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German Pages [237] Year 1999
Frigga Haug
Vorlesungen zur Einführung in die Erinnerungsarbeit
Argument
»Die Pflicht zur Erinnerung ist zu einer Zwangsjacke geworden.« Ein solcher Satz kann heute auf Beifall rechnen. In diesem Buch wird gegengesteuert. Aus der Vergangenheit eine Vorstellung vom Möglichen, von Veränderung, von Widerstand zu gewinnen und so ins Künftige sich zu entwerfen - so wird Erinnerung mit Befreiung verbunden. Erinnerung ist Einfallstor für Ideologisches und zugleich Voraussetzung für Ideologiekritik und eingreifendes Handeln, Träger von Hoffnung wie von Verzweiflung. In diesem Buch wird Erinnerungsarbeit philosophisch und literarisch fundiert. Die Methode der Erinnerungsarbeit wird mit einem praktischen Leitfaden versehen und in den Kontext von Alltagsforschung gestellt. Konkrete Untersuchungen zu Angst, Leistung, sexuellen Kampagnen zeigen Erinnerungsarbeit am Werk.
Frigga Haug wurde 1937 in Mülheim an der Ruhr geboren. Sie ist Professorin an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg, Mitherausgeberin der Zeitschrift Das Argument und Redakteurin des Historisch-Kritischen Wörterbuchs des Marxismus sowie des
Forum Kritische
Psychologie.
Ihre For-
schungsschwerpunkte sind Frauensozialisation und -Politik, Arbeit, sozialwissenschaftliche Methoden, Lernen.
ISBN 3-88619-321-7 • Argument • 34,80 DM
Frigga Haug
Vorlesungen zur Einführung in die Erinnerungsarbeit The Duke Lectures
FriggaHaug Erinnerungsarbeit ISBN 3-88619-383-7; 22 DM
Frauen-Politiken ISBN 3-88619-316-0; 27 DM
Vorlesungen zur Einführung in die Erinnerungsarbeit ISBN 3-88619-321-7; 34,80 DM
Kritik der Rollentheorie Argument Sonderband 222; ISBN 3-88619-222-9; 23 DM
Frigga Haug (Hg.) Erziehung zur Weiblichkeit Frauenformen 1 - Argument Sonderband 45; ISBN 3-920037-22-7; 18,50 DM
Sexualisierung der Körper Frauenformen 2 - Argument Sonderband 90; ISBN 3-88619-090-0; 15,50 DM
Frigga Haug und Kornelia Hauser (Hg.) Subjekt Frau Frauenformen 3 - Argument Sonderband 117; ISBN 3-88619-117-6; 15,50 DM
Der Widerspenstigen Lähmung Frauenformen 4 - Argument Sonderband 130; ISBN 3-88619-130-3; 15,50 DM
Küche und Staat Frauenformen 5 - Argument Sonderband 180; ISBN 3-88619- 180-X; 15,50 DM
Die andere Angst Frauenformen 6 - Argument Sonderband 184; ISBN 3-88619-184-2; 18,50 DM
Frigga Haug und Eva Wollmann (Hg.) Hat die Leistung ein Geschlecht? Frauenformen 7 - Argument Sonderband 219; ISBN 388619-219-9; 21 DM
Frigga Haug und Brigitte Hipfl (Hg.) Sündiger Genuß? - Filmerfahrungen von Frauen Frauenformen 8 - Argument Sonderband 236; ISBN 388619-236-9; 29 DM
Frigga Haug und Silke Wittich-Neven (Hg.) Lustmolche und Köderfrauen - Politik um sexuelle Belästigung Frauenformen 9 - Argument Sonderband 252; ISBN 3-88619-252-0; 29,80 DM
Frigga Haug und Gerhard Brosius (Hg.) Frauen - Männer - Computer Argument Sonderband 151; ISBN 3-88619-151-6; 15,50 DM
Frigga Haug
Vorlesungen zur Einführung in die Erinnerungsarbeit The Duke Lectures
ARGUMENT
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Haug, Frigga: Vorlesungen zur Einführung in die Erinnerungsarbeit = The Duke lectures / Frigga Haug. 1. Aufl. - Berlin ; Hamburg : Argument, 1999 ISBN 3-88619-321-7 Deutsche Erstausgabe Alle Rechte vorbehalten ©Argument Verlag 1999 Eppendorfer Weg 95a, 20259 Hamburg Telefon 040/4018000 - Fax 040/40180020 www.argument.de Lektorat: Heike Herrberg Umschlaggestaltung & Satz: Martin Grundmann Umschlagabbildung: Pablo Picasso La femme aux pigeons (1930) © Succession Picasso / VG Bildkunst, Bonn 1999 Texterfassung durch die Autorin Druck: Alfa Druck, Göttingen Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Erste Auflage 1999
Inhalt Vorbemerkung
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Erinnerungsarbeit - ein Projekt
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Erinnerungspolitik und Befreiungsverlangen
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Sprache des wirklichen Lebens - als Forschungsfrage
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Über die Geschlechtsspezifik von Angst
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Hat die Leistung ein Geschlecht?
101
Dialektik sexualpolitischer Kampagnen
127
Sexuelle Deregulierung oder Der Kinderschänder als Held im Neoliberalismus
153
Feministisch arbeiten mit Marx
177
Erinnerungsarbeit - ein Leitfaden zur Methode
199
Literatur
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Vorbemerkung Im Sommer 1997 wurde ich aufgefordert, den Forschungszusammenhang von Erinnerungsarbeit an der Duke-University in Durham, North-Carolina/ USA, in einer Reihe von Vorlesungen vorzustellen. Um das Vorgehen und seine Einlassung in die zeitgenössische Forschung nachvollziehbar zu machen, wählte ich eine Mischung aus theoretischen Erörterungen und Bereichsstudien. Die lebhafte Diskussion um die Vorlesungen führte zu dem Entschluss, eine Ausarbeitung als Buch »Duke-Lectures on Memory-work« vorzusehen. Bei der Bearbeitung entstand die Idee, das gleiche Buch auch im Deutschen zu veröffentlichen, da es, wie sonst keines der schon veröffentlichten Frauenformenbände, aus denen es gleichwohl auch zehrt, einen theoretischen und politischen Diskussionszusammenhang bietet, der auch denjenigen, die noch nicht mit Erinnerungsarbeit vertraut sind, einen Einstieg erlaubt. Die ausgewählten Texte basieren zum Teil auf früheren Veröffentlichungen, wurden aber für diese Ausgabe überarbeitet, stark erweitert und aktualisiert. Ergänzend bin ich auf vielfachen dringlichen Wunsch der Aufgabe nachgekommen, vor der ich mich lange gedrückt habe: ich schrieb einen Forschungsleitfaden, der es ermöglichen soll, ohne stetige weitere Anleitung den Forschungsprozess selbst in die Hand zu nehmen. Dies widerspricht im Grunde meiner Vorstellung, den Prozess methodisch offen zu halten und so einen Freiraum zu lassen für innovatives Eingreifen. Jedoch bietet solcher Versuch tatsächlich die Möglichkeit, wie bei einem Kochrezept, das man ja auch noch variieren kann, nachlesen zu können, wie »es« gewöhnlich oder zumeist gemacht wird, selbst zu prüfen, was man nicht außer Acht lassen sollte, was man verändern kann. In den USA gibt es immer weiter eine lebhafte Auseinandersetzung der schreibenden Feministinnen mit Marx. Es gibt dazu Seminare in den Frauenstudien und im Internet; und immer weiter geht die Diskussion um die Bedeutung von Hausarbeit. Zugleich sind women-studies von anderen marxistischen Studien auch recht abgekoppelt. Wechselseitiges Misstrauen herrscht vor. So war es zumindest in Duke. Daher habe ich für dieses Buch noch einen weiteren Text verfasst, der nicht unmittelbar mit Erinnerungsarbeit zusammenzuhängen scheint, der für mich aber die Impulse ausarbeitet, die ich von meinem Marx-Studium für feministische Forschung, also auch für Erinnerungsarbeit zog. Der Weg durch die Texte beginnt mit einer orientierenden Vergewisserung über Erinnerung und ihren Kontext in philosophischen Theorien und in Literatur über Befreiung und verortet sodann Erinnerungsarbeit als Methode in allgemeinen methodischen Fragen der Erforschung von Alltag und der
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Spezifik feministischer Positionen darin. Materialstudien im engeren Sinn, also die Vorführung von Erinnerungsarbeit, werden in den Vorlesungen zu Angst und zu Leistung vorgenommen. Eingeschlossen sind aktuelle Analysen zu Sexualpolitik. Die amerikanische Ausgabe enthält zudem einen Beitrag zum Streit um die Frauenquoten in der Politik und in Gesellschaft.
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Erinnerungsarbeit - ein Projekt Eine Erinnerung ohne Gott und Teufel - was wäre der Nutzen? Christa Wolf Das Fotoalbum Wer hätte unter uns, zumindest uns in der als westlich bezeichneten Welt, kein Fotoalbum? Da steht es neben vielen seinesgleichen, angeschwollen von schlechtem Klebstoff und sorgfaltig montierten Bildern. Ich erinnere unvermittelt die Begeisterung bei der chronologischen episodenhaften Erstellung dieser Werke. Sie überträgt sich nicht auf den Gebrauch. Nur zögernd und zunehmend seltener werden die Alben aufgeschlagen. Benommen der Blick auf die fremd-vertrauten Personen. Der Versuch, sich auf diese Weise Kindheit, Schulzeit, Reisen, »Knotenpunkte der Biographie« wieder anzueignen, stösst auf ungewusste Hindernisse. Das einfache Wiedererkennen zum Beispiel in dem Ausruf: »Das bin ich vor dem Dogenpalast in Venedig«, stockt vor der Leere solcher Aussage. Die Augen rücken näher im Versuch, sich wirklich zu erinnern. Da atmen aus den Fotos verquere Gefühle - dies zuallererst, noch bevor Schrecken ob vergangener Jugend oder nicht mehr einholbarer Erfahrung sich vor die Erinnerung schieben kann, als seien sie das Wichtigste, das aufgearbeitet gehört. Unglück, Unpassendheit, Ungenießbarkeit, Ungereimtes - zahlreiche Befindlichkeiten, angemessen mit der Vorsilbe »Un« versehen, kämpfen sich an die Oberfläche, wollen zuerst wahrgenommen und, wenn schon Erinnerung, jetzt eingeholt werden. Fotos scheinen so, jedenfalls für mich, in erster Linie Verdichtungen von Erlebnissen, deren Gefühlsseite nicht zu Ende empfunden ist, die immer weiter ihrer Abholung und Erledigung harren. Im momentanen Stillstand, den die fotographische Aufnahme herstellt, sind die Geschichten abgebrochen. Jedes Betrachten löst sie erneut heraus, kindlich, unfertig mit der Zumutung, weitergelebt zu werden. Das geht früh los. Ein kleines Mädchen mit großen Augen vor einem Plattenspieler. »Das ist ja noch das uralte Modell mit dem Trichter«, ruft es von innen entdeckend harmlos - »den du kaputt gemacht hast!« ergänzt im gleichen Innen die Stimme der älteren Schwester. Und ohne aus der Zeit Abnutzungserscheinungen zu tragen, kehren die alten Gefühle von Geschwisterkonkurrenz, Empörung, Selbstgerechtigkeit, Verletzung als nicht zu Ende gelebtes Leid hervor. Das geht so weiter von Foto zu Foto - der Berg an widrigen Gefühlen ist schwer erträglich, ein Abtragen scheint wenig Erfolg versprechend. Blättern wir schnell weiter. Älter geworden zeigen sich in den Zügen des Mädchens Unsicherheit, Trotz, Unglück als Darstellung
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eines verkrampften Lächelns. Das bleibt auf allen Bildern, ohne dass sich wissende Erinnerung einstellen will, was eigentlich geschah. Wohlfeil mischt sich das Allerweltswort »Pubertät« vor die Fragen und stellt sie ein weiteres Mal still. Die Mischung aus darstellender Pose und kaum verhüllter Regung, die vielleicht am besten als Widerstand bezeichnet werden kann, bleibt. Hier ist eine Person sichtlich nicht im Reinen mit sich. Ein Blick auf andere Gestalten auf den Fotos belegt, es geht ihnen ganz ähnlich, nur, dass bei ihrem Anblick die Episoden hinter den Bildern, die subjektiven Erfahrungen der Situation, des Tages, der Zeit sich nicht nach vorne drängen wollen. Insofern sind Fotoalben kein gutes Mittel, etwa um den Zeitgeist einer Epoche aufzuspüren, eben weil die Geschichten, die aus ihnen herauslesbar sind, nicht die unzähligen gegenläufigen Strömungen unterhalb der Oberfläche des Bildes und der dargestellten Pose sind. Aber gerade deshalb sind Fotoalben ein ausgezeichnetes Mittel für die Arbeit mit eigenen Erinnerungen. Unvermittelt und spontan entlassen sie schon beim ersten Hinsehen eine Vielzahl von kleinen einander widersprechenden gefühlsmäßig hoch geladenen Episoden, die auf ihre Erzählung warten wie Dornröschen hinter der Dornenhecke auf die Erlösung aus dem Schlaf. Wozu aber sollte man sich erinnern? Warum jetzt noch mit sich ins Reine kommen? Warum nicht die alten Geschichten ruhen lassen? Ist nicht die Tatsache, dass sie so schlafend in den Fotos vor sich hin dämmern, selbst Beweis, dass sie sich nicht gelohnt haben? Wozu überhaupt sich eigener Geschichte versichern, in ihr arbeiten, statt gegenwärtig und ausschließlich jetzig zu leben? Die kollektive Erinnerung Die einzelne Person mit ihrer persönlichen Erinnerung läuft in einem komplizierten Verhältnis zu dem, was man kollektive Erinnerung nennt. Diese arbeitet sich ab an Geschichte im Großen, an gesellschaftlichen Strukturen, an groben Einschnitten und Veränderungen, an Krieg und Frieden. Sie verfährt gewissermaßen makrologisch und bestimmt zugleich mit, an was und wie die Einzelnen sich individuell erinnern. Das gibt den Persönlichkeiten so etwas wie eine Zeitmarke in der Weise, wie sie sich in der Welt bewegen. Man kann z.B. eine Kriegsgeneration von einer Nachkriegsgeneration in der Weise unterscheiden, wie sie »Persönliches« erleben, die Wohlstandskinder von den no future-Kindern, die wiederum unter ganz anderen Zwängen leben als die eingeschnürte Adenauergeneration. Deutlich anders sind die Mitglieder ehemaliger staatssozialistischer Gesellschaften in ihrem Erleben, ihren Gewichtungen, der Art, wie sie Erfahrungen zu machen scheinen. Die kollektiven
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Erfahrungen sind ein Rahmen, in dem sich individuelles Erleben abspielt; aber sie bestimmen nicht vollständig, wie die Einzelnen ihre Persönlichkeiten, ihr In-der-Welt-sein organisieren. So mag etwa fur viele aus der Kriegsgeneration der durch grelle Blitze und Donner an ein überdimensionales Feuerwerk erinnernde Nachthimmel eine gemeinsame Erfahrung sein; wer jedoch verbindet Frieden mit einem Krankenhaus, in dem es zum ersten Mal im Leben Milchreis gab, dem darum dieser Beigeschmack von vergangenem Feuerwerk und aus den Fenstern gehängten weißen Laken als Zeichen für das »Sich-Ergeben« auf immer anhaften wird? So schwierig im Einzelnen die Verbindung zwischen kollektiver Geschichte und individueller Erfahrung aufzuspüren ist, so klar wird ein Kampf um die kollektive Geschichtsdeutung, also um den Rahmen persönlicher Erinnerung geführt. Das ist ein eigenartiger Kampf von oben. Hier arbeiten die Regierungen mit ihren ideologischen Apparaten an der Weise, wie sie in den Geschichtsbüchern dargestellt sein werden, und vor allem, wie Geschichte von den Gesellschaftsmitgliedern erfahren werden soll. So unklar die eigene Persönlichkeitsbildung in der Geschichte ist und so uninteressant sie für große Geschichte zu sein scheint, so eindeutig die Regie, wie Vergangenheit verarbeitet werden soll. Dies ist insbesondere und seit Jahrzehnten zu studieren in den Facetten von Faschismusbearbeitung in Deutschland und in anderen traumatischen historischen Kämpfen in aller Welt. Erinnern an Auschwitz Die einige Jahre schon währenden Streitigkeiten um ein Denkmal für die ermordeten Juden in Berlin zieht die Frage des Erinnerns in einen weiteren Kontext von Schuld und Staat, der Rolle von Denkmälern und Gedenkstätten dabei, kurz von Erinnerung als Veranstaltung von oben zur Entschuldung und zur Erziehung der Menschen von unten. Eine Stätte soll geschaffen werden, damit Menschen ihrer Geschichte inne werden mit allen Schrecken und Möglichkeiten. Ich spare an dieser Stelle eine Analyse der wütenden ideologischen Kämpfe um dieses Denkmal und versuche stattdessen Erinnerungsarbeit mit mir selbst in diesem Rahmen. Ende des Jahres 1996 war ich in China. Dieses Land steckt so voller Denkmäler, dass es fast unmöglich ist, ihnen nicht ständig zu begegnen. Sie werden zur bedrängenden Last, unter der Erinnern als Handlung zerdrückt wird. Pflichtübung. Sie zu besichtigen, tagaus, tagein, gehört zum kulturellen Programm, das Besucherinnen aufgenötigt wird. Eines Tages kamen wir nach Nanking, wo wir vor einem weiteren Denkmal abgeladen wurden: viel Stein, eine lange Mauer mit unendlichen Inschriften: die Namen der von Japanern
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gemordeten Stadtbewohner und dazu weißer Schotter, der die Knochen der Getöteten symbolisieren soll. Ich versuchte, mich davonzustehlen. Warum sollte ich um die Chinesen trauern, die von Japanern getötet waren? Oder anders, warum sollte ich nicht um sie trauern? Warum sollte ich nicht der Schuld aller Gewalt gedenken, jetzt und immer? Zwischen der Bereitschaft, mich da hineinfallen zu lassen und dem Widerstand, der um einen Rest von Handlungsfähigkeit ringt, entkomme ich in eine weitere Gedenkstätte. Hier wird die Geschichte des kriegerischen Überfalls nachgestellt, in Bildern, in Worten. Ich gehe durch Straßen, ich lasse mich berühren, ich werde erinnert. Ich denke nicht an China, nicht an Japan. Ich denke an das Land, aus dem ich komme, an die Verbrechen von Herrschaft und Krieg dort. Die Parallelen sind so unübersehbar, wie Völkermorde einander gleichen. Aber diese Einlassung macht, dass ich mich in die Opfer einfühle, selber eines werde, Objekt von Aggression, von Hass, von Vernichtung. Offenbar brauche ich Worte, Zusammenhänge, Bilder, um mich zu erinnern. Aber was macht, dass ich in der Erinnerung viele Tode sterben kann, dass ich gelähmt und voller Schrecken erstarre, nicht aber zornig werde, wütend, bereit, etwas zu tun, ständig und immer einzugreifen, dass Vergessen nicht möglich werde, welches Gleichgültigkeit bringt? Vielleicht ist es eine Berufskrankheit, aber mir scheint immer dringlicher die Erzählung, die Vergewisserung von Geschichte, um Erinnerung zu einer bewegenden Kraft werden zu lassen. Ich überprüfe diese Aussage an der Lektüre eines Romans von Marge Piercy zum Faschismus: Menschen im Krieg (1996). Sie spricht vom Standpunkt der Juden der Welt über den Faschismus in Deutschland. Sie erzählt die Schicksale einzelner Menschen in den vielen in diesen Krieg gezogenen Ländern. Sie erzählt provokativ. Sie berichtet, wie die Ungeheuerlichkeit dieses Krieges Menschen dazu brachte, sich als Menschen zu betätigen, Ungewöhnliches zu tun. Sie zeigt, wie die Einzelnen über sich hinauswuchsen und malt so selbst noch mit den Bildern des Schreckens auch den ganz gewöhnlichen Schrecken, den die »Normalität« den Menschen antut. So schafft sie es, im Schicksal der Schwächsten unter den Verfolgten, der Frauen und Kinder, nicht bloß Geopfertsein zu erinnern, sondern die menschliche Notwendigkeit von Widerstand. Es gibt keine Möglichkeit, diesen Roman bloß aus der Distanz der Geschichte als spät Geborene aufzunehmen. Beim Lesen ist man Teil dieser Leben, ist schwach und schuldig, stark und eingreifend, ist gestorben und wieder lebendig geworden, hat gekämpft und ist nie mehr bereit, im Vergessen einfach zur Tagesordnung überzugehen. So gibt Erzählen der Erinnerung den Stoff, den sie braucht, um eine Kraft zu sein. Ich versuche mein Projekt Erinnerungsarbeit auch in den Kontext einer Er-
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zählkultur zu verorten, gegen die Absage an Erzählungen aller Art. Erzählen als Mittel der Überlieferung und der Vergewisserung eigener Erinnerung; Erzählen als Kultur, als Ausbildung, als Bewegung, als Aufforderung, nicht zu vergessen. In die Vielzahl der Abrechnungen nach 1989 gehört nicht nur die mit der Erzählung, sondern darin auch die mit Peter Weiss, der mir in vielem Vorbild und Orientierung war und ist. Einer der Vorwürfe an ihn war der der Heuchelei, da er versuchte, durch einen Besuch von Auschwitz in fiktiver Erinnerung nachzuleben, was er im wirklichen Leben nicht erfuhr. Die Gegenrede war, nur das unmittelbare Selber-leben sei Stoff für Erinnerung. Das Urteil verdammt uns, in bloßer Gegenwart zu verharren, macht alle Versuche, Geschichtsspuren in die Herzen und Gemüter der Menschen zu legen, die »damals« nicht dabei waren, zur abgeschmackten Phrase. Mich bewegend in den Erzählungen und Geschichten unserer Völker, die sich zum großen Teil so dicht in der Seele ablagern, dass schwer bestimmbar wird, wo man Zeit-, wo Wörtzeuge war, glaube ich solche Flächigkeit und Schlichtheit der Seele nicht. Die Frage stellt sich vielmehr, mit welchen Mitteln Vergangenes ein Leben in uns erhalten kann. Der Zeitgeist Die ideologischen Anstrengungen gegen Erinnerung kulminieren in den letzten Jahren in einem offensichtlichen Paradox. Gerade weil es wohl von großer Bedeutung ist, wie die Einzelnen Vergangenheit wahrnehmen, ihrer Geschichte sich vergewissern, wird ihnen mit großem Aufwand gesagt, dass nichts davon abhänge und daher allein die Gegenwart zähle. Der geschichtslose Mensch ist die Parole des Tages, geeignet, die Gewissenlosigkeit zu entwickeln, welche die Atomisierung und Entsolidarisierung der Menschen und Völker in einer ausschließlich am Markt orientierten Gesellschaft brauchen. Deutschlands größte konservative Zeitung, die Frankfurter Allgemeine (FAZ), berichtet am 5.5.1998 begeistert über das neue Buch eines französischen Historikers (Roussö, 1998). Die Pflicht zur Erinnerung habe sich für ihn heute in eine intellektuelle Zwangsjacke verwandelt. Rousso bezweifelt das Selbstbewusstsein einer Nation, die sich allzu schmerzlich der Vergangenheit annehme (15ff). Der Autor der FAZ verschweigt Roussos Plädoyer für eine Erweiterung eines Begriffs von Gegenwart, der im Prinzip alle Geschichte einschließt, und eröffnet eines dieser modischen Kampfspiele, in denen Begriffe aufsteigen wie Raketen, nach einer heftigen Karriere vom Thron gestoßen werden, in der Asche ihres einstigen Erfolgs vergraben, um einer neuen Mode Platz zu machen. Erinnerung und Gedächtnis - das waren
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Begriffe, an die sich Hoffnung, Verzweiflung knüpfte, das Engagement des Nie-wieder. Entsprechend hängt die Frankfurter Allgemeine dem Begriff Erinnerung die Militanz der 68er Jahre an als eine Art Geste, verknüpft ihn schnell noch mit 1989, mit dem »ein obsessiver Hang zur zeitgeschichtlichen Aufklärung« einhergehe und schaufelt behende am Grab dessen, was sie »Gedächtniskult der letzten 30 Jahre« nennt (Ulrich Raulff in FAZ, 5.5.98). Die Strategie, Begriffe als modische Karrieren zu sehen und sich so einen Platz zu schaffen in der Konjunktur, um die selbst mit eingeläutete Krise zum Wiedereinstieg und Aufstieg zu nutzen, ist Teil der Bewegung, die Wissensproduktion dem Markt anzupassen und daher einerseits die theoretischen Köpfe in erbitterte Konkurrenz um Meinungsführung zu treiben und zugleich die Medien und das Publikum demokratisch an der Siegerehrung zu beteiligen. Es werden so immer zugleich mehrere Kampflinien bedient und verschoben. Die Beförderung des allgemeinen Vergessens setzt instand für neue Unternehmungen; die Unruhe, nicht wirklich am Machen von großer Geschichte beteiligt gewesen zu sein und so nicht genau zu wissen, was man davon hat, wenn sie jetzt begraben wird, bevor sie aufgearbeitet ist, wird stillgestellt durch das Angebot von Mitbestimmung. Begriffliche Anstrengung gibt es im Warenhaus, wir alle können durch Nachfrageverhalten das jeweilige Leben mitentscheiden und selbstbewusst mitmachen, Erkenntnis in eine modische Ware zu verwandeln. Es versteht sich von selbst, dass sie in dieser Weise aufgehört hat, für alle gültig zu sein. Sie ist ein Konsumartikel wie die verschiedenen Nudelsorten und ihre Geltung von der Marktführerschaft ihres Unternehmers abhängig, der wiederum von unserer Nachfrage geleitet zu sein scheint. Kein Zweifel, auf dem Markt der Möglichkeiten hat die Erinnerung deutlich an Marktwert verloren. Das Projekt Daher betrachte ich etwas kleinlaut die selbst gestellte Aufgabe, in diesem wortgewaltigen Marktgetümmel das Projekt, das ich Mitte der siebziger Jahre, noch zu Hochzeiten der Frauenbewegung, begonnen und Erinnerungsarbeit genannt habe1, hier noch einmal einführend vorzustellen. Erinnerungsarbeit ist viel bescheidener und bedeutend unverschämter als die um Marktwert streitenden Begriffskarrieristen. Es geht um nichts weniger, 1
Den begrifflichen Vorschlag verdanke ich Rolf Nemitz, mit dem ich damals in einem Projekt zur Erforschung der Automationsarbeit zusammenarbeitete, und der ein aufmerksames Interesse fur meine Arbeit mit dem dringlichen Wunsch nach begrifflicher Zuspitzung verband.
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als darum, Erinnerung zur Befreiung zu nutzen. Während ich dies schreibe, ist mir klar: die Worte sind diskreditiert; sie haben ihren (Markt)wert verloren. Das gilt der Erinnerung gerade jetzt zu Ende dieses zweiten Jahrtausends; wer da noch erfahren werden kann als einer, der sich solchen Begriffs bedient, beweist schon, dass er den Zug der Zeit hoffnungslos versäumt hat; es gilt auf jeden Fall für den Begriff der Befreiung, der im Florettfechten der fleißigen Intellektuellen geradezu ein Synonym geworden ist für altmodisch, ewig-gestrig, Verlierer. Dennoch: ich kann die Verknüpfung von Erinnerung und Befreiung nicht aufgeben. So versuche ich dem steten Fall der Begriffe entgegenzusteuern durch Konkretisierung. Zwar ist die individuelle Erinnerung nicht denkbar ohne die kollektive, ist jede persönliche Erinnerung eine, die teilhat am historischen Prozess; aber der Umgang mit Erinnerung in diesem Projekt Erinnerungsarbeit bezieht sich zunächst auf die eigene Vergangenheit, persönliches Erinnern, Fragen auf der Suche nach sich selbst in eigener Biographie, wie sie einem beim Durchblättern eines Fotoalbums entgegendrängt. Damit rückt der Gegenstand dieses Projekt sogleich vom Marktplatz wissenschaftlich honorierbarer Leistung in die Hinterstube der leichteren trivialen Formen. Alltagsgeschichten und Entwurf einer Theorie weiblicher Sozialisation, so hatte ich unser erstes Buch genannt, das noch ganz anfanglich versuchte, aus den erinnerten Erzählungen vieler der Frage nachzugehen, wie wir eigentlich diejenigen geworden waren, die wir heute sind. Auch dieser erste Versuch zeigt schon in der bescheidenen Formulierung die Unverschämtheit des Zugriffs. Was angezielt ist auf dem Boden kleiner persönlicher Erlebnisse, soweit die Erinnerung sie zensierend herausgibt, ist die Herausarbeitung ganz allgemeiner, wenn auch immer vorläufiger Aussagen zur Aneignung von Weiblichkeit in unseren Gesellschaften. Eingeschlossen in diesen selbst gegebenen Forschungsauftrag sind die auf Erfahrung gegründeten Annahmen, - dass diese Weiblichkeit, für die wir den Begriff Frauenformen fanden, für uns ein Gefängnis ist, aus dem wir uns befreien wollen; - dass wir dies selber tun müssen und nicht durch andere erledigen lassen; - dass wir das Wissen darum, wenngleich in vielfach verzerrter, illusionärer, nur halb bewusster, zumeist zensierter Form selber haben, wiederum aus Erfahrung, - und dass es also der Arbeit mit der eigenen Erinnerung bedarf, um Menschlichkeit, befreitere Zukunft zu gewinnen. Sehr knapp gesprochen ist Erinnerungsarbeit also ein Forschungsprojekt, geboren mitten in der Frauenbewegung, als sie am stärksten war, ein Aufruf an viele, mehr als ein methodischer Vorschlag, obwohl sie dieses auch ist. Er-
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innerungsarbeit hat in gut zwei Jahrzehnten vielfaltige methodische Verbesserungen, theoretische Zweifel und Erneuerungen, immer weitere Anwendungsfelder gefunden, immer mehr Gruppen eingeschlossen, bis ganz unübersichtlich wurde, wer eigentlich alles, wo und mit welchen Kritiken dazu arbeitete. Lange schon habe ich den Versuch aufgegeben, eine Art Verzeichnis mit Themen und Adressen über die Gruppen zu führen, die, zunächst in Deutschland, später in vielen Teilen der Welt, Erinnerungsarbeit betrieben. Erinnerungsarbeit ist, wissenschaftlich gesprochen, eine sozialpsychologische Forschungsmethode, politisch gesprochen setzt sie auf ein Kollektiv, das zumindest eigene Befreiung verfolgt, theoretisch beruht sie auf vorgängiger Vernetzungsarbeit verschiedener Disziplinen und Schwerpunkte, von denen Kulturtheorie, Ideologietheorie, kritische Psychologie, Sprachtheorie sicher die wichtigsten sind. Angezielt ist eine Vermehrung des Wissens um weibliche Vergesellschaftung (obwohl die Methode selbst auch allgemein durchführbar ist) bei gleichzeitiger Vertiefung eigener Handlungsfähigkeit. Bevor ich die in diesem Band versammelten Vorlesungen als einen erfahrbaren Gang durch die Schwierigkeiten und überraschenden Einsichten beim Machen von Erinnerungsarbeit vorstelle, trete ich einen Schritt zurück und rekonstruiere noch einmal das Projekt, gebe uns eine Geschichte, die besser als die in den modischen Auseinandersetzungen geschwächten Begriffe von Herrschaft und Befreiung deutlich machen kann, dass es dennoch genau darum geht, immer noch. Ich erzähle, wie wir2 darauf gekommen sind, Erinnerungsarbeit zu beginnen, zu betreiben, immer weiter zu verfolgen über zwanzig Jahre lang. Die Problematik des Anfangs kann die innere Logik des Weiterschreitens in ihrer Vielfältigkeit verständlich machen. Jedes Hindernis, das wir erfuhren, zeigt die Notwendigkeit theoriegeleiteter Erkundung, jeder Widerstand in der Sache selbst, in uns, in unseren Versuchen musste umgeformt werden in Forschungsanstrengung.
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Der Gebrauch des Plural-Ichs »wir« ist keine akademische Geste, sondern eine Bezeichnung für ein Frauenkollektiv, das freilich in seiner Zusammensetzung niemals gleich blieb, ohnehin fur jedes neue Forschungsprojekt neu sich zusammensetzte, wenn auch einige das Projekt länger begleiteten (so arbeitete, forschte, lernte und schrieb zum Beispiel Kornelia Hauser über mehr als 10 Jahre im Projekt und war Mitherausgeberin bei vier Bänden). Auf jeden Fall aber blieb immer meine Person. Ich berichte also von einem »wir«, in dem ich tätig eingeschlossen war und bin.
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Der Anfang Die »Wiedereinsetzung der Erinnerung in ihr Recht als Mittel der Befreiung (ist) eine der edelsten Aufgaben des Denkens«, verkündet Herbert Marcuse lange vor Beginn der Studenten-, der Frauenbewegung (Marcuse, 1957, 223). Aber wiewohl die Möglichkeit vom schon Gedachten schneller und ausgreifender aufzusteigen in Zusammenhänge von Mensch und Gesellschaft, um die es uns ja ging, in Buchform vielfältig vor uns lag, begannen wir nicht mit solch verführerisch-aufklärerischen Sätzen. Unser Weg war mühsamer, anfanglicher, umwegiger, naiver. Wir begannen mit unerwarteten Schwierigkeiten in uns selbst, mit der Erfahrung eines politisch-kulturellen Schocks. Es war zu Beginn der »neuen« Frauenbewegung Anfang der siebziger Jahre. »Wir«, das war in diesem Fall eine Gruppe sozialistischer Frauen, die sich zusammengefunden hatte, um das, was wir die »Defizite weiblicher Sozialisation« nannten, zu überwinden. Dies in erster Linie, um uns zur Politik zu befähigen, die nötigen Voraussetzungen zu schaffen, um endlich ernsthaft Politik zu machen. Wir nahmen an, dass wir uns in erster Linie ein Wissen aneignen müssten verbunden mit der Fähigkeit, es öffentlich zu artikulieren, - wir begannen mit dem, was wir für unsere Politikausbildung hielten. Eine der beiden ersten Gruppen der neuen Frauenbewegung, der »Aktionsrat zur Befreiung der Frau« in Westberlin, wurde von uns umgebaut in viele kleine Lerngruppen3, in denen wir eine Menge Bücher und Aufsätze lasen und diskutierten, wie dies in den Zeiten der Studentenbewegung üblich war. Wir nannten das Schulung. Unsere Auswahl bezog sich wesentlich auf das Feld der politischen Ökonomie, eben weil wir uns befähigen wollten, in der Politik ebenso kompetent zu sein, wie wir die Männer vermuteten. Es gab zu dieser Zeit, den beginnenden siebziger Jahren, kaum Bücher, die sich direkt auf Frauen bezogen; in unser Blickfeld kamen so nur Engels und Bebel und ein wenig Alexandra Kollontai und Klara Zetkin. Wir kämpften uns durch Engels' Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats und fügten selbst Marx' Kapital Band 1 zu unserem Studienmaterial.
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Der Aktionsrat versammelte etwa 100 Frauen, die sich ihm zugehörig fühlten; die Kleingruppen hatten jeweils etwa 12 Mitglieder. Die Geschichte auch dieser Bewegung und dieser neuen Organisationsformen wird stets neu geschrieben, verstärkt seit 1998, aus Anlass ihres 30. Jubiläums. Ich verzichte in diesem Kontext auf eine genauere Darstellung, da mein Schwerpunkt die Begründung von Erinnerungsarbeit ist, die nur eine kleine Gruppe in dem damaligen Frauenbund betraf. Zur Geschichte der Frauenbewegung vgl. meinen Beitrag in Haug, F., 1996.
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In meiner Gruppe waren wir 11 Frauen, und unsere Begeisterung, gemeinsam zu lernen, konnte gar nicht genug bekommen. Wir reisten zusammen, wir verbrachten gemeinsame Wochenenden und zuweilen sogar unsere Ferien, wir kochten und aßen zusammen und durchstreiften die Berliner Kneipen bei Nacht, was zu der damaligen Zeit für Frauen als anstößig galt. Wir organisierten Konferenzen, Demonstrationen, Go-ins, zum Beispiel auf einem vornehmen Ärztekongress, und wir waren Mitorganisatorinnen des ersten Kongresses der »neuen« Frauen in Frankfurt 1972, ein Treffen, auf dem erstmalig Männer nicht zugelassen waren. Dort auch erlebten wir das erste Fest nur mit Frauen, dessen Faszination, ja im Grunde dessen bloße Möglichkeit wir zuvor für ganz ausgeschlossen gehalten hatten. Wir fühlten uns unerhört stark und lebendig. Bald suchten wir nach einem Ausweg, der selbst auferlegten Regel, nach einem Jahr je einzeln neue Gruppen zu gründen, zu entkommen und zusammenzubleiben, wenigstens noch ein weiteres Jahr. Da kamen wir auf die Idee, ein nützliches Buch zu schreiben, ein Buch für die Bewegung der Frauen, in dem wir unsere gemeinschaftlichen Lernerfahrungen allen Frauen zugänglich machen wollten, damit sie lernten wie wir. Das Schwierigste schien uns der Anfang. So taten wir das Nächstliegende: wir schrieben zunächst Zusammenfassungen von all den Aufsätzen und Büchern, die wir gelesen hatten und erstellten so eine Art Studienbuch, das, ohne Umschweife gesprochen, ganz und gar langweilig und zudem schlecht geschrieben war. Nichts von der Leidenschaft, die uns beim Lernen beseelt hatte, nichts von der Stärke, die die Gemeinsamkeit vermittelt hatte, nichts von der Bewegung, die wir doch alle gespürt hatten. Aber schlimmer noch, beim wiederholten Durchlesen mussten wir erkennen, dass unser Buch gar nicht vom Lernen handelte und schon gar nicht von den Frauen, die solches erfahren hatten, sondern eben von dem, was wir gelesen hatten, zum Beispiel von der Urgesellschaft, von Jägern und Treibern, vom Staat und vom Wirtschaftswachstum, von Angestellten und von Bildungskennziffern. Wir hatten schon 80 Seiten geschrieben und noch war keine einzige Frau irgendwo aufgetaucht. Das war in der ersten Hälfte der siebziger Jahre; damals war uns schon bewusst, dass die Frauen in der Bewegung, für die wir dieses Buch schreiben wollten, es in neuer Rigorosität, die auf der sichtbaren Anwesenheit von Frauen auch in Texten bestand, keinesfalls lesen würden. Wir legten das bisher Verfasste beiseite und versuchten uns zu besinnen, wie wir eigentlich zusammen gelernt hatten. Die Erinnerung wollte sich nicht verlebendigen. So gaben wir uns die Aufgabe, je einzeln aufzuschreiben, was ihr bei der Frage des gemeinsamen Gelernthabens einfiel, kleine Geschichten, jähe Erlebnisse, Lust am Lernen, Lernerfolg oder auch Mühe und Unlust.
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Wir waren gespannt auf diese neuen Geschichten. Die Hoffnung, dass sie uns einen Schlüssel zu unserem Lernen liefern könnten, beschwichtigte unser schlechtes Gewissen, dass wir uns jetzt uns selbst und so alltäglichen Geschichten zuwandten, statt ordentlich zu forschen. Das wechselseitige Vorlesen dieser Alltagstexte stürzte uns jedoch in den nächsten Schock. Während alle Frauen in der Gruppe, ganz unabhängig von ihrem Bildungshintergrund, inzwischen in der Lage waren, ein wissenschaftliches Buch oder einen Aufsatz in klaren Worten zusammenzufassen, waren die Geschichten aus dem eigenen Leben äußerst schlecht geschrieben wie ehedem Schulaufsätze. Sie stotterten herum, wo es um Gefühl und Vernunft ging. Und, was für uns das Schlimmste war, sie erwiesen sich als tief verwurzelt in eben den gesellschaftlichen Verhältnissen, in den Werten und der Ideologie, die wir überwinden wollten. Sie sprachen gewissermaßen mitten aus einem ideologischen Commonsense, waren verankert in der herrschenden Kultur und waren doch von uns geschrieben, die wir uns klug und geschult gedacht hatten, fähig, andere zu belehren. Kurz: wir hatten ungeprüft angenommen, dass wir über die Verhältnisse erhaben seien und anderen, weniger Glücklichen, helfen müssten, sich ebenfalls zu erheben. Aus diesem schweren Schock, uns selbst als Kinder dieser Verhältnisse zu erfahren, zogen wir fünf wichtige Lehren, die so etwas wie grundlegende Theoreme und der Anfang von Erinnerungsarbeit wurden. Ich fasse knapp zusammen: 1. Es war falsch, uns als so etwas wie die »Avant-Garde« der Frauenbewegung zu denken, was wir, wenn auch nicht so deutlich ausgesprochen, implizit angenommen hatten. Wir trugen als Kinder dieser gleichen gesellschaftlichen Verhältnisse die gleichen Male, trafen auf die gleichen Hindernisse, hatten die gleichen Mängel und Möglichkeiten wie die meisten anderen Frauen. Diese Einsicht veränderte auf lange Sicht unsere Politik und änderte für mich zugleich die Vorstellung, wie Forschung zu betreiben wäre. Wir konnten uns selbst als »empirisches Material«, als »Gegenstände« unserer Forschung betrachten, wenn wir wissen wollten, wie weibliche Sozialisationsprozesse geschehen. Das machte den Forschungsprozess sogleich leichter und schwieriger. 2. Wir müssen annehmen, dass die herrschende Kultur und Ideologie auch durch uns selbst reproduziert werden. Also müssen wir im gleichen Zug diese Bereiche studieren und erforschen, wie wir als Produzentinnen des Kulturellen und des Ideologischen tätig sind und wie wir dies erfahren. 3. Wir lernten auch auf schmerzhafte Weise die Politik der Sprache. Früh erfuhren wir also praktisch, dass Sprache nicht einfach ein Werkzeug war,
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dessen wir uns besser oder schlechter bedienen konnten, sondern dass sie mit uns Politik machte, wir also zugleich Subjekt von Sprache waren, sie ein Instrument, wie ihre nicht vollständig bewusste Stimme, deren sie sich bediente, wir ein Instrument. 4. Der Umstand, dass wir unfähig waren, über Frauen zu sprechen, wenn wir Lerntheorien und Theorien von Gesellschaft, Kultur usw. nachzeichneten, war nicht nur unser Fehler, sondern verdankte sich der vollständigen Abwesenheit von Frauen in eben diesen Theorien, die es von da an in erster Linie kritisch zu bearbeiten galt. 5. Ein riesiges unbekanntes Land, das Wissen, wie Frauen sich in Gesellschaft hineinarbeiten, lag vor uns, und wir als Frauen waren die Expertinnen, die »wussten«, wie das getan wurde, weil wir selbst es Tag und Nacht lebten. Diese Einsichten waren zugleich schmerzhaft und faszinierend. Wenn wir uns selbst als Teil dieser gesellschaftlichen Verhältnisse dachten, die wir als irgendwie uns äußerliche und von uns unabhängige Strukturen zu kritisieren gelernt hatten, mussten wir uns demnach als Persönlichkeiten wahrnehmen, welche eben diese Gesellschaft reproduzierten, in die wir mit Herz und Verstand, mit Gefühl und Vernunft verstrickt waren. Es war schwierig, unsere Politik zu ändern, aber es war faszinierend, uns plötzlich selbst als Forschungsfeld zu entdecken und andere Frauen im ganzen Land und auch im Ausland zu überzeugen, ebenso zu verfahren. Wiederum war es unerhört schwierig, die Selbstverständlichkeit, mit der wir uns unhinterfragt wahrgenommen hatten, zu ändern, in eine gewisse Distanz zu uns zu gehen, mit unseren Gefühlen zu arbeiten ebenso wie mit der Weise, wie wir spontan Alltag dachten und wie wir eine Verbindung zwischen Gefühlen und Haltungen und Alltagsleben vermuteten. Dies war die Geburtsstunde von Erinnerungsarbeit. Ich habe diese Arbeit inzwischen über zwei Jahrzehnte in immer anderen Bereichen und immer wechselnden Forschungsgruppen getan; wir schrieben und veröffentlichten neun Bücher, von denen zwei ins Englische übersetzt wurden4. Wir nannten das Forschungsprojekt in seiner Gesamtheit Frauenformen. Der Begriff sollte verschiedene theoretische Einsichten zusammenfügen. Er ist Anspielung an die Kategorie der Individualitätsform, die der französische Philosoph Lucien Seve in seiner Persönlichkeitstheorie vorgeschlagen hat (Seve, 1972) und verweist damit auf die fertigen Formen, welche die einzelnen Individuen in jeder Epoche vorfinden, und in die hinein sie 4
Frigga Haug (ed.): Female Sexualization. London 1987; Frigga Haug: Beyond Female Masochism. Memory-Work and Politics. London 1992
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ihre Persönlichkeiten entfalten können und müssen. Damit sind die eigenen Aktivitäten ebenso eingeschlossen in die Untersuchung wie die Bedingungen, die die Einzelnen vorfinden - Formierung ebenso wie Selbstformung. In dieser Weise baut Seve für unsere Forschungszwecke den Marxschen Formbegriff aus. Aber der Begriff transportiert zugleich eine Zusatzbedeutung: Frauenformen, das sind auch diese Idealmaße, in die Frauen sich hineinzwängen, körperlich ebenso wie seelisch, es sind die Idealisierungen und ihre Wirklichkeiten und zugleich die Träume und Hoffnungen von Selbstverwirklichung, je historisch verschieden. Mit jeder neuen Untersuchung haben wir die Forschungsmethode verändert und auch verbessert. Sie ist weiter in Bewegung, ist so selbst ein Prozess. Die wesentlichen Dimensionen in diesem Zusammenhang haben nicht aufgehört, mir mein lebenslanges Forschungsprojekt zu sein: Methodenfragen, Sprache und Kultur, Lernen und vor allem die dringliche umfassende Frage, wie wir wirklich diese jetzige Gesellschaft in all ihren Umbrüchen, in ihren Schrecknissen und ihren Möglichkeiten, wie wir ihre Herrschaftsverhältnisse reproduzieren, wir als Individuen und wir als Frauen. Diese Frage weist für mich weit über den modischen Abschied an die Möglichkeit, von Frauen zu sprechen (im Plural) und so ein kollektives Subjekt zu unterstellen, hinaus. Die Frage, wie die Geschlechter und ihre Konstruktion, wie die Geschlechterverhältnisse gesellschaftliche Triebkräfte sind und sie selbst blockieren oder vorantreiben, muss die Möglichkeit, von Frauen als Teil dieses Zusammenhangs zu sprechen, voraussetzen. In dem fraglos bunten Gemisch an Realisierungen von Frausein in Gesellschaft will ich ein Verbindendes in den Positionierungen zum anderen Geschlecht voraussetzen, das es mir allererst ermöglicht, die vielfältigen Besonderheiten zu studieren und Befreiungspotentiale zu entdecken.
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Erinnerungspolitik und Befreiungsverlangen In dem Traum, in dem jeder Epoche die ihr folgende in Bildern vor Augen tritt, erscheint die Letztere vermählt mit Elementen der Urgeschichte, das heißt einer klassenlosen Gesellschaft. Deren Erfahrungen, welche im Unbewussten des Kollektivs ihr Depot haben, erzeugen in Durchdringung mit dem Neuen die Utopie, die in tausend Konfigurationen des Lebens, von den dauernden Bauten bis zu den flüchtigen Moden, ihre Spur hinterlassen hat. Walter Benjamin, Passagenwerk, 47 Erinnerung ist für jede Befreiungstheorie von strategischer Bedeutung. Erinnerung als kollektives Geschichtsbewusstsein, aber auch als individuelles Vermögen. Aus der Vergangenheit eine Vorstellung vom Möglichen, von Veränderung, von Widerstand zu gewinnen und so ins Zukünftige sich zu entwerfen - in dieser Spannbreite fungiert sie befreiungstheoretisch und in kritischer Theorie und Literatur. Erinnerung wird Einfallstor für Ideologisches und zugleich Voraussetzung für Ideologiekritik und eingreifendes Handeln,Träger von Hoffnung wie von Verzweiflung. Erinnerung macht die Nagelprobe aufs historisch-kritische Projekt. Obwohl die Thematik sowohl die Geschichtsphilosophie als auch Erkenntnistheorie und Psychologie immer wieder beschäftigt hat, ist Erinnerung kein scharf gefasster Begriff. Häufig wird er synonym mit »Gedächtnis« benutzt. Insbesondere in der Verbform »erinnern« meint Erinnerung alltagssprachlich, sich etwas Beliebiges zu vergegenwärtigen, sei es, was man gerade tun wollte, was gestern in der Zeitung stand, was die Großeltern erzählten, was in Geschichtsbüchern zu lernen war, welcher Weg wohin führt. Daher gilt es zunächst, das Feld abzustecken und die unterschiedlichen Disziplinen zu befragen, die sich mit Erinnerung befassen. In diesem Kapitel nähere ich mich der Problematik historisch-rekonstruktiv. Mit dem Ausgangspunkt in der griechischen Philosophie verfolge ich den Streit um Erinnerung in der bürgerlichen Philosophie, um von diesen beiden Ausgangsorten her das Ringen um Erinnerung als Energie für Befreiung aufzuarbeiten. Ernst Bloch, Walter Benjamin und die Kritische Theorie (Adorno, Ma reuse) werden befragt und ihre Auffassungen in das Studium neuerer Literatur überführt. Die Arbeit mit Erinnerung aus den Jahren nach dem Faschismus in den Romanen von Peter Weiss, Uwe Johnson und Christa Wolf zeigen Hoffnung und Verzweiflung, verzweifelte Hoffnung. Auch sie sind Material für ein Projekt von Befreiung, das historisch-kritisch verfahren wird. Das Kapitel wird abgeschlossen mit kritischen Ausflügen in die Disziplinen Psychologie und Geschichte und ihre Arbeit mit Erinnerung.
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Antike Zunächst geht es um die Feststellung, dass Erinnerung zwar eine eigene Anstrengung ist, ihr Resultat aber niemals mehr sein kann als Gesehenes, nur weniger. Erinnerung ist Vergewisserung von schon Gekanntem. Piaton rückt sie als Aufhebung des Vergessens (griech. anamnesis) ins Zentrum seiner Ideenlehre. In dieser Gegenüberstellung kann sich Erinnerung nur auf schon Gewusstes beziehen, Lernen ist Wieder-Erinnerung an das Geschaute. Dieses Motiv läuft in vielfaltigen Formen durch die Philosophiegeschichte, später auch durch die Psychologie. So liest man bei Descartes, »dass ich weniger etwas Neues zu lernen scheine, als mich dessen zu erinnern, was ich schon vorher wusste« (Medit., III); und Leibniz stellt fest: »wir können nichts lernen, als was schon in der Vorstellung existiert« (Phil. Schriften 5, 41f). Ernst Bloch wird sich polemisch-verschiebend mit diesem Konstrukt auseinander setzen (dazu später). Schon bei Aristoteles wird die Sache komplizierter. Erinnerung wird gleichsam zum Tiefenmaß für Verstand und Gelehrsamkeit. Dies hängt mit ihrem Verhältnis zur Erfahrung zusammen, die als nicht bloß gelebte, sondern behaltene als etwas spezifisch Menschliches ausgemacht wird. Aristoteles bestimmt Erinnerung im Sinne von Gedächtnis zunächst als animalische Elementarfahigkeit: »Von Natur nun entstehen die Lebewesen mit sinnlicher Wahrnehmung (Historisches< Material a priori arbeitet inhaltlich in der Wunschzeit, mit der der Mensch bewusst und utopisch in die gegebene Zeit einschlägt, sie wirklich erst zu einem Geschichtsprozess machen will, in Richtung auf ein mensch-adäquates Reich.« (Philosophische Aufsätze, 168) - Aus der durch Erinnerung veränderten Welt von Geist und Vernunft ins »Vollkommene« wird Veränderung von Welt. Bloch schreibt seine Ausführungen zur Hoffnung als Kritik am platonischen Anamnesis-Modell des bloßen Wiedererkennens in der Erkenntnis. Seine Wörtwendungen sind »Dämmerung nach vorwärts« (128), und immer wieder das »Noch nicht«, »das Vorbewusste, in dem ein Heraufkommendes zu klären ist, die »Psychologie des Unbewussten der anderen Seite, der Dämmerung nach Vorwärts« (130). »Das Subjekt wittert Morgenluft« (131). Die Bilder Hegels tauchen wieder auf und gewinnen materielles Dasein, der Mensch ist gedacht als »Behälter voll Zukunft« (133). Allerdings ist es nicht die Erinnerung, welche die Hoffnung erschließt, Erfahrungen bündelt und so dem Wissen zugänglich macht. Sie ist vielmehr Gegnerin der Hoffnung.
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»Hoffnung nicht nur ein Gegenbegriff zur Angst, sondern auch, unbeschadet ihres Affektcharakters, zur Erinnerung« (126). Die Erinnerung führt einen »logisch-statischen Kampf gegen das Mögliche« (26Iff). Stattdessen geht es ihm darum, vor oder hinter das rational Bewusste zu gelangen, Erlebtes unter den Rändern des Vergessens hervorzuholen, in dem gleichsam vorbewusst ein »Heraufkommendes zu klären ist« (Prinzip, 30). »Die Sperre ist die klassenmäßig bedingte Küstenschifffahrtringsums Gegebene, ja Vergangene, ist die Abneigung des statischen Denkens gegen den Weltbegriff der tätigen Offenheit und Bläue.« (263) Immer geht es um das Mögliche, das wirklich werden will; mit ihm sucht er die Platonsche Begrenzung der Erinnerung aufs Gekannte zu unterlaufen: »So liegt der Kategorialbegriff Möglichkeit insgesamt in fast lauter jungfräulichem Land; er ist der Benjamin unter den großen Begriffen.« (Prinzip, 263) Für die »Arbeit der Umgestaltung«, (267) gelte es, gegen die Unlust zum Möglichen vorzugehen, mit einer Kraft, die eben nicht aus der Erinnerung kommen könne. Im Grunde arbeitet Bloch an der Frage der Vermittlung von kollektiver Geschichte und individuellem Erleben. Dabei denkt er die individuelle Erinnerung als kleinlich, schwach und als Unlust zum Möglichen. Traumbilder gelten dahingegen als Sprengstoff, das Feuer der Ungenügsamkeit in subjektiver Intention zu zünden. Was für uns wichtig ist, wird u.U. gar nicht erinnert. Wir selbst kommen vielleicht in keiner brauchbaren Gegend der Erinnerung vor {Geist der Utopie, Gesamtausgabe 3, 241). Da die Geschichte nicht unsere ist, muss die »Arbeit der Umgestaltung« auf Hoffnung setzen, auf die Idee, die in der Geschichte halberfüllt stehen blieb und eine »weitergeltende unabgegoltene Anweisung« ist (GA 10, 166f). »Zuweilen nur zeigen sich in diesem Erinnern Züge des gleichsam höheren, menschlichen Wollens, zuweilen nur gewinnt das Dunkel des Traums einhüllende Affinität zu dem Geheimnis der Ahnung, die aus ihm spricht, vor allzu frechem Licht geschützt; gewiss auch zeigen sich zuweilen im Erinnern die tiefsinnigen Vergoldungen des Gewesenen, die ein Weiteres, Utopisches, Wesentliches als eingesprengt in dem Vergangenen anzeigen und daraus retten.« (GA 3, 238) Erinnerung scheint ihm so »keine uns gemäße Kraft« (ebd.). Stattdessen gelte es, die Träume zu nutzen. Wichtig wird der Ausdruck »aufwachen«, den Traum auf die Füße stellen, ihn realisieren. So sind ihm schließlich nicht Erinnerung, sondern das Wünschen, sind die »Traumbilder« »Sprengstoff« für eine »Gesellschaft ohne Entfremdung, Natur ohne bloßen Kreislauf aus Entwicklung und Entropie« (169). »Im Traum vor allem kehrt das wachend untergegangene Wollen wieder, bemächtigt sich, bewegt und dennoch nichts mehr bewegend, halluzinierter Erinnerungsinhalte.« (Geist der Utopie, 238) An anderer Stelle formuliert Bloch weniger rigoros, nimmt Erinnerung als
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Gegenpart zu Antizipation, später ins Utopische hinein: »Erinnerung wie Vorwegnahme treten als ebenso einander zuordenbare wie in ihrer Richtung entgegengesetzte Zugangsakte auf: Der eine, retentionale, wendet sich gegen die fressende Zeit [...], der andere, der potentionale Akt, geht mit der gebärenden Zeit.« (Prinzip Hoffnung, 329f) »Erinnerung erscheint als Mahnung, Hoffnung als Eingedenken; beides ist im Gewissens-, Wissensbezug auf ein Unterlassenes, Unbesorgtes, zu Besorgendes utopisch geeint.« (Erinnerung< war. [...] Wiederholung und Erinnerung sind dieselbe Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung. Denn was da erinnert wird, ist gewesen, wird nach rückwärts wiederholt, wohingegen die eigentliche Wiederholung nach vorwärts erinnert.« (1843, Werke II, 7) An anderer Stelle ist für Benjamin das Erwachen aus dem Traum »eine völlig einzigartige Erfahrung der Dialektik« (Werke V, 491). Benjamin stellt seine Überlegungen zur Erinnerung in den Kontext der sich entwickelnden Warengesellschaft, der Industrialisierung von Produktion, Konsum, Verkauf und Architektur, einem Zeitalter, in dem kollektives Bewusstsein in den Schlaf sinkt, das Individualbewusstsein immer reflektierter wird. Die Medien fordern zunehmende Zerstreuung, indem sie versuchen, »die Ereignisse gegen den Bereich abzudichten, in dem sie die Erfahrung des Lesers betreffen könnten« (Werke V, 610); die Verkümmerung von Erfahrung geschieht durch einen Ersetzungsprozess: die Erzählung wird von der Mitteilung, diese von Nachrichten und diese schließlich von Sensationen abgelöst. Resultat sind Individuen, die pathologisch versuchen, ihrer Kinderwelten wieder habhaft zu werden. Marcel Proust ist für Benjamin zugleich exemplarisches Zeugnis für den Zustand der Privatheit von Erinnerung wie Bearbeitung und Offenbarung desselben. Proust unterscheidet die willkürliche Erinnerung, vom unwillkürlichen Gedächtnis, wobei erstere unter der Botmäßigkeit der Intelligenz steht, von ihr auch zensiert werden kann. Das unwillkürliche Gedächtnis hingegen, Quell der schöpferischen Phantasie, entzieht sich dem formenden Willen: »Ebenso ist es mit unserer Vergangenheit. Vergebens versuchen wir sie wieder heraufzubeschwören, unser Geist bemüht sich umsonst. Sie verbirgt sich außerhalb seines Machtbereichs [...] Wird sie bis an die Oberfläche meines Bewusstseins gelangen, diese Erinnerung, jener Augenblick von einst, der, angezogen durch einen ihm gleichen Augenblick, von so weit hergekommen ist, um alles in mir zu wecken?« (Auf der Suche, 1, 63ff). Benjamin begreift diese Problematik als spezifisches Vergesellschaftungsproblem im Kapitalismus und das unwillkürliche Gedächtnis als Inventar der vielfaltig isolierten Privatperson (Werke V, 612), als Produkt einer Trennung des aktiven Lebens vom kontemplativen, das sich aus dem Gedächtnis erschließt und Erfahrungen synthetischer Art macht (V, 609). Und für unsere heutige immer zerstreuender auf bloße Gegenwart bezogene Kultur formuliert er höchst aktuell: Aufgabe des Befreiungstheoretikers wird es, die Bedingungen zu analysieren, unter denen keine aktiven Erfahrungen mehr gemacht werden, welche als eigene Geschichte erinnert werden können. Dazu
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gehört die Zerstreuung durch die Massenkultur, aber auch Ausschließung der ungelernten Arbeiter aus einer Arbeits-Lernerfahrung in der Lohnarbeit und die Wiederholung und Leere beim Glücksspiel. Vergangenheitslosigkeit, Vergeblichkeit, nicht vollenden dürfen führen zu einem Dasein als Automaten, die ihr Gedächtnis verloren haben (V, 633f). Die Rückeroberung der Erinnerung, die alle Sinne des Menschen einschließt (1,1034), wird so zur notwendigen Voraussetzung von Befreiung wie auch zu deren Ziel. »Freilich fallt erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu« und »ist in jedem ihrer Momente zitierbar geworden« (I, 694). In seinen geschichtsphilosophischen Überlegungen stellt Benjamin die Erinnerungs-Problematik in Gegensatz zum Projekt des Historismus, Vergangenes zu »erkennen, >wie es wirklich istAlle Verdinglichung ist ein VergessenTräger< individualbiographischer Kontinuität und Widersprüchlichkeit, auf jene Züge hin, durch welche jeweils bestimmte Formen geschilderter Realitätsverleugnung etc. zu (relativ) überdauernden Modi der handelnden Welt- und Selbsterfahrung werden, also quasi als >dynamisch unbewussU Anteile der Persönlichkeit sich etablieren.« (1983, 381) Im Buch über Lernen (1993) beendet er die Auseinandersetzung mit der Gedächtnisforschung mit dem Vorschlag, an die Stelle des Begriffs »Gedächtnis« den des »Behaltens/Erinnerns im Begründungsdiskurs« zu setzen (139ff, 269f, 295ff, 319ff). Diese Wendung knüpft Lernprozesse an subjektive Bestimmungen, ist jedoch kaum dazu geeignet, über die Spezifik von Erinnerung im historisch-gesellschaftlichen Zusammenhang
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oder über die Verbindung von Erinnerung, Herrschaft und Befreiung weiter nachzudenken. Geschichte Ende der 1970er Jahre wird auch die Geschichtswissenschaft von den Umbrüchen und Verwerfungen durch neue soziale Bewegungen in die unterschiedlichen Antworten der Wissenschaften hineingezogen. Die Strenge in Bezug auf das, was z.B. eine historisch anerkannte Quelle sein kann, wird aufgeweicht durch Oral history, erzählte Überlieferung. Damit wird Erinnerung zu einer zentralen Kategorie. Nicht ganz so kämpferisch wie Rosa Luxemburg oder Ernst Bloch oder Peter Weiss formuliert, wird doch davon ausgegangen, dass die in Urkunden und Akten aufgehobene Geschichte die der Sieger ist, dass aber eine »demokratische Zukunft ... einer Vergangenheit (bedarf), in der nicht nur die Oberen hörbar sind«. (Niethammer, 1980, 7). Interviews wurden zu Quellen und zugleich zur Forschungstechnik am Gegenstand insbesondere der Biographien von Arbeitern und Unterdrückten aus der Dritten Welt. In den meisten Fällen verstand sich diese Form der Geschichtsschreibung zugleich als eingreifende Sozialforschung. Es galt »die Brücke von der Subjektivität historischer Theorie zur Befreiung der Subjekte der Geschichte« zu schlagen (15). Jeder, der sich mit Geschichte und kulureller Gegenwart der »Dritten Welt« befasst, ist fasziniert von der Lebendigkeit einer historischen Erzählkultur. Als wäre unter der Dampfwalze des zerstörerischen Kapitalismus und seinen für die Dritten Welten besonderen Ausbeutungsformen klar, dass man ohne Geschichte hinweggerissen würde, als sei man nie gewesen, spielt Geschichte in der Identität der Völker eine überlebenswichtige Rolle. So arbeitete Jose Carlos Mariätegui an der Bedeutung eines Bewusstseins von Vergangenheit gegen die Zerstörung der Völker durch den Kolonialismus: Der Indio »hat mit seiner Vergangenheit nicht gebrochen. Sein historischer Prozess ist gehemmt, gelähmt, aber der Indio hat deswegen nicht seine Individualität verloren. Er besitzt eine soziale Existenz, die Seine Gebräuche, sein Lebensgefühl, seine Haltung gegenüber dem Universum bewahrt« (Sieben Versuche, 300). In ähnlicher Weise ruft Subcomandante Marcos im Aufstand der Zapatisten Mexikos die Erinnerung als Ressource für Widerstand an: »Wir, die ersten Bewohner dieser Gegenden, die Indianer, wurden zum Vergessen in einer verborgenen Ecke verurteilt, während die anderen begannen, groß und stark zu werden, und wir hatten nur unsere Geschichte, um uns zu verteidigen, und an ihr hielten wir fest, um nicht zu sterben.« (1995, 71) Die Anrufung der Geschichte erfolgt in fast allen seinen Reden.
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Auch aus einer anderen Richtung, der Kulturforschung, erhält Erinnerung für die Geschichtsschreibung Bedeutung. Jan Assmann betont die Bedeutung einer Verbindung von Erinnerung und Kultur mit Wissenschaft als kollektivem Gedächtnis, um Traditionsbrüche zu vermeiden (1992, 299f). - Dieser Begriff des »kollektiven Gedächtnisses«, der im Rahmen der Oral history eine Renaissance erlebt hat, wurde ursprünglich von Maurice Halbwachs ausgearbeitet. Bei ihm bezeichnet er das Arrangement von Orten, Sprache, Gebäuden, Normen, Sitten und Institutionen, in denen die individuelle Erinnerung sich herausbildet. Die »Erinnerung ist in sehr weitem Maße eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten und wird im Übrigen durch andere, zu früheren Zeiten unternommene Rekonstruktionen vorbereitet, aus denen das Bild von ehemals schon recht verändert hervorgegangen ist« (1925, 55f). Zu einer wichtigen Kategorie für diesen kontinuierlichen Prozess wird für Halbwachs das »soziale Milieu«, in dem nicht nur kollektives Gedächtnis produziert und tradiert, sondern auch eine Brücke zur individuellen Erinnerung geschlagen wird. Das »soziale Milieu« steht im Übrigen unkritisiert an der Stelle, an der das Ideologische, herrschende Kultur, Staatsapparate sich formativ einmischen. Dieses kritisch aufzuarbeiten wird Verdienst der Kulturtheorie. Auch Antonio Gramsci wird durch die Oral history produktiv aufgenommen. Sein Term der »kulturellen Hegemonie« wird für historische Untersuchungen fruchtbar gemacht. Die Erinnerungen versuchen sich in der individuellen Geschichte den jeweiligen kulturellen Hegemonien einzupassen, um ihre Träger als stimmige Persönlichkeiten in der Zeit und dem, was in ihr Geltung hat, zu konstruieren. Die Untersuchung der Erinnerung wird zur Untersuchung ihrer Besetzung durch hegemoniale Kultur. Giangiacomo Ortu etwa verweist zudem im gleichen Kontext auf Gramscis Philosophie der Praxis, auf seine Kritik einer »nicht-philosophischen« Betrachtung der Folklore und auf die Forderung, die Welt- und Lebensauffassung der subalternen Klassen für eine integrale Geschichtsschreibung zu untersuchen (1980,124). In einer Gesamtkultur, die immer stärker auf Zerstreuen, Vergessen und bloße Gegenwart setzt, ist es wichtig, sich der kleinen Spuren, der vielfaltigen Anfange und Versuche zu versichern. Auch die Geschichtswissenschaft bzw. Teile derselben scheinen zur Gegensteuerung angetreten. Zusammenfassung Was gewannen wir für ein Projekt Erinnerungsarbeit aus den Ausflügen in die Geschichte des Denkens und Schreibens über Erinnerung? Aus der Vielfalt der Bezüge vor dem Begriffshorizont von Sinneswahrnehmung, Träu-
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men, Verdrängung, Phantasie, Einbildung, Vorstellung, Vergegenwärtigung von Wissen, Kenntnissen, Fähigkeiten, Bewusstheit, Denken (vgl. dazu u.a. Rusch 1991, 268) schält sich für ein historisch-kritisches Projekt heraus: Erinnerung ist wesentlich für historische Erkenntnis, für die Frage des Klassenbewusstseins, für Widerstand. Erinnerungen sind bedrängend, verzweifelnd und kleinlich; aber ohne Erinnerungen bleibt keine menschliche Substanz. Erinnerungen sind umkämpft, gerade indem sie die Beziehung zur Welt bedeuten. Sie sind korrumpierbar, obwohl sie das Mittel zur Befreiung sind. Das bedeutet, dass sie selbst ebenfalls aus ideologischer Zurichtung zu befreien sind. Erinnerungen sind in Bildern und Sprache vermittelt. Das komplizierte Verhältnis von Bild und Sprache macht Erinnerung ein weiteres Mal Formen von Herrschaft und Unterdrückung zugänglich. Die erinnernden Subjekte sind selbst verstrickt; erst als befreite könnten sie sich selbst »zitieren«, d.h. eigene Geschichte gewinnen. Erinnerungen sind rätselhaft, insofern sie zugleich Resultat von eigener Aktivität sind, wiederholen, was gewesen ist, und Stoff, mit dem es nach vorn aufzubrechen gilt. Sie sind dialektisch, da zugleich Prozess, Anfang und Ziel. Als Dimension bewussten Menschseins ist Erinnerung ein Kampfplatz: Einfallstor für Ideologie, unterworfen der hegemonialen Kultur, aber auch Grundlage für Veränderung. Für beides, für den Widerstand der Unterdrückten wie für individuelle Handlungsfähigkeit, braucht es Erinnerungsarbeit gepaart mit Phantasie und Hoffnung. Es scheint, als ob die jeweils herrschenden kulturellen Apparate um die Kraft der Erinnerung für Widerstand und befreiendes Handeln wüssten, da anders der verbreitete Kampf gegen die Erinnerung, um eine vergangenheitslose Gegenwart so wenig verständlich ist, wie das Beharren unterdrückter Völker auf Geschichte und Erinnerung. Erinnerung taucht vage auf als dialektische Bewegung. Als Bleigewicht an den vorwärts eilenden Füßen ist sie zugleich der Motor, der vorantreibt, Einzuholendes und in der Gewinnung veränderbar. Aus der Summe der Erfahrungen gilt es, Erinnerung, die einer glüklicheren Menschheit näher kommt, zu erarbeiten. Das Gelände von Erinnerung erscheint schwierig zu untersuchen und voller Fallstricke. Zugleich wird Erinnerungsarbeit ein immer faszinierenderes Projekt.
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Sprache des wirklichen Lebens - als Forschungsfrage
Wenn der Strukturbegriff >spekulativ< aufgefasst wird, wird gewiss ein verborgener Gott< daraus; doch darf er gerade nicht spekulativ aufgefasst werden, sondern geschichtlich, als das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die wirklichen Menschen sich bewegen und wirken, als ein Ensemble objektiver Bedingungen, die mit Methoden der >Philologie< und nicht der >Spekulation< untersucht werden können und müssen. Als ein >Gewisseswahr< sein wird, d aber vor allem in seiner >Gewissheit< untersucht werden muss, um als >Wahrheit< untersucht zu werden. Nicht nur mit dem Immanentismus hängt die Philosophie der Praxis zusammen, sondern auch mit der subjektiven Wirklichkeitsauffassung, insofern sie diese gerade umkehrt und damit als geschichtliche Tatsache erklärt, als geschichtliche Subjektivität einer gesellschaftlichen GruppeSpekulation< präsentiert und einfach ein praktischer Akt ist, die Form eines konkreten gesellschaftlichen Inhalts und die Weise, die Gesamtheit der Gesellschaft dahin zu fuhren, sich eine moralische Einheit zu geben. Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Heft 10 In diesem Kapitel geht es darum, Erinnerungsarbeit ein historisch-methodisches Hinterland zu geben. Das bedeutet auch eine Einschreibung in empirische Sozialforschung und ihre theoretischen Voraussetzungen. Anders als die emphatischen Ausführungen zum Zusammenhang von Erinnerung und Befreiung nahe legen, ringt Erinnerungsarbeit als sozialwissenschaftliche Methode allererst darum, in ihrem Wirklichkeitszugriff überhaupt ernst genommen zu werden. Schließlich bedeutet der Umgang mit subjektiven Erinnerungen, sich etwas so Trivialen wie dem Alltag zuzuwenden. Ich konzentriere mich in der Darstellung und Kritik auf die Wissenschaftszweige, für die Alltag überhaupt eine relevante Problematik ist. Dabei verfahre ich doppelt kritisch. Ich diskutiere Alltag in Ethnomethodologie und Marxismus und in spezifischer Unterscheidung feministische Ansätze. Diese Arbeitsweise erlaubt es mir weniger, unterschiedliche Feminismen gegeneinander zu richten, als vielmehr ihren feministisch-politischen Eingriff in den herkömmlichen Wissenschaftsbetrieb zu zeigen. Eingeschlossen ist eine Diskussion tragender Begriffe in der Frauenforschung und ihrer methodischen Implikationen. Die Darstellung und Analyse erfolgt vor dem Hintergrund »allgemeiner« Alltagsforschung. Für mich ist es notwendig, feministische Kritik an den besten
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Vertretern »allgemeiner« Wissenschaften anzusetzen und sie daher ernst zu nehmen, ihre Stärken zu nutzen, sie durch Hereinnahme des feministischen Standpunktes zu verschieben. Unter der Voraussetzung, dass alle bisherige Wissenschaft »männlich« ist, müssen auch empirische Methoden hinterfragt und rekonstruiert werden.
Zur Problematik von Alltag - Ethnomethodologie und Marxismus Es bedurfte der politischen Frauenbewegung, um auch im universitären Bereich zu entdecken, dass die herkömmlichen Theorien ohne Einschluss von Frauen konzipiert waren. Dies nicht nur als Schöpferinnen von Theorie, sondern auch als deren Objekte. Die herrschenden Theorien, so das Fazit, kommen ohne die Erfahrungen von Frauen aus. (Dass sie auch ohne die der Männer konzipiert waren, war wiederum späteres Resultat von Vernunftkritik.) Diese Entdeckung richtet den Blick auf den Raum, in dem Erfahrungen gemacht werden, ein Raum, der noch ganz unbegrifflich, jedoch sofort verständlich Alltag genannt wird. Tatsächlich kam die Kritik aus der Frauenbewegung in etwa zeitgleich zur allgemeinen Wendung einiger Wissenschaftsdisziplinen zum so genannten Alltagsleben. Etwa seit Mitte der siebziger Jahre scheint die Hinwendung zum Alltag geradezu zu einer Mode geworden zu sein (Alheit, 1983), zugleich ist sie von Anfang an verknüpft mit Kritik am herkömmlichen sozialwissenschaftlichen Forschungsbetrieb - sie plädiert für die Wendung zum Trivialen und zeiht damit übrige Forschung, dass sie das Leben der Menschen nicht ernst nehme. Dieser Gründungsaufruf zeigt sogleich das Dilemma von Alltagsforschung. Indem die alltäglichen Ereignisse als etwas anderes als das, was So- * ziologie bislang betrieb, hervorgehoben und mit einer extra Bezeichnung (trivial) bezeichnet werden, sind sie zugleich mit ihrer Erhebung in den Rang, wissenschaftlicher Analyse würdig zu sein, zum Exotikum gemacht. Für Alfred Schütz, den Vater der phänomenologischen Soziologie ist »die alltägliche Lebenswelt... die Wirklichkeitsregion, in die der Mensch eingreifen und die er verändern kann« (1979, 25). In dieser anerkennenden Geste steckt zugleich die einverständige Auffassung, dass »der Mensch« die Welt im Großen nicht verändern kann. So fehlt in den langen Auseinandersetzungen um Alltag als mögliches Objekt von Wissenschaft die Hauptsache, die I Frage danach, wie Alltagshandlungen und Gesellschaft im Großen miteinan! der vermittelt sind. Das macht u.a., dass Theorien (und Regeln) über Alltag an sich gesucht werden, als wäre er eine ganz unabhängige Größe, und nicht zum Problem wird, wie Gesellschaft sich alltäglich herrschaftlich reprodu-
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ziert. Alltag wird so zu einem Art Hagenbeckschen Zoo, in dem alles möglich ist und gezeigt werden kann, ohne dass auch nur ein Schatten wissenschaftlicher Kritik laut werden muss. Dennoch erlaubte die Hinwendung zum Alltag, einige bisher vernachlässigte Bereiche näher in Augenschein zu nehmen. Als ob erst die Entscheidung für Triviales den Zutritt zu den Unteren erlaubt hätte, wurden Schwerpunkte von Alltagsforschung das Studium von Arbeits-, von Wohnverhältnissen, Alltagskultur in der Arbeiterklasse und schließlich von Alltagswissen. Dabei ist Alltag als Gegenstand von Ethnosoziologie und -methodologie eine Art Forschungsfeld oder -bereich, der zwar die übliche Bereichslogik der Soziologie durchquert - Alltag ist sowohl in Industrie, wie in Familie, als auch in Schule etc., - aber in sich eine eigene Logik hat, die von außen betrachtet und deren Ordnung festgestellt werden kann. In dieser Weise konstituiert Ethnomethodologie Alltag auch als einen Bereich, demgegenüber sie selbst indifferent ist; sie behält also die gewohnte Subjekt-Objekt-Beziehung bei. Konsequenzen aus der Hinwendung zum Alltag für methodisches Vorgehen waren im Wesentlichen, dass der Lebenslauf, die Biographie, die Erzählung und ihre Strukturen, sowie Medienanalyse zu teilnehmender Beobachtung und Interview hinzukamen. Wenngleich die methodische Erweiterung für feministische Forschung wie für jede Befreiungswissenschaft ein reiches Neuland an Wirklichkeitszugang eröffnet und damit positiv sanktioniert, ist die Lehre aus dem allzu knappen Durchgang eine Art doppelter Leerstelle: Gesucht wird nach einem Wirklichkeitszugang, der die Subjekte des Handelns nicht ausblendet und dabei die forschenden Wissenschaftler selbst als solche Subjekte zu fassen erlaubt5 und es braucht einen Zugang, der sich vor der Welt nicht in ihrem Namen verschließt, sondern zentral die Vermittlung von Alltag und Gesellschaft, also die Frage, wie die Menschen alltäglich Gesellschaft machen, studiert. Mehr als 100 Jahre früher findet man ein leidenschaftliches Plädoyer, Wissenschaft alltäglich zu begründen und dies zugleich als Ausgangspunkt für die Analyse von Gesellschaft und befreiende Kritik zu gebrauchen. In der Deutschen Ideologie umreißt Karl Marx sein Forschungsprogramm unter wiederholtem Verweis auf die »Sprache des wirklichen Lebens«, den »wirklichen Lebensprozess« der Menschen, die »wirklichen lebendigen Individuen«, die »leibhaftigen Menschen«. »Diese Betrachtungsweise ist nicht voraussetzungslos. Sie geht von den wirklichen Voraussetzungen aus, sie 5
Es sei hier ergänzt, dass es innerhalb der Ethnomethodologie kritische Stimmen gab, die ebendies forderten. So u.a. der Schütz-Schüler Aaron V Cicourel in seiner Studie über Methode und Messung.
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verlässt sie keinen Augenblick. Ihre Voraussetzungen sind die Menschen nicht in irgendeiner phantastischen Abgeschlossenheit und Fixierung, sondern in ihrem wirklichen, empirisch anschaulichen Entwicklungsprozess unter bestimmten Bedingungen. Sobald dieser tätige Lebensprozess dargestellt wird, hört die Geschichte auf, eine Sammlung toter Fakta zu sein, wie bei den selbst noch abstrakten Empirikern, oder eine eingebildete Aktion eingebildeter Subjekte, wie bei den Idealisten.« (MEW 3,26f) Man sieht, der Beginn in der menschlich-alltäglichen Praxis ist zugleich Wissenschaftskritik in konkreter Weise. In knappen Worten wird klar, dass die Abgehobenheit wissenschaftlichen Denkens von den wirklichen Menschen nicht nur Wissenschaft spekulativ und beliebig macht, sondern auch selbst eine spitzfindige Konstruktion ist. Emphatisch betont Marx: »Dort, wo die Spekulation aufhört, beim wirklichen Leben, beginnt also die wirkliche positive Wissenschaft, die Darstellung der praktischen Betätigung, des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen.« (Ebd.) Wiewohl sich im Werk von Marx und Engels immer wieder Studien über das Alltagsleben - über Wohnen, Ernährung, Holzdiebstahl, Alkohol etc. finden, hat diese Weise, Wissenschaft zu begründen und zu betreiben in den späteren, sich als Marxismus-Leninismus (ML) herauskristallisierenden Offizialphilosophien, wenig Nachfolger gefunden. Insbesondere in der spät, erst in den sechziger Jahren gegründeten Soziologie blieb aus diesem Zusammenhang vor allem der bekannte Lehrsatz, dass das Sein das Bewusstsein bestimme. Dies wurde selbst aber nicht als Hinwendung zum Studium des wirklichen »Seins« und »Bewusstseins« im täglichen Leben aufgefasst, sondern für empirische Forschung eher als Zensur wirksam. Es galt unter ^ Verschluss zu halten, was nur als »falsches Bewusstsein« interpretiert werden konnte, da es etwas anderes wiederspiegelte als die offiziell behauptete »sozialistische Lebensweise« (das Sein) - so etwa Alkoholismus, rebellische Jugendkulturen, Sehnsucht nach Rock und Jeans, etc. Zweifellos gibt es aus den Anfängen der Sowjetunion und aus der zweiten Generation von Marxisten noch vieles aufzuarbeiten, Uneingelöstes einzuholen. So liest man u.a. bei Rosa Luxemburg, die Marx aufs Lebendigste in tägliche Politik übersetzte, die dringliche Aufforderung, Geschichtsforschung als Werk tätiger alltäglicher Menschen zu schreiben. »Die gesamte menschliche Kultur ist ein Werk des gesellschaftlichen Zusammenwirkens vieler, ist ein Werk der Masse. ... Diese Geschichte (der Menschheit) wimmelt von Heldensagen, von Großtaten Einzelner, sie hallt vom Ruhme weiser Könige, kühner Feldherren, verwegener Entdeckungsreisender, genialer Erfinder, heldenhafter Befreier. Aber all dies bunte und schöne Treiben Einzelner ist gleichsam nur das äußere geblümte Kleid der menschlichen Geschieh-
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te. Auf den ersten Blick ist alles Gute und Böse, das Glück wie die Not der Völker Werk einzelner Herrscher oder großer Männer. In Wirklichkeit sind es die Völker, die namenlosen Massen selbst, die ihr Schicksal, ihr Glück und ihr Wehe schaffen« (GW 4, 206). Entsprechend formuliert Luxemburg eine revolutionäre Realpolitik, die u.a. an den Alltagserfahrungen der Menschen ansetzt und die erfahrenen Widersprüche als solche aufzeigt und für die Betroffenen zur Bearbeitung zur Verfügung stellt. (Vgl. dazu Haug, 1995) Später nehmen Bertolt Brecht und Peter Weiss diese bildhaften Vorschläge in ihre Arbeiten auf, die ganz selbstverständlich Gesellschaftsanalyse und -kritik unter Berufung auf die alltäglichen Praxen der Menschen schreiben. In Fragen eines lesenden Arbeiters (GW 9, 656f) formuliert Brecht: »Wer baute das siebentorige Theben? ... Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? ... Wohin gingen an dem Abend, wo die chinesische Mauer fertig war, Die Maurer?« usw.. Brecht versuchte auch, diesem Trennungszusammenhang zwischen abstrakter Wissenschaft und täglichen politischen Kämpfen und Interessen als Kampf, der durch die Personen selbst hindurchgeht, auf die Spur zu kommen. Er plante, ein Stück über Rosa Luxemburg zu schreiben, das er Gespräch über den Alltagskampf nannte. Leitmotiv sollte die Wahl sein zwischen reinen Abstraktionen, wie sie die Mathematik etwa hervorbringt, die Luxemburg zunächst studiert hatte, und die Einlassung ins Alltägliche, in Politik. Zur gleichen Zeit schrieb Brecht über »Alltägliches Theater« als neue Aufgabe: »Ihr Künstler, die ihr Theater macht In großen Häusern, unter künstlichen Lichtsonnen Vor der schweigenden Menge, sucht zuweilen Jenes Theater auf, das auf der Straße sich abspielt. Das alltägliche, tausendfache und ruhmlose Aber so sehr lebendige, irdische, aus dem Zusammenleben Der Menschen gespeiste Theater, das auf der Straße sich abspielt.« (Gedichte aus dem Messingkauf 4, 171) Die hier formulierte Kritik richtet sich nicht so sehr auf die Sozialwissenschaften als vielmehr auf die Geschichtswissenschaft als Geschichtsschreibung von oben. Was sie allerdings von den größeren Teilen der späteren in den 1970er Jahren sich verbreitenden oral history unterscheidet, ist, Geschichte selbst als Produktion der Massen zu fassen und nicht etwa die Taten der alltäglichen Menschen als etwas separat Interessantes, aber außerhalb der eigentlichen großen Geschichte sich Abspielendes aufzunehmen.
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Innerhalb der DDR und im ML dehnt Jürgen Kuczynski solche Kritik auf die »marxistische« Geschichtsschreibung aus, dabei aber freilich auch die Trennung in große und kleine Geschichte mitmachend: »Auch wird so oft nicht beachtet, dass es gewissermaßen zwei Arten von Klassenkämpfen gibt: die großen Schlachten und den alltäglichen Kampf. Unsere marxistische Geschichtsschreibung konzentriert sich im Grunde auf die großen Schlachten [...] Aber vom täglichen Klassenkampf, sei es durch widerwillige Arbeit und kleine Zerstörungen an einzelnen Produktionsmitteln durch Sklaven, sei es durch relativ verminderte Produktivität bei Ableistung der feudalen Arbeitsrente im Vergleich zur Arbeit auf dem >eigenen< Feld, ist kaum etwas in unseren Geschichtsbüchern zu lesen.« (1981, 13) Über solches, also über die vergessene Geschichte von alltäglichem Widerstand zu schreiben, war sein Lebens-Projekt. Die Niederlagen der Arbeiterbewegung, die den Faschismus erfolgreich machten, sowie die Erstarrungen im Sowjetmarxismus haben einen Schub Erneuerung in Teile des Marxismus gebracht und damit auch eine Wiederentdeckung von Alltagsforschung. In den 1930er und 40er Jahren schreiben Antonio Gramsci und Henri Lefebvre gegen den vorherrschenden Ökonomismus. Gramsci geht davon aus, dass der Alltagsverstand der Menschen in einer widersprüchlichen Gesellschaft selbst auch zerrissen sein muss. Aus seinem Projekt einer Philosophie der Praxis lassen sich Forschungsleitlinien für eine kritische Empirie des Alltagslebens entziffern. Zunächst ordnet er die Handlungen und Meinungen der Einzelnen einer kulturellen Gruppe zu: »Man ist Konformist irgendeines Konformismus, man ist immer Masse-Mensch oder Kollektiv-Mensch. Die Frage ist folgende: von welchem historischen Typus ist der Konformismus, der Masse-Mensch, an dem man teilhat?« (Band 6 der Gefängnishefte, Heft 11, §12, Anmerkung 1) Es wird also empfohlen, das, was später das »soziale Milieu« heißen wird, in die Forschung einzubeziehen. Aber der Mensch ist nicht einfach als bestimmt durch Bedingungen und Milieu, durch kulturelle Gruppe und entsprechende Meinungen zu denken; er tritt auf als Subjekt mit Bewusstsein, das diese praktischen Angebote selbst verarbeiten und für sich gutheißen muss. Dafür braucht er im Grunde wissenschaftliche Kritik. »Wenn die Weltauffassung nicht kritisch und kohärent, sondern zufällig und zusammenhangslos ist, gehört man gleichzeitig zu einer Vielzahl von Masse-Menschen, die eigene Persönlichkeit ist auf bizarre Weise zusammengesetzt: es finden sich in ihr Elemente des Höhlenmenschen und Prinzipien der modernsten und fortgeschrittensten Wissenschaft, Vorurteile aller vergangenen lokal bornierten geschichtlichen Phasen und Intuitionen einer künftigen Philosophie, die einem weltweit vereinigten Men-
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schengeschlecht zu eigen sein wird.« (Ebd.) Auch diese knappen Feststellungen sind ein empirisches Forschungsdesign. Unter der Voraussetzung, die zugleich empirisch überprüft werden kann, dass der Einzelne ein Mensch in Geschichte ist und also der Möglichkeit nach Auffassungen, Denkweisen, Volksmeinungen der gesamten Menschheitsgeschichte zu hegen vermag, können wir davon ausgehen, dass die Einzelnen nicht eine Denkweise, Auffassung, Meinung haben, sondern ein Konglomerat nicht durchgearbeiteter, zum großen Teil nicht vollbewusster Verküpfungen und Für-wahr-Gehaltenes seine Zurechtlegungen bestimmen. Das eigene Bewusstsein wird in dieser Weise ein Forschungsprojekt, Quell unterschiedlicher Auffassungen aus der Geschichte und Auftrag, sich seiner selbst zu vergewissern, um handlungsfähig zu sein und sich selbst zu bejahen. »Die eigene Weltauffassung zu kritisieren, heißt mithin, sie einheitlich und kohärent zu machen und bis zu dem Punkt anzuheben, zu dem das fortgeschrittenste Denken der Welt gelangt ist. Es bedeutet folglich auch, die gesamte bisherige Philosophie zu kritisieren, insofern diese verfestigte Schichtungen in der Popularphilosophie hinterlassen hat.« (Ebd.) In diesen skizzenhaften Sätzen beginnt Gramsci eine Kritik der Philosophie vom Standpunkt des Alltagsverstands und begründet damit zugleich die Notwendigkeit, Wissenschaftskritik zu betreiben, um alltäglich handlungsfähig zu werden. Diesen Zusammenhang zeigt er nicht nur als praktische Anforderung an die Einzelnen, sondern in eins damit als Bewegung, die jederzeit von oben geschieht. In der Form der Popularphilosophie bestimmt Philosophie schon heute die Alltagshandlungen der Einzelnen, die Weise, wie sie sich einen Reim auf ihre Bedingungen machen, ohne dass ihnen dieses bewusst ist. Gramsci konzentriert auf die Subjekte. »Der Anfang der kritischen Ausarbeitung ist das Bewusstsein dessen, was wirklich ist, das heißt ein >erkenne dich selbst< als Produkt des bislang abgelaufenen Geschichtsprozesses, , der in dir selbst eine Unendlichkeit von Spuren hinterlassen hat, ein ohne Vorbehalt angenommenes Nachlassverzeichnis. Ein solches Verzeichnis gilt es zu Anfang zu erstellen.« (Ebd.) Das einzelne Subjekt als sein eigenes Forschungsprojekt zu betreiben erweist sich nicht als psychologischer Luxus, es ist vielmehr Vorbedingung für Erkenntnis von Welt und Gesellschaft, Voraussetzung politischen Handelns. Die »wirklichen Menschen« können mithin in intellektueller Unterwerfung und Unterordnung handeln und zugleich auch einer anderen Praxis folgen, kurz: ihr Alltagsverstand ist widersprüchlich. Sie haben zumindest »zwei theoretische Bewusstseine«, eines aus der für sie bestimmenden Praxis, eines, welches sie ohne Kritik aus der Vergangenheit übernommen haben. Dabei kommen die Einzelnen bis zu dem Punkt, »wo die Widersprüchlichkeit des Bewusstseins keinerlei Handlung erlaubt, keinerlei Entscheidung, keinerlei
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Wahl, und einen Zustand moralischer und politischer Passivität hervorbringt« (Heft 11, §12). Es ist notwendig, dass die Einzelnen sich aus solch unlebbarer Zersetzung und Inkohärenz herausarbeiten und sich selbst erkennende und also handlungsfähige Personen werden. Gramsci nennt das »dem eigenen Handeln eine bewusste Richtung« geben. Dafür müssen sie - wie er das nennt - »Philosophen« werden. Das bedeutet für ihn, eine stimmige Weltauffassung erlangen, mit der sie einverstanden sein können. Der einzige Weg, dies zu tun, ist ein gemeinsames soziales Projekt, welches auf Gesellschaftsveränderung gerichtet ist. Dies deshalb, weil die Problematik ihres hinterrücks sie ereilenden Zerrissenseins auch ein Resultat ist, erwachsen aus dem Umstand, dass die einzelnen am gesellschaftlichen Projekt nicht oder in unterworfener Form beteiligt sind. Dieser Umstand wiederum bedingt die Notwendigkeit von »organischen Intellektuellen« in diesem Projekt, die den Weg bereiten, dass jede(r) eine Intellektuelle^) sein kann. Ihre Aufgabe ist es nicht, »eine Wissenschaft ins Individualleben >Aller< einzuführen, sondern eine bereits bestehende Aktivität zu erneuern und >kritisch< werden zu lassen« (ebd.). Es ist offensichtlich, dass Gramsci hier die später wieder vergessene enge Verbindung von Selbstveränderung und Gesellschaftsveränderung, von subjektiver selbsttätiger Entwicklung und Befreiungstheorie und -praxis begründet und formuliert, so dass die meisten seiner Ausführungen direkt in das Projekt Erinnerungsarbeit überführt werden können. Freilich fehlt noch jeder Hinweis, warum ein solches Projekt für Frauen noch etwas anderes bedeuten kann und wird als »für die einzelnen Menschen«, wie also in eine Gesamttheorie von Unterdrückung und Befreiung die Frage der Geschlechterverhältnisse zu denken und praktisch zu verändern ist. Ohne auf Gramsci Bezug zu nehmen, kommt der Franzose Henri Lefebvre nur wenig später zu ganz ähnlichen Schlussfolgerungen, die er zudem ähnlich lautend formuliert. »Im Bewusstsein des Arbeiters gibt es - im Inhalt seiner persönlichen praktischen Erfahrung - zahlreiche ideologische Elemente, begründete und illusorische; einige davon sind Überbleibsel (sie stammen z.B. aus dem Handwerker- und Bauerntum), andere begründen sich aus objektiven Bedingungen des Kapitalismus, die teilweise überholt sind (der >freie< Lohnvertrag im Konkurrenzkapitalismus, die >klassischen< Formen des Arbeitskampfs), andere dagegen, die aus neuen Bedingungen des Kapitalismus erwachsen (Monopole, der neue Inhalt steht in Widerspruch mit der monopolistischen Form des Kapitalismus, die gewerkschaftliche Aktion und die neuen Formen des Klassenkampfs), entspringen dem Sozialismus, schließlich auch individuellen Beschränkungen oder den Grenzen der Gruppe, zu der der betreffende Arbeiter gehört (Korporationsgeist, Berufs-
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ethos etc.).« Lefebvre schreibt seine Auffassungen sogleich in eine soziologische Forschungsanleitung um, mit den entsprechenden Verknüpfungen: »Wenn wir das Leben des Arbeiters in seiner Totalität betrachten, dann bindet sich seine Arbeit und seine Haltung zur Arbeit wieder an die gesamte soziale Praxis, an seine gesamte Erfahrung, an seine Freizeit, sein Familienleben, an seine kulturellen und politischen Hoffnungen und an den Klassenkampf.« Die Selbstverständlichkeit, mit der hier auf den männlichen Lohnarbeiter konzentriert ist, verdeckt, dass die angegebenen Verknüpfungen auch allgemeiner formuliert werden könnten und daher zumindest zum Teil brauchbar bleiben auch für feministische Forschung. Lefebvre schärft den gesellschaftlichen Bezug ein, der freilich, um allgemein zu sein in seiner Geltung, ebenfalls aufgebrochen gehörte: »Darüber hinaus fügt sich dieses >Ganze< in die Verhältnisse eines bestimmten Landes, einer Nation ein, die auf einem bestimmten Niveau der sozialen Entwicklung und der Zivilisation steht, das ein Ensemble von Bedürfnissen hervorgebracht hat. Wir sind wieder zurück zum Alltagsleben gelangt.« ( 1945, 1977,196) Lefebvres Projekt ist es, ganz analog zur Kritik der politischen Ökonomie von Marx und Engels, eine Kritik des Alltagslebens zu schreiben, das er als dialektische Bewegung auffasst, als Ort der Entfremdung und als Kampf dagegen (vgl. ebd., II, 77). Mitten im Text steht in Versalien: »DER MARXISMUS IST IN SEINER GESAMTHEIT VOR ALLEM EINE KRITISCHE ERKENNTNIS DES ALLTAGSLEBENS.« (Ebd., I 153) Lefebvre versichert sich der Skizzen aus Marxens Projekt aus der Deutschen Ideologie, das vom »wirklichen Menschen« ausging. Er versteht die Schrift als Anleitung, Alltagsleben zu erforschen, die in ihm schlummernden und verkehrten Kräfte aufzudecken, die Kritik als revolutionäre Waffe zu nutzen. Umstandslos findet er die Verbindung von Alltag der Einzelnen und Politik der Gesellschaft im Großen: »So fuhrt die Kritik des Alltagslebens zur Kritik des politischen Lebens, weil das Alltagsleben diese Kritik bereits enthält und ausbildet: es ist nämlich diese Kritik.« (ebd., I, 100) Lefebvres zentrale Begriffe sind Entfremdung und Aneignung. Beide zieht er aus geschichtsphilosophischer Verwendung in den Alltag. Durch Kritik des Alltagslebens entziffert er die Spaltung von Öffentlichkeit und Privatheit, ja das Privatleben selbst als gängigen Ausdruck für die Verkehrung des Alltagslebens, die Rolle der Ideologie, ihr Hineintreten in den Alltag und ihre gleichzeitige Reproduktion im Alltag. Er unternimmt Presseanalysen und formuliert als allgemeine Forschungshypothese, dass »das Alltagsleben der Ort (ist), in dem und ausgehend von dem die wirklichen Kreationen vollbracht werden, jene, die das Menschliche und im Laufe ihrer Vermenschlichung die Menschen produzieren: die Taten und Werke.« (Ebd., II, 52).
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Alltag muss, ganz im Einklang mit Gramsci, Ausdruck der Selbstverwaltung der Individuen, von ihnen selbst kohärent gearbeitet werden. Alltag sollte einem also nicht einfach zustoßen, sondern er ist das Leben, um dessen selbstbestimmte Gestaltung es geht. So wird Erkenntnis mit verändernder Praxis verbunden und eine Theorie von Gesellschaftsveränderung mit einem Paradigmenwechsel in den Wissenschaften verknüpft. Von den Praxen der Menschen her werden herkömmliche Theoriegebäude als interessierte Abbilder, Ideologien, Spekulationen entzifferbar. Gesucht wird eine Wissenschaft, die für die vergesellschafteten Menschen brauchbar ist, die Wege zur Selbstveränderung und Gesellschafstveränderung aufzeigt, eine Wissenschaft also, die Politik im Alltag ermöglicht und zur Grundlage hat. Seine Forschungen führen Lefebvre zu ideologiekritischer Medienanalyse wie zum Studium alternativer Filme und Theaterstücke (Chaplin und Brecht). Er untersucht veränderte technische Bedingungen in den Haushalten und im Freizeitverhalten u.v.a,m. Aber obwohl er Ernst macht mit dem Versuch, Wissenschaft auf die alltäglichen Praxen der Menschen zu gründen, bleiben diese, ebenso wie die einzelnen Menschen selbst Objekte seiner Forschung, werden nicht selbst in den Forschungsrahmen einbezogen als Subjekte ihrer Taten, ihrer Erkenntnis, ihres Wissens und Wollens. Weniger brauchbar für weitere Arbeit scheinen mir die Ausführungen einer weiteren Marxistin, deren Schwerpunkt ebenfalls der Alltag war, Agnes Heller. Im Anschluss an den späten Lukäcs und unter Berufung auf Marx verschiebt sie (1970) die Forschung zum Alltagsleben ins Geschichtsteleologische. Sie bestimmt Alltag nicht mehr als widersprüchliche praktische Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern negativ zunächst als »ohne Wert an sich«, ohne »selbständigen Sinn«. »Zu seinem Sinn gelangt der Alltag nur in einem anderen Medium, in der Geschichte, im historischen Prozess«, in dem die Menschen »Gattungswesen« werden. Letzteres ist durchaus normativ gedacht, entsprechend bedarf es im Alltag einer Moral, um diese Entwicklung durchzusetzen. Auch Heller geht davon aus, dass das Alltagsdenken heterogen zusammengesetzt ist, allerdings ohne wie Gramsci die Erarbeitung einer Kohärenz als Werk der Menschen selbst zu formulieren. Ihr Interesse gilt eher dem Kampf um die Seelen durch Religion, Philosophie, Wissenschaften. »Die großen, auf die Ebene der Gattungsmäßigkeit erhobenen Synthesen hindern das Alltagsdenken indes nicht daran, Tag für Tag seine Teilsynthesen hervorzubringen. Diese sind teils primitiv mythologisch, teils synthetisierte Verallgemeinerungen der Alltagserfahrungen (die so genannte >Weisheit des VolkesBauernphilosophieLeistungswertNutzen< wiederum nicht in Frage steht. Dieser Standpunkt» und Positionswechsel, den der Leistungsbegriff hier ganz mühelos vollzieht, ist ganz typisch für seinen Gebrauch. So schwergewichtig er als Anforderung an die Einzelnen daherkommt, so leichtfüßig wechselt er sein Subjekt. Diese Prinzipienlosigkeit ist eines der Probleme, die kritisch zu begreifen sind. Aber damit nicht genug, verändert der Leistungsbegriff nicht nur selbst Inhalt und Bezug; er wälzt auch dasjenige um, auf das er sich bezieht. So ist es u.a. erhellend zu studieren, was mit den Bereichen geschieht, die bislang nicht direkt Leistungskriterien unterworfen waren, wie etwa die Universitäten. Hier werden seit einiger Zeit Kriterien der Evaluierung geprobt und Leistungsmessungen versucht, die auf das Engagement und die Mitwirkung der solcherart Gemessenen rechnen. Die Universitäten treten zueinander in Wettbewerb. Bestimmend für weitere Mittelzuweisung wird nicht nur, wer die wenigsten Mittel für die meiste Leistung verausgabt, sondern ineins damit wird auch völlig neu bestimmt, was eine solche Leistung sein könnte. Unter Ausnutzung des Leerraums, den die Universitäten an dieser Stelle haben, gilt als Leistung zum Beispiel, wieviel Drittmittel ein Hochschullehrer oder seine Abteilung einwerben und wieviele neue Stellen auf diese Weise finanziert werden können. Es liegt auf der Hand, dass die Leistung eines Professors nun wenig mehr mit seiner Lehre oder Forschung zu tun hat, aber zugleich damit wird auch sein Verhalten auf der Suche nach
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eben diesen Drittmitteln weitgehend von völlig neuartigen Tätigkeiten in Anspruch genommen. Lehre und Forschung spielen in seiner eigenen Bewertung von sich nur noch insoweit eine Rolle, als über sie im Modus eines Verkaufsgesprächs für wiederum mehr Drittmittel gesprochen werden kann. Die Umwälzung setzt eigenartige Energien frei, die es wert sind, in einem Kriminalroman verhandelt zu werden (vgl. auch Haug, F., 1996b). Leistung muss sich wieder lohnen
Nach 1989, nach der Vereinigung der beiden Deutschland, erfreute sich der Satz >Leistung muss sich wieder lohnen< großer Konjunktur. Doch was meinte er? Der Satz ist ja nicht nur ein Gemeinplatz, er ist auch ein Sprengkörper unausgesprochener Gefühle. Legen wir die Betonung auf das erste Wort im Satz: Leistung muss sich wieder lohnen. Da steckt Triumph drin im Vollgefühl eigener Leistung und der entsprechenden Fähigkeit dazu, Überlegenheit gegenüber jenen, die ohne etwas zu leisten, auf Lohn schon zählen zu können meinen. Das Gefühlrichtetsich gegen falsche Gleichbehandlung. Legen wir die Betonung auf das letzte Wort: Leistung muss sich wieder lohnen. Jetzt ist es trotzige Wut, wieder in der Sicherheit eigener Leistung, aber mit der Beschwerde, dass es lange nichts brachte. Das Gefühl geht gegen erlittenes Unrecht. Nun betonen wir die kleinen Hilfsworte - wieder z.B: Leistung muss sich wieder lohnen. Das Gefühl geht auf Distanz. Jetzt geht es nur um andere, die in einem gesellschaftlichen Zusammenhang lebten, in dem vorübergehend nicht auf Leistung geachtet wurde; das muss geändert werden - das ganze System - sagen wir die ehemalige DDR - sollte zu neuen Bundesländern in einer Leistungsgesellschaft werden. Das Gefühl wird sozial verantwortlich und hat Großes im Sinn. Es findet sich im Einklang zum Beispiel mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), wenn etwa das Rentensystem für die neuen Bundesländer diskutiert wird. Ich zitiere einen Abschnitt von 1991, der politisch nach wie vor aktuell ist, und der textmäßig aufs Schärfste den zuhälterischen Gebrauch, der mit dem Leistungsbegriff getrieben wird, belegt. Da heißt es Ende April gegen einen Vorschlag aus der SPD - die im Vollgefühl neuer Stärke nach einigen gewonnenen Kommunalwahlen und gleichzeitigem Oppositionsstatus Politik zu machen beginnt zur Verbesserung des Rentensystems in Ost und West: »Deshalb wird den Frauen suggeriert, über Mindestrenten seien nachhaltig ihre Alterseinkommen zu verbessern. Da ... die Koalition den Abbau des Sozialzuschlags und der Mindestrenten weit hinausschieben will, ist die Gefahr groß, dass auf diesem Wege das leistungsbezogene Rentensystem ausgehöhlt wird. Dieses System fügt sich in die marktwirtschaftliche Ordnung ein. Wer
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den Leistungsbezug schwächt, der muss den Leistungsträgern des Systems, vor allem der Masse der Arbeitnehmer, sagen, dass sie dies mit höheren Beiträgen oder niedrigeren Leistungen zu bezahlen habe.« (Kg. 27.4.91) Das Wort Leistung kommt viermal vor, und gleich zu Anfang steht schon der ein wenig unangenehm klingende Bezug zu Frauen, bei denen es praktisch jedem Kommentator gelingt, ihre Ansprüche, ja, ihr Recht auf Leben irgendwie in den miefigen Geruch einer lange nicht gereinigten Küche zu bringen. Hier steht irgendwie, d.h. ohne weitere Begründung, die Verbesserung ihrer Lage gegen Leistung. Das Gefühl Nr. 1 - gegen falsche Gleichbehandlung - wird angerufen: da wollen offenbar Frauen etwas, das sie nicht verdient haben! Das Gefühl mit dieser unangenehmen Positionierung zieht glücklich an uns Frauen vorbei, richtet sich zu unserer Erleichterung auf die SPD. Wir Frauen sind es gar nicht, es ist die SPD, sie suggeriert - also sie redet den Frauen ein - , dass ihre Lage verbessert werden könnte. In der Entlastung, wütendes Ressentiment nicht auf unser eigenes Geschlecht richten zu müssen, geht unbeachtet unter, dass im FAZ-Artikel gar nicht die Verbesserung der Frauenlage bezweifelt wurde, sondern die Vernunft der SPD, wenn sie vom Leistungsprinzip abginge. Dieses zeichnet nämlich auch unser Rentensystem aus - es ist »leistungsbezogen«. Drücken wir für einen Augenblick beide Augen zu und denken nicht an die unglaublichen Unterschiede in den Rentenhöhen, die uns ja nahe legen, dass es Menschen gibt, die mindestens zwanzigmal so viel leisten wie andere, die bloß ihr Leben lang arbeiteten, eine Differenz, die schon wieder auf eine höchst eigentümliche Elastizität des Leistungsbegriffs schließen lässt; sehen wir also nicht auf diese Differenz, sondern sogleich auf die Frage des Rentenrechts für Frauen, so beginnt auch hier der Leistimgsbegriff mit eigenartigen und zugleich erhellenden Verrenkungen. Bei diesem Streit um die Anpassung des ehemaligen OstRentenrechts an das westliche oder umgekehrt geht es nämlich u.a. darum, ob Frauen eine Rente haben sollen, von der sie auch leben können, oder ob dies - wie im Westmodell - nur dann der Fall sein soll, wenn ihr Auskommen über die Rente des Ehemannes (Witwenrente) berechnet wird. Nachdrücklich möchte der West-Gesetzgeber uns klarmachen: eine Frau leistet mehr, wenn sie verheiratet war, als wenn sie bloß auf dem Arbeitsmarkt sich tummelte. Am meisten aber leistet sie, wenn der Mann gestorben ist. Der Arbeitsbegriff scheint dem Rentenrecht in stark revolutionierter Gestalt zugrunde zu liegen: Trauerarbeit, Beziehungsarbeit, Reproduktionsarbeit zählen also als Leistung? Oder wird nur umgekehrt bestraft, wer nicht als Frau für eine längere Zeit der Leistung entsagt hat, um einem leistungsstarken Ehemann den Haushalt zu fuhren? Der Leistungsbegriff gerät auf abschüssiges Gelände. Prüfen wir noch ein-
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mal, womit er verbunden war, und was gefährdet wurde, wenn das »leistungsbezogene Rentensystem ausgehöhlt« wird: da ist, was wir uns schon dachten, die marktwirtschaftliche Ordnung - sie beruht auf Leistung, heißt es da. Bevor wir diesen Zusammenhang beleuchten, noch schnell die beiden letzten - bei näherem Hinsehen ebenfalls höchst merkwürdigen Aussagen »Wer den Leistungsbezug schwächt, der muss den Leistungsträgern des Systems, vor allem der Masse der Arbeitnehmer, sagen, dass sie dies mit höheren Beiträgen oder niedrigeren Leistungen zu bezahlen habe.« Wer also Frauen eine Mindestrente geben will, die ihnen individuelles Überleben sichert, so können wir übersetzen, der muss der Masse der Arbeitnehmer, zu denen Frauen jetzt wiederum offenbar nicht gehören, sagen - wer übrigens sind die anderen Leistungsträger, die nicht Arbeit nehmen? - , dass sie das mit niedrigeren Leistungen zu bezahlen haben. Ich habe an diesem Satz offengestanden eine Weile herumgekaut. Schon dachte ich, dass der Verfasser uns klarmachen möchte, dass eine Art Leistungsentmutigung - wie wir dies aus den Analysen zum ehemaligen Sozialismus kennen - das Resultat für viele sei und konnte dies zugleich auch nicht richtig als Drohung an »die Masse der Arbeitnehmer« erkennen, die vielleicht gerne ein wenig fauler wären, wenn die Kasse dennoch stimmte. Dass aber gerade dies in Frage gestellt sein soll, gab mir endlich des Rätsels Lösung. Und dabei fand ich auch einen weiteren Leistungsträger: den Staat. Er nämlich hält Leistung zurück, wenn der Leistungsbezug geschwächt wird, Frauen also eine Mindestrente bekommen. Das, was die Einzelnen als Rentenversicherung leisteten, wird ihnen von oben wiederum ein zweites Mal geleistet - sie erhalten Leistungen, von denen sie dann leben. Eine Leistungsgesellschaft zeichnet sich also durch eine doppelte Leistungsverpflichtung aus: eine subjektive und eine staatliche (neuerlich sehen wir - siehe oben - auch noch eine dritte Leistungsdimension, die Dauer, in der das System fehlerfrei funktioniert). Das Bindeglied zwischen staatlicher und subjektiver Leistung ist der Arbeitslohn - wenigstens bei »der Masse der Arbeitnehmer«. Sie geben von ihrem Lohn an den Staat, um es von diesem als Rente im Alter zurückzubekommen. So gesprochen ist die Sache wieder ganz einfach. Wer einen kleinen Lohn hat, bekommt eine kleine Rente, wer einen großen hat, eine große. Warum soviel und kompliziert über Leistung sprechen? Auch die Erklärung für diese Komplikation ist vergleichsweise einfach: es gibt Menschen in unserer Gesellschaft, die nie oder nicht die ganze mögliche Zeit der Berufstätigkeit oder nicht ganztags erwerbstätig waren oder überhaupt zu kleine Löhne bezogen, um Renten zu erhalten, die zum Überleben ausreichen: Frauen. Sie haben einige Zeit damit verbracht, etwas zu tun, was irgendwie privat mit Männern zu tun hat oder zu tun hätte haben können - sie haben sich um die so genann-
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te Reproduktionsarbeit gekümmert. Der Gesetzgeber zögert, in solche Intimsphäre zu tief einzudringen und entschließt - sollen sie es doch weiter privat hinschaukeln eine männerbezogene Rente muss die Probleme lösen. Wenn Frauen da nicht überlebensfahig sind, warum waren sie es dann vorher? Mit unserem Einverständnis, dass das gute Leben der Leistung Lohn ist und dieselbe wiederum zur marktwirtschaftlichen Ordnung gehört wie die Disziplin zur Schule, stehen wir jetzt vor folgenden noch zu lösenden Fragen: Wieso leisten Frauen wenig oder nichts, wenn doch - wie es bei dem Arbeitspsychologen Herzberg (1968, 174) heißt - der Mensch arbeitet, um die Bedeutung zu genießen, die von seiner Leistung ausgeht, oder wie uns die Berichterstatter an den Club of Rome einschärfen: »Wir sind, was wir produzieren.« (Giarini u.a., 1998, 26)? Und in welcher Weise gleichen Frauen mit ihrer geringen Leistung den bisherigen DDR-Bewohnern beiderlei Geschlechts, bevor diese in unsere Leistungsgesellschaft kamen? Und was hat Leistung mit der Marktordnung wirklich zu tun? Bzw. ist unsere Gesellschaft eigentlich eine Leistungsgesellschaft? Kurz: es sind im Grunde alle Fragen offen, und das gefühlsmäßig so fest verankerte Leistungswort steht in eigentümlichem Zwielicht - für Frauen bedeutet es gar Dunkelheit, denn, das ist nun wiederum mehr oder weniger Commonsense: Frauen leisten doch wirklich (fast) nichts. Wörtlich so gefochten und im allgemeinen Bewusstsein breit belebt und aktualisiert wurde dies in den nun seit der Einverleibung der ehemaligen DDR fast vergessenen Quotenkämpfen (vgl. dazu Haug, F., 1996). Da ging es um die Frage, ob Frauen den Männern wirklich gleichgestellt werden sollten, und falls ja, ob dies dann nicht eine Benachteiligung des männlichen weil Bevorzugung des weiblichen Geschlechts sei. Um diesen Gedankengang, der selbst eine intellektuelle Leistung ist, wirklich zu verstehen, muss man sich wiederum das Einfache vergegenwärtigen: solch kunstvolle Verdrehung entspricht der Realität, solange Einverständnis herrscht, dass Frauen weniger wert sind - eben weil sie weniger leisten. Ich erinnere kurz an die damalige Argumentation, deren Analyse uns zugleich eine erste Antwort geben kann auf die Frage, ob wir denn wirklich in einer Leistungsgesellschaft leben, die westliche Marktordnung in der BRD also nach dem Leistungsprinzip geregelt ist. Abstrakt war schon gewusst, dass die Auffassung, jeder, der etwas leiste in unserer Gesellschaft, es zu etwas bringen könne, und umgekehrt, wer es zu nichts bringe, eben nichts geleistet habe, zu den tragenden Ideologien gehört: es ist das bekannte Märchen vom Tellerwäscher, der Präsident der Vereinig-
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ten Staaten wird aufgrund seiner großen Leistung. Was aber in den Kämpfen um die Frauenquote neu entschlüsselbar wird, ist der Stellenwert, den diese Ideologie in der Reproduktion der Männergesellschaft hat. Zunächst droht die Quote, wäre sie als allgemein notwendig eingestanden, offenbar werden zu lassen, dass die Mär, jeder sei seines Glückes Schmied, doch nicht stimmt, der offene Darwinismus schließlich doch nicht zu Gerechtigkeit führt. Dahinter steckt auch die Angst, dass andere Ungerechtigkeiten als natürliches Ergebnis dieses liberalen Jeder-gegen-Jeden - bei dem dann einige Männer siegen und viele unterliegen - sichtbar werden könnten oder gar anklagbar, wenn erst der Quote zugestimmt ist. Dass diese Geschichte von dem Lohn der Tüchtigsten selber als Märchen erkannt werden kann, hindert ja doch nicht, nach dieser Maxime zu leben und zu streben, zu legitimieren vor allem. Frauen sind da als Sozialcharaktere von vornherein ausgenommen - wer könnte sonst die Verantwortung für Kinder und Mann tragen, wenn auch Frauen sich immerzu als tüchtig nach außen erweisen müssten, jede tüchtiger als jede? Frauen sollten lediglich der Aufgabe nachkommen, die Leistungsideologie selbst auf Mann und Kinder zu übertragen, diese beim Rennen halten. Die allmähliche Aufweichung dieser Eindeutigkeit weiblicher Nichtleistung hat daher auch zur Folge, dass als leistungsstark anerkannte Frauen durchweg nicht älter als 30 und selbstverständlich kinderlos sein müssen. Ausnahmen von der Regel der männlich bestimmten Leistung hat es in der gesamten Dauer des Patriarchats gegeben. Sie dienen gewöhnlich dazu, nicht etwa die Ebenbürtigkeit, sondern die Schwäche der Frauen zu beweisen, da ihresgleichen sich im Durchschnitt so wenig hervortut durch Leistung. So ist es eine beliebte Unterhaltung unter Männern, die auch noch am Ende dieses Jahrhunderts nichts an Frische und Stolz verloren hat, als Beweis für die Minderwertigkeit des weiblichen Geschlechts hochnäsig auf die geringe Anzahl weiblicher Komponisten hinzuweisen, dies selbstverständlich auch dann, wenn sie selbst nicht einmal Noten lesen können. Mit solchen Reden wird die geringe Anzahl von Frauen in allen Entscheidungspositionen in Wirtschaft und Politik, in Wissenschaft und Verwaltung usw. übertönt. Nach 80 Jahren Gleichberechtigung schwankt ihre Anwesenheit in höheren Positionen des öffentlichen Lebens oder der Wirtschaft immer noch um sechs Prozent; in anderen einflussreichen und also leistungsstarken Bereichen kommen sie zuweilen bis zur magischen Prozentzahl von zehn. Eine etwas gründlichere Analyse des Patriarchats zeigt recht eindeutig, dass die Vorstellung, die Plätze und Positionen würden allgemein und also auch für Männer nach Leistung vergeben, irrig ist. Seilschaften, Verwandtschaften, Beziehungen, Sich-Hochdienen, Bruderschaften usw. usw. garantieren die Verteilung
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der höheren Positionen in Gesellschaft zu gut achtzig Prozent. Um die restlichen Sitze kann von beiden Geschlechtern »nach Leistung« gerungen werden (vgl. dazu Haug, F., 1996) Das genügt, dass alle daran glauben, dass es sich schließlich doch bezahlt mache, etwas zu leisten und alle danach streben können. Das macht auch, dass Frauen diese magischen vier bis sechs Prozent Beteiligung an Gesellschaft einfach nicht überschreiten können. (So stellen sie etwa sechs Prozent der Chefarzte, des Führungspersonals in Industrien und Banken, weniger noch in den Universitäten, die Zahlen sind rückläufig.) Die übrige Gesellschaft ist schon verteilt und wird nach den bekannten Gesetzen, nach denen sich die Elite reproduziert, weitergereicht. Anna Schulte (1998) hat eine andere Dimension der Reproduktion des Patriarchats in einer nachlesenswerten Mikroanalyse zum Fachwissen untersucht, bei dem es ganz selbstverständlich ebenfalls nicht nach Leistung geht. Dass also nicht nur im Feld des unmittelbar Politischen, sondern auch in den kühlen Realitäten des Wirtschaftslebens Maßstäbe gelten, welche die Frauen disqualifizieren, liest man ebenfalls in der FAZ. Neutral zitiert der Kommentator die Aussage eines »Topmanagers« zur Seltenheit von Frauen in Chefetagen: sie halten ihr Privatleben für wichtiger als die Karriereplanung, sie haben kein Durchsetzungsvermögen, schwache Taktiken. Sind Frauen also qua Geschlecht ein Synonym für Nicht-Leistung, und funktioniert diese Gesellschaft auch nur höchst eingeschränkt nach dem Leistungsprinzip, so sind auch Frauen doch Mitglieder dieser Gesellschaft, ihren Ideologien und Selbstverständnissen so unterworfen wie diese mitproduzierend. Oder anders: die anfänglich vorgestellten Gefühle über den Satz »Leistung muss sich wieder lohnen« können ja auch von Frauen empfunden werden; und der mögliche theoretische Zweifel kann mit dem Einverständnis einhergehen, dass Frauen - soweit sie nicht in der Erwerbsarbeit engagiert sind - tatsächlich nichts leisten und wo sie es sind, ihre Arbeit auch nicht eigentlich als Leistung gewertet werden kann. Wenn Frauen etwas oder auch nichts leisten
Dieses gefühlsmäßige und theoretische Durcheinander, welches ja auch politische Konsequenzen hat, führte uns in einer Frauengruppe dazu (Frauenseminar Hamburg 1991/1992), denVersuch zu machen, unsere eigene spezifische Aneignung des Leistungsbegriffs näher zu untersuchen. Wann leisteten wir nach unserer Erinnerung etwas oder wann nichts? Oder wann lohnte es sich eigentlich, etwas geleistet zu haben? Eine erste Schwierigkeit war, uns klar zu machen, dass wir nach der Bedeutung des Leistungsbegriffs und seines Schicksals in unserer Sozialisation
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suchten und nicht etwa uns auffordern wollten, heute daran zu gehen, gewisse Taten in unserer Kindheit als Leistung zu bewerten oder nicht. Es scheint dies leicht zu verstehen, stößt jedoch in der Durchführung auf einen festsitzenden Commonsense, der es gewohnt ist, zunächst einmal trotzig und gegen alle gesellschaftliche Geltung zu behaupten, Frauen leisteten eigentlich besonders viel, schließlich zögen sie Kinder auf usw. Es ist dies gängige Politik, die sich für Frauen einsetzen will; man wird im Weiteren sehen, dass mit solcher Strategie alles Subversive im Verhältnis von Frauen zu Leistung verschenkt wird. Es ging uns also um Begegnungen mit dem Wort Leistung und der entsprechenden Verknüpfung, die dieses Wort mit unseren Taten in eigener damaliger Bewertung erfuhr, die ebenfalls heute gilt, wenn wir nur zulassen, uns nicht selbst altklug ins erinnerte Wort zu fallen. Den Begriff »Leistung« mit Erfahrung zu füllen, machte mir selbst enorme Schwierigkeiten. Kalt und bürokratisch, schulmeisterlich und papiernen steht er vor mir. Das Gefühl, in einem dunklen Raum mit einer zu hellen Lampe zu sitzen, wie im Physiksaal in der Schule bei einem Experiment. Unzugänglich sperrt er sich zunächst der Erinnerung. Dabei weiß ich doch, dass Sätze wie: Leistung muss sich wieder lohnen, auch bei mir unvermittelt Zorn aus Erfahrung hervorrufen. Die Erfahrung scheint theoretisch zu sein. Ich weiß, dass Leistung sich nicht lohnt, wie ich auch weiß, dass Leistungsgesellschaft ein ideologischer Begriff ist. Wir sollen denken, wenn wir etwas leisteten, würde sich das für uns lohnen oder anders, wir lebten in einer Meritokratie. Wer was leistet, wird belohnt. Aber wenn das gar nicht stimmen würde, müsste doch wenigstens der Verankerung dieses Gedankens in unseren Seelen und Köpfen nachgespürt werden können. Und zudem weiß ich auch schon, dass es ja ein wenig stimmt. Manchmal wird Leistung belohnt. Zum Beispiel im Akkordlohn. Manchmal ist es auch eine spezifische Leistung, die belohnt wird, die ich nicht unbedingt als Leistung ansehen würde. Zum Beispiel, wie sich einer herausstellt, inseriert, präsentiert, obwohl er sonst nichts leistet. Ich habe spontan offenbar einen etwas moralischen Leistungsbegriff. Nur, was ich für eine Leistung halte, soll belohnt werden. Aber was halte ich für eine Leistung? Und woher kommt der naive Glaube, dass ich und die Belohnenden, also gesellschaftliche Mächte, den gleichen Leistungsgedanken haben könnten? Diese Naivität muss irgendwie gegen mein theoretisches Wissen Dauer haben. Also, wie kommt dieser eigentümliche Leistungsgedanke in mich und auf was bezieht er sich? Die Fragen, die wir uns stellten: eine Leistung, die sich gelohnt hat; eine Leistung, mit der ich zufrieden war; ich leistete etwas; ich leistete nichts - sie alle konnten nur mit großer Mühe auf Erfahrung kommen. Lediglich: die an-
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deren leisten nichts - würde bei mir eine Menge Geschichten erinnern zu Kollektiven, in denen es Schwierigkeiten mit der Erstellung eines gemeinsamen Produktes gab. - Nicht einmal die direkten Verweise auf Leistung etwa in Schulzeugnissen (die in kritischer Pädagogik ausführlich analysiert und als ideologische Hauptmächte entlarvt wurden) kommen mir erfahren vor; immer schon scheinen sie mir Formeln für etwas anderes gewesen zu sein, das ich nicht mehr recht weiß. Nach langem Hin und Her erinnere ich unter der Formulierung: Eine Leistung, die sich gelohnt hat, die folgende Begebenheit: Englischunterricht. In Englisch hatten wir eine Lehrerin, die ich sehr verehrte. Zwar ging ich ihr nicht heimlich nach oder stand gar unter ihrem Fenster am Abend, wie viele meiner Mitschülerinnen. Jedoch fühlte ich mich ihr gerade darum irgendwie noch enger verbunden, hatte den Eindruck, dass ein geheimes Bündnis zwischen uns bestand. Darum machte ich ausnahmsweise alle Schularbeiten, die sie aufgab; wollte auf gar keinen Fall von ihr erwischt werden, dass ich irgendwo enttäuschend war. Jetzt war Englischstunde, und wie immer klopfte mein Herz, als sie eintrat. Aber es war nicht wie sonst freudig, sondern ganz plötzlich schrecklich beklemmend und entsetzlich. Jäh fiel mir ein, dass wir Vokabeln aufgehabt hatten, und dass ich das nicht wie üblich im Zug getan hatte, sondern es schlicht vergessen hatte. Einfach so. Meine Hände zitterten, als ich das Vokabelheft aus meiner Tasche riss und das Englischbuch und fieberhaft begann, unter der Bank Wörter aus dem Buch in das Heft zu übertragen. Die Aufgabe war, seit wir in die Mittelstufe gekommen waren, nicht mehr, alle Worte abzuschreiben, sondern nur die, die wir noch nicht kannten. Wahllos schrieb ich jedes dritte Wort. Ich erinnere mich wie heute, dass ich mich ertappte, wie ich das blöde Wort »Warmingpan = Wärmpfanne« eintrug, ausgerechnet, Zeit vergeudet. Niemand würde glauben, dass ich das nicht gekannt hätte, besonders sie nicht. Schon seit einigen Sekunden hatte sie aufgehört, die Eintragung über den Stundenstoff ins Klassenbuch zu tragen, war aufgestanden, hatte »Vokabeln« gerufen und schaute nun in ihr eignes kleines Heft, wer wohl am längsten nicht drangewesen war. Meine Hände schwitzten jetzt, sieben Worte standen im Heft von circa dreißig, aber vielleicht würde ich nicht drankommen. Da rief sie meinen Namen. Irgendwie kam ich nach vorn, übergab mein
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feuchtes Vokabelheftchen und wankte zur Tafel. »So wenig?«, fragte sie, und ich log mit stockender Stimme: »Ich kannte alle anderen« und flehte irgendwohin, schon überzeugt, dass ich damit nicht durchkommen würde, dass sie nicht das Buch, sondern eben mein Heft zur Grundlage der Prüfung machen würde. Tatsächlich: warmingpan. Dieses wie die anderen wenigen Worte konnte ich natürlich, hatte ich sie doch gerade noch notiert. Ich schrieb sie fast bewusstlos an die Tafel; nahm gesenkten Blickes mein Heft in Empfang, erhielt eine »Eins« in Vokabellernen und Fleiß und landete voll erleichterter Scham in meiner Bank. Ich war so erschöpft, wie ich kaum je war. Aber es hatte sich gelohnt, dass ich noch versucht hatte, diese Worte ins Heft zu kritzeln. Dies empfand ich als Leistung. Sie hatte wahrscheinlich nicht gemerkt, dass ich meine Aufgaben nicht gemacht hatte. Weg und Ziel
Eine erste Verunsicherung gilt hier wie in anderen Frauengeschichten zur Leistung dem eigentümlichen Verhältnis von Weg und Ziel. Oder anders: die Anstrengung, als die wir Leistung empfinden, scheint inhaltlich gar nichts mit dem erstrebten Ziel zu tun zu haben. Zunächst hört es sich noch vertraut an - sie bekommt eine Eins in Englisch und hat dafür - nein, sie hat nicht gelernt und gebüffelt - im Gegenteil. Die erste Auskunft lautet vielmehr: sie bekommt eine Eins, obwohl sie nichts dafür gearbeitet hat. War denn die Eins überhaupt das Leistungsziel? So wie die Autorin die Szene konstruiert, legt sie uns nahe, dass es das Ziel war, die Lehrerin nicht zu enttäuschen, beim Mogeln nicht erwischt zu werden. Das Lernen der englischen Sprache oder die damit zusammenhängende Benotung ihrer diesbezüglichen »Leistung« spielen im Gegenteil eine höchst untergeordnete Rolle. Die gemeinsame Dekonstruktion einer solchen geschriebenen Szene ist recht aufwendig, so dass ich dies hier nur etwas summarisch skizziere. Nach der konsensuellen Einigung über die Bedeutung, welche die Autorin ihrer Szene beigeben wollte, folgt eine Art Zerstörung dieser Bedeutung durch Zerlegung in grammatische und sprachliche Aussagen, die die Bedeutung als bestimmte Konstruktion zu entziffern erlauben. Dies geschieht zunächst auf der Ebene der benutzten Worte - Verben, Adjektive, Subjekte, Sprachbeobachtungen - , um schließlich auf die solcherart produzierte Konstruktion des Erzähl-Ichs und der anderen Personen zu kommen. Listet man etwa in der vorliegenden Geschichte die für die eigenen Taten benutzen Verben auf, sieht man schon auf den ersten Blick eine überwältigende Vielzahl von Aktivitäten, denen gegenüber die geäußerten Gefühle nur sehr wenige sind, und sich
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zudem in einem eigenartigen Schwingungsbereich von Bedrückung und Entspannung bewegen. Wir tragen in die Spalte Gefühle
Aktivitäten
sich verbunden fühlen Scham Erleichterung erschöpft beklemmend
sie verehrt geht nicht heimlich nach steht nicht unter dem Fenster hat den Eindruck macht ausnahmsweise Schularbeiten hat nicht gelernt vergisst, reisst Vokabelheft aus der Tasche beginnt fieberhaft zu übertragen schreibt wahllos erinnert sich ertappt sich kommt irgendwie nach vorn übergibt wankt lügt mit stockender Stimme fleht irgendwohin kann natürlich schreibt fast bewusstlos nimmt Heft erhält landet voll Scham empfindet als Leistung hat nicht gemacht
Ein zweiter Blick auf die Art der Tätigkeiten zeigt mehrere Eigentümlichkeiten: eine ganze Reihe treten in der Form der Verneinung auf, als etwas, das die Autorin nicht tat; eine Reihe von anderen sind durch Adverben wie bewusstlos, natürlich, wahllos oder andere Konstruktionen wie die Beifügung »irgendwie« ins Uneigentliche oder Unwesentliche geschrieben. Es gibt nur ganz wenige äußere oder äußerlich sichtbare Aktivitäten. Findet darum das eigentliche Geschehen innerlich statt? Auch dies lässt sich kaum mit ja beantworten. Die Autorin konstruiert sich vielmehr als schwebend, als eine Art dringlicher sehnlicher Wunsch, dem die ganze Person untergeordnet ist. Die illusionäre Beziehung zur Lehrerin füllt die Person ganz, sie unter allen Umständen und gegen mögliche Fakten zu halten, tritt auf als Leistung. Zur Be-
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trachtung der Eigenkonstruktion gehört die Besichtigung der Konstruktion der anderen. Sie sind ebenso auf verblüffende Weise in die Szene eingeschrieben. Die Klassenkameradinnen werden trotz gleichartiger Gefühle ausgegrenzt als anders, solche, die etwas für ihre Neigung tun und daher verächtlich und auch nicht recht glaubwürdig, jedenfalls in »keinem geheimen Bündnis« sind. So wird die Autorin einsames Ich. Und die Lehrerin selbst wird außerordentlich karg als bloße Trägerin einer Aufgabe konstruiert. Ein dekonstruktiver Blick aufsie: Sie tritt ein hört auf zu schreiben steht auf ruft Vokabeln sieht ins Heft ruft den Namen fragt und hat wahrscheinlich nicht gemerkt
Ihre Beschreibimg ist aufs Äußerste beschränkt auf einige sichtbare Aktivitäten; sie hat ansonsten weder Gefühle noch Wünsche/Interessen. Sie sieht nicht aus, kurz: tritt nicht lebendig ins Bild, bzw. wird vön der Autorin nicht als eine lebendige Person konstruiert, in die man sich z.B. verlieben könnte. Es ist, als sei sie ausdrücklich nur Folie, um das Imaginäre in seiner Illusion zu befestigen. Dies wird zusätzlich unterstützt durch die - übrigens bei Szenen von Frauen fast durchweg übliche - Einsetzung von unpersönlichen Subjekten, insbesondere da, wo es um stärkere Aktivitäten geht. Wie ein Schicksal tritt auf: die Englischstunde das Herz klopft nicht freudig, sondern entsetzlich es fallt ihr ein . ihre Hände zittern die Aufgabe ist die Hände schwitzen sieben Worte stehen usw. es lohnt sich
Die Szene legt uns so nahe, dass der Wunsch nach Anerkennung, der mit dem Wunsch, geliebt zu werden, verschmilzt, alle Kraft bis zur Selbstaufgabe braucht, so dass sich die Person verlieren muss, um sich zu haben. Dabei bleiben die Wünsche so in der Negation stecken wie zuvor die Aktivitäten:
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sie will nicht enttäuschend sein und nicht ertappt werden als diejenige, die sie ist, damit sie im Modus des Möglichen existieren kann. Eigentümlicherweise finden wir gerade im harten Feld der Leistung eine Reihe von weiblichen Geschichten, die sich im Uneigentlichen aufhalten, als sei es die Leistungsgesellschaft, die Frauen vom Leben abhält, und als sei sie es zugleich, die einer surrealen Kontraktion von Weiblichkeit Kontinuität und Nahrung gibt. In einer anderen Szene möchte die Schreiberin eine Stereoanlage zur Konfirmation bekommen, erhält stattdessen ein Sparbuch und begibt sich selbst in die Lohnarbeit, um sich den Wunsch zu erfüllen. Als Leistung bezeichnet sie dabei dann die Einhaltung von Disziplin - etwa das morgendliche Aufstehen - , nicht die Tätigkeiten, die sie zu vollbringen hat. - In einer dritten Szene begibt sich die Autorin aus ihrem Hausfrauendasein hinaus in die Universität, »um die Welt in ihren Zusammenhängen zu verstehen«. Dabei bezeichnet sie als Leistung jeweils die Überwindung der verschiedenen Ängste, die vor dem Entschluss, der Prüfung, dem Studium etc. stehen; nicht aber das Studieren selber. Alle Szenen sprechen davon, dass die Schreiberinnen Ziele haben, die durch Leistung nicht zu erreichen sind. Wenn sie in diesem Kontext dennoch von Leistung sprechen, so meinen sie jeweils, dass eher zufällig, unvermutet, ein Hindernis auftaucht, das durch die bewusste Überwindung von Gefühlen beiseite geräumt werden muss. Von Leistung sprechen sie also immer dann, wenn sie etwas Unangenehmes im Handlungsverlauf tun müssen, ihren Sinnen zuwiderhandeln. So muss die Studentin Schwellenangst überwinden, denn alle Eingänge zum Wissen sind für sie als Initiationsriten konstruiert; die Konfirmandin muss früh aufstehen, jeden Morgen für einige Wochen; und die Schülerin muss schwitzend unter der Bank in großer Schnelligkeit Worte in ein Heft kritzeln und darf dabei nicht ertappt werden. Dies bezeichnen die Schreiberinnen als Leistungen, weil es allesamt Taten sind, die ihnen gegen den Strich gehen; Hindernisse auf dem Weg zum Ziel, nicht etwa logische Schritte, die man gehen muss und die selbst schon sinnvolle Stufen wären. Von der Geringschätzung weiblicher Leistung
Diese eigenartige Konstruktion zieht eine weitere nach sich. Wenn es Leistung ist, sich zu überwinden und Leistung nicht selber Weg zum Ziel, wie beurteilen Frauen dann die Schritte, die wirklich zu den erstrebten oder zu gesellschaftlich erwarteten Zielen führen? Soweit wir unseren Szenen Allgemeinheitswert zuerkennen wollen, können wir sagen: sie beurteilen sie nicht als Leistung. Wo sie im landläufigen Sinne Leistung erbringen, finden sie
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solches nicht erwähnenswert, es scheint als natürliches und selbstverständliches Tun oder gar als Zauberei oder als Täuschung, wie in der obigen Szene die Eins als so genannter Leistungsnachweis. Hier erscheint ja im Übrigen das eigentliche Lernen der Vokabeln etwa durch Abschreiben als natürliches Beiprodukt der Handlung, die im Vordergrund stand, nämlich, die Lehrerin nicht zu enttäuschen. In einer anderen Szene soll ein Mädchen Lesen lernen. Ihr eigentliches Ziel ist es, nach draußen zum Spielen zu gehen. Sie kann dies erst, wenn sie Lesen geübt hat - die Übung aber fuhrt zu nichts, vor allem nicht dazu, zusammenhängende Buchstaben als Worte zu entdecken. In der Nacht legt sie auf den Rat der Nachbarin das Buch unter das Kopfkissen. Am Morgen kann sie lesen. Das Lernziel ist erreicht durch Zauberei. Einer allgemeinen Heiterkeit im Seminar bei dieser Enthüllung folgte die Erinnerung, dass viele Frauen Leistungsziele durch solche Magie erreicht hatten, bzw. dies so erinnerten. Die Folge ist: wo Frauen etwas tun, was gesellschaftlich als Leistung bezeichnet werden würde, empfinden sie dies als Nichtleistung, als selbstverständliches Tun oder als Glück, Zufall, Zauberei - jedenfalls nicht als etwas, das ihnen entlohnt werden sollte, so dass sie ihrem selbst gewählten Ziel näher kämen. Gewöhnliche Leistungsziele erreichen sie durch eine Reihe von Tätigkeiten, die sie als notwendig betrachten. Notwendigkeit und Leistung stehen in einem NichtVerhältnis. Wo etwas getan werden muss, wird es getan. Als Leistung wird dagegen aufgefasst, wenn man gegen die eigenen Sinne/Gefühle handelt. Und schließlich können wir entziffern: Leistung scheint in unseren Szenen auf jeden Fall gleichgültig gegen den Inhalt des Tuns. Die ersten Blicke in unsere Erinnerungsgeschichten zur Leistung geben uns einige eigentümliche Antworten und neue Fragen: 1. In der Art, wie Frauen auf ihre kindlichen Taten blicken, unterstützen sie den gesellschaftlichen Konsens, dass Frauen nichts leisten. 2. Diese Zustimmung ist selbst Kritik am Leistungsbegriff, so wie sie ihn verstehen. In halbbewusster Erkenntnis empfinden sie, dass gesellschaftlich von Leistung immer dann die Rede ist, wenn es sich um pure Verausgabung von Kraft, um Überwindung eigenen Wollens, um Abstumpfung der Sinne handelt in Zusammenhängen, die den eigenen Zielen gegenüber gleichgültig sind. Leistung, so erkennen sie, ist eine Dimension von Fremdbestimmung. 3. Dabei werden nicht so sehr die produktiven Tätigkeiten z.B. in Lohnarbeitszusammenhängen als Leistung kritisiert, sondern ein Schritt davor, bestünde die Leistung in der aktiven Zustimmung der Frauen zum Eintritt in Lohnarbeit, Studium, Schule, Unterricht etc.
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4. Leistung als solche Handlung gegen die eigenen Sinne erscheint als isolierte Tat, nicht kollektiv. Selbst, wo am Fließband gearbeitet wurde in einer Szene, sieht sich die Schreiberin allein. 5. In dieser Weise können Frauen auf Anerkennung ihrer Leistung der Selbstüberwindung hoffen, aber sie erwarten keineswegs einen Lohn für gesellschaftlich erbrachte Arbeit oder gar Laufbahn und Karriere für das, was herkömmlich als Leistung bezeichnet wird, wenn sie es vollbringen. 6. Insofern sind Frauen bei aller kritischen Einsicht in die Eigentümlichkeit des Leistungsbegriffs vollkommen bereit, die Gesellschaft im Ganzen als Leistungsgesellschaft zu denken und selber keine Unruhe zu verspüren, wenn sie für ihre tatsächlichen Leistungen keinen Lohn erhalten. Vielleicht kann man so formulieren: Frauen kommen widerständig unterworfen als Quereinsteigerinnen in die Leistungsgesellschaft. Wo sie eine ist, also Leistung belohnt wird, erreichen sie nichts, wo sie dies nicht ist, also Seilschaften, Betrug und Macht bestimmen, welche Stufe man erreicht, welches Gehalt man bekommt, was man besitzt etc., erreichen sie auch nichts, aber dies widerspricht auch nicht ihren Vorannahmen. Im Verfolgen ihrer eigenen Ziele ist Leistung das Attribut, das sie der Überwindung ihrer Sinne zu anderen Zwecken beimessen. »Leistung muss sich wieder lohnen«, ist in dieser Weise kein Satz, der in Frauenohren irgendwie sinnvoll klingen kann. Ihre Aneignung des Leistungsbegriffs, seine Anmessung an eigenes Verhalten scheinen mir zugleich subversiv und anspruchslos fügsam. Eine noch offene Untersuchungsfrage ist, ob solche Merkwürdigkeiten überhaupt spezifisch weiblich sind. Die folgende Szene eines Mannes ist tatsächlich eigenwillig anders; hingegen ist es auch möglich, dass sich Männer im Zuge der klimatischen Verschärfung der Leistungsgesellschaft ändern. So schrieb in einem meiner Seminare im Jahre 1999 ein Mann eine Szene, in der er die Uhr zu lesen ebenfalls magisch und im Gegensatz zu aller Übung erlernte. Für Verallgemeinerungen sind jedenfalls Einzelfalle äußerst problematisch. Gleichwohl zur allgemeinen Kenntnisnahme die folgende Geschichte, die zumindest zeigen kann, dass es andere Möglichkeiten der Aneignung des Leistungsbegriffs gibt, die wir leicht als männlich entziffern können, trotz aller Vorbehalte. Englisch 2 Wir jedes Wochenende war er (ca. 14 Jahre alt) mit seinen Eltern irgendwo in die Umgebung gefahren. Sie gingen spazieren und auf dem Rückweg schauten sie sich aus dem Auto heraus neu gebaute Ei-
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genheime an; die Eltern wollten bald selber bauen. Er saß hinten im Auto, war traurig und hatte ein schlechtes Gewissen. Morgen, am Montag, würde die Lehrerin die Englischarbeit korrigiert zurückgeben. Er vermutete, dass sie für ihn schlecht ausgefallen sein würde. Immer wieder versuchte er sich an mögliche Fehler zu erinnern, sie zu zählen und eine mögliche Note zu kalkulieren, während er lustlos aus dem Autofenster starrte. Warum sollte er neue Eigenheime betrachten oder nach seltenen, teuren Autos Ausschau halten, was er sonst sehr gerne tat? Später, wenn er erwachsen sein würde, könnte er sich beides nicht leisten, da er in der Schule zu schlecht gewesen sein würde. Zwar hatte er bisher immer hervorragende Noten erzielt, aber die wahrscheinlich schlecht ausgefallene Englischarbeit erschien ihm als Anfang eines drohenden Abstiegs in die Bedeutungs- und Erfolglosigkeit. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er durch die Gegend fuhr, anstatt zu Hause Englisch zu lernen oder auf andere Klassenarbeiten zu lernen, damit er wenigstens bei diesen gute Noten weiterhin erzielen würde. Schon die Tatsache, dass seine Eltern einen Mercedes fuhren, bereitete ihm jetzt Unbehagen; er wusste, dass nur Menschen, die gute Leistungen erbringen, sich so etwas kaufen können. Mit seinen Eltern redete er lieber nicht über seine Sorgen. Am Montagmorgen, während die Englischlehrerin die Arbeit besprach, versuchte er möglichst schlecht, krank und nervös auszusehen und hoffte, die Lehrerin würde es bemerken. Er mochte sie. Sie sollte wissen, dass er unter seiner schlechten Leistung selber und sogar körperlich litt, dass er die Sache nicht zu einfach nähme. Und außerdem hoffte er, obwohl er wusste, wie kindisch es war, dass sich vielleicht noch etwas zum Guten wenden würde, wenn er nur deutlich genug zeigte, wie sehr er litt. Am Ende der Stunde gab die Lehrerin die Arbeiten zurück; er hatte eine 2-3. Er war sehr unzufrieden, aber seine schlimmsten Befürchtungen waren ein wenig beruhigt. Seine Mutter nahm die Note zur Kenntnis, auch sie beruhigte ihn ein wenig. Sie gab ihm sogar noch ein wenig Geld, weil noch eine »2« in der Note enthalten war. Seinem Vater erzählte er von der Note nichts. Diese Szene löste in der Frauengruppe eine so heftige Heiterkeit aus, dass eine Bearbeitung zunächst schwierig wurde, ja, wir nahmen an, dies sei eine für uns erfundene Geschichte, welche direkt die herkömmliche Leistungsideologie in erlebte Rede übersetzt hätte. Vorläufig können wir festhalten, dass hier zwar ebenfalls eine Trennung
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zwischen Weg und Ziel vorgenommen wird - das Englischlernen führt zum Besitz von Autos und Eigenheim, nicht etwa zur anderen Sprache und dazugehörigem Erleben - , aber es wird hier eine direkte Verbindung zwischen Schulleistung und späterem Eigentum, ja Erfolg und Bedeutung angenommen bzw. für wahr gehalten, eine Verbindung, die wir in keiner Frauenszene gefunden haben. Der Junge spielt sogar mit der Doppelbedeutung des Wortes, dass, nur wer etwas leistet, sich später etwas leisten kann: z.B. teure Autos. Im Verhältnis zur Mädchen-Szene aus dem Englischunterricht wird hier eine zweimalige Stimmigkeit von Einsatz und Belohnung angenommen. Der Junge lernt und bekommt eine gute Note, die gute Note führt zu gesellschaftlichem Erfolg. Dieser ist sein Ziel, und er kennt die Stufen dorthin - bzw. meint sie zu kennen. Sie zu erklimmen, ist er bereit, auf unmittelbares Wohlleben zu verzichten. Erst an diesem Punkt gibt es einen kleinen Bruch: seine Erfahrung mit weiblichen Personen in seiner Sozialisation - die Mutter, die Lehrerin - lassen ihn auf ungerechtfertigte Gnade hoffen. Allerdings bezieht er diese wiederum auf die Zielgrößen Geld, das ihm die Mutter zusteckt und die Einsicht in die Unabdingbarkeit guter Leistungen, derer er sich auch körperlich leidend fähig zeigen will. Er stellt sich als ehrgeizig dar, und angesichts einer nicht guten Leistung fühlt er: Müßiggang ist aller Laster Anfang. Warum Frauen nichts leisten
Diese rohen Ergebnisse sind zugleich unerwartet, wie im Grund auch selbstverständlich. Warum sollten Jungen nicht annehmen, dass zähes Verfolgen der an sie gerichteten Aufgaben nicht doch irgendwie zunächst zur Belohnung in Gestalt von guten Zensuren, dann ihrer weiteren meist geldlichen Belohnung durch Eltern und schließlich zu einer höheren Position in der Gesellschaft führen, wenn sie aus den entsprechenden Elternhäusern kommen und in jene Bereiche der Gesellschaft aufsteigen, in welche die Bürgerkinder bei angemessenem Wöhlverhalten durchaus durch eine Mischung von guter Arbeit, ein wenig den vorgegebenen Rahmen überschreitender Phantasie und entsprechenden Ellbogen und Protektion kommen können? So konnte auch der Psychologe McClelland (1953) gelassen schreiben, dass Leistungsmotivierte eher als andere dazu neigen, im ökonomischen Bereich, wo sich par excellence analoge Situationen anbieten, unternehmerische Rollen zu übernehmen. Die Unbewusstheit solcher theoretischer Aussagen in Bezug auf die Klasse, von der hier die Rede ist, hat die zweite Unbewusstheit, die in Bezug auf das Geschlecht, für die vielen Kritiker der Leistungsideologie verdeckt. Alle mir bekannte Kritik an Leistungsideologie und -gesellschaft bezieht sich auf den männlichen Einbau in die Leistungsgesellschaft, als sei er der
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allgemeine. Sie problematisiert bestenfalls das Selbstverständnis einer Gesellschaft, die in der Tat nur jene Verhaltensweisen als Leistung erklärt, die sie zu entlohnen bereit ist. (Vgl. u.a. Dieter Seibel, der (1973) ein ganzes Buch geschrieben hat zu der These, dass in unserer Gesellschaft die Leistungsideologie vorherrsche, wiewohl Berufsrollen primär nach Nicht-Leistungskriterien vergeben würden. Daraus diagnostiziert er einen Konflikt, der zu Entfremdung, abweichendem Verhalten, Selbstmord führe. Zur Lösung des Leistungskonflikts wird vorgeschlagen, den Glauben an die Leistungsgesellschaft abzubauen. Geschlechtsdifferenzen kommen nicht vor). Dabei muss man eigentlich fast voraussetzen, dass Mädchen/Frauen praktische Kritik an der Realität von Leistungsgesellschaft haben bis hin zur unbewussten Kritik am bestimmten Typ von Rationalität, der dem Leistungsdenken zugrunde liegt. Warum sollten sie annehmen, dass Leistung sich für sie lohnt, wenn dies ganz offensichtlich gesamtgesellschaftlich nicht der Fall ist? Zu erinnern bleibt noch, in welcher Perspektive in den einzelnen Szenen Leistung eine Rolle spielte. Bei dem Jungen war es gesellschaftlicher Erfolg, Besitz; die Mädchenziele waren umfassend und vage: die Welt in ihren Zusammenhängen erkennen; die Liebe der Lehrerin nicht verlieren; der häuslichen Enge entkommen und in Freiheit draußen spielen; im eigenen Zimmer Musik hören wollen. So sympathisch und menschlich uns diese Ziele der Mädchen spontan erscheinen, so ist zugleich offensichtlich, dass tatsächlich keines dieser Ziele durch Leistung erreicht werden könnte. Die Rätselfrage ist daher jetzt nicht, warum Mädchen/Frauen ein so eigentümlich-unselbstverständliches Verhältnis zur Leistung haben, sondern warum in solchen Kontexten überhaupt von Leistung gesprochen wird, wenn doch diese Ziele mit der Leistungsgesellschaft oder der Marktordnung selbst in keinem einsichtigen Zusammenhang stehen. Und weiter ist offen, was dieser Zusammenhang von Geschlechterverhältnissen und Leistungsideologie und -Wirklichkeit für die Produktion und Reproduktion unserer Gesellschaft bedeutet. Der Leistungsbegriff
Vielleicht tun wir gut daran, uns nach diesem Hin und Her des Leistungsbegriffes uns seiner selbst noch einmal zu vergewissern. Dies zunächst auf der Ebene des Alltagsverstandes als auch auf der der lexikalisch festgehaltenen Begriffsdefinitionen. Zuallererst Sprichwörter: Sprichwörter sind Volksweisheiten. Da sind Erfahrungen von Jahrhunderten verdichtet und mit Moral versehen, ebenfalls aus Erfahrung. Sprichwörter geben uns Einsichten in das allgemeine Emp-
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finden, in herrschende Ideologie und häufig in die Erfahrungen der Unteren. Sie historisieren zugleich. Bei Erinnerungsarbeit führen uns die Sprichwörter zumeist in vielfaltige Diskussionen über Herkunft und Praxis uns bekannter Weisheiten. Sie verfremden und vertiefen, erinnern selbst und entselbstverständlichen das Gewusste. Wir können also gespannt sein, was wir zum Stichwort Leistung finden werden. Ich suchte in fünf verschiedenen Sprichwörterbüchern. Das Ergebnis vorweg: es gab in vieren gar keines und im fünften das folgende Sprichwort zu Leistung: »Viel tadeln und wenig leisten können die meisten« (Beyer, 1989, 163). Der Befund ist nicht sehr weiterführend. Das gefundene Sprichwort scheint die Auffassung zu bestärken, es sei Leistung vielleicht eine Verhaltensweise, die wir besonders bei anderen suchen oder vermisseri, die also negativ bestimmbar wäre und auf Gruppen, Kollektive, jedenfalls sozial verweise. Auf der anderen Seite verwirrt mich die weitgehende Abwesenheit eines Sprichwörterschatzes um das Wort Leistung, da ich es immer noch als tragend für unsere Gesellschaft denke. Im »Zitatenschatz«, wo die Worte der Dichter und Denker, die sich allgemeiner Beliebtheit erfreuen, aufgehoben sind, finde ich schließlich noch: »Wer etwas Treffliches leisten will, Hätte gern was Großes geboren, Der sammle still und unerschlafft, Im kleinsten Punkte die höchste Kraft.« (Friedrich von Schiller, Gedichte, Breite und Tiefe, geb. 1797).
Die Wortwahl kommt mir viel weiter entfernt vor als alle Erinnerungen an meine frühe Begeisterung für Schiller, daran, dass ich alles, was er schrieb, direkt auf mich bezog, in seinen Gefühlen schwelgte. Kurz: die Worte stehen jetzt wie Stacheldraht um mich herum. »Trefflich«, das sagt mir nichts mehr, ein stummes Wort; und wieso benutzt er die Metapher »geboren«, noch dazu mit etwas Großem? Dies scheint mir heute ungehörig und seltsam verkehrt die Eigenschaftsworte still und unerschlafft im gleichen Kontext. Es will sich schließlich doch für mich reimen, dass Leistung in der ersten Zeile mit Kraft in der letzten zusammenkommen will. Verausgabung von Kraft - das scheint mir eine mögliche Zusammenziehung für Leistung, also Abstraktion vom Nützlichen. Weiter auf der Suche nach der Leerstelle des Wortes Leistung in der Verarbeitung durch das Volk finde ich noch folgende Eintragung (in Röhrich): Ernst gemeint ist dagegen die Wendung: eine schmissige Leistung! für eine flotte schnell entstandene Leistung. Sie ist in einem Zuge hingeworfen, >hingeschmis-
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senSchmisserkennen< Frauen einen Zusammenhang von Leistung und Fremdbestimmung, von Leistung und Absehung von Sinn und Menschlichkeit der Handlungen. Gegen die Seite der Leistung formiert sich in Hoffnungen und Wünschen eine Welt, in der zu leben sich lohnen würde. In der Erkenntnis liegt Widerstandspotential. Aber zugleich gibt es nicht einmal den Ansatz eines Brückenschlags, wie von der jetzigen Lage aufzubrechen ist, wie und durch welche Mittel erhoffte Ziele zu erreichen sind. Dazwischen liegt das Land, in dem Frauen in ihrer Mehrzahl keinen sicheren Fuß fassen können, dessen Strukturiertheit sie demnach ablehnen und zugleich ohne Halt kaum aushebeln können. Die Sache scheint zirkulär. Frauen können kaum entscheidende Positionen in einer Gesellschaft erringen, die auf ein Verhalten zählt, für das sie nicht denrichtigenSozialcharakter besitzen. Nennen wir es >Leistungsverhalten mit Erfolgsorienterungwissengeleistet< wird. Hier werden Sozialcharaktere immer dringlicher, die bereit sind, gesellschaftlich Notwendiges, das unberechenbar ist, auch ohne Berechnung zu tun. Weibliche Abneigung gegen die Leistungsgesellschaft und ihre Zustimmung zur Einsicht in die Notwendigkeit als Handlungsmotiv findet hier Raum in einer stets sich vergrößernden Lücke. Insofern hat Weiblichkeit auch Konjunktur. Hoffnung ist also mit solchen Motiven ebenso verbunden, wie letztere bereitwillig vor der schärfsten Kritik an einer Gesellschaft stehen, die bei immer größerem Reichtum auf der einen Seite immer größere Armut auf der anderen erzeugt. So ist die Hoffnung auf die Menschlichkeit der Frauen verbunden mit dem Fortschreiben dieser immer rastloseren und inhumaneren Gesellschaft und mit der Unterordnung eben dieser nicht berechnenden Motive und ihrer Trägerinnen bis hin zum gesellschaftlichen Ausschluss.
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Auf der einen Seite sahen wir bei unseren Frauenszenen eine geradezu hartnäckige Weigerung, die in Lohnform erbrachten Tätigkeiten als Leistung anzuerkennen und für sich zu gewichten, also einer Gesellschaft zuzustimmen, in der nur zählt, was sich bezahlt macht. Wir hielten dies für eine fast utopische Dimension mit der Intention, die »Leistung aus ihrer Lohnform« zu befreien. Auf der anderen Seite birgt eben diese Weigerung eine fast asozial zu nennende Komponente: sie geht nämlich einher mit einer allgemeinen Geringschätzung bis hin zur Nichtwahrnehmung aller Taten, die die meisten Gesellschaftsmitglieder in der Form der entlohnten Leistung erbringen. In dieser Weise ist die Kritikdimension, die in der Nicht-Achtung der eigenen Leistung steckt, verbunden mit der kritikwürdigen Dimension der Nichtachtung anderer. Auch in dieser Weise ist das weibliche Vergesellschaftungsmuster nicht hegemonial in dem Sinne, dass es Zustimmung verweigert und so nicht auf Zustimmung rechnen kann. Die Figur der aufopferungsvollen Mutter ist nicht verallgemeinerbar, ihr auf den ersten Blick ganz und gar sozialer Charakter ist ebenso auch nicht sozial, da in dieser Form nicht als Regelungsprinzip von Gesellschaft denkbar und in der Tat ja auch gegen andere als die eignen Kinder gerichtet. Frauen aus dem kapitalistischen Patriarchat10 erfahren nicht ihre sozialen Taten als Leistung, sondern den Eintritt in soziale Zusammenhänge, weil er für sie Vereinsamung bedeutet. So »reflektieren« sie die Vereinzelungsdimension, die dem Leistungsmessen zugrunde liegt und die Teil des Individualisierungssyndroms ist, als direkte körperliche Erfahrung. Eine Leistungsgesellschaft ist eine Gesellschaft - so berichten die Szenen der Frauen - , in der das Soziale einsam gelebt wird. Ebenso umstandslos wird klar, dass die Lohnform, in der gearbeitet/geleistet wird, als direkte Entfremdung von eigenen Wünschen, Träumen und Zielen erfahren wird. So sehen sich Frauen vor dem Widerspruch, gewissermaßen vor den Toren der Gesellschaft in kritischer Resignation oder in aufbegehrender Bescheidenheit zu verharren oder den Eintritt in gesellschaftlich übliches Handeln und Tun mit dem Einverständnis in seine Asozialität und dem entsprechenden Leben zu bezahlen. Wieder stellt sich das Problem, das innerhalb der Frauenbewegung zunächst nacheinander, aber zunehmend gleichzeitig diskutiert wird unter den Begriffen »Gleichheit«, »Differenz« und »Überschreitung des Dualismus von Männlichkeit/Weiblichkeit«. Politisch stellt sich die Frage nach dem Entwurf 10
Im Buch zur Leistung (Haug/Wollmann (Hg.), 1993) gibt es auch Einblicke in das ganz andere Verhältnis von Frauen aus den ehemals sozialistischen Ländern zum Leistungsbegriff und eine entsprechende Diskussion, auf die sich zu beziehen hier zu weit fuhren würde.
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einer Politik, in dem Frauen zugleich von Männern besetzte Positionen erstreiten, obwohl diese als defizitär oder inhuman erfahren werden, um differente Haltungen und Verhaltensweisen kritisch einzubringen, die insgesamt zu einer Änderung fuhren, in der die vorhergehende Arbeitsteilung, die zugleich Herrschaftssicherung ist, nicht mehr mit sozialem Geschlecht aufrechterhalten und gestützt werden kann. Eine Frage, die wir uns stellen, ist, ob in den gegenwärtigen Umbrüchen auch andere Widerstandspotentiale vorhanden sind oder andere Möglichkeiten von Widerstand mit anderen Akteuren gebraucht werden. In der allgemeinen Krise, in der im Großen nicht erkennbar wird, was eigentlich und wie es produziert werden soll, außer dass Geld und mehr Geld gemacht werden wird, ist die Frage, welche Beiträge dafür von den Einzelnen erwartet werden, verschoben zu der Frage danach, wer überhaupt Arbeitsplätze haben soll oder kann, an denen dann u.U. Leistung gefragt wird und im Anschluss, wie die Übrigen - vielleicht die Hälfte - sozial abgesichert werden können: Hier ist von Leistung keine Spur und schon gar nicht von sozialem, produktiven, sinnvollen Tun. Das trifft nicht nur die Frauen. Eigentümlicherweise erfahrt der Leistungsbegriff in dieser Krise, die auch die seine ist, eine Stärkung von rechts, die ebenfalls mit der eingangs angemerkten Elastizität des Begriffes zu tun hat. Jetzt hat die Rede vom leistungsunwilligen Arbeitslosen, vom nichtleistenden und nur auf Sozialunterstützung reklamierenden Ausländer, von den leistungsschwachen Alten, von der gesellschaftlichen Bedrängnis mit lauter Leistungsunfahigen und -unwilligen zu leben, Konjunktur. Angst, nicht vorgesehen und gewollt zu sein, setzt sich um in Hass auf vermeintliche Verursacher. In diesen Kontext gehören jetzt auch wieder zunehmend Frauen, die im öffentlichen Ansehen in vielen kleinen Schritten verlieren und deren mit immer mehr >allgemeinem< Einverständnis behauptete Minderwertigkeit mit ihrer »geringeren Leistungsfähigkeit« begründet wird. Dies geht einher mit einer Überbetonung ihrer »Leistungen« als Mütter und Hausfrauen, im Privaten und Stillen, so dass hier die Wechselhaftigkeit des Leistungsbegriffs in einem genutzt wird, um Arbeitslosigkeit männlich zu mildern und weiblich zu legitimieren, um errungene Frauenbefreiungsposten zurückzustutzen, den Abbau des Sozialstaats mit Zustimmung vieler auf Kosten von Frauen erträglicher zu gestalten und zugleich Leistungshandeln als männlich zu festigen und damit ebenso die Leistungsideologie. Wo bleibt Frauenwiderstand? Immer noch haben wir die Hoffnung, dass Frauen hier eine besonders produktive Kraft und Phantasie entfalten könnten, weil sie die Krise der »Arbeitsgesellschaft« nicht so enttäuscht wie die männlichen Leistungsträger des Systems. Sie haben vor allem zu gewinnen.
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Dialektik sexualpolitischer Kampagnen Mit leichter Hand das Schaf wegführen oder Eine Feuersbrunst für einen Raub ausnutzen. Alte Chinesische Weisheit Dieses Kapitel aus dem Bereich des Sexuellen wurde - ebenso wie das nächste in diesen Band über Erinnerungsarbeit aufgenommen, weil es bei solchen gesellschaftlichen Umbrüchen, welche die Subjekte in erster Linie betreffen, sie in Dienst nehmen und modellieren, geraten ist, ein subjekttheoretisches Vorgehen auch praktisch zu wählen, d.h. Erinnerungsarbeit einzubeziehen.lch berichte aus einer Studie, die wir (eine Projektgruppe an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg) in den Jahren 1995 und 1996 zur Politik um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz durchgeführt haben und führe einige Überlegungen weiter. Solche Politik ist weiter aktuell, immer mehr Verhaltensvorschläge erreichen die öffentlichen Institutionen, die Gewerkschaften sind weiter mit der Ausarbeitung von Richtlinien befasst, und 1999 wurde das Jahr, das von der UNO nicht nur den Senioren, sondern auch der Misshandlung von Frauen gewidmet ist. Die dialektische Problematik solcher Kampagnen ist: sie werden von Feministinnen im Namen von Selbstbestimmung der Frauen geführt, dabei der Staat angerufen, er möge Abhilfe schaffen, und sie werden zumeist ebenso in konservative Strategien der Wiederherstellung und Festigung der alten Ordnung übersetzt. In dieser widersprüchlichen Anordnung werden die jeweiligen Mittel und Ziele analysiert und in den breiteren Kontext ökonomischer und gesellschaftlicher Entwicklungen gestellt.
Politik um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz Am 10. August 1996 meldete die Frankfurter Allgemeine Zeitung auf der Seite »Deutschland und die Welt«, dass der Malaysische Bundesstaat gegen »Erotik im Büro zu Felde ziehe«. Erläuternd heißt es: »Um Erotik im Büro zu verhindern«, sollen künftig »in der Verwaltung des Bundesstaates vorzugsweise äußerlich >reizlose< Frauen« angestellt werden. Das sei das beste Mittel, um »ungesunde Aktivitäten zu vermeiden ... Wenn sich zwei Frauen mit gleicher Qualifikation bewerben, werden wir von nun an der äußerlich reizloseren den Job geben«, lässt die FAZ den Minister sagen und ergänzt, dass in Malaysia auch Karussels verbannt worden seien und Supermärkte getrennte Kassen für Männer und Frauen aufgestellt hätten, um die »Sinneslust« nicht erst aufkommen zu lassen. Der Beitrag bekommt keinen expliziten Kommentar durch die Zeitung.
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Die Zusammenstellung von Ort - das für Touristen so sinnenfreudige Malaysia - und Wortwahl - es geht gegen Erotik und Sinnlichkeit - zeichnet einen ersten Schlussstrich unter eine Kampagne, die mehrere Jahre währte und in dieser Zeit höchst gegensätzliche Stimmungen schürte, neue Bündnisse ermöglichte, manche Niederlagen produzierte. Es ging um »Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz«, ein Thema, das in Deutschland mit dem Einbezug in das Beschäftigtenschutzgesetz rechtlich abgesichert, gewissermaßen behördlich aktenkundig gemacht, der Gleichstellung von Frauen im beruflichen Leben voranhelfen sollte. Die FAZ gibt durch Wortwahl und die Art der Meldung leicht höhnisch zu verstehen, dass alles ein exotischer Unfug war, gerichtet gegen die Freude am Leben auch am Arbeitsplatz. Überprüfen wir, ob es mehr war und ist. Zum sozioökonomischen Hintergrund - Sex und Politik Zu Beginn des Jahres 1999 ist jedem, auch wenn er dies bislang für keine so einleuchtende Verbindung hielt, klar, dass Politik und Sex ganz eng zusammenhängen. Ja, der 14 Monate siedende Skandal um das infantile Sexleben des US-amerikanischen Präsidenten, dem man alle Bomben auf den Irak und anderswohin nachsagte, wenn er bloß sein Eheleben und sein Vorzimmer reingehalten hätte, legte eigentlich offen, dass eine macchiavellistische Regel des Politikmachens so meisterlich zum Tragen kommt, dass eine ganze Nation, ja über Internet die ganze Welt mitmacht in dieser Strategie, in verschiedenen Gegenden Feuer zu legen, um den sonst sich kumulierenden sozialen Konflikten einen Auslass, ein Ventil zu gewähren. Mit solcher Kunst lässt sich in Zeiten großer gesellschaftlicher Umbrüche, zu erwartender sozialer Aufstände relativ gut regieren durch Befriedung des Volkes, welches immerhin die Erlaubnis erhält, sich an allen möglichen Punkten aufzuregen. Insofern ist dieser Text kein Rückblick auf eine Kampagne vom Ende der achtziger Jahre bis zur Mitte der neunziger, ein Zeitraum, der den Analysen des Forschungsprojekts zugrunde liegt; es ist vielmehr weiterhin als ein Eingriff zu verstehen in Kämpfe, die anhalten, ja, sich verschärfen. Der Fall Clinton/ Lewinsky, der Fernsehen und Presse mit großen Gewinnen in Atem hält, handelt ja im Grunde auch von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz in ganz klassischer Weise, nur, dass der Rang des Belästigers den Fall ein wenig verschob in die Fragen von Moral und Schuld, von Ehe und Familie, von richtigem und falschen Sex, schließlich, um justitiabel zu sein, von Lüge und Meineid. Und dann war da auch offenkundig die Einwilligung der Frau, welche sich selbstbestimmt und freiwillig in diese Affare begab. Was sind weibliche Freiheit und Einwilligung im Sexuellen, die so eindeutig den entschei-
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denden Unterschied zwischen sexuell getönter Belästigung und nicht belästigender Annäherung bestimmen? Auch erstaunlich bleibt im Fall Clinton, ebenso wie in den Kampagnen um sexuelle Belästigung, welche hohe Bedeutung mit einem Mal ein Verhalten oder Verhaltensweisen, die seit Beginn der Menschheit als bekannt und praktiziert vorausgesetzt werden können, am Ende des 20. Jahrhunderts fur gesellschaftliche Politik haben, wie sehr sie die Öffentlichkeit und ihre mediale Herstellung beschäftigen. Immerhin gehören die Praxen im Sexuellen zu einem Bereich, der hohe Lust gewährt, ebenso wie Leid und Vergeblichkeit, der eingebunden ist in die Erzeugung neuen Lebens, und der aus beiden Gründen ein Mittel von Unterdrückung ist, wie ein Ziel von Herrschaft. Sexuelle Praxen stehen daher im Zentrum gesellschaftlich normierenden Interesses, ebenso wie sie subjektives Verlangen in Atem halten. Es ist daher unsinnig, davon auszugehen, dass irgendwo im Sexuellen Freiheit und Selbstbestimmung regieren. Vielmehr muss unsere Analyse den vielfaltigen Formen von Unterwerfung und dem Einsatz des Sexuellen für andere Zwecke gelten. Da wir nicht annehmen, dass sich die Sexualmoral und das Verhalten im Sexuellen stark verändert haben, zumindest nicht in den letzten beiden Jahrzehnten, müssen wir andersherum aus der zunehmenden Zahl sexueller Kampagnen schließen, dass die Moral selbst als gesellschaftliches Regelungsinstrument einem Veränderungsdruck unterliegt, dass also andere Sexualcharaktere für eine andere gesellschaftliche Existenzweise gefordert sind. Nehmen wir die Beobachtung der gleichzeitigen Zunahme an unzähligen sexuell äußerst freizügigen bis gewalttätigen pornographischen Filmen, die allabendlich im Fernsehen gesendet werden, hinzu, werden die Kampagnen, die für ein »reineres« Verhalten im Sexuellen plädieren und dafür öffentliche Unterstützung einklagen, immer rätselhafter. Dabei bleibt als eine erste Erklärung unser Verdacht, dass mithilfe sexualpolitischer Kampagnen soziale Unruhe befriedet werden soll. Blicken wir also auf Veränderungen in der Produktionsweise der Gesellschaft. Seit den siebziger Jahren dieses Jahrhunderts erleben wir radikale Umbrüche in den Produktivkräften der Arbeit, die mit dem Stichwort »mikroelektronische Revolution« treffend gekennzeichnet sind. (Vgl. dazu PAQ, 1974) Diese Produktionsweise fordert eine ganz andere Arbeitsweise, bedeutet eine Verwissenschaftlichung der Produktion und eine exponentiell abnehmende Zahl an benötigten Arbeitskräften für die gleiche Arbeitsleistung. Sie ist ihrer Natur nach zugleich global einsetzbar. Weltweit hat die Politik des Neoliberalismus, die den verstärkten Einsatz der Politik für die Erhöhung der Standortattraktivität für investitionsbereite Kapitale herausfordert und den Abbau des Sozialstaates einbezieht bis hin zu Kürzungen für Rentner, Arbeitslose und Privatisierungen, Verteuerungen überall, mit ihren allenthalben
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erfahrbaren Folgen auch und gerade für den weiblichen Alltag handgreiflich vorgeführt, dass es nicht um »weibliche Reize« und »männliche Lust« geht in der Arbeit, sondern um das Privileg, überhaupt einen Arbeitsplatz zu haben, zu behalten oder stattdessen ausgemustert und auf den Müllhaufen geworfen zu werden, (vgl. Haug, F., 1997) Gegen solche existenziellen Krisen muten Anforderungen an das Arbeitsklima fast an, als ginge es um Benimmregeln im Kriegsfall, also um eine nebensächliche Streiterei von Leuten, die vom Ernst der Lage keine Ahnung haben. Sollten wir uns also achselzuckend vom Nebenschauplatz abwenden und die »wirklichen« Fragen diskutieren, oder hat das eine, hat die Politik um sexuelle Belästigung, oder allgemeiner, haben die sexualpolitischen Kampagnen des letzten Jahrzehnts etwas mit den Umbrüchen in den Produktionsweisen und den sie regulierenden Verhältnissen zu tun? Der von der FAZ im obigen Beispiel gelenkte Blick vom reizlosen Büro in Malaysia auf den globalisierten Markt von Mexiko bis China, in dem die kapitalstarken Nationen um den Sieg im Weltwettkampf ringen, mutet uns einen riesigen Denk-Bogen zu, der unvermittelt auf einer Achse Halt macht. Unbezweifelbar ging es in den sexualpolitischen Kampagnen um Geschlechterverhältnisse. Das ist so offensichtlich, dass es fast unnötig scheint, es extra zu sprechen. Das Aussprechen jedoch zeigt unversehens die Lücke in den Diskussionen um Weltmarkt, Globalisierung, Neoliberalismus. Welche Rolle spielen eigentlich die Geschlechterverhältnisse auf diesem Maßstab? Die Sprache ist auf unheimliche Weise in die herrschende Kultur eingelassen. Das macht auch, dass die Nennung der Geschlechterverhältnisse im Zusammenhang mit Wachstumspolitik, Kapitalprofiten, Markteroberung sich sofort unangemessen anhört. Schon wieder ein Versuch, Beiläufiges, Unwichtiges, später zu Erledigendes mitten in eine Weltgipfelkonferenz zu bringen. »In der Literatur wie im so genannten wirklichen Leben sind Frauen, Kinder und Tiere nur ein obscures Gewusel, über das sich phallologisch die Zivilisation erhebt« , sagt Ursula LeGuin und fahrt fort: »Dass sie das Andere sind, ist in der Sprache begründet, der Vatersprache. Solange das Spiel Mann versus Natur heißt, ist es kein Wunder, dass die Mannschaft all diese Nicht-Männer abschiebt, die die Regeln nicht lernen wollen und stattdessen quietschend und bellend und schnatternd ums Spielfeld toben!« (aus Introduction, 1987, hiernach »Stimmen schreien in der Wildnis«, in: Mellor, 1994, 286). Bleiben wir dabei, Geschlechterverhältnisse nicht für eine Nebensache, sondern für grundlegend für die Produktionsverhältnisse zu halten und bestehen also auf der Frage: Was haben die offen ausgetragenen Kampagnen in den Geschlechterverhältnissen mit den Umbrüchen in der Produktionsweise und den Produktionsverhältnissen zu tun?
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Suche nach der Frage
Die Frage ist in dieser Form so allgemein, dass sie unbearbeitbar wird. Treten wir also näher heran und wenden uns einer solchen Kampagne konkret und lokal zu. Es soll um die Politik gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz in Deutschland in den neunziger Jahren gehen. Der zur näheren Prüfung eingegrenzte Fall scheint zugleich ganz fest umrissen, vertraut und handhabbar zu sein, immerhin gab es sogar ein Gesetz zum Schutz der Beschäftigten vor solcher Belästigung, und doch erscheint er sogleich wieder als seltsam diffus und verwirrend. Schließlich ist das Phänomen trotz seiner Möglichkeit, genaue zeitliche Angaben über den Erlass und den Wortlaut des Schutzgesetzes zu machen, kaum etwas, das wir als neuartig behaupten können und doch trat es als Bruch auf, als Skandal umworben von den Medien, umstritten im Politischen, schließlich eingefangen im Juristischen. Und von Anfang an war das Umkämpfte zugleich auf zwei Seiten ebenso wie seine Verfechter: um Selbstbestimmung streitende Feministinnen auf der einen Seite, und auf der anderen Hüter von Moral, Ehe, Familie und einem längst überwunden geglaubten Frauenbild. Beide Gruppen riefen den Staat an, endlich Ordnung zu stiften. Wer gewann und wer verlor? Das Thema selbst wurde zu einer Hegemoniefrage. Wohl beraten war, wer es in die politische Diskussion aufnahm. Dabei wird man sich leicht erinnern, dass das Thema als solches selbst auch ein Produkt der Medien war und in der Folge aus unterschiedlichen Bereichen mit neuen Nachrichten angereichert wurde wie ein Echoeffekt. Gleichsam über Nacht schien sich männliches Triebleben machtvoll in den Betrieben auszubreiten. Dabei blieb es nicht. Auch Erinnerungen wurden wachgerufen, es mehrten sich die Fälle, in denen der Skandal bis zu 10 Jahren zurücklag, etwa der als Busengrapscherfall durch die Medien weitergereichte Fall aus dem österreichischen Parlament, oder die Anklage von Anita Hill in den USA, welche die Weltöffentlichkeit und den feministischen Zorn monatelang in Atem hielt. In beiden Fällen zeigte die öffentliche Diskussion eine eigenartige Indienstnahme der Fragen nach dem Zusammenhang von patriarchaler Verfügung über Frauen und weiteren politischen Themen von Rasse und Klasse, und von Anfang an war der Primäreffekt eine hitzige Moralisierung der einbezogenen Bereiche von Justiz und parlamentarischer Politik. Im polemischen Hin und Her blieb ebenso von Anfang an unklar, ob es sich bei der Thematik sexuelle Belästigung um ein ganz altes Thema mit neuem Begriff handelt oder ob Verhältnisse und Verhalten, Positionierungen und Hierarchien sich so geändert haben, dass die Akteure und Akteurinnen im Feld der Arbeit und in dem der politischen Regulierung sich anders aufeinander beziehen wollen oder müssen.
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Aber dem Versuch, sich dem Thema begreifend zu nähern, geht es wie jemandem, der einen Pudding an einer Wand festnageln will. Plötzlich ist es überall und nirgends, entzieht sich klarer Grenzziehung, widerstrebt dem nach DefinitionringendenZugriff. Und es bleibt die Frage, ob sexuelle Belästigung zum Kampffeld wurde, weil neue selbstbewusste Frauen die alten Verhältnisse nicht mehr länger zu ertragen bereit sind und Staat und Öffentlichkeit, sowie männlich geprägte Gewerkschaften endlich ein Einsehen haben, oder ob die alten wehrlosen Frauen sich neu in neuen Verhältnissen finden, ob es also auch einen kulturellen Bruch gibt, in dem »alte« Verhaltensweisen, wie die zwischen den Geschlechtern, zum Problem werden. Dies ist eine weitere Eigentümlichkeit in der Kampagne gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, dass die am meisten skandalträchtigen Fälle 7 nicht aus dem gewöhnlichen Arbeitsbereich stammen, sondern aus Justiz, Parlament oder auch immer wieder und so auch in einem breit diskutierten Fall aus 1997, aus dem Militär. Hier, bei der Aufregung um die ehrenhafte oder unehrenhafte Entlassung einer jungen Bomberpilotin aus der US-amerikanischen Armee ging es, da sie selbst Täterin von Fehlverhalten war, folgerichtig nicht um sexuelle Belästigung, wohl aber um einen Sexualskandal, nämlich um Ehebruch. Dass ein so gewöhnliches Vergehen gleichwohl die durch die Medien immer weiter aufgebrachten Gemüter erregte, lag dabei nicht so sehr an der Frage des Ehebruchs an sich, sondern daran, dass die übliche Verteilung von Rang und Geschlecht in Unordnung geraten war. Die Frau war militärische Würdenträgerin, während er ein gewöhnlicher Zivilist. Auch dieser Fall bestärkt uns, die Fragen der herkömmlichen Ordnung der Geschlechter und der Gesellschaftsordnung auf den verschiedenen Ebenen im Zusammenhang zu untersuchen und daher die Kampagne um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz keinesfalls als singuläres Phänomen einzeln oder gar als Beziehungsproblem zwischen den Geschlechtern zu behandeln. Treten wir also näher heran. Aber aus zu großer Nähe speit das Thema Bezüge und Meinungen aus wie Schlingpflanzen, in denen wir uns fangen. In unserer Forschungsgruppe begannen wir damit, zunächst eine Reihe von alltäglichen Vorannahmen, die wir unbedacht für mögliche Erklärungen hielten, zu sammeln, um sie sodann zu Thesen zuzuspitzen. In der abstrakten Verallgemeinerung verblüfften uns alle diese Thesen, wiewohl sie sich unseren eigenen Meinungen verdankten, durch ihre gleichzeitige Unhaltbarkeitv Folgende Fragen stellten sich auf diese Weise: Sind Männer wirklich Triebtäter, derer wir Frauen uns nicht ohne fremde gesetzliche Hilfe erwehren können, und sind wir also ihre zarten Opfer? Ist unser Körper eine Falle, der unsere reinen Seelen gefangen hält? Ist Öffentlichkeit und gar der halböffentliche Arbeitsplatz ein unbegehba-
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rer Ort für Frauen, und ist daher das Haus der bessere, weil geschützte Platz? Oder gibt es auch sexuelle Belästigung in der Familie? Ist die Freiheit jenseits der Familie der Ort weiblicher Erniedrigung zum Sexualobjekt? Geht es bei der Frage der sexuellen Belästigung eigentlich um Moral oder um Menschenrechte? Und wer sind wir als sexuelle Wesen? Es wurde immer deutlicher, dass die Forschungsgruppe selbst auch Teil des Erforschten würde sein müssen, aber zuvor versuchten wir eine neuerliche Frageverortung, um nicht vorzeitig in eine Sackgasse zu geraten. Die letzten anderthalb Jahrzehnte erfuhren wir nicht nur als einen Zeitraum zunehmender Globalisierung und wachsender weltweiter Krisen, die wesentlich als Schwächung des Nationalstaats durch sich selbst aufgrund der Bedrängnis durch transnationale Kapitale diskutierbar werden und sodann verkündet als Aufbruch. Es haben wie gesagt auch eine Reihe von öffentlich ausgetragenen Kämpfen um Positionen in Geschlechterverhältnissen stattgefunden. Zu Tagesthemen wurden: Sexueller Missbrauch, Gewalt gegen Frauen auch in der Ehe, und schließlich später auch sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. In jedem Fall stiegen die Medien mit großer Lust auf die pornographischen Dimensionen der Thematik ein, um sie alsbald zu verschieben oder ganz als lächerlich fallen zu lassen - wie oben die FAZ. Erweitern wir also unsere Fragen und ziehen sie gleichzeitig zusammen: Wollen wir unsere Thematik in der Krise des Ökonomischen verorten oder handelt es sich um eine Krise des Sexuellen? Geht es letztlich um weitere Sexualisierung der Frauenkörper oder umgekehrt um eine Moralisierung von geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und auf dieser Basis funktionierender Ökonomie? Handelt es sich um Indienstnahme des Sexuellen oder um wildgewordene Sexualität, der Einhalt zu gebieten ist? Im Namen von was? Handelt es sich überhaupt um Sexualität oder etwa um Macht, und wenn Letzteres, um Macht für wen? Geht es eigentlich um Frauenbefreiung? Und wenn ja, wie? Betrachten wir die Kämpfe, welche Geschlechterverhältnisse direkt in Frage stellen, so springt ins Auge, dass es in diesen letzten beiden Jahrzehnten nicht vorwiegend um Sexualpolitik ging - begleitet und unterfüttert wurden diese Kampagnen von den Kämpfen um die Frauenquotierung. Kämpfe, die ebenfalls im Parlamentarischen und Partei-Politischen, in den Medien und im Juristischen, vor allem in der gesellschaftlichen geschlechtlich bestimmten Arbeitsteilung ausgetragen wurden und noch anhalten. Auf den ersten Blick hat natürlich die Frage, ob Frauen auch zu gleichen Teilen an der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens teilhaben sollen, mit der Frage etwa,
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ob ihnen ein Arbeitsplatz frei von sexueller Belästigung zu garantieren sei, kaum etwas zu tun. Aber schon diese Behauptung des Nicht-Zusammenhangs ist wieder beunruhigend, wiewohl gängig. Ich erinnere an die medial ausgefochtenen Kämpfe um die »neue Frau«, die sexig und also interessant ist und nicht ältlich und also furs Politische. Eigentümlich und doch auch erwartet werden Sex und Politik auseinandergezogen, Arbeit kommt, wenn überhaupt, eher als lässiges Hobby vor, so dass jetzt umgekehrt an Bedeutung gewinnt, wieso bei der Politik um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz diese Bereiche von Sex, Arbeit und Politik eigentlich zusammenkamen? Fragen wir also nach diesem Zusammenhang und den jeweiligen wechselseitigen Unterstützungen und Indienstnahmen. (Bei der Untersuchung müsen wir freilich zugleich mit einer gewissen Autonomie, einer eigenen Entwicklung und Bewegung der einzelnen Bereiche von Kultur, Politik, Moral, Recht und des Sexuellen ebenso rechnen, wie mit einer der handelnden Subjekte.) Insofern haben wir auch unsere Thematik, die sich zunächst auf die Politik um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz konzentrieren sollte, schon wenige Wochen nach Beginn unserer Untersuchung erweitert zur Frage nach einer kulturellen Erneuerung des Geschlechtervertrags. Mit der Aufnahme der aus der Diskussion um den Gesellschaftsvertrag entlehnten Blickweise, die es uns erlaubt, auch die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern unter der Vertragsfrage anzusehen, wollten wir zum einen deutlich machen, dass das Thema sexuelle Belästigung nur in einem größeren Kontext verstanden und also nur so eine angemessene politische Strategie zu entwickeln ist. Zum zweiten dachten wir auf diese Weise die Opfer/Täter-Blickweise, die in der Beschwerde-Haltung der Thematik sexuelle Belästigung angelegt ist, so zu überwinden, dass wir Akteurinnen und Akteure in den Mittelpunkt rücken, welche die Gestaltung der Verhältnisse, in denen sie leben, mitbestimmen wollen und müssen. Diese galt es zugleich und umfassend kritisch in die Untersuchung einzubeziehen, bzw. zu ihrer stets mitgedachten Grundlage zu machen. Die Einrückung unserer Thematik in den größeren Zusammenhang von Ökonomie, Politik und Arbeit stößt uns auf weitere Fragen. Wir haben es ganz offensichtlich in Zeiten ökonomischer globaler Krisen mit kurzlebigen Kampagnen im sexualpolitischen Feld zu tun, welche an alltäglichen Problematiken ansetzen, die Betroffenen heftig engagieren, die Geschlechter auf eine Weise gegeneinander richten, dass eine Rückkehr zu einem Zustand, der patriarchaler ist als zuvor, noch als Segnung des Friedens scheint. Die Tagesordnung der Alltagskämpfe wird sodann an einem neuen Ort oder später am alten wieder aufgemacht. (So waren etwa in Deutschland die Kämpfe gegen sexuellen Missbrauch vor allem gegen Mädchen Anfang der neunziger Jahre
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so alltäglich, dass fast jede Woche in irgendeinem Medium ein Bericht erschien, der sofort scharfe Kontroversen auslöste; der öffentliche Skandal, der das Zeichen des Jahrhunderts zu werden schien, verebbte plötzlich wie über Nacht, um nach einer beruhigenden Stille von zwei Jahren Mitte 1996 aufs Heftigste wieder aufzuleben mit einem Fall von mörderischem Mädchenhandel in Belgien, der unvermittelt auch unter Kindesmissbrauch firmieren konnte und auf diese Weise mit der Kinderschutzkonferenz in Stockholm und einem Fall von Kinderhandel durch die Eltern in dem kleinen Ort Bad Segeberg zu einem Weltnetz des Sittenverfalls verknüpft werden konnte (vgl. Kapitel 7). Diese Bewegungsweise der Skandale und Kampagnen spricht im Übrigen ein weiteres Mal für die mit dem Namen Macchiavelli verknüpfte Diagnose, dass alle diese Kämpfe Stellvertreter in einer Großlage von Umbrüchen sind. Folgende Fragen oder auch Forschungsräume eröffnen sich aus der Problemskizze für unsere Untersuchung: - zu begreifen ist der Zusammenhang des sich globalisierenden Kapitalismus mit den Geschlechterverhältnissen, auf deren Grundlage sich dieses vollzieht; - zu klären ist die Bedeutung des Politischen bei der Durchsetzung und »Entstörung«, der Verträglichmachung struktureller Umwälzungen - hier besonders in der Austragung durch Medien und Recht; - zu verstehen ist auch die Produktion der Subjekte am Ende des zweiten Jahrtausends zwischen Eigenverantwortung (Individualisierung) und Schuld, weiterer Entmächtigung und moralischer Verfolgung von Unpassendem. Die Größe der Fragen brachte uns gestärkt und geschwächt zugleich auf die konkrete Ausgangsfrage fur die anstehende Untersuchung zurück: sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und die Einrückung dieses Verhaltens und seiner Wahrnehmung in die Form des Juristischen in das Beschäftigtenschutzgesetz. Wieso kam es dazu? Wieso ein Schutz der arbeitenden Frauen in einem politischen Kontext, in dem die übrigen Schutzmaßnahmen für die Arbeitenden Stück für Stück demontiert werden? Erinnern wir den Beginn des Sozialstaats in Deutschland, der jetzt zur Weg-Sanierung ansteht, als Bismarcks Versuch, die soziale Unruhe unter den Arbeitern, die Arbeiterfrage genannt wurde, zu lösen. Gäbe es die Möglichkeit, das Beschäftigtenschutzgesetz mit der Würde der Frauen als zu schützendem Gut als Versuch der Lösung der Frauenfrage zu sehen? Aber gab es nennenswerte Unruhe unter den Frauen, die in dieser Weise zu schlichten wäre?
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Forschungsanordnung
Immer mehr Fragen tun sich auf, werden in den kurzen und heftigen Kämpfen vorgebracht, sind im Forschungskontext zu berücksichtigen. Vor dem Einstieg in den Forschungsbericht rekapituliere ich die uns aus solchen Diskussionen fur unsere weitere Forschung beunruhigenden Fragen in ihrer Offenheit, ihrer Gegensätzlichkeit und teilweisen Ungelöstheit für weiteres Studium. - Bezeichnet das Thema sexuelle Belästigung einen realen praktischen Skandal oder wurde es von außen gemacht, aus den USA importiert, deren prüde und fanatische Moral allseits bekannt ist, danach von sektiererischen Feministinnen getragen und aufgebläht? - Auf diese Auffassung stießen wir immer wieder bei wohlmeinenden Kollegen und Freunden, die uns davon überzeugen wollten, dass auch die Frage sexueller Belästigung in den Kontext der Politik um political correctness gehöre; ein problematisches Feld, in dem insbesondere die Linke viel an Terrain verloren hat, gerade, wo sie kleine Siege davonzutragen schien. - Ist das Thema ein gefundenes Fressen für die erstarkende Rechte, die hier auf Moral, Familie, Wiedereinsetzung der Hausfrau als dominante Frauenfigur und mögliches Lebensziel setzen und dabei von Feministinnen selbst das Material für ihren Erfolg beziehen kann? - Oder bezeichnet das Phänomen selbst neue Verhältnisse und ist als ein männlicher Versuch zu begreifen, Frauen aus knapper werdenden Arbeitsplätzen zu vertreiben? - Oder ist gar umgekehrt das behauptete Recht der Frauen, auch im Feld der sexualisierten Arbeitsverhältnisse, juristisch und also von oben abgesichert sich als freie selbstbestimmte Bürgerinnen zu artikulieren, die ihren Körper als ihren Besitz betrachten, selbst ein Produkt des globalen Kapitalismus und der postfordistischen Produktionsweise - die angemessene Form der Produktion des Begehrens und daher auch ein weiteres Element von Isolierung, Desolidarisierung, Individualisierung? - Sind schließlich die Kämpfe gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz auch eine Chance, für einen höheren Zusammenschluss im Geschlechtervertrag und damit für eine andere Regulierung von Gesellschaft zu streiten? Die Fragen, Behauptungen, Zweifel und Provokationen sollen die vielfaltigen Forschungsschritte, die wir gegangen sind, als notwendige und sinnvolle Teile des Prozesses, als Such- und Lernbewegungen, als Verschiebungen, als Grundlage für weiterführende Diskussion erkennbar und diskutierbar machen. Das Thema sexuelle Belästigimg am Arbeitsplatz bleibt, wie die anderen
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Kämpfe um die Regelung des Sexuellen in existierenden Geschlechterverhältnissen beunruhigend. Es scheint eine Krise der Mikrophysik der Macht anzuzeigen, welche die Beziehungen zwischen den Geschlechtern auch am Arbeitsplatz zu regeln vermochte. Im Ungleichgewicht gibt es Bündnisse zur Stärkung von staatlicher Kontrolle und Familie, aber auch die Anrufung weiblicher Selbstbestimmung. Die Anstrengung, die »privaten« Geschlechterbeziehungen als öffentlich zu verhandelnde in den politischen Raum zu tragen, hat den paradoxen Effekt einer Politisierung bei gleichzeitiger Depolitisierung. Der übliche Trennungszusammenhang ermöglicht es, die Frage der sexuellen Beziehungen am Arbeitsplatz an die Stelle einer langen Liste von brennenden Fragen zu setzen und auf diese Weise beides ins Belieben privater Aushandlung zu ziehen. Erinnert sei beispielsweise an Armut, Ausbeutung, Wirtschaftskrise, Verbrechen, Krieg, die plötzlich als Konkurrenzthemen in ein Verhältnis zu den Regelungen der Geschlechterbeziehungen treten, wenngleich wir sie doch als getragen und ausgetragen in Geschlechterverhältnissen wissen. Dies mahnt uns nachdrücklich, kritisch darauf zu achten, dass unser Thema an keiner Stelle in den Anschein der Verhandlung von persönlichen Mann-Frau-Beziehungen gerät, sondern immer in den Verhältnissen zu verorten ist, welche die Geschlechter bei der Produktion und Reproduktion ihres Lebens eingehen: in der Form der Arbeitsteilung im Großen, in der Frage des Eigentums und der Verfügung über Arbeitskraft, in der Absicherung der Verhältnisse im Juristischen, im Ideologischen, im Kulturellen und in der Form staatlicher Politik und schließlich, wieviel Lust und Genuss, wieviel Befriedigung aller Sinne das eine oder das andere Geschlecht oder beide dabei erreichen. Männer und Frauen, so sehr wir sie auch immer als soziale Konstruktionen, als historisch gewordene, als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse begreifen, erfahren sich selbst auch als unmittelbar persönliche Agenten und beziehen ihre Taten aufeinander in den veränderlichen Formen, die sie vorfinden: in unserem Fall in einer privatwirtschaftlich organisierten Betriebsstruktur, mit patriarchalischen Mustern, d.h. mit einer männlich bestimmten Betriebshierarchie und entsprechenden Arbeitsteilung, mit Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit, die das jeweilige Selbstverständnis ebenso wie die Betriebskultur prägen; in einer überwiegend heterosexuellen Anordnung, die die erwartete Moral und Sitte, sowie auch die Sprache regulieren bis hin zu den Selbstverständlichkeiten, die das Recht in seiner Regelfindung unterstellt und verstärkt; schließlich in bestimmten historisch gewachsenen Formen von Solidarität und kulturell geregelten Netzwerken, aus denen nur bei Strafe von Isolation auszubrechen ist.
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Meinungsumfrage Nach langen schwierigen Diskussionen, in denen uns die Politik um das Sexuelle immer rätselhafter wurde, versuchten wir zunächst eine Vorstellung vom herrschenden Zeitgeist über das Thema der sexuellen Belästigung im Betrieb zu ermitteln. Wir wollten insbesondere wissen, was die politisch und subjektiv betroffenen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter zu dieser von ihrer Interessenvertretung unterstützten Initiative dachten. In einer kontrovers angelegten Umfrage verwickelten wir eine Reihe von Betriebsräten und Vertrauensleuten, die politisch mit dem Thema und seiner rechtlichen Fassung zu tun hatten, in einen Diskussionsprozess, der durchdachte Antworten anstelle einer bloßen Abfrage von Meinungen setzen sollte. Die Ergebnisse waren, gemessen an der Aufregung, welche die Presse zu diesem Zeitpunkt (1994) über das Thema schürte, einigermaßen verblüffend. Es gab so etwas wie eine abgeklärte Haltung, dass es gut sei, endlich Ordnung zu stiften, da Körper und Sexualität mit dem Arbeitsbereich nichts zu tun hätten und daher auch dort rauszuhalten seien. Ein anständiger Arbeiter, eine Arbeiterin, die sich bei der Arbeit wohlfühlen und mit aller Kraft einsetzen wollen, haben keine Körper, bzw. geben sie am Betriebstor, an der Bürotür zur geflissentlichen Aufbewahrung ab, um sie später fürs Private wieder abzuholen. In dieser Weise dachten mehr oder minder beide Geschlechter gleich. Einen Unterschied gab es lediglich in der Wahrnehmung vorhandener Unordnung, die erwartungsgemäß stärker von Frauen gespürt wurde als von Männen. Gewöhnt an Diskurse, die Körper und Geist reinlich zu scheiden wissen und den beiden Geschlechtern je verschieden zuweisen, waren wir doch nicht gefasst auf eine sorigidevorgestellte Trennung, nicht auf die Perspektive der Reinheit der Arbeitskraft als selbstbestimmte Lösung für ein Arbeitsklima, in dem es sich Wohlsein und unbeschadet funktionieren lässt. Die Beunruhigung traf uns mehrfach. Wir hatten die Auffassung, dass der Körper sich hauptsächlich als Arbeitskraft unbeeinflusst und unbeeindruckt von sonstigen menschlichen Verlangen zu verausgaben habe, für ein spezifisches Zeugnis von Entfremdung gehalten und eher einer Perspektive angehangen, in der Liebe, Genuss, Lust mit Arbeit zu verbinden seien, ähnlich wie dies etwa Herbert Marcuse (1957) vorschwebte. Freilich galt das für die Perspektive jenseits der entfremdeten Lohnarbeit. Wir mussten feststellen, dass wir selbst keine explizite Vorstellung davon hatten, wie wir das Sexuelle, wie die Körper im Arbeitsleben dachten, geschweige denn für erstrebenswert hielten. Und wir wurden ein weiteres Mal darauf gestoßen, dass wir bei diesem Thema uns selbst als Subjekte und als Frauen und Männer, erfahren in die-
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sem Feld, in die Untersuchung einbeziehen mussten, wenn wir uns nicht ganz und gar in den überall ausgelegten Fallen fangen wollten. Ratgebende Literatur Einfacher jedoch war es, zunächst die von Feministinnen veröffentlichte Literatur, die gewerkschaftlich und staatlich beauftragten Untersuchungen, die schließlich zur Abfassung des Gesetzes führten, zu studieren. Engagierte Veröffentlichungen in diesem Feld gab es vereinzelt ab 1982 und verstärkt 1993. Es ging zunächst darum, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz als Problematik überhaupt sichtbar zu machen, dann um die Ermutigung der Opfer, sich zu wehren und schließlich um die Einholung staatlicher und auch gewerkschaftlicher Unterstützung in diesem Bereich. Der Versuch, Frauen in der Arbeitswelt in die Rechtsposition von vertraglich abgesicherten Partnerinnen in der Arbeitsgruppe zu bringen, verfangt sich in einem Netz zu kurzschlüssiger Annahmen. Zweifellos haben die gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse spezifische Austragungsformen im betrieblichen Alltag. Das Zueinander von zwei Geschlechtern in der Arbeitsteilung um die Fragen der Reproduktion (der Arbeitskraft und der Menschen selbst) organisiert eine Ordnung, welche die Geschlechter (heterosexuell) in einem Über- und Unterordnungsmodell, einem dienenden fürsorglich pflegenden, einem werktätig ausschreitenden positioniert. Diese Arbeitsteilung durchzieht die gesamte Gesellschaft, mindert die Möglichkeiten von Frauen auf dem Arbeitsmarkt und im Betrieb und privatisiert lebensnotwendige Arbeiten zu persönlichen Dienstleistungen. Auf der Ebene von persönlichen Beziehungen entstehen Bedürfnisse und Ansprüche auf Befriedigungen, die auf jeden Fall ein kulturell abgesichertes Anrecht von Männern auf Dienstleistungen von Frauen einschließlich des sexuellen Bereichs begründen. Verengt man den Blick auf die persönlichen Beziehungen zwischen Männern und Frauen am Arbeitsplatz, wird man unversehens erstaunt auf den Niederschlag dieser Geschlechterverhältnisse im Großen, stoßen. Männer sind es gewohnt, dienstleistende Zuwendungen von Frauen zu erhalten, sie wetteifern miteinander um die Gunst der Kolleginnen, es entwickelt sich eine Kultur sexualisierter Anmache, die von Frauen zunehmend und vor allem immer dann als unangenehm bis verletzend erfahren wird, wenn sie sich als gleichberechtigt Arbeitende denken und wollen. Daher kommen die Beschwerden aus dem Arbeitsbereich auch nicht so sehr von den Frauen, die als Sekretärin, als Assistentin gewohnheitsmäßig Hilfsdienste an Männern verrichten, die ihnen übergeordnet sind, ja, bei denen persönliche Zuwendung als ehrenvoll und als Möglichkeit zum eigenen, wenigstens privaten Aufstieg gesehen werden
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könnte (etwa Arzthelferin und Arzt, Sekretärin und Chef, Studentin und Professor etc.). Weibliche Empörung meldet sich vielmehr insbesondere dann, wenn Männer in gleichrangigen Arbeitsplätzen oder gar Untergeordnete sich sexuell bestimmte Übergriffe anmaßen. Die feministischen Autorinnen, die sich um die Sache der Gleichberechtigung von Frauen bemüht haben, verengen diesen großen gesellschaftlichen Zusammenhang auf den Punkt von persönlichen Beziehungen. Hier kommen sie zunächst zum definitorisch bemühten Satz: Sexuelle Belästigung wird nicht als »Flirt« wahrgenommen, (Plogstedt/Degen, 1992, 14), sondern als Erniedrigung. Die Überallgemeinheit der Aussage wird verdeckt durch eine Art heuristischen Zirkels. Genau besehen heißt die Definition: Belästigung wird nicht als angenehm empfunden. Schon die Erweiterung auf die neutralere Sprachform »körperliche und sprachliche Annäherung werden als Belästigung empfunden« hätte - durch die Zusatzfrage »von wem und an wen?« - die Problematik der Klassenverhältnisse am Arbeitsplatz in den Blick rücken müssen. Jedoch helfen sich die Autorinnen aus der Klemme durch weitere Reduktion. Zwar kommen männliche Betriebskultur und entsprechendes Arbeitsklima kurz in den Blick, wenn es um die Problematik der Nicht-Wehrhaftigkeit, der Vereinzelung von Frauen geht, jedoch erscheint in der Folge das gesamte Problem als ein Vorgang zwischen individuellen triebhaften Männern und einzelnen unterworfenen Frauen. Entsprechend beschränken sich Lösungsversuche auf die Forderung an den Staat, Männer zu maßregeln und an Frauen, sich zu wehren. Die Frage, die wir als eingelassen ins kapitalistische Patriarchat im Großen bestimmt hatten, die Indienstnahme der Körper für profitliche Wirtschaft je verschieden nach Geschlecht, wird durch den Versuch, sexuelle Belästigung als falsches Benehmen von Männern am Arbeitsplatz zurückzuweisen, in eine Frage der individuellen Moral verschoben. Eine bessere tugendhaftere moralische Haltung von diesen, eine wehrhaftere von Frauen sollen ein Klima bereiten, in dem Frauen selbst bestimmen können, was ihnen angenehm ist. Die sympathische Anknüpfung an weibliches Wohlsein, Freiheit und Selbstbestimmung verdeckt, dass so gut wie alle Rahmenbedingungen gegen diese Lösung stehen. Neben der An- und Unterordnimg der weiblichen Arbeitskraft in der gesellschaftlichen Gesamtarbeit und neben der betrieblichen Hierarchie, die sich diese Gesamtordnimg ein weiteres Mal auf einem enger werdenden Erwerbsarbeitsmarkt zunutze macht, sind es schließlich die weiblichen Akteurinnen selbst, in deren Identitäten, Einordnung in die Betriebskultur und kulturellem Selbstverständnis die Möglichkeit, sich einfach zu wehren, so gut wie gar nicht vorgesehen ist. Das ist alltäglich im eigenen Verhalten in der Welt spürbar, es bleibt als Beunruhigung an eigene Wahrnehmung, wenn man ernsthaft über die Frage der
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sexuellen Belästigung nachzudenken beginnt, aber es zeigt sich auch in den Folgen, die das Beschäftigtenschutzgesetz hatte. Es gab im ersten Jahr nach Erlass nur sehr wenige Anzeigen. Diese führten zumeist zur Entfernung der Frauen vom Arbeitsplatz, kaum der Männer. Wieder schlägt uns die konservative Presse vor, in entfernten Ländern Unterstützung für heimlich verspürte Rechtschaffenheit zu suchen. In Mexiko, so belehrt uns die FAZ (1.7.95), verbietet die Behörde für öffentliche Arbeiten den weiblichen Angestellten, Miniröcke im Büro tragen, wegen der »Würde bei der Arbeit« und wegen der Gerechtigkeit. Man will dem Missbrauch, dass Frauen wegen ihres freizügig zur Schau gestellten Aussehens eingestellt werden, zugunsten von tatsächlichen Qualifikationen Einhalt gebieten. Der Gang durch die feministische Literatur hinterließ uns auf die Frage nach dem Verhältnis von Körper, Genuss und Arbeit, ein Verhältnis, in das Ausbeutung und sexualisierte Herrschaft über Frauenkörper eingeschrieben ist, die Illusion weiblich selbstbestimmter körperlicher und staatlich abzusichernder Wehrhaftigkeit, und auf die Fragen nach Arbeit und Genuss und die Produktion von Begehren nichts. Arbeit und Körper bleiben weiter auf unterschiedenen Fixpunkten, die getrennt zu halten sind. Erinnerung an sexuelle Belästigung Wenden wir uns also uns selbst, den in das Forschungsprojekt eingelassenen Subjekten und damit auch unseren Möglichkeiten zu, einen durch weibliche Unterwerfung gezeichneten Körperdiskurs in der Arbeitswelt zu unterbrechen. Die Frage an die subjektive Erfahrung und Erinnerung an sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zeigt Bemerkenswertes. Zunächst verweigern Sprache und Gedächtnis ihre Mitarbeit. Es verbreitet sich ein Klima der Angst vor einem noch nicht wirklich gekannten Schrecken. Sobald das Schweigen durch eine erste Erzählung gebrochen wird, verweigert die Erinnerung die Einsperrung in die Arbeitswelt. Sexuelle Belästigung, so könnten wir schlussfolgern, ist eine mögliche Bezeichnung für das Hereinwachsen von Mädchen in Geschlechterverhältnisse überhaupt. Immer geht es um sexuelle Vereindeutigung erster Berührung, um Unterwerfung, Zuweisung von nicht gewollten Orten und Handlungen, die auf der anderen Seite ein erschrecktes, unsicheres, um seine Körperlichkeit besorgtes Wesen auftauchen lassen. (Vgl. dazu Haug, F. (Hg.), 1983) Schließlich zwangen wir uns, die ständige Grenzüberschreitung, welche die Erinnerung mit der Frage der sexuellen Belästigung über den Arbeitsplatz hinaus vornahm, durch rigorose Selbstdisziplin zu verhindern.
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Zu dieser Zeit wurde an den Hamburger Universitäten gerade eine Umfrage zu sexueller Belästigung unter den weiblichen Mitgliedern gemacht, und so versuchte ich, mich ernsthaft nach eigener Erfahrung in dieser Institution zu befragen. Es war mir leicht, ganz allgemein zu antworten, natürlich steckt die Universität voll von solchen Verhaltensmustern, schließlich ist sie eine männliche Institution. Und sogleich fielen mir auch andere Betroffene ein, nämlich die Sekretärinnen. Viele Male hatte ich beobachtet, wie nahe die Professoren den Damen zu Leibe rücken und ihnen ihre Schreibarbeiten beinahe ins Ohr flüstern. In gerechter Empörung machte ich mich auf ins Geschäftszimmer und befragte die Anwesenden. Zu meiner Verblüffung lehnten sie die Frage als vollkommen unzutreffend ab, weil sie nicht »solche Frauen« seien. In dieser Weise belehrten sie mich, dass der Bereich ein zusätzliches Mal von moralischen Vorurteilen besetzt ist, die eine Politik, die Frauen zu mehr Freiheit verhelfen will, erschweren, wenn nicht verunmöglichen. Im gesunden Menschenverstand ist damit zu rechnen, dass die Rede, dass Frauen selber schuld seien, wenn sie belästigt werden, dass sie es durch Kleidung und Verhalten herausfordern, dass »anständigen Frauen« nichts geschieht und daher Belästigtwerden geradezu ein Indikator für die Unmoral der Frauen sei, tief verankert ist. Ich versuchte es ein weiteres Mal bei einer Taxifahrerin, bei der ich mir eine stete Anstrengung, gegen sexuelle Belästigung vorzugehen, leicht vorstellen konnte. Weit mehr noch als die schon befragten »Schreibkräfte« wandte sich die Taxifahrerin erbarmungslos gegen die »belästigten« Frauen und stellte sich schützend vor die Männer, die sie als Opfer von Miniröcken und aufreizenden Posen sah, so dass sie gar durch solche hurenhaften Wesen am aufrechten Menschsein gehindert würden. Die Taxifahrerin behauptete, sie sei seit 20 Jahren nachts unterwegs und kenne die Männer, die zutiefst bemüht seien, gute Menschen zu sein. Es half nichts, ich musste mich selbst erinnern. Nach langem Grübeln fiel mir endlich ein Kollege ein, der mich ganz am Anfang meiner Zeit dort mit dem Auto nach Hause bringen wollte, nachdem ich es durch überschwängliches Lob auf die Wohlgeratenheit seiner Kinder und demonstrierter Unentschlossenheit in Bezug auf den Bus oder die S-Bahn darauf angelegt hatte, dass er mir eine Erleichterung meines Heimwegs anbot. Kaum saß ich neben ihm im Auto, legte er mir seine rechte Hand auf den Oberschenkel. Ich war so verblüfft und zugleich auch erschrocken, dass ich mit zitternden Händen den Sicherheitsgurt wieder abschnallte und mit der gestammelten Bemerkung: »Ich fahre doch lieber Bus«, aus dem Auto floh. Später versuchte ich zu denken, warum mir nichts Besseres eingefallen war, das es mir erlaubt hätte, ohne diesen Schenkelgriff dennoch bequemer nach Hause gebracht zu werden. In der Hauptsache aber mied ich von Stund an diesen Kollegen und
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auch jeden Gedanken an ihn. Jetzt war ich sehr zufrieden, dass ich eine Erfahrung zum Thema hatte und noch mehr, als ich hörte, dass dieser Kollege für Übergriffe auf Frauen bekannt sei. Sicher hatte er mit anderen Schlimmeres getan. So füllte ich den Fragebogen aus und trug sorgsam ein »ja« in die entsprechende Spalte. Im Forschungsprojekt war die Angespanntheit, die das Thema anfanglich gefühlsmäßig in die Nähe von unsprechbaren Vergewaltigungserfahrungen gebracht hatte, nach und nach einer zunehmenden Heiterkeit gewichen, die es mir jetzt erlaubte, darüber nachzudenken, warum ich in dieser eigentlich so wenig bedrohlichen Situation keine witzige, subversive, listige, freche oder gar unverschämte Aktion versucht hatte. Dies Erstaunen wurde verstärkt, als eine unserer Studentinnen ganz aufgeregt die folgende Szene ins Projekt brachte: Berührung Der Kopierer im Geschäftszimmer hat einen neuen Standort... Mechanisch legt sie die einzelnen Seiten um und wartet auf die Kopien... Irgendwann tritt ein Mann in den Raum, den sie als Dozenten erkennt. Er unterhält sich mit den Sekretärinnen. Sie registriert eine private Unterhaltung und so etwas wie kleine »Neckereien« und denkt, die kennen sich wohl gut. Dann spürt sie plötzlich eine leichte Berührung an der linken Schulter: eine Hand schiebt sich nach vorne. Ruckartig drückt sie ihren Bauch an den Kopierer. Der Mann geht hinter ihr durch und streift dabei ihren Rücken. Sie ärgert sich, ist wütend. Das spielt sich alles sehr schnell ab. Ihr ist gar nicht in den Sinn gekommen, selbst zur Seite zu gehen. Angestrengt arbeitet sie weiter, hört dabei weitere Schwerze hinter sich und steht kurz danach auf dem Flur.« Das Seltsame an dieser Szene war die schreckliche Aufregung, mit der die Studentin dies vortrug und die offenkundige Harmlosigkeit des Ereignisses selbst. Dieser Zusammenhang löste eine merkwürdige Betroffenheit aus. Wir stellten fest, dass wir inzwischen im Alltag so empfindlich geworden waren, dass eine kleine Berührung in einem Zimmer mit anderen Frauen uns in eine Art hysterischer Alarmbereitschaft bringen kann. Diese ängstliche Bereitschaft zur Zurücknahme der Körper wirkte gleichsam ansteckend. Überscharf registrierte ich von da an, dass einige Kollegen die Gewohnheit hatten, wenn sie mit mir sprachen, eine Hand auf meine Schulter zu legen oder ein anderer auf meinen Arm. Ich hatte bis dahin selbstbewusst angenommen, er wolle seine relative Bedeutungslosigkeit durch die Demonstration kumpelhafter Nähe zu mir ein
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wenig ausgleichen, war aber jetzt plötzlich bereit, überall Sexuelles zu wittern und mich entsetzt zurückzuziehen. Wir waren nicht versucht, diese eigenartige und bemerkenswerte zunehmende Einkapselung des eigenen Körpers lediglich als hysterische Übertreibung zu lesen, sondern es wurde nach und nach deutlich, dass diese fast nonnenhafte asketische Zurückhaltung gegen alles Körperliche von der Vorstellung eines großen Schreckens genährt wird, dass also der Trennungszusammenhang eines gewalttätigen Sexuellen im Imaginären und einer großen Zurücknahme im Praktischen eine Grundlage für ein Verhalten und eine Kampagne ist, die den Schutz der Frau gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz gerechtfertigt sein lässt. Zugleich erkannten wir, dass dieser Prozess erst begonnen hat, wie eben diese Kampagne, dass er aber in der weiblichen Sozialisation einen Nährboden findet (vgl. dazu Kapitel 4). (Übrigens hatten wir in unserer Gruppe eine Frau au der Ex-DDR, die die ganze Aufregung nicht verstehen konnte und uns mit Geschichten erschreckte, in denen sie es genoss, wenn möglichst viele Männer hinter ihr herpfiffen, mit Absicht ihren Rock immer höher hinaufzog und selbst derbere Späße im Sexuellen für einen lustigen Ausweis wahren Lebens hielt.) Erneut begaben wir uns auf die Suche nach der diskursiven Einbindung von Frauen in die Rede von der sexuellen Belästigung. Hier sind sie immer Opfer, niemals selbst Wollende, Gestaltende, körperlich genussvolle Wesen. Diese Spannung durchzieht die gesamte Gesellschaft, nicht nur den Arbeitsplatz. Insbesondere ältere Männer, väterliche Freunde usw., so wird erinnert, machen sich die Unerfahrenheit von Frauen zu ihrer sexuellen Unterwerfung zunutze. Sosehr wir solchem Erinnern auf der einen Seite zustimmen mögen, so seltsam und auch kontrafaktisch und auf jeden Fall kaum erstrebenswert mutet die hinter solchen erinnerten Erfahrungen erahnbare Konstruktion von Weiblichkeit an. Frauen, so könnten wir ein weiteres Mal schlussfolgern, haben selber keinen begehrenden Körper, keine Lust, und so wünschen sie auch ihre Arbeit frei von Spannungen, die sie auf Körperlichkeit hinweisen könnte. Denn Körper ist immer verbunden mit Herrschaft und sollte daher zur Befreiung abgetan werden. Unter der Frage »sexuelle Belästigung« herrscht um die Körper eine Kultur von Angst und Schrecken, die das Wort Belästigung selbst als noch zu harmlos erahnen lassen. Und auf der anderen Seite taucht wiederum Arbeit zwar selten, aber wenn, dann als abstrakte Verausgabung von Arbeitskraft auf. Dies die Perspektive. Medienanalyse Die Entwicklung der Produktivkräfte, die mikroelektronische Produktionsweise stößt sich konkret an den abstrakten Bestimmungen. Anders: wo im-
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mer weniger Arbeitskraft pro Produkt gebraucht wird, wächst das Bemühen der Kapitale, auch weniger Arbeitskraft einzustellen, ohne dass ihr Verlangen nach Profiten gleichzeitig abnähme. Der Reichtum der Arbeit erscheint als Problem des Schwunds: als Abnahme von Erwerbsarbeitsplätzen, genannt Arbeitslosigkeit. Es ist sehr viel einfacher, diese Problematik zu durchschauen, als die Diskurse zu entziffern, welche die durch die Medien unterstützten Politiken entfalten. So entziffert im November 1996 zum wiederholten Mal ein Ökonom, Professor an einer Universität, dass »der Hauptgrund für die hohe Arbeitslosigkeit ... die Kartellmacht der Gewerkschaften« ist (Carl Christian von Weizsäcker in FAZ, 16.11.96), die den Wunsch nach staatlicher Abstützung des Arbeitsmarkts hätten usw.. Die Lösung für die »offene Gesellschaft«: Aufgabe des Standpunkts einer Rundum-Vollversorgung durch Schwächung des Standpunktes der Arbeitnehmer und daher der Gewerkschaften - Stärkung des Arbeitsmarktes und Wachstum durch Bescheidenheit (der Arbeitsplatzsuchenden natürlich). Auf den ersten Blick sieht diese Verdrehung so aus, als ob sie mit dem Thema der sexuellen Belästigung nichts zu tun habe, wäre da nicht eine Besonderheit, die auch in den Kampagnen um die Belästigung zum Tragen kam. Schließlich haben wir es bei der Politik um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz mit Selbstbestimmungsrechten von arbeitenden Frauen zu tun, ein Umstand, der bei der Frage der Einschätzung solcher Politik zumindest eine strategische Verbesserung der Diskurse um Frauenrechte und Frauenarbeit erbringen könnte. Ein Blick in die in den Medien geführte Kampagne Mitte der neunziger Jahre zeigt sie relativ einmütig mit der Anwendung der gleichen List befasst, wie sie in der Namhaftmachung der Gewerkschaften als Schuldige an der Arbeitslosigkeit wirksam war. Zunächst gibt es einfühlende Berichte über die Erfahrungen von Frauen mit sexueller Belästigung, welche die Relevanz des Themas für eine Öffentlichkeit betonen, die ansonsten schon mit der Panik um die knapper werdenden Erwerbsarbeitsplätze, den Abbau des Sozialstaats etc. befasst ist. Von der einfühlenden Anteilnahme geht es recht schnell zur Benennung der Schuldigen. Feministinnen sind es, die dieses Thema aufbringen und vor allem zu einem Verhalten aufrufen, welches selbst die Schuld, das Klima, wogegen es sich zu wehren galt, erst erzeugt. Die Problematik entsteht in einer Gesellschaft, in der Sitten, Moral, Familie, Frauen bedroht sind, ist selbst bloß Indikator eines solchen Verfalls. Wenn der Staat etwas tun wollte, dann zum Schutze der eigentlichen Opfer, normalen Männern und Frauen, deren Anstand in der von Feministinnen aufgerührten Welt in Frage steht. Es ist nicht nur keine Rede mehr von weiblicher Selbstbestimmung und
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ohnehin nicht von Körper, Arbeit, Genuss, Befreiimg; zudem hat sich das politisch-moralische Klima verschärft. Wir können wohl davon ausgehen, dass eine ordnungspolitische Rechte aus der Kampagne gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz Gewinne für sich verbuchen konnte und dass die Kampagne den seltsamen Effekt hat, uns zu Unterstützerinnen einer Moral gegen die Körper zu machen. Komplizenschaft Wie im Falle der an der Arbeitslosigkeit schuldigen Gewerkschaften können die Medienkampagnen auch bei den an der sexuellen Belästigung schuldigen Feministinnen auf ein Echo in den Herzen und Stimmungen der Bevölkerung und also auch bei uns rechnen. Angerufen wird herrschende Moral, die auch auf unsere Zustimmung rechnen kann, selbst wo wir uns widerständig glauben. Konkret waren wir in unserem Projekt keineswegs unbeeindruckt, wo von der Beteiligung der »Opfer« von Belästigung an ihrer Lage gesprochen wurde. Miniröcke, allzu tiefe Ausschnitte, aufreizendes Gehabe, die Sexualisierung des Arbeitsklimas durch Frauen, all dies waren keine Behauptungen, denen wir in völligem Unverständnis gegenüber standen. Im Gegenteil stellte sich bei näherem Hinsehen heraus, dass jede Einzelne sexuelle Übergriffe auf sich als einseitige Tat erfahren hatte, dass sie jedoch für alle anderen Frauen glaubte, dass sie solches Verhalten selbst hervorgerufen, ja gewollt hätten, um sich die Mühen von harter Arbeit und Qualifikation zu ersparen. Unversehens tauchte in der individuellen Beurteilung wie in der Presse die Frau als selbstbewusster Köder auf, alle männlichen Arbeitskollegen als Opfer, die aufgrund weiblicher List unfähig wurden, ihre Triebe zu disziplinieren - wie dies der Vorstellung der oben erwähnten Taxifahrerin entsprach. Solche überraschende Komplizenschaft mit der herrschenden Moral und ihren eigentümlichen Unterstellungen über Männlichkeit und Weiblichkeit lehrte uns ein weiteres Mal, dass zumindest die an der Untersuchung beteiligten Frauen auch der Auffassung sind, dass Körper und Arbeit auseinander gehalten gehören, dass Genuss in der Arbeit nichts zu suchen hat, dass der Eintritt in die männliche Arbeitswelt mit Mühe, Disziplin, Körperlosigkeit und Selbstverleugnung erkauft werden muss. In moralisch zu verdammenden Fällen werden Körper und Geschlecht, weibliche Reize und männliche Unbeherrschtheit in Zusammenhang und damit in ein soziales Aufstiegsprogramm gebracht. Der Protest gegen die instrumenteile Indienstnahme des weiblichen Körpers, der in dieser moralisierenden Verurteilung immerhin noch erahnbar ist, wird stillgestellt durch den eigenen Verzicht auf Körpergenuss und weibliches Begehren. Dass dies massenhaft geschieht, beweisen die
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Erfolge der Medienkampagnen, die auf eben solche Moralisierung setzen. Letztere wird möglich und reproduziert durch eine starke Vereinzelung der Frauen und eine Anrufung der Moral des gesunden Menschenverstands, wo er am schwächsten ist. Im Übrigen haben Frauen, die sich »wehren«, weder im durchgesetzten Betriebsklima, noch bei ihresgleichen, noch im juristischen Diskurs, um dessen Unterstützung sie sich bemühen sollen, viel zu erwarten. Die Überprüfung einer Reihe von Gerichtsurteilen in Fällen, die offensichtlich etwas mit den Geschlechterverhältnissen zu tun haben, zeigt das Recht gefangen zwischen patriarchalem Commonsense mit traditioneller »Werthaltung« und einer philosophisch ausgeschmückten Diktion, in der Frauen gar kein eigener Wille, kein Subjektstatus zugestanden ist. Gerade weil sie in Geschlechterbeziehungen als Körper wahrgenommen werden, können sie nicht zugleich Absicht und Wille sein. Letztere aber sind es, deren Böswilligkeit, Vorsätzlichkeit in den Gerichtsurteilen zur Diskussion steht. Die Rechtsprechung ist in dieser Hinsicht ganz offensichtlich überfordert, wo körperliche Verfügung und »gute Absicht« (etwa Begehren) zusammentreffen (vgl. dazu ausfuhrlich Kapitel 6 in Haug, Wittich-Neven (Hg.), 1997). Das Zusammenspiel von Körper und Geist am Arbeitsplatz ist für den gewohnten Rechtsdiskurs ein unbetretbares Gelände. Um als juristisch ernst zu nehmende Subjekte auftreten zu können, müssten Frauen selbst ein weiteres Mal aufhören, als auch körperliche Wesen zu existieren. Die Unterwerfung unter den staatlichen Rechtsdiskurs scheint die Problematik eher festzuziehen als zu ihrer Lösung beizutragen. Und für die Rätselfrage nach dem Zusammenhang und der Trennung von Körper, Arbeit und Politik lernen wir, dass der Körper bei der Arbeit politisch genehm ist, solange ein männlich verfügender Wille vorausgesetzt werden kann. Frauen aber haben als Körper am Arbeitsplatz nur Zutrittsrecht, wenn sie auf Verfügung verzichten, auch auf die über sich selbst. Sex und neue Arbeitswelt Aber die Verhältnisse in der Arbeit haben sich radikal mehrfach geändert, so dass es unwahrscheinlich ist, dass die Positionierung von Körper und Geist, ja nicht einmal die der Geschlechter in der Rechtsprechung dem Stand von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen entsprechen. Die Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit hat zugleich die Körper weiter aus der unmittelbaren Beteiligung entrückt, wie sie körperliche Anwesenheit zunehmend entbehrlich macht. Eine wachsende Zahl überflüssiger Arbeitskräfte, eine ebenso sich mehrende Gruppe prekär und in Computer-Heimarbeit ein-
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sam beschäftigter Menschen, eine Virtualisierung der Arbeitswelt, die den Bezug auf ein männlich dominiertes funktionierendes Klima überholt scheinen lassen, rücken die Frage nach sexueller Belästigung am Arbeitsplatz und rechtlich abgesichertem Schutz davor in ein eigenartiges Licht. Offenbar haben wir es auch mit Ungleichzeitigkeiten zu tun, nicht nur mit solchen in den Persönlichkeiten der Frauen, sondern auch solchen im Staat, in der Rechtsprechung, in den Arbeitsverhältnissen, so dass die Suche nach einer einheitlichen Erklärung und Funktion der Vorgänge in der Politik um sexuelle Belästigung selbst »die Zeichen der Zeit« unzeitgemäß, weil zu einheitlich zu lesen sich bemüht. Wieder scheint es angemessen, die Medien, beschäftigt mit hegemonialer Einstimmung als politische Akteure zu befragen. Der Film »Die Enthüllung« (mit Michael Douglas, einem männlichen Helden, der durchweg die aktuelle Konstruktion von Männlichkeit verkörpern darf) bereitet das Thema in der notwendigen Breite auf, weil die Fragen von weiblicher Selbstbestimmung, von mikroelektronischen Arbeitsplätzen, welche die unmittelbare Verbindung zur Extra-Ausbeutung der Dritten Welt vorantreiben, von Kapitalprofit und Familienidylle miteinander verschmolzen wurden. Der Trick des Geschlechtertauschs - Frau ist in Führungsposition und belästigt folgerichtig Mann - und die Zuspitzung auf eheliche Treue und Familienglück lassen die Produktionsverhältnisse als bloße Beigaben für die Erhaltung bewährter Geschlechterverhältnisse erscheinen, die wiederum in ihrer Funktion für Kapitalökonomie, die sich als Gesellschaftspolitik ausgibt, vollständig entnannt sind. Dies indem und weil Macht, Herrschaft, Ausbeutung, Belästigung, ja Vergewaltigung durch eine Frau geschieht. Der Film arbeitet mit einer Reihe interessanter Entnennungen und Verkehrungen. Für unsere Frage nach der Produktion des Begehrens in den postfordistischen Zeiten neoliberaler Globalisierung gibt er uns eine interessante Lehre. Die alten Geschlechterverhältnisse mit ihrer bewährten Arbeitsteilung von sorgenden, pflegenden, umsonst arbeitenden Frauen und den dazugehörigen Werthaltungen, die für das Funktionieren bei der gewinnbringenden Verausgabung männlicher Arbeitskraft eingesetzt sind, die darum im Austausch ein Recht auf eine gewisse Verfügung über weibliche Hilfe bei eigener Bedürfnisbefriedigung auch im Sexuellen hat, bleiben für die neue Produktionsweise ebenso notwendig wie sie überflüssig werden. Die Auflösung dieses Paradoxes ist die Spaltung des Arbeitspersonals. Die Manager der neuen informationsgesteuerten Produktionsweise sind offenbar Singles, die in der Lage sein müssen, ihren Geist, ihren Körper, ihren Charakter und also auch ihren Sex so zu kontrollieren und zu managen, dass der aufs Äußerste konzentrierten Verausgabung ihrer Arbeitskraft, welche die ganze Person verlangt, nichts im Wege steht. Dafür
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müssen sie jung sein und allein, leistungsfähig und also ihre eigenen Bedürfnisse in den entsprechenden Zeiten rationell organisieren. Hierfür sollten sie keine Hilfe brauchen, die abhängig macht, und nicht sorgen müssen für andere, die von ihnen abhängig sind. Insofern wird es unerheblich, ob sie Männer oder Frauen sind, wofern sie nur ihr eigenes Leben vollständig in der Hand haben. Sexuelle Belästigung würde für sie weder aktiv noch passiv eine Rolle spielen. Aber die Politik um Sex, Körper und Arbeit würde sie auch nicht stören, da sie das übrige Volk in der Arbeit betrifft. Hier scheinen die alten Regeln zu gelten. Denn die Verwerfungen und Brüche in der Arbeitswelt lassen den Wettkampf um die verbleibenden Plätze schärfer werden und schaffen einen Boden, auf dem die alten Sorgeideale, durchgeführt von fürsorglichen Frauen umso dringlicher werden, da sie jetzt auch die fallen gelassenen Arbeiten des abbröckelnden Sozialstaats übernehmen müssen. In solchen Zusammenhängen wird die Politik um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, wie sie in diesem Film auftritt, doppelt funktional. Sie antwortet, dass Körper und Sex bei der Arbeit für alle ein Tabu sind. Dabei weist sie das vorwiegend weibliche Missverständnis zurück, weibliche Selbstbestimmung könne, wie ehemals die männliche, auch die Verfügung über andere Körper beinhalten. Umgekehrt wird die Konstellation genutzt, Familie, Ehe, Treue und weibliche Bescheidenheit als Zufluchtsorte in betrieblichen Stürmen zu festigen. Dem Zeitgeist gemäß werden die Differenzen zwischen dem siegreichen Olympiateam beiderlei Geschlechts und dem nachfolgenden kleiner werdenden Arbeitsheer größer, wobei im letzteren die alten Geschlechterverhältnisse weiter bestehen. In ihrem Rückgriff auf herrschende Moral, auf Recht und unterstützt durch die Medien könnte Politik um sexuelle Belästigung dazu dienen, dass Elite und Fußvolk ihre Funktionen nicht missverstehen. Einer solchen Auslegung entspricht auch die Nutzung der Medien für neue Partizipationsformen im gleichen Themenbereich. Sobald ein Fall von sexueller Belästigung, den wir eigentlich als erpresserische Nötigung bezeichnen müssten, und der die gewohnte Anordnung von weiblicher Untergebener und männlich verfügendem Vorgesetzten hat, dem moralischen Urteil des Fernsehfußvolks anheim gegeben wird, wird selbsttätige Produktion der alten Moral erneut in Gang gesetzt und diese um die verlangte Körperlosigkeit verschärft. Die moralische Erziehung und Selbsterziehung gilt beiden: dem Vorgesetzten, der seine Macht missversteht, wenn er sie zur Befriedigung sexueller Bedürfnisse einsetzt, die er anders managen müsste, und der weiblichen Assistentinnen-Arbeitskraft, die wohl daran tut, ihrer Ehe die oberste Priorität einzuräumen und eigene Berufsarbeit lediglich als mögliche Betätigung sieht. Politik um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, so lehrt uns eine
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Fernsehsendung (»Die Stunde derEntscheidung«), schafft Verhältnisse, in denen Frauen, die ihre Körper auf den Familieneinsatz beschränken wollen und sollen, ungestört einem Teilzeitjob nachgehen können. Und der neue Vorgesetzte verwechselt ein Labor nicht mit einem Bordell, ohne dass Letzteres übrigens für das Management seiner Bedürfnisse ausgeschlossen wäre. Zusammenfassung Wo Politik um sexuelle Belästigung, Ratgeberliteratur und die Erfahrungen von Frauen an einem Arbeitsklima zu reparieren scheinen, welches die Unantastbarkeit der Körper, ja eigentlich aller Sinne, denen des Hörens (dreckiger Witze), des Sehens (pornographischer Bilder), des Angeblicktwerdens und sicher auch des Riechens garantieren soll und dies als Menschenwürde vor allem für Frauen vorstellt, so dass ganz unbegreifbar wird, wer eigentlich der weibliche Körper bei der Arbeit und in Zusammenspiel mit anderen Arbeitenden sein könnte, sind die Medien weniger rätselhaft. Sie beginnen uns auf die darunter liegende Dimension des Themas der Triebmodellierung einzustimmen. Da geht es unter dem Namen Belästigung in einem Fall um versuchte Vergewaltigung, im anderen um erpresserische Nötigung zum Beischlaf - immer geht es um tätliche Übergriffe auf den Körper, die zugleich verbunden sind mit Aufstieg oder wenigstens Sicherung des Arbeitsplatzes bzw. umgekehrt seines Verlustes. Diese eindeutige Herrschaftsanordnung, die benutzt wird, um alte Moral und entsprechenden Einverstand durch Anrufung weiblicher Selbstbestimmung zu festigen, ist der Posten, der die Dringlichkeit des Beschäfigtenschutzgesetzes, die Eingriffe von Feministinnen, die Empörung einer Reihe von Beteiligten und so auch die unsere rechtfertigt. Wir haben in diesem Zusammenhang versucht, die Problematik so anzugehen, dass wir den Begriff der Belästigung in Frage stellten, um den Effekt, alle Sinne, alle Lust, alles Lebendige aus dem Arbeitsleben zu ziehen, zu unterlaufen, ohne die ernst zu nehmenden Komponenten aus den Augen zu verlieren. Wir haben vorgeschlagen, den Begriff der Belästigung, der Frauen als körperlose Opfer ohne eigenes Begehren in den Schutz des Staates konstruiert, fallen zu lassen und stattdessen den Begriff der sexistischen Aggressivität einzuführen. Er ruft andere Erinnerungen hervor und öffnet den Blick auf eine Arbeitswelt, in der auf der Basis alter Geschlechterverhältnisse und entsprechender Betriebskultur der Kampf um Arbeitsplätze zugunsten von Männern gewonnen werden will. In diesem Feld erst, so schien uns, werden Fragen von weiblicher Selbstbehauptung wichtig. Für eine unserer Ausgangsfragen nach dem Zusammenhang oder der Tren-
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nung von Körper/Sex und Arbeit lernten wir in unserem Durchgang durch die verschiedenen Bereiche von Arbeit, Kultur, Politik zudem, dass die Grundvoraussetzung einer behaupteten Trennbarkeit von Arbeitswelt und Körperwelt selbst eine Konstruktion und eine Fiktion ist. Der Körper, das sexuelle Begehren sind bereits in der Arbeit, bestimmen geschlechtliche Zuordnung, Hierarchie, Macht und Unterwerfung, sowie auch die historischen Konstruktionen von Mann und Frau. Erweist sich so die Auffassung einer säuberlichen Trennung selbst als ein Produkt einer heterosexuellen Herrschaftsgeschichte, kann die neuere Politik um die Möglichkeit einer Verschiebung der Posten in der Arbeitswelt - Schutz vor sexueller Belästigung auch als der Versuch einer Antwort auf eine andere Produktionsweise gelesen werden, in der andere Sexualkörper als Arbeitskörper gebraucht sind. Die neue Arbeitsdisziplin ist ausschweifend. Sie verlangt nicht mehr so sehr die weibliche Kontrolle über einen männlichen Arbeitskörper, wie dies für den Fordismus etwa von Gramsci beschrieben wurde. Der passende postfordistische Arbeitsmensch ist einer, der sein Begehren auch virtuell und hier beliebig gewalttätig zu befriedigen vermag und insofern der Unterwerfung von Frauen wesentlich im Imaginären bedarf, nicht praktisch, wie er auch Verantwortung für die Nachkommen nicht abzuschieben braucht, weil er keine hat. Männer, die Frauen am Arbeitsplatz belästigen, sind im Grund unmodern, wie das patriarchalische Arbeitsklima einer vergangenen Epoche anzugehören scheint. Wer sich jetzt zu wehren in der Lage ist, kann das Anrecht auf die neue Arbeitswelt erkämpfen zusammen mit der Rücksichtslosigkeit, die für die völlige Verachtung menschlicher und außermenschlicher Natur gebraucht werden. So gelesen sind die weiblichen Tugenden, die konservativ in diesem Kontext noch angerufen und befestigt werden, auch Nachzügler eines Gesellschaftsprojekts, welches der Neoliberalismus zu zerstören begonnen hat. Bis zu diesem Punkt haben wir die Dialektik des Ganzen nicht wirklich erfasst und nicht den Angriff, soweit er auf Triebmodellierung zielt. Offenbar haben wir es nicht nur mit ungleichzeitigen Bewegungen in der Arbeitswelt zu tun, sondern auch mit scheinbar gegenläufigen Kräften in der Welt sexuellen Verhaltens. Einer zunehmenden Körperlosigkeit und Lustabstinenz im praktischen Verhalten entspricht eine zunehmende gewalttätige Sexualität im Imginären. Denn gleichzeitig und parallel zu solchen Erfahrungen vielleicht bewusster sexuell »getönter« Berührung an Schulter und Knie werden wir allabendlich von einer stets zunehmenden Masse von Gewaltphantasien heimgesucht, in denen einander immer mehr überbietende Zerstückelungen, Vergewaltigungen mit gleichzeitiger Folter mit immer kindlicheren Opfern in unser Imaginäres gelassen werden. Es kann funktionieren wie in der Ver-
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haltenstherapie: das Imaginäre wird in einem so permanenten lüsternen Grauen gehalten, dass jede wirkliche körperliche Berührung wie eine Art Elektroschock wirkt, stets die Möglichkeit, selbst auch Teil einer im Imaginären vorrätigen Sexgewalt zu werden, androht. Vorstellbar ist eine Kultur, in der im Alltag ganz phantasielose und körperabstinente Wesen, stets bereit, alle Regeln der Nichtberührung, des Nichtblickens, der Nichterzählung von Anzüglichem einzuhalten, sich gierig ins Internet werfen, um dort stundenlang Kinderpornographie (verschärft um Folter) zu genießen. Es scheint als ob diese unheimliche Triebmodellierung nicht nur neuen Industrien ein hohes Wachstum bescheren kann, sondern dass sie auch den modernen Produktivkräften der Arbeit passend ist. Die gespaltenen Menschen mit Jekyll-artigem friedlichen und durch keine sexuell getönte Regung getrübten praktischen Verhalten und Hydeschen gewalttätigen Sex-Phantasien im Imaginären wären zugleich ideale Gesellschaftswesen, der Boden, auf dem jederzeit Sexskandale ausgerufen, die nötige Phantasie angespornt und zur unterhaltenden Verfolgung preisgegeben würde, um sodann in die Befriedung von Familie und Fürsorge zur praktischen Ordnung zurückzukehren. So können sie den Teil praktischer Lust- und Körperfeindschaft leben, eine Art neuen Puritanismus der Tat, der darum umso bereitwilliger in der Gewalt der Bilder sein anderes Ich findet und in dieser Gespaltenheit wenig Kraft für ein Leben lässt, das Lust, Arbeit, Genuss befreiend statt getrieben zusammenführt. Es könnte auf diese Weise gelingen, alle anderen Problematiken in der Welt dieser Dynamik zu unterwerfen. Zudem wird das Projekt der Befreiung von Herrschaft durch die Assoziation der Arbeitenden ein weiteres Mal beerdigt. Denn alle Solidarität begreift die sinnliche Körperlichkeit der Menschen ein, ist nur als Projekt einer befreiten Sinnlichkeit denkbar.
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Sexuelle Deregulierung oder Der Kinderschänder als Held im Neoliberalismus Dies ist das Ende dessen, der Böses tut! Und der Bösewichter Ende ist ihrem Leben immer angemessen Don Giovanni Die Frage nach den Veränderungen in Sexualpolitik und Triebmodellierung und dem Zusammenhang zum Neoliberalismus wird in diesem Kapitel aus einer weiteren Ecke diskutiert. Die Problematik des sexuellen Missbrauchs von Kindern rückt in der Vordergrund. Drei Dimensionen werden vorgestellt: eine Historisierung durch eine Darstellung der Überlegungen von Ian Hacking zu Wissen, Macht und Wahrheit; eine Rekonstruktion der Produktion von Sexualität in der Familie im Anschluss an Michel Foucault und schließlich eine Analyse des Falles Dutroux, eines der rätselhaften Fälle, der Auskunft zu vergeben vermag über eine paradoxe Triebmodellierung im Neoliberalismus.
Missbrauch und Psychotherapie Der Kanadier Ian Hacking beginnt sein 1995 in den USA, 1996 in deutscher Sprache erschienenes Buch über die Geschichte der Seele in der Moderne mit folgendem Szenario: »Der Streit (über Dissoziationsstörungen) tobt. Wir befinden uns nicht auf rein medizinischem Boden. Wir stecken mitten in Fragen der Moral. Susan Sontag hat eindringlich beschrieben, wie zunächst die Tuberkulose, dann der Krebs und schließlich AIDS unnachsichtig mit Urteilen über den Charakter der Erkrankten aufgeladen wurden. Kindheitstraumen verleihen dem moralischen Aspekt der Störung eine völlig neue Dimension. Das sensationellste Trauma in neuerer Zeit ist der Kindesmissbrauch. Als Trauma geht der Missbrauch in die Gleichsetzungen von Moral und Medizin ein. Er befreit von Schuld oder reicht die Schuld an den Missbrauchenden weiter. Eine Person mit multipler Persönlichkeit ist nicht nur im echten Sinne krank; verantwortlich für die Krankheit ist jemand anders.« (24) Zur Illustration zitiert er aus der Einleitung zur Jahreskonferenz über die multiple Persönlichkeit von 1993: »Aids ist eine Pest, die Einzelne angreift. Kindesmissbrauch schädigt Einzelne und ist der Krebs unserer Gesellschaft: nur zu häufig blüht er unerkannt und bildet Metastasen über Familien und Generationen hinweg.« (25) Ich setze als bekannt voraus, dass es in den USA und mit entsprechender
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Verzögerung in Deutschland eine erregte Diskussion gibt und wissenschaftliche Untersuchungen, die einen Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsstörungen und sexuellem Missbrauch in der Kindheit herstellen, eine Verknüpfung, die in den USA nicht nur zu einer psychiatrischen Vereinigung, sondern zugleich zu einer Bewegung geführt hat, gegen die es ab 1992 eine Gegenbewegung, die false memory foundation gibt. Letztere unterstützt angeklagte Eltern, Prozesse zu führen und die Gefahren einer »verantwortungslosen Therapie« öffentlich zu machen. Beide Richtungen haben einen Niederschlag in den Diskussionen in Deutschland - (vgl. u.a. Sexueller Missbrauch, Forum Kritische Psychologie 33, 1994, und Sexueller Missbrauch II, Diskussion, FKP 37, 1997). Ich möchte an dieser Stelle nicht erneut auf diese Positionen eingehen (vgl. dazu meinen Beitrag 1994), sondern folge zunächst Hackings Fragestellung. Sein Interesse gilt dem Auftauchen der Wissenschaften vom Gedächtnis und ihrer Entwicklung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Die multiple Persönlichkeit ist in diesem Kontext lediglich ein »beispielhaftes, wenn auch nur kleinformatiges Gedächtniskonzept« (10). Wichtig wird, wann, warum und wie sie mit dem Diskurs um sexuellen Missbrauch ursächlich verknüpft und zur Politik des Gedächtnisses zugespitzt wurde. Unbeeindruckt von moralischem Druck und politischer Parteinahme legt Hacking sich die verschiedenen Elemente in den Kampagnen um sexuellen Missbrauch und multiple Persönlichkeit zurecht, wie dies Foucault in der Archäologie des Wissens tat. Er prüft historisch, wie die Wissenschaften vom Gedächtnis entstanden (in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts) mit den Schwerpunkten Pathologie, (in die die multiple Persönlichkeit zu rechnen ist), Neurologie (mit der Frage nach der Verortung bestimmter Funktionen im Gehirn) und Psychodynamik (ein Zweig, der dominant von Freud und seinen Nachfolgern bestimmt ist). Hackings Anliegen ist es, den Zugriff auf die Seele, den die Gedächtniswissenschaften bedeuten, neben Foucaults Anatomo- und Bio-Politik als Formen der Macht über das Leben auszuweisen. Hierfür prägt er den Begriff Memoro-Politik. Er will wiederum, wie Foucault, eine Archäologie vorlegen, in der ein Oberflächenwissen mit den Polen Macht, Politik, Wissenschaft regulierende Kontrolle gewinnt. Sein Bereich ist die Kontrolle über die Seele. »Was fehlt (bei Foucault, FH) ist deutlich genug: der Geist, die Psyche, die Seele.« (279) Die Bewegung um die multiple Persönlichkeit in den USA der achtziger Jahre ist ihm Ausgangspunkt für seine wissenstheoretischen Fragen. Er diagnostiziert klar und aufklärerisch, dass drei ganz unterschiedliche Elemente den Nährboden für das plötzliche massenhafte Auftreten dieser »Geisteskrankheit« abgaben: ein Befreiungsdiskurs, der aus der feministischen Be-
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wegung kam, ein konservativer Diskurs, der aus der Angst um die Familie herrührte (79) und ein »größeres kulturelles Umfeld, in dem sie erklärt und lokalisiert werden konnte. Dieses Umfeld war der Kindesmissbrauch.« (58) Hacking bezweifelt nicht, dass es sexuellen Kindesmissbrauch gibt - er gibt im Gegenteil diesem Verhalten eine längere Geschichte. Sein Zweifel gilt der Verbindung von Missbrauch in der Kindheit und späterer Geisteskrankheit/ multipler Persönlichkeit. Er bringt diesen als Wahrheit angenommenen Zusammenhang auf verschiedene Weise auf den Prüfstand. Er zeigt die Verwandlung einer medizinischen Diagnose in eine Volksbewegung mit Formen von Glauben, Bekenntnis, Religiosität, Anhängern und Dissidenten, eine Entwicklung, die als solche schon geeignet ist, Zweifel an der Wissenschaftlichkeit des Herangehens anzumelden. Er prüft die Beweisführungen und Statistiken, die Hypothesenbildungen und ihre üblichen Verifizierungsverfahren (Problem der Messung) und belegt, dass sie allesamt nicht den einfachsten Anforderungen an wissenschaftliches Vorgehen genügen (129-150). Er wendet sich schließlich der Frage zu, ob die multiple Persönlichkeit, also der Zerfall in verschiedene (bis zu 100) Identitäten eine Krankheit sei, die Auskunft über die Funktionsweise der Seele geben könne. Dafür geht er zurück in die ersten Fallberichte von Bleuler und Janet, von Charcot und Kraepelin, die ausführlich wiedergegeben werden. Er zeigt die sprachliche Fassung »doppeltes Bewusstsein«, »Mit-Bewusstsein«, »alter Persönlichkeit«, »Spaltung«, »Dissoziation«, »Somnambulismus« (170ff) als Phänomene und Diagnosen, die verschiedenen Krankheitsbildern zugeordnet, die mit einem Trauma in Verbindung gebracht wurden, nicht aber mit Akteuren, Patienten, die selbst Erfahrungen verarbeiteten. Insofern könne die heutige Bewegung um multiple Persönlichkeiten an die Franzosen, Schweizer und Amerikaner des ausgehenden 19. Jahrhunderts anknüpfen, nicht aber an Freud, der die Erinnerung selbst als Produktion, als Verdrängung, Verschiebung, Kompromissbildung herausarbeitete, die nicht wahr oder falsch sei, sondern Verarbeitung in Richtung Handlungsfähigkeit. »Weil Janets Traumen unpersönlich waren, forderten sie nicht zu einer Umdeutung heraus, besonders wenn es um das Wirken der Erinnerung ging. Weil Freuds Traumen menschliche Handlungen umfassten, forderten sie zu einer Neuinterpretation in der Erinnerung auf.« (250) Hacking breitet eine Fülle von historischem Material aus; am Ende des Buches kommt er in vorsichtiger Form zur Frage der Diagnose und Therapie von multiplen Persönlichkeiten. Er betont wieder, dass Erinnerung in neuen Kontexten neu geschrieben wird. Dies wird schon in der Entwicklung von Sprechweisen deutlich; so ist etwa der Begriff des sexuellen Missbrauchs, in dem man sich erinnern und erzählen soll, erst in den letzten Jahrzehnten
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entstanden, so dass man streng genommen gar keine Erinnerung unter solcher Frage haben kann. Ein kultureller Kontext für die Erinnerung an sexuellen Missbrauch sind Kampagnen, Bewegung und Therapie, die die multiple Persönlichkeit mit diesem als traumatischem Erlebnis verbinden. In dieser Weise werden Sprache und Erinnerung kulturell geformt. Den Heilungserfolg, auf zwei Dutzend oder mehr Persönlichkeitsfragmente verwiesen zu werden, die man mit Missbrauch in der Kindheit in Zusammenhang bringen soll, hält er für fragwürdig. Die in der Therapie produzierte Erinnerung u.U. für »falsches Bewusstsein« (345). Er schließt sich vorsichtig den Therapeuten an, die den Zerfall der Persönlichkeit, den die multiplen Persönlichkeiten zeigen und der mit der Umbenennung der Phänomene in »dissoziative Identitätsstörung« besser gefasst sei, in Richtung von mehr Selbstbewusstsein nach vorn zu lösen versuchen. »Nicht in dem marktschreierischen Sinn, dass die scheinbaren Erinnerungen eines frühen Missbrauchs zwangsläufig falsch oder verzerrt sein müssen - sie können nur zu wahr sein - sondern weil das Endprodukt eine durch und durch künstlich erzeugte Person ist.« Sich selbst in dieser Geschichte zu rekonstruieren ergibt ebenso eine handlungsbehinderte und schwierige Persönlichkeit wie dies in Erinnerungsarbeit (wie sie im vorliegenden Buch vertreten ist) etwa als Ausgangspunkt für eingreifende Neukonstruktion aufgefasst ist und keinesfalls als Ziel. Schließlich verbündet er sich am Ende mit solchen Feministinnen, die darauf verwiesen, dass in der Multiplenbewegung das männliche Bild der passiven Frau bestätigt werde, die nachträglich eine Geschichte erfinde, in der sie bloß schwaches Werkzeug war. Was für mich an Hackings Buch überzeugend war oder mich nachdenklich machte, waren im Wesentlichen drei Punkte: 1. Zunächst natürlich der Verweis auf die durchgängige Opferrolle, die den Frauen, den Menschen, den Kindern im Diskurs und in den Kampagnen um Missbrauch und seine persönlichkeitsschädigenden Folgen zugeschrieben wird. Diese Ecke ist ganz offensichtlich keine, in die wir schadlos hineinkönnen. 2. Das Augenmerk darauf zurichten,welche Wissens-, Macht- und Kontrollbereiche über die Seele mit den Recherchen über Persönlichkeitszerfall gewonnen werden wollen. 3. Schließlich die Problematik von Erinnerungspolitik, ob wir nämlich in der Weise, wie wir uns selbst kohärent arbeiten, gut beraten sind, unsere Persönlichkeiten um ganz bestimmte Erinnerungen in einem bestimmten kulturellen Kontext zu bauen. Gerade, wenn wir annehmen, dass wir uns das gesellschaftliche ensemble aneignen, kann Politik mit Erinnerung ebenso gut auf die Seite einer kulturell gesteuerten selbstbewussten Herstellung einer ge-
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nussfahigen, sich entfaltenden und kooperativen Person gerichtet werden, deren Kohärenz in der Politik um die multiplen Persönlichkeiten daraus besteht, ganz Produkt einer bestimmten schädigenden Konstellation zu sein. Kurz, Hacking stiftet mich an, Gramsci erneut ernster zu nehmen und das Inhaltsverzeichnis, das wir über uns selbst anlegen, auch selbst mitzugestalten bzw. eine Gewichtung selbstbewusst vorzunehmen und uns keinesfalls ein solches von Therapieinstitutionen vorgeben zu lassen. Die Familie als Brutstätte von Sexualität Hackings Verfahren ist selbst von Foucault beeinflusst. Aber eine erneute Lektüre von Foucault in der Frage des sexuellen Missbrauchs rückt die unruhigen Gedanken über das plötzliche Auftauchen der Missbrauchsproblematik und die Verbindung zur Erforschung der Seele noch in ein anderes Licht. Foucault verortet sexuellen Missbrauch in der Familie in die Normalität des Sexualitätsdispositivs und richtet so unser Augenmerk statt auf deviante Einzeltäter und deren Triebe auf die Familie und das Schicksal der Körper und des Begehrens in diesem Kontext. Er erinnert Familie als den Ort, an dem Sex in dierichtigenFormen gebracht wird bzw. werden sollte. Obwohl schon dieser Gedanke so ganz glatt nicht kommen will, stößt er doch gleich auf den ersten Zentimetern - falls Gedanken in Zentimetern fortschreiten - auf die Erinnerung an jenen Teil der Psychoanalyse, den inzwischen fast alle Menschen kennen: auf den Ödipuskomplex. Handelte es sich hier nicht um das merkwürdige Konstrukt, dass der Sohn die Mutter begehrte und auf Umwegen die Tochter den Vater und dass dies zu ihrer »normalen« sexuellen Entwicklung gehörte? Immerhin erinnern wir rechtzeitig, dass in diesen Kontexten Ödipus zwar den Vater erschlug und die Mutter heiratete, um mit ihr vier Kinder zu haben, dass aber in den wirklichen Leben heute gegen solches Streben das Inzesttabu seine Kraft entfaltet und insbesondere die Eltern gehalten sind, solches Begehren in die entsprechenden Bahnen von Abgrenzung und Identifikation, Bindung und Trennung, kurz Erwachsenwerden zu lenken. Dies ist eine der Merkwürdigkeiten im Skandal um sexuellen Missbrauch, dass man nämlich allenthalben auf Widersprüche stößt, Widersprüche, die bis in uns selbst hineinreichen, Widersprüche, die ganz außen in Gesellschaft sind, und die allesamt klares Denken und Erfinden einer angemessenen Strategie behindern. Irgendwie geht es nicht einfach um Schuld, Tatbestände, Herrschaft und Macht und im Gegenzug um Gesetze, Einsperrung und Sühne - die Problematik ist tiefer, grundlegender ins Gesellschaftsganze, in die Konstruktionen von Familie, Sexualität, Kindheit und Jurisdiktion eingelas-
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sen, so dass der Versuch, sich Rat bei Foucault zu suchen, der in eben diesen Bereichen Zusammenhänge vorgeführt hat, mehr als angemessen scheint. Vergegenwärtigen wir uns, welche bei Foucault in Zusammenhang gebrachten Elemente im Kontext der Missbrauchsproblematik wieder auftauchen: da ist zunächst die Familie als Allianzdispositiv, verquickt mit dem Sexualitätsdispositiv. Da ist die Frage der Sexualität von Kindern. Da ist überhaupt Sex in der Form, Urgrund und Anfang allen Übels und aller Entwicklung zu sein. Und da ist schließlich Öffentlichkeit, die Geständnisse will und Schweigen brechen. Ich schreite die einzelnen Posten kurz ab, um die von Foucault vorgeschlagenen zur Mikrophysik der Macht gehörigen Dimensionen in einen nützlichen Zusammenhang zum Skandal des sexuellen Missbrauchs zu stellen. (Es liegt auf der Hand, dass die Bezeichnung Missbrauch, die im Umkehrschluss »denrichtigenGebrauch« unterstellt, selber schon ein Teil des Dispositivs ist und durch eine andere Sprache ausgedrückt gehört.) Familie und Sex mit Kindern
Die Vorstellung, dass in den Familien Sex mit Kindern geschieht, stößt allenthalben in ein Wespennest. Foucault notiert die Tradition, dass Kinder keinen Sex haben (sollten). »So weiß man natürlich, dass die Kinder keinen Sex haben: und hat damit einen Grund, ihnen den Sex zu untersagen und ihnen die Rede davon zu verbieten, einen Grund, die Augen zu schließen und die Ohren zu verstopfen, wo immer sie dennoch etwas davon zur Schau stellen sollten, einen Grund, ein allgemeines und lastendes Schweigen durchzusetzen.« (1983, 12) Der in sich paradoxe Satz nistet am Grunde des Familienauftrags, Sex zu verbieten, ihn zu kontrollieren, ihn unmöglich zu machen. Er bestimmt die Konstruktion des unschuldigen Kindes, das damit in eins zugleich als Opfer konstituiert ist. Das gilt zunächst als Auftrag, Onanie bei Kindern zu verhindern, sie zu pathologisieren, sie und damit Sex als Grund von Fehlentwicklung, Krankheit etc. anzusehen - ein Prozess, den Foucault »Medizinisierung des Sexes« nennt - , wobei die neuerlich ebenfalls ins Licht der Öffentlichkeit gerückten Fälle von Kinderpornos keineswegs dem Dispositiv widerstreiten, sondern lediglich zeigen, dass hier Dimensionen aus dem Sexualitätsdispositiv in »die Ordnung der Dinge überführt (wurden), die sich bezahlt machen« (1983, 13). Der Familienauftrag umfasst das Programm, dass Eltern, Väter und Mütter, beständig Körper und Begehren ihrer Kinder kontrollieren, stets Sex im Hinterkopf, der verhindert werden muss und der eben dadurch explosiv ins Zentrum von Familie gerät. Familie ist Sexualitätsmoral oder, in den Worten Fou-
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caults, »dass die Sexualität ihre bevorzugte Brutstätte in der Familie hat« (1983, 131).»Die medizinische Prüfung, die psychiatrische Untersuchung, der pädagogische Bericht, die familiären Kontrollen mögen durchaus global und augenscheinlich darauf zielen, alle abirrenden oder unproduktiven Formen der Sexualität zu verneinen, tatsächlich aber funktionieren sie als Doppelimpulsmechanismus: Lust und Macht. Lust, eine Macht auszuüben, die ausfragt, überwacht, belauert, erspäht, durchwühlt, betastet, an den Tag bringt; und auf der anderen Seite eine Lust, die sich daran entzündet, dieser Macht entrinnen zu müssen, sie zu fliehen, zu täuschen oder lächerlich zu machen [...] Erschleichung und Verführung, Konfrontation und gegenseitige Verstärkung: seit dem 19. Jahrhundert haben Eltern und Kinder, Erwachsene und Jugendliche, Erzieher und Schüler, Ärzte und Kranke, der Psychiater mit seiner Hysterischen und seinen Perversen nicht aufgehört, dieses Spiel zu spielen. Diese Appelle, Ausweichmanöver und Reizkreise haben um die Sexe und die Körper nicht unüberschreitbare Grenzen, sondern die unaufltörlichen Spiralen der Macht und der Lust gezogen« (1983, 60f) Die Konstellation betrifft nicht nur die Familie, sondern durchzieht die unterschiedlichen Machträume, die darum sehr gut geeignet sind, das familiäre Dispositiv zu unterstützen, keineswegs aber es zu verfolgen, zu analysieren, Widerstand zu bieten. Wir konzentrieren uns auf die familiäre Konstellation. Die Missetat der Väter, verübt an ihren Töchtern oder Stieftöchtern, lässt sich mit Foucault als zentrale Attacke gegen das Funktionieren des Sex- und Allianzdispositivs lesen. Man könnte sagen, dass die Verschwiegenheit und das Geheimnis um den Sex von Kindern in diesem Fall genutzt wird und ausgebeutet, um eben den Sex, der zu verhindern war, unter dem Mantel seiner reklamierten Nichtexistenz in Eigennutz zu begehen. Familie wird so nicht Schutz, sondern Gefahr, das Sexualitätsdispositiv vollstreckt sich und bringt selbst noch durch die Möglichkeit, dass die Heranwachsenden selbst Kinder bekommen könnten, das Allianzdispositiv in Gefahr. Im Grunde rührt ein solches unbotmäßiges Verhalten der Väter an die Mikrophysik der Macht, da es eben die Mechanismen, auf denen moderne Machttechniken beruhen, durch antiquierte Beanspruchung verkehrt. Macht als Zugriffsrecht auf die Körper, das war das Zeitalter des Souveräns, bevor andere Machttechniken den Körper durch Intensivierung und Kontrolle des Begehrens ins Zentrum rückten. Der Verstoß scheint auf der Hand zu liegen; die Täter gehören bestraft; die Gesetze geschärft. Die Seiten scheinen eindeutig besetzt oder mit den Worten Foucaults zur Sexualwissenschaft: »Auf diese Weise hat sie sich mit einer zudringlichen und indiskreten medizinischen Praktik verbunden, die wortgewandt ihren Abscheu hinausposaunte, stets bereit, dem Gesetz oder der Mei-
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nung Beistand zu leisten, den Ordnungsmächten williger ergeben als den Forderungen der Wahrheit.« (1983, 70) »Auf der einen Seite wurde der Vater zum Gegenstand obligatorischer Liebe erhoben; wenn er aber seinerseits zum Liebhaber wurde, so wurde er durch das Gesetz abgesetzt.« (1983, 156) Solche Eindeutigkeit im moralischen Urteil stößt auf seltsame Mehrdeutigkeit in der Behandlung des Missbrauchs durch die Medien. Da gibt es neben rechter Empörung und Rufen nach Gesetz und Staat gegen solche Außenseiter perverse Ausnahmen in unserer Gesellschaft, die zudem vermutlich gesellschaftlichen Unterschichten mit kaputten Familien angehören, ein Großteil, in dem Ausmaß, Art, Wahrheit, Schuld bezweifelt und als bloßes Märchen hysterischer Kinder behauptet wird, die wiederum fehlgeleitet scheinen durch Feministinnen. - Die Zeitschrift Der Spiegel, die sich in der Kampagne um sexuellen Missbrauch insbesondere auf die Strategie verlegt hat, Fälle zu sammeln und voyeuristisch auszumalen, in denen Väter oder Erzieher angeklagt und »ruiniert« wurden und dies wahrscheinlich zu Unrecht (vgl. auch Haug, 1994; Holzkamp, 1994), hat in solchem Kontext die folgenden Worte des Paderborner Erzbischofs zitiert und somit für die Öffentlichkeit aufgehoben: »Wenn junge Männer stärker mit der Pflege von Kleinkindern betraut sind und dabei nackte entblößte Körper ständig sehen, sie berühren und sauber machen müssen, ist die Gefahr groß, dass sie Begierden nicht widerstehen können. Der viele Körperkontakt mit dem jungen Kind bei der Pflege würde ihnen sicher oft zum Verhängnis werden. Und deswegen stellen wir fest, dass auch diese Konsequenz, dass Väter Hausmänner werden, auch negative Aspekte haben kann.« (Der Spiegel, 1994, Nr. 25,109)
Birgit Rommelspacher rückt solchen Verdacht in den Kontext gesellschaftlicher Konstruktionen: »D.h. es kann nicht allein die Forderung nach gleicher Beteiligung von Männern bei der Kindererziehung gestellt werden, wenn diese nicht zugleich bereit sind, ihre gesellschaftlich begünstigte und erwartete Gewalttätigkeit, gewaltförmige Sexualität und ihr >männliches< Selbstbild in Frage zu stellen.« (FKP 34, 1994, 26) Merkwürdigerweise verbünden sich die moralisch Puritanischen, diejenigen, die die Familie stärken wollen, dass so etwas nicht passiert, gegen jene, die ebenfalls dagegen sind, dass Väter das Zugriffsrecht auf die Körper der Kinder monarchisch buchstäblich nehmen. Dabei plädieren die einen für die bessere Familie, die anderen für bessere Väter, so dass im Effekt die Stärkung einer Familie mit häuslicher Mutter, abwesendem Vater und wohlbehüteter Tochter von beiden angestrebt wird. Ich halte dies für ein Missverstän-
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dis der Gesamtlage. Es betrifft zum einen das Verhältnis von Sexualität und Familie. Denn einerseits gilt: »Die Familie hat vielmehr die Sexualität zu verankern und ihren festen Boden zu bilden.« (Foucault, 1983, 131) Und andererseits: »Aber in einer Gesellschaft wie der unsrigen, in der die Familie der aktivste Brennpunkt der Sexualität ist und in der die Anforderungen der Sexualität die Existenz der Familie erhalten und verlängern, nimmt der Inzest aus ganz anderen Gründen und auf ganz andere Weise einen zentralen Platz ein: hier wird er ständig bemüht und abgewehrt, gefurchtet und herbeigerufen - unheimliches Geheimnis und unerlässliches Bindeglied.« (Foucault, 1983, 131) Auf eine explosive Weise nehmen es die Kampagnen um sexuellen Missbrauch und vor allem die feministischen Initiativen in diesem Feld mit einer zentralen Dimension der Mikrophysik der Macht auf. - Die Hoffnung der Mittelschichten im Übrigen, dass es vornehmlich untere Schichten seien, in denen solche Übergriffe geschähen, speist sich historisch aus der späten und verschobenen Einbeziehung eben dieser Schichten in den Gesamtkomplex der Konstruktion und Kontrolle von Sexualität. »Eine ganze Politik des Schutzes der Kindheit oder der gerichtlichen Bevormundung von gefährdetem Minderjährigen zielte unter anderem darauf ab, sie aus Familien zu entfernen, die man - wegen Platzmangels, zweifelhaften Zusammenlebens, gewohnheitsmäßiger Ausschweifung, >Primitivität< oder Entartung - inzestuöser Praktiken verdächtigte.« (1983, 155 f) Die Konzentration von Feministinnen, gerade die >normalen< angesehenen Mitglieder der Gesellschaft als beteiligt vorzuführen (z.B. neuerlich häufig in Romanen, vor allem in Krimis), arbeitet daher an einem wichtigen Widerstandspunkt. Er greift allerdings zu kurz, wenn er nicht das gesamte Sexualitätsdispositiv in der Kleinfamilie aufs Korn nimmt und die gesamte politische Ökonomie. Das Geheimnis und das Schweigen
Bei der Entfaltung moderner Machttechniken hatte Foucault auf die besondere Rolle hingewiesen, die historisch und in veränderter Form heute das Geheimnis und das Schweigen spielen und insbesondere gezeigt, wie das »Geständnis«, der Wille zum Wissen, die Suche nach Wahrheit in welcher Form auch immer, selbst Stationen von Machtentfaltung sind. Alle diese Elemente sind in verrückter Formation Teilnehmende in den Kampagnen um Missbrauch. Das vom Vater erzwungene Schweigen, selbst Stützpunkt im Familiendispositiv und von daher dort auch streng durchgehalten - ein Grund, warum die Mütter zumeist eine so düstere Rolle im Drama spielen - , kommt in eine seltsame Position. Das Geständnis und Bekenntnis, die Beich-
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te, sind nicht länger bloß Machtmittel, die den ganzen Apparat der Überwachung beim Laufen halten und intensivieren, sie sind selbst auch notwendige Befreiungsschritte, die eine andere »Wahrheit« über das Familiendispositiv öffentlich machen wollen. Sie sind zudem meist die einzige Möglichkeit, dem Kräfteverhältnis, welches ja nicht nur diskursiv, sondern auch materiell ist, zu entkommen (vgl. auch Smith, 1994). Allerdings geraten alle Geständnisse in eine Öffentlichkeit, die von dieser Mikrophysik der Macht durchzogen, durchaus auf sexuelle Beichten vorbereitet ist. Zwar handeln die Bekenntnisse nicht von der eigenen Begehrlichkeit, deren Wahrheit ans Licht muss, um behandelt und in die richtige Form gebracht, therapeutisiert zu werden, sondern sie berichten über das sexuelle Begehrt- und Verfügtwerden durch die Personen, die gerade solches verhindern sollten. Die Einsatzposten haben ihre Stellen gewechselt. Aber ihre Sprache ist geblieben. (Vgl. auch Aleoff und Gray, 1994) Das macht, dass sie öffentlich in ein Dispositiv kommen, das auf die einzelnen Momente gut vorbereitet ist: die Anheizung der Lüste durch möglichst detailreiche Schilderung der Vorgänge, das Herausbringen der »Wahrheit«, die Konstruktion des unschuldigen Kindes als Opfer, die Isolierung von einzelnen Schuldigen und vor allem - die Entdeckung von Sex am Anfang und als Grund für sämtliche Pathologien im Einzelnen und in der Gesellschaft. Die Befreiungsversuche werden vereinnahmt und, wo nicht öffentliche Leugnung das Aufrechterhalten des Familiendispositivs als rein und unbefleckt geraten sein lassen, wird es wiederum gestärkt durch die Propagierung von Einzelschuldigen und damit Festigung des Normalen aller übrigen Familien. Dazwischen irrt das Mädchen als Opfer und immer auch als Lolita, verderbte Unschuld, die die Väter die schwierige Aufgabe, das Begehren der Heranwachsenden zu kontrollieren, nicht so ohne weiteres unbeteiligt durchhalten lässt. Denn schließlich müssen seit der »Pädagogisierung« des kindlichen Sexes: »die Eltern, die Familien, die Erzieher, die Ärzte und später die Psychologen (...) diesen kostbaren und gefahrlichen, bedrohlichen und bedrohten Sexualkeim in ihre stete Obhut nehmen«. (1983, 126) Sex als Basis
Foucault hatte herausgearbeitet, dass den modernen Machttechniken eines gemeinsam ist, sie bauen darauf, Sex als Urgrund aller Probleme, als ständige Gefahr, als Pathologie und Ziel allen Begehrens, kurz als wesentliche Dimension des Lebens zu behaupten und damit selbst wieder zu konstruieren. Sexualität als »ein für pathologische Prozesse offenes Gebiet, das dementsprechend nach therapeutischen oder normalisierenden Eingriffen ruft.« (1983, 88) Der Sex-Diskurs habe »uns, unseren Körper, unsere Seele, unsere
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Individualität, unsere Geschichte - unter das Zeichen einer Logik der Begierde und des Begehrens geraten lassen .« (98). »Der Sex: Grund für alles.« (99) Sicher kann man in den öffentlichen Kampagnen um Missbrauch und diesmal insbesondere von Seiten feministischer Therapeutinnen (Expertinnen) entziffern, dass sie diese Auffassung mit den modernen Machttechniken teilen. Wo einst Aufbruch der Frauen aus dem fortwährend konstruierten Opferstatus war, erfolgt eine neuerliche Viktimisierung. Jenseits aller Konstruktionen des unschuldigen Kindes oder des pathologischen Sexes, wird das missbrauchte Mädchen wiederum als ein Wesen behauptet, dessen Schicksal von Stund an bestimmt ist durch die Folgen von Sex. Man lese dazu die beratenden und diagnostischen Texte aus feministischer Therapie, die alles und jedes auf solche, selbst u.U. vergessenen Kindheitserfahrungen zurückfuhren, wie dies auch im vorigen Abschnitt von Hacking diskutiert wurde. Das Fatale an solchen Versuchen ist dabei nicht nur jene mechanische Logik von Ursache und Wirkung, sondern auch die vollständige Verkennung des allgemeinen und normalen Sexualitätsdispositivs in Familie und Gesellschaft. Von daher findet sich gerade solches Denken und entsprechendes Handeln in besonders engem Bündnis mit den bigotten Hütern puritanischer Ordnung, die vom Sexualitätsdiskurs die Seite der Hygiene und Ordnung übernehmen und gegen die Körper wenden, als seien diese tatsächlich etwas ihren eigenen Lüsten ganz und gar Äußerliches. Widerstandsstrategien
So aufregend die Verschiebungen sind, die Foucault durch die Einführung einer Positivität der Macht gesetzt hat, so dicht scheint das Netz der Stütz- und Widerstandspunkte, aus denen es kein Entrinnen gibt. Ein Herrschaftsnetz, das durch die Unterdrückten selbst mit gewebt und getragen wird, Macht, die Lust bereitet und vom Widerstand zehrt, - in solchen Konstruktionen scheint jeder Ausweg verbaut, gibt es keinen Raum für eingreifendes Denken und Handeln, das nicht immer schon selbst Kehrseite ist dessen, wogegen es einschreitet und deshalb eben auch stützender Teil. Foucault selbst deutet eine andere Bewegungsweise an, die der Logik zunächst des »strategischen Umschlags«, dann des »Sprungs« folgt. Oder wie soll man folgende Ausführung denken? »Widerstandspunkte ... kristallisieren sich (gelegentlich) dauerhaft in Gruppen oder Individuen oder stecken bestimmte Stellen des Körpers ... an. Große radikale Brüche ... (kommen vor). Aber weit häufiger hat man es mit transitorischen Widerstandspunkten zu tun, die sich verschiebende Spaltungen in eine Gesellschaft einfuhren... Und wie der Staat auf der institutionellen Integration der Machtbeziehungen beruht, so kann die strategische
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Codierung der Widerstandspunkte zur Revolution führen.« (1983,117f) Leider gibt es keinen Anhaltspunkt in seinen Schriften, wie solche »strategische Codierung« zustande kommt. Vielmehr folgt an anderer Stelle jene Logik des Aussteigens oder des Sprungs: »Man muss sich von der Instanz des Sexes freimachen, will man die Mechanismen der Sexualität taktisch umkehren, um die Körper, die Lüste, die Wissen in ihrer Vielfältigkeit und Widerstandsfähigkeit gegen die Zugriffe der Macht auszuspielen. Gegen das Sexualitätsdispositiv kann der Stützpunkt des Gegenangriffs nicht das SexBegehren sein, sondern die Körper und die Lüste.« (1983, 187) Der Vorschlag scheint radikal und ist zugleich vage. Müßte nicht, statt in einem Netzwerk von diskursiv angeordneten und darum immer schon von Macht und Herrschaft nicht freien Entitäten einfach welche auszurufen, die plötzlich aus unerforschlichen Gründen frei von diskursiver Einbindung sind (Körper und Lüste), der »Gegenangriff« über andere »Dispositive« erfolgen? Damit meine ich zunächst eine Blickverschiebung: weg von den Machtnetzen mit reagierenden Einzelnen hin zu zivilen Formen, die von Gruppen von Menschen, von Assoziationen - wie Gramsci dies genannt haben würde - gelebt und ausgestaltet werden. Damit dies nicht ebenso vage bleibt, versuchen wir uns die Problematik im Falle des sexuellen Missbrauchs zu vergegenwärtigen. Verfangen im Familiendispositiv und der Rolle des Vaters darin, ist der Versuch der Mädchen, stattdessen in Öffentlichkeit oder in andere staatliche Apparate wie Justiz, Sozialarbeit, therapeutische Institutionen auszuschreiten, um »das Schwiegen zu brechen«, wieder eingefangen in die nämlichen Dispositive von Sexualität und Familie mit der eigenartigen Selbstpositionierung als Unschuld und als Opfer. Der tatsächliche Ausbruch müßte die Infragestellung von fast allem, das bisher galt, bedeuten: Familie, Sprache, Öffentlichkeit und damit einhergehend die Abkehr vom Sexualitätsdispositiv. Solche Bewegung zeigt die Heranwachsenden ja nicht nur ausgeliefert an sexuelle Übergriffe von Vaterpersonen - diese sind vielmehr selbst eine Form der Äußerung ihres prinzipiellen Ausgeliefertseins in Familie und Gesellschaft. Gegenmodelle können nur selbst aus einer Bewegung, aus Initiativen, aus Gruppen kommen, nicht von Einzelnen. Sie können Netze bilden, in denen andere Möglichkeiten des Heranwachsens, anderer Umgang mit den Körpern, eine andere Sprache gepflegt werden. Und sie bilden selbst jene Öffentlichkeit, die nicht geformt und gereizt durch Familien- und Sexualitätsdispositiv notwendig ist, um Schweigen in eine Richtung zu überschreiten, in der Sprechen Kommunikation ist mit anderen auf dem Wege selbstbestimmtere Inidvidualitätsformen und Formen, von unten andere Gesellschaftlichkeit zu leben.
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Krise der Gesellschaft
Die Skandale um sexuellen Missbrauch zeigen die Krise der Familie, stellen das familiäre Sexualitätsdispositiv in Frage. Sie ermöglichen auch, die allgemeine Ausgeliefertheit der Heranwachsenden an inkompetente und überforderte Elternpersonen und in Gesellschaft sichtbar zu machen. Es ist unwahrscheinlich, dass solch missbräuchliches Verhalten von Seiten der Vater- oder auch Mutterpersonen erst in den letzten 10 Jahren virulent geworden ist und die ehemals gesunde Gesellschaft mit krankhaften Absonderlichkeiten überfallt. Der u.a. von Foucault in seiner Geschichte der Sexualität vorgeführte Ausbau des familiären Sexualitätsdispositivs zu einer Mikrophysik der Macht mit all ihren gegensätzlichen Kräften verweist vielmehr auf eine lange Geschichte auch des als sexueller Missbrauch sprechbaren Verhaltens gegen Heranwachsende. Aber dass dies heute als Kampagne gefuhrt werden kann, bestimmt von ganz widersprüchlichen Kräften der Befreiung und der Restauration, zeigt eine Art Donnerrollen in den Machttechniken der Gesellschaft. »Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.« (1983, 114) Wir erfahren Umbrüche in der Arbeit durch die mikroelektronische Produktionsweise und damit verbundene Brüche in der Organisation und im Selbstverständnis der einzelnen Lebensweisen; wir erleben den Abschied vom männlichen Ernährer, der mit dem aufgezwungenen Verzicht auf einen lebenslangen Arbeitsplatz einhergeht, und erst jetzt, gewissermaßen an der Schwelle seiner Entmachtung, wird die Macht der Vaterfiguren in den Familien zum Skandal. So sehr solche Kampagnen innerhalb des Sexualitätsdispositivs (Gewalt gegen Frauen, Missbrauch, Belästigung) die Verwerfungen und Brechungen, die Krisen und Zusammenbrüche alter Ordnung im Großen auch verdecken, sie sind zugleich der Anzeiger, dass ein bestimmter Machttypus, eine dominante dispositive Herrschaftsordnung zerbricht, durch eine andere ersetzt werden wird. »Das >Recht< auf das Leben, auf den Körper, auf die Gesundheit, auf das Glück, auf die Befriedigung der Bedürfnisse, das >Recht< auf die Wiedergewinnung alles dessen, was man ist oder sein kann - jenseits aller Unterdrückungen und >EntfremdungenRecht< war die politische Antwort auf all die neuen Machtprozeduren, die ihrerseits auch nicht mehr auf dem traditionellen Recht der Souveränität beruhen.« (1983,173) Die entscheidende Frage ist, wie weit die Krise der ehemals »neuen Machtprozeduren« genutzt werden kann, jene Menschenrechte näher heranzurücken. Vorläufig scheinen Gegenkräfte an einer neuen Machtkonstellation zu arbeiten, die uns weiter von der Aufhebung aller Entfremdung< entfernt.
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Dutroux als Held des Neoliberalismus Am 17. April 1997 wurde der vorläufige Abschlussbericht im Fall Dutroux vor dem belgischen Parlament verhandelt. Der Prozess ist für das Jahr 2000 geplant. Dutroux, der Mann, der als Pädophiler, als Triebtäter, als Perverser die Presse Monate in Atem hielt, und zu einer seit langem nicht dagewesenen Mobilisierung von Öffentlichkeit führte (u.a. zu einem Protestmarsch mit 300.000 Teilnehmenden) - dieser gesamte Fall zeigt sich am Ende als ein Zerfallsprodukt des belgischen Staates. Rekonstruieren wir den Vorgang, treiben wir Erinnerungspolitik und lassen uns nicht entmutigen durch eine neuerliche Beschwichtigung von Seiten der FAZ, anlässlich des Erscheinens eines Krimis, der sich mit der Korruption des belgischen Staates und seiner Hintermänner, die bis nach Rom reichen, befasst. (FAZ, 8.2. 1999 - der Krimi ist von Jef Geeraerts): »Wenn es tatsächlich in Jahresfrist zu einem Prozess gegen- Dutroux und seine Mittäter kommen sollte, dann wird Belgien noch einmal mit den Abgründen seiner Staatskrise konfrontiert werden, selbst wenn heute kaum jemand mehr damit rechnet, dass tatsächlich alle grauenhaften Fakten über die Hintermänner und Beschützer des Mörders ans Tageslicht kommen werden.« Ich lese also nicht in den »Hunderttausenden von Aktenseiten« zum Fall Dutroux, weil ich mich nicht so sehr für diesen Mann als vielmehr für die Kräftekonstellation und die politische Kultur interessiere, die ihn möglich machten. Ich beginne daher noch einmal mit der Frage, sexuellen Missbrauch überhaupt zu bestimmen, Missbrauch als eine Problematik, die erst neuerlich zu einem genauen wissenschaftlich, politisch und medizinisch angebbaren Gegenstand wurde und deren Diskurse auf allen Ebenen mit unserem Alltagsverstand arbeiten. Wie also bestimmen wir sexuellen Missbrauch? Am einfachsten wird es, sich erst einmal auf Minimalpositionen einzulassen. Jedenfalls ist es missbräuchlich und sexuell zudem, wenn mit Kindern, gleichgültig ob mit eigenen oder fremden, Geschlechtsverkehr durchgeführt wird. Problematisch wird es in dem langen Feld davor, in dem körperliche Berührungen zugeordnet werden sollen, klassifiziert, ob sie schon sexuell seien oder noch bloße lebensnotwendige Zärtlichkeit. Aber Geschlechtsverkehr mit Kindern! Dies ist als warnender Endpunkt in die Beziehungen von Erwachsenen zu Kindern eingeschrieben und kann zumindest in unserer Zivilisation auf unumwundenen allgemeinen Abscheu rechnen. Der >belgische< Skandal um sexuellen Missbrauch aus dem Jahre 1996 belehrt uns, dass die bisherigen Problematiken und Einordnungsversuche, die Abgrenzungen und auch der Streit, wie viele Kinder und insbesondere Mädchen in Missbrauchsverhältnissen leben, nicht umfassend genug gedacht
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war. Die Missbrauchsthematik war seit Beginn der achtziger Jahre unaufhörlich im öffentlichen Bewusstsein präsent, diskutiert, umstritten, aber schon 1995 schien das, was als gesellschaftlicher Skandal Nummer Eins die Medien bestimmt hatte, nicht mehr existent, zumindest nicht der medialen Berichterstattung wert zu sein. Bis im August 1996 ganz plötzlich und unerwartet das Thema wieder aufkam, fiebrig wie eine schwere Krankheit, die doch nicht überwunden war, die Gemüter in Bann hielt, um schließlich Ende des Jahres wieder zu verschwinden mit dem kurzen Wiederaufflammen im April zur Verlesung des Untersuchungsberichts über Dutroux bzw. die belgische Justiz und Politik. Die Zeit dieser sexualpolitischen Skandale und der durch sie hervorgepeitschten Politik ist zugleich die Zeit, in welcher der Neoliberalismus über den gesamten Globus eine Umwälzung in Gang setzt, die mit der ersten industriellen Revolution durchaus vergleichbar ist. Es findet eine Freisetzung von Menschenmassen statt, eine große Verarmung ganzer Länder und eine Ansammlung von Reichtum bei wenigen wie nie zuvor. Der Staat als Regulator beschränkt sich darauf, die Bedingungen für die vagabundierenden Kapitale attraktiv zu gestalten. Ein ethisches Projekt, die Idee einer guten Gesellschaft, wie sie noch zum liberalen Bestand politischen Denkens gehörte, ist verschwunden. Die Bürger und Bürgerinnen der Weltgesellschaft treten als Vereinzelte auf, verantwortlich für die Gestaltung ihrer je einzelnen Leben. Sie werden schuldig je für sich. Ihre Verfehlungen können so als moralische Warnungen gelesen werden. Und hinter der Empörung über solche Entgleisungen verschwinden die Großverbrechen, die derzeit unter dem Stichwort Neoliberalismus oder Liberalisierung der Märkte vorgenommen werden. Hat etwa der Abbau des Sozialstaats etwas mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern durch ihre Eltern oder durch andere, zumeist Verwandte zu tun? Es empfiehlt sich, mit solcher Unruhe diese letzte Kampagne aus der Mitte des vorigen Jahres näher anzusehen.11 Derpädophile Kinderschänder
Ich spreche also auf der Suche nach kulturellen Umbrüchen und denkwürdiger Hegemonie vom Fall Dutroux. Eine Reihe von Schreckensmeldungen erreichte uns Ende August 96. Die Leichen von zwei achtjährigen Mädchen 11
Ich habe dafür etwa 50 Artikel aus Tages- und Wochenzeitungen zwischen dem 24. August und Ende Dezember 1996 ausgewertet, und zwar vornehmlich aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, aus dem Neuen Deutschland und aus dem Freitag.
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wurden im Garten eines Mannes ausgegraben, der mit den erwarteten entsprechenden Attributen beschrieben wird: vorbestraft als Pädophiler, Sozialhilfeempfänger, arbeitsloser Elektriker, sexuell abartig. Die Berichterstattung kann auf allgemeine Empörung und Sensibilität fur das Thema des sexuellen Missbrauchs von Mädchen rechnen, das hier noch von Zweifeln gereinigt ist durch Mord an den Opfern und dadurch, dass keinerlei Familienbande berührt sind. Zudem geschah es in Belgien, also nicht in Deutschland. Der Mann ist ein Kinderschänder. Kinderschänder ist ein neues Wort in diesem Zusammenhang. Es klingt eigentümlich unangemessen und ist zugleich schon auf Verallgemeinerung angelegt: Bestrafung aller Kinderschänder der Welt! Ich habe das Wort vor dem Fall Dutroux noch nicht gehört. Wohl Schande und Schänder - aber diese Begriffe waren fur mich so nah an der Wöhlanständigkeit, die sie verletzten, dass sie im Zusammenhang mit sexuellen Handlungen an Kindern und schon gar mit Mord nichts zu tun haben könnten. Der Duden tappt ähnlich im Dunklen. Er kennt die Schändung der Familienehre und rückt das Wort in die Nähe von Empörung und Empfinden von Schande. Einen, der Kinder mordet, nachdem er sich ihrer sexuell bedient hat, einen Schänder zu nennen, hat vielleicht eine politische Absicht. Es rückt die Aufmerksamkeit von der Psychologie des Täters auf jeden Fall auf das Schicksal der Opfer. Es gibt, so scheint es auszusagen, in unseren Gesellschaften Menschen, die einen schandbaren Umgang mit Kindern haben. Diese Verschiebung hat nicht nur den begrüßenswerten Effekt, die Tat kurzfristig zu entpsychologisieren, sie bewirkt zugleich eine Verschärfung wie eine Verharmlosung des Vorgangs. Alles, von Streicheln und Eiseinladungen über Vergewaltigung bis zum Mord kann unterschiedslos als Schändung zusammengefasst werden. Die Abstraktion richtet endgültig. Die Komplizen
Im Fall Dutroux ließ die Presse die Öffentlichkeit eine Weile im Unklaren. Sie futterte sie mit Informationen, die das pädophile Bild vervollständigten, und legte gleichzeitig Fährten, die damit fast unvereinbar waren. Dutroux hatte nämlich Komplizen, es gab eine Bande, und ein wenig später kam heraus, dass die politische Justiz in die Verbrechen verstrickt war. Wie kann man als geheimer Triebtäter Komplizen haben? Der nahe liegende Gedanke, dass es sich um eine Art pädophiler Kultur gehandelt haben könne, wird weggeschoben durch die gewählten Worte - Komplize, Bande. Aber noch rätselhafter scheint, dass Polizei und Staatsanwaltschaft verstrickt sein sollen in sexuellen Missbrauch von Mädchen. Eigensinnig versucht das lesende Hirn die
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Nachrichten mit den bisherigen Diskussionen und Berichten über sexuellen Missbrauch zusammenzufügen. Auf der Suche nach verletzenden Vätern und schweigenden Müttern erscheinen die nachrichtlichen Mosaiksteine eher als abwegig und störend. Im Kontext der Verbrechen werden Immobilienmakler, Polizeikommissare, Staatsanwälte, ein Lagerhallenbesitzer, ein Versicherungsmakler genannt und schließlich der Mord an einem sozialistischen Spitzenpolitiker. Das sinnstiftende Band bekräftigt noch einmal die gewohnte Abbildungsweise, allerdings in ungewöhnlicher Form. Am 27. August berichtet die FAZ, der Täter sei 1989 wegen Kindesentführung und pädophiler Vergehen zu dreizehn Jahren Gefängnis verurteilt und schon 1992 unerklärlich und gegen den Rat des Psychologen und bei Einwänden der Staatsanwaltschaft freigelassen worden. Inzwischen habe der Kinderschänder den Mord an zwei weiteren Mädchen gestanden. Wieder wollen die Einzelheiten nicht zusammenstimmen. Die neuen Opfer des »Pädophilen« waren 17 und 19 Jahre alt. Kinderprostitution
Zur gleichen Zeit, nämlich am 25. August, wurde in Stockholm der erste von Unicef organisierte Kongress gegen die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern eröffnet. Hier geht es in klarer Sprache um Ausbeutung und Profit, um Handel und viel Geld, um Kinder, insbesondere Mädchen als Ware. Es geht gegen Kinderprostitution, Kinderhandel, Kinderpornographie insbesondere im Handel zwischen >Dritter< und >Erster< Welt. Die Tatsache, dass dieser Kongress stattfand, ist ein begrüßenswerter weltgesellschaftlicher zivilisatorischer Fortschritt. Ein Konsens gegen die Vermarktung von Kindern am Ende des zweiten Jahrtausends wurde hergestellt; auf ihn kann sich fürderhin berufen werden. Selbstverständlich ist Kinderprostitution damit nicht beseitigt, ebensowenig wie Gewalt entfallt bei einem Gesetz gegen Gewalt. Aber immerhin: Die Presse ist voller Daten über das Ausmaß von Kinderprostitution. Die Schätzungen sind: Indien und Brasilien je um eine halbe Million, das viel kleinere Thailand noch mehr; es gebe immer »neue Märkte«. Die Ursachen: »Die Zahl missbrauchter Kinder wächst, wo Armut, Hoffnungslosigkeit und Verwahrlosung grassieren, wo die Immunkrankheit Aids von >Kunden< noch nicht vermutet wird, aber tatsächlich wie eine Seuche unter Kindern und Erwachsenen um sich greift.« Nach Schätzungen von Unicef werden etwa zwei Millionen Kinder sexuell ausgebeutet, von ihren Familien verkauft, von Händlern verschleppt, von Zuhältern versklavt. Die Sprache auf dem Kongress ist einfach und eindeutig. Mehr als 1000 Delegierte aus 130 Ländern stellen Forderungen auf gegen »den Missbrauch von
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Kindern«, und als solcher werden genannt: Kinderpornos, Prostitution und Sextourismus. Sextouristen, so wird eigens betont, seien nicht so sehr pädophil als vielmehr Gelegenheitstäter, die sich an Kindern als >Sex-Spielzeug< vergreifen. Ganz deutlich wird: es geht nicht um >abartige Triebtätergefangen gehalten< wurden, zu befreien, ohne dass dies Folgen für Dutroux gehabt hätte. Biedermänner
Es leuchtet ein, dass die Frage, ob Dutroux ein Pädophiler ist, ob er gesellschaftlich unerwünschte Neigungen zu Kindern hatte oder nicht, in diesem Ausbeutungs- und Profitkontext eine quantite negligeable ist, bzw. vermutlich ist es für das Geschäft besser, weniger selber Lust zu haben, um mehr Geld aus fremder Lust zu ziehen. So erfahrt man im Nachhinein beiher, dass zumindest die ersten beiden Morde an den Achtjährigen nicht die Werke eines perversen Sadisten waren, sondern eher der Wohlanständigkeit. Eine Grundschullehrerin (die Zeitung gibt zu verstehen, dass es seine Ehefrau war), die während eines kurzen Gefangnisaufenthalts von Dutroux die Versorgung der Mädchen hätte übernehmen sollen, hat sie einfach verhungern lassen, weil »sie es nicht über sich bringen konnte, dorthin zu gehen«. In diesem Kontext wird Dutroux jetzt als hochintelligent und eiskalt bezeichnet. Wie aber reagierte Biedermann in Gestalt eines Leserbriefes auf die Taten, die sich immer klarer als von nackter Geldgier getrieben herausstellten? Ein Leser empört sich, dass so ein Mann Sozialhilfe als Arbeitsloser bekommen habe, da er doch Häuser und Ländereien in Südamerika sein Eigen nennen konnte und plädiert endlich für die Notwendigkeit, Sozialämter mit mehr Kontrollbefugnis auszustatten. Die Unruhe über die Allgegenwärtigkeit von Kindesmissbrauch wird ins gewohnte Bild eingepasst: Sozialhilfeempfangern ist mit Misstrauen zu begegnen. Inmitten all dieser Nachrichten und Verhandlungen über Millionengeschäfte um Kinder und Sex >bekennt< ein weiterer Biedermann in Gestalt eines Satirikers im Neuen Deutschland (10.9.96) unter dem Titel >Eier ab! heißt die ParoleSerienmörder< ließ die politische Justiz für sich arbeiten. Es handelt sich also um eine »Synergie von individueller und staatlicher Perversion«, damit seien die »Zeiten, wo der Landgraf von Kassel seine Landeskinder wie Vieh in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg entführte, in den Schatten gestellt«. Nach diesen klaren Analysen und begrifflichen Zuspitzungen werden wir unvermutet in die politische Ökonomie gelenkt. Solche Taten bzw. solche Zusammenarbeit entstehe überall dort, wo ein Machtvakuum herrsche, weil der Staat verschuldet sei. Kurz: die bankrotten Staatshaushalte, die ihre Macht an vagabundierende Kapitale abgegeben haben, sind der Nährboden für organisierte Kriminalität, die sich der Reste der politischen Justiz zu bedienen weiß. Im Verfall der staatlichen Macht bleiben am Horizont als politische Subjekte: die Familien. Im Fall Dutroux bilden sie eine Gegenregierung, die den funktionierenden Rechtsstaat fordert, in der Öffentlichkeit spricht, selbst detektivisch tätig wird und in Zeitungen schreibt. Die aufmerksame Öffentlichkeit kann die Verbreitung der erwerbsmäßigen Variante des Kindesmissbrauchs in den weiteren Monaten des Jahres 1996 durch die verschiedenen Länder verfolgen: Ein Kinderporno-Ring in Österreich wird aufgedeckt, der mit der Slowakei zusammenarbeitete; zwei Männer in Berlin werden des Missbrauchs thailändischer Kinder mit dem Verdacht auf gewerbliche Verbreitung von Kinderpornos und dem Vorhaben, ein deutsch-thailändisches Unternehmen für den Vertrieb aufzubauen, angeklagt (in ihrem Angebot hatten sie schon 51 Bildserien und fünf Videofilme, darunter einen Film, in dem ein Junge gefoltert wird); in Brandenburg entführt eine Frau ihre zehnjährige Nichte, vermutlich ins Bordell nach Holland. Polnische Kinder scheinen die Straße Warschau-Berlin mit sich als Ware großräumig auszustatten. Für den Berliner >Baby-Strich< werden 100 polnische Jungen gezählt. Frauen, so erfahren wir, sind häufig der letzte »Rohstoff«, den die armen Länder anzubieten haben. Das gilt auch für die ehemaligen
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staatssozialistischen Länder, in denen Frauen seit 1990 ihre Arbeit verloren haben, so dass selbst gut ausgebildete sich als Sex-Körper verkaufen. Osteuropa gilt als >Wachstumszone< fur den Kindesmissbrauch. Familie
Die Verdinglichung, die der Vermarktung der weiblichen Körper und der der Kinder vorhergeht, zeigt das strukturelle Problem. Frauen und Kinder als Besitz, als Ware, als Ding, als rechtlos, als bloße Körper, die es mit Profit in Dienst zu nehmen gilt. Diese Struktur erlaubt es wieder, von dem internationalen Kinderhandel zurück in unsere gewohnten Bahnen von Missbrauch von Kindern in der Familie zu kommen. Wir brauchen dafür keinen theoretisch spitzfindigen Weg zu gehen. Die Wirklichkeit zwingt uns, die Sache mit klaren Augen zu sehen. In der Dritten Welt, so heißt es, verkaufen die Familien Kinder und Frauen, weil sie anders keine Überlebensmöglichkeiten mehr sehen. Sie sind Sklavenhändler. Für junge Frauen erhält man zwischen 3.000 und 5.000 DM. In Deutschland, im katholischen Worms, tun sich mehrere Elternpaare zusammen, um ihre zwölf Kinder im Alter von 22 Monaten bis zu 17 Jahren »dem sexuellen Missbrauch durch Dritte auszusetzen«. Auch sie stellen Pornofilme her, die sie einträglich verkaufen. Dies geschieht in Worms in drei Elterngruppen. Der erste Prozess (mit der Anklage, in achtzig Fällen sieben Kinder im Alter von 6 Monaten bis zu 8 Jahren sexuell ausgebeutet zu haben, für die der Staatsanwalt Einzelstrafen zwischen acht und vierzehn Jahren gefordert hatte) ging Ende Dezember in dritter Instanz mit einem Freispruch zu Ende, weil die Beweislage zu schwierig gewesen sei. Zwar gab es eindeutige Diagnosen von Ärzten und Gutachtern, aber auch wechselseitige Beschuldigungen der inzwischen hoffnungslos verfeindeten Angeklagten. Zudem seien die Kinderaussagen zweifelhaft. Ein Psychologe bemängelte (lüstern?) an diesen Aussagen, es fehlten Lebendigkeit, Anschaulichkeit und Nachvollziehbarkeit; vor allem vermisste er eine Darstellung der Handlungsabläufe. Die Staatsanwaltschaft äußert: »Zwar sei wohl als sicher anzunehmen, dass die Jungen und Mädchen missbraucht und >schwer geschädigt worden seien, doch sei die Beweisführung für eine Verurteilung nicht hinreichend.« Vor allem konnte nicht beantwortet werden, ob jeder Einzelne die ihm zur Last gelegte Tat auch wirklich begangen habe, ohne dass es vernünftige Zweifel gebe. Nach dem Freispruch wurde der Richter zum Oberbürgermeister von Mainz gewählt. - Inzwischen ist auch der dritte Prozess mit Freispruch zu Ende gegangen.
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Zurück zur Psyche
Diese Montage von Nachrichten wurde von der Zeitung (FA2) kommentarlos präsentiert, wobei im Schweigen vornehm Raum für Empörung gelassen ist. Dabei hat die gleiche Zeitung dafür gesorgt, dass die scharfe Belichtung auf die profitliche sexuelle Ausbeutung von Kindern, die der Fall Dutroux und der Kongress in Stockholm gebracht hatten, zugunsten psychologischer Feinsinnigkeit wieder verunklart wurde. Am 24. September 1996 denkt F.K. Fromme über die »gewachsene Empfindsamkeit« bei der Bestrafung von Menschen, die Kinder vergewaltigen, sensibel nach. Er konzentriert die Aufmerksamkeit jetzt wieder ganz und gar auf die Psyche des Täters, der, von unheilvollen Trieben bedrängt, nicht ein noch aus weiß. Fromme erinnert an den Sinn und Zweck von Strafen, welche in unserer Zivilgesellschaft ja nicht der Vergeltung oder Sühne gelten, sondern der Resozialisation, also der Besserung des Täters und der Sicherung der Allgemeinheit. Nach all den Lehren über den Zusammenhang von Kindesmissbrauch und Armut, Geldgier und Korruption, also nach dem Materialismus der Sache selbst, belehrt er uns: »Als überholt können heute die auf den Marxismus zurückgehenden Theorien gelten, dass Straftaten die zwangsläufige Folge einer verfehlten Gesellschaftsordnung seien«. Einfühlsam verschiebt er die Frage der Normalität instrumenteilen und geschäftlichen Umgangs mit Menschen (Frauen und Kindern vornehmlich) in den Aufruf nach Mitleid mit Perversionen. Es handele sich um eine verfehlte Triebanlage, die der Täter sich nicht selbst ausgesucht habe, mithin um eine »wirkliche Krankheit«. Zwei Tage später ergänzt der Leitartikel diese Version plural mit vernünftigen Zurechtlegungen, die Empörung und Duldung angemessen verteilen. Die Autorin plädiert zwar dafür, die Täter als durchaus »normale Durchschnittsbürger« zu mutmaßen, die immer härtere Pornos begehrten, in denen Kinder z.B. schreiend gezeigt werden, weil sie beim Missbrauch zusätzlich gequält werden, aber sie ermahnt: »Wenig überzeugend sind trotzdem die Pauschalverdächtigungen feministischer Soziologinnen, die jeden Mann zu einem potentiellen Sexualtäter machen.« Sie führten zu gesellschaftlicher Hysterie und Tabuisierung. Auch den Streit um die Dunkelziffern findet sie wenig hilfreich, denn Quantifizierung wirke in solchen Fällen immer obszön. Sie informiert mit großer Sicherheit, dass Stiefväter häufiger als Väter zu Tätern werden, weil bei letzteren das Inzesttabu greife. Sie schärft zugleich nachdrücklich ein, dass die Täter nicht krank seien, nicht von Trieben überwältigt und ihrer Sinne beraubt, sondern Männer mit normalem Sexleben und zudem auch fürsorgliche Familienväter. Im geraden Gegenteil zu Fromme hält sie sexuellen Missbrauch für eine Folge des Machtgefalles zwi-
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sehen Männern und Frauen, Erwachsenen und Kindern und plädiert schließlich dafür, die Persönlichkeiten der Kinder ebenso zu stärken wie die der Täter zu therapieren. In eine ähnliche Richtung geht Tilman Moser im Neuen Deutschland. Er möchte zwischen familiärem und kommerziellem Missbrauch scharf geschieden wissen, wiewohl ihm die Fälle familiären Kommerzes kaum unbekannt geblieben sein können. Hier in der Familie diagnostiziert er seelische Armut und Einsamkeit und Missbrauch als entgleiste Kommunikation zwischen Vater und Tochter. Mit Blick auf die Kinder warnt er vor den Zerstörungen, die solche vergiftete Liebe anrichte, und plädiert dafür, dass die Täter Hilfe suchen mögen. Den sozialen Grund, auf dem das Ganze gedeiht, bezeichnet er mit: Krieg, Entmenschlichung, Ächtung von Minderheiten, Armut und Ausbeutung. Verfügung über Menschen
Die Beliebigkeit, mit der hier ökonomische Verhältnisse, Haltungen und allgemeine Urteile aneinandergereiht werden, macht, dass die Normalität der Herrschaft von Menschen über Menschen, die Degradierung zu bloßen Lustobjekten nicht mehr als strukturelles Problem kapitalistischer Gesellschaften gesehen wird, die jetzt mit der Loslassung der Marktkräfte und damit Preisgabe der ermäßigenden, regulierenden, ethischen, eingreifenden Schutzmaßnahmen die ganze Welt in ein Rohstofflager zur Bereicherung anlagebereiter Kapitale verwandeln. Menschenhandel, Kinderpornographie, Prostitution erweisen sich dabei als ein Feld, in dem Einzelunternehmer und organisierte Banden in großem Maßstab Profite machen können. Sie sind zudem ein wichtiger Einsatzposten bei der im Kapitel über sexuelle Belästigung vorgeführten Triebmodellierung eines praktischen Rückzugs von Begehren bei gleichzeitiger gewalttätigen Besetzung des Imaginären, deren Effekte zugleich ihr proftlicher Antrieb sind. Soweit Missbrauch in der Familie ohne pekuniäre Gewinne betrieben wird, ist zumindest damit zu rechnen, dass Macht zur eigenen Bereicherung ohne Rücksicht auf den Schaden, den dies anderen zufügt, genutzt wird. Grundlage ist in allen Fällen, andere Menschen als Besitz, als verfügbar, als nutzbar zu sehen, nicht als eigene Personen mit Würde, Selbstbestimmung und eigenem Begehren. Es gilt immer noch, dass alle Verhältnisse umzustürzen sind, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein gedemütigtes Wesen ist.
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Feministisch arbeiten mit Marx Was hat er uns abgenommen an Mühe dieser schwammige Herkules Aber was hat er uns überlassen. Welchen Mangel an Illusionen. Welchen weltweiten Verlust An sicheren Werten. Welch verbreitete Unfähigkeit, sich zu unterwerfen! Und wie ausgeschlossen, unter uns Nicht an allem zu zweifeln. Seither All unsere Erfolge: nur Abschlagszahlungen Der Geschichte. Dahin die Zeit Sich nicht hinzugeben an die Sache Und wie unmöglich, nicht ans Ende zu gehen: und es nicht für den Anfang zu halten. Volker Braun Die Versicherung um das theoretische Hinterland von Erinnerungsarbeit kommt am Ende um eine Auseinandersetzung mit Marx nicht herum. Es geht darum, herauszuarbeiten, wo Marx zu beerben ist, wo er kritisch weitergeführt werden müsste, um für ein feministisches Vorhaben brauchbar zu sein. In diesem Kapitel wird daher nicht der feministische Streit um Marx wieder aufgenommen (vgl. dazu Haug, F., 1996), sondern an drei Punkten eingegriffen und Lehren aus Marx gezogen, die ich für einen heute aktuellen Feminismus weiter für sehr fruchtbar, ja unentbehrlich halte. 1 .die Bedeutung der MarxschenThesen gegen Feuerbach für feministische Forschung und Kritik an bürgerlicher Wissenschaft; 2. die Frage des Marxschen Arbeitsbegriffs, wie er einerseits die feministischen Debatten bis heute bestimmt und andererseits für eine Auseinandersetzung in der derzeitigen »Krise der Arbeitsgesellschaft« genauer erinnert und scharf gefasst werden sollte; 3. die Marxsche Fassung der Familien- und Hausarbeit, die nach meinem Dafürhalten in ihrer einseitigen Weise die gesamte Kritik der politischen Ökonomie begleitet und von daher die Kritik an der kapitalistischen Gesellschaftsformation auch in ihrer heutigen Gestalt nicht ausreichend artikuliert.
Anknüpfen an der Kritik an Feuerbach Marx schrieb in seiner kürzesten und bedeutenden Schrift, den Thesen gegen Feuerbach: »Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbach'schen mit eingerechnet) ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts od. der Anschauung gefasst
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wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus - der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt - entwickelt. Feuerbach will sinnliche - von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedne Objekte: aber er fasst die menschliche Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit. Er betrachtet daher im Wesen des Christentums nur das theoretische Verhalten als das echt menschliche, während die Praxis nur in ihrer schmutzig jüdischen Erscheinungsform gefasst u. fixiert wird. Er begreift daher nicht die Bedeutung der revolutionärem der >praktisch-kritischen< Tätigkeit.« (zit. nach MEGA IV,3, 1998) Diese Kritik am vorgefundenen Materialismus war fur die Aufnahme marxschen Denkens in die Arbeiterbewegung kaum von Bedeutung, liest sich jedoch wie eine direkte Anleitung an feministische Theorie und Praxis heute. Die Ablösung von Wissenschaft von den tatsächlichen Praxen der Menschen, die Ableitung menschlicher Aktivitäten aus obersten Kategorien, die Vernachlässigung der sinnlich menschlichen Tätigkeit sind unentbehrliche Kritikpunkte, die eine feministisch sich verstehende Wissenschaft gegen den herkömmlichen Wissenschaftskanon hält. Dass die herrschenden Sozialwissenschaften ohne die Erfahrungen und Praxen von Frauen konzipiert sind, war eine der ersten Kritiken aus der Frauenbewegung, die damit in revolutionärer Weise in vorhandene Denktraditionen eingriff, obwohl sie sich kaum oder gar nicht auf Marx' Kritik an Feuerbach bezog. (Vgl. Kapitel 3 in diesem Buch.) Ich hatte die Feuerbachthesen früh studiert und dachte sie für die ersten Auseinandersetzungen in der langsam erstarkenden Frauenbewegung zu nutzen. Wie einige sich vielleicht noch erinnern werden, gab es in den späten sechziger, frühen siebziger Jahren in den Großstädten der westlichen kapitalistischen Länder, und so auch in Westdeutschland, regelmäßig große Versammlungen von Frauen, die ihren Aufbruch und Protest dadurch artikulierten, dass sie, eine nach der anderen, wie in einem Tribunal nach vorne traten und Anklage führten gegen ihre schlechte Behandlung durch Männer. Gewalt gegen Frauen wurde eines der aufrührerischen Themen, das eine stets anwachsende Menge von Frauen in Wut und Empörung versetzte. Damals empfand ich solche Versammlungen vorwiegend als Aktionen, die zur Verzweiflung beitrugen, nicht zum Aufbruch, nicht zur notwendigen Stärke und entsprechender Tat. So formulierte ich als politischen Eingriff einen knappen Text unter dem Titel Frauen, Opfer oder Täter?12, der im Wesentlichen versuchte, einiges, 12
Der gedruckte Text erschien in erster Fassung in der Zeitschrift Das Argument 123, 1980. Er verdankt sich einem Vortrag auf der ersten Volksuniversität zu Pfingsten 1980 in West-Berlin. Er wurde in 7 Sprachen übersetzt und veröffentlicht.
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das ich aus den Feuerbachthesen gelernt hatte, auf die Frauenfrage zu übertragen. Aus den Thesen drei und sechs übernahm ich die folgenden Gedanken, die ich im Übrigen auch heute noch für wesentlich für jede Art eingreifenden Denkens halte: These 3. »Die materialistische Lehre v. der Veränderung der Umstände u. der Erziehung vergisst, dass die Umstände v. den Menschen verändert u. der Erzieher selbst erzogen werden muss. Sie muss daher die Gesellschaft in zwei Teile - von denen der eine über ihr erhaben ist - sondieren. Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände u. der menschlichen Tätigkeit od. Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst u. rationell verstanden werden.« Ich schlussfolgerte aus dieser dritten These, dass Selbstveränderung ein notwendiges Moment und selbst Bestandteil einer Umgestaltung von niederdrückenden Bedingungen sei, und es also darauf ankäme, dass jeder Eingriff in Gesellschaft, jede politische Tat von den Einzelnen auszuführen sei, um deren Befreiung es ging. Oder mit den Worten von Peter Weiss: »Wenn wir uns nicht selbst befreien, bleibt es für uns ohne Folgen.« Ein, wie mir schien, einfacher Gedanke, der es allerdings unabdingbar machte, dass Frauen mithin ihre Geschichte selbst in die Hand nehmen müssten und nicht auf ihre Befreiung durch andere, Arbeiter etwa, warten konnten. Zudem verband er die persönlichen, subjektiven Fragen mit den gesellschaftlichen Eingriffen politischer Umgestaltung, so dass weder das eine, das Interesse und die Bezugnahme auf die gesamte Gesellschaft als Bedingung unseres Lebens, noch auf uns selbst, die wir kämpfende und mittragende Akteurinnen sind, verloren gehen konnte. Die doppelte Bewegung, Selbstveränderung als eine Dimension revolutionärer Praxis anzunehmen und Frauen als politische Subjekte zu denken, brachte mich zu meiner Überraschung unvermittelt in einen heftigen Gegensatz zu den Organisationen der Arbeiterbewegung. Über 10 Jahre währte die in den verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen zornig geführte Auseinandersetzung, die mir bürgerliche Abweichung vorwarf und die unter anderem wohl auch die Privilegien der stets männlichen Führer der Arbeiterbewegung, die bis in die Ränge der Vorsitzenden der Frauenausschüsse reichten, schützen und rechtfertigen sollte. Die Ausrufung der Frauen als politische Subjekte, die sich selbst artikulieren wollten, war ja auch tatsächlich eine Ketzerei gegen einen Alleinvertretungsanspruch männlicher Arbeiterorganisation. Es gehörte zu ihrer Politik, die Fesseln in hierarchischer Anordnung zu formulieren, gegen die Befreiung zu erstreiten sei. Das »Kapital als Hauptfeind«, wie es damals umstandslos hieß, musste zu allererst gemeinsam bekämpft werden, Frauenfragen als »Nebenwiderspuch« mussten da
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warten, bis die neue Gesellschaft auf der Tagesordnung stünde. Die Kritik aus der Arbeiterbewegung richtete sich schließlich auf die Existenz der Frauenbewegung, die als bürgerlich abgekanzelt, als Störenfried so wenig in ihren tatsächlich revolutionären Dimensionen zur Kenntnis genommen wurde, wie der Zusammenhang von Kapitalismus und Frauenunterdrückung auch nur in Ansätzen begriffen war. Die von den Intellektuellen der Arbeiterorganisationen rechthaberisch und abstrakt geführte Auseinandersetzung mit der Frauenbewegung (als auch mit meinen Thesen) brachte die neue Frauenbewegung praktisch von ihrem Beginn an in einen Gegensatz zur sozialistischen Bewegung, aus der sie gleichwohl kam. Die Lage spitzte sich schnell zu, so dass viele Frauen in England, Italien, Frankreich, Deutschland aus den Organisationen der Arbeiterbewegung austraten oder sich zusätzlich extra organisierten, eine Form, die nach einem politischen Slogan der italienischen Frauenbewegung »doppelte Militanz« genannt wurde. Gegen den Alleinvertretungsanspruch, der nur die Ausbeutung durch das Kapital als Herrschaft und Unterdrückung gelten ließ, wurde die Herrschaft der Männer über Frauen als geschichtsmächtig entdeckt. Diese Abbildung allerdings rang von Anfang an mit essentialistischen Annahmen über das bessere Wesen der Frauen, formulierte Opfertheorien, wie sie in den oben angeführten Versammlungen praktisch expliziert wurden. Aber die Kritik aus der Arbeiterbewegung wurde im Grunde nicht unter Berufung auf und mit Marx geführt, der, obwohl offiziell anerkannt, kein lebendiges Moment in der Theorie der Arbeiterorganisationen war. In den Gruppen, in denen damals Marx und auch Engels eine Rolle spielten, konzentrierte man sich hauptsächlich auf das, was später »Ableitungsmarxismus« genannt wurde, eine langweilige Form, aus einigen allgemeinen Sätzen Wirklichkeit einfach herzuleiten, statt sie zu studieren. Eine relativ frühe Ausnahme bildeten eben feministische Versuche, die Frauenfrage in den Marxismus einzuschreiben, wie auch die Untersuchungen über Ideologie des Projektes Ideologietheorie (PIT 1979 ff) und die über Arbeit und Automation des Projektes Automation und Qualifikation (PAQ 1974 ff). Für die Auseinandersetzung mit den Protesten aus der Frauenbewegung schien mir gerade im Sinne einer feministischen Theorie und Praxis die These sechs aus der Kritik an Feuerbach von großem Nutzen. These 6: »Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes II2\I Abstractum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen:
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1) von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren u. das religiöse Gemüt für sich zu fixieren, u. ein abstrakt - isoliert - menschliches Individuum vorauszusetzen. 2) Das Wesen kann daher nur als >Gattung