligen Staatsanwaltschaft bzw. bei dem jeweiligen Gericht anhängig bleibt. Das zeigt sich sinnfällig darin, daß das Verfahren bei negativer Entscheidung aus § 153 c StPO bei der Landesjustizbehörde fortgesetzt wird und daß auch in der Zwischenzeit die Fürsoge für das Verfahren - ζ. B. hinsichtlich der Frage der Untersuchungshaft und der Beweissicherung - der Instanzbehörde obliegt". Konsequenterweise hat man für § 153 c StPO angenommen, daß die für eine Evokation nach §74 a II GVG maßgebende „besondere Bedeutung des Falles" nicht schon dann vorliegt, wenn eine Einstellung nach § 153 c StPO in Betracht kommt, sondern sich aus dem Fall als solchen ergeben muß62. Freilich unterscheidet sich der vorgeschlagene § 153 d in den Einstellungsgründen von §153c StPO. Dennoch ist es zweifelhaft, ob die in § 153 d gemeinten, von außen kommenden und nicht aus der Person des Täters oder aus der Tat selbst herrührenden, politischen Einstellungsgründe in dem sehr speziellen Sinne des § 74 a II GVG schon als solche 58 Vgl. Fußn. 53; zu den Möglichkeiten der Übernahme und der erneuten Übernahme vgl. Kleinknecht-Müller, 4. Aufl. 1958, Anm. 2 zu § 74 a, Anm. 2 zu § 120 u. Anm. 1 c zu §134 a GVG. 59 Vgl. Kleinknecht J Z 57, 409; Eh. Schmidt, Rdz.9 zu §153c StPO; KleinknechtMüller, Anm. 10a zu § 153c StPO; Schwarz-Kleinknecht, 24. Aufl. 1963, Anm. 1 zu §153 c StPO. 60 Vgl. Kleinknecht JZ 57, 409; BGHSt 11, 52, 54; Wagner GA 1958, 208. 61 Vgl. Kleinknecht J Z 57, 409; Kleinknecht-Müller, Anm. 1 0 b 2 zu § 153c StPO; unscharf: Kohlhaas in Löwe-Rosenberg, Anm. 17 zu § 153 c StPO. 62 Vgl. Kleinknecht JZ 57, 409 mit Anm. 13.
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eine „besondere Bedeutung des Falles" begründen können, zumal der Auslegung dieses Begriffs verfassungsrechtlich enge Grenzen gesetzt sind". Infolgedessen ist es zumindest ganz ungewiß, ob das Evokationsrecht ein verläßliches Regulativ gegen eine divergierende Einstellungspraxis bilden könnte. Nach alledem kann es nicht verwundern, daß die an den Vorberatungen beteiligten Stellen - darunter z . B . die Landesjustizminister und Justizsenatoren - sich nahezu einhellig gegen eine Zuständigkeit von Landes) ustizbehörden - etwa, wie erwogen war, der Generalstaatsanwälte - und für eine Zuständigkeit des Generalbundesanwalts ausgesprochen haben. Die dafür sprechenden, soeben geschilderten Gründe schienen [575] den beteiligten Stellen sogar derart schwerwiegend, daß es mit derselben fast völligen Einmütigkeit auch abgelehnt wurde, eine Zuständigkeit der Generalstaatsanwälte für die seltenen Fälle vorzusehen, in denen sich die Tat ausschließlich gegen die Interessen eines Landes richtet. Es wird Ihnen vielleicht aufgefallen sein, daß der Entwurf des § 153 d I in einem wesentlichen Punkte von § 153 c l StPO abweicht: er sieht für die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens durch den Generalbundesanwalt eine Zustimmung des Bundesgerichtshofs nicht vor. Dieser Vorschlag ist - wie Sie sich denken können - bei den Vorberatungen eingehend diskutiert worden; dabei sind Gründe für und gegen eine Mitwirkung des B G H geltend gemacht worden. Die Befürworter einer Einschaltung des B G H haben insbesondere folgende Argumente ins Feld geführt: Es entspreche einem in den §§ 153 II, 153 a l und 153 c l StPO zum Ausdruck gekommenen Prinzip, die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft an die Zustimmung des Gerichts zu binden, wobei dem rechtsähnlichen Fall des § 153 c I StPO besondere Bedeutung zukomme. Die Mitwirkung des B G H verbürge eine einheitliche Handhabung des vorgeschlagenen § 153 d l ; sie gewährleiste die Rechtsstaatlichkeit der Praxis und sichere die „Verklammerung" des § 1 5 3 d l mit dem Legalitätsprinzip. Zugleich gebe sie den Maßnahmen des Generalbundesanwalts die nötige Deckung und mindere die Gefahr einer dem Ansehen der Justiz abträglichen öffentlichen Kritik; denn sie verhüte, daß die Entschließungen des Generalbundesanwalts im Hinblick auf das Weisungsrecht des Bundesjustizministers64 als Mittel für einen Einbruch der Exekutive in die Rechtsprechung mißdeutet würden.
° Vgl. BVerfGE 9, 223 ff ( = J Z 59, 533 mit Anm. v. Eb. Schmidt) betr. § 2 4 1 Nr. 2 GVG. 64 §§146, 147 GVG.
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Die Vertreter der Gegenansicht wiesen demgegenüber darauf hin, die S t P O kenne ein allgemeines Prinzip des Inhalts, daß eine Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft stets der Zustimmung des Gerichts bedürfe, gar nicht, wie sich an den § § 1 5 3 1 , 153 b, 1541, 154 a, 154 b I—III und 154 c S t P O zeige; damit verliere auch der Gedanke einer Absicherung des Legalitätsprinzips ersichtlich an Gewicht. Im übrigen sei der Fall des § 153 c S t P O dem vorgeschlagenen § 153 d nur in prozessualer Hinsicht ähnlich; in den materiellen Voraussetzungen für die Einstellung des Verfahrens unterschieden sich beide Vorschriften jedoch völlig. Die Einstellungsgründe des § 153 d seien nämlich politischer Natur und unterschieden sich damit von den Einstellungsgründen aller anderen einschlägigen Vorschriften; denn sie knüpften weder - wie sonst meistens - an eine (tatsächliche oder rechtliche) Wertung von Täter und Tat an, noch beständen sie - wie bei § 153 c S t P O - in einer Berücksichtigung von Ausgleichs- und Reuehandlungen des Täters ( A b s . I ) oder eines aus der Durchführung des Verfahrens selbst entstehenden zusätzlichen Sicherheitsrisikos für den Staat (Abs.II), wie es z . B . bei einer Erörterung von Staatsgeheimnissen in Gegenwart des Angeklagten oder anderer Prozeßbeteiligter der Fall sein könne 65 . Entscheidend aber sei, daß die bei dem vorgeschlagenen § 153 d in Rede stehenden politischen Einstellungsgründe richterlicher Tätigkeit fremd seien; sie entzögen sich oft näherer Nachprüfung mit den Mitteln des Gerichts, so daß das Gericht solchenfalls auf den Vortrag des Generalbundesanwalts und allenfalls auf „politische Sachverständige" angewiesen sei, auf die es sich verlassen müsse. Überdies komme es den Gerichten nicht zu, eine ihnen nach der Gewaltenteilung fremde politische Verantwortung zu tragen. Daher müsse die Einstellung des Verfahrens hier dem Generalbundesanwalt überlassen bleiben, der in enger Fühlungnahme mit dem politischparlamentarisch verantwortlichen Bundesminister der Justiz handeln müsse. Diesen Argumenten wurde bei den Vorberatungen so großes Gewicht beigemessen, daß eine große Mehrheit der beteiligten Stellen sich gegen eine Mitwirkung des B G H bei der Einstellung eines Ermittlungsverfahrens durch den Generalbundesanwalt aussprach. Daß dabei dem ebenfalls ablehnenden Votum des Präsidenten des B G H hohe Bedeutung beigemessen worden ist, versteht sich von selbst. Wie diese Frage in den parlamentarischen Beratungen beurteilt werden würde, läßt sich freilich nicht einmal annähernd voraussehen. An dieser Stelle werden Sie geneigt sein, den Einwand zu erheben, daß es nach alledem doch recht inkonsequent sei, wenn der vorgeschlagene § 153 d in seinem Abs. II vorsehe, daß die Einstellung des Verfahrens 45
Vgl. Eb. Schmidt, Rdz. 7 zu § 153 c StPO; Wagner GA 1958, 205.
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nach Erhebung der öffentlichen Klage durch den Bundesgerichtshof mit Zustimmung des Generalbundesanwalts erfolgen solle. In der Tat ergeben sich hier Spannungen, die wegen der Eilbedürftigkeit der vom Bundesjustizministerium begehrten Formulierungshilfe auch nicht mehr mit allen beteiligten Stellen zu Ende diskutiert werden konnten. Aus einer Darstellung der verschiedenen für Abs. II erwogenen Lösungen ergibt sich aber, wie ich glaube, daß die besseren Gründe für die vom Bundesjustizministerium vorgeschlagene Konzeption sprechen. Am besten beginne ich dabei mit dem in den Vorberatungen gemachten Vorschlag, nach Erhebung der öffentlichen Klage von einer Einstellungsmöglichkeit nach § 153 d ganz abzusehen, m. a. W. den Abs. II zu streichen. Im einzelnen ist dieser Vorschlag noch dahin modifiziert worden, es solle zumindest nach Eröffnung der Voruntersuchung oder des Hauptverfahrens, jedenfalls aber - wenn man die Voruntersuchung noch einbeziehen wolle - nach Eröffnung des Hauptverfahrens eine Einstellung des Verfahrens nicht mehr Platz greifen. Zur Begründung dieser Vorschläge ist angeführt worden, die politischen Schwierigkeiten, die ein Verfahren verursache, würden sich alsbald nach seiner Einleitung, spätestens aber während der Voruntersuchung herausstellen. Gerade das aber ist nicht verbürgt. Ganz abgesehen davon, daß der - bei den Fällen des § 1 5 3 d l allerdings seltene53 - Voruntersuchungsantrag und auch die Anklageschrift häufig sehr schnell nach der Einleitung des Verfahrens eingereicht werden, ist doch eine Prognose darüber, ob und wann es zu den eingangs geschilderten Schwierigkeiten kommt, einfach unmöglich. Es läßt sich allenfalls sagen, daß Schwierigkeiten dieser Art nach den bisherigen Erfahrungen zu Beginn eines Verfahrens häufiger und mit fortschreitender Verfahrensdauer seltener sein werden. Entschließt man sich aber, ihnen in strafprozessualer Hinsicht Rechnung zu tragen, so kann es nicht sinnvoll sein, eine solche Regelung unvollständig zu gestalten. Bejaht man die politische Notwendigkeit des vorgeschlagenen § 153 d prinzipiell, so ist nicht einzusehen, weshalb von einem bestimmten prozessualen Einschnitt an der Satz „fiat justitia, pereat res publica" gelten soll. In dieser Einsicht gingen andere Vorschläge dahin, dem Generalbundesanwalt in Abweichung von § 156 StPO unter den Voraussetzungen des § 153 d I auch noch nach Eröffnung der Voruntersuchung oder sogar des Hauptverfahrens die Rücknahme der öffentlichen Klage mit oder ohne Zustimmung des Bundesgerichtshofs zu ermöglichen. Die Gegner dieses Vorschlags hielten eine solche Regelung für systemwidrig sowie für unvereinbar mit der Würde des Gerichts und mit der in diesem Verfahrensabschnitt bestehenden Herrschaft des Gerichts über das Verfahren. Diese Argumente haben die Verfechter des Vorschlags freilich nicht überzeugt. Sie verwiesen auf verwandte Regelungen im ausländi-
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sehen Recht" und darauf, daß auch im deutschen Recht Durchbrechungen der gerichtlichen Verfahrensherrschaft vorgesehen sind; so z . B . in den Fällen der Rücknahme eines Strafantrags67 und der - vereinzelt möglichen - Rücknahme einer Verfolgungsermächtigung68; ferner bei § 154 b IV StPO, demzufolge das Gericht auf Antrag des Staatsanwalts die Einstellung eines Verfahrens in den Fällen der Auslieferung und der Ausweisung des Angeklagten beschließen w«/?6'; schließlich auch bei § 126 StPO, wonach das [576] Gericht einen Haftbefehl vor Erhebung der öffentlichen Klage auf Antrag des Staatsanwalts aufheben muß. Unter diesen Umständen glaubten die Anhänger des Vorschlags nicht, daß eine Erweiterung dieser Beispielsfälle durch den vorgeschlagenen §153 d l l mit Würde und Stellung des Gerichts unvereinbar sei, zumal auch eine verfassungsrechtliche Gewährleistung des in § 156 StPO ausgedrückten Grundsatzes nicht bestehe. Immerhin führten diese Überlegungen zu einem weiteren Vorschlag, der der prozessualen Stellung des Gerichts in diesem Verfahrensabschnitt mehr Rechnung tragen, dabei aber auch die mangelnde Justitiabilität der Einstellungsgründe des neuen § 153 d berücksichtigen wollte. Dieser Vorschlag ging dahin, daß der B G H das Verfahren einstellen könne, wenn der Generalbundesanwalt die Voraussetzungen des § 153 d bejahe; dabei war an eine Fassung gedacht, derzufolge die vom Generalbundesanwalt bejahten Einstellungsvoraussetzungen gerichtlich nicht nachprüfbar sein sollten. Gegen eine solche Lösung wurde indessen eingewandt, daß dann nicht der beschließende Senat, sondern der Generalbundesanwalt die eigentliche Verantwortung für die Entscheidung trage; eine solche Trennung zwischen formeller Zuständigkeit nach außen und wirklicher Sachentscheidungsbefugnis nach innen halte die Entscheidungsbefugnis des Gerichts nur dem äußeren Anschein nach, nicht aber im Kern aufrecht und sei daher nicht sachgerecht. Nun gibt es freilich bereits einige Beispiele für an Anträge gebundene gerichtliche Entscheidungen, wie die soeben erwähnten §§126 und 154 b IV StPO zeigen. Indessen erschien es dem Bundesjustizministerium angesichts der ganz uneinheitlichen Stellungnahmen der gehörten Stellen ratsam, in seinem vorläufigen Formulierungsvorschlag dem Modell des geltenden § 153 c III StPO zu folgen und die weitere Klärung den kommenden Beratungen zu überlassen. Gemessen an der Fülle der bisher erörterten Probleme ist der in dem Entwurf eines § 153 d aufgeführte Deliktskatalog nicht von rechtsgrundVgl. §64 68 Vgl. " Vgl. 66
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Sax J Z 64, 44-45. StGB. z . B . § 1 0 4 a StGB. Schwarz-Kleinknecht,
Anm.3 zu § 154 b StPO mit Nachw.
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Strafverfahrensrecht
sätzlicher Bedeutung; seine Abgrenzung ist im wesentlichen eine Frage des praktisch-politischen Bedürfnisses. Es mögen daher hierzu einige wenige Worte genügen. Der Deliktskatalog des § 153 d geht bereits von der Neufassung der §§90a, 90 b, 128, 129 StGB sowie der Streichung der §§ 42, 47 BVerfGG und des § 129 a StGB durch das neue Vereinsgesetz aus70. Der Entwurf verzichtet bewußt auf eine Regelung der Frage, ob die Einstellung des Verfahrens auch hinsichtlich solcher Delikte zulässig sein soll, die mit den im Katalog aufgeführten Straftaten tateinheitlich zusammentreffen. Diese Frage ist für den verwandten §153c StPO bereits von Rechtsprechung und Rechtslehre bejaht worden71 ; eine ausdrückliche Regelung in § 153 d könnte daher unerwünschte Umkehrschlüsse für § 153 c StPO auslösen. Ungeklärt ist hingegen noch die Frage, ob es einer besonderen Erwähnung der gegen die nichtdeutschen Vertragsstaaten des Nordatlantikpaktes gerichteten Straftaten nach Art. 7 des 4. Strafrechtsänderungsgesetzes72 bedarf. Für die Entbehrlichkeit einer solchen Regelung könnte die höchstrichterliche Judikatur sprechen, derzufolge die unter Art. 7 aaO fallenden Taten ausschließlich nach den Vorschriften des StGB abzuurteilen sind73. Umgekehrt spricht Art. 9 des 4. StrafrechtsänderungsG für die Notwendigkeit einer ausdrücklichen Erstreckung des vorgeschlagenen § 153 d auf die Straftaten nach Art. 7 aaO; denn dort hat der Gesetzgeber es für erforderlich gehalten, die - übrigens erweiterte74 - Anwendbarkeit des § 153 c StPO ausdrücklich zu regeln, was zu Umkehrschlüssen für § 153 d Anlaß geben könnte. Es ist auch nicht ganz zweifelsfrei, ob der Begriff der „öffentlichen Interessen" außer denen der Bundesrepublik in jedem Falle auch diejenigen der nichtdeutschen Vertragsstaaten der N A T O umfaßt, wenngleich sich diese Interessen häufig decken werden. Auf die bei einer Verwirklichung des § 153 d auftauchenden Fragen nach dem anzuwendenden Verfahren glaube ich nicht eingehen zu müssen; sie sind bei dem artverwandten § 153 c StPO wohl ausdisku-
70 Vgl. Fußn. 19 u. 21. - Auf eine - perfektionistische und praktisch wohl auch entbehrliche - Einbeziehung des § 20 VereinsG ist verzichtet worden, zumal Verweisungen auf nebenstrafrechtliche Vorschriften im StGB nicht tunlich erscheinen. 71 Vgl. BGH, 6 BJs 588/59 v. 12.1.1961 - bei Wagner G A 1962, S.210, N r . 10; BGH, 1 BJs 50/59 v. 13.2.1962 - bei Wagner GA 1963, 305/306, N r . 11; Kleinknecht JZ 57, 410; Wagner GA 1958, 211-212. 72 V. 11.6.1957 - BGBl. I S. 597; in Kraft seit 1.7.1963, vgl. die Bekanntmachung v. 16.6.1963 - B G B l . I S. 455. 75 Vgl. BGH, 8 StE 1/63 v. 8.8.1963 - , bei LM N r . 17 zu § 100 e StGB und M D R 64, 160; s. aber auch BayObLG G A 1964, 83 ff. 74 Vgl. Wagner M D R 64, 95-96.
Lockerung des Verfolgungszwanges bei Staatsschutzdelikten?
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tiert75 und mutatis mutandis auf den vorgeschlagenen § 153 d übertragbar. Auch scheint mir dies noch wenig aktuell, solange nicht feststeht, ob der Deutsche Bundestag die vorgeschlagene Regelung in das ζ. Z. beratene Gesetz zur Änderung der StPO und des GVG (StPAG) einbezieht76. Damit bin ich am Schluß meiner Ausführungen angelangt. Es ging mir darum, Ihnen ein Doppeltes aufzuzeigen: die außerordentlichen Schwierigkeiten der bei erster, flüchtiger Betrachtung so unscheinbaren Novelle und den großen Ernst, mit dem alle beteiligten Stellen mit diesen Schwierigkeiten gerungen haben und heute noch ringen. Freilich liegt die Entscheidung darüber, ob diese Novelle Wirklichkeit werden soll, jenseits des juristischen Bereichs im Räume der Politk77. Aber vielleicht sind dort die Worte des homo politicus Güde7> längst Allgemeingut: „Nicht mehr Strafrecht als gerecht; nicht mehr Strafrecht als notwendig."
75 Vgl. Kleinknecht J Z 57, 409ff; Hartinger DRiZ 57, 292; Poppe NJW 57, 1577 und DRiZ 58, 174ff; Güde MDR 58, 285; Wagner GA 1958, 204ff; ferner die Rspr.Nachweise bei Wagner GA 1962,209 ff und in GA 1963, 305-306, sowie die Erläuterungsbücher zu § 153 c StPO. 76 Damit ist inzwischen nicht mehr zu rechnen; die zuständigen Stellen dürften nunmehr prüfen, ob eine entsprechende Gesetzesvorlage eingebracht werden soll. 77 Eine Stellungnahme dazu ist nicht Sache des Verfassers; der Vortrag behandelt nur die juristische Problematik. 78 Güde Bulletin Nr. 204 v. 28.10.1961, S. 1918.
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Ist die gerichtliche Beschlagnahme künftiger Ausgaben von erfahrungsgemäß staatsgefährdenden periodischen Schriften zulässig? (zusammen mit Felix Kaul) - , in: GA 1961, S. 74-82. Zum Gesetz zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote, in: MDR 1961, S. 809-818. Lockerung des Verfolgungszwanges bei Staatsschutzdelikten?, in: JZ 1964, S. 569-576. Zur Abgrenzung des objektiven Tatbestands der §§ 92 und 109 f StGB sowie zum Presse- und Funkprivileg des § 109 f Abs. 1 Satz 2 StGB, in: MDR 1966, S. 629-634 u. S. 713-718. Staatsschutzverfahren - statistisch gesehen, in: MDR 1967, S. 165-167, S. 257-262 u. S. 349-353. Das Staatsschutzstrafrecht gestern und heute, in: JR 1969, S. 121-130, auch abgedruckt in: Die politische Meinung, 1968, Heft IV, S. 62-82. Zur Reform des §353c StGB, in: JZ 1969, S. 578-586. Der Beginn des Lebens und das Strafrecht, in: JR 1969, S. 445-453, auch abgedruckt in: Beiträge zur gerichtlichen Medizin 1970, S. 23-39. Geheimschutz und Geheimnisschutz, in: GA 1970, S. 129-153. Der Beginn der Geburt und das Strafrecht. Probleme an der Grenze zwischen Leibesfruchtcharakter und Menschqualität, in: JR 1971, S. 133-142. Der Tod und das Strafrecht, in: JR 1971, S. 309-315. Neue Probleme bei der Abgrenzung zwischen Empfängnisverhütung und Abtreibung im Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Ankara Üniversitesi Hukuk Fakültesi Dergisi, XXVIII, 1971, S. 231-249. Neue Probleme an der Grenze zwischen Leibesfruchtcharakter und Menschqualität im Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Ankara Üniversitesi Hukuk Fakültesi Dergisi, XXVIII, 1971, S. 255-274. Neue Probleme um den Todesbegriff im Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland, in: Ankara Üniversitesi Hukuk Fakültesi Dergisi XXVIII, 1971, S. 279-295.
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- Die Verfassungsmäßigkeit des § 90 a StGB, Saarbrücken, 1958, Anlage 1. - Der Nachweis der Verfassungswidrigkeit einer Vereinigung oder Partei im Strafverfahren, Saarbrücken, 1958, Anlage 2. - Die registermäßige Behandlung der sog. Postsachen nach §93 StGB, Saarbrücken, 1958, Anlage 6. - Umgestaltung der statistischen Ubersichten über den Anfall und die Erledigung von Staatsschutzverfahren, Saarbrücken, 1958, Anlage 7. - Rechtsfragen bei der Verbreitung staatsgefährdender Schallaufnahmen, Abbildungen und Darstellungen, Bad Driburg, 1960, Anlage 2 b. - Zur Auslegung der Begriffe „Verwendung von Kennzeichen ehemaliger nationalsozialistischer Organisationen" in § 4 des Versammlungsgesetzes, Bad Driburg, 1960, Anlage 3 b. - Ist die gerichtliche Beschlagnahme künftiger Ausgaben von erfahrungsgemäß staatsgefährdenden periodischen Schriften zulässig?, Bad Driburg, 1960, Anlage 6.
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- Können staatsgefährdende Schriften einer durch das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Partei und ihrer Ersatzorganisationen aufgrund des Ausspruchs der Vermögenseinziehung im Parteiverbotsurteil durch die Behörden der inneren Verwaltung eingezogen werden?, Bad Driburg, 1960, Anlage 7. - Praktische Schwierigkeiten bei der Kontrolle von Postsendungen mit staatsgefährdendem Propagandamaterial, Bad Driburg, 1960, Anlage 8. - Zur Publikation von Entscheidungen aus dem Bereich des strafrechtlichen Staatsschutzes, Bad Driburg, 1960, Anlage 9. - Zur Abwicklung der überalterten Verfahren wegen Hochverrats, Staatsgefährdung und Organisationsdelikten, in denen die Tatzeit vor dem KPD-Verbotsurteil des Bundesverfassungsgerichts (17. August 1956) liegt, Bad Driburg, 1960, Anlage 10. - Zur Abgrenzung der Begriffe „verfassungswidrige Vereinigung" (§90 a StGB) und „Ersatzorganisation" (§46 Abs. 3 BVerfGG), Hornberg, 1961, Anlage 1. - Die Auswirkungen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 21. März 1961 - 2 BvR 27/60 - auf anhängige und abgeschlossene Strafverfahren, Hornberg, 1961, Anlage 2 b. - Vorschläge zur Erweiterung der vierteljährlichen Statistiken über den Anfall und die Erledigung von Staatsschutzverfahren, Hornberg, 1961, Anlage 7. - Ist die staatsgefährdende Absicht im Sinne des §94 StGB und der übrigen Absichtstatbestände des Staatsschutzstrafrechts eine „besondere persönliche Eigenschaft" im Sinne des §50 Abs.2 StGB?, Kiel, 1962, Anlage 1. - Ist der Abdruck sowjetzonaler Rundfunk- und Fernsehprogramme in Zeitungen und Zeitschriften der Bundesrepublik strafbar?, Kiel, 1962, Anlage 3. - Rechtliche Zweifelsfragen bei der Anwendung des Gesetzes zur Uberwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote vom 24. Mai 1961 - Bundesgesetzblatt I, S.607 - , Kiel, 1962, Anlage 7. - Unter welchen Voraussetzungen ist die in Nr. 170 Abs. 3 RiStV vorgesehene, sog. formlose Entfernung aus dem Verkehr anstelle
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Bibliographie
einer gerichtlichen Entscheidung über die Einziehung oder Unbrauchbarmachung zulässig?, Kiel, 1962, Anlage 8. Praktische Fragen bei der Anwendung des Gesetzes zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote vom 24. Mai 1961 Bundesgesetzblatt I, S. 607 - , Bergzabern, 1963, Anlage 7. Rechtsfragen bei der Anwendung des Gesetzes zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote vom 24. Mai 1961 — Bundesgesetzblatt I, S. 607 - , Bergzabern, 1963, Anlage 8. Einige Rechtsfragen bei der sog. allgemeinen Einziehung von Druckschriften im objektiven Verfahren, Bergzabern, 1963, Anlage 9. Freigabe von staatsgefährdenden Schriften durch die Staatsanwaltschaft und andere Behörden vor und nach der Einziehung, Bergzabern, 1963, Anlage 10. Zur Abgrenzung des objektiven Tatbestands der §§ 92 und 109 f StGB sowie zum Presse- und Funkprivileg des § 109 f Abs. 1 Satz 2 StGB, Bremen, 1966, Anlage 1. Nochmals: Zur formlosen Entfernung von Postsendungen aus dem Verkehr (Nr. 170 Abs. 3 RiStV), Bremen, 1966, Anlage 6. Praktische Fragen zum Gesetz zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote vom 24. Mai 1961 - Bundesgesetzblatt I, S. 607 - , Bremen, 1966, Anlage 7. Rechtsfragen zum Gesetz zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote vom 24. Mai 1961 - Bundesgesetzblatt I, S. 607 - , Bremen, 1966, Anlage 8. Zur Freigabe von illegalem Agitationsmaterial und zu verwandten Fragen, Bremen, 1966, Anlage 9. Rezensionen zu:
- Herrmann: Die Anwendbarkeit des politischen Strafrechts auf Deutsche im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, 1960; in: GA 1965, S. 348-350.
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