Von der Sinnlichkeit des Menschen. Mit Ludwig Feuerbach im postkolonialen Anthropozän der Gegenwartskunst [1. ed.] 9783837669213, 9783839469217


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Inhalt
Einleitung: Warum heute wieder Feuerbach?
1. Mit Feuerbach im postkolonialen Anthropozän
Erste Szene des Menschen
2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel
2.1 Descartes und das solipsistische Bewusstsein des Kolonialismus
2.2 Homo homini Deus est: Menschliche Subjektivität zwischen Poly‑ und Monotheismus
2.3 Feuerbachs Abwendung von Hegel
2.4 Hegel auf Haiti: Herren, Knechte und andere sinnliche Verhältnisse
Zweite Szene des Menschen
3. Gesellschaftliche Verhältnisse: Feuerbach, Marx, Engels und Foucault
3.1 Der Mensch als Subjektivierungsweise
3.2 Subjektivität, Geist und Sinnlichkeit
Dritte Szene des Menschen
4. Marx, Engels und der Mensch als Gattungswesen
4.1 Von der ursprünglichen Akkumulation zur Einhegung sinnlicher Verhältnisse mit Federici
4.2 Das gekappte Verhältnis zu anderem und anderen im Kapitalozän
Vierte Szene des Menschen
5. Feuerbachs Anthropologie zwischen Kant und Foucault
5.1 Foucaults empirisch‐transzendentale Dublette und der weiße Mensch
5.2 Die moderne Wissensordnung und das koloniale Erbe Europas
Fünfte Szene des Menschen
6. Spivak, Derrida, Foucaults europäischer Mensch und der Kolonialismus
6.1 Der Mensch als Abfall: Die Plebs im Werk von Foucault
6.2 Derridas Enden des Menschen
Sechste Szene des Menschen
Ausblick: Die Sinnlichkeit des Menschen
Quellenverzeichnis
Monografien und Sammelbände
Aufsätze, Artikel, Vorlesungen und Gespräche
Filme
Internetquellen
Abbildungsverzeichnis
Danksagungen
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Von der Sinnlichkeit des Menschen. Mit Ludwig Feuerbach im postkolonialen Anthropozän der Gegenwartskunst [1. ed.]
 9783837669213, 9783839469217

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Stefan Hölscher Von der Sinnlichkeit des Menschen

Postcolonial Studies Band 49

Editorial Die Postkoloniale Forschung hat die Kritik am Kolonialismus in der Geschichte sowie dessen Erbe in der Gegenwart auf das politische und wissenschaftliche Tableau gebracht. Die damit zusammenhängende Theoriebildung zeigt nicht zuletzt die tiefe Verstrickung europäischer Wissenschaft mit der Geschichte und Gegenwart des Kolonialismus auf. Längst interveniert die postkoloniale Kritik auch in politische und öffentliche Diskussionen gegen das Vergessen der kolonialen Vergangenheit und regt wichtige Debatten etwa zum gesellschaftspolitischen Umgang damit an. Die Reihe Postcolonial Studies bietet diesen Diskussionen einen eigenen editorischen Raum, unabhängig von disziplinaren Grenzen.

Stefan Hölscher (PD Dr.), geb. 1980, ist Projektleiter beim Türkischen Bund in BerlinBrandenburg. Seit 2009 lehrt er an verschiedenen theaterwissenschaftlichen Instituten und Kunsthochschulen. Er promovierte am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen (2015) und habilitierte an der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum (2022).

Stefan Hölscher

Von der Sinnlichkeit des Menschen Mit Ludwig Feuerbach im postkolonialen Anthropozän der Gegenwartskunst

Der Abdruck der Schmuckzitate vor den Hauptkapiteln erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Anthony Bogues, Dagmar Schultz, des Argument Verlags (Hamburg), des Orlanda Verlags (Berlin), des Suhrkamp Verlags (Berlin) und des Unrast Verlags (Münster). Mit freundlicher Unterstützung der Studienstiftung Niessen und der FONTE Stiftung zur Förderung des geisteswissenschaftlichen Nachwuchses.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-n b.de abrufbar.

© 2024 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Still aus dem Dokumentarfilm Chinafrika.mobile von Daniel Kötter, 2017 (mit freundlicher Genehmigung des Künstlers) Korrektorat: Petra Schäfter, textetage Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839469217 Print-ISBN: 978-3-8376-6921-3 PDF-ISBN: 978-3-8394-6921-7 Buchreihen-ISSN: 2703-1233 Buchreihen-eISSN: 2703-1241 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Inhalt

Einleitung: Warum heute wieder Feuerbach? ..................................................9 1.

Mit Feuerbach im postkolonialen Anthropozän .......................................... 23

Erste Szene des Menschen Rugilė Barzdžiukaitės, Vaiva Grainytės und Lina Lapelytės Sun & Sea (2017) .................... 55 2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel ............................................................79 2.1 Descartes und das solipsistische Bewusstsein des Kolonialismus .......................... 82 2.2 Homo homini Deus est: Menschliche Subjektivität zwischen Poly- und Monotheismus ....... 95 2.3 Feuerbachs Abwendung von Hegel ........................................................109 2.4 Hegel auf Haiti: Herren, Knechte und andere sinnliche Verhältnisse......................... 127 Zweite Szene des Menschen Grada Kilombas Illusions Vol. I, Narcissus and Echo (2016)...................................... 133 3. Gesellschaftliche Verhältnisse: Feuerbach, Marx, Engels und Foucault .................159 3.1 Der Mensch als Subjektivierungsweise.....................................................168 3.2 Subjektivität, Geist und Sinnlichkeit ....................................................... 172 Dritte Szene des Menschen Monira Al Qadiris Behind the Sun (2013) ........................................................ 181 4. Marx, Engels und der Mensch als Gattungswesen .......................................195 4.1 Von der ursprünglichen Akkumulation zur Einhegung sinnlicher Verhältnisse mit Federici .. 209 4.2 Das gekappte Verhältnis zu anderem und anderen im Kapitalozän .......................... 217

Vierte Szene des Menschen Daniel Kötters und Jochen Beckers Chinafrika.mobile (2017)................................... 225 5. Feuerbachs Anthropologie zwischen Kant und Foucault ................................ 261 5.1 Foucaults empirisch-transzendentale Dublette und der weiße Mensch ..................... 266 5.2 Die moderne Wissensordnung und das koloniale Erbe Europas ............................ 274 Fünfte Szene des Menschen Abou Bakar Sidibés Les Sauteurs. Those Who Jump (2016) ...................................... 281 6. Spivak, Derrida, Foucaults europäischer Mensch und der Kolonialismus .............. 299 6.1 Der Mensch als Abfall: Die Plebs im Werk von Foucault .................................... 307 6.2 Derridas Enden des Menschen.............................................................319 Sechste Szene des Menschen Anta Helena Reckes Mittelreich (2017) ......................................................... 329 Ausblick: Die Sinnlichkeit des Menschen .................................................. 373 Quellenverzeichnis ...........................................................................381 Monografien und Sammelbände................................................................381 Aufsätze, Artikel, Vorlesungen und Gespräche ................................................. 390 Filme ........................................................................................ 397 Internetquellen............................................................................... 397 Abbildungsverzeichnis ...................................................................... 399 Danksagungen ...............................................................................401

»Indem nun so alles wahrhaft Wirkliche, Allgemeine, Wesenhafte, aller Geist, Seele und Essenz aus dem wirklichen Leben, der Natur und Weltgeschichte verschwunden ist, alles massakriert, in seine Teile aufgelöst, zertrennt, sein-, einheits-, geist-, seelenlos gemacht ist, so pflanzt nun das Individuum auf den Trümmern der zerstörten Welt die Fahne des Propheten auf, das heilige Schandsacscherif des Glaubens an seine Unsterblichkeit und das gelobte Jenseits. Auf den Ruinen des gegenwärtigen Lebens, in dem es nichts sieht, erwacht ihm zugleich das Gefühl und Bewußtsein seines eignen, innerlichen Nichts und in dem Gefühl dieses zweifachen Nichts entquillt ihm, gleich einem Scipio auf den Trümmern von Karthago, die barmherzige Tränenperle und Seifenblase der zukünftigen Welt; über die Kluft, die zwischen dem gegenwärtigen Leben, wie es in Wahrheit ist, und seiner Anschauung und Vorstellung von ihm liegt, über die Poren und die Leere seiner Seele baut es die Eselsbrücke der Zukunft. Nachdem es die Fruchtbäume, die Rosen und Lilien der gegenwärtigen Welt verwelken ließ, Gras, Kraut und Korn abgesichelt und die ganze Welt in ein saftloses Stoppelfeld verwandelt hat, so entsproßt ihm noch zu guter Letzt in dem leeren Gefühl seiner Leerheit und dem kraftlosen Bewußtsein seiner Eitelkeit, als ein schwacher Schein und mattes Traumbild des lebendigen frischen Blumenflors, die charakterlose, blaßrote, farbenverbleichte Herbstzeitlose der Unsterblichkeit. Da dem Subjekt, weil in ihm selbst nichts ist als das wahrheitslose Subjekt selbst, auch außer ihm nichts Gegenstand ist als das Zeitliche und Vergängliche, das Endliche, Unwahre und Unwirkliche der wirklichen Welt, so ist natürlich für es die wirkliche Welt eine nicht wirkliche, zukünftige, jenseitige, denn das Jenseits ist weiter nichts als die verkannte, miß- und unverstandne wirkliche Welt. Das Subjekt kennt nur den Schatten, den oberflächlichen Außenschein der wirklichen Welt, weil es in sich selbst nur flach und hohl ist, es nimmt den Schatten der Welt für die Welt selbst; die wirkliche wahre Welt selbst ist daher notwendig für es nur ein Schatten, das Traumbild und Phantasiestück der Zukunft.«

– Ludwig Feuerbach (1830)

Einleitung: Warum heute wieder Feuerbach?

Ludwig Feuerbach war ein schon früh akademisch gescheiterter Philosoph, der nach Auswegen aus der Subjektivität des modernen europäischen Subjekts suchte. Ausgehend von Baruch Spinozas in Amsterdam verorteter Philosophie und dem deutschen Idealismus entwickelt sich sein Denken in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen Bayern und Berlin. Erst studiert er Theologie, dann Philosophie bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel, von dem er zunächst begeistert ist, bis er sich von dessen Vorstellung eines Weltgeistes distanziert und Fragen des Menschen zuwendet. »Der einzelne Mensch für sich hat das Wesen des Menschen nicht in sich […]. Das Wesen des Menschen ist nur in der […] Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten – eine Einheit, die sich aber nur auf die Realität des Unterschieds von Ich und Du stützt«1 , wird er in Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843) gegen Hegels teleologisch voranschreitendes System einwenden und damit auf dem Bezug mehrerer Subjektivitäten aufeinander bestehen, die sich sinnlich begegnen. Während Hegel den Geist als eine dritte Instanz proklamiert, die zeitlich zwischen ersten und zweiten Personen vermittelt, weist Feuerbach auf deren räumliche Differenz hin. »Ich bin nicht Du, Du bist nicht Ich – ist die Grundbedingung, das Grundprinzip aller Bildung und Humanität«2 , notiert er in höherem Alter zu einer seiner dann gehaltenen Vorlesungen. Warum heute theaterwissenschaftlich mit einer Arbeit habilitieren, die Feuerbach einer Neulektüre unterzieht und ihn unter Gesichtspunkten eines ›postkolonialen Anthropozäns‹ mit sechs exemplarischen Positionen der Gegenwartskunst ins Verhältnis

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Ludwig Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, in: ders., »Werke in sechs Bänden, Band 3, Kritiken und Abhandlungen II (1839–1843)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975, S. 321. Im Folgenden wird hin und wieder im generischen Sinne vom Menschen im Maskulinum die Rede sein. Mitgemeint sind damit, wenn nicht gerade von weißen europäischen Männern gesprochen wird, alle Genres und Gender sowie nicht-binäre Menschen. Die in Klammern gesetzten Jahresangaben hinter den Titeln einzelner Texte beziehen sich auf das Datum ihrer Erstveröffentlichung. Bei Übersetzungen wird das Publikationsdatum des entsprechenden Werkes in der Originalausgabe genannt. Hervorhebungen in den wörtlichen Zitaten finden sich alle im jeweiligen Original. Ludwig Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, Grafrath: Boer, 2020, S. 420.

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

setzt?3 Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten und führt die Theaterwissenschaft zunächst aus sich heraus, um sie auf anderen Feldern mit Problemen zu konfrontieren, die nicht ihre eigenen sind, aber vielleicht auf sie zurückwirken. Gleichsam soll hier der Versuch unternommen werden, auf Umwegen zu Fragen des Theaters als eines Raums der sinnlichen Anschauung, Begegnung und Subjektivierung von Menschen zu gelangen. Geplagt von kirchlicher und staatlicher Zensur und während der »Formierung und Einhegung der Arbeiterklasse«4 zur Zeit des deutschen Vormärz schreibend, schlägt Feuerbach einen emphatischen Begriff des Menschen vor. Dabei wendet er sich von pantheistischen Lesarten Spinozas ebenso ab wie vom Subjektivismus des deutschen Idealismus und plädiert für ein sinnliches, relationales Konzept des Gattungswesens vieler Menschen und für ein Verständnis von Natur als deren geologischen ebenso wie historischen Zusammenhang. »Die Natur hat keinen Anfang und kein Ende. Alles in ihr steht in Wechselwirkung, Alles ist relativ, Alles zugleich Wirkung und Ursache, Alles in ihr ist Allseitig und gegenseitig; sie läuft in keine monarchische Spitze aus; sie ist eine Republik«5 , erklärt er Ende der 1840er Jahre seinen Zuhörer*innen aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und Ständen. Er spricht öffentlich, nachdem ihn, obwohl seine akademische Laufbahn wegen Vorwürfen der Gotteslästerung seit Längerem beendet war, dortige Studierende ins Heidelberger Rathaus eingeladen hatten, um sie für drei Monate und dreimal pro Woche abendlich an seinem Denken teilhaben zu lassen. Der Philosoph des deutschen Vormärz ist heute, anders als Hegel, dessen Subjektivismus er philosophiegeschichtlich auf das Cogito von René Descartes zurückführt und in mehreren Etappen seines Schaffens einer eingehenden Kritik unterzieht, fatalerweise in Vergessenheit geraten, genauso wie sein Ruf nach einer ›Philosophie der Zukunft‹, die er aus der Sinnlichkeit des Menschen heraus Praxis werden lassen will. »Haben wir denn ein anderes Merkmal, ein anderes Kriterium einer Existenz außer uns, einer vom Denken unabhängigen Existenz, als die Sinnlichkeit?«6 , fragt Feuerbach in der dreizehnten seiner Vorlesungen über das Wesen der Religion von 1848/49 eher sich als seine Zuhörer*innen, rund dreieinhalb Jahrzehnte vor der in Berlin tagenden Kongokonferenz von 1884/85, in deren Rahmen der afrikanische Kontinent unter den europäischen Kolonialmächten aufgeteilt wurde. Diese Selbstbefragung ist im Heidelberger Rathaus damals wohl ebenso verhallt wie seine Schriften später vergessen worden sind. Allzu oft hat Feuerbachs Rede von der Sinnlichkeit des Menschen zu Missverständnissen geführt. In sei-

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Der ›Gegenwartskunst‹ werden hier mit Juliane Rebentisch heterogene Praktiken zugeschrieben, die eine kritische Haltung gegenüber dem teleologischen Gestus der (künstlerischen) Moderne verbindet. Anstatt einer Fetischisierung von ›Gegenwart‹ meint Gegenwartskunst somit »nicht das Ende der Kunst und ihrer Geschichte, sondern lediglich das Ende einer bestimmten Kunsttheorie beziehungsweise Ästhetik samt ihrem eindimensionalen Modell von Fortschritt und historischer Entwicklung«. Dies., Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg: Junius, 2013, S. 17. Patrick Eiden-Offe, Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats, Berlin: Matthes & Seitz, 2017, S. 36. Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, S. 137. Bezüglich eines historisch gefassten Naturbegriffs vgl. auch Theodor W. Adorno, Die Idee der Naturgeschichte, in: ders., »Philosophische Frühschriften«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003. Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, S. 156.

Einleitung: Warum heute wieder Feuerbach?

nen öffentlichen Vorlesungen versucht er erneut zu präzisieren, was er darunter versteht. »Diejenigen, die sich an dem Worte: Sinnlichkeit stoßen, weil der Sprachgebrauch nur die Begehrlichkeit darunter versteht, bitte ich zu bedenken, daß nicht nur der Bauch, sondern auch der Kopf ein sinnliches Wesen ist. Sinnlichkeit ist bei mir nichts anderes als die wahre, nicht gedachte und gemachte, sondern existierende Einheit des Materiellen und Geistigen, ist daher bei mir so viel als wie Wirklichkeit.«7 Sinnlichkeit als ›Wirklichkeit‹ kann für Feuerbach – hier berührt sein Schreiben wichtige Themen des epischen Theaters – nicht aufseiten einzelner Subjekte verankert werden, sondern nur zwischen ihnen, in ihren Verhältnissen zueinander.8 Wie der späte Friedrich Engels Feuerbachs Begriff der Sinnlichkeit auf den Bereich der Sexualität zu beschränken, wäre falsch. Im Kontrast zu Hegel, für den »das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken«9 ist, versteht Feuerbach unter Sinnlichkeit nicht das Denken eines Anderen, mit dem Vereinigung erstrebt wird, sondern das Andere des Denkens, von dem jedes Subjekt des Denkens abhängt, mit dem es sich ins Verhältnis setzen muss und in Bezug auf das Subjektivität statthat, obwohl es ihr äußerlich bleibt, »denn nur da, wo ich aus einem Ich in ein Du umgewandelt werde, wo ich leide, entsteht die Vorstellung einer außer mir seienden Aktivität, d.i. Objektivität. […] Was ich ohne Sinnlichkeit denke, denke ich ohne und außer aller Verbindung.«10 Obwohl Feuerbach nicht über Theater schreibt, kann die Theaterwissenschaft viel von ihm lernen. Im Gegensatz zu verfügendem Denken und dessen, wie Hegel das Selbstbewusstsein des Geistes an prominenter Stelle beschreibt, »Rückkehr aus dem Anderssein«11 , verweist Sinnlichkeit laut Feuerbach auf Empfindungen, in denen »die tiefsten und höchsten Wahrheiten verborgen«12 seien und auf eine Empfänglichkeit, die jeder Form

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Ebd., S. 23. Insofern schlägt die vorliegende Schrift vor, entlang von Feuerbachs Konstellation aus Ich und Du Theater eher als Raum von Subjektivierungsweisen denn als Ort einer Subjektkonstitution zu verstehen. Sie schlägt deshalb einen anderen Weg ein als mancher Beitrag in Friedemann Kreuder, Michael Bachmann, Julia Pfahl und Dorothea Volz (Hg.), Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion, Bielefeld: transcript, 2012. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes. Werke 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986, S. 22. Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, S. 299. Dort entwickelt er diesen Gedanken an früherer Stelle zunächst so: »Im Denken bin ich absolutes Subjekt, ich lasse alles nur gelten als Objekt oder Prädikat von mir, dem Denkenden, bin intolerant; in der Sinnentätigkeit dagegen bin ich liberal, ich lasse den Gegenstand sein, was ich selber bin – Subjekt, wirkliches, sich selbst betätigendes Wesen. Nur der Sinn, nur die Anschauung gibt mir etwas als Subjekt.« Ebd., S. 287. Im 21. Jahrhundert wird Achille Mbembe schreiben: »War es jemals möglich, ist es überhaupt möglich und wird es jemals möglich sein, dem Anderen anders zu begegnen denn als einem schlichtweg dort, gleich vor mir gegebenen Objekt? Gibt es irgendetwas, das uns mit anderen verbände, sodass wir gemeinsam sagen könnten, dass wir sind?« Ders., Politik der Feindschaft, Berlin: Suhrkamp, 2017, S. 77. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 138. Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, S. 301.

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

von Selbstbewusstsein vorausgehen und es in etwas nicht mit ihm Identisches verstricken, dem es außerhalb seiner selbst begegnet und das es nicht vergegenständlichen kann. Sinnlichkeit als Empfänglichkeit, auf deren unüberbrückbarer Differenz zum Innenraum von Subjektivität Feuerbach Zeit seines Lebens nicht nur gegen Hegel besteht und die er, hierin bleibt er Spinoza treu, keinem Geist unterordnet und keinem alleinigen Subjekt zuschreibt, lässt sich ihm zufolge nirgendwo aufheben, denn »alles, was ist, alles Sinnliche, Wirkliche ist eine Ursache bestimmter Wirkungen, aber eine Ursache, die selbst bewirkt ist, selbst eine Ursache wieder hat und so fort«13 . Mit Feuerbach, so die hier noch weiterzuverfolgende These, hat bereits im 19. Jahrhundert eine Abkehr vom gewaltsamen Subjektivismus Europas stattgefunden, der sich auch im vom Deutschen Reich begangenen Genozid an den Herero und Nama von 1904–08 in der damaligen deutschen Kolonie Deutsch-Südwestafrika manifestierte und dessen geologische Spätfolgen wir gegenwärtig auf anderen Skalen erleben. Feuerbachs ›Philosophie der Zukunft‹ weist dem abendländischen Denken eine andere Richtung als diejenige Hegels und auch die, welche es historisch eingeschlagen hat. Zwar situiert Feuerbach sein Denken nicht in europäischer Kolonialgeschichte, markiert den Ort seines Sprechens aber hinsichtlich der Genealogie einer zunächst lokalen und dann globalen Form von Subjektivität, wenn er den Zuhörer*innen der Vorlesungen über das Wesen der Religion, die er zwischen dem 1. Dezember 1848 und dem 2. März 1849 vor einem gemischten Publikum im Heidelberger Rathaussaal hält, gesteht: »Ich bin, was ich bin, nur als Sohn des 19. Jahrhunderts, nur ein Teil der Natur, wie sie in diesem Jahrhundert beschaffen ist; denn auch die Natur verändert sich, darum hat jedes Jahrhundert seine eigene Krankheit, und ich bin nicht durch meinen Willen in dieses Jahrhundert versetzt worden.«14 Im Rahmen seiner Vorlesungen über das Wesen der Religion (1851), in denen er ein akademisches Publikum ebenso wie Menschen ohne jegliche Vorbildung adressiert, versucht Feuerbach, sein bisheriges Denken auf eine nicht nur Akademiker*innen verständliche Weise zusammenzufassen. Von enormer Bedeutung ist für ihn zu diesem Zeitpunkt und seit mehr als einem Jahrzehnt die Abkehr vom Subjektivismus des deutschen Idealismus, der ihm zufolge in Hegels Vorstellung eines zu sich selbst kommenden Weltgeistes seine kondensierte Form gefunden hat. Gegenüber dem ›Kampf um Anerkennung‹ zwischen

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Ders., Vorlesungen über das Wesen der Religion, S. 129. Feuerbach denkt selbstverständlich nicht im luftleeren Raum. Obwohl er sich, wie andere weiße Philosophen Deutschlands im und nach dem 18. Jahrhundert, leider nicht auf Anton Wilhelm Amo bezieht, trifft sich seine Emphase der Sinnlichkeit doch mit der seines guineischen Vorgängers, wenn dieser in seiner Auseinandersetzung mit dem Cogito von Descartes bereits ein Jahrhundert zuvor schreibt: »Alles, was empfindet, das lebt. Alles, was lebt, nimmt Nahrung auf. Alles, was lebt und Nahrung aufnimmt, wächst. Alles, was von dieser Art ist, wird schließlich in seine Urstoffe (prima principia) aufgelöst. Alles, was in seine Urstoffe aufgelöst wird, ist aus Urstoffen zusammengesetzt (principiatum). Alles, was aus Urstoffen zusammengesetzt ist, hat seine konstitutiven Teile. Alles, was von dieser Art ist, ist ein teilbarer Körper. Wenn also die menschliche Seele empfindet, so folgt daraus, daß sie ein teilbarer Körper ist.« Zitiert in Ottmar Ette, Anton Wilhelm Amo. Philosophieren ohne festen Wohnsitz – Eine Philosophie der Aufklärung zwischen Europa und Afrika, Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2020, S. 65. Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, S. 219.

Einleitung: Warum heute wieder Feuerbach?

einzelnen Subjekten hebt er immer wieder die Verstrickung mehrerer Subjektivitäten ineinander hervor, die eine ihnen gemeinsame Natur bewohnen und sich, so fordert er, anderen Subjektivitäten gegenüber öffnen sollten, anstatt sie zu sich hinzuziehen und in sich aufzuheben. Hegels »Kampf auf Leben und Tod«15 hält er dabei die Zweierkonstellation aus Ich und Du entgegen. Zwar beschäftigt sich Feuerbach als Kind seiner Zeit nicht explizit mit Kolonialgeschichte. Im Gegensatz zu Hegel jedoch will er keine Universalgeschichte schreiben, in deren Verlauf etwa der Polytheismus vom Monotheismus und andere Religionen vom Christentum ebenso ersetzt würden wie der Rest der Welt von Europa. Vielmehr beschreibt er einen intimen Zusammenhang zwischen der Religion des Christentums und einer Form von Subjektivität, die er in der europäischen Philosophiegeschichte mit dem Cogito von Descartes einsetzen lässt und auf gesellschaftshistorischer Ebene der modernen Herausbildung des bürgerlichen Individuums zugrunde liegen sieht. Ihm zufolge schließt der Geist des Christentums die Subjektivierungsweisen mehrerer Menschen und deren sinnliche Verhältnisse in der Subjektform der individuellen Person ein, die sich aus sinnlichen Zusammenhängen löst. Hierzu notiert er in höherem Alter: »Das Wesen des Christentums, wie ich es in der diesen Titel führenden Schrift mit einem philosophischen Ausdruck ganz richtig bezeichnete, ist die Subjektivität im guten und schlimmen Sinne des Wortes – die Subjektivität, d.h. die von den Schranken der Natur emanzipierte, damit freilich von den Lüsten, aber auch den Lasten des Fleisches erlöste Seele oder Persönlichkeit des Menschen, oder vielmehr der vergötterte uneingeschränkte, übernatürliche Glückseligkeitstrieb.«16 Feuerbachs wohl wichtigster Kritikpunkt am Konnex aus Monotheismus, Subjektphilosophie und moderner Subjektivität richtet sich gegen deren Ausblendung einer mit ihnen nicht identischen Alterität. Während Hegel immer wieder prüfen will, »ob der Begriff dem Gegenstande entspricht«17 , besteht Feuerbach auf der Differenz zwischen denkender Subjektivität und den von dieser gedachten anderen Subjektivitäten, die sie anschaut und denen sie begegnet. Sich selbst bezeichnet er in seinen Heidelberger Vorlesungen polemisch als polytheistischen Atheisten.18 Vor allem während der 1840er Jahre und in den zwischen Das Wesen des Christentums (1841) und seinen Heidelberger Vorlesungen entstandenen Schriften hebt er immer wieder hervor, dass vorchristliche Religionen aus der Einsicht in die ›Mannigfaltigkeit‹ und ›Verschiedenheit‹ der Natur heraus entstanden seien und reproduziert damit leider auch eine allzu europäische Phantasie. Diese Einsicht ist ihm zufolge vom Christentum und durch die aus ihm folgende Figur des Individuums verschüttet worden, denn, wie er zu den sein Werk zusammenfassenden Vorlesungen von 1848/49 anmerkt: »So wenig man aus dem monotheistischen Gott als einem wesentlich von der Natur unterschiedenen Wesen die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Natur über15 16 17 18

Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 148f. Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, S. 457. Hegel, Die Phänomenologie des Geistes, S. 77. Vgl. Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, S. 53.

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

haupt, so wenig kann man aus ihm auch die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der menschlichen Natur insbesondere und deren Konsequenz, die Berechtigung der verschiedenen Religionen ableiten. Aus der Einheit des monotheistischen Gedankenwesens folgt nur die Einheit und Gleichheit der Menschen, also auch, die Einheit des Glaubens. Die Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit des Menschenwesens, worauf die religiöse Toleranz und Indifferenz sich gründen, stammt nur aus dem polytheistischen Prinzip der sinnlichen Anschauung. Daß Ich nicht der einzige Mensch bin, daß noch andere Menschen außer mir sind, das sagt mir ja nur der Sinn, nur die Natur; aber das innerliche Quäkerlicht, der von der Natur unterschiedene Gott, das von den Sinnen abgesonderte Vernunftwesen sagt mir nur, daß Ich, dieser Eine bin, und fordert daher von dem Anderen, wenn sich einer finden sollte, daß er denken und glauben soll wie Ich, denn vor der Realität der monotheistischen Einheit verschwindet die Realität des Unterschieds, die Realität des Anderen […].«19 Hierin liegt auch seine Kritik der Philosophie Hegels begründet. Während Hegels ›Kampf um Anerkennung‹ nicht ohne die gewaltsame gegenseitige Vergegenständlichung von Subjekten vonstatten gehen kann, die Realität jeweils in sich selbst zentrieren und anderen absprechen, fordert Feuerbach eine Dezentrierung von Subjektivität. Hierin will er seine ›Philosophie der Zukunft‹ vom Christentum und vom Subjektivismus des Geistes, der andere sich selbst opfert, unterschieden wissen. Er weist seine Zuhörer*innen darauf hin, dass die Annahme falsch sei, die christliche Religion habe das Menschenopfer ihr vorangegangener Religionen abgeschafft. »Sie hat aber an die Stelle der blutigen Menschenopfer nur Opfer anderer Art – an die Stelle des körperlichen Menschenopfers das psychische, geistige Menschenopfer gesetzt, das Menschenopfer, welches zwar nicht dem sinnlichen Scheine, aber der Tat und Wahrheit nach ein Menschenopfer ist«20 , warnt er sie. Feuerbach zufolge kappen das Christentum und der auf es folgende Individualismus sinnliche Verhältnisse zwischen Menschen und zwischen ihnen und Natur und opfern sie einer Idee von Subjektivität, die anderer nur um ihrer selbst willen bedarf.

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Ebd., S. 438. Hieran wird deutlich, inwiefern Feuerbachs Projekt einer Umwandlung von Theologie in Anthropologie eine bis heute uneingelöste Anthropologie verspricht, welche die Verstrickung mehrerer Subjektivitäten mitbedenkt und mit der sich nur schwer, wie in der europäischen Kolonialgeschichte geschehen, anthropologische Untersuchungsobjekte konstruieren lassen. Johannes Fabian schreibt hierzu: »Keep in mind that our problem is to understand the obstinate use of the third person in a genre which, by the dominance of the present tense, is clearly marked as discourse/commentary pronounced by an I, first person singular. As it turns out, the problem may not be one of contradiction but of confusion. The fundamental communicative situation which encompasses the genres of discourse/commentary is dialogical: An I addresses (reports to) a you. But only the first and second persons are distinguished along the axis of personness. The grammarian’s ›third person‹ is opposed to the first and second person as a nonparticipant in the dialogue.« Ders., Time and the Other. How Anthropology Makes its Object, New York: Columbia University Press, 1983, S. 84f. Gegenüber der Ungleichzeitigkeit dritter bezüglich erster Personen macht Feuerbach immer wieder die Verstrickung von Ich und Du in ihnen gemeinsamen Begegnungen stark. Vgl. hierzu auch Tim Ingold, Anthropologie. Was sie bedeutet und warum sie wichtig ist, Wuppertal: Peter Hammer, 2019. Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, S. 99.

Einleitung: Warum heute wieder Feuerbach?

Für Feuerbach meint Religion, im Sinne von religare, im Polytheismus, der dem Christentum vorangehe und den es gleichzeitig in sich enthalte, ohne ihn zu überwinden, die Eigenschaft eines Wesens, »das sich notwendig auf ein anderes Wesen bezieht«21 , und zwar sinnlich, denn »die ersten und untrüglichsten, durch keinen Priesterbetrug erstellten Religionsurkunden des Menschen sind seine Sinne«22 . Dem religiösen und philosophischen Subjektivismus seiner Zeit, der – wie in der vorliegenden Arbeit gezeigt werden soll – in europäische Kolonialgeschichte ebenso wie in die aktuelle Klimakrise eingegraben ist und Subjektivität in eine Plantage verwandelt, wirft er vor, eine grundlegende Bezugsweise zu verkennen, während er die Welt mit Worten ausleuchtet: »Der durch das Wort wirkende und schaffende Geist und Wille des Menschen, namentlich des despotisch oder monarchisch gebietenden Menschen ist also das, wovon der Monotheist ausgeht, ist das Urbild seiner Phantasie, seiner Einbildungskraft.«23 Während Hegel, laut Feuerbach in der Tradition des Christentums verbleibend, da er Gott in einen Geist verwandelt, der die Welt heimsucht, alles in ein Subjekt hereinholen will, dessen Zentrum er in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1837) mit Preußen identifiziert, möchte Feuerbach sinnlich aus diesem einen, einzigen und einsamen Subjekt heraustreten, es dezentrieren und mit weiteren Subjektivitäten in ein ›föderales‹ Verhältnis setzen.24 Dem Bedürfnis des religiösen und philosophischen Subjektivismus, die vielen Menschen und Teile der Natur aus nur einem Wesen abzuleiten oder auf nur ein Wesen zurückzuführen, und auch denen, die ihm selbst mangelnde Historizität vorwerfen, hält er die Verstrickung vieler Kräfte und Wirkmächte ineinander entgegen. In seiner elften Heidelberger Vorlesung stellt er fest: »Selbst innerhalb der in das Bewußtsein des Menschen fallenden, historischen, ja vom Menschen selbst produzierten Dinge sehen wir, wie der Mensch teils aus Unwissenheit allerdings, teils aber auch aus bloßer Abkürzungs- und Bequemlichkeitsliebe die historischen Untersuchungen abbricht, an die Stelle vieler Namen, vieler Ursachen, die es zu weitläufig, zu lästig wäre zu verfolgen, und die sich auch oft gänzlich den Augen des Menschen entziehen, Eine Ursache, Einen Namen setzt. Wie der Mensch an die Spitze einer Erfindung, der Gründung eines Staats, der Erbauung einer Stadt, der Entstehung eines Volkes den Namen Eines Individuums setzt, obgleich eine Menge von unbekannten Namen und Individuen daran mitgewirkt haben, so setzt er auch an die Spitze der Welt den Namen Gottes, gleichwie denn auch alle Erfinder, Städte- und Staatengründer ausdrücklich für Götter galten.«25

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Ebd., S. 49. Ebd., S. 120. Ebd., S. 256. »Der germanische Geist ist der Geist der neuen Welt, deren Zweck die Realisierung der absoluten Wahrheit als der unendlichen Selbstbestimmung der Freiheit ist, der Freiheit, die ihre absolute Form selbst zum Inhalte hat. Die Bestimmung der germanischen Völker ist, Träger des christlichen Prinzips abzugeben«, heißt es dagegen in Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke 12, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986, S. 413. Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, S. 130. Diese von Feuerbach Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten Gedanken erinnern spätere Leser*innen frappierend an Gabriel Tarde, Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2008, das gegen Ende desselben Jahrhunderts publiziert wurde.

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

Obwohl Feuerbach sich nur am Rande mit europäischer Kolonialgeschichte beschäftigt, werden seine Schriften im Folgenden posthum mit Texten anti-, de- und postkolonialer Theorie in Verbindung gebracht. Feuerbach kann ebenso helfen, diese anders zu lesen, wie sich mit ihnen eine neue Lektüre seines Werks auftut: Die individualistische Subjektivität, die er zwischen dem Ende der 1820er und den späten 1840er Jahren in ihrer historischen Genese treffend analysiert und kritischen Hinterfragungen unterzieht, um in Absetzung davon sein emphatisches Konzept des Menschen herauszuarbeiten, wird hier als eine europäische Subjektform verstanden, weiß markiert und mit aktuellen Debatten zum sogenannten Anthropozän konfrontiert. Obwohl Feuerbach selbst ein weißer Philosoph war, hat er sich doch dezidierter als manch andere weiße Philosoph*innen vor und nach ihm kritisch mit einer zunächst lokalen und dann globalen Subjektivität auseinandergesetzt und seine Leser*innen daran erinnert, dass es mehr als nur einen Menschen gibt. Hätte er von seiner Nachwelt die Aufmerksamkeit erhalten, die er verdient, wäre es vielleicht schon früher möglich gewesen, den Individualismus als eine weiße Subjektform und die mit ihr verbundene Verwandlung von Subjektivität in eine Plantage zu problematisieren, auf die auch die aktuelle Klimakrise zurückgeführt werden kann.26 Wenn Walter D. Mignolo aus dekolonialer Perspektive fordert, dass »we need to move from universality to pluriversality; to decolonize the imperial concept of the Human and to build decolonial notions of Humanity«27 , dann könnte Feuerbach ein möglicher Verbündeter solcher Projekte sein, obwohl sein Schreiben in und nicht außerhalb von Europa stattfand. »Die Erde ist ein Planet, der Mensch ein Planetenwesen, ein Wesen, dessen Lebenslauf nur in der Laufbahn eines Planeten möglich und wirklich ist«28 , hält er in seiner elften Heidelberger Vorlesung fest und verortet bereits zuvor Denken in Körpern, in denen er die »Existenz des Menschen«29 sich manifestieren sieht. Ihm zufolge ist Denken an Körper gebunden, die mit anderen Körpern verstrickt sind, nicht an Begriffe, die das Verhältnis zwischen ihnen stillstellen. Sein Denken ist ein Denken von und in Beziehungsweisen30 , deren sinnliche Qualität er schon früh dem zu seiner Zeit dominierenden Subjektivismus entgegenhält, aus dem heraus kommend er Konstellationen aus Ich und Du und dabei zweite gegenüber ersten Personen stark macht. Anders als für Hegel sind für Feuerbach zwei qualitativ mehr als drei, weil sie nur durch gegenseitige Anschauung und in sinnlichen Begegnungen miteinander, nicht aber durch eine dritte Instanz, die dann so etwas wie ihr Tauschwert wäre, vermittelt werden können.

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Bezüglich jüngster Debatten über die weißen Aspekte der Klimakrise ist besonders ein brillanter Essay hervorzuheben: Lilian Thuram, Das weiße Denken, Hamburg: Nautilus, 2022. Walter D. Mignolo, The Darker Side of Western Modernity. Global Futures, Decolonial Options, Durham & London: Duke University Press, 2011, S. 242. Feuerbach wäre demnach eine von vielen Stimmen auf einer planetarischen Skala und im Europa des 19. Jahrhunderts verortet. Genau deswegen ist sein Schreiben, hierum wird es im Folgenden gehen, in größere kolonialgeschichtliche Zusammenhänge eingelassen, auf die es implizit antwortet, ohne sie explizit zu adressieren. Bezüglich solcher Verflechtungsgeschichten vgl. Robert Sham und Ella Shohat, Race in Translation. Kulturkämpfe rings um den postkolonialen Atlantik, München: Unrast, 2014. Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, S. 127. Ders., Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist, in: ders., »Werke in sechs Bänden, Band 4, Kritiken und Abhandlungen III (1844–1866)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975, S. 185. Vgl. Bini Adamczak, Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende, Berlin: Suhrkamp, 2017.

Einleitung: Warum heute wieder Feuerbach?

Vor diesem Hintergrund will die vorliegende Arbeit aus theaterwissenschaftlich geprägter Sicht zeigen, dass eine Neulektüre Feuerbachs für ein Nachdenken über Gegenwartskunst produktiv ist. Die in sie eingelassenen Szenen des Menschen verfahren sowohl nacherzählend als auch analytisch, ohne Objektivität für sich zu beanspruchen. Obwohl sie ein imaginäres ›Wir‹ adressieren, versuchen sie, möglichst detailgenau die aus spezifischen Begegnungen resultierenden Seherfahrungen wiederzugeben, die der weiße Autor dieses Textes gemacht hat, noch bevor sie in das Manuskript integriert wurden.31 Die sechs während des letzten Jahrzehnts entstandenen und hier aus subjektiver Perspektive in ihrem chronologischen Verlauf jeweils ausführlich beschriebenen Werke aus den Feldern des (Musik-)Theaters, des Films, des Videos, der (Video-)Installation und der performativen Stadtrundfahrt werden dabei mit Feuerbachs Überlegungen zur Sinnlichkeit des Menschen in Bezug gesetzt, ohne in ihnen aufgehen zu sollen. Bei all dem wird es nicht um eine weitere Theorie des Theaters gehen. Vielmehr will diese Arbeit versuchen, die Theaterwissenschaft mit der Problematik des postkolonialen Anthropozäns zu konfrontieren, was Austauschprozesse mit anderen Disziplinen erfordert. Trotz ihrer ästhetischen Diversität verbindet die folgenden Detailstudien, die Idee von Individualität zu problematisieren, Subjektivierungsweisen zwischen mehr als nur einem Menschen zu provozieren, mehrere Perspektiven miteinander zu verschränken und so an der aktuell sehr dringenden Produktion von Multiperspektivität mitzuwirken. Multiperspektivität soll hier als eine Weise von Subjektivität präsentiert werden, für die Feuerbach eintritt, die aktuell vielleicht nötiger ist denn jemals zuvor und gerade das Theater und andere Künste als Räume der sinnlichen Anschauung, Begegnung und Subjektivierung von Menschen in besonderer Weise tangiert. Dies geschieht in Rugilė Barzdžiukaitės, Vaiva Grainytės und Lina Lapelytės Sun & Sea (2017) hinsichtlich des Zusammenhangs von individualistischer Tourismusindustrie, globaler Verkehrsinfrastruktur und Klimakrise, in Grada Kilombas Illusions Vol. I, Narcissus and Echo (2016) vor dem Hintergrund ausgeblendeter zweiter Personen und kolonialer Begegnungen zwischen weißen Männern und People of Color, in Monira Al Qadiris Behind the Sun (2013) bezüglich des Kontrasts zwischen einer ›globalen‹ Draufsicht auf die Welt und den verstrickten und körperlich in ihr situierten Perspektiven, in Daniel Kötters und Jochen Beckers Chinafrika.mobile (2017) im Hinblick auf die internationale Arbeitsteilung sehr vieler Menschen, in Abou Bakar Sidibés, Moritz Sieberts und Estephan Wagners Les Sauteurs. Those Who Jump (2016) in Bezug auf die Selbstabschottung Europas vor seiner geschichtlichen Verantwortung und in Anta Helena Reckes Mittelreich (2017) anhand der Frage nach der mimetischen Replikation einer Subjektivität, die über Generationen hinweg gewaltsam weitergegeben wurde. Unterbrochen von den in den Text eingeschobenen Szenen des Menschen wird der argumentative Teil dieser Arbeit. In ihm geht es zunächst darum, Feuerbachs Kritik des europäischen Subjektivismus mit aktuellen Positionen zu Kolonialgeschichte und Klimakrise in einen Austausch zu bringen und anhand dessen unsere Gegenwart als post-

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Inspiriert wurde dieses Verfahren durch Bojana Cvejićs Running Commentary. Vgl. hierzu exemplarisch Interview with Bojana Cvejić by Grégory Castéra, Le Journal des Laboratoires, September-December 2010, https://www.leslaboratoires.org/en/article/interview-bojana-cvejic/running-comm entaries, Zugriff am 26.5.2023.

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

koloniales Anthropozän zu skizzieren (Kapitel 1).32 Den Hauptteil dieser Schrift bildet eine Auseinandersetzung mit den drei historischen Stationen, an denen sich moderne Subjektivität Feuerbach zufolge herausbildet, nämlich mit dem Christentum, mit dem Leitsatz ego cogito, ergo sum von Descartes sowie mit Hegels Emphase eines Weltgeistes. Daran geknüpft ist die Frage, ob sich mit Hegels ›Kampf um Anerkennung‹ andere als nur weiße Subjektivitäten denken lassen (Kapitel 2). Im Anschluss wird Feuerbachs Emphase des Menschen als ›Teilwesen‹ mit gesellschaftlichen Verhältnissen, die einerseits von Karl Marx und Friedrich Engels als Produktionsverhältnisse und andererseits von Michel Foucault als Macht- und Wissensverhältnisse gefasst wurden, konfrontiert und vor dem Hintergrund seiner Kritik an Hegels Idee eines sich selbst bestimmenden Geistes gezeigt, dass die Subjektivierungsweisen mehrerer Menschen etwas anderes sind als ein einziger Mensch als Subjekt (Kapitel 3). Schließlich wird es um das ambivalente Verhältnis von Marx und Engels zu Feuerbach sowie um jüngere marxistisch-feministische Überlegungen zum Zusammenhang von Kolonialgeschichte und Klimakrise (Kapitel 4) und den Unterschied zwischen Feuerbachs Konzept des Menschen und Foucaults empirisch-transzendentaler Doublette gehen (Kapitel 5). Den Abschluss der Arbeit bildet eine Diskussion der Gedanken Gayatri Chakravorty Spivaks und Jacques Derridas zum Problem europäischer Selbstpräsenz sowie von Foucaults nicht auf Europa beschränkbarer Figur der Plebs, um herauszustellen, wie sich Feuerbachs Sinnlichkeit des Menschen zu genealogischen und dekonstruktiven Ansätzen verhält, wenn hierbei die Dezentrierung der Subjektivität vieler Menschen thematisiert wird (Kapitel 6). Obwohl die sechs in die vorliegende Schrift eingeschobenen Szenen des Menschen eine beliebige Konstellation bilden und auf Begegnungen verweisen, die deren weißer Autor in den letzten rund zehn Jahren in Theatern, Kinos und Museen machen durfte, skalieren sie doch allesamt Fragen der aktuellen Klimakrise auf Fragen der Subjektivität herunter.33 Die in den Detailstudien behandelten Arbeiten denken auf jeweils eigene Weise Klimakrise und menschliche Subjektivität zusammen, indem sie danach fragen, welche koloniale Weise des Menschseins für das sogenannte Anthropozän Verantwortung trägt. Wenn Peter Szondi in seiner Theorie des modernen Dramas (1963) die »Widersprüche zwischen der dramatischen Form und den Problemen der Gegenwart«34 beschreibt 32

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Hierbei schließt die vorliegende Arbeit an bereits innerhalb der Theaterwissenschaft geführte Diskussionen zum Anthropozän an, bringt sie jedoch vermittels Feuerbach mit europäischer Kolonialgeschichte zusammen. Vgl. exemplarisch S.E. Wilmer und Karen Vedel (Hg.), Theatre and the Anthropocene, Nordic Theatre Studies, Vol. 32, No. 1, 2020 sowie den Themenschwerpunkt ›Theater im Anthropozän‹ in Theater der Zeit, Februar 2020. Zum Umgang des deutschen Theaters mit Kolonialgeschichte vgl. exemplarisch Julian Warner (Hg.), After Europe. Beiräge zur dekolonialen Kritik, Berlin: Verbrecher Verlag, 2021. Bezüglich theaterwissenschaftlicher Zugänge zu postkolonialen Fragestellungen im deutschsprachigen Raum vgl. den nach Einreichung dieser Habilitationsschrift erschienenen Sammelband Azadeh Sharifi und Lisa Skwirblies (Hg.), Theaterwissenschaft postkolonial/dekolonial: Eine kritische Bestandsaufnahme, Bielefeld: transcript, 2022. Bezüglich unterschiedlicher Skalierungen der Klimakrise vgl. exemplarisch Jennifer Gabrys, Becoming Planetary, https://www.e-flux.com/architecture/accumulation/217051/becoming-planetar y/, Oktober 2018 und Achille Mbembe, Thoughts on the Planetary, 5.9.2019, https://www.newfr ame.com/thoughts-on-the-planetary-an-interview-with-achille-mbembe/, Zugriff auf beide am 26.5.2023. Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1963, S. 12.

Einleitung: Warum heute wieder Feuerbach?

und die Darstellung des ›Zwischenmenschlichen‹ im Theater des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts durch die »Alleinherrschaft des Dialogs«35 zwischen Protagonist*innen gekennzeichnet sieht, korrespondieren seine Ausführungen mit Feuerbachs zuvor unternommener Kritik der Figur des selbstbestimmten Individuums. Ebenso nehmen sie die Tendenz der hier besprochenen künstlerischen Arbeiten vorweg, Handlung durch Anschauung zu relativieren. »An die Stelle der dramatischen Zielgerichtetheit tritt die epische Freiheit zum Verweilen und Nachdenken«36 , ließe sich diesbezüglich mit Szondi sagen. Statt um handelnde Individuen geht es in den hier vorgestellten Werken eher um die Verstrickung mehrerer Subjektivitäten ineinander. In einer derart mitgeprägten Lesart verweist Feuerbachs Sinnlichkeit auf das Theater und andere Künste als Orte, an denen ich mich dir gegenüber öffne. An genau diesem Punkt lohnt es sich für die Theaterwissenschaft, Feuerbach zu folgen und auf Abwege zu geraten. Nicht, um eine neue Theatertheorie hervorzubringen, im besten Falle aber, um aus spezifischer Perspektive etwas zum Verständnis der kolonialen Gewaltgeschichte unserer anthropozänen Gegenwart beizutragen, die aktuell nicht nur viele Künstler*innen beschäftigt.

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Ebd., S. 15. Ebd., S. 118.

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»Ich glaube, nicht völlig anders zu sein als du, aber was ich geworden bin, bin ich auf einem anderen Weg geworden als du. Wir müssen also erkennen, dass uns eine jeweils andere Geschichte hervorgebracht hat, die diesen Austausch ermöglicht. Ich kann nicht so tun, als sei ich du. Ich weiß nicht, welche Erfahrungen du gemacht hast. Ich kann mir nicht deinen Kopf zerbrechen. […] Wir sind vom Anderen abhängig – um uns zu ernähren, uns selbst zu erkennen, eine Sprache zu erlernen. Was unser Menschsein, unsere Menschlichkeit ausmacht […], ist die gegenseitige Bezugnahme aufeinander, auf das, was wir nicht sind, was anders ist als wir, was sich von uns unterscheidet. Und ich hoffe, dass wir, bevor wir uns gegenseitig zerreißen, ein kleines bisschen Menschlichkeit finden werden, gerade so viel, dass nicht das eintreten wird, was Hobbes den Krieg aller gegen alle genannt hat.«

– Stuart Hall (2014)

1. Mit Feuerbach im postkolonialen Anthropozän

»Das Geheimnis der Wechselwirkung löst nur die Sinnlichkeit. Nur sinnliche Wesen wirken aufeinander ein. Ich bin Ich – für mich – und zugleich Du – für anderes. Das bin ich aber nur als sinnliches Wesen«1 , schreibt Feuerbach in seinen Grundsätzen der Philosophie der Zukunft (1843), die zwei Jahre bevor Marx seine Thesen über Feuerbach (1845) verfasste erschienen waren. Leider ist Feuerbachs Ansatz einerseits nach seiner Rezeption durch Marx und Engels und andererseits aufgrund seiner Reduktion auf eine ›humanistische‹ Position etwa durch Foucault, der sich allerdings nur im Vorübergehen mit ihm befasste, zur historischen Fußnote in den Texten anderer geworden.2 Trotzdem hat Feuerbach der Gegenwartskunst viel zu sagen. »Das Wesen der Offenbarung ist das Wesen der Sinnlichkeit

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Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, S. 299. An keiner Stelle befasst sich Foucault eingehender mit Feuerbach, jedoch gibt es mehrere Anklänge an ihn, etwa, wenn er in Was ist Aufklärung? (1984) Humanismus und Aufklärung einander gegenüberstellt: »Es hat einen Humanismus gegeben, der sich als Kritik des Christentums oder der Religion im Allgemeinen darstellte; es hat einen christlichen Humanismus im Gegensatz zu einem asketischen und viel stärker theozentrischen Humanismus gegeben. […] Der Marxismus ist ein Humanismus gewesen, und ebenso der Existentialismus und Personalismus; es gab eine Zeit, in der man die humanistischen Werte, repräsentiert vom Nationalsozialismus, hochhielt und in der selbst Stalinisten behaupteten, sie seien Humanisten. Daraus darf man nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass alles das, was sich auf den Humanismus berufen konnte, zu verwerfen ist, sondern dass die humanistische Thematik an sich selbst zu biegsam, zu verschiedenartig und zu unbeständig ist, um der Reflexion als Achse zu dienen. […] Der Humanismus dient dazu, den Auffassungen vom Menschen, auf die zurückzugreifen er genötigt ist, Farbe und eine Rechtfertigung zu geben. Nun glaube ich allerdings, dass man genau dieser so häufig wiederkehrenden und stets vom Humanismus abhängigen Thematik das Prinzip einer Kritik und einer permanenten Erschaffung unserer selbst in unserer Autonomie entgegensetzen kann: das heißt ein Prinzip, das im Zentrum des geschichtlichen Bewusstseins steht, das die Aufklärung von sich selbst hatte. Von diesem Gesichtspunkt aus würde ich eher eine Spannung zwischen Aufklärung und Humanismus als eine Identität sehen.« Michel Foucault, Was ist Aufklärung?, in: ders., »Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 4 (1980–1988)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005, S. 700f. Der Aufklärung widmet der frühe Feuerbach 1830 zwei polemische Zeilen seiner Xenien: »Wenn man die Wälder aushaut, das Gebirg gleich machet dem/Boden,/Wird natürlich die Welt jetzt aufgekläret und licht.« Ludwig Feuerbach, Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, in: ders., »Werke in sechs Bänden, Band 1, Frühe Schriften (1828–1830)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975, S. 290.

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

im Unterschiede von der menschlichen Selbsttätigkeit«3 , macht er 1844 Rezeptivität gegenüber Spontaneität stark und fügt dem zwei Jahre später hinzu, dass die menschliche Gattung sich allein in der sinnlichen Öffnung mehrerer Menschen füreinander zeige.4 Die vorliegende Arbeit will den in Vergessenheit geratenen Denker des deutschen Vormärz wiederbeleben und unter zwei miteinander verschränkten Gesichtspunkten die Relevanz von dessen Emphase menschlicher Sinnlichkeit für die Gegenwartskunst aufzeigen. Für relevant erachtet wird eine erneute Auseinandersetzung mit Feuerbach innerhalb einer aktuellen Situation, die sich als »auf einen Monolog reduzierte Menschheit«5 und Krise des Menschen verstehen lässt, und zwar hinsichtlich erstens über den umstrittenen Begriff des Anthropozäns geführter Debatten und zweitens damit zusammenhängender kolonialgeschichtlicher Konstellationen.6 »Das Anthropozän könnte einer anderen geologischen Epoche nur nach unserem Verschwinden von der Erdoberfläche Platz machen«7 , stellen Deborah Danowski und Eduardo Viveiros de Castro polemisch in den Raum. Demgegenüber wird es hier um einen anderen Menschen und eine Revitalisierung Feuerbachs gehen, die Nina Power angestoßen hat, um ein kollektives politisches Subjekt herauszuarbeiten. Obwohl der Autor dieser Schrift ihr in anderen Punkten vehement widerspricht, stimmt er ihr zu, wenn sie aus Feuerbachs »Denken und Sinnlichkeit [des] Gattungswesen[s]«8 Konsequenzen für politische Praxis entwickelt und in dessen Begriff des Menschen etwas sieht, »das nicht das Ganze der Menschheit – als natürliche, vereinigte Einheit gedacht –, sondern eine seltene Figur ist«9 . Abweichend von Power und ihrem Gewährsmann Alain Badiou wird dabei jedoch der Akzent nicht auf das Moment des Bruchs und auf ein kollektives Subjekt gelegt, das zu 3 4 5 6

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Ders., Das Wesen des Glaubens im Sinne Luthers, in: ders., »Werke in sechs Bänden, Band 4, Kritiken und Abhandlungen III (1844–1866)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975, S. 33. Vgl. ders., Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist, S. 176ff. Aimé Césaire, Über den Kolonialismus, Berlin: Alexander Verlag, 2017, S. 83. Der Begriff der Konjunktur wird hier in loser Anlehnung an die zwischen den 1970er und 1980er Jahren durchgeführten Analysen der Gruppe Marxism Today um Stuart Hall verwendet, wobei ein halbes Jahrhundert später andere Probleme in den Fokus rücken. Bereits ein Jahrzehnt vor seinem berühmten, in Nature publizierten Artikel The Geology of Mankind (2002) beschäftigte sich Paul J. Crutzen mit dem Zusammenhang zwischen der globalen Ausbreitung kapitalistischer Wirtschaftsweisen und der Klimaveränderung: vgl. ders. und Michael Müller, Das Ende des blauen Planeten? Der Klimakollaps. Gefahren und Auswege, München: C.H. Beck, 1991. Eine deutsche Übersetzung des vor zwei Jahrzehnten in Nature erschienen Artikels findet sich in ders., Mike Davis, Michael D. Mastrandrea, Stephen H. Schneider und Peter Sloterdijk, Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang, Berlin: Suhrkamp, 2011. Vgl. auch Paul J. Crutzen und Eugene F. Stoermer, The ›Anthropocene‹, in: Global Change NewsLetter, No. 41, Mai 2000 sowie ders., John R. McNeill und Steffen Will, The Anthropocene: Are Humans Now Overwhelming the Great Forces of Nature?, in: Ambio Vol. 36, No. 8, Dezember 2007. Zu damit verbundenen kolonialgeschichtlichen Fragen vgl. exemplarisch Donna Haraway, Anna Tsing und Gregg Mitman, Reflections on the Plantationocene, in: Edge Effects Magazine, 18. Juni 2019. Deborah Danowski und Eduardo Viveiros de Castro, In welcher Welt leben? Ein Versuch über die Angst vor dem Ende, Berlin: Matthes & Seitz, 2019, S. 11. Nina Power, Die Wahrheit des Menschlichen: Das kollektive politische Subjekt bei Sartre und Badiou, in: dies., »Das kollektive politische Subjekt. Aufsätze zur kritischen Philosophie«, Hamburg: Laika, 2015, S. 156. Ebd., S. 186.

1. Mit Feuerbach im postkolonialen Anthropozän

diesem Bruch fähig wäre, sondern auf die immer besonderen Subjektivierungsweisen mehrerer Menschen. Mit Feuerbach lässt sich von einer »Mehrheit der Sinnlichkeit«10 sprechen, die eine bestimmte Subjektform, den »Mensch[en] in abstracto«11 , gegenüber anderen Subjektivitäten öffnet und so die »Menschen im Plural«12 die Bühne betreten lässt. Aus diesen Öffnungen, zu denen allein die Gegenwartskunst fähig ist – zu nicht mehr, aber auch nicht zu weniger –, lassen sich keine politischen Projekte ableiten. Dennoch geht es bei ihnen um Ausgänge aus gesellschaftlichen Verhältnissen, die im Kontext eines postkolonial verstandenen Anthropozäns durch etwas bestimmt sind, das hier weiße Subjektform genannt wird und weit vor die von McKenzie Wark in Molekulares Rot. Theorie für das Anthropozän (2015) thematisierte »Ära der Kohlenstoffbefreiungsfront«13 hinausreicht. Während die weiße Subjektform in ihrer Historie spätestens seit dem auslaufenden 15. Jahrhundert Subjektivität in eine Plantage verwandelt, den gesamten Planeten versiegelt und in ihre weiße Matrix eingespannt hat, hofft Feuerbach Mitte des 19. Jahrhunderts auf Menschen, die sich sinnlich begegnen.14 Sie dezentrieren dann ihre

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Feuerbach, Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist, S. 189. Ebd. Ebd. McKenzie Wark, Molekulares Rot. Theorie für das Anthropozän, Berlin: Matthes & Seitz, 2017, S. 61. Dabei ist Postkolonialität keineswegs im Sinne eines Nachkolonialen zu verstehen: »Die Postcolonial Studies, die sich seit den 1980ern entwickelt haben, enthüllen die latente Kolonialität, die sich in den verschiedenen Beziehungen (politische, wirtschaftliche, epistemologische, kulturelle) zwischen den heute unabhängigen Nationen und ihren ehemaligen Mutterländern eingewoben findet.« Felwine Sarr und Bénédicte Savoy, Zurückgeben. Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter, Berlin: Matthes & Seitz, 2019, S. 76. Vor diesem Hintergrund ist zu betonen, dass der europäisch geprägte Wissenskorpus, den Valentin-Yves Mudimbe als ›Kolonialbibliothek‹ bezeichnet hat, nach dem Ende der Kolonien nicht einfach verschwindet, sondern auf unterschiedliche Weisen fortlebt. Vgl. ders., The Invention of Africa. Gnosis, Philosophy, and the Order of Knowledge, Bloomington und Indianapolis: Indiana University Press, 1988. Zur Verstrickung von Weißsein in Kolonialität vgl. exemplarisch Richard Dyer, White. Twentieth Anniversary Edition, London und New York: Routledge, 2017, Susan Arndt, ›Rassen‹ gibt es nicht, wohl aber die symbolische Ordnung von Rasse. Der ›Racial Turn‹ als Gegennarrativ zur Verleugnung und Hierarchisierung von Rassismus, in: dies., Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba und Peggy Piesche (Hg.), »Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland«, Münster: Unrast, 2017 und Luca di Blasi, Der weiße Mann. Ein AntiManifest, Bielefeld: transcript, 2013. Bezüglich der Jahreszahl 1492 vgl. Sylvia Wynter, 1492: A New World View, in: Vera Lawrence Hyatt und Rex Nettleford (Hg.), »Race, Discourse, and the Origin of the Americas. A New World View«, Washington: Smithsonian Institution Press, 1995. Natasha A. Kelly beschreibt die weiße Matrix der kolonialen Moderne in treffenden Worten: »[E]ntgegen dem eurozentrischen Mythos, die Abschaffung der kolonialen Administrationen führe zur Dekolonialisierung der Welt, belegen Forscher*innen des globalen Südens […], dass die Welt noch immer durch dieselbe kolonialisierte Machtmatrix strukturiert ist, wenngleich der Kolonialismus als Herrschaftsform nicht mehr existiert. Diese Matrix ist v.a. in Wissen verstetigt, das durch die westliche Wissenschaft das Subjekt des Westens und gleichsam den Westen als Subjekt haltbar machen, indem die Geschichte(n) von Europa als Subjekt – und demnach Südamerika und auch Afrika als Objekte – ideologisiert wird/werden. Europa fungiert dabei als geopolitische Determinante, durch die das Subjekt verborgen bleibt, eine fiktive Normposition einnimmt und dadurch die einzige epistemische Tradition erzeugt, von der aus die vermeintliche ›Wahrheit‹ erlangt wird.« Dies., Afrokultur. ›der raum zwischen gestern und morgen‹, Münster: Unrast, 2019, S. 91f.

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

eigene Subjektivität auf andere Perspektiven hin und machen sich so selbst zur Peripherie anderer Welten. Das heißt jedoch keineswegs, dass sinnliche Verhältnisse zwischen mehr als nur einem Menschen die Grundlage für den Konsens einer kommunikativen Vernunft sein könnten, wie sie Jürgen Habermas vorschwebt.15 Jean François Lyotard hat durchaus richtig erkannt, dass sie auf der Ebene von Sprache Widerstreit mit sich bringen.16 Hier wird deshalb eine erneute Beschäftigung mit dem weißen Philosophen Feuerbach vorgeschlagen, weil dessen Emphase der Sinnlichkeit des Menschen eine Alternative zu demjenigen eurozentrischen Menschenbild darstellt, das sich zuallererst auf einen Subjektivismus stützt, den er treffend kritisiert und der von dem argentinischen Philosophen Enrique Dussel mit Karl-Otto Apel als »solipsistisches Paradigma des Bewusstseins«17 beklagt wurde, welches den kolonialen, imperialen und industriellen Prozessen zugrunde liegt, die oft Moderne genannt werden und maßgeblich prägend für den gegenwärtigen Zustand der Welt sind. Mignolo wiederum hat in Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität (2006) darauf hingewiesen, dass die »schiefe Rhetorik«18 der Moderne als eines »universalen, globalen und zielgerichteten Prozess[es]«19 deren Schattenseite verbirgt, nämlich »die konstante Reproduktion der Kolonialität«20 , welche in einer Subjektform verankert ist, »die gleichbedeutend ist mit Selbstgefälligkeit und dem über alle und alles gehenden Erfolg von Individuen, Staaten und Unternehmen«21 . Bezüglich dieser geologischen ebenso wie historischen Konstellation arbeiten sich die in diese Arbeit eingeflochtenen künstlerischen Werke der Gegenwartskunst durch eine Problematik, die sich aus der westlichen und weißen Form von Subjektivität ergibt und heutzutage über verschiedene color lines hinweg verbreitet ist.22 Die als Szenen des Menschen betitelten Detailstudien, die den Argumentationsfluss unterbrechen und mit 15

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»Kommunikativ handelnde Subjekte stehen vor der Aufgabe, für ihre Handlungssituation eine gemeinsame Definition zu finden und sich innerhalb dieses Interpretationsrahmens über Themen und Handlungspläne zu verständigen.« Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2, Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1995, S. 329. Obwohl Habermas jüngst zu Unrecht versucht hat, Feuerbach zu einem Vorläufer seiner eigenen Großtheorie zu machen, ist ihm doch zuzustimmen, wenn er mit ihm meint, die ›Ära des Christentums‹ weise »Züge einer sich versteifenden Subjektivität, eines auftrumpfenden Selbst und eines abstrakten Ich« auf. Ders., Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 2, Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, Berlin: Suhrkamp, 2022, S. 605. »Im Unterschied zu einem Rechtsstreit [litige] wäre ein Widerstreit [différend] ein Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt.« Jean-François Lyotard, Der Widerstreit, München: Fink, 1989, S. 9. Enrique Dussel, Der Gegendiskurs der Moderne. Kölner Vorlesungen, Wien: Turia + Kant, 2013, S. 96. Walter D. Mignolo, Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität, Wien: Turia + Kant, 2012, S. 46. Ebd. Ebd. Ebd., S. 162. Zum Begriff der color line vgl. W.E.B. du Bois, The Souls of Black Folk, Seattle: Amazon Classics, 2017. Dort heißt es: »The problem of the twentieth century is the problem of the color line, the relation of the darker to the lighter races of men in Asia and Africa, in America and the islands of the sea.« Ebd., S. 13.

1. Mit Feuerbach im postkolonialen Anthropozän

etwas konfrontieren, das sich nicht von ihm einhegen lässt, behandeln Arbeiten, die ein hier so genanntes postkoloniales Anthropozän auf unterschiedliche Weise thematisieren. Mit bell hooks ließe sich sagen, sie haben gemeinsam, ein ›kolonisierendes Weißsein‹ zu beleuchten und mehr noch denn als Hautfarbe als eine Form von Subjektivität zu ›dekonstruieren‹.23 Étienne Balibar spricht von einer »Ausverleibung«24 und der »gewaltsamen Abspaltung des Anderen«25 , die eigentlich dessen Einverleibung ist, da es den Anderen für diese spezifische Form von Subjektivität nur als Selben (als registrierten Bürger, als Mitglied einer peer group und so weiter) geben kann, um eine Krise zu beschreiben, die schon länger nicht mehr nur die Krise des Eurozentrismus, sondern die Krise von Nationalstaatlichkeit und Bürgerschaft überall auf der Welt und mit noch weiter reichenden Konsequenzen eine ökologische Krise ist. Es handelt sich bei ihr um eine Krise der Subjektivität des Menschen, die Karl Löwith, ein aufmerksamer Leser Feuerbachs im 20. Jahrhundert, auf verselbstständigte gesellschaftliche Verhältnisse zwischen Personen zurückführt und von den Versprechungen einer zunehmend ökonomisch fundierten Heilsgeschichte vorangetrieben sieht.26 Feuerbachs Mitte des 19. Jahrhunderts formulierte Kritik am Christentum und an der modernen Subjektphilosophie, dies wird hier gezeigt werden, kann zur Dekolonisation der Subjektform beitragen, die einem noch heute dominierenden Bild des Menschen als Individuum und mit diesem der aktuellen Klimakrise zugrunde liegt. In den im Folgenden nacherzählten künstlerischen Arbeiten geht es um die Relativierung eines Universalismus des Geistes, dessen historische Entfaltung Feuerbachs Lehrer Hegel treffend beschrieben hat, durch einen Pluriversalismus der Sinnlichkeit, für den Feuerbach eintritt und über den sich mit Dipesh Chakrabarty sagen lässt, »that it will never be able to fold completely into itself – and thereby subsume in a Hegelian way – any particular that enriches it«27 .

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Vgl. bell hooks, Black Looks. Popkultur, Medien, Rassismus., Berlin: Orlanda Frauenverlag, 1994, S. 213. Étienne Balibar, Der Schauplatz des Anderen. Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität, Hamburg: Hamburger Edition, 2006, S. 37. Ebd. Vgl. Karl Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. Ein Beitrag zur anthropologischen Grundlegung der ethischen Probleme, Freiburg und München: Verlag Karl Alber, 2016 sowie ders., Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart und Weimar: J.B. Metzler, 2004. Im Vorwort zur englischen Erstausgabe bemerkt Löwith: »Of course, individuals as well as whole nations can be hypnotized into the belief that God or some worldprocess intends them to achieve this or that and to survive while others are going under, but there is always something pathetic, if not ludicrous, in beliefs of this kind.« Ebd., S. 243. Es sollte bekannt sein, dass die Erstpublikation eines wichtigen Weckrufs bezüglich der Lage der Menschheit nunmehr ein halbes Jahrhundert zurückliegt: vgl. Dennis Meadows, Donella Meadows, Erich Zahn und Peter Millig, Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Hamburg: Rowohlt, 1973. Dipesh Chakrabarty, Reading Fanon. What Use Is Utopian Thought?, in: ders., »The Crises of Civilization. Exploring Global and Planetary Histories«, Neu-Delhi, 2018, S. 155. Mignolo spricht diesbezüglich von »Pluriversalität als universalem Projekt«. Ders., Epistemischer Ungehorsam, S. 204f. Auf dem Feld der Theaterwissenschaft liegt hierzu bereits eine brillante Studie vor: vgl. Leon Gabriel, Bühnen der Altermundialität. Vom Bild der Welt zu den räumlichen Theaterpraktiken, Berlin: Neofelis, 2021.

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

Während der Universalismus des Geistes eine ihm innerliche Welt imaginiert, dezentriert sich der Pluriversalismus der Sinnlichkeit auf eine ihm äußerliche Welt hin.28 Feuerbachs explizit an Hegel adressierte Kritik, die hier als implizite Kritik am Kolonialismus gelesen werden soll, besteht nicht in einer Ablehnung des Denkens überhaupt, wohl aber in seinem Hinweis darauf, dass Hegels Geist Natur als sein anderes und mit dieser andere Menschen stets sich angleicht, während in der Sinnlichkeit ein anderer Weg beschritten wird. »Was ein Wesen für die Sinne, ist auch ein Wesen für den Verstand, aber nicht umgekehrt«29 , moniert er 1844. Dussel führt diesen Gedanken in seiner Philosophie der Befreiung (1977) weiter: »Ebenso hat Feuerbach gezeigt, daß es notwendig ist, die fetischistische Theologie Hegels abzuschaffen und auf eine Anthropologie (der anderen Person) hin zu öffnen.«30 Demgegenüber steht der ihm zufolge 1492 einsetzende Prozess der eurozentrischen Moderne, in der anderes und andere nicht entdeckt, sondern vielmehr »als ›Dasselbe‹, was Europa von jeher gewesen war«31 , verdeckt wurden. »Amerika wird nicht als etwas widerständig Unterschiedenes, als das Andere entdeckt, sondern als die Materie, auf die man ›Dasselbe‹ projiziert. Es ist also nicht die ›Entdeckung‹ oder die ›Offenbarung des Anderen‹, sondern die ›Projektion Desselben‹: ›Verdeckung‹«32 , schreibt er aus südamerikanischer Perspektive. Während Hegels Geist Feuerbach zufolge selbstbezüglich ist und auf der Idee einer in sich zentrierten Interiorität beruht, bringt seine Emphase der Sinnlichkeit Fremdbezüge und eine dezentrierte Exteriorität ins Spiel. Über den kolonial über die ganze Welt verbreiteten europäischen Subjektivismus, dessen Zentrum Hegel in Nordeuropa platziert, bemerkt Aimé Césaire, dass er den Menschen vom »Menschsein«33 und von der Welt abschneide und zu einem »selbstmörderischen Hochmut«34 führe. Die westliche Idee des Menschen beruht laut Saidiya V. Hartman auf »possessive individualism«35 sowie der Annahme eines unabhängigen Individuums »as an isolated entity divorced from social and material conditions«36 und hat Michaela Ott zufolge in der Kolonialgeschich-

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»Within us, all ages of mankind. Within us, all humankind. Within us, animal, vegetable, mineral. Mankind is not only mankind. It is universe«, schreibt Aimé Césaire 1945/46 – Jahrzehnte bevor Gilles Deleuze und Félix Guattari ihre Tausend Plateaus (1980) verfassen. Vgl. ders., Poetry and Knowledge, in: ders., »Lyric and Dramatic Poetry 1946 – 82«, Charlottesville: The University Press of Virginia, 1990, S. xlviii. Feuerbach, Das Wesen des Glaubens im Sinne Luthers, S. 33. Enrique Dussel, Philosophie der Befreiung, Hamburg: Argument, 1989, S. 114. Ders., Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen. Ein Projekt der Transmoderne, Düsseldorf: Patmos, 1993, S. 10. Ebd., S. 40f. Dem lässt sich hinzufügen: »If an other’s subjectivity is denied, then, so, too, is his or her being. In effect, such a denial amounts to the (false) claim that, in encounters with such people, there is no other there.« Lewis R. Gordon, Is the Human a Teleological Suspension of Man? Phenomenological Exploration of Sylvia Wynter’s Fanonian and Biodicean Reflections, in: Anthony Bogues (Hg.), »After Man, Towards the Human: Critical Essays on Sylvia Wynter«, Kingston und Miami: Ian Randle Publisher, 2006, S. 240. Césaire, Über den Kolonialismus, S. 108. Ebd. Saidiya V. Hartman, Scenes of Subjection. Terror, Slavery, and Self-Making in Nineteenth Century America, New York und Oxford: Oxford University Press, 1997, S. 141. Ebd., S. 178f.

1. Mit Feuerbach im postkolonialen Anthropozän

te zu einem »individuellen Humanismus als verlogene Losung«37 und dazu geführt, im als solchen nicht markierten weißen Mann ein Wesen zu sehen, das sich aktiv selbst bestimmt, indem es sich von anderem und anderen abgrenzt und sie so gleichsam mitbestimmt. Demgegenüber denkt Feuerbach Menschen in ihrer Verstrickung nicht nur mit Natur, sondern auch miteinander und als aufeinander bezogene Wesen, die voneinander bestimmt werden, wenn sie sich in Begegnungen füreinander öffnen. »Aber eben deswegen ist es im höchsten Grade einseitig und parteiisch, wenn man, abgesondert von den Gegenständen, alle Bestimmungen des Ich als bloße Selbstbestimmungen desselben betrachten und darstellen will, überdem auch völlig unausführbar«38 , hält er den weißen und männlichen Verfechtern des Subjektivismus seiner Zeit entgegen. Die von Feuerbach formulierte Kritik an der abendländischen Ich-Instanz liegt nicht allzu weit von der Kritik entfernt, die Suely Rolnik hinsichtlich einer »vom Prinzip der Identität beherrschten Subjektivität«39 formuliert, die sich durch ihre »Taubheit gegenüber dem Anderen«40 auszeichnet, wenn sie darauf hinweist, dass »sich als Lebewesen unter anderen Lebewesen«41 zu verorten und »Weisen der sinnlichen Weltbegegnung«42 etwas anderes seien als das Begehren, »die Natur, die Dinge und sich selbst durch seinen Willen und seine Vernunft unter die Kontrolle des ›Ich‹ zu bringen«43 . In seiner bahnbrechenden Studie Ludwig Feuerbach und die nicht-menschliche Natur (1986) hat Francesco Tomasoni anhand unveröffentlichter Dokumente und Notizen Feuerbachs demonstriert, inwiefern dessen jahrzehntelange Kritik einer selbstbestimmten Subjektform vor allem die Kritik an der »Verherrlichung eines bestimmten Menschentyps, einer bestimmten Kultur und Zivilisation«44 darstellt, nämlich der Provinz Europas, die sich bereits im deutschen Vormärz, dreieinhalb Jahrzehnte vor der Berliner Kongokonferenz, über den gesamten Planeten ausgedehnt und ihn in einen Globus verwandelt hat.

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Michaela Ott, Welches Außen des Denkens? Französische Theorien in (post)kolonialer Kritik, Wien: Turia + Kant, 2018, S. 88. Bezüglich einer ausführlichen Kritik an der Figur des Individuums vgl. dies., Dividuationen. Theorien der Teilhabe, Berlin: b_books, 2015. Ludwig Feuerbach, Einige Bemerkungen über den ›Anfang der Philosophie‹ von Dr. J.F. Reiff, in: ders., »Werke in sechs Bänden, Band 3, Kritiken und Abhandlungen II (1839–1843)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975, S. 137f. Denise Ferreira da Silva zeigt in Toward a Global Idea of Race (2007) auf, inwiefern hinsichtlich der von weißen Männern ersonnenen Vorstellung menschlicher Subjektivität hingegen »the elimination of its ›others‹ is necessary for the realization of the subject’s exclusive ethical attribute, namely, self-determination.« Dies., Toward a Global Idea of Race, Minneapolis und London: University of Minnesota Press, 2007, S. xiii. Ihre Transparenz-These besagt, dass »self-consciousness always already emerges in contention, in a relationship that takes place at the level of the symbolic, one in which the transparent I be/comes (comes into being as a self-determined thing) against that which needs to be written as not the same as itself, that is, an affectable ›other,‹ the bearer of a difference that cannot be resolved (sublated or reduced) in time.« Ebd., S. 199f. Suely Rolnik, Zombie-Anthropophagie. Zur neoliberalen Subjektivität, Wien: Turia + Kant, 2018, S. 30. Ebd. Ebd., S. 26. Ebd., S. 27. Ebd., S. 28. Francesco Tomasoni, Ludwig Feuerbach und die nicht-menschliche Natur, Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog, 1990, S. 56.

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

In den Detailstudien zu sechs Werken der Gegenwartskunst, die den Fluss dieses Textes unterbrechen, geht es um Begegnungen zwischen mehr als nur einer Subjektivität. Obwohl sie heterogen sind und keiner einheitlichen Ästhetik folgen, haben sie gemeinsam, ein bestimmtes Verständnis des Menschen zu problematisieren, indem sie die Verfügungsgewalt der heutzutage weltweit installierten weißen Subjektform mit etwas konfrontieren, das sie die von ihr ausgeübte epistemische und physische Gewalt und ihre eigenen Grenzen reflektieren lässt. Was Christian Kravagna in Transmoderne. Eine Kunstgeschichte des Kontakts (2017) als transkulturelle Praktiken gegenüber der Konzentration auf in sich abgeschlossene Subjektivitäten hervorhebt, zeigt sich vor allem in Daniel Kötters und Jochen Beckers performativer Stadtrundfahrt Chinafrika.mobile (2017) sowie in Abou Bakar Sidibés, Moritz Sieberts und Estephan Wagners Film Les Sauteurs. Those Who Jump (2016).45 Hierbei geht es neben der Produktion von Multiperspektivität immer auch um die Kontrastierung von Individualität mit Subjektivierungsweisen, die außerhalb von ihr liegen. Mit Bruno Latour ließe sich sagen, dass der aus Europa stammende Individualismus mit der Idee kolonialer Globalisierung einhergeht, da beide eine Vereinheitlichungsphantasie in die Tat umsetzen, in der die Welt sich auch subjektivitätspolitisch um nur noch eine Achse dreht.46 Viveiros de Castro folgend veranschaulicht Kravagna in seiner Kunstgeschichte des Kontakts die Differenz zwischen selbst- und fremdbezüglicher Subjektivität an der symptomatischen Begegnung zwischen portugiesischen Kolonisatoren und den indigenen Bewohner*innen Brasiliens im 16. Jahrhundert. »Die konzeptionelle Differenz zwischen dem dogmatischen Identitätsmodell der Europäer, das ein Ausschlussverhältnis zwischen dem Selben und dem Anderen voraussetzt, und der ontologischen Unvollständigkeit ohne die Beziehung zum Anderen auf Seiten der Indigenen gehört zur Urszene der kolonialen Begegnung.«47 Asha Varadharajan wiederum hat in Exotic Parodies. Subjectivity in Adorno, Said, and Spivak (1995) anhand der negativen Dialektik Theodor W. Adornos Kolonisierung als einverleibende Ausverleibung von Sinnlichkeit durch den Geist gelesen und in ihr die verdinglichende Verallgemeinerung des Besonderen in Gestalt gewaltsam objektivierter Subjekte 45

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Vgl. Christian Kravagna, Transmoderne. Eine Kunstgeschichte des Kontakts, Berlin: b_books, 2017, S. 186f. Hierbei dient ihm Dussel als Gewährsmann, der den Begriff der Transmoderne in seinen Frankfurter Vorlesungen Anfang der 1990er Jahre als »weltweiten Entwurf der Befreiung« unter »Einschluß der geleugneten Alterität« charakterisiert. Vgl. ders., Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen, S. 195 und S. 81. Zum Problem von Sichtbarkeitspolitiken vgl. Marina Martinez Mateo, Politik der Repräsentation. Zwischen Formierung und Abbildung, Wiesbaden: Springer VS, 2018. Vgl. Bruno Latour, Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime, Berlin: Suhrkamp, 2017, S. 224. »Die Phantasien von individueller Selbstbestimmung, wie sie vom Automobil genährt werden, schlagen sich in der Gestalt des Einfamilienhauses mit Garten und privatem Maschinenpark nieder. Ein ganz wesentlicher Grundzug der fossilienenergetischen Moderne ist also die Erfahrung individueller Autonomie«, halten Eva Horn und Hannes Bergthaller fest. Dies., Anthropozän zur Einführung, Hamburg: Junius, 2019, S. 174. Kravagna, Transmoderne, S. 17. Vgl. hierzu auch Eduardo Viveiros de Castro, The Inconstancy of the Indian Soul. The Encounter of Catholics and Cannibals in 16th-Century Brazil, Chicago: Prickly Paradigm Press, 2011.

1. Mit Feuerbach im postkolonialen Anthropozän

gesehen.48 Demnach trifft Latours lapidare Formulierung wohl nicht auf die grausame Geschichte des Kolonialismus zu, wenn er ontologisch behauptet: »Es ist unmöglich, daß das Subjekt herrscht, und unmöglich, daß das Objekt leblos ist.«49 Felwine Sarr wiederum weist darauf hin, dass die »epistemische Ungerechtigkeit«50 des Kolonialismus darin besteht, die Koordinatensysteme kolonisierter Menschen abzuwerten und sie als Objekte des eigenen Wissens zu »punktualisieren«51 . Im Dialog mit solchen Positionen geht es in dieser Arbeit anhand einer Neulektüre Feuerbachs um die Kontrastierung zweier Weisen des Menschseins: Einerseits den Menschen als teleologische und räumliche Selbstabschließung einer in sich zentrierten Ich-Instanz, die in Europa geborene weiße Subjektform einer »auf das Subjekt reduzierten Subjektivität«52 , und andererseits als auf anderes und andere hin dezentrierte Subjektivierungsweise. Anderes und andere sind hierbei kein großer Anderer: Anstelle einer Fetischisierung von Alterität stehen in sinnlichen Verhältnissen die ineinander verstrickten Subjektivitäten mehrerer Menschen auf dem Spiel.53 Mit Donna Haraway lassen sich Subjektivierungsweisen als »das Hinzufügen von Subjektivitäten zum subjektiven

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Vgl. Asha Varadharajan, Exotic Parodies. Subjectivity in Adorno, Said, and Spivak, Minneapolis: University of Minnesota Press, 1995. Um dieses Problem kreisen auch Adornos Ästhetik und seine damit zusammenhängenden Überlegungen zur Mimesis bereits seit seinen Vorlesungen von 1958/59. Dort heißt es an entscheidender Stelle, »daß die Erfahrung der Kunst nicht eine ist, die dem Subjekt in dem herkömmlichen Sinn zugute kommt, sondern eigentlich eine, die vom Subjekt wegführt.« Theodor W. Adorno, Nachgelassene Schriften. Abteilung IV: Vorlesungen: Band 3: Ästhetik (1958/59), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2009, S. 197. Latour, Kampf um Gaia, S. 97f. Donna Haraway weist auf die Ethnos-Gespräche hin, in deren Rahmen der Begriff des Plantagozäns aufkam, um den historisch gesehen intrinisischen Zusammenhang von Kolonialismus und Umweltzerstörung zu benennen, also »die zerstörerische Umwandlung verschiedener, von Menschen betriebener Höfe, Weiden und Wälder in extraktive, eingezäunte Plantagen, die auf Sklavenarbeit und Formen ausbeuterischer, entfremdeter und üblicherweise räumlich transportierter Arbeitskraft basierten.« Donna J. Haraway, Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Frankfurt a.M.: Campus, 2018, S. 279. Anna Lowenhaupt Tsing, die an den ursprünglichen Ethnos-Gesprächen teilnahm, konkretisiert den Begriff des Plantagozäns, wenn sie schreibt: »Im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert stießen zum Beispiel portugiesische Pflanzer mit ihren Zuckerrohrplantagen auf eine Formel, die eine reibungslose Expansion suggerierte. Um autarke, austauschbare Elemente herzustellen, gingen sie nach folgendem Muster vor: Vernichte die ansässigen Menschen und Pflanzen, bereite das nun leere und unbeanspruchte Land auf und führe zur Produktion exotische und isolierte Arbeitskräfte und Feldfrüchte ein.« Anna Lowenhaupt Tsing, Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus, Berlin: Matthes & Seitz, 2018, S. 59. Mit Sylvia Wynter wird hier zu zeigen sein, inwiefern solche Monokulturen auf subjektivitätstheoretischer Ebene mit einem Monohumanismus zusammenhängen. Vgl. exemplarisch dies., The Ceremony Found: Towards the Autopoetic Turn/Overturn, its Autonomy of Human Agency and Extraterritoriality of (Self-)Cognition, in: Jason R. Ambroise und Sabine Broeck (Hg.), »Black Knowledges/Black Struggles: Essays in Critical Epistemology«, Liverpool: Liverpool University Press, 2015. Felwine Sarr, Afrotopia, Berlin: Matthes & Seitz, 2019, S. 101. Ebd., S. 107. Rolnik, Zombie-Anthropophagie, S. 99. Auf dem Feld der Theaterwissenschaft liegt hierzu bereits eine wegweisende Arbeit vor: vgl. Kai van Eikels, Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie, München: Fink, 2013.

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

Engagement«54 und somit als »Erweiterung von Subjektivität«55 verstehen. Dabei ist so etwas wie ein Subjekt im ersten Fall sowohl Ausgangs- als auch Zielpunkt einer jeden Begegnung, während im zweiten Fall Öffnungen auf etwas hin stattfinden, das mit einer bestimmten Form des Subjekts weder identisch ist noch werden und nur empfunden werden kann. Warum die Rede vom Menschen? Mit Ott will die vorliegende Schrift nicht hinter wichtige Errungenschaften aus dem Umfeld des französischen ›Poststrukturalismus‹ zurückfallen. Wie Ott hält ihr Autor es jedoch auch, gerade hinsichtlich dessen, was hier als postkoloniales Anthropozän vorgestellt wird, für dringend geboten, manche Aspekte des ›Humanismus‹ zu überdenken: »Von allen postkolonialen Denker*innen wird das Humane als entscheidende Größe des Einspruchs, des Widerstands und eines gewissen Richtmaßes des Diskurses aufgeboten. Eine Wiederentdeckung des Menschlichen tut daher, wenn auch in veränderter begrifflicher Fassung, not.«56 Bereits in den Schriften Frantz Fanons57 , Léopold S. Senghors58 und Edward Saids59 ist es der Mensch, in den sie trotz der Brutalität seiner Kolonisierung alle Hoffnung setzen. In jüngerer Zeit schlagen Denker*innen wie Sylvia Wynter60 , Paul Gilroy61 , Dipesh Chakrabarty62 , Achille Mbembe63 oder Felwine Sarr64 aus einer kolonialgeschichtlich informierten Perspektive dringende Revisionen des Humanismus vor, um den Herausforderungen der Gegenwart begegnen zu können. Worum es hier gehen könnte, ist ein Humanismus des fehlenden Menschen. Hito Steyerl fordert diesbezüglich eine »Solidarität jenseits der Identität«65 und stellt fest: »Ein politisches Subjekt jenseits von Staat, Kultur und Identität zu konstituieren ist genau das, was heute strukturell unmöglich scheint und gerade deshalb umso dringender ist.«66 Vor dem Hintergrund europäischer Kolonialgeschichte sieht der Autor dieses Textes in Feuerbachs während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts formulierter Hinterfragung des Subjektivismus und in seiner Emphase menschlicher Sinnlichkeit einen wichtigen Beitrag zu gegenwärtigen Debatten über das sogenannte Anthropozän. Dieses Zeitalter des Menschen markiert nicht nur eine Schwelle, ab der das Handeln 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66

Haraway, Unruhig bleiben, S. 178. Ebd., S. 179. Ott, Welches Außen des Denkens?, S. 37. Vgl. Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Berlin: Suhrkamp, 2015. Vgl. Léopold S. Senghor, Négritude und Humanismus, Düsseldorf und Köln: Eugen Diederichs Verlag, 1967. Vgl. Edward W. Said, Orientalismus, Frankfurt a.M.: Fischer, 2014. Vgl. Sylvia Wynter und David Scott, The Re-Enchantment of Humanism. An Interview with Sylvia Wynter, in: Small Axe 8, September 2000. Paul Gilroy, Fanon and the Value of the Human, https://web.archive.org/web/20160315201039/https ://jwtc.org.za/resources/docs/salon-volume-4/2_Salon_Vol4_Gilroy.pdf, Zugriff am 26.5.2023. Vgl. Dipesh Chakrabarty, The Crises of Civilization. Exploring Global and Planetary Histories, NeuDelhi: Oxford University Press, 2019. Vgl. Achille Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin: Suhrkamp, 2014. Vgl. Sarr, Afrotopia. Hito Steyerl, Die Gegenwart der Subalternen (Einleitung), in: Gayatri Chakravorty Spivak, »Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation«, Wien: Turia + Kant, 2008, S. 14. Ebd., S. 15.

1. Mit Feuerbach im postkolonialen Anthropozän

mancher Menschen schon vor dem Aufkommen der Industrialisierung ein neues Erdzeitalter einleitet, in dem »der Mensch zum Feind der Erde geworden ist«67 , weil er sich in planetarischem Ausmaß destruktiv auf das Klima, die Biosphäre und andere Arten auswirkt und zunehmend die Lebensgrundlage auch seiner eigenen Gattung untergräbt. Spätestens seit Oliver Mortons Eating the Sun (2007) ist bekannt, dass seine Transformationskraft mit momentan 17 Terawatt die der Plattentektonik, also 40 Terawatt, überschreiten würde, hätten alle Menschen den technologischen Lebensstandard der Bürger*innen der wohlhabenden Nationen.68 Ein postkolonial situiertes Anthropozän, das bereits im 15. Jahrhundert und nicht erst mit der Industrialisierung einsetzt, hängt nicht nur mit ökologischen, sondern in seiner geschichtlichen Genese auch mit politischen Prozessen zusammen, nämlich mit einem bestimmten Selbstverständnis und der Herrschaft weißer Menschen über andere Lebensformen und Kulturen. Chakrabarty stellt deshalb klar, dass »all die anthropogenen Faktoren, die zur Erderwärmung beitragen […], letztlich zu einer größeren Geschichte gehören: der Entwicklung des Kapitalismus im Westen und dessen imperialer oder quasi-imperialer Dominanz über den Rest der Welt«69 . Demnach ist eine im Westen aufgekommene menschliche Subjektivität und nicht der Mensch im Allgemeinen Ursache des heutzutage so intensiv diskutierten und von manchen noch immer geleugneten Klimawandels, dessen Kosten jedoch vor allem außerhalb von Europa bezahlt werden. In dieser Hinsicht resonieren Fragen, wie sie seit der Arbeit Paul J. Crutzens zwischen 1980 und 2000 am Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz und in den letzten Jahren im Gefolge der Zirkulation des Anthropozän-Konzepts – unter anderem durch das gleichnamige Projekt am Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin70 – aufgeworfen wurden, mit Problemen, die schon länger unter kolonialgeschichtlichen Gesichts67 68 69

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Jürgen Manemann, Kritik des Anthropozäns. Plädoyer für eine neue Humanökologie, Bielefeld: transcript, 2014, S. 12. Vgl. Latour, Kampf um Gaia, S. 199. Dipesh Chakrabarty, Das Klima der Geschichte: Vier Thesen, in: ders., »Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung«, Frankfurt a.M.: Campus, 2010, S. 189. Hall findet hierfür ebenfalls treffende Worte: »Schließlich konnte der Diskurs von ›der Westen und der Rest‹ nicht unschuldig sein, da er keine Begegnung zwischen Gleichen darstellte. Die Europäer hatten Völker ausmanövriert, ausgetrickst und (auch im Schießen) übertroffen, die weder den Wunsch hatten, ›erforscht‹, noch das Bedürfnis ›entdeckt‹, noch das Verlangen danach, ›ausgebeutet‹ zu werden. Die Europäer standen den Anderen in der Position der beherrschenden Macht gegenüber. Dies beeinflusste das, was sie sahen und wie sie es sahen, genauso wie das, was sie nicht sahen.« Ders., Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht, in: ders., »Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2«, Hamburg: Argument Verlag, 1994, S. 154. In seinem gegenüber dem AnthropozänKonzept kritischen Essay bemerkt Jürgen Manemann wiederum: »Des Weiteren enthält die These vom Anthropozän einen Entschuldigungsmechanismus, da nicht von konkreten Menschen in konkreten Kontexten gesprochen wird, sondern die verhängnisvolle Tat ganz allgemein der Spezies ›Mensch‹ zugesprochen wird. Es war aber bekanntlich nicht ›die Menschheit‹, es waren vor allem Mitglieder der nordamerikanischen und europäischen Zivilisation, die die gegenwärtige Eskalation in Gang gesetzt haben.« Manemann, Kritik des Anthropozäns, S. 43f. Allerdings würde Latour das genauso sehen: vgl. ders., Kampf um Gaia, S. 210. Vgl. https://www.hkw.de/en/programm/projekte/2014/anthropozaen/anthropozaen_2013_2014. php, Zugriff am 26.5.2023, sowie die daraus hervorgegangene Buchpublikation: Jürgen Renn und Bernd Scherer (Hg.), Das Anthropozän. Zum Stand der Dinge, Berlin: Matthes & Seitz, 2015.

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

punkten debattiert werden. In A Billion Black Anthropocenes or None (2018) weist Kathryn Yusoff mit Bezug auf Wynter darauf hin, dass der Begriff des Anthropozäns insofern problematisch ist, als er einen stark europäisch eingefärbten Universalismus impliziert und dadurch als weiße Geologie Gefahr läuft, den historischen Konnex zwischen der Einwirkung gewisser Menschen auf das Klima und dem rassistisch operierenden Kolonialismus zu verschleiern.71 Dies geschieht dadurch, dass er eine bestimmte Subjektivität verbirgt, die ihm zugrunde liegt und die durch die Ausklammerung ihrer sinnlichen Verwobenheit mit allem ihr Äußerlichen gekennzeichnet ist. So gesehen wäre das Anthropozän weniger das Zeitalter des Menschen als vielmehr des ›Unmenschlichen‹, das diese Subjektivität fortwährend um sich herum produziert, in das sie sich extraktiv eingräbt und das sie hinter sich zurücklässt. Anstatt einer globalen Geologie schlägt Yusoff diesbezüglich die Analyse geologischer color lines vor, die zutiefst in Umweltfragen verstrickt sind, da die Ausbeutung der Natur von Anfang an mit der Entmenschlichung und Ausbeutung von Menschen und dem System der Sklaverei einhergegangen ist.72 »The racial categorization of Blackness shares its natality with mining the New World, as does the material impetus for colonialism in the first instance. […] That is, racialization belongs to a material categorization of the division of matter (corporeal and mineralogical) into active and inert. Extractable matter must be both passive (awaiting extraction and possessing of properties) and able to be activated through the mastery of white men. Historically, both slaves and gold have to be material and epistemically made through the recognition and extraction of their inhuman properties. These historic geologic relations span Europe, the Americas, Africa, and Asia through the movement of people, objects, and racial and material categories. Thus becoming postracial through Anthropocenic speciation is a foil of the humanist trickster […] –

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Bereits in ihrem erstmals 1962 erschienen Roman The Hills of Hebron, in dem Wynter christliche Motive qua Mimikry mit der Rastafari-Kosmologie verschränkt, heißt es an entscheidender Stelle: »For the New Believers the jar belonged to a precise past of facts and dates and figures of which they were totally ignorant. And even if they had been able to read, in the history books they would have found themselves only in the blank spaces between the lines, in the dashes, the pauses between commas, semicolons, colons, in the microcosmic shadow world between full stops. Between the interstices of every date on which a deed was done, they haunted the pages, imprisoned in mute anonymity, the done-tos who had made possible the deed.« Dies., The Hills of Hebron, Kingston und Miami: Ian Randle Publishers, 2010, S. 54. Später im Roman schreibt sie Zeilen, die eine Familienähnlichkeit mit Feuerbachs Überlegungen zum Monotheismus aufweisen: »›And when the Kingdom of Heaven did not materialize, the missionaries, those traders in blood, conjured up a God in the image of an Englishman, a wise and holy father-figure who never existed. They sold this God to the natives as a new kind of fetish. Take my word for it, Moses, Christianity was the greatest fraud ever perpetrated on any peoples.‹ […] The prophet sank back into his chair. A revelation as to his first failure had come upon him like a lightening flash. His imagination was on fire with this new concept that he had just learnt – the concept of man creating God in his own image.« Ebd., S. 142. Zum Problem der kolonialgeschichtlichen Einhegung des Menschen in die weißen Figuren des ›Man(1)‹ und ›Man(2)‹ bei Wynter vgl. die brillante Studie von Zakiyyah Iman Jackson, Becoming Human. Matter and Meaning in an Antiblack Word, New York: New York University Press, 2020. Vgl. hierzu auch Frank B. Wilderson III, Afropessimismus, Berlin: Matthes & Seitz, 2021.

1. Mit Feuerbach im postkolonialen Anthropozän

one that places an injunction on the recognition of historic modes of geopolitic mattering while maintaining unequal relations of power through continued environmental exposures.«73 Vor diesem Hintergrund präsentiert Yusoff eine Bildbeschreibung des Covers einer Ausgabe des Magazins Nature aus dem Jahre 2015 (519, no. 7542) mit dem Titel The Human Epoch. Defining the Anthropocene. An der Titelgestaltung dieser Ausgabe macht sie deutlich, inwiefern der anthropozäne Mensch aufs Engste mit dem kolonialen Menschen verwoben, also nicht einfach irgendein Mensch, sondern ein weißer Mensch ist. Am Körper des im Bild dargestellten weißen Mannes manifestiert sich die Gewaltförmigkeit seiner Geschichte: Auf seiner Schulter explodiert ein Atompilz, Schiffe überqueren auf seiner Brust den Atlantik und kleine schwarze Körper stehen in Afrika und den Amerikas bereit, als würden sie auf ihre Verschleppung warten.74 Nicht nur liegen dem Anthropozän die Logik der Plantage und der transatlantische Sklavenhandel zugrunde, sondern auch die Extraktion von Ressourcen auf allen Kontinenten dieses Planeten durch Sklav*innen, die von den Kolonisatoren teilweise dazu gezwungen wurden, die Schätze ihrer eigenen Böden auszubeuten: »The miniature blacks are only other bodies on display, inside the peeled back skin of white masculine modernity, posited alongside the equally sized cocoa, maize, and wheat.«75 Während der linke Arm des weißen Mannes Pflanzen und ›wilde‹ Natur »like hipster tattoos«76 präsentiert, entfaltet sich auf seinem rechten Arm das aufgeschlagene Buch der Industrie, die er für seine Wesenskräfte hält. Yusoff schlägt anhand des unveröffentlichten 900-seitigen Buchmanuskripts Black Metamorphosis. New Natives in a New World von Wynter – das Anfang der 1970er Jahre verfasst wurde – vor, die Genealogie des Kolonialismus ebenso wie diejenige des Anthropozäns im Hinblick auf die beide vorantreibenden »inhuman relation[s]«77 und eine sie strukturierende »grammar of the inhuman«78 zu verstehen.

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Kathryn Yusoff, A Billion Black Anthropocenes or None, Minneapolis: University of Minnesota Press, 2018, S. 2f. »Within the economy of slavery, neither love nor desire is legitimated through the formal recognition of relationality, as in marriage, consensual relations, or parenting. They are simply not legitimate«, schreibt Hartman. Dies., Scenes of Subjection, S. 109. »The slave ship, the womb and the coffle, and the long dehumaning project; we cannot continue to feel and be the fall… out«, schildert Christina Sharpe. Dies., In the Wake. On Blackness and Being, Durham und London: Duke University Press, 2016, S. 74. Yusoff, A Billion Black Anthropocenes or None, S. 52f. »The plantation was precisely the conjuncture between ecological simplifications, the discipline of plants in particular, and the discipline of humans to work on those. That legacy, which I think is very much with us today, is so naturalized that many people believe that that is the meaning of the term agriculture; we forget that there are other ways to farm. The plantation takes us into that discipline-of-people/discipline-of-plants conjuncture«, bemerkt Tsing im Gespräch mit Haraway. Haraway, Tsing und Mitman, Reflections on the Plantationocene, S. 6. Yusoff, A Billion Black Anthropocenes or None, S. 52. Ebd., S. 105. Ebd., S. 107.

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

Abb. 1: Cover des Magazins Nature, 519, no. 7542, 12. März 2015 (Titelbild von Alberto Seveso)

1. Mit Feuerbach im postkolonialen Anthropozän

Während das postkoloniale Anthropozän nur aufkommen konnte, weil sich eine bestimmte Subjektivität, gegen die Feuerbach sich aus dem Inneren Europas heraus wendet und die Wynter später Monohumanismus nennt, über verschiedene Kontinente hinweg ausbreitete und die Welt einverleibend ausverleibte, indem sie sowohl Natur als auch anderen Menschen Realität absprach, müsse es heute darum gehen, Menschen entlang ihrer sinnlichen Verhältnisse zu denken. In Black Metamorphosis, auf das Yusoff sich an mehreren Stellen bezieht, schreibt Wynter zur von der weißen Subjektform abgekappten Sinnlichkeit des Menschen: »For conflict-ridden, Puritan North America, rigidly repressing its senses (with which it identified the n*) and ruthlessly exploiting Nature (with which it identified the n*), black culture is a reminder that the senses are a part of being and that the murder of the senses is the murder of self.«79 In 1492: A New World View (1995) fragt sie diesbezüglich nach Implikationen der Klimakrise für Fragen der Subjektivität: »Can we therefore, while taking as our point of departure both the ecosystemic and global sociosystemic ›interrelatedness‹ of our contemporary situation, put forward a new world view of 1492 from the perspective of the species, and with reference to the interests of its well-being […]?«80 Diese Frage würde Feuerbach wahrscheinlich positiv beantworten, wenn er auf subjektivitätstheoretischer Ebene meint, »der Mensch hat nicht eher Friede im Kopfe und im Herzen, als bis er etwas außer seinem Kopfe und Herzen hat«81 . Nicht nur in dem, was er in Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist (1846) schreibt, steht er Wynter und Yusoff nicht allzu fern. »The Anthropocene has therefore to be given a political charge in order to overcome the contradictions and limits of a model of modernity that has spread globally […], and to explore the paths of a rapid and equitably divided reduction of the ecological footprint«82 , mahnen Christophe Bonneuil und Jean-Baptiste Fressoz in ihrem gemeinsam verfassten The Shock of the Anthropocene (2016) an. Auch wenn der Begriff erst neueren Datums ist, handelt es sich den Autoren zufolge beim Anthropozän, verstanden als Ausbeutung sowohl der Natur als auch anderer Menschen durch eine in der westlichen Welt entstandene Form von Subjektivität, die sich nicht nur polemisch als Menschenbild weißer Männer fassen lässt, nicht um eine Entdeckung jüngster Zeit. Und wenn es, wie die Autoren meinen, neben »roads, plantations, railways, mines, pipelines, wells, power stations, futures markets and container ships, financial positions and banks that structure flows of matter, energy, goods and capital on a world scale«83 auch »two centuries of scientific warnings and continuous challenges«84 gegenüber ebendiesen Prozessen beinhaltet, dann ist Feuerbach, dessen Schreiben während der Industrialisierung sowie den mit dieser zusammenfallenden gesellschaftlichen Transformationen stattfand, eine warnende Stimme aus dem deutschsprachigen Raum. 79

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Sylvia Wynter, Black Metamorphosis. New Natives in a New World, Unveröffentlichtes Manuskript, S. 114. Im Rahmen dieser Arbeit wird das N-Wort in Zitaten auch dann mit ›N*‹ wiedergegeben, wenn diese von Schwarzen Autor*innen stammen. Dies., 1492: A New World View, S. 8. Feuerbach, Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist, S. 182. Christophe Bonneuil und Jean-Baptiste Fressoz, The Shock of the Anthropocene, London und New York: Verso, 2016, S. 26. Ebd., S. 222. Ebd., S. 287.

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Mit Dussel lässt sich Feuerbachs Nachdenken über die Sinnlichkeit des Menschen als Teil des Gegendiskurses der Moderne betrachten, obwohl es innerhalb Europas statthat. Feuerbach denkt das menschliche Gattungswesen nicht im Singular, sondern im Plural, nämlich entlang vielfältiger sinnlicher Bezüge zwischen mehreren Menschen und einer nicht zu vereinheitlichenden Natur.85 Dies verbindet ihn über den Rhein und die Zeit hinweg mit Latour, wenn dieser für ein »neues Verständnis des Begriffs Gattung«86 wirbt und darauf hinweist, dass nicht-menschliche Akteur*innen sich nicht selbst repräsentieren können, sondern Fürsprecher*innen brauchen: »Der Irrtum besteht nicht in dem Anspruch, Nichtmenschen zu repräsentieren […]. Der Irrtum bestünde in dem Glauben, es sei möglich, solche Interessen zu berücksichtigen, ohne daß ein Mensch sie verkörpert, personifiziert, legitimiert, vertritt.«87 Für Feuerbach ist seit seiner Kritik am Christentum ein einzelner Mensch ein »Teilwesen, das nur ist, was es ist, durch die Bestimmtheit, die es eben zum Teil des Ganzen oder zu einem relativen Ganzen macht«88 . Feuerbachs Mensch ist viele Menschen und immer mehr als nur ein Mensch.89 Mit diesem Argument wendet er sich Mitte des 19. Jahrhunderts explizit gegen den transatlantischen Sklavenhandel (der zumindest von England bereits 1807 verboten worden war) und die damalige Situation in der sogenannten ›Neuen Welt‹.90

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»›Natur‹ ist für mich ebenso wie ›Geist‹ nichts weiter als ein allgemeines Wort zur Bezeichnung der Wesen, Dinge, Gegenstände, welche der Mensch von sich und seinen Produkten unterscheidet und in den gemeinsamen Namen Natur zusammenfaßt, aber kein allgemeines, von den wirklichen Dingen abgezogenes und abgesondertes, personifiziertes und mystisches Wesen«, stellt Feuerbach 1846 zu Beginn einer späteren Schrift, auf der seine Heidelberger Vorlesungen von 1848/49 beruhen werden, klar. Ders., Das Wesen der Religion, in: ders.: »Werke in sechs Bänden, Band 4, Kritiken und Abhandlungen III (1844–1866)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975, S. 81. Bezüglich einer Kritik der Vorstellung von Natur als ›Ganzes‹ und Totalität vgl. auch Alfred Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 2016. Latour, Kampf um Gaia, S. 415. Ebd., S. 460. Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, in: ders., »Werke in sechs Bänden, Band 5«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1976, S. 201. Zwar veranschaulicht Feuerbach sein Konzept des Menschen als ›Teilwesen‹ an mehreren Stellen auf heteronormative Weise an der sexuellen Beziehung zwischen Männern und Frauen, es wäre aber allzu simpel, es wie Engels auf diese sicherlich problematische Denkfigur zu reduzieren. Menschen als Teilwesen zu verstehen, geht weit über eine binäre Genderdifferenz hinaus. So schreibt Feuerbach an gleicher Stelle: »Wer daher in dem Bewußtsein der Gattung als einer Realität lebt, der hält sein Sein für andere, sein öffentliches, gemeinnütziges Sein für das Sein, welches eins ist mit dem Sein seines Wesens, für sein unsterbliches Sein.« Ebd. Eine Kritik an Feuerbachs Heteronormativität und seinem manchmal impliziten Antisemitismus bei gleichzeitiger Würdigung seines Denkens findet sich in Patrice Haynes, African Humanism: Between the Cosmic and the Terrestrial, in: Joseph Drexler-Dreis und Kristien Justaert (Hg.), »Beyond the Doctrine of Man. Decolonial Visions of the Human«, New York: Fordham University Press, 2020, S. 172ff. Zum Menschen im Plural vgl. auch Hannah Arendt, Vita activa – oder Vom tätigen Leben, München: Piper, 2002 und Leander Scholz, Die Menge der Menschen. Eine Figur der politischen Ökologie, Berlin: Kadmos, 2019. Vgl. Adolph Kohut, Ludwig Feuerbach. Sein Leben und seine Werke, Hamburg: Severus Verlag, 2013, S. 257ff. sowie Friedrich Kapp, Geschichte der Sklaverei in den Vereinigten Staaten von Amerika, Hamburg: Otto Meißner, 1861.

1. Mit Feuerbach im postkolonialen Anthropozän

In Ludwig Feuerbach und die nicht-menschliche Natur (1986) hat Tomasoni aufgezeigt, inwiefern Feuerbachs Lektüre der Tageszeitung Das Ausland. Ein Tagblatt für Kunde des geistigen und sittlichen Lebens der Völker, die eine kritische Haltung zum Kolonialismus einnahm, in den Jahren zwischen 1843 und 1853 sein spätes Schaffen mitprägt.91 Zu dessen Notizen hierzu merkt er an: »Das Mißverständnis einer Entwicklungsgeschichte als ewiger Werteskala offenbart sich in der Verklärung des Weißen als Ziel und Ursprung der Geschichte, als Alpha und Omega. Gegen diese Mystifikation wenden sich ›Das Ausland‹ und Feuerbach.«92 Tomasoni zufolge können Feuerbachs Hinwendung zum Polytheismus und seine Kritik des modernen Subjektivismus erst richtig verstanden werden, wenn sie vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit jenen Missionarsberichten aus kolonisierten Erdteilen gelesen werden, die in Das Ausland einer Kritik unterzogen wurden und in welchen dem von der Provinz Europas ausstrahlenden Weltgeist Menschenopfer dargebracht werden, denn »[d]er Missionar drückt hier die übernatürliche, abstrakte Position des Christentums und allgemein des Monotheismus aus, der das ursprüngliche Bewußtsein von der universellen Zusammengehörigkeit leugnet. […] Wie Gott selbst, formt der Weiße ›Menschen nach seinem Bilde‹, opfert die anderen Rassen, ernährt sich von ihnen, aber bedarf ihrer nicht.«93 Feuerbach hebt hervor, dass es Menschen nur als mannigfaltigen Stoffwechselprozess mit einer sie durchdringenden Natur in ihrer Vielfalt geben kann, in der er ihre Voraussetzung sieht. Zwar unterscheidet er Menschen von Tieren, indem er betont, dass Tieren anders als Menschen ihre eigene Gattung nicht Gegenstand sein könne und die menschliche Sinnlichkeit unbeschränkter als die der Tiere sei: »Nur dadurch also ist der Mensch Mensch, daß er nicht wie das Tier ein beschränkter, sondern ein absoluter Sensualist ist, daß nicht dieses oder jenes Sinnliche, daß alles Sinnliche, daß die Welt, das Unendliche […] Gegenstand seiner Sinne, seiner Empfindungen ist.«94 Diesen Unterschied denkt er 91 92 93 94

Vgl. Tomasoni, Ludwig Feuerbach und die nicht-menschliche Natur, S. 127ff. Ebd., S. 161. Ebd., S. 148ff. Tomasonis Rede von ›Rassen‹ noch im linksintellektuellen Milieu nach 1968 ist jedoch überaus problematisch. Feuerbach, Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist, S. 188. In einer mit dem entsprechenden Absatz verbundenen Fußnote ist notiert: »Diese Beschränktheit und Einseitigkeit, folglich Geistlosigkeit des Tiers zeigt sich eben darin, daß bei ihm gewöhnlich nur ein oder einige Sinne vorherrschend ausgebildet sind, während die Universalität, folglich Geistigkeit des Menschen darin sich augenscheinlich zeigt, daß er ›alle andern Tiere hinsichtlich der vollkommen und gleichmäßigen Entwicklung aller seiner Sinnesorgane übertrifft‹.« Ebd. Sechs Jahre vor seinem Tod wird er in Über Spiritualismus und Materialismus, besonders in Beziehung auf die Willensfreiheit (1866) seine Konzeption des Menschen als ›absoluter Sensualist‹ zuspitzen: »Wir empfinden ›innerhalb der Haut‹ – aber innerhalb einer Haut, welche porös ist, und zwar derart, daß auf der gesamten Oberfläche eines erwachsenen Mannes nicht weniger als ungefähr sieben Millionen Poren, d.h. Öffnungen, Ausgänge ins Jenseits der Haut sich befinden. Sage: sieben Millionen Poren in der Haut, durch welche wir atmen, und dazu noch unterhalb der Haut in einem besondern, nur zum Atmen bestimmten Organ, der Lunge, nicht weniger als sechshundert Millionen lufterfüllte Zellen! Was ist aber das Atmen? Nichts als eine fleischliche Vermischung unseres Blutes mit der äußeren Atmosphäre, eine Begattung insbesondere mit dem Sauerstoff der Luft.« Ebd., in: ders., »Werke in sechs Bänden, Band 4,

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jedoch graduell, nicht essenziell. In Das Wesen des Christentums (1841) bemerkt er hierzu: »Das Bewußtsein der Raupe, deren Leben und Wesen auf eine bestimmte Pflanzenspezies eingeschränkt ist, erstreckt sich auch nicht über dieses Gebiet hinaus. Sie unterscheidet wohl diese Pflanze von anderen Pflanzen, aber mehr weiß sie nicht.«95 Mit Feuerbach lässt sich so gesehen sagen, dass im postkolonialen Anthropozän allein innerhalb menschlicher Subjektivität ein Klimawandel stattfindet, sich die Biosphäre dieses Planeten rapide verändert und sich ein Artensterben vollzieht, weil ihm zufolge der Instinkt der Tiere zu beschränkt ist, um die Welt in derart großen Zusammenhängen sinnlich auffassen zu können: »Solches beschränktes, aber eben wegen seiner Beschränktheit infallibles, untrügliches Bewußtsein nennen wir darum auch nicht Bewußtsein, sondern Instinkt.«96 Es sei hier nicht geleugnet, dass Tiere die tragischen Folgen des Klimawandels auf unterschiedliche Weise spüren und bisher mehr noch als Menschen von ihnen betroffen sind. Aber weder der Eisbär auf dem Polareis, dem der Boden unter den Pfoten wegschmilzt, die aussterbenden Bienen noch die vielen verschwindenden Vogelarten des Amazonas können das ihnen Widerfahrende wie Menschen registrieren und auf seine Ursachen zurückführen. Sie sind wie Feuerbachs Raupe auf ihr Blatt und auf ihre jeweiligen Territorien und Wahrnehmungsweisen beschränkt, während das postkoloniale Anthropozän, nachdem es schon von manchen von ihnen eingeleitet wurde, zu seiner Durchdringung und wegen der Lösung dringender Probleme Menschen erfordern würde, die andere Kosmologien und eine andere Subjektivität als die des Individuums hervorbringen, denn, so Feuerbach, »nur ein kosmopolitisches Wesen kann den Kosmos zu seinem Gegenstande machen«97 . Trotzdem soll hier Haraway nicht widersprochen werden, wenn sie in Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän (2016) am Begriff des Anthropozäns den ihm inhärenten menschlichen Exzeptionalismus und Individualismus kritisiert. Jedoch werden ihre luziden Ausführungen zu einem mehrere Spezies umfassenden ›Humus‹ problematisch, wenn sie gleichsam vorschlägt, »das Humane als Homo zu zerhacken

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Kritiken und Abhandlungen III (1844–1866)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975, S. 400. Feuerbachs ›Sensualismus‹ ist von der Naturwissenschaft seiner Zeit – insbesondere der Biologie – geprägt und will materialistisch verstanden werden. Er richtet sich primär gegen den ›spiritualistischen‹ Subjektivismus des Idealismus. So spricht er in einem rund zehn Jahre nach seinen Heidelberger Vorlesungen unter dem Titel Spiritualismus und Sensualismus (1858) veröffentlichten Aufsatz von einem »Kampf zwischen Spiritualismus und Materialismus« und meint, »[d]er philosophische Geist der Modernen, wie der Geist des Cartesius, welcher sein Wesen nur ins Denken setzt«, verkenne seine materialistische Verstrickung mit etwas ihm Äußerlichen. Ebd., in: ebd., S. 266f. Seltsamerweise endet seine Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza (1833) mit Spinoza. Zwar widmet er darin der Natur- und Staatstheorie John Lockes ein kritisches Kapitel, geht aber ansonsten weder auf andere Vertreter des englischen Sensualismus wie David Hume noch auf Vertreter des französischen Sensualismus wie Étienne Bonnot de Condillac oder Charles Bonnet ein. Ders., Das Wesen des Christentums, S. 18. Ebd. Ders., Zur Kritik der Hegelschen Philosophie, in: ders., »Werke in sechs Bänden, Band 3, Kritiken und Abhandlungen II (1839–1843)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975, S. 52. Vgl. hierzu auch Wynter, 1492: A New World View.

1. Mit Feuerbach im postkolonialen Anthropozän

und zu zerschreddern«98 . Mit Haraway wird hier zwar gegen den Menschen als »sich selbst erzeugenden und den Planeten zerstörenden Unternehmer«99 und für dessen atmosphärische Verwobenheit mit nicht-menschlichen Wesen wie Tieren und Pflanzen argumentiert. Allerdings stimmt der Autor der vorliegenden Schrift ihr nicht zu, wenn sie meint, das Problem des Menschen als Gattungswesen im Sinne der sinnlichen Bezüge zwischen mehr als nur einem Menschen vollends verabschieden zu können.100 Zwar ist ihr beizupflichten, wenn sie meint, dass es heute mehr denn je um die »Kultivierung von Responsabilität«101 und eine »schiere Nicht-Selbstheit, als dasjenige, das eigensinnig verlangt, eben nicht man selbst zu sein«102 , gehen müsse. Auch ihr an Latour und Chakrabarty gerichteter Hinweis, dass das Komponieren menschlicher ebenso wie nicht-menschlicher Beziehungen immer auch ein ›Kompostieren‹ sei, also nicht in der Verfügungsgewalt einzelner Individuen läge, sondern einer Wechselwirkung zwischen ihnen entspringe, soll nicht zurückgewiesen werden.103 Mit Haraway will diese Arbeit deshalb nicht nur homozentrische, sondern auch zoozentrische Ebenen thematisieren,

Haraway, Unruhig bleiben, S. 50. Trotz der Brillanz von Haraways Thesen zum Chthuluzän bleibt fraglich, inwieweit sich ein Klimakollaps allein durch die Kooperation mehrerer Arten miteinander verhindern ließe bzw. wer diese Kooperation einleiten sollte, wenn nicht konkrete Menschen, die an konkreten Orten ihre Praxis sympoietisch bspw. von Mono- auf Permakulturen umstellen. Auch Lowenhaupt Tsings Beobachtungen zum Leben der Pilze scheinen zwar eine apokalyptische Grundstimmung in Worte zu fassen und gleichzeitig einem prekären Leben Hoffnung zu geben, rücken dabei aber von einer spezifisch menschlichen Wirkmacht außerhalb der Antiplantage globaler Pilzwälder ab, obwohl sie mit ihren Überlegungen zur Entfremdung nicht nur von Menschen, sondern auch nicht-menschlicher Wesen als ›Kappen von Verflechtungen‹ und zur latenten Allmende Feuerbachs Kritik an der europäischen Subjektform als Vergegenständlichung sinnlicher Verhältnisse durchaus nahesteht. Vgl. dies., Der Pilz am Ende der Welt, S. 363ff. 99 Haraway, Unruhig bleiben, S. 50. 100 Vgl. hierzu auch Paul Gilroy, Lecture I. Suffering and Infrahumanity, https://tannerlectures.utah.ed u/_resources/documents/a-to-z/g/Gilroy%20manuscript%20PDF.pdf, Zugriff am 26.5.2023. Dort heißt es: »Apparently, there is liberation in the prospect of human beings recognizing themselves as just one more ›critter‹ among many. Though we may share a commitment to radical relationality and a political ecology that refuses the conceits of approaching nature as an exploitable, limitless resource, those who speak in the modern tradition defined by struggles against racialized confinement within the natural order can be expected to have less enthusiasm for this way of proceeding. We agree that the human-animal intersection that has been explored so extensively is significant for the life of biopolitical categories in general and racial nominalism in particular. However, that commitment should not encourage us to submerge the origins of racism in a generic problem that can too conveniently be labeled humanism.« Ebd., S. 36. Zum Verhältnis von Menschen und Tieren aus theaterwissenschaftlicher Perspektive liegt eine wegweisende Studie vor: Maximilian Haas, Tiere auf der Bühne. Eine ästhetische Ökologie der Performance, Berlin: Kadmos, 2018. 101 Haraway, Unruhig bleiben, S. 54. 102 Ebd., S. 55. 103 Vgl. hierzu auch Lenart Škof, Ethik des Atems. Versuch über die Intersubjektivität, Freiburg: Verlag Karl Alber, 2015. In direkter Bezugnahme auf Feuerbach heißt es darin: »Das Atmen innerhalb der Atmosphäre ist also ein Prozess erneuter Erziehung der Sinne für die wesentliche künftige Aufgabe der Menschheit – die Ankündigung oder Verpflichtung zur Ankündigung einer Kultur, in der wir auf die Modi gewaltsamer Aneignung des anderen werden verzichten können.« Ebd., S. 212f.

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also danach fragen, wie Subjektivität auf unterschiedlichen Skalierungsstufen mit einem größeren Lebensnetz verwoben ist, das stets auf sie zurückwirkt. Mit Feuerbach und abweichend von Haraway fragt sie jedoch dezidiert nach anderen Weisen menschlicher Subjektivierung, um Auswege aus diesem Dilemma aufzuzeigen. In der Tat handelt keine Art allein – auch die vielen Menschen nicht, die im 21. Jahrhundert auf ganz unterschiedliche Weise die Welt dominieren und jüngst offiziell ein millionenfaches Artensterben eingeleitet haben, von dem auch sie wahrscheinlich nicht verschont bleiben werden.104 Jedoch wird mit dem hier beschriebenen postkolonialen Anthropozän eine spezifisch menschliche Handlungsmacht stärker gewichtet als von Haraway. Der Autor stimmt Nandita Sharma zu, wenn sie über Wynters ökumenisches Konzept des Menschen schreibt, es gehe hier einerseits um die »unity of our human intra-actions«105 , andererseits aber auch um eine »species of humans, one, no less, that is intimately involved with all other life on our shared planet«106 . Das heißt nicht, Menschen als von Natur und den in ihr statthabenden Prozessen losgelöst zu denken, wohl aber, ihnen eine Sinnlichkeit zuzuschreiben, die mehr und andere Relationen umfasst als die anderer Lebewesen, von denen sie dennoch durchdrungen sind und in ihrer Existenz abhängen. Wenn Haraway fordert, unsere Gegenwart bedürfe dringend eines sensiblen Materialismus, um drohende Katastrophen planetarischen Ausmaßes abzuwenden, steht sie Feuerbachs über eineinhalb Jahrhunderte vorausliegenden Überlegungen durchaus nahe. »Weben ist weder säkular noch religiös; es ist sensibel. Im Weben manifestieren sich bedeutungsvolle, gelebte Verbindungen, die Verwandtschaft, Verhalten, relationales Handeln hervorbringen«107 , schreibt sie und bedient sich dabei einer textilen Metapher. Schon der Feuerbach der Gedanken über Tod und Unsterblichkeit (1830) würde ihr wahrscheinlich zustimmen, wenn sie vor diesem Hintergrund zwei Konzepte des Menschen einander entgegensetzt und die Geschichte »schöner Worte als Waffen«108 und »Abbild des Himmelgottes«109 – die »Erzählung des Jägers, der aufbricht, um zu töten«110 und dem alle anderen nur »Requisiten, Gelände, Raum der Spielhandlung oder Opfer«111 sind – mit »Geschichten des Mit-Werdens«112 konfrontiert. Über eine solcherart dezentrierte Subjektivität bemerkt der junge Feuerbach:

104 Vgl. Stephen Leahy, One million species at risk of extinction, UN report warns, 6.5.2019, https://ww w.nationalgeographic.com/environment/2019/05/ipbes-un-biodiversity-report-warns-one-mil lion-species-at-risk/, Zugriff am 26.5.2023 und Elizabeth Kolbert, Das 6. Sterben. Wie der Mensch Naturgeschichte schreibt, Berlin: Suhrkamp, 2016. 105 Nandita Sharma, Strategic Anti-Essentialism. Decolonizing Decolonization, in: Katherine McKittrick (Hg.), »Sylvia Wynter. On Being Human as Praxis«, Durham: Duke University Press, 2015, S. 180. 106 Ebd. 107 Haraway, Unruhig bleiben, S. 126. 108 Ebd., S. 162. 109 Ebd. 110 Ebd. 111 Ebd. 112 Ebd., S. 163.

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»Die Menschheit der neuern Zeit war und ist noch ohne Mittelpunkt, denn die Person, das mittelpunktlose Individuum wurde in der Anschauung der Menschheit als Mittelpunkt hervorgehoben und angeschaut, und wie die Anschauung der Menschheit von sich selbst in lauter selbstständige Mittelpunkte zerfiel, so wurde notwendig auch die Welt mittelpunktlos angeschaut und die Welt in Welten aufgelöst.«113 Interessanterweise verwendet Haraway trotz allem, wenn auch auf andere Weise wie bezüglich des Jägers, den Begriff des Menschen, wenn sie ihr zentrales Konzept der Sympoiesis im Sinne einer »reziproke[n] Anregung […] von Art-GenossInnen«114 ausführt und sich den Menschen hier als Sammler wünscht: »Mit einer Muschel und einem Netz hat das Menschwerden, das Humuswerden, das terrestrisch Werden eine andere Gestalt – die sich seitlich windende Schlangengestalt des Mit-Werdens.«115 Haraway zufolge muss Humanität also, trotz mancher in ihren filigranen Text eingestreuter Polemik, nicht vollends überwunden, soll aber als ›Humus‹ verstanden werden, in dem eigene Wirkmächte anderen Wirkmächten Raum lassen und Platz machen. Wenn Tomasoni in Ludwig Feuerbach und die nicht-menschliche Natur (1986) Carl Nicolai Starckes Rezeption Feuerbachs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rekapituliert, geht er vielleicht nicht so weit wie Haraway, würde aber wie sie einem plumpen Anthropozentrismus widersprechen: »Der Mensch ist nicht das Endziel des Universums, sondern nur ein Tropfen in ihm, aber ein mit allem in Verbindung stehender Tropfen. Sein Gehirn ist lediglich ein Schnittpunkt, an dem sich die Beziehungen der Natur kreuzen […].«116 Sollte durch einen weiteren Temperaturanstieg der Atmosphäre, die sich mit Feuerbach als sinnlicher Zusammenhang menschlicher und nicht-menschlicher Teilwesen verstehen lässt, und das Anschwellen der Ozeane der Klimawandel irgendwann vollends zu einer Klimakatastrophe werden und einen großen Teil des Lebens auf diesem Planeten für längere Zeit unmöglich machen, dann wird dieses Ereignis zwar die meisten die Erde bewohnenden Lebensformen betreffen, aber nur von Menschen als solches registriert werden. In den an die Erfahrung mancher Indigener angelehnten Worten Danowskis und Viveiros de Castros: »Es kann eine Menschheit vor der Welt gegeben haben; aber es kann keine Welt mehr nach der Menschheit geben, eine Welt schließlich ohne Beziehung und Verschiedenheit.«117 Eine auf lange Sicht auch die Spezies Mensch, sofern ihr kein Leben außerhalb des Planeten Erde möglich ist, auslöschende Klimakatastrophe ließe sich nur verhindern, wenn sich sehr viele, gänzlich verschieden situierte Menschen nicht nur als Gattung im Sinne aller sinnlichen Verhältnisse zwischen ihnen erkennen 113 114 115

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Feuerbach, Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, S. 150. Haraway, Unruhig bleiben, S. 163. Ebd. Was in der vorliegenden Arbeit mit Feuerbach als Unterschied zwischen selbst- und fremdbezüglicher Subjektivität herausgestellt und an den sinnlichen Verhältnissen des Menschen zu anderem und anderen festgemacht wird, fasst Haraway als Differenz von Auto- und Sympoiesis: »Schlussendlich, und keinen Moment zu früh, erweitert und ersetzt Sympoiesis Autopoiesis und alle anderen selbstformierenden und selbsterhaltenden Systemfantasien. Sympoiesis ist ein Tragenetz für Kontinuität, eine Verbindung für das Mit-Werden, für das Unruhigbleiben im Beerben der Schäden und Errungenschaften kolonialer und postkolonialer Naturkulturgeschichten, für das Erzählen einer Fabel einer immer noch möglichen Rückgewinnung.« Ebd., S. 172. Tomasoni, Ludwig Feuerbach und die nicht-menschliche Natur, S. 51. Danowski und Viveiros de Castro, In welcher Welt leben?, S. 100.

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würden, die ernsthaft in Gefahr ist, in nicht allzu ferner Zukunft gemeinsam mit anderen Lebensformen zu verschwinden, sondern auch in ihrer Abhängigkeit von Natur, und entsprechend handelten. »We all know what ought to happen: nations need to come together and act concertedly in the name of humanity to drastically and immediately reduce our greenhouse gas emissions«118 , mahnt Chakrabarty an. Davon könnten wir allerdings nicht weiter entfernt sein. Hierfür müssten vor allem diejenigen, die Kolonialismus, Imperialismus und Industrialisierung über die Welt gebracht haben, Verantwortung für vergangenes, noch immer stattfindendes und zukünftiges Handeln übernehmen.119 In seiner Rezension eines unter dem Titel Lehre der Nahrungsmittel (1850) von einem Freund, dem Arzt und Biologen Jakob Moleschott, verfassten Buches leitet Feuerbach aus dessen damals innovativem Konzept des Lebens als Stoffwechselprozess eine soziale Maxime ab: »Wir empfangen von der Außenwelt Stoffe und geben sie wieder zurück, nur in anderer Gestalt, scheiden sie aus. Und je mehr oder weniger wir von uns geben, desto mehr oder weniger müssen wir auch zu uns nehmen.«120 In diesem wie in anderen Texten vertritt Feuerbach konsequent die Annahme, dass sich ökologische ebenso wie politische Prozesse allein relational und anhand der Gleichzeitigkeit und Wechselwirkung der an ihnen beteiligten Teilwesen denken lassen, denn, wie er vor Marx schreibt, »Raum und Zeit sind die ersten Kriterien der Praxis«121 . Die Innovativität seines Begriffs der Sinnlichkeit besteht darin, dass sie für ihn, entgegen der später von Marx an ihn adressierten Thesen, auf ein Geflecht sinnlicher Praktiken und Wirkmächte verweist, die sich in keiner Subjektivität zusammenführen oder vereinheitlichen lassen. Patrice Haynes merkt hierzu aus afrobritischer Perspektive an: »In rethinking the human, Feuerbach rejects both theistic and purely materialist frames of reference. Instead, he describes the human, understood collectively, as a mystery, irreducible to any final conceptualization for human beings have infinite ways of thinking, willing, and loving. […] I do not think Marx’s appraisal of Feuerbach as a contemplative materialist is entirely fair. Certainly, it is true that Feuerbach does not understand human practice in the political-economic terms of Marx’s materialism. However, […] his ›flesh and blood‹ humanism repeatedly focuses on the ordinary, quotidian activities of human life. Furthermore […], Feuerbach does not overlook history in his understanding of human nature, for in The Essence of Christianity he

Chakrabarty, Reading Fanon. What Use Is Utopian Thought?, S. 157. Bzgl. eines kolonialgeschichtlich leider sehr unsensiblen ökologischen Verständnisses von Verantwortung vgl. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Berlin: Suhrkamp, 2020. 120 Ludwig Feuerbach, Die Naturwissenschaft und die Revolution [Über: J. Moleschott, Lehre der Nahrungsmittel], in: ders., »Werke in sechs Bänden, Band 4, Kritiken und Abhandlungen III (1844–1866)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975, S. 256f. 121 Ders., Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, in: ders., »Werke in sechs Bänden, Band 3, Kritiken und Abhandlungen II (1839–1843)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975, S. 232. Latour formuliert dies ontologisch: »Subjekt sein heißt nicht, in Bezug auf einen objektiven Rahmen autonom handeln, sondern: seine Wirkungsmacht mit anderen Subjekten teilen, die ebenfalls ihre Autonomie verloren haben. Weil wir es mit solchen Subjekten oder besser Quasi-Subjekten zu tun haben, müssen wir unsere Träume von Herrschaft aufgeben und brauchen wir uns nicht mehr vor dem Albtraum zu ängstigen, daß wir uns als Gefangene der ›Natur‹ wiederfinden.« Ders., Kampf um Gaia, S. 112. 118 119

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traces the historical emergence of human self-consciousness as this passes through progressive stages of (alienating) objectification in religious concepts until it is finally grasped as human species-being.«122 Anschließend an Haynes geht es in der vorliegenden Arbeit um Feuerbachs Anthropologie im Sinne eines »Seinlassens von Umwelten«123 und als Kritik an einer westlichen Denktradition, die das Ich als unmarkierte erste Person instituiert sowie vor und zugleich über das Du als markierte zweite Person stellt, denn Feuerbach »conceives the human as inherently relational: The self-identical ›I‹ is but an abstraction and must be understood in its constitutive (sensuous) relation to a ›Thou.‹«124 Demgegenüber tritt innerhalb der hier als weiß markierten Subjektivität, die Feuerbach Zeit seines Lebens kritisiert, ohne von color lines zu sprechen, das vom Ich ausgeklammerte Du sowohl in Gestalt der Natur (als dem Ich gegenüber anderes) als auch in Gestalt anderer Menschen (als dem Ich gegenüber andere) auf und unterliegt in beiden Fällen einem Bestimmungsmodus, der in Debatten aus den Feldern des Postkolonialismus und der kritischen Weißseinsforschung Anderung (Othering) genannt wird.125 Geanderte Wesen werden entmenschlicht und so zu Objekten von Europa als alleinigem Subjekt, gegen das Feuerbach indirekt anschreibt, wenn er hofft, dass die Sinnlichkeit des Menschen Fremdbezüge eröffnet, anstatt sich in Selbstbezügen zu verschließen. Mit Danowski und Viveiros de Castro ließe sich sagen, dass der von ihm einer Kritik unterzogene religiöse und philosophische Subjektivismus den »Traum einer Umwelt nach der Umwelt«126 träumt, »in der der Mensch sich nur durch sich selbst eingrenzt […]«127 . Obwohl er dem Begriff der Anthropologie insgesamt und somit auch Feuerbach kritisch gegenübersteht, schreibt Marc Rölli in seiner Kritik der anthropologischen Vernunft (2011): »Anders gesagt, steht die sinnliche Andersheit des Ich, die die logische Ichheit begrenzt, strukturell für seine mögliche Beziehung zum anderen und damit auch für die eigentümliche Realität der menschlichen Existenz.«128 In der Tat meint Feuerbach in Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie (1843) hierzu, »im Denken bin ich, in der Anschauung Nicht-ich«129 . Anstatt die Figuren des Ich und Du in ihrer Abhängigkeit voneinander sowie als Verstrickung mehrerer Subjektivitäten ineinander zu verstehen, reproduziert die aus unabhängigen Individuen bestehende globale Infrastruktur, die Immanuel Wallerstein treffend als ›Weltsystem‹ beschrieben hat, bis heute koloniale Bezie-

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Haynes, African Humanism, S. 172. Thomas Seibert, Zur Ökologie der Existenz. Freiheit, Gleichheit, Umwelt, Hamburg: Laika, 2017, S. 167. Haynes, African Humanism, S. 175. Zum ›Othering‹ anderer Menschen vgl. in erster Linie Gayatri Chakravorty Spivak, A Critique of Postcolonial Reason. Toward a History of the Vanishing Present, Cambridge und London: Harvard University Press, 1999, S. 113. Danowski und Viveiros de Castro, In welcher Welt leben?, S. 65. Ebd. Marc Rölli, Kritik der anthropologischen Vernunft, Berlin: Matthes & Seitz, 2011, S. 352. Vgl. auch ders., Anthropologie dekolonisieren. Eine philosophische Kritik am Begriff des Menschen, Frankfurt a.M. und New York: Campus, 2021. Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, S. 234.

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hungen.130 So gesehen kann die aktuelle Klimakrise auf die koloniale Gewalt zurückgeführt werden, die mit Epistemoziden und gekappten Beziehungen zwischen Teilwesen einherging, von denen sich manche für das große Ganze hielten. Auf subjektivitätstheoretischer Ebene verweist das auf eine Problematik, die in den folgenden Szenen des Menschen vor allem in Rugilė Barzdžiukaitės, Vaiva Grainytės und Lina Lapelytės Sun & Sea (2017), Grada Kilombas Illusions Vol. I, Narcissus and Echo (2016), Monira Al Qadiris Behind the Sun (2013) und Anta Helena Reckes Mittelreich (2017) durchgespielt wird. Indem weiße europäische Männer historisch ökologische ebenso wie politische Verstrickungen gekappt und gewaltsam zerschlagen haben, ist ein planetarisches Klima in Schieflage geraten. Die religiöse und philosophische Form von Subjektivität, auf die Feuerbach das bürgerliche Individuum zurückführt, ohne dabei über Kolonialismus zu sprechen, stützt sich deshalb auf die Logik der Anderung, weil in ihr eine weiße Ich-Instanz als ›unsichtbar herrschende Normalität‹131 und ›unmarkierter Markierer‹132 den Standard darstellt, an dem ein einverleibend ausverleibtes Du gemessen wird. Aufgrund ihrer Verfügungsgewalt, die auch eine epistemische Gewalt ist, ist sie nicht in der Lage, für etwas außerhalb von ihr empfänglich zu werden.133 Weiße Subjektivität kann sich, nach Emmanuel Lévinas, nur schwer zum »Gastgeber«134 machen. Sie verweist auf

130 Vgl. hierzu Immanuel Wallerstein, Das moderne Weltsystem I-IV, Wien: Promedia, 2012. Dies monieren auch Sarr und Savoy in ihrem 2018 von Emmanuel Macron in Auftrag gegebenen Bericht zur Rückführung während des französischen Kolonialismus gestohlener und dann translozierter Kulturgüter in ihre Herkunftsländer, wenn sie für eine ›Vielfalt an Perspektiven‹, ›grenzüberschreitende Kulturräume‹ und eine ›relationale Ethik‹ plädieren: »Die Restitutionen stellen die alten Relationsgefüge in Frage. Dadurch deuten sie eine neue Ordnung an, in der die Aneignung von Kulturerbe, diese Sitte einer anderen Zeit, einer neuen Art des Weltbezugs Platz macht, die sich auf die Anerkennung unserer gegenseitigen Abhängigkeiten und den fundamental relationalen Charakter unserer Identitäten gründet.« Sarr und Savoy, Zurückgeben, S. 168. Bereits in ihrer Antrittsvorlesung am Lehrstuhl für die ›Kulturgeschichte des künstlerischen Erbes in Europa zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert‹ bemerkt Savoy: »Wir müssen heute nur für einen Augenblick in uns hineinhorchen und einen kleinen Schritt aus unserem gewohnten Blickwinkel heraustreten, um uns mit den Enteigneten – oder mit denen, die sich als solche fühlen – identifizieren zu können.« Dies., Die Provenienz der Kultur. Von der Trauer des Verlusts zum universalen Menschheitserbe, Berlin: Matthes & Seitz, 2016, S. 50. Zur Historie der in Bezug auf das Berliner Humboldtforum dringend zu führenden Restitutionsdebatten vgl. auch dies., Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage, München: C.H. Beck, 2021 sowie Arno Bertina, Mona Lisa in Bangoulap. Die Fabel vom Weltmuseum, Berlin: Matthes & Seitz, 2016. 131 Vgl. hierzu Ursula Wachendorfer, Weiß-Sein in Deutschland. Zur Unsichtbarkeit einer herrschenden Normalität, in: Susan Arndt (Hg.), »AfrikaBilder. Studien zu Rassismus in Deutschland«, Münster: Unrast, 2001. 132 Vgl. hierzu Ruth Frankenberg, Introduction. Local Whiteness, Localizing Whiteness, in: dies. (Hg.), »Displacing Whiteness. Essays in Social and Cultural Criticism«, London: Routledge, 1997. 133 Vgl. hierzu exemplarisch Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien: Turia + Kant, 2008. 134 Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg und München: Karl Alber, 2014, S. 434. Hinsichtlich einer theaterwissenschaftlichen Perspektive hierauf vgl. Mayte Zimmermann, Von der Darstellbarkeit des Anderen. Szenen eines Theaters der Spur, Bielefeld: transcript, 2017.

1. Mit Feuerbach im postkolonialen Anthropozän

einen Menschen, »who has the right to know and the duty to give, but who never receives«135 . Aufgrund ihrer »panoramahaften Existenz«136 bleibt sie stets bei sich. Über verschiedene Etappen seines Werkes hinweg bringt Feuerbach die ihm zufolge für das abendländische Denken zentrale Ich-Instanz mit einem von ihr verkannten Du zusammen. Dabei insistiert er auf der religiösen Herkunft des Subjektivismus ebenso wie er ihn philosophiegeschichtlich auf die von Descartes aufgebrachte Devise ego cogito, ergo sum – dem laut Dussel ein ego conquiro vorausgeht – zurückführt.137 Wenn Mignolo später mit Aníbal Quijano eine zwischen der Rhetorik der Moderne und der Logik der Kolonialität aufgespannte koloniale Matrix beschreibt und deren Genese im Sinne einer »Säkularisierung der Theologie durch eine Egologie«138 in die drei Stationen von ›Theopolitik‹, ›Egopolitik‹ und ›Organopolitik‹ einteilt, dann korrespondiert dieses Schema mit der Weise, wie Feuerbach Mitte des 19. Jahrhunderts die Genealogie der europäischen Subjektform anhand des Christentums sowie von Descartes und Hegel analysiert und mit seiner Zweierkonstellation aus Ich und Du konfrontiert. Bereits in seiner 1828 erschienen Dissertation finden sich die für sein Denken grundlegende Umkehrung des Subjektivismus und der mit diesem einhergehenden kolonialen Logik sowie sein versuchter Ausgang aus der in eine Plantage verwandelten Sub-

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Nelson Maldonado-Torres, Notes on the Current Status of Liminal Categories and the Search for a New Humanism, in: Anthony Bogues (Hg.), »After Man, Towards the Human: Critical Essays on Sylvia Wynter«, Kingston und Miami: Ian Randle Publisher, 2006, S. 198. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 425. Obwohl der Autor der vorliegenden Schrift Lévinas nicht in allen Punkten folgt, übernimmt er hinsichtlich seiner Überlegungen zu den Subjektivierungsweisen mehr als nur eines Menschen von ihm doch die Einsicht in deren Empfänglichkeit füreinander, die er der Verfügungsgewalt der weißen Subjektform entgegenstellt: »Wenn die Geschichte vorgibt, mich und den Anderen einem unpersönlichen Geist zu integrieren, so ist diese vorgebliche Integration Grausamkeit und Ungerechtigkeit, das heißt, sie kennt den Anderen nicht.« Ebd., S. 66. Während Lévinas jedoch die Sinnlichkeit des Menschen zugunsten der Transzendenz eines radikal Anderen und dessen Ausdruck qua Sprache abwertet, geht es hier weniger um die Uneinholbarkeit des Anderen gegenüber dem Ich als vielmehr um die konkrete, praktische Gleichzeitigkeit und Wechselwirkung sehr vieler Teilwesen. Vgl. Dussel, Philosophie der Befreiung, S. 17. Diesen Konnex stellt Dussel auch in seinen Anti-Cartesianischen Meditationen (2008) her. Vgl. ders., Der Gegendiskurs der Moderne, S. 29. Zum Zusammenhang zwischen dem Cogito von Descartes und der weltweiten Ausbreitung europäischen Denkens durch den Kolonialismus bemerkt er hier: »Sein künftiges ego cogito sollte ein cogitatum bilden, das – unter anderen entes zu seiner Verfügung – die Leiblichkeit der kolonialen Subjekte als ausbeutbare Maschinen situierte: die Leiblichkeit der Indios in der encomienda, der mita oder der lateinamerikanischen hacienda, oder die der afrikanischen Sklaven im ›großen Haus‹ der Plantagen Brasiliens, der Karibik oder Neu-Englands.« Ebd., S. 95. Bereits in seiner Philosophie der Befreiung (1977) situiert er den Beginn der europäischen Moderne im Jahr 1492: »Europa ist jetzt das Zentrum. Von der Erfahrung dieser durch Raum und Macht begrenzten Zentralität her beginnt der Europäer an ein konstitutives ›Ich‹ zu glauben. […] Vom ›Ich erobere‹, das in der Welt der Azteken und Inkas in ganz Amerika gilt, vom ›Ich versklave‹, das in der Welt der Schwarzen aus Afrika gilt, die für das Gold und Silber verkauft werden, das mit dem Tod der Indios aus den Tiefen der Minen gewonnen wird, vom ›Ich vernichte‹, das in den Kriegen mit Indien und China bis zum schändlichen Opiumkrieg gilt, von diesem ›Ich‹ geht das Cartesianische Denken im ›Ich denke‹ (ego cogito) aus.« Ders., Philosophie der Befreiung, S. 21. Mignolo, Epistemischer Ungehorsam, S. 51.

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jektivität. »Ich denke, also bin ich alle Menschen«139 , schreibt er in jungen Jahren. Der Geschichte des Kolonialismus liegen Selbstbezüge zugrunde, die er anhand seines emphatischen Konzepts der Sinnlichkeit des Menschen mit Fremdbezügen kontrastiert, ohne den Kolonialismus direkt zu adressieren. Trotzdem nimmt er hiermit bis zu einem gewissen Grad vorweg, was Dussel in seinen Kölner Vorlesungen später unter Transmoderne und den damit verknüpften transkulturellen Praktiken versteht, nämlich die multiperspektivische Rekonstruktion von Prinzipien, die für die Moderne typisch sind und damit die Hinterfragung der Idee von Individualität zugunsten dezentrierter und relationaler Subjektivierungsweisen mehrerer Menschen.140 Feuerbach nimmt damit eine Gegenposition ein zu dem, was Kravagna im Anschluss an Dussel und Latour als ›Reinheitsphantasie‹ der sich in einem selbstbestimmten Subjekt einnistenden kolonialen Moderne einer eingehenden Kritik auch in Bezug auf den modernistischen Kunstdiskurs eines Michael Fried oder Clement Greenberg unterzieht.141 Gegenüber der Ich-Zentriertheit der in Europa aufgekommenen weißen Subjektform ist die Figur des Du für Feuerbach die Voraussetzung sinnlicher Verhältnisse sowohl zwischen Menschen als auch zwischen ihnen und Natur. Dieses Du ist nicht im Sinne einer uneinholbaren Alterität zu verstehen, wie sie das Werk von Emmanuel Lé-

Ludwig Feuerbach, Über die Vernunft, in: ders., »Werke in sechs Bänden, Band 1, Frühe Schriften (1828–1830)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975, S. 50. Dieser »oberste Lehrsatz« ist für den jungen Feuerbach »absolutes Prinzip der Morallehre«: »Denn darum, weil ich im Denken nicht unterschieden und getrennt vom andern bin, muß ich auch im Handeln darauf ausgehen, nicht vom andern getrennt zu sein, um diese ewige und ansichseiende Einheit – die nicht durch mein Tun und Bewusstsein bewirkt wird – auch in mir selbst, der ich den andern ausschließender einzener Mensch bin, zur Erscheinung, Ausdruck und Verwirklichung zu bringen.« Ebd. Das berühmte Diktum Feuerbachs korrespondiert mit der südafrikanischen Ubuntu-Philosophie und deren Leitsatz ›Ich bin, weil wir sind‹, über den Leonhard Praeg schreibt: »To know that I belong; that is, to feel that I belong, requires something that cannot be thought, something that happens beyond the limits of thinking – an exchange with others that, for as long as I remain open to it, may constitute being as belonging.« Ders., A Report on Ubuntu, Scottsville: University of KwaZulu-Natal Press, 2014, S. 226. Zum ego cogito, ergo sum und zu Hegels Weltgeist merkt er aus dieser Perspektive an: »What Descartes sacrificially excluded from the dictum ›Cogito ergo sum‹ was not simply any reference to an Other, but the notion, fact or recognition of relationality itself, of the very idea that the self exists in relation to the world […]. The combined rationalism of Descartes and the historiography of Hegel literally made relational existence the unthought of Western modernity, by declaring relationality rationally dispensable and historically irrelevant. By ›unthought‹, I mean to refer to that which first had to be recognized […] before it could get problematized and declared rationally suspicious and historically irrelevant. The logic of interdependence was twice transcended in order to become the unthought foundation of Western modernity.« Ebd., S. 221f. 140 Vgl. Dussel, Der Gegendiskurs der Moderne, S. 155. 141 Vgl. Kravagna, Transmoderne, S. 174ff. 139

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vinas142 oder Martin Buber143 prägt, sondern verweist auf andere Subjektivitäten, von denen Subjektivität mitbestimmt wird. Dussel liegt zwar richtig, wenn er bezüglich seiner Philosophie der Befreiung (1977) – »der Armen, der unterdrückten Klassen, der abhängigen unterentwickelten, unzivilisierten Nationen«144 – mit Lévinas auf einer radikalen Exteriorität gegenüber der »kapitalistisch-imperialistische[n] Gesellschaftsformation«145 besteht und betont, dass sie sich »von unten«146 und »vom Anderen her«147 entfaltet und »nicht im Projekt des Systems enthalten«148 ist. Im Unterschied zu ihm wird hier allerdings angenommen, dass diese Exteriorität nicht absolut ist, sondern die Sinnlichkeit des Menschen immer auch mit Produktionsverhältnissen (Marx/Engels) ebenso wie mit Macht- und Wissensverhältnissen (Foucault) verwoben ist. Sie weist aber eine Seite auf, die von ihnen abweicht. Was Lévinas und mit ihm Dussel als absolutes Außen denken, soll hier als relatives Außen verstanden werden, nämlich als der sinnliche Bezug mehrerer Menschen aufeinander sowie auf eine sie durchdringende Natur. Fanon hat in diesem Zusammenhang

142 »Der Andere bleibt unendlich transzendent, unendlich fremd – aber sein Antlitz, in dem sich seine Epiphanie ereignet und das nach mir ruft, bricht mit der Welt, die unsere gemeinsame Welt sein kann […].« Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 278. Der Andere ist bei Lévinas ein Sie, kein Du. Vgl. ebd., S. 144. Vgl. auch die in der Aufsatzsammlung enthaltenen Texte in ders., Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg und München: Karl Alber, 2017. Zur Kritik an der eurozentrischen Ausrichtung seines Konzepts des Antlitzes und dessen Ausklammerung der ›Gesichtslosen‹ vgl. Judith Butler, Am Scheideweg. Judentum und die Kritik am Zionismus, Frankfurt a.M.: Campus, 2013. Auch Peter Hallward moniert: »To be responsible in this sense is to be the creature of a Creator beyond relation, a Creator whose infinite Reality lies beyond and prior to the realm of finitude and ontology (or ›creation‹) itself.« Ders., Absolutely Postcolonial. Writing Between the Singular and the Specific, Manchester und New York: Manchester University Press, 2001, S. 346. Ott wiederum stellt bezüglich der geradezu erhabenen Figur des Anderen bei Lévinas fest: »In seiner ebenfalls kriegserschütterten Philosophie wächst sich der Andere – auch im Deutschen immer groß geschrieben – allerdings zu einem zunehmend übermenschlichen Anderen aus, der traumatisierende und passivierende Erfahrungen erzwingt. Aufgrund seiner Übermächtigkeit ist nicht zu erkennen, wie er ein Echo der Verantwortung katalysieren kann. Die von Lévinas theoretisierte Passivierung des Respondenten erscheint denn auch ungeeignet, die gesellschaftliche Unsichtbarkeit der pluralen A/anderen zu beheben, erzählt dafür noch einmal von einem ichzentrierten Subjekt.« Dies., Welches Außen des Denkens?, S. 23f. Kurzum, es »wachsen der herbeizitierten Alterität bei Lévinas im Laufe der philosophischen Darlegung immer längere A-Schenkel zu, bis sie sich zu einer derart erhabenen Größe aufbläht, dass ihr nurmehr in nicht-entscheidbarer Responsivität und Passivität begegnet werden kann und die Philosophie in eine theologienahe Ethik transformiert.« Ebd., S. 32. Zur Kritik an Figuren des Anderen im Umfeld des französischen ›Poststrukturalismus‹ vgl. auch Rey Chow, The Protestant Ethnic & The Spirit of Capitalism, New York: Columbia University Press, 2002. 143 Vgl. Martin Buber, Ich und Du, Leipzig: Reclam, 1995. »Wer das abgetrennte Ich mit großem Anfangsbuchstaben spricht, deckt die Schande des Weltgeistes auf, der zur Geistigkeit erniedrigt worden ist«, heißt es dort. Ebd., S. 64. 144 Dussel, Philosophie der Befreiung, S. 160. 145 Ebd., S. 159. 146 Ders., Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen, S. 119. 147 Ebd. 148 Ders., Philosophie der Befreiung, S. 160.

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seinen Begriff der ›Soziogenese‹ eingeführt. »Der Mensch ist das, wodurch die Gesellschaft zum Sein gelangt«149 , schreibt er. Die Praxis mehr als nur eines Menschen und das Menschsein als Praxis sind demnach relativ exterior gegenüber gesellschaftlichen Verhältnissen, von denen sie dennoch nicht losgelöst sind. In Zur Ökologie der Existenz. Freiheit, Gleichheit Umwelt (2017) stellt Thomas Seibert dementsprechend klar: »Praxis schließt also immer Subjektivität, schließt immer Subjektivierungen ein, sie bringt Subjektivität hervor und ist so verstanden immer subjektive Praxis. Sie tut dies allerdings stets im ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.«150 Dennoch sind sinnliche nicht auf gesellschaftliche Verhältnisse reduzierbar. Mit Seibert ließe sich sagen, dass der sinnliche Bezug einzelner Menschen aufeinander immer mehr ist, als durch gesellschaftliche Verhältnisse determiniert werden kann.151 Trotz ihrer Kritik an Lévinas hält Ott ihm und seinem Konzept der Exteriorität zugute, dass er auch »›Sensibilität‹ als Ausgesetztsein an den Anderen schlechthin, als primäre sinnliche Empfindlichkeit und passive Empfängnis theoretisiert, die den conatus des ›esse‹ umkehre und ein rückhaltloses ›Angeboten-Gewesen-Sein‹ […] erzwinge, nicht als großzügigen Akt, sondern als ›Leiden […]‹ der Sensibilität, als ›Verletzlichkeit selbst […]‹«152 . Wird Exteriorität, wie Lévinas sie als absolute entwirft, »als Gegenüber auf Augenhöhe«153 und »in einem Art- oder Gattungsbegriff«154 relativiert und in die Sinnlichkeit des Menschen eingelassen, verweist sie auf von Fanon mit seinem Konzept der Soziogenese angesprochene Probleme. Genau deswegen sind sinnliche Verhältnisse nicht per se gewaltfreie Verhältnisse. Sowohl Produktionsverhältnisse als auch Macht- und Wissensverhältnisse basieren auf sinnlichen Verhältnissen. Sie sind deren eine Seite, die bis hin zu kolonialer Gewalt reichen kann. Aber die koloniale Ich-Instanz, die sich im Sinne Dussels als Zentrum setzt und gegenüber einem dann nur noch peripheren Du durchsetzt, kappt sich in deren Versklavung zugleich von einer anderen Subjektivität ab.155 Die andere Seite sinnlicher 149 Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, Wien: Turia + Kant, 2016, S. 11. Vgl. hierzu auch Sylvia Wynter, Towards the Sociogenic Principle: Fanon, Identity, the Puzzle of Conscious Experience, and What It Is Like to Be ›Black‹, in: Mercedes F. Duran-Cogan und Antonio Gomez-Moriana (Hg.), »National Identities and Sociopolitical Changes in Latin America«, New York: Routledge, 2001. Die Nähe von Fanons Überlegungen zur Soziogenese mehrerer Menschen zu Guattaris auf nicht-menschliche Akteur*innen erweiterten Ökologie ist frappant: vgl. Félix Guattari, Die drei Ökologien, Wien: Passagen, 1994. 150 Seibert, Zur Ökologie der Existenz, S. 97. 151 Vgl. ebd., S. 425. 152 Ott, Welches Außen des Denkens?, S. 149. Ott zufolge geht es bei Lévinas also darum, »sich nicht nur von zwanghaften Vorstellungen der Reduktion des Anderen auf das Selbe und Wiedererkennbare zu lösen, sondern sich diesem Anderen auszusetzen, sich von ihm angehen zu lassen und die im Selben gefangenen Anderen zu befreien, wie man unter Bezugnahme auf die zeitgleiche Entkolonialisierungsbewegung sagen könnte.« Ebd., S. 148. In diesem Kontext verweist sie auch auf das zeitgleiche Erscheinen von Fanons Die Verdammten dieser Erde und Lévinas’ Totalität und Unendlichkeit im Jahr 1961. Vgl., ebd., S. 144. 153 Ebd., S. 151. 154 Ebd. 155 Vgl. hierzu Iris Därmann, Undienlichkeit. Gewaltgeschichte und politische Philosophie, Berlin: Matthes & Seitz, 2021. Zwar findet die Versklavung von Menschen durch andere Menschen auch auf der Ebene sinnlicher Verhältnisse statt, kappt dabei aber die Responsivität zwischen ihnen und ver-

1. Mit Feuerbach im postkolonialen Anthropozän

Verhältnisse hingegen, die Feuerbach gegen den Subjektivismus seiner Zeit ausspielt, ihre ästhetische ebenso wie ethische Seite, um die es in der vorliegenden Arbeit geht, provoziert Öffnungen mehrerer Subjektivitäten füreinander. In seiner Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza (1833) markiert Feuerbach anhand von Descartes einen wichtigen Meilenstein in der Entwicklung der für das postkoloniale Anthropozän prägenden Mentalität. In dessen Meditationen (1642) sieht er eine zunehmende Zentrierung auf erste unter Auslassung zweiter Personen am Werk. »Denn indem ich zweifle an der Existenz alles dessen, was ich nur immer von mir unterscheide und in diesem Unterscheiden als ein Entgegengesetztes von mir erkenne, indem ich annehme, daß nichts außerhalb von mir existiert, und daher die Realität des mir Entgegengesetzen aufhebe, so beziehe ich gerade dadurch mich auf mich selbst, so setze ich eben damit die Realität meiner selbst; das Verneinen der Realität des von mir Absonderbaren, des mir Entgegengesetzten ist meine Bejahung.«156 In Absetzung von solchen Denkweisen wird zu zeigen sein, inwiefern sinnliche Verhältnisse zwischen Ich und Du, wie sie von Feuerbach im Kontrast zu einer Ausklammerung zweiter durch erste Personen gefordert werden, gerade unter dem Vorzeichen einer sowohl ökologisch als auch politisch verstandenen Klimakrise von erheblicher Bedeutung sind. Feuerbachs Emphase der Sinnlichkeit des Menschen lässt sich mit Dussel als Kritik an der »Leugnung des Anderen als Anderem«157 und »Kampf um die Bejahung des Anderen als anderer, nicht als gleicher«158 verstehen. Die den hier präsentierten Überlegungen vorausgehende Annahme lautet, dass sich das postkoloniale Anthropozän als Ausbeutung der Natur und anderer Menschen nur entfalten konnte, weil ihm eine Subjektivität zugrunde liegt, gegen die sich Feuerbach als weißer Philosoph des 19. Jahrhunderts wendet. Aufseiten der Frankfurter Schule war es Max Horkheimer, der in Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1947) ohne Umschweife auf das Problem einer unter Ausblendung zweiter in ersten Personen verankerten Subjektivität hingewiesen hat. Für ihn reflektiert »[d]ie Entwicklung des Ichbegriffs«159 sowohl die »Geschichte der Anstrengungen

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wandelt neben anderen Dingen auch Subjektivität in eine Plantage. »Die Peitsche ist ein altes Instrument des Befehls, der Unterwerfung und der Züchtigung. Es markiert mit lautem Knall, dass weder Menschen noch Tiere ohne schmerzhaften Zwang für einen anderen arbeiten und ergebene Dienste tun«, schreibt Därmann an prominenter Stelle ihrer Studie. Ebd., S. 104. Elsa Dorlin wiederum bezeichnet das »Eigentumsrecht« als »Schema der herrschenden modernen Subjektivität« und verankert es in einem Ich, »das zu sich selbst kommt, weil es ständig von einem unbegrenzten Prozess der Aneignung (seiner Handlungen, Erinnerungen, Gedanken, Wünsche, bis in seine kleinsten Regungen und Gesten hinein) begleitet ist.« Dies., Selbstverteidigung. Eine Philosophie der Gewalt, Berlin: Suhrkamp, 2020, S. 113ff. Ludwig Feuerbach, Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza, Leipzig: Reclam, 1990, S. 185. Dussel, Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen, S. 54. Ders., Der Gegendiskurs der Moderne, S. 122f. Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt a.M.: Fischer, 2007, S. 122.

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

des Menschen, die Natur zu unterjochen«160 als auch »der Unterjochung des Menschen durch den Menschen«161 . Wynter betont, dass die Ursache des »now major collectively human predicament: the ongoing process of global warming, climate instability, and ecosystemic catastrophe«162 genau genommen »the figure of the West’s liberal monohumanist Man«163 ist, und schlägt als Alternative dazu auf Grundlage von Fanons Konzept der Soziogenese ein ökumenisches Verständnis des Menschen und Subjektivierungsweisen vor, die mehrere Subjektivitäten miteinander ins Verhältnis setzen – »humanness is no longer a noun. Being human is a praxis.«164 Balibar geht in eine andere Richtung, wenn er nach der rätselhaften Grenze zwischen Grausamkeit und Geist – wobei »die Erfahrungen der Grausamkeit immer ein besonders heftiges Verlangen nach Idealität zum Gegenstück haben«165 – fragt: »Wie sähe die Form des ›Weltgeistes‹ aus, nachdem die Globalität nicht mehr eine anzustrebende Perspektive, sondern eine vollendete Tatsache ist?«166 Balibar unterscheidet zwischen drei Facetten des Universalismus des Geistes und weist ihm in Anklängen an ein lacanianisches Vokabular drei Ebenen zu: eine reale (»[i]ch verstehe darunter den Gedanken einer wechselseitigen Abhängigkeit zwischen den Elementen oder Einheiten, aus denen sich das zusammensetzen lässt, was wir die Welt nennen«167 ), eine fiktive (welche als »Identifikation mit dem Allgemeinen«168 reale Beziehungen in ihrer Besonderheit normalisiert: »Sie bedeutet also, dass das individuelle Subjekt die Vorstellung eines Urbilds des ›menschlichen‹ – des wahrhaft menschlichen – Subjekts verinnerlicht und sich einverleibt«169 ) und eine ideale Ebene (im Sinne »symbolischer Allgemeinheit«170 ). Dem fügt er hinzu: »Natürlich müssen wir sogleich präzisieren, dass eine ›fiktive‹ Universalität faktisch nie existieren dürfte, ohne einen latenten Bezug zur ›idealen‹ Universalität zu haben […].«171 Hegels Weltgeist, den Feuerbach anhand der Sinnlichkeit des Menschen mit dem von ihm Ausgeschlossenen konfrontiert, wäre demnach nicht nur grausam, sondern auch ebenso fiktiv wie ideal, während die sinnlichen Verhältnisse zwischen Menschen – ihr Pluriversalismus der Sinnlichkeit – ›real‹ wären, und dies in einer von Balibar spezifisch gefassten geschichtlichen Situation. »Wir können also […] die reale Universalität als eine historische Epoche oder Etappe bezeichnen, in der die Menschheit zum ersten Mal nicht mehr nur ein Ideal oder eine Utopie ist, sondern zur Existenzbedingung der menschlichen Individuen selbst geworden 160 Ebd. 161 Ebd. 162 Sylvia Wynter und Katherine McKittrick, Unparalleled Catastrophe for Our Species? Or, to Give Humanness a Different Future: Conversations, in: Katherine McKittrick (Hg.), »Sylvia Wynter. On Being Human as Praxis«, Durham: Duke University Press, 2015., S. 20. 163 Ebd., S. 23. 164 Ebd. 165 Balibar, Der Schauplatz des Anderen, S. 280. 166 Ebd., S. 279f. 167 Ebd., S. 282. 168 Ebd., S. 300. 169 Ebd. 170 Ebd., S. 301. 171 Ebd., S. 302.

1. Mit Feuerbach im postkolonialen Anthropozän

ist. Freilich hat eine solche Situation nichts mit wechselseitiger Anerkennung zu tun; sie entspricht eher einer Verallgemeinerung der Ausgrenzungen und Konflikte. Statt dass […] jeder Einzelne zumindest potentiell mit allen anderen kommuniziert, vermitteln in dieser Situation die globalen Kommunikationsnetze jedem menschlichen Individuum ein Zerrbild, ein Klischee von allen anderen, indem sie diese auf den Gegensatz von ›Gleichartigen‹ und ›Andersartigen‹ – oder gar von Menschen ›anderer Art‹ – projizieren. Wir müssen also zugeben, dass die Identitäten immer weniger separiert und auch immer unversöhnlicher geworden sind, gleichzeitig uneindeutiger und gegensätzlicher.«172 Im Anschluss an Balibar geht es in dieser Arbeit um Feuerbachs Abwendung vom Individualismus, der aus der Sklaverei hervorgeht und mit dem Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft korrespondiert, welche sich heute vermittels des Kapitals über den gesamten Planeten ausgebreitet hat, zugunsten des Menschen als Teilwesen einer nicht fixierbaren Gattung im Sinne der sinnlichen Verhältnisse zwischen vielen Menschen sowie zwischen ihnen und Natur als ihrem Zusammenhang. »Und auch der Hegel der Phänomenologie des Geistes konnte nicht ahnen, daß das aufkommende Anthropozän die Richtung seines Entwurfs radikal umkehren und die Menschen nicht in die Abenteuer des absoluten Geistes dialektisch einbezogen würden, sondern in die Erdgeschichte«173 , bemerkt Latour 2013 im Rahmen seiner Gifford Lectureship. Indem hier der Vorschlag gemacht wird, Feuerbachs Sinnlichkeit des Menschen als Bezug von Subjektivität auf anderes (Natur) und andere (andere Menschen) zu verstehen, mit denen sie neben anderen Zusammenhängen auch in einem sinnlichen Kontakt steht, der die Form von Begegnungen hat, soll vermieden werden, Menschen auf ihre Zugehörigkeit zu einer einheitlich konzipierten anthropozentrischen Tradition zu reduzieren, die unter anderem sowohl aus marxistischer Perspektive als auch von Foucault hinlänglich einer Kritik unterzogen wurde. Im Gegenteil wird zwischen den folgenden Szenen des Menschen demonstriert werden, dass Feuerbachs Konzept der Sinnlichkeit eine Kritik an jeglichem Denken darstellt, das zu wissen vorgibt, was Menschen seien oder sein sollten, um sie so auf ein bestimmtes Genre zu reduzieren. Feuerbachs Verständnis von Subjektivität ist in deren ökologischer wie politischer Verstrickung mit etwas zu sehen, das nicht mit ihr identisch ist. Seine Anthropologie ist demnach kein Anthropozentrismus.174 In ihr geht es gerade um die menschliche Gattung als etwas sich nicht innerliches, sondern äußerliches. Es geht hier nicht um einen einzigen Menschen. Vielmehr geht es neben der Atmosphäre, Pflanzen und Tieren um sehr, sehr viele Menschen.

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Ebd., S. 290. Latour, Kampf um Gaia, S. 73. Vgl. Hennig Röhr, Endlichkeit und Dezentrierung. Zur Anthropologie Ludwig Feuerbachs, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2000.

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Erste Szene des Menschen Rugilė Barzdžiukaitės, Vaiva Grainytės und Lina Lapelytės Sun & Sea (2017)

Bevor Sun & Sea (2017), die Arbeit eines Künstlerinnentrios aus Litauen, 2019 auf der Kunstbiennale in Venedig den Goldenen Löwen gewinnt, haben die drei Macherinnen des Stücks einen mehrjährigen gemeinsamen Prozess durchlaufen. Die von ihnen so bezeichnete Opera-Performance, die von Neon Realism (Litauen) produziert und von der Nida Art Colony, der Vilnius Academy of Arts, der Akademie Schloss Solitude, dem Goethe-Institut, den Münchner Kammerspielen, der National Gallery of Art in Vilnius, dem Staatsschauspiel Dresden, The Momentary und Arkansas koproduziert wurde, ist die zweite gemeinsame Arbeit von Rugilė Barzdžiukaitė (Regie und Szenografie), Vaiva Grainytė (Librettotext) und Lina Lapelytė (Musikkomposition). Bereits 2013 haben sie zusammen die zeitgenössische Oper Have A Good Day! produziert, die eine Reihe stilistischer Gemeinsamkeiten mit Sun & Sea (2017) aufweist. Im ersten gemeinsamen Stück des Trios sitzt ein rundes Dutzend als Supermarktkassiererinnen verkleideter Sängerinnen in einer horizontalen Reihe auf erhöhten Stühlen vor dem Publikum, scannt Barcodes und berichtet auf gesanglicher Ebene – in der Form minimaler Variation, unterlegt von repetitiven Synthesizer- und Supermarktsampleteppichen, einem Klavier und den live auf der Bühne erzeugten Geräuschen – über ihren tristen Alltag. Vorbeiziehende Waren und Preise, ein ständig nur mechanischer Kontakt zur Kundschaft, der aus leeren Begrüßungen und aufgesetztem Lächeln besteht und Arbeit bis zur Erschöpfung bei chronischer Unterbezahlung: Bereits Have A Good Day!, das seit 2013 international getourt ist und mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde, verbindet formale Stringenz und die Hybridisierung unterschiedlicher Genres zwischen Lehrstück, Oper, Musical und Minimal Music. Die Grundstruktur der Minimal Music, motivische Wiederholung und Differenz, die für Komponisten wie Philip Glass oder Steve Reich noch Selbstzweck und Ausdruck einer l’art pour l’art war, wird hier sehr ernsthaft parodiert, indem sie in Korrespondenz mit gesellschaftlichen Verhältnissen gesetzt wird, nämlich mit der leeren Warenzirkulation und Expansion des Tauschwerts bis in kleinste zwischenmenschliche Interaktionen hinein. In diesem Kontext trifft die automatische Qualität von Loops und Klangflächen auf die in Operngesang geschulten Stimmen der

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Darstellerinnen. Schon diese ungewöhnliche Begegnung lässt einsame menschliche Subjektivitäten mit dem Warenzusammenhang kollidieren, in den sie eingelassen sind. Mehrere Jahre nach Have A Good Day! (2013), das in seinem räumlichen Setting einer typischen Theatersituation und deren Konfrontation zwischen Publikums- und Bühnenbereich entspricht, wird 2017 in der National Gallery of Art in Vilnius ein ungewöhnliches tableau vivant-artiges Arrangement installiert, das die experimentelle Kooperation zwischen Barzdžiukaitė, Grainytė und Lapelytė in Richtung der Bildenden Kunst bewegt.1 Nachdem sie eine Treppe im Foyer der Galerie hinaufgestiegen sind, versammeln sich manche der Zuschauer*innen auf einem Balkon, der von drei Seiten eine darunter liegende Halle umgibt. Andere beobachten das Geschehen von der Treppe aus. Von oben herab blicken sie auf eine mit Sand bedeckte Fläche. Dicht gedrängt liegen dort einzelne Menschen auf Handtüchern – Männer und Frauen unterschiedlichen Alters und Kinder, darunter auch ein Zwillingspaar, das gegen Ende des Stücks einen wichtigen Auftritt haben wird. Zwischen ihnen befinden sich zahlreiche aus Strandurlauben bekannte Gegenstände und Utensilien: Badeschuhe, Bücher, Handtaschen, Plastiktüten, Plastikspielzeug wie beispielsweise Autos oder Schaufeln, Rücksäcke, Sonnenbrillen und -hüte, Smartphones, Tuben mit Sonnencreme, Spielkarten und ein Schachspiel, Thermoskannen, Tupperboxen, Wasserflaschen, Zeitschriften und vieles mehr. Wenige haben auch Plastikliegen mitgebracht. Überhaupt fällt auf, dass viele der Objekte aus Plastik gefertigt sind. Bereits nach wenigen Minuten sticht die besondere ästhetische Qualität dieses Bildes, das als installativ arrangierte und räumlich komprimierte Oper gelesen werden kann, ins Auge. Der herkömmlicherweise vertikal aufgerichtete, raumgreifende Opernkörper wird hier in sich isoliert, horizontal ausgestreckt und in den Sand gelegt. Dem etwa 70-minutigen Stück, das auf der Kunstbiennale in Venedig 2019 jeweils mittwochs und samstags von 10 bis 18 Uhr im Loop gezeigt wurde, liegt ein aus 24 Teilen bestehendes Libretto zugrunde, dessen einzelne Elemente in vielerlei Hinsicht miteinander in Resonanz stehen.2 Manchmal verlassen einzelne Sänger*innen für kurze Zeit den Strand, ansonsten sind sie permanent körperlich auf der Bühne anwesend, wobei je nach Teil und basierend

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Die hier durchgeführte Detailstudie der Opera-Performance stützt sich auf die Filmfassung des Stücks, die aus einer editierten Aufzeichnung der Produktion aus mehreren Kameraperspektiven 2017 in der National Gallery of Art in Vilnius hervorgegangen ist und von den Künstlerinnen freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurde. Der Autor der vorliegenden Arbeit hat am 15. Juni 2019 im litauischen Pavillon auf der Kunstbiennale in Venedig eine spätere Fassung von Sun & Sea persönlich miterleben dürfen. Diese in einem auf der Rückseite des Arsenale gelegenen alten Depot der Marine gemachte Seherfahrung war prägend für die hier angestellten Überlegungen. Der Cast sowie einzelne Figurenkonstellationen des Stücks in Venedig waren, wahrscheinlich im Hinblick auf die internationalere Zusammensetzung des Publikums vor Ort, diverser als 2017 in Vilnius. Hier gab es neben einem schwulen Pärchen auch Schwarze Performer*innen und mehr Kinder auf der Bühne als bei der Premiere zwei Jahre zuvor. Außerdem waren mehrere Hunde Teil mancher Durchläufe. Zur Relevanz des situativen Aspekts von tableaux vivants für die Gegenwartskunst vgl. Stefan Apostolou-Hölscher, Vermögende Körper. Zeitgenössischer Tanz zwischen Ästhetik und Biopolitik, Bielefeld: transcript, 2015. Das Libretto zu Sun & Sea ist online verfügbar unter https://www.sunandsea.lt/Sun-and-Sea_libre tto.pdf, Zugriff am 26.5.2023.

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auf dem Text des Librettos verschiedene Einzelpersonen oder Gruppen allein auf akustischer Ebene über ihren Gesang in den Vordergrund treten. Dazwischen gibt es immer wieder längere Passagen, in denen alle gemeinsam als Chor singen, ohne sich aus ihren voneinander abgeschotteten und in sich gekehrten Liegepositionen am Strand und ihrem jeweiligen Gruppenarrangement zu entfernen. Während der nach oben strebende Opernkörper, der als künstlerisches Ausdrucksmittel mit einer Subjektivität korrespondiert, die in der vorliegenden Arbeit weiß markiert werden soll, sich üblicherweise singend seiner Individualität versichert, vor einem Hintergrund abhebt und in den Vordergrund rückt, bildet die tourismusindustrielle Körperlandschaft in Sun & Sea (2017), die unterschiedliche Skalierungen des Klimawandels bezüglich globaler Infrastrukturen des Reisens manifestiert, einen Hintergrund, in dem auch weiße Körper keine hervorgehobene Stellung neben ihren Plastikprodukten und Badehandtüchern einnehmen. Die von oben nach unten gerichtete Aufmerksamkeit der Zuschauer*innen findet deswegen nur einen akustischen Halt inmitten des stetigen Abtastens der hingestreuten Szenerie, wenn einzelne Körper zu singen beginnen und ihre Stimmen, verstärkt über Mikroport und über dem Strand installierte Lautsprecher, sie aus dem Chor heraustreten lassen. Dabei werden sie zwar nicht zu Protagonist*innen im Sinne von Träger*innen einer Handlung, die sich zwischen ihnen entfalten würde, wohl aber zu Bot*innen und Zeug*innen eines multiperspektiven Geschehens, mit dem sie alle in Zusammenhang stehen, das sich jedoch in ihren Berichten jeweils anders darstellt: der Klimakrise und Erderwärmung, die eine herannahende Katastrophe ankündigen, von der einzelne Subjektivitäten in einen geologischen Kontext hineingezogen werden. Sun & Sea (2017) zeigt viele, vor allem weiße Menschen am Strand, die dort ihre Spuren und Dinge hinterlassen, anstatt wie ein Gesicht im Sand zu verschwinden, weil sich etwa im Sinne Foucaults eine neue Denkordnung etabliert hätte.3 Die Verwobenheit der Erdgeschichte mit menschlichen Geschichten, von deren möglichem Ende Sea & Sun (2017) in verästelter Weise erzählt, zeigt sich auch in der die 24 Teile des Librettos durchziehenden Metaphorik. So taucht beispielsweise immer wieder das Meer als Ort auf, aus dem das kontinentale Leben entsprungen ist und in den es wieder zurückkehren wird, oder die Lava, die zunächst den psychischen Zustand eines kurz vor dem Burnout stehenden Managers bezeichnet (»20. SONG OF EXHAUSTION. WORCAHOLIC’S SONG«) und in der darauffolgenden Szene einen Vulkan evoziert, mit dessen Ausbruch kein Klimatologe hätte rechnen können und dessen Rußpartikel sich in Glas verwandeln, wenn sie in die Turbine eines Flugzeugs geraten (»21. VOLCANO STORY«). Die Form der Minimal Music verweist dabei auf das Problem der Skalierung. Obwohl die 24 Teile, aus denen Sun & Sea (2017) besteht, zwar ein hohes Maß an Autonomie aufweisen und im zeitlichen Ablauf des Stücks ähnlich wie die Tracks eines Musikalbums aufeinanderfolgen, unterbrochen von kurzen Momenten, in denen nur die nicht mikrofonierten Strandgeräusche zu hören sind, nehmen sie doch immer wieder Motive voneinander auf und wiederholen in Variationen, was zuvor in einem anderen Licht erschienen ist.

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Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1971, S. 462.

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Abb. 2: Sun & Sea auf der Biennale Arte, Venedig, 2019 (Foto von Andrej Vasilenko, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerinnen)

Abb. 3: Sun & Sea im Teatro Argentina, Rom, 2021 (Foto von Neon Realism, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerinnen)

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Abb. 4 & 5: Sun & Sea auf der Biennale Arte, Venedig, 2019 (Foto von Andrej Vasilenko, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerinnen)

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Zu Beginn des Stücks hören wir zunächst einen geloopten Orgelklang, der aus einem einzigen Ton besteht, der langsam mit weiteren Soundlayern zusammengeschichtet wird (»1. SUNSCREEN BOSSA NOVA«). Ein älteres Ehepaar liegt wie alle anderen ausgestreckt auf Badehandtüchern im Sand. Die Frau beginnt davon zu singen, dass sie Sonnencreme benötige. Sie wolle ihren Mann und sich damit einreiben, um Sonnenbrände zu vermeiden. Auf ihr »Hand it I will rub you …«4 folgt ein Chor, der an Seemannslieder erinnert, die von der Sehnsucht nach neuen und dem Heimweh nach alten Ufern handeln. Danach, der Blick der Besucher*innen der Galerie tastet sich von oben nach unten schauend an allerlei Krimskrams im Sand und zwischen mehreren dicht gedrängten Menschengruppen entlang, gerät ein junges Paar in den Fokus (»2. YOUNG MAN FROM THE VOLCANO COUPLE«). Er berichtet, er habe im Rahmen eines Kurzurlaubs nach Portugal entfliehen wollen, nur so zum Spaß. Dann sei es zu einer ungeplanten Zwischenlandung in London gekommen, wo er sich kurz aufgehalten, Freunde kontaktiert und so seine jetzige Partnerin kennengelernt habe, ohne die er seitdem keinen einzigen Tag verbringen würde. Etwas abrupt schließt eine Aussage an diese Erzählung an, von der nicht klar ist, ob sie sich auf diese junge Liebe oder eine andere Ebene bezieht: »Not a single climatologist predicted a/scenario like this.« Nun singen alle chorisch und fast im Tonfall eines Trauerliedes davon, dass heute die rote und gelbe Fahne am Strand gehisst worden seien und es deshalb nicht erlaubt sei, tiefer als bis zu den Knien ins Wasser zu gehen (»3. VACATIONERS’ CHORUS«). In dieser wie in allen folgenden Szenen, in denen die Darsteller*innen auf musikalischer Ebene gleichermaßen vernehmbar sind, wirkt Sun & Sea (2017) auf visueller Ebene noch mehr wie eine Installation, in der sich die europäische Mentalität auf groteske Weise zwischen Eroberungs- und Erholungsdrang vereinsamt hingestreut inmitten von Eimern und Badeanzügen wiederfindet und vermittels allzu persönlicher, individueller Gesangseinlagen ihr Wohlstandsleid beklagt. Der Blick der Zuschauer*innen von oben herab auf die Szenerie ist ebenso voyeuristisch wie observatorisch, wobei die ihm ausgesetzten Menschen zugleich selbstbewusst und wie in tiefer Depression versunken wirken. Nun setzt das Gesangssolo einer allein angereisten Frau in blauem Badeanzug ein. Noch offensichtlicher als zuvor mischen sich in dessen Rahmen individuelle mit planetarischen Narrativen (»4. SIREN’S ARIA«). Die Frau berichtet, dass ihr Ehemann, obwohl er ein guter Schwimmer gewesen sei, während einer Reise in Südostasien vom Meer verschluckt und seitdem nie wieder gesehen worden sei. Wie die Geschichte des jungen Mannes und seiner Zwischenlandung in London ist auch die ihre von einer unvorhersehbaren Zäsur gekennzeichnet: »To this very day, no one can understand/how it could happen to him:/Some say he was swimming out too far/beyond the shore,/And the deep waters took him in./Others, knowing him better,/Claim he had suffered a cramp due to/a magnesium deficiency …« Nachdem wieder alle im Chor davon berichtet haben, dass es strengstens empfohlen sei, am Strand zu

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Dieses und alle folgenden Zitate aus dem von Vaiva Grainytė verfassten Gesangtext des Stückes beziehen sich auf die online verfügbare englische Übersetzung des Librettos durch Rimas Užgiris, die aus Anlass der Aufführungen im Rahmen der Kunstbiennale in Venedig 2019 entstanden ist. Die Spiegelstriche (»/») markieren jeweils Zeilensprünge im Libretto und die Gedankenstriche (»–«) vor einzelnen Textzeilen zeigen einen Wechsel der Gesangsstimmen an.

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bleiben und dort Sandburgen zu bauen (»5. VACATIONERS’ CHORUS«), rückt nun eine dreiköpfige Familie durch den Gesang einer stolzen Mutter ins akustische Zentrum des Geschehens (»6. WEALTHY MOMMY’S SONG«). Ihr achteinhalbjähriger Sohn sei schon im schwarzen, gelben, weißen und roten Meer sowie im Mittelmeer geschwommen, ebenso in der Ägäis. »He has already visited two of the world’s/great oceans,/And we’ll visit the remaining ones this/year!«, singt sie operettenhaft, während sie aus ihrer Strandliege sehnsuchtsvoll in den Himmel und an den Zuschauer*innen oben auf dem Balkon vorbei blickt. Wenn die Frau später zu singen fortfährt, klingt das heutige Begehren der Menschen nicht nur in Europa, an das sich die internationale Tourismusindustrie richtet, in seiner Kontinuität mit der kolonialen Aufteilung des Planeten und mit einer Form von Subjektivität an, die über verschiedene color lines hinweg expandiert ist und nur aus sich herauswill, um mit neuen Erlebnisschätzen wieder zu sich zurückzukehren. »Two weeks ago, my husband took me/diving in Australia./Two photographers swam after us –/included in the price!/Our little one stayed on shore together/with our nanny …/We explored the coral forests,/We climbed through their branches,/It certainly tired us, such density!…/What a relief that the Great Barrier Reef/has a restaurant and hotel!/We sat down to sip our piña coladas –/included in the price!« Die weiße Kernfamilie wird in Sun & Sea (2017) zum Synonym für eine global gewordene europäische Subjektivität, die das Leben in Arbeit und Freizeit unterteilt. Ebenso wie die in Sun & Sea (2017) auf dem Strand ausgestreckten Tourist*innen die Aufgabe der Sonne darin sehen, ihre Haut zu bräunen, während sie sich ihr aussetzen und sich mithilfe von Sonnencreme dennoch vor ihr abschirmen, betrachten sie die vielen von ihnen besuchten Orte und ökologischen Kontexte nicht als eigenständigen Realitäten, sondern als Reiseziele, die vermittels (transatlantischer) Flüge mit Düsenantrieb, unter Verbrauch von Kerosin und der Produktion von CO2 , zu erreichen sind. Ziel dieses Reisens sind weniger Begegnungen. Vielmehr geht es beim Tourismus darum, aus persönlichen Eindrücken Fotoalben oder Instagram-Serien zu erstellen. Dabei beruht der globale Tourismus der Gegenwart auf dem Kolonialismus. Ohne das Ankommen an ›neuen Ufern‹, die mehrhundertjährige Geschichte der Eroberung und Ausbeutung anderer Kontinente und die gewaltsame Errichtung einer heutzutage die gesamte Welt umfassenden Plantageninfrastruktur würde es keine Subjektivität geben, deren Begehren auf manchmal tausende Kilometer entfernt gelegene Sandstrände gerichtet ist, die sie sich als Ausgleich für die von ihr geleistete Arbeit wünscht, während sie ihre Reisekosten mit Kreditkarten begleicht, ohne auch für die weitere Aufheizung der Atmosphäre einen angemessenen Preis zu zahlen. Diese Subjektivität wird in Sun & Sea (2017) auf ebenso humorvolle wie immer wieder plötzlich traurige Weise als das in seinen Herkünften weiße Kernproblem anthropozäner Prozesse seziert.

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Abb. 6: Sun & Sea auf der Biennale Arte, Venedig, 2019 (Foto von Andrej Vasilenko, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerinnen)

Abb. 7: Sun & Sea im Vilnius Taxi Park, 2021 (Foto von Evgenia Levin, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerinnen)

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Abb. 8: Sun & Sea auf der Biennale Arte, Venedig, 2019 (Foto von Andrej Vasilenko, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerinnen)

Abb. 9: Sun & Sea im Vilnius Taxi Park, 2021 (Foto von Evgenia Levin, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerinnen)

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Die Zusammenhänge und sinnlichen Verhältnisse, die von einer ursprünglich im Westen geborenen Subjektform gekappt wurden, sind ökologischer ebenso wie politischer Natur. Von der Figur des Individuums und dessen Selbstbezüglichkeit künden in Sun & Sea (2017) eine blonde Frau, wenn sie von einem klaren Himmel ohne Wolken berichtet (»7. CHANSON OF ADMIRATION«), ebenso wie der scheinbar reiche Ehegatte der dreiköpfigen Familie, wenn er gesteht, kurz vor einem Burnout zu stehen (»8. SONG OF EXHAUSTION. WORKAHOLIC’S SONG«). Bevor der Chor in ein mehrfach wiederholtes »Exhaustion« einstimmt, gesteht der in der Tat erschöpft wirkende Mann: »I really don’t feel that I can let myself/slow down,/Because my colleagues will look down/on me./They’ll say I have no strength of will./And I’ll become a loser in my own eyes.« Auch hier wieder verschränken sich einzelne Subjektivitäten mit einem planetarischen Zusammenhang, wenn auf das vom Chor gesungene »Exhaustion, exhaustion, exhaustion,/exhaustion« die Aussage des Mannes folgt: »It’s like a mammoth,/A nonexistent creature, gone extinct.« In solchen Momenten berührt das Motiv des Aussterbens Fragen einer vereinsamten Subjektivität ebenso wie einer durchfurchten Geologie. Obwohl Sun & Sea (2017) von drei weißen Theatermacherinnen produziert wurde, reflektiert es, indem es monologisierende Körper in Badeanzügen am Meer miteinander konstelliert, kritisch aufs Weißsein. Die Inszenierung wäre eine andere, würden People of Color die Mehrheit auf der Bühne bilden. Auf eine im Chor vorgetragene Passage über allgemeine Müdigkeit und Depression (»9. CHANSON OF TOO MUCH SUN«) folgt das Lied eines Alleinreisenden, der über einen Traum berichtet, der wohl von seiner Strandlektüre ausgelöst wurde und davon handelt, dass er vom Autor des Buches zu sich nach Hause eingeladen wurde, ihn dort aber ein Gefühl der Angst beschlichen habe (»10. DREAM«). Sein melodramatisch aufgeladener Gesang wird von dem anhaltend bassigen Brummen des Chores im Hintergrund begleitet, dessen Frequenz bald auch der Synthesizer übernimmt. Nun berichtet der junge Mann, der Buchautor habe ihm im Traum gestanden, er habe einen eigroßen Tumor im Kopf, der einen unaushaltbaren Schmerz erzeuge. Die vielen semantischen Felder, welche die Opera-Performance bisher hat mitschwingen lassen, werden erneut auf die Verschränkung von Menschheits- mit Erdgeschichte hin engführt, wenn der Buchautor aus dem Traum zitiert wird: »I NEED TO EAT A HANDFUL OF/SHRIMP,/AND ONLY THEN DOES THE/SUFFERING END./I HAVE TO GET SOME SHRIMP,/QUICKLY […].« Es folgt eine gruselige Orgelmusik, die aus der frühen Stummfilmzeit stammen und eine von Fritz Lang nie gedrehte, alternative Fassung von Nosferatu akustisch untermalen könnte. Die Atmosphäre ist auf kitschige Weise unheimlich. Der Konnex zwischen der replikatorischen Ausbreitung der weißen Subjektform über den gesamten Planeten und ihrer auf alle möglichen Ökosysteme und Lebensformen gerichteten Extraktionsbestrebung sowie deren einverleibende Ausverleibung manifestiert sich auch in der folgenden Szene, in der ein weiterer junger Mann singt: Hier am Strand seien die ältesten Zivilisationen der Welt versammelt, denn »we are/ Lying here on the beach,/Snacking on super sweet dates imported/from Iran,/Playing a game of chess invented by/Indian Brahmins,/Wearing swimming suits made in the/factories of China –/Is this not a parody of the Silk Road?« (»11. PHILOSOPHER’S COMMENTARY«). Daran schließt der Monolog einer älteren Dame an, die sich über den vielen Müll am Strand und darüber beschwert, dass überall Hundekot zu finden sei

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(»12. SONG OF COMPLAINT«). Das im Folgenden vom Chor gesungene kurze Intermezzo trägt im Libretto keinen Titel (»13.«) und handelt von den waldfarbenen Nuancen des Meeres in dieser Saison. Darauf folgt ein von der jungen Frau, die bereits über ihren vom Meer verschluckten Partner berichtet hat, mit Sopranstimme vorgetragener, geradezu mythologischer Part über die Urgroßmutter aller Fische, die ihren Nachfahren die Botschaft überliefert habe, dass alle Tierreiche ihre eigenen Privilegien hätten und jede Tierart weise geplant worden sei, nur der Mensch nicht: »This mammal with limited lung power,/Still tries so hard to go into the sea,/To dive down deep:/He wants to conquer and control what is/not his own …« (14. »SIREN’S ARIA«). Hierauf antwortet der Chor in einem echoartig wiederholten und langsam aufschäumenden Refrain, dass Flugzeuge in der Luft und Schiffe auf dem Wasser seien und erinnert dabei an eine den Planeten überziehende Infrastruktur, die sich seit dem 15. Jahrhundert zunächst mit europäischen Seeflotten entfaltet hat. Ein popartiger Beat setzt ein, der an New Wave aus den 1980er Jahren erinnert (»15. THE COUPLE’S DISTANCE SONG«). Jetzt singt das junge Paar, von dessen zufälliger Begegnung in London aufgrund einer dort ungeplant stattgefundenen Zwischenlandung zu Beginn des Stücks berichtet wurde, im Duett und verschiebt die Thematik von Sun & Sea (2017) nochmals weg von planetarischen Fragen und dem Problem ökologischer Krisen sowie der drohenden Auslöschung der Menschheit hin zu subjektivitätstheoretischen Belangen. »So what time in the morning is your/flight?«, fragt er sie, und sie antwortet, er starte um 7:30 Uhr. Im Anschluss machen sich die beiden Gedanken darüber, wann sie dementsprechend am Flughafen sein sollten und dass sie schon jetzt traurig seien, den Strand bald verlassen zu müssen. Am Morgen würden sie noch einmal Omelett essen und sich dann in einer Woche wiedersehen. »We should remember to get some gas!«, singt er plötzlich, bevor sie ihn bittet: »Can you rub my shoulders? They’re/burning.« Diese Zeilen werden vom Chor aufgegriffen und in miteinander synkopierten Schleifen wiederholt. In der Form des Kanons breitet sich so eine individuelle Geschichte räumlich aus. Wieder bildet eine an Soundtracks alter Horrorfilme erinnernde Orgelmusik das Intermezzo zur nächsten Szene. Nun wird erneut die Stimme der Mutter der Kernfamilie, deren Ehemann aufgrund von Erschöpfung durch Überarbeitung kurz vor dem psychischen Zusammenbruch steht, über Mikroport an die im Raum verteilten Lautsprecher übertragen (»16. WEALTHY MOMMY’S SONG«). Während ihr Sohn im Liegestuhl rechts neben ihr eine Banane isst, erzählt sie, dass die Familie in eineinhalb Jahren seinen zehnten Geburtstag an einem Strand voller Korallenriffe feiern wolle und er das Great Barrier Reef mit eigenen Augen sehen solle. Noch einmal zählt sie auf, in welchen Ozeanen er schon geschwommen sei und dass sie noch in diesem Jahr die verbleibenden besuchen würden. Als Kommentar auf dieses zwischen Hoffnung und Verzweiflung schwebende familiäre Dreieck wirkt das darauffolgende Solo eines der jungen Männer, in dem er den Herstellungs- und Distributionsprozess einer Banane im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung beschreibt (»17. PHILOSOPHER’S COMMENTARY«). Was in Daniel Kötters und Jochen Beckers Chinafrika.mobile (2017) explizit Thema ist, schwingt in Sun & Sea (2017) immer wieder mit: Eine typische Banana wachse in Südamerika und ende dann – »[s]o far away from home« – in der Auslage irgendeines Supermarkts auf der anderen Seite des Planeten.

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Abb. 10: Sun & Sea auf der Biennale Arte, Venedig, 2019 (Foto von Andrej Vasilenko, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerinnen)

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Abb. 11: Sun & Sea auf der Biennale Arte, Venedig, 2019 (Foto von Andrej Vasilenko, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerinnen)

Abb. 12: Sun & Sea im Vilnius Taxi Park, 2021 (Foto von Evgenia Levin, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerinnen)

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»It only existed to satisfy our hunger in/one bite,/To give us a feeling of bliss./ Serotonin from Ecuador – in our/northern flatland,/For any time of day or time of year …« Wie an keiner Stelle zuvor werden an diesem Punkt Produktionsverhältnisse als ein Aspekt des Szenarios, das in der vorliegenden Arbeit als postkoloniales Anthropozän diskutiert wird, zum Thema gemacht. Wieder kehrt die sich auf vielen Ebenen und menschlichen ebenso wie nicht-menschlichen Plateaus entfaltende Erzählung zu der mit ihrer und der Gesamtsituation unzufriedenen mittelalten Frau zurück (»18. SONG OF COMPLAINT«). In ihrem Gesangssolo berichtet sie von ihrer bereits verstorbenen Großmutter, die sie immer dazu gezwungen habe, geräucherten Fisch mit Mayonnaise zum Frühstück zu essen. Bald werde sie die Möbel und Kleider ihrer Großmutter aus dem landwirtschaftlichen Hof der Familie entfernen. Sie macht einen Gedankensprung: »Everything is out of joint:/The beginning of May brought frost and/snow/And winter gives us buds and mushrooms …/You see, we had Christmas at our/farmhouse,/But this year, there was no frost, no snow,/it felt like it could be Easter!« Auf einem Waldspaziergang habe sie Pfifferlinge gefunden und sich sehr darüber gewundert, wie so etwas zu dieser Jahreszeit möglich sei. Erneut singen alle im Chor (»19. CHANSON OF ADMIRATION«): »Rose-colored dresses flutter:/Jellyfish dance along in pairs –/With emerald-colored bags,/Bottles and red bottle-caps./O the sea never had so much color!« Es folgt eine weitere Gesangseinlage des nervlich überstrapazierten Familienvaters (»20. SONG OF EXHAUSTION. WORKAHOLIC’S SONG«), deren Botenbericht eines persönlichen Schicksals in einem direkten Resonanzverhältnis mit der darauffolgenden Prophezeiung eines katastrophalen Naturereignisses steht (»21. VOLCANO STORY«). Im Sinne Chakrabartys wird so eine homozentrische Perspektive permanent von einer zoozentrischen Ebene überlagert. An der gegenseitigen Vermittlung dieser beiden Szenen von Sun & Sea (2017) zeigt sich, inwiefern Kultur- und Naturgeschichte nicht einfach nebeneinander herlaufen, sondern ineinander verstrickt sind und das bürgerliche Handeln und Leiden einzelner Menschen Teil eines größeren Geschehens ist, das die menschliche Gattung überdauert. Gleichzeitig wird, so ließe sich mit Feuerbach sagen, Naturgeschichte in den Verhältnissen zwischen diesen einsam ausgestreckten Personen am Strand sinnlich anschaulich. In tieftraurigem Tonfall singt der ausgebrannte Ehemann davon, dass er mit der Zeit gelernt habe, Probleme von der Arbeit nicht mit nach Hause zu nehmen und eine gewisse Etikette zu wahren. Man solle lächeln, selbst wenn man kein Benzin mehr habe. Jedoch habe er festgestellt, dass unterdrückte Emotionen nicht so einfach verschwinden und sich dann in der Psyche einnisten würden: »Suppressed negativity finds a way out/unexpectedly,/Like lava.« Sein »Like lava« wird von allen am Strand liegenden Personen in kanonischen Schleifen in den Chor aufgenommen und wie in der Musik zu einem Trauerspiel oder in einer Sterbeszene der romantischen Oper wiederholt. Nebenbei gesteht der kurzzeitige Solist dieser Sequenz, er fühle sich schlecht, wenn er die Kontrolle verliere. »EXHAUSTION«, antwortet ihm repetitiv der Chor und dann plötzlich »IT’S LIKE A MAMMOTH –/A NON-EXISTENT CREATURE/GONE EXTINCT […]. VACATION IS WHAT KILLED THE/MAMMOTH –/OFFICIALLY, THE CREATURE DOES/NOT EXIST, BUT ACTUALLY,/IT’S A SPECIES THAT BREEDS AT/THE HIGHEST RATE.«

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Plötzlich springt der Chor, in der Struktur des Kanons verbleibend, ins Profane zurück und weist, in Überleitung zur nächsten Szene, darauf hin, dass nach einem Urlaub das Haar glänze und alles gut sei. Nun geht es um einen Warteraum am Flughafen und den unerwarteten Vulkanausbruch, der vorerst weitere Flüge verhindere. Vielleicht in Anspielung auf die Eruption des Vulkans Eyjafjallajökull in Island am 20. März 2010, der wochenlange Flugausfälle zur Folge hatte und die weltweite Zirkulation an Menschen und Waren kurz ins Stocken brachte, rückt an dieser Stelle ein Naturgeschehen in den Vordergrund, das geradezu tektonische Verbindungen zur unterdrückten Negativität des zuvor akustisch aufgetretenen Familienvaters aufzuweisen scheint und sich wie Lava über ihn ergießen würde. »THE VOLCANO ERUPTED/UNEXPECTEDLY,/CONTRARY TO ALL THE/DIAGRAMS AND TIME TABLES –/NOT A SINGLE CLIMATOLOGIST/PREDICTED A SCENARIO LIKE/ THIS./BEFORE IT REACHED THE AIRPORT,/THE AIRPLANE WAS CAUGHT UP/IN THE BLACK CLOUD./WHEN ASHES ARE DRAWN INTO/THE HOT ENGINE./THEY BECOME GLASS:/ASHES, AEROPLANES.« Ökologische Verhältnisse werden hier als subjektive Verhältnisse in ihrer allgemeinen Erschöpfung dargestellt. Auch auf der Ebene menschlicher Subjektivität findet der Vulkanausbruch statt. Während der Chor der am Strand liegenden Menschen die Zeile »ASHES, AEROPLANES« in einen anschwellenden Refrain integriert und danach variierend wiederholt, nimmt der männliche Teil des jungen Pärchens, das sich in London kennengelernt hat, mit seiner kurz aus dem Stimmenmeer auftauchenden Tenoreinlage das Motiv einer schon länger zurückliegenden Sequenz wieder auf. Er erzählt, dass er nach dem Ausbruch des Vulkans, als wegen der Asche am Himmel keine Flugzeuge mehr fliegen konnten, für ein paar Tage vor Ort geblieben sei. Zu diesem Zeitpunkt habe ein Freund ihm seine Schwester vorgestellt, die jetzt seine Partnerin sei: »We are together!« Gegen Ende von Sun & Sea (2017) geraten die beiden Zwillingsschwestern in den Fokus der ansonsten zwischen Menschen und Dingen am Strand zerstreuten Aufmerksamkeit der Zuschauer*innen (»22. 3D SISTER’S SONG«). Das Duett der beiden Kinder handelt in seinem zweiten Teil von Unsterblichkeit, liefert in seinem ersten Teil jedoch die traurige Beschreibung einer bald zu ihrem Ende gelangenden Welt und klingt dabei nach weißem Selbstmitleid. »– I cried so much when I learned that/corals will be gone./And together with the Great Barrier Reef/the fish would go extinct –/From sharks to the smallest fry./– I cried so much when I learned bees/are falling massively from the sky,/And with them all the world’s plant life/will die./– I cried so much when I understood/that I am mortal./That my body will one day get old and/wither./And I won’t see, or feel, or smell ever/again …«

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Abb. 13 & 14: Sun & Sea auf der Biennale Arte, Venedig, 2019 (Foto von Andrej Vasilenko, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerinnen)

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Abb. 15 & 16: Sun & Sea auf der Biennale Arte, Venedig, 2019 (Foto von Andrej Vasilenko, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerinnen)

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Gegen Ende des Stücks rückt, während mehrere Menschen nach wie vor unbekümmert am Strand liegen, auf musikalischer und textlicher Ebene in den Vordergrund, was in der vorliegenden Arbeit mit Feuerbach als die europäische Subjektivität und deren Kappung sinnlicher Verhältnisse herausgestellt werden soll. Die postkoloniale und anthropozäne Fragen miteinander verschränkende Problematik, die im folgenden Kapitel dieser Untersuchungen anhand von Feuerbachs Kritik der Figur des Individuums bezüglich des einen Gottes der christlichen Religion, des cartesianischen Cogitos und Hegels Auffassung eines zu sich selbst kommenden Weltgeistes näher entfaltet werden wird, gibt sich in Sun & Sea (2017) anhand der Selbstidentität des Zwillings als Phantasma zu erkennen, dessen repliziertes Gegenüber mit ihm identisch ist. Nachdem eines der Mädchen festgestellt hat, dass sie geboren sei, weil ihre Mutter vergessen habe, den 3D-Drucker auszuschalten, weist sie in transhumanistischer Manier darauf hin, dass sie, wenn ihr Körper gestorben sei, auf einem leeren Planeten ohne Vögel, Tiere und Korallen verbliebe, jedoch alles wieder erschaffen könne, indem sie es durch einen einzigen Knopfdruck simulieren würde.5 Zum Schluss des Stücks hin offenbart sich eine Subjektivität, die im Verlauf der brutalen Geschichte des Kolonialismus anderem und anderen nur als Kopien ihrer selbst begegnet ist. Diese Subjektivität hat, mit Wynter gesprochen, einen Monohumanismus replikatorisch auf dem gesamten Planeten installiert und sich damit nur scheinbar von ihren Umwelten und von Mitmenschen gelöst.6 Sie kreist in sich und manifestiert einen Todestrieb, der Verbindungen und Verhältnisse kappt: »I will print you out, mother,/ When I need you,/My sister too, I will print you out,/When I miss you dearly«, hören die Zuschauer*innen eine der beiden Schwestern mit niedlicher Stimme ihrem Pendant liebevoll drohen. Nachdem die Zwillinge die Wonnen des planetarischen 3D-Drucks und die Vorzüge des eine Alterität des Gleichen produzierenden gegenüber dem einer Alterität des Anderen gegenüber empfänglichen Menschen besungen haben, setzt ein erneutes Duett des zu Beginn des Stücks eingeführten älteren Ehepaares ein (»23. SUNSCREEN BOSSA NOVA«). Wieder geht es um eine Innerlichkeit, die sich als Individuum in sich einnistet, diesmal sogar in mehreren Sprachen, und um den Schutz überempfindlicher Haut vor Sonnenstrahlung. Es sind größtenteils weiße Körper und es ist ein weißer Geist, die hier am Strand liegen, ohne sich zu begegnen. Sun & Sea (2017) handelt nicht nur im physikalischen Sinne von der Farbe Weiß, die alle anderen Farben reflektiert, wenn die ältere weiße Dame die Wirkung der Schutzcreme auf ihre Haut besingt.7

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Zur Kritik an transhumanistischen Phantasien vom ›Übermenschen‹ und von einer ›Singularität‹, in deren Rahmen menschliches Bewusstsein in die Technosphäre hochgeladen würde, vgl. Janina Loh, Trans- und Posthumanismus zur Einführung, Hamburg: Junius, 2018. Lyotard hat bereits am scheinbaren Ende des Kalten Krieges im 20. Jahrhundert die bezüglich der weißen Subjektform wichtige Frage beschäftigt, ob Denken ohne sinnliche Verhältnisse möglich sei. Vgl. ders., Ob man ohne Körper denken kann, in: ders., »Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit«, Wien: Passagen, 1989. Vgl. Wynter, The Ceremony Found. Zu diesem Aspekt von Weißsein vgl. Dyer, White.

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Abb. 17 & 18: Sun & Sea auf der Biennale Arte, Venedig, 2019 (Foto von Andrej Vasilenko, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerinnen)

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Bevor das Stück – beziehungsweise auf der Kunstbiennale 2019 in Venedig eine der geloopten Sequenzen der installativen Anordnung – endet, setzt ein letztes Mal der aus allen am Strand liegenden Menschen bestehende Chor ein (»24. VACATIONERS’ CHORUS«). Er kündet von dem bald hereinbrechenden Ende eines großen Teils des Lebens auf diesem Planeten. Festzustehen scheint deshalb, dass viele einzelne Menschen, vielleicht angezogen vom Gesang der Sirenen, bald ins Meer zurückkehren und von ihm verschlungen werden könnten. »OUR BODIES ARE COVERED WITH/A SLIPPERY GREEN FLEECE,/OUR SWIMSUITS ARE FILLING UP/WITH ALGAE,/EMPTY SNAIL HOMES, SWOLLEN/SEAWEED, FISH REMAINS,/AND ALL KINDS OF SHELLS …« Sun & Sea (2017) blickt vom großskalierten Sommerurlaub aus auf die kleinskalierte Klimakatastrophe und das sechste Artensterben, das zum Zeitpunkt der Anfertigung dieses Textes eingesetzt hat und von Biolog*innen und Evolutionsforscher*innen übereinstimend ›Great Extinction‹ genannt wird.8 Die Arbeit markiert dabei aber nicht die Opfer, sondern die Täter*innen, und zwar weiß, indem sie nicht die katastrophalen Folgen der aktuellen Krise, sondern einen idyllischen Strand zeigt, an dem die Welt noch in Ordnung zu sein scheint. Sun & Sea (2017) richtet unsere Aufmerksamkeit auf eine Weise des Menschseins, die sich in Komfortzonen ebenso einrichtet, wie sie sich auf im Sand ausgelegte Badehandtücher bettet, weil sie unter Urlaub den Abstand von einem aufzehrenden Alltag versteht, mit dem sie sich ansonsten gerne identifiziert. Demnach thematisiert das Stück des litauischen Theatermacherinnentrios die Diskrepanz zwischen dem weißen Bild des Menschen, dessen kolonialgeschichtlich gewachsene Infrastruktur sich unter anderem in Form der Tourismusindustrie über den Planeten gelegt hat, und etwas außerhalb davon. In Sun & Sea (2017) geht es um die Verstrickung von in sich isolierter Subjektivitäten mit Kräften, die das moderne Individuum von sich abkappt. Dabei laufen Vorderund Hintergrund ineinander über, und das Meer ist nicht nur voller Menschen, sondern wimmelt auch von nicht-menschlichen Wesen und Kräften. Auffällig an diesem tableau vivant-artigen Arrangement, das sich in seinem zeitlichen Verlauf in viele kleine tableaux auffächert, indem es sich den Subjektivitäten und Endlichkeiten, aus denen es besteht, gegenüber öffnet, ist die Parallelität minutiös choreografierter Abläufe, die neben Gesangseinsätzen auch die Blickrichtungen der Mitglieder einzelner Gruppen umfassen, mit Geschehnissen auf visueller Ebene, die größtenteils sehr casual und nahezu spontan wirken: Kinder, die Sand schaufeln, Erwachsene, die mit ihren Smartphones beschäftigt sind, Leute, die Ball spielen, oder auch jemand, der Sand aus einem Handtuch schüttelt. Aufgrund der Kombination dieser beiden Qualitäten aufseiten der Performer*innen des installativ ausgestellten Musiktheaters oszilliert die Strandszenerie zwischen einem geradezu dokumentarischen, realistischen Charakter und einer Artifizialität, die eher an Genres wie Oper oder Musical denken lässt. Authentizitätseffekte und Artifizialität amplifizieren sich dabei gegenseitig. Hierbei geht 8

Vgl. hierzu exemplarisch Jeff Tollefson, Humans are driving one million species to extinction, 6.5.2019, https://www.nature.com/articles/d41586-019-01448-4, Zugriff am 26.5.2023.

Erste Szene des Menschen

es nicht um ausdifferenzierte Charaktere und deren tragische Entscheidungsfindungen, sondern um Typen und Klischees von Figuren und deren Stimmungen, die multiperspektivisch eine ihnen gemeinsame Motivik durchlaufen, die in den folgenden Kapiteln als die eines postkolonial verstandenen Anthropozäns gefasst wird. Die von einzelnen Personen und Stimmen vorgetragenen narrativen Fragmente ranken sich, getragen von einem Soundtrack, der wie jener aus der vorangegangenen Arbeit Have A Good Day! (2013) stark von einer Parodie der Schleifenstruktur der Minimal Music mitgeprägt ist, um das Thema einer ökologischen Katastrophe. Dieser erdgeschichtliche Bezugsrahmen wird jedoch nicht allein in geologischer Hinsicht und im Hinblick auf eine abstrakte Idee der Menschheit aufgespannt, sondern vielmehr bezüglich der eine bestimmte Subjektivität betreffenden Frage nach Verantwortung. Wie in der Tradition der Librettos üblich, ist der zeitliche Verlauf von Sun & Sea (2017) nicht entlang einer einzigen sich entfaltenden Handlung strukturiert, sondern zwischen einzelnen Affektsituationen aufgespannt. Die Opera-Performance verläuft zyklisch, nicht linear. Zusammen mit der Anordnung der Körper und Gegenstände auf räumlicher Ebene sowie dem observatorischen Blick der Zuschauer*innen von oben auf das Geschehen herab bewirkt die in ihrer musikalischen Struktur angelegte Zeitdehnung, dass unterschiedliche Geschichtlichkeiten anschaulich werden und in einer Szenerie zusammenlaufen, die wir wie in einem Lehrstück aus kritischer Distanz heraus beobachten. Dabei erscheint uns das postkoloniale Anthropozän nicht als erhabenes Gemälde oder globales Bild, sondern als sinnliche Verstrickung von Subjektivitäten. Die Klimakrise, wie sie in Sun & Sea (2017) dargestellt wird, verwickelt viele Subjektivitäten und Endlichkeiten ineinander und zeigt deren situierte Teilhabe an einem sie übersteigenden Zusammenhang. Dabei wohnen wir keiner linear verlaufenden Handlung zwischen Personen bei, sondern sehen und hören, wie Rückwärts- und Vorwärtsbezüge zwischen einzelnen Elementen der Komposition geknüpft werden, sich narrative Stränge treffen, überkreuzen und wieder auseinanderlaufen, während kontinuierlich eine geradezu sakrale Grundstimmung bestehen bleibt und den Eindruck erweckt, der Strand mit den darauf ausgebreiteten und einsam in sich gekehrten Menschen stelle eine himmlische Einöde oder ein trauriges Paradies dar, das bald vollständig im Meer verschwinden könnte. Ein gänzlich anderes Bild zeigt sich den Besucher*innen, die in der Fassung von Sun & Sea (2017) für die Kunstbiennale 2019 in Venedig das alte Marinedepot hinter dem Arsenale betreten, wenn gerade keine Aufführung stattfindet. In der rein installativen Version der Arbeit von Barzdžiukaitė, Grainytė und Lapelytė liegen alle Gegenstände an ihren vorigen Plätzen über den Strand verstreut – wahrscheinlich aus pragmatischen Gründen fehlen nur die Smartphones. Nun sind die Menschen vielleicht wirklich verschwunden wie ein Gesicht im Sand. Die Musik durchläuft alle 24 Teile des Librettos, aber diesmal ohne gesungenen Text. Sie läuft automatisch ab und imitiert damit die Zeit, die sie für sich in Anspruch nimmt. Kein menschlicher Körper ist mehr Teil der Szene, aber alle haben sie ihre Spuren im Sand hinterlassen. Die Dinge sind noch an ihrem ›menschlichen‹ Ort, auch ohne Menschen: Badeschuhe, Bücher, Handtaschen, Plastiktüten, Plastikspielzeug wie beispielsweise Autos oder Schaufeln, Rucksäcke, Sonnenbrillen und -hüte, Smartphones, Tuben mit Sonnencreme, Spielkarten und ein Schachspiel, Thermoskannen, Tupperboxen, Wasserflaschen, Zeitschriften und vieles mehr. Da war

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also ein junges Pärchen, das, bevor es erschöpft am Strand eintraf, einen ungeplanten Zwischenstopp einlegen musste. Da war eine Familie mit gestresstem Vater kurz vor einem Burnout und einer Mutter, die stolz war, dass ihr Sohn schon fast alle Weltmeere persönlich kennenlernen durfte. Da war eine frustrierte Singlefrau. Da war ein philosophisch gesinnter Alleinreisender. Da waren weitere Strandbesucher. Sie alle trugen ihre Subjektivität in die ihnen kurz gemeinsame Szenerie hinein. Jetzt sind sie verschwunden. Aber die Ordnung der Dinge, die ihre Praxis errichtete und über den Planeten legte, existiert auch ohne sie weiter. Zumindest an diesem Strand. Wenigstens heute und für Menschen, die aus gegenwärtiger Perspektive auf eine Zukunft ohne Menschen blicken oder eine solche vielleicht auch nur imaginieren.

»Ja, der europäische Geist hat merkwürdige Grundlagen. Das europäische Denken ist auf immer ödere und abschüssigere Bahnen geraten. So wurde es ihm zur Gewohnheit, immer weniger auf den Menschen zu stoßen. Ein permanenter Dialog mit sich selbst, ein immer obszönerer Narzißmus haben einer Art Delirium das Bett bereitet, in dem die Arbeit des Gehirns zum Leiden wird, weil die Realitäten gar nicht mehr die des lebendigen, arbeitenden und sich schaffenden Menschen sind, nur noch Wörter, verschiedene Zusammenstellungen von Wörtern, die Spannungen der in den Wörtern enthaltenen Bedeutungen. […] Nehmen wir die Frage des Menschen wieder auf. Nehmen wir die Frage nach der Realität des Gehirns, der Gehirnmasse der ganzen Menschheit wieder auf, deren Kombinationen vervielfältigt, deren Strukturen differenziert und deren Botschaften vermenschlicht werden müssen. […] Nein, wir wollen niemanden einholen. Aber wir wollen die ganze Zeit, Tag und Nacht, in Gesellschaft des Menschen marschieren, in Gesellschaft aller Menschen. Es kommt darauf an, den Zug nicht auseinanderzuziehen, weil sonst jede Reihe die vor ihr nicht mehr erkennen kann, und Menschen, die einander nicht mehr erkennen, begegnen einander immer weniger und sprechen immer weniger miteinander. […] Für Europa, für uns selbst und für die Menschheit, Genossen, müssen wir eine neue Haut schaffen, ein neues Denken entwickeln, einen neuen Menschen auf die Beine stellen.«

– Frantz Fanon (1961)

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

Im Folgenden wird es darum gehen zu rekonstruieren, inwiefern Feuerbachs zwischen dem Ende der 1820er bis in die späten 1840er Jahre entstandene philosophische Schriften von einer Kontinuität durchzogen sind, die in der vorliegenden Arbeit als eine aus Europa stammende Kritik an der europäischen Mentalität gelesen wird, welche den Prozessen der kolonialen Moderne und der Industrialisierung als ihr Motor zugrunde liegt. Haynes bringt die der weißen Subjektform inhärente Problematik auf den Punkt, wenn sie mit Feuerbach zur abendländischen Ich-Instanz anmerkt, dass diese »sucks the very marrow out of the other’s sensuous particularity, reducing otherness to a moment in the journey toward self-consciousness«1 . Feuerbach kontrastiert wiederholt eine allein auf sich konzentrierte mit einer anderem und anderen zugewandten Subjektivität. Dabei macht er die von ihm problematisierte Form des Subjekts in chronologischer Reihenfolge seiner Schriften erstens im entsprechenden Kapitel seiner Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza (1833) am cartesianischen Cogito, zweitens in seinen religionsphilosophischen Texten – nicht nur in Das Wesen des Christentums (1841), sondern vor allem auch in Das Wesen der Religion (1846) und den darauf beruhenden Heidelberger Vorlesungen (1851) – an der Vorstellung eines einzigen Gottes als in sich ruhende Person, die für ihn mit dem christlichen Gemüt korrespondiert, und drittens an Hegels Konzeption des Weltgeistes fest. Was er als Instituierung der Ich-Instanz historisiert und durchweg kritisiert, korrespondiert kolonialgeschichtlich mit einem Verständnis des Menschen, das sowohl dessen Umwelten als auch dessen Mitmenschen lediglich zu Widerspiegelungen seines eigenen Selbst macht. Die außer sich seiende Subjektivität hingegen, welche die Sinnlichkeit ihm zufolge eröffnet, lässt sich als Subjektivierungsweise mehrerer Menschen lesen, die eine Alternative

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Haynes, African Humanism, S. 171. Löwith formuliert dies im Hinblick auf Feuerbach vorsichtiger: »Der Idealist nehme im Ausgang vom ›Ich bin‹ als ›Ich denke‹ Mitwelt und Umwelt, wie überhaupt die Welt als das bloße ›Andere‹, ›mit‹ und ›um‹ und ›worin‹ er selbst ist, als ein ›alter Ego‹, aber mit dem Schwerpunkt auf dem ›Ego‹ statt auf dem ›alter‹.« Ders., L. Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: Erich Thies (Hg.), »Ludwig Feuerbach. Wege der Forschung«, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1976, S. 43f.

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zum westlichen Genre des Menschen darstellt, das Wynter treffend als Monohumanismus markiert. Sie verweist damit auf einen anderen als denjenigen Menschen, der den gesamten Planeten besiedelt hat und den die karibische Denkerin in idiosynkratischen Worten skizziert. »[A]s studies of contemporary neocolonialism as well as of its predecessors colonialism and postcolonialism reveal, the West, over the last five hundred years, has brought the whole human species into its hegemonic, now purely secular (postmonotheistic, post-civic monohumanist, therefore, itself also transumptively liberal monohumanist) model of being human. This is the version in whose terms the human has now been redefined, since the nineteenth century, on the natural scientific model of a natural organism. This is a model that supposedly preexists – rather than coexists with – all the models of other human societies and their religions/cultures. That is, all human societies have their ostensibly natural scientific organic basis, with their religions/cultures being merely superstructural. All the peoples of the world, whatever their religions/cultures, are drawn into the homogenizing global structures that are based on the-model-of-a-natural-organism world-systemic order. This is the enacting of a uniquely secular liberal monohumanist conception of the human – Man-as-homo oeconomicus – as well as of its rhetorical overrepresenting of that member-class conception of being human (as if it is the class of classes of being human itself).«2 Anschließend an Wynter soll hier der Gedanke entfaltet werden, dass Feuerbach eine Konzeption der Sinnlichkeit des Menschen entwickelt, die Auswege aus dem postkolonialen Anthropozän aufzuzeigen vermag. Die im Folgenden noch zu erarbeitende These lautet, dass Feuerbachs Sinnlichkeit dasjenige, was Dussel treffend als Solipsismus des europäischen Selbstbewusstseins3 bezeichnet hat und was der Ausbeutung sowohl von Natur als auch von Menschen durch Menschen zugrunde liegt, mit einer Alterität konfrontiert, die sich nicht aufheben und in die sich nicht eingraben lässt.4 Feuerbachs Nachdenken über ein weniger himmlisches als vielmehr irdisches Zusammenspiel von Teilwesen, das er als planetarischen Zusammenhang versteht, entgrenzt die Vorstellung der Welt als Globus und in sich geschlossenem Kreis. Dies geschieht durchaus ähnlich wie bei Latour, wenn dieser fordert »für die schwindelerregende Alterität der Existierenden offen zu bleiben, deren Liste nicht abgeschlossen ist, und für ihre vielfachen Arten und Weisen zu existieren oder untereinander in Beziehung zu

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Wynter und McKittrick, Unparalleled Catastrophe for Our Species?, S. 21. Vgl. Dussel, Der Gegendiskurs der Moderne, S. 96. Alterität soll hier nicht im Sinne phänomenologischer Ansätze wie bspw. denen von Lévinas oder Buber als uneinholbare und von einzelnen Menschen unendlich weit entfernte verstanden werden. Vielmehr verweist sie auf die Verstrickung einer Vielzahl an Teilwesen, die in ihnen immanente ökologische und politische Zusammenhänge eingelassen sind, sich gegenseitig begrenzen und an keinem Punkt transzendiert werden können – sei dieser nun ein Cogito, eine bestimmte Gottesauffassung oder so etwas wie ein absoluter Geist, dem ein Ansich zum Fürsich wird.

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

treten […]«5 . In sich geschlossene Entitäten, wozu auch die bürgerliche Gesellschaftsformation zählt, lassen sich mit Feuerbach auf einen Pluriversalismus der Sinnlichkeit hin entgrenzen, der eine Welt eröffnet, die, so seine Forderung an eine ›Philosophie der Zukunft‹, so viele Zentren wie Teilwesen hat. Bezeichnenderweise adressiert er bereits in Gedanken über Tod und Unsterblichkeit (1830) eine zweite Person im Singular, um seinen in mehrerlei Hinsicht ›föderalen‹ Standpunkt zu formulieren. »Die Dinge und Wesen, die außer dir existieren, du von dir unterscheidest, und nicht als identisch mit deinem Ich und Selbst erkennst, und unter den Gattungsbegriff des Objekts oder der Natur ordnest, sind alle Grenz- und Negationspunkte deiner selbst; soviel und soweit die andern Dinge und Wesen außer dir sind, soviel und soweit bist du nicht, und soviel derselben sind, soviel End- und Grenzpunkte hast du, in und an denen du und dein Sein aufhört […].«6 Feuerbachs Kritik an der in Europa instituierten Ich-Instanz beinhaltet eine Abwendung von den Figuren des Individuums, der Person und des Subjekts, wie sie ihm zufolge vom Christentum über Descartes bis hin zu Hegels spekulativem System tradiert wurden und im Kontext des Anliegens dieser Arbeit insofern als koloniale Größen betrachtet werden können, als dass sie sinnliche Zusammenhänge kappen. Feuerbach zufolge verkennen das Individuum, die Person und das Subjekt das Eingelassensein einzelner Menschen in Gleichzeitigkeiten und Wechselwirkungen. Anhand ihrer wird Subjektivität insofern durch das Menschenbild weißer Männer kolonisiert und in eine Plantage verwandelt, als dass der Mensch hier als einzelner statt als mehrere erscheint. Obwohl Feuerbach sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht von Hegel abgewendet hat, distanziert er sich bereits in seiner frühen Dissertationsschrift Über die Vernunft (1828) von der Figur des Individuums. »Das Individuum andererseits, da es eines nur ist, sofern es das andere von sich ausschließt, bezieht sich eben deshalb notwendig auf die ausgeschlossenen anderen Individuen, es ist nur in dieser Beziehung, nicht aber seinem Wesen nach Eins. Daher ist es auch nicht wahrhaft und im eigentlichen Sinne ›Individuum‹ (›unteilbar‹), sondern seinem Begriff und der Sache nach teilbar – aufgeteilt in sich selbst und alle anderen Individuen, zu denen es notwendig gehört.«7 Die anthropozäne ebenso wie postkoloniale Problematik des Individuums, der Person und des Subjekts, deren Genealogie Feuerbach rund ein Jahrhundert vor Foucault analysiert, besteht in deren Unteilbarkeit. Demgegenüber geht es ihm um Teilungen. Anstatt sich in sich selbst zu begründen, partizipieren Feuerbachs emphatisch gedachte viele Menschen an einem Geschehen, das auch die Erdgeschichte umfasst. Sie sind nicht selbsttätig. Sie tragen ihre Möglichkeitsbedingungen nicht in sich, sondern werden von ihnen äußerlichen Kräften bewirkt, noch bevor sie eigene Wirkungen entfalten können.

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Latour, Kampf um Gaia, S. 68. Dem fügt er an anderer Stelle seiner Gifford Lectures hinzu: »Daß die Relokalisierung des Globalen so bedeutsam geworden ist, gründet darin, daß die ERDE selbst von niemandem mehr global erfasst werden kann. Das lehrt das Anthropozän.« Ebd., S. 234. Feuerbach, Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, S. 111. Ders., Über die Vernunft, S. 44.

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»Wenn aber das Ende eines Lebens mit dem Ende seiner Bedingungen, so fällt auch der Anfang, die Entstehung eines Lebens mit der Entstehung seiner Bedingungen zusammen«8 , notiert er 1846. Mit dem Ich beginnen zu wollen, verkenne laut Feuerbach das Du, in dem sich sein Gattungswesen zu erkennen gebe. Schon 1830 hält er fest: »Da das wesentliche Objekt der Individuen allein das Subjekt ist, die Persönlichkeit allein für sie absolute Realität hat, so haben sie sich damit auf einen Standpunkt gestellt, wo das Eine in jeder Sache, das Allgemeine, das Ganze, das wahrhaft Wirkliche und Wesenhafte aus ihrer Anschauung verschwindet. Wie in dem untersten Grunde ihrer Seele allein das Subjekt ihr Objekt ist, so sehen sie auch außer sich überall nur Subjekte, Subjektives, Einzelnes und darum Mangelhaftes, Negatives, Endliches.«9 Gegen das Innerlichkeitsdenken von Descartes und Hegel sowie das Christentum und den Monotheismus macht Feuerbach über Jahrzehnte hinweg ein emphatisches Konzept des Menschen als verstricktes Teilwesen stark und hebt zu diesem Zweck die außer sich seiende Sinnlichkeit gegenüber einem in sich kreisenden Geist hervor. Diesbezüglich soll hier gezeigt werden, dass seine Vorstellung eines geteilten menschlichen Gattungswesens von erheblicher Bedeutung für das postkoloniale Anthropozän ist, das gegenwärtig immer dringlicher vielleicht nicht neuer, aber doch anderer Menschen im Sinne einer anderen Subjektivität des Menschen bedarf. »Nur die flüssige Philosophie, die Philosophie, welche aufhört, ein fixes System zu sein, welche die Wahrheit der vorhandenen Systeme in sich begreift, ohne selbst ein abgeschloßnes System zu sein, und doch zugleich keine Eklektik ist, nur diese ist die Philosophie des Lebens, der Zukunft«10 , schreibt Feuerbach über sein 1841 erschienenes Hauptwerk Das Wesen des Christentums. Darum liegen sowohl Marx und Engels als auch Foucault falsch, wenn sie meinen, Feuerbach sei als Fußnote der Philosophiegeschichte am besten aufgehoben. Sicherlich ist sein emphatisches Konzept des Menschen ebensowenig von Produktionsverhältnissen wie von Macht- und Wissensverhältnisse ablösbar. Wer Feuerbach liest, wird jedoch feststellen, dass seine Schriften mehr enthalten als den ›humanistischen‹ Traum, ein wahrhaft ›menschliches‹ Wesen aus seiner Verdinglichung in gesellschaftlichen Verhältnissen zu befreien. In ihnen geht es weniger um individuelle Freiheit als um die sinnlichen Verhältnisse, durch die einzelne Subjektivitäten als Teilwesen zusammenhängen.

2.1 Descartes und das solipsistische Bewusstsein des Kolonialismus Im Verlauf seiner sechs Meditationen (1642) will Descartes mit der Existenz Gottes zugleich auch die ›reale‹ Trennung der menschlichen Seele vom Körper beweisen, wobei er an entscheidender Stelle seines durchgängig in der ersten Person Singular verfassten Traktats davon ausgeht, dass »die Erfassung des Unendlichen gewissermaßen früher in mir ist als die des Endlichen, das heißt: die Erfassung Gottes früher als die meiner 8 9 10

Ders., Das Wesen der Religion, S. 96. Ders., Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, S. 91. Ders., Zur Beurteilung der Schrift »Das Wesen des Christentums«, in: ders., »Werke in sechs Bänden, Band 3, Kritiken und Abhandlungen II (1839–1843)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975, S. 218.

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

selbst«11 . Die Schrift, die er der Fakultät für Theologie an der Sorbonne vorlegt, soll zwar philosophisch anstatt religionswissenschaftlich gelesen werden und würde eher aus der Vernunft als dem Glauben folgen, jedoch nicht die Grundsätze der katholischen Kirche verletzen wollen, als deren »stärkste Stütze«12 er seine weißen und männlichen akademischen Adressaten Mitte des 17. Jahrhunderts adressiert. Indem Descartes sich im Rahmen seiner Ausführungen zu einer res cogitans, die eine res extensa dadurch in ein sakrales Licht taucht, dass sie sie in sich denkt, nicht auf die Bibel bezieht, sondern allein durch die »Augen des Geistes«13 zu argumentieren beansprucht, emanzipiert er sich von seinerzeit dominierenden kirchlichen Dogmen. Indem er Subjektivität als Ich-Instanz instituiert, die weniger einer heiligen Schrift als vielmehr sich selbst als Cogito das Wort redet, reproduziert er zugleich die Figur eines unabhängigen und seine Schöpfung ›koordinierenden‹ Gottes, dem er sich im Denken annähern will, ohne – was er im Verlauf seiner Meditationen (1642) immer wieder gesteht – dessen Perfektion jemals erreichen zu können. Weil er seinen inneren Kompass an Gott eicht, wendet er sich, dies wird Feuerbach rund zwei Jahrhunderte später an ihm kritisieren, vom Sinnlichen als dem Bereich ›verworrener‹ und ›dunkler‹ Ideen und von einem Du als konkretem Gegenüber ab. »Das Übrige aber – wie Licht und Farben, Töne, Gerüche, Geschmäcke, Wärme und Kälte, und die anderen taktilen Qualitäten – wird von mir nur äußerst verworren und dunkel gedacht, so daß mir auch unbekannt ist, ob es wahr oder falsch ist, will sagen: ob die Ideen, die ich von ihnen habe, Ideen irgendwelcher Dinge oder Undinge sind«14 , stellt er in seiner dritten Meditation fest. Seine Angst vor ›Undingen‹ und sein Bedürfnis nach Selbsttransparenz mittels der Herausbildung ›klarer‹ und ›deutlicher‹ Ideen allein in sich als Geist rühren daher, dass er sich in einem nur ihm eigenen Denken einem Wesen verschreibt, das alles in sich enthält, weil es das ›Verworrene‹ und ›Dunkle‹ aus sich ausschließt. Indem Descartes seine Subjektivität mit einer res cogitans identifiziert, die selbst nicht ausgedehnt sei, aber alles außerhalb von ihr als res extensa klar und deutlich erfassen könne, setzt er sich in den Mittelpunkt einer Welt, deren Zentrum er von Gott in Richtung des von ihm in Umlauf gebrachten Leitsatzes ego cogito, ergo sum verlagert. ›Gott ist, wo Ich denke‹, formuliert er zwar nicht explizit, lässt diese Haltung aber implizit als Subtext seiner Aussagen mitschwingen. Nach den Meditationen (1642) würde es »niemanden mehr in der Welt geben, der es wagen werde, die Existenz Gottes, oder die reale Un-

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René Descartes, Meditationen, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2009, S. 50. Kurz zuvor präzisiert er in seiner dritten Meditation, was er unter Gott versteht, nämlich »eine bestimmte unendliche, unabhängige, höchster Einsicht fähige, allmächtige Substanz, von der sowohl ich selbst, als auch alles andere, was es auch sei, geschaffen ist, falls irgendetwas anderes vorhanden sein sollte.« Ebd., S. 49. Im ›Vorwort an den Leser‹ hat er bereits das Programm seiner Meditationen (1642) umrissen. Erstens werde er »zeigen, wie daraus, daß ich erkenne, daß nichts anderes zu meinem Wesen gehört, folgt, daß auch tatsächlich nichts anderes zu meinem Wesen gehört«, und zweitens beweisen, wie daraus, »daß die Idee eines Dinges in mir ist, das vollkommener ist als ich, folgt, daß dieses Ding tatsächlich existiert«. Ebd., S. 10. Ebd., S. 8. Ebd., S. 40. Ebd., S. 48.

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terscheidung der menschlichen Seele vom Körper in Zweifel zu ziehen«15 , verspricht er den Pariser Theologen, die seine auf Lateinisch verfasste Schrift bitte lesen mögen. Obwohl er das von ihm philosophiegeschichtlich instituierte Ich zwar als unvollkommenes Wesen von Gott unterscheidet, stellt er es als Geist, der weiß, »daß ich mich in dem, was ich transparent einsehe, nicht täuschen kann«16 , dennoch in ein Näheverhältnis zu einer absoluten Instanz, während er fordert, »den Geist den Sinnen zu entziehen«17 , um zu klarem Bewusstsein zu gelangen und geistig einem mehr als nur physikalischen Licht näherzukommen. »Weil ich mich aber, sobald ich auch nur etwas weniger aufmerksam bin und die Bilder sinnlicher Dinge die Schärfe des Geistes abstumpfen, nicht so leicht erinnere, weshalb die Idee eines im Vergleich mit mir vollkommeneren Seienden notwendig von einem Seienden herrühren muß, das tatsächlich vollkommener ist, kann auch jetzt noch gefragt werden, ob ich selbst diese Idee besitzen könnte, wenn kein solches Seiendes existierte«18 , argumentiert er in diesem Zusammenhang für seine beiden zentralen Thesen, dass erstens Gott existiere und zweitens die menschliche Seele vom Körper getrennt sei. Um ein Selbstverhältnis zur eigenen Subjektivität zu etablieren, das zugleich ein Verhältnis zu Gott ist, sei es ihm zufolge notwendig, durch Rückzug und Selbstisolation einen Geist in sich heranzubilden, »der nicht nur von Vorurteilen völlig befreit ist, sondern sich auch leicht aus der Verstrickung in die Sinne lösen läßt«19 und so durch in sich gekehrte Meditationen zu sich als einem gottähnlich denkenden Geschöpf gelangt. »Daraus nämlich, daß Gott kein Schwindler ist, folgt, daß ich mich in solchen Dingen überhaupt nicht täusche«20 , wird er seine Gedankengänge gegen Ende seiner sechsten Meditation abschließen. Das Prinzip des cartesianischen Cogitos ist der Zweifel an allem außer sich selbst als Geist, seine Methode die Konvertierung der Sinne in diesen Geist, und sein Stil drückt sich in Differenzierungen aus, die Privilegierungen darstellen. Descartes privilegiert nicht nur in der Unterscheidung zwischen res extensa und res cogitans oder der zwischen teilbarem Körper und unteilbarer Seele, sondern auch in solchen wie denen zwischen Schlaf und Wachen, Täuschung und Transparenz, Dunklem und Klarem, Verworrenem und Distinktem sowie zwischen dem flüssigen Bienenwachs und der Erfahrung der eigenen Subjektivität als Festigkeit von Gedanken, die das Bienenwachs denken, während es im Feuer verbrennt. Seine Phantasien sind dezent formulierte Männerphantasien. In ihnen vermengt sich die Angst vor Flüssigem mit dem Wunsch nach Härte.21 In seiner sechsten Meditation bekennt er den Willen zur Macht, der seinen Durchgang durch den Zweifel auf dem Weg zur Transparenz anspornt. 15 16 17 18 19 20 21

Ebd., S. 7f. Ebd., S. 76. Ebd., S. 13. Ebd., S. 52. Ebd., S. 6. Ebd., S. 97. Vgl. hierzu Klaus Theweleit, Männerphantasien 1+2, München: Pieper, 2000.

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

»Ich verstehe nämlich unter Natur allgemein betrachtet nunmehr nichts anderes als entweder Gott selbst, oder die von Gott eingerichtete Koordination der geschaffenen Dinge; und unter meiner Natur im besonderen nichts anderes als den Inbegriff alles dessen, was mir von Gott beigelegt worden ist.«22 Im Namen Gottes instituiert der Autor der Meditationen (1642) Subjektivität als sich eigene Ich-Instanz und Zentrum der Welt. Den Weg dieses in sich gekehrten Denkens, das dennoch raumgreifend ist und expansiv operiert, da es davon ausgeht, in einem persönlichen Verhältnis zur ›Koordination der geschaffenen Dinge‹ zu stehen, leitet ein in seinem Text mehrmals wiederkehrendes ›Natürliches Licht‹, dem er als inneres, göttliches Licht mehr vertraut als dem physikalischen, sinnlich erfahrbaren Licht: »Denn es kann kein anderes Vermögen geben, dem ich ähnlich vertrauen könnte wie diesem Licht […].«23 Descartes denkt allein und ohne Gegenüber.24 Ihm zufolge ist der Körper im Unterschied zum Geist deshalb teilbar, weil »die Hälfte des Geistes können wir nicht begreifen, wie wir es doch bei jedem beliebig kleinen Körper können«25 , woraus für ihn wiederum folgt, den für ihn so wichtigen Zweifel auf den Körper richten zu müssen. »Ich will alles beseitigen, das auch nur den geringsten Zweifel zuläßt, gerade so, als ob ich sicher erfahren hätte, daß es insgesamt falsch ist«26 , stellt er seiner zweiten Meditation voran. Zuvor beginnt der französische Denker des 17. Jahrhunderts seine Reise in den Innenraum des Geistes, nachdem er sich »von allen Alltagspflichten freigemacht«27 , »alle Termine abgesagt«28 und sich »einsam«29 zurückgezogen hat. In einen Wintermantel gekleidet sitzt er am Feuer, berührt ein Papier mit seinen Händen und zweifelt, ob dies sein Körper sei, der da sitzt, und ob er wach sei oder träume. An all dem könne er zweifeln, nicht aber daran, dass er es ist, der zweifelt. Während es sich fühlt, als sei es »in einen tiefen Strudel hineingezogen worden«30 und »weder auf dem Grund Fuß fassen, noch zur Oberfläche emporschwimmen kann«31 , sucht das Ich der Meditationen (1642) einen Halt allein in sich und seiner Beziehung zu Gott, anstatt sich an Gesprächspartner*innen zu wenden. Obwohl es die »körperliche Natur«32 als res extensa seinem Zweifeln, das streckenweise nach Verzweiflung klingt, nicht entziehen kann, besitzt es mathematische Wahrheiten, die ihm als Anker dienen. »Denn ob ich nun wache oder schlafe: zwei und drei miteinander addiert ergeben fünf, und das Quadrat besitzt nicht mehr als vier Sei-

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Descartes, Meditationen, S. 87. Ebd., S. 43. Dies trifft auf Feuerbach nicht zu. Bezüglich seines Austauschs mit Menschen auch außerhalb des akademischen Feldes vgl. exemplarisch Joseph Dietzgen, Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit und andere Schriften, Darmstadt und Neuwied: Luchterhand, 1973. Descartes, Meditationen, S. 14. Ebd., S. 27. Ebd., S. 19. Ebd. Ebd. Ebd., S. 27. Ebd. Ebd., S. 22.

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ten; und es scheint ganz unmöglich zu sein, daß so transparente Wahrheiten in den Verdacht der Falschheit geraten«33 , beruhigt es sich. Warum also sollte Gott dieses Ich betrügen, wenn er ihm doch solche Wahrheiten und ein Denken zugänglich macht, vermittels dessen es einem Wesen näherzukommen vermag, das es aus der Ungewissheit erlöst? Solange es denkt, fühlt es sich der Nähe Gottes sicher. »Das Denken ist es; es allein kann nicht von mir getrennt werden. Ich bin, ich existiere; das ist sicher. Wie lange aber? Nun, solange ich denke; denn vielleicht könnte es auch geschehen, daß ich, wenn ich alles Denken unterließe, sogleich völlig aufhörte zu sein«34 , hält Descartes fest. Während das Wachs, das einem Bienenstock entnommen und dem Feuer ausgesetzt wird, seine sinnlichen Qualitäten ändert und schmilzt, bleibt der Geist derselbe, während er ›klar‹ und ›deutlich‹ erkennt. »Dasselbe, was ich in bezug auf das Wachs bemerkte, kann aber auf alles andere angewendet werden, das außerhalb von mir vorhanden ist«35 , schließt der Autor der Meditationen (1642) aus seinen Gedanken. Sich selbst inszeniert Descartes in der dritten Meditation als Sohn Gottes. Als »Geist, den allein ich jetzt als Ich akzeptiere«36 , stamme er weniger von seinen Eltern als von Gott ab, dessen ›Natürliches Licht‹ sich in ihm verkörpere. Seinem Körper sei das Cogito zwar nicht verbunden wie ein Seemann seinem Schiff, da die Empfindungen des Körpers mit dem Geist »vermischt«37 seien, ohne dass er sie vollends steuern könne. Dennoch könne der Geist als Seemann auch ohne Schiff existieren. »Denn ich werde tatsächlich die Wahrheit erlangen, wenn ich nur das, was ich vollkommen einsehe, genügend berücksichtige und es von allem übrigen trenne, das ich verworrener und dunkler auffasse«38 , folgert Descartes aus seiner vierten Meditation, während Europas Expeditionsund Sklavenschiffe außerhalb des spezifischen Raumes, in dem das Ich seiner Meditationen in einen Wintermantel gekleidet am Feuer sitzt und das unter ihm ausgebreitete Schreibpapier berührt, zwischen den Kontinenten flottieren. Feuerbachs in seiner Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza (1833) fast zwei Jahrhunderte später an Descartes adressierte Kritik besteht in seinem Hinweis darauf, dass Descartes durch seine Selbstauffassung von sich als »denkende[m] Ding«39 mit der Verbindung zur Sinnlichkeit auch seinen Kontakt zu etwas außerhalb von ihm Befindlichen kappt, mit dem er weder identisch ist noch werden kann. In den Worten, die Feuerbach rund ein Jahrzehnt nach seiner Kritik am Cogito von Descartes in Das Wesen des Christentums (1841) verwendet, ließe sich sagen, dass er so das Verhältnis zwischen Teilwesen als deren Verstrickung mit einem »relativen Ganzen«40 kappt. Wenn demnach Mignolo, im Anschluss an Dussel und Quijano, in Epistemischer Ungehorsam (2006) die 33 34 35 36 37 38 39 40

Ebd. Ebd., S. 30. Ebd., S. 36f. Ebd., S. 55. Ebd., S. 88. Ebd., S. 68. Ebd., S. 30. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, S. 201. Descartes hingegen hält in seiner sechsten Meditation fest: »Denn wenn ich den Geist, bzw. mich selbst betrachte, insofern ich lediglich ein denkendes Ding bin, kann ich tatsächlich in mir keine Teile unterscheiden, sondern ich sehe ein, daß ich ein durchaus einziges und vollständiges Ding bin.« Ders., Meditationen, S. 92.

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

Rhetorik der Moderne mit der Logik der Kolonialität verklammert, indem er bezüglich der kolonialen Matrix von einer »Beseitigung der eigenen geo- und körperpolitischen Spuren«41 spricht und anmerkt, dass Descartes, anstatt ein Selbstverhältnis zu errichten, danach hätte fragen sollen, von wo aus er denkt, dann insistiert er auf einer Situierung des Denkens innerhalb sinnlicher Verhältnisse, an der auch Feuerbach gelegen war. »The epistemology of the zero point (theo- and ego-logy) is predicated on objectivity without parenthesis and is, therefore, unavoidably imperial«42 , führt er hierzu in The Darker Side of Western Modernity (2011) aus. Die algerisch-französische Denkerin Houria Bouteldja geht noch weiter, wenn sie in Whites, Jews, and Us. Toward a Politics of Revolutionary Love (2016) unter Bezug auf Dussel schreibt: »I think therefore I am … God. Who is hiding behind this Cartesian ›I‹? When the formula was first pronounced, America had been ›discovered‹ for two hundred years. Descartes was in Amsterdam, the new center of the world system. Is it possible to extract this ›I‹ from the political context of its enunciation? No, answers South American philosopher, Enrique Dussel. This ›I‹ is a conquering ›I‹. It is armed. It is empowered with fire, on the one hand, and the Bible, on the other. It is a predator. Its victories are intoxicating. We must ›render ourselves, as it were, masters and possessors of nature‹, continues Descartes. The Cartesian ›I‹ affirms itself. It wants to defy death. It is this ›I‹ that will from now on occupy the center. I think therefore I am the one who decides, I think therefore I am the one who dominates, I think therefore I am the one who subjugates, pillages, steals, rapes, commits genocide. I think therefore I am a modern, virile, capitalist, imperialist man. The Cartesian ›I‹ will lay the philosophical ground for whiteness. It will secularize God’s attributes and confer them to the Western God, who is, in fact, none other than a parable of the white man. This is how you were born. I have never been able to say ›we‹ and include you.«43 Hier soll deshalb dafür plädiert werden, dass Feuerbachs Kritik am cartesianischen Cogito eine implizite Kritik an der ökologischen und politischen Misere des postkolonialen Anthropozäns darstellt, welches zur damaligen Zeit in seine industrielle Phase eintritt und dem eine Gewaltgeschichte vorausgeht, in deren Verlauf weiße Männer des Westens unseren Planeten in eine Plantage verwandelten und dabei sowohl ihre Umwelten als auch ihre Mitmenschen als bloßes Material betrachteten, das ihnen zur Verfügung stehen würde, um zu einem heutzutage alle Erdschichten, die Klimata und die gesamte Atmosphäre umspannenden Bewusstsein von sich als globalem Menschen zu gelangen.44 Wynter hat dieses globalisierte Menschenbild weißer Männer treffend als »a single genre-specific Western European bourgeois model of being«45 bezeichnet, das ihr zu41 42 43 44

45

Mignolo, Epistemischer Ungehorsam, S. 122. Ders., The Darker Side of Western Modernity, S. 207. Houria Bouteldja, Whites, Jews, and Us. Toward a Politics of Revolutionary Love, South Pasadena: Semiotext(e), 2016, S. 33f. »Wenn ich also sage, dass weiße Männer eine Institution ist, meine ich nicht nur, was bereits errichtet oder gebaut wurde, sondern die Mechanismen, die das Fortkommen dieser Struktur sicherstellen«, heißt es hierzu in Sara Ahmed, Feministisch leben! Manifest für Spassverderberinnen, Münster: Umrast, 2018, S. 195. Wynter und McKittrick, Unparalleled Catastrophe for Our Species?, S. 19.

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folge »is, itself, projected onto, and incorporates, all those who belong to the now globally economically Westernized middle classes; their working classes; and their criminalized and jobless underclasses«46 . Anstatt sich anderen Perspektiven anzunähern und andere Position mitzubedenken, denkt das solipsistische Bewusstsein des Kolonialismus nur sich selbst, indem es, so ließe sich mit Feuerbachs Anfang der 1830er Jahre gegen Descartes gerichteten Worten sagen, »das Denken zum Grund, zur Voraussetzung des Denkens«47 macht und »im Zweifel an der Realität des andern den Triumph seiner eigenen Selbstständigkeit und Realität feiert«48 . Für Feuerbach wird durch die Idee des ego cogito, ergo sum, also eines Ichs, das sich seine Existenz beweist, indem es die Welt durch und in sich denkt, in anthropologischer Hinsicht »die Entstehung der menschlichen Vorstellung vom Geiste – als einem selbstständigen […] Wesen – so offen und klar dargelegt«49 . Laut ihm ebenso wie Dussel zufolge legt Descartes innerhalb der Philosophiegeschichte Europas den Grundstein für eine Mentalität, die später im spekulativen System Hegels fortlebt. Vielleicht wird sich Hegel deshalb in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1837) lobend über seinen französischen Vorgänger äußern: »Wie in den rein germanischen Nationen das Prinzip des Geistes aufgegangen ist, so wurde von den romanischen zuerst die Abstraktion erfaßt, welche mit ihrem […] Charakter der innerlichen Geschiedenheit zusammenhängt.«50 Die Mentalität, die sich im cartesianischen Cogito manifestiert, wird später von Foucault einer eingehenden Analyse unterzogen und mit einer »Exegese des Subjekts durch sich selbst«51 in Zusammenhang gebracht. Dussel situiert sie geografisch in Europa und institutionell im christlichen Kolleg von La Flèche, dessen Ausbildung dem Konzil von Trient entsprechend organisiert war, das Descartes durchlaufen hat. Dort musste er sich dreimal täglich zum Gebet zurückziehen und »über seine eigene Subjektivität 46 47 48 49

50 51

Ebd. Feuerbach, Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza, S. 233. Ebd., S. 204. Ebd., S. 232f. »Ganz sicher hängt die Erkenntnis des genau so verstandenen Ichs nicht von dem ab, von dem mir noch unbekant ist, ob es existiert; und demnach hängt sie von nichts ab, das ich in der Anschauung ausbilde«, meint Descartes in seiner zweiten Meditation. Ders., Meditationen, S. 31. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 521. Michel Foucault, Die Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004, S. 320. Seine mit dem ›cartesianischen Moment‹ einsetzende Vorlesungsreihe zur Genealogie der Subjektivität in der abendländischen Neuzeit von 1981/82 beendet Foucault mit folgenden – Hegel gewidmeten – Worten: »Wie ist es möglich, daß das, was vermittelt über die technische Beherrschung sich als Objekt des Wissens gibt, zugleich der Ort ist, wo die Wahrheit des Subjekts, das wir sind, sich manifestiert, sich erprobt und unter Schwierigkeiten vollendet? Wie ist es möglich, daß die Welt, die sich auf der Grundlage der technischen Beherrschung als Erkenntnisobjekt gibt, zugleich der Ort ist, an dem sich das ›Selbst‹ […] als ethisches Subjekt der Wahrheit manifestiert und bewährt? Gesetzt, dies ist das Problem der abendländischen Philosophie – wie kann die Welt Erkenntnisobjekt und zugleich Ort der Bewährung […] für das Subjekt sein; wie ist es möglich, daß es ein Erkenntnissubjekt gibt, das sich die Welt vermittelt über eine techne als Objekt gibt, und ein Subjekt der Selbsterfahrung, das sich dieselbe Welt in der radikal unterschiedenen Gestalt der Bewährung gibt –, gesetzt also, das ist tatsächlich die Herausforderung, der sich die abendländische Philosophie zu stellen hat, dann verstehen Sie auch, warum die Phänomenologie des Geistes den Höhepunkt dieser Philosophie bildet.« Ebd., S. 593f.

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

reflektieren«52 . Obwohl es Descartes zunächst um die meditative Emanzipation des Geistes von kirchlichen Dogmen ging, die bis dahin die Allmacht Gottes über menschliche (Ohn-)Macht gestellt hatten, weist Dussel darauf hin, dass das Verhältnis, das diese Subjektivität zu ihren Umwelten und zu Mitmenschen aufbaut, indem sie beide als ihr gegenüber indifferent ausgedehnte Materie betrachtet und sich damit autonom in sich selbst begründet, ein koloniales Verhältnis sei. Daran anschließend betont Mignolo, dass sich mit Descartes die Transformation von Theo- in Egopolitik vollzieht, bevor sie mit Hegel zur Organopolitik wird: Indem sich weiße Männer auf ihren Geist konzentrieren, verschieben sie das Zentrum der Welt von Gott weg und übertragen dessen Macht auf sich.53 Bei Descartes steht die res cogitans als sich allein innerliche einer res extensa gegenüber, die ihr nur äußerlich sein kann und keine ihr eigene Realität aufweist. Laut Dussel ist die Emanzipation des Cogitos von seinen materiellen Bedingungen deshalb eine der frühen Voraussetzungen der »Verfassung des Körpers als Ware, die durch einen Preis quantifiziert werden kann, so wie es im System der Sklaverei oder der kapitalistischen Lohnarbeit geschieht«54 . Für Feuerbach, an den Dussels Überlegungen anschließen, ist die prominente Stellung des Geistes bei Descartes dadurch gekennzeichnet, dass für ihn das Sein im Sinne eines Wirklichkeitsprinzips grammatikalisch betrachtet aufseiten einer ersten Person verortet ist, die sich selbst bewusst wird, indem sie einer zweiten Person Sein abspricht, also an allem zweifelt, was nicht sie selbst ist.55 Somit versteckt sich hinter der Figur des ego cogito, ergo sum – inklusive aller Grausamkeiten, die sich ökologisch ebenso wie politisch betrachtet darin eingeschrieben haben – ein bestimmtes Selbstverhältnis europäischer weißer Männer. Schon vor Hegel kappt der Geist bei Descartes, indem er sich als Ich-Instanz instituiert, sinnliche Verhältnisse von sich ab. Er verwandelt sich vom Knecht zum Herren seiner Umstände, indem er sich als Subjektivität absolut setzt und im Denken als Arm Gottes begreift, an den allein er sich gebunden erfährt. »[E]s ist allein deshalb, weil Gott mich geschaffen hat, äußerst glaubhaft, daß ich gewissermaßen nach seinem Bild und als sein Abbild gemacht bin, und daß dieses Abbild, in dem die Idee Gottes enthalten ist, von mir durch dasselbe Vermögen erfaßt wird, durch das ich mich selbst erfassen kann. Solange ich also die Schärfe des Geistes auf mich selbst ausrichte, sehe ich nicht nur ein, daß ich ein unvollständiges und von einem anderen abhängiges Ding bin, und zwar ein Ding, das unbegrenzt zu immer Größerem und noch Größerem, bzw. Besseren zu gelangen versucht; sondern ich sehe zugleich auch ein, daß der, von dem ich abhänge, alles dies Größere nicht nur unbegrenzt und der Möglichkeit nach, sondern tatsächlich unendlich in sich hat, und demnach Gott ist.«56

52 53 54 55

56

Dussel, Der Gegendiskurs der Moderne, S. 30. Vgl. Mignolo, The Darker Side of Western Modernity. Dussel, Der Gegendiskurs der Moderne, S. 40. Heidegger wird dieses Problem für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ausbuchstabieren und Jean-Luc Nancy in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine entsprechende Replik liefern. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 2006 und Jean-Luc Nancy, Singulär Plural Sein, Berlin und Zürich: diaphanes, 1996. Descartes, Meditationen, S. 56.

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Warum lässt sich mit Feuerbach sagen, dass Descartes den philosophischen Subjektivismus etabliert, der historisch mit der Verwandlung dieses Planeten in einen Weltinnenraum und eine Plantage einhergeht? Indem Descartes den Zweifel zum ersten Prinzip der Unterscheidung zwischen res cogitans und res extensa erhebt und unter Ausklammerung der zweiten allein in der ersten Person »eine klare und deutliche Idee meiner selbst«57 findet, drückt sein ego cogito, ergo sum die Vorstellung eines Bewusstseins aus, der zufolge Denken eigenes Denken sei. Sinnlichkeit hingegen, durch die Feuerbach später Menschen im Plural ineinander verstrickt und in der er den Ort menschlicher Liebe sehen wird, klammert Descartes aus. Er steht ihr weniger gegenüber als vielmehr entgegen, da er Wirklichkeit allein im Sein des Bewusstseins verankert und allen Zweifel aus diesem verbannt. »Noch sehe ich aber nicht hinreichend ein, wer ich denn nun bin, jenes Ich, der ich nunmehr notwendig bin. Ich muß mich von nun an vorsehen, damit ich nicht vielleicht unabsichtlich irgendetwas anderes anstelle meiner selbst annehme, und so auch in der Erkenntnis abirre, von der ich behaupte, sie sei die sicherste und evidenteste von allen.«58 Die Vernachlässigung von Fremd- zugunsten von Selbstbezügen, die mit der Unteilbarkeit des Cogitos einhergeht, bringt es mit sich, so Feuerbach in seiner Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza (1833), dass Descartes »das Selbst zum ganzen Geiste machte, daß er den Geist nur in Beziehung auf sich selbst (in der Subjektivität) und diese Beziehung als sein ganzes Wesen«59 auffasst. Im Zentrum der cartesianischen Philosophie stünde somit – als allein zuverlässiger Gegenpart des Zweifels – die »Selbstgewißheit des Geistes«60 , mit der in kolonialen Kontexten zugleich ein allgemeiner Standpunkt gesetzt wurde, um den die Welt fortan kreisen sollte. Unter Verwendung des hegelianischen Begriffs der Tilgung beschreibt Feuerbach Anfang der 1830er Jahre, rund ein Jahrzehnt vor seiner Analyse des Christentums, inwiefern das cartesianische Cogito dabei in sich verschlossen bleibt. »[I]ndem ich (als Geist natürlich oder inwiefern ich Geist bin) alles, was nur immer bezweifelbar ist, bezweifele, d.i. alles, was nur immer von mir als Geist entfernbar und unterscheidbar, als nicht ich selbst, als nicht Geist bestimmbar ist, von mir unter- und ausscheide, also alles, was gegen oder für mich ein Andres, Gegenständlich ist, selbst al57 58

59 60

Ebd., S. 85. Ebd., S. 28. In einer Lektüre der Meditationen (1642), die derjenigen seines Kollegen Jacques Derrida zuwiderläuft, demonstriert Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft (1961) schlüssig, warum das cartesianische Cogito einen Raum der Vernunft begründet, die nicht in der Lage ist, sich ihre eigene Unvernünftigkeit einzugestehen: »Der Wahnsinn wird […] von dem zweifelnden Subjekt ausgeschlossen. […] So wie bald ausgeschlossen wird, daß es nicht denkt und nicht existiert.« Ders., Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1969, S. 69. Anders als Foucault beschäftigt Feuerbach der Ausschluss nicht des Wahnsinns aus der Vernunft, sondern der Sinnlichkeit aus dem Subjekt, das von Descartes über und nicht neben den leblos unter ihm ausgebreiteten Dingen aufgerichtet wird. Feuerbach, Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza, S. 202. Ebd., S. 203.

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

le geistigen, hauptsächlich aber die sinnlichen Objekte aus meinem Geiste vertilge, ihre Realität oder Existenz aufhebe, bin ich gerade in diesem Zweifel meiner Existenz, meiner selbst gewiß, ist dieser Zweifel eben die Gewißheit meiner selbst, diese Verneinung alles Gegenständlichen als eines von mir Unterschiedenen gerade die Bejahung meiner selbst. Indem ich also zweifle, d.i. denke – denn Zweifeln ist denken –, bin ich; ich denke: ich bin – ist ununterscheidbar, ist eins.«61 Kolonial im Sinne Dussels ist das Bewusstsein des cartesianischen Subjekts, weil für es Denken und Sein in der Innerlichkeit eines einzigen Ichs und dessen ausschließlicher Beziehung zu Gott unaufhörlich aufeinander verweisen und um ein sich selbst gewisses Zentrum kreisen. So wird dem eigenen äußerlichen Wesen eine von ihrem bloßen Gedacht-Sein unterschiedene Existenz abgesprochen. In Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843) wird Feuerbach schreiben: »Nicht die Sinne, sondern nur der Verstand nimmt nach Cartesius das Wesen der körperlichen Dinge, den Körper als Substanz war; aber deswegen ist auch nicht der Sinn, sondern der Verstand nach Cartesius das Wesen des wahrnehmenden Subjekts, des Menschen.«62 Später wird er nach einem Modus des Verstehens suchen, in dem Denken nur in seiner Begegnung mit einer Alterität statthat, die nicht in ihm aufgeht. Dementsprechend wird er in seiner Auseinandersetzung mit Hegels spekulativem System einen ›sinnlichen Verstand‹ einfordern.63 In seiner Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza (1833) weist er bezüglich der Mediationen (1642) aber schon darauf hin, dass Descartes »den Geist nur im Unterschied vom Sinnlichen, nur in der Verneinung desselben erfaßt und bestimmt«64 und das Denken bei ihm deshalb »keinen von mir unterschiedenen Gegenstand«65 hat, sodass am Ende keine »sinnliche Welt«66 mehr da ist, »in Zusammenhang mit welcher ich stünde«67 . Im Rahmen dieser Privilegierung des Geistes zu Ungunsten der Sinnlichkeit und der mit ihr zusammenhängenden Verortung des Seins allein innerhalb einer ersten Person, die keine zweite Person als Gegenüber kennt, kommt laut Feuerbach dem Selbst bei Descartes deshalb eine so wichtige Rolle zu, weil er Denken und Selbstbewusstsein miteinander identifiziert und so die sinnlichen Verhältnisse, in denen ein einzelner Mensch steht, auf Selbstverhältnisse reduziert. Die sich im cartesianischen Cogito formierende Subjektivität erlangt Feuerbach zufolge allein Gewissheit, indem sie durch das »Ausscheiden dessen, was nicht mein ist, nicht mir gehört, ein Anderes, Unterschiedenes«68 ein 61 62 63 64 65 66 67

68

Ebd., S. 185. Ders., Grundsätze der Philosophie der Zukunft, S. 272. Vgl. hierzu Ursula Reitemeyer, Philosophie der Leiblichkeit. Ludwig Feuerbachs Entwurf einer Philosophie der Zukunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1988. Feuerbach, Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza, S. 186. Ebd., S. 187f. Ebd., S. 188. Ebd. Seine Abkappung sinnlicher Verhältnisse macht Descartes gleich zu Beginn seiner dritten Meditation überaus deutlich: »Ich will nun die Augen schließen, die Ohren zustopfen, alle Sinne abschalten und auch alle Bilder körperlicher Dinge entweder aus meinem Denken löschen, oder, weil dies kaum möglich sein wird, sie zumindest als bedeutungslos und falsch für nichts erachten. Ich werde, indem ich allein mit mir spreche und tief in mich hineinblicke, versuchen, mich mit mir selbst nach und nach bekannter und vertrauter zu machen.« Ders., Meditationen, S. 39. Feuerbach, Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza, S. 190.

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Bewusstsein von sich als Zentrum der Welt gewinnt. Vergleichbar mit Hegels späterem Weltgeist emanzipiert sich das Cogito mit seinen materiellen Bedingungen auch von sinnlicher Gewissheit. Es kann nur sich selbst gewiss sein: Descartes »sagt ausdrücklich, daß er unter dem Denken nichts als ein Bewußtsein verstehe (d.i. eben das im Zweifeln, im Unterscheiden sich selbst oder den Geist bejahende, nicht auf ein Objekt, sondern auf sich gerichtete und bezogene Denken […].«69 Descartes gießt deshalb die Problematik des Kolonialismus in die Form des philosophischen Subjektivismus, weil sein Cogito in einer selbsttätigen Bewegung der einverleibenden Ausverleibung auf seine Umwelt und auf Mitmenschen gerichtet ist. Die Verstrickung von Teilwesen ineinander, auf die Feuerbach später immer wieder hinweist, spielt im Innenraum des cartesianischen Subjekts keine Rolle. Mit Dussels Hinweis darauf, dass dem ego cogito ein ego conquiro zugrunde liegt, lassen sich Feuerbachs Ausführungen zum Cartesianismus demnach wie ein Kommentar auf das historische Verhältnis Europas zu seinem Außen – nämlich allen anderen Kontinenten dieses Planeten – lesen. »Der Geist, den C. und wie er ihn erfaßte, hat seinen entsprechenden, ihn am bestimmtesten bezeichnenden Ausdruck wie seine Wirklichkeit in dem, was Ich oder Selbst heißt. Der Geist, der und inwiefern er von allem Körperlichen sich absondert, es als Fremdes (rem alienam), nicht zu ihm Gehöriges und mit ihm Identisches von sich ausschließt, in dieser Absonderung und Unterscheidung seine positive Bestimmung hat, der nur ist, inwiefern und indem er denket, d.i., dessen Wesen nur das Denken ist, und zwar in der Bedeutung, die es bei C. hat, in der Bedeutung, nichts weiter zu sein als das Bewußtsein, die Selbstgewißheit, als die vom Körper sich unterscheidende Beziehung auf sich selbst, ist nichts andres als das Ich oder Selbst oder der Geist, inwiefern er Ich oder Selbst ist […].«70 Was bei Descartes als Selbstbewusstsein firmiert, verweist laut Feuerbach auf eine gekappte und in sich abgeschottete Vorstellung des Menschen. Der selbstbewusste Mensch gelangt durch seine Unterscheidung von den sinnlichen Verhältnissen, in die er verwickelt ist, zur Selbstgewissheit. Im Kontrast zum Menschen als zuallererst sinnlichem Gattungswesen, welches Feuerbach in seinem späteren Schreiben herausarbeiten wird und bezüglich dessen er 1843 eine ›Philosophie der Zukunft‹ fordert, stürzt sein Zugriff auf Natur und andere Menschen den selbstbewussten Menschen »nicht aus dem klaren Himmel seiner Selbstgewißheit in die Nacht der Sinnenvorstellungen«71 , wie Feuerbach – vermutlich in Anspielung auf Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica (1750) – notiert. Wegen ihrer jeweiligen Emphase des Selbstbewusstseins sieht auch Mignolo eine Kontinuität zwischen Descartes und Hegel. Ihr selbstbewusstes Verständnis des Menschen begegne nur eigenen Widerspiegelungen.72 Hegel geht in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1837) während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts davon aus, der Weltgeist hätte germanische Züge an69 70 71 72

Ebd. Ebd., S. 198f. Ebd., S. 217. Vgl. Mignolo, The Darker Side of Western Modernity.

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

genommen und würde sich vom Norden Europas aus entfalten, ohne dabei auch nur die französischen Pyrenäen zu streifen. Von anderen Erdteilen behauptet er, in ihnen offenbare sich die Verwandtschaft des Menschen zum Tier – beispielsweise durch den Verzehr von Menschenfleisch in Afrika, anhand dessen er zugleich ein europäisches Phantasma wie die europäische Realität in den Kolonien reproduziert. »Die Wertlosigkeit der Menschen geht ins Unglaubliche; die Tyrannei gilt für kein Unrecht, und es ist als etwas ganz Verbreitetes und Erlaubtes betrachtet, Menschenfleisch zu essen. Bei uns hält der Instinkt davon ab, wenn man überhaupt beim Menschen vom Instinkte sprechen kann. Aber bei dem N* ist dies nicht der Fall, und den Menschen zu verzehren hängt mit dem afrikanischen Prinzip überhaupt zusammen; für den sinnlichen N* ist das Menschenfleisch nur Sinnliches, Fleisch überhaupt.«73 Dem lässt sich mit Feuerbachs Analyse der Subjektform, die dieser kolonialen Mentalität zugrunde liegt, die Frage entgegenhalten, ob Hegel nicht vielmehr über Europas weiße Männer spricht, wenn er solche Aussagen an seine Berliner Studenten richtet: Angesichts Europas Kolonialgeschichte, der massenweisen Verschiffung von Sklav*innen über den Atlantik über Jahrhunderte hinweg und der bürgerlichen Rechte weißer Eigentümer*innen über ihr ›Schwarzes Eigentum‹ noch zu Hegels Zeit lassen sich die Sätze des großen deutschen Philosophen durch die Brille von Feuerbachs Descartes-Lektüre als Selbstauskünfte aus dem Innenraum der weißen Subjektform lesen, die im ego cogito, ergo sum ihren philosophiegeschichtlichen Anfang nimmt und der alle Körper zur res extensa werden, zu einem Außenraum, der darauf warten würde, von einer res cogitans infrastrukturell ›koordiniert‹ zu werden. Ebenso wie das cartesianische Cogito wird später auch Hegels Weltgeist, den Feuerbach bereits vor Mignolo auf der gleichen Traditionslinie anordnet, die Idee eines seine Schöpfung ›koordinierenden‹ Gottes reproduzieren und jede wirkliche Alterität in sich tilgen.74 An Feuerbachs Auseinandersetzung mit Descartes zeichnet sich bereits in ersten Zügen ab, was er danach anhand seiner anthropologischen Analyse des Christentums und mit seiner Kritik an Hegels Subjektivismus weiterführen wird, nämlich die Distanzierung von einer Subjektivität, die für ihn seit Das Wesen des Christentums (1841) zunehmend mit einer Kappung sinnlicher Verhältnisse mehrerer Menschen zusammenhängen wird und die er am Individuum, an der Person und am Subjekt festmacht, um zu zeigen, inwiefern diese Figuren mit Fremdbezügen zugleich auch den Menschen als Gattungswesen kappen. Bereits in seinen Gedanken über Tod und Unsterblichkeit (1830), die drei Jahre

73 74

Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 124f. In Hegels Phänomenologie des Geistes (1807) ist an genau 39 Stellen vom Tilgen die Rede, das dort unterschiedliche Variationen durchläuft: Etwas wird dann nicht nur getilgt, sondern auch vertilgt oder tilgt sich selbst, wobei allein die Substanz des Subjekts unvertilgbar ist. Hegels Rede von der ›Menschenfresserei‹ in den afrikanischen Kolonien Europas scheint demnach einen Mimetismus zu bezeichnen, in welchen Hegels Weltgeist verwickelt ist und den Oswald de Andrade in seinem Anthropophagen Manifest (1924) auf den Punkt bringt, wenn er dort aus brasilianischer Perspektive schreibt: »Ich fragte einen Mann, was das Recht sei. Er antwortete, es sei die Garantie der Ausübung der Möglichkeit. Dieser Mann wurde Galli Mathias genannt. Ich habe ihn aufgegessen.« Ders., Anthropophages Manifest, in: ders., »Manifeste«, Wien: Turia + Kant, 2016, S. 47.

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vor seiner Auseinandersetzung mit Descartes veröffentlicht wurden, fordert Feuerbach, wir sollten uns die ›Pietisten‹ ansehen und an ihrem Beispiel sehen, »wie das Individuum sich zerbeißt und zerknacket, nur um den süßen Kern seines Selbsts aus diesem Zerknacken herauszuknacken«75 . Dem fügt er an späterer Stelle des Textes hinzu: »Du sagst: die Persönlichkeit ist Insichsein und Vonsichwissen. Aber was ist denn das, wovon dieses Wissen weiß? Du wirst doch wohl nicht das Vonsichwissen selbst wieder zum Gegenstand und Inhalt des Vonsichwissens machen. Was wäre das für eine leere und endliche Person, die in ihrem Wissen nichts enthielte als sich selbst, die von nichts weiter wüßte, als daß sie von sich weiß, oder in der das Wissen und das Gewußte nur sie selbst, die Person wäre?«76 Im selben Abschnitt heißt es dann weiter unten: »Ist Selbstbewusstsein allein dort, wo die Person nur von sich selbst weiß, wo nichts in ihr ist als die Person selbst? Ist nicht auch die Liebe Selbstbewußtsein, nicht seliger Genuß, nicht allerhöchstes Selbstgefühl? Ist aber das Selbst, dessen Gefühl du in der Liebe hast, juridisches, ausschließendes, unterschiednes Selbst, ein Selbst, das nur in sich ist und von sich weiß; oder ist nicht vielmehr das Gefühl des Selbstes in der Liebe zugleich Gefühl eines Wesens, das unterschieden und doch eins mit dem Selbste ist?«77 Feuerbachs bezüglich Descartes formulierte Kritik am Selbst ist deshalb auch eine implizite Kritik an der den Kolonialismus vorantreibenden Subjektivität, weil hier eine Mentalität in der Kritik steht, die der Ausbeutung sowohl von Natur als auch von Menschen zugrunde liegt. Tomasoni hat diesbezüglich herausgearbeitet, inwiefern Feuerbachs Anthropologie auf einer Emphase des Menschen als primär abhängigem Wesen basiert, das vom Menschenbild weißer Männer verkannt wird: »Diese natürliche Abhängigkeit, aus der sich der Mensch zu befreien versucht hatte, ist in Wirklichkeit unaufhebbar, unausrottbar.«78 Die in einer allzu starken Ich-Instanz verankerte Subjektivität, die heute mehr denn je ein Problem darstellt und in der hier bald besprochenen Videoarbeit Narcissus and Echo (2016) von Kilomba als solipsistisches Bewusstsein des Kolonialismus thematisiert wird, konfrontiert Feuerbach später mit Ich-Du-Beziehungen, in denen sich erste an zweite Personen wenden, indem sie sich anderen Subjektivitäten gegenüber öffnen. Es wird ihm dann darum gehen, aus dem Innenraum des Subjektivismus auszubrechen. Im Kontrast zu Descartes interessiert sich Feuerbach bereits Anfang der 1830er Jahre für einzelnen Menschen äußerliche Kräfte und Wirkmächte, wenn er das cartesianische Cogito befragt: »Wie kann ich also gewiß sein, daß das Ich, das ich nicht kenne, mit dem mir bekannten dasselbe ist? Bin ich unbewußt vielleicht nicht etwas ganz andres, als ich bewußt bin?«79 Vor dem Hintergrund seiner Kritik an Descartes wird er ab Ende

75 76 77 78 79

Feuerbach, Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, S. 97. Ebd., S. 106. Ebd., S. 107. Tomasoni, Ludwig Feuerbach und die nicht-menschliche Natur, S. 201. Feuerbach, Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza, S. 234.

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

der 1830er Jahre auch Hegel kritisieren. »Der Anfang der Cartesischen Philosophie, die Abstraktion von der Sinnlichkeit, von der Materie, ist der Anfang der neuern spekulativen Philosophie«80 , merkt er in Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843) hierzu an. Zuvor widmet er sich unter anthropologischen Vorzeichen einer eingehenden Analyse der Religion.

2.2 Homo homini Deus est: Menschliche Subjektivität zwischen Poly- und Monotheismus »Die Philosophie entsteht gerade erst da unter den christlichen Völkern, wo sie auf die heidnischen Philosophen zurückgehen«81 , hält Feuerbach in Über Philosophie und Christentum (1839) fest und schreibt wenigstens keine Fortschrittsgeschichte, während er leider hin und wieder europäische Phantasmen über andere Räume und Zeiten reproduziert. Tomasoni zufolge geht es ihm bei seinen subjektivitätstheoretischen Überlegungen zur Religion als Verhältnis im Sinne von religare vielmehr um eine Konstellation von Elementen des Polytheismus mit Elementen des Monotheismus und deshalb um die »Wiedergewinnung wichtiger Werte des primitiven Denkens«82 . Dessen wichtigster Wert sei, was Tomasoni »die Anwesenheit des Objekts im Subjekt«83 nennt: »In der ursprünglichen Erfahrung des Selbst ist das Abhängigkeitsgefühl gleichzeitig Anschauung und Anderssein, verschieden und nicht auf einfache Reziprozität reduzierbar, eine Asymmetrie, nach der ich nicht ohne das Andere, dieses aber ohne mich existieren kann.«84 Was Feuerbach im Rahmen seiner »pragmatic deconstruction of religion«85 zum Christentum zu sagen hat, ließe sich in vergleichbarer Weise auch vom Judentum oder vom Islam sagen, die er, teils mit antisemitischen, teils mit orientalistischen Untertönen, beide am Rande mitbehandelt, während er fordert, »den Koran, den Zendavesta,

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Ders., Grundsätze der Philosophie der Zukunft, S. 257. Ders., Über Philosophie und Christentum, in: ders., »Werke in sechs Bänden, Band 2, Kritiken und Abhandlungen I (1832–1839)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975, S. 289. Tomasoni, Ludwig Feuerbach und die nicht-menschliche Natur, S. 206. Tomasonis Rede von ›primitivem‹ Denken ist überaus problematisch und verfestigt, ebenso wie Feuerbachs v.a. in Das Wesen der Religion (1846) wiederholte Rede von ›Heiden‹, ›Heidentum‹, ›Naturreligion‹ und ›Naturvolk‹, ohne dies zu intendieren, dennoch rassistische Zuschreibungen. Vgl. hierzu Susan Arndt und Antje Hornscheidt (Hg.), Afrika und die deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster: Unrast, 2009. Mit den Herausgeber*innen dieser wichtigen Sammlung und Erläuterung kolonialhistorisch vorbelasteter Begriffe lässt sich sagen, dass Feuerbach wie Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1837) Strukturen der kolonialen Moderne reproduziert, obwohl er gleichsam andere Ziele verfolgt: »›Naturreligion‹ […] nennt man in erster Linie im Gegensatz zur Kulturreligion die Religion der sogen. Naturvölker, welche noch keine wirkliche Geschichte haben.« Ebd., S. 176. Deswegen werden im Folgenden kolonialgeschichtlich vorbelastete Zuschreibungen, die Feuerbach verwendet, während er polytheistische Religionen aus monotheistischer Sicht analysiert und so zugleich als kulturellen Erfahrungsraum konstruiert, in einfache Anführungszeichen gesetzt, sofern sie im Text nicht näher erklärt werden. Tomasoni, Ludwig Feuerbach und die nicht-menschliche Natur, S. 215. Ebd., S. 207. Haynes, African Humanism, S. 171.

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die Vedas, die Religion der Griechen und Römer«86 mit gleicher Unparteilichkeit zu studieren. Für Feuerbach überwindet der Glaube an einen einzigen Gott nicht einfach den Glauben an mehrere Götter. Weder lässt er ihn hinter sich zurück noch hebt er ihn in sich auf, sondern er transformiert ihn, verdrängt aber zugleich dessen Einsicht in die fundamentale Abhängigkeit des Menschen von etwas ihm Äußerlichen. Feuerbach zufolge ist der Monotheismus zugleich ein ›Fort-‹ als auch ein ›Rückschritt‹ gegenüber dem Polytheismus und, wie er seinem zwei Jahre zuvor erschienen Hauptwerk in Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie (1843) hinzufügt, das Christentum »der Widerspruch von Polytheismus und Monotheismus«87 . Vor diesem Hintergrund verfolgt er in seinen Heidelberger Vorlesungen Ende der 1840er Jahre laut Erich Thies dann das doppelte Ziel, »ein von christlicher Orientierung gereinigtes Verhältnis zur inneren Natur des Menschen wie auch zur ihn umgebenden Natur«88 zu skizzieren und »die Geheimnisse der christlichen Religion aufzudecken, über ihre pathologischen Formen aufzuklären, um sie zu heilen«89 . In seiner Auseinandersetzung mit der Religion widmet sich Feuerbach der Aufgabe, den Menschen als sinnliche Verstrickung mehrerer Menschen vom exklusiven Attribut eines einzigen Gottes, dem nur ein Teil der Menschen angehört, nämlich die gleichgesinnten Gläubigen, zur inklusiven Substanz aller Menschen und vom abgeleiteten Prädikat in eine dezentrierte Subjektivität umzuwandeln.90 Diese Bewegung, die hier als angekündigter Ausgang aus der weißen Subjektform heraus hin zu Subjektivierungsweisen und somit als Kontrastierung von Selbst- mit Fremdbezügen gelesen werden soll, denkt er entlang der Verwobenheit einzelner Menschen mit ihnen äußerlichen Wirkmächten. »Je weniger Gott ist, desto mehr ist der Mensch; je weniger der Mensch, desto mehr Gott«91 , notiert er in Das Wesen des Glaubens im Sinne Luthers (1844). Ein ›Fortschritt‹ sei der Monotheismus, weil sich in ihm eine bestimmte Subjektivität von ihrer Bindung an eine begrenzte Landschaft und an partikulare Naturkräfte, die sich dort in einer Vielzahl an Göttern fänden, lösen und so eine alle Menschen umfassende Gattung denkbar würde. Zwar würde der Mensch entlang der Idee eines einzigen Gottes als alle Menschen umfassende Gattung denkbar, zugleich jedoch durch eine IchInstanz verstellt, da im Christentum »das Individuum für sich selbst ein vollkommendes Wesen, für sich selbst die adäquate Darstellung oder Existenz der Gattung ist«92 . Das Christentum »identifiziert unmittelbar mit dem Individuum die Gattung«93 , es versteht

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Feuerbach, Über Philosophie und Christentum, S. 290. Dabei argumentiert er leider teilweise im Sinne Saids durchaus orientalistisch und kleidet v.a. den Islam in ein westlich geprägtes Imaginäres. Vgl. exemplarisch ders., Beleuchtung der in den Theologischen Studien und Kritiken enthaltenen Rezension meiner Schrift ›Das Wesen des Christentums‹, in: ders.: »Werke in sechs Bänden, Band 3, Kritiken und Abhandlungen II (1839–1843)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975, S. 193ff. Ders., Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, S. 223. Erich Thies, Ludwig Feuerbach zwischen Universität und Rathaus oder die Heidelberger Philosophen und die 48er Revolution, Heidelberg: Verlag Brigitte Guderjahn, 1990, S. 69. Ebd. Vgl. Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, S. 243. Ders., Das Wesen des Glaubens im Sinne Luthers, S. 8. Ders., Das Wesen des Christentums, S. 184. Ebd., S. 198.

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

den einzelnen Menschen nicht als »Teilwesen, welches eines andern Teilwesens zur Hervorbringung des Ganzen, der wahren Menschheit, bedarf«94 , und ist deshalb auch ein ›Rückschritt‹ gegenüber der problematischerweise von Feuerbach so genannten ›Naturreligion‹, weil sich der solcherart ›universal‹ verstandene Mensch auf einen einzigen, außerhalb der Natur platzierten Gott richtet und in einer Innerlichkeit einschließt, die vorchristlichen Religionen unbekannt sei. Christliche Subjektivität findet zwar das Eine im Vielen, nicht jedoch das Viele im Einen. Sie verkennt, »daß die Menschen erst zusammen den Menschen ausmachen, die Menschen nur zusammen das sind und so sind, was und wie der Mensch sein soll und sein kann«95 . Feuerbachs Kritik am Christentum schließt erstens an seine fast ein Jahrzehnt zuvor in Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza (1833) formulierte Kritik am cartesianischen Cogito an und verläuft zweitens parallel zu seiner endgültigen Abwendung von Hegel, die er seit dem Ende der 1830er Jahre in Bezugnahme auf religiöse Themen vollzieht.96 Im Gegensatz zur von ihm als ›heidnisch‹ markierten Subjektivität kenne die aus dem Monotheismus heraus entstandene und von ihm befragte Ich-Instanz kein Gegenüber, da sie sich an einem von Natur unabhängigen Ort begründe, während im Polytheismus die wechselseitige Abhängigkeit aller Teilwesen, aus denen Natur besteht, wichtig sei. Haynes merkt hierzu an: »Polytheism expresses an appreciation of difference. Feuerbach’s admiration of polytheism would deepen in his later works […]. The concept of ›species-being‹ would be significantly deflated. It would refer not to an idealized universal essence of humanity but to the sensuous encounter with a flesh and blood ›thou‹ that discloses the human to be fundamentally relational.«97 Dussel beschreibt die Eroberung des Reiches der Azteken durch Spanien Ende des 15. Jahrhunderts anhand der Auslöschung von deren »nichtindividuelle[r] Gestaltung ihrer Verhältnisse zu den Dingen; weil sie keine Erfahrung von Privatbesitz kannten«98 , ahnten sie nicht die ihnen vonseiten einer sich absolut setzenden Subjektivität drohende Gefahr, ließe sich hinsichtlich der in der vorliegenden Arbeit virulenten Fragestellung sagen. So gesehen verankert sich die monotheistische Subjektivität in der Idee eines sich innerlichen Ichs, während es der polytheistischen Subjektivität – die Feuerbach zugleich beschreibt und aus einer durch den Monotheismus geprägten historischen Perspektive imaginär konstruiert – eher um das Du als etwas ihr Äußerliches zu tun sei, dem sie begegnet. Während sich von ihm so genannte ›Heid*innen‹ außerhalb ihrer selbst, in den auf sie einwirkenden Mächten der Natur, finden würden, suchten sich Christ*innen nur in sich. »Dem Naturverehrer ist es zu eng, zu schwül in den gemachten, abgezirkelten Räumen eines Tempels oder einer Kirche; es ist ihm nur wohl unter dem 94 95 96

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Ebd. Ebd., 184. »Das Wesen der Theologie ist das transzendente, außer den Menschen hinausgesetzte Wesen des Menschen; das Wesen der Logik Hegels das transzendente Denken, das Denken des Menschen außer den Menschen gesetzt.« Ders., Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, S. 223. Haynes, African Humanism, S. 174. Dussel, Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen, S. 78.

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freien, unbegrenzten Himmel der sinnlichen Anschauung«99 , projiziert Feuerbach Mitte der 1840er Jahre eigene Wünsche in andere Räume und Zeiten. Zwar emanzipiert sich menschliche Subjektivität im Christentum von ihrer Abhängigkeit gegenüber Natur. Sie tut dies aber, indem sie diese vollends ausklammert und zum Abglanz eines einzigen Gottes macht, der sie widerspiegelt. Die Anhänger*innen der ›Naturreligion‹ wissen, dass sie von Natur abhängig sind, die Monotheist*innen hingegen machen Natur von sich abhängig. Beiden gelingt es nicht, ihre Interdependenz zu fassen. Mbembe zeigt in On the Postcolony (2001) in direkter Bezugnahme auf Feuerbachs Das Wesen des Christentums (1841) sowie auf Johannes Fabians Time and the Other. How Anthropology Makes Its Object (1983) und anhand der für alle drei Monotheismen so wichtigen Praxis der Konversion, inwiefern der Glaube an einen einzigen Gott auf einen Monohumanismus und auf eine bestimmte Vorstellung von Souveränität zurückführbar ist: »[C]onversion always presupposes an entry into the time of the other. The converted self is placed such that it can be spoken by the god taking possession of it. To convert is, in this context, to enter into a language learned at the same time that it speaks through the possessed subject.«100 Laut Mbembe beruht der Glaube an einen einzigen Gott im Unterschied zum Glauben an eine Vielzahl von Göttern erstens auf der Vorrangigkeit des entsprechenden Gottes vor allen anderen – Gott absorbiert und subsumiert alle Verhältnisse in sich, er kann seinerseits nichts anderem untergeordnet werden –, zweitens auf einer Idee von Totalisierung, Exklusivität und Kondensierung von Souveränität, und drittens ist der Monotheismus auch ein Monopolismus, der andere Monotheismen zwar anerkennt, dabei aber meint, die Konkurrenz für sich entscheiden zu können. In ihm ist es nicht möglich, andere Götter neben dem einen und einzigen zu verehren.101 Der Konnex aus Monotheismus, Missionierung, Konvertierung und Kolonialismus, den Mbembe

99 Feuerbach, Das Wesen der Religion, S. 90. 100 Achille Mbembe, On the Postcolony, Berkeley, Los Angeles und London: University of California Press, 2011, S. 231. Wynter schreibt über den Monohumanismus: »Specifically, I propose that in our contemporary, planetarily extended, intra-human situation, our being human in the now globally homogenized, monohumanist terms of the secular West’s Man – specifically in the biologically absolute terms of the Western and westernized bourgeoisie’s (neo)Liberal-humanist, homo oeconomicus conception – is now itself a no less cosmogonically chartered and encoded and, thereby, fictively constructed and performatively enacted genre of being hybridly human.« Dies., The Ceremony Found, S. 196. Daran anschließend bemerkt sie: »This system of production necessarily calls for a single model of normative behavioral-activities; and these activities are themselves driven by the now globally homogenized/westernized desire of all men and women to realize themselves/ourselves in the monohumanist terms of the secular West’s homo oeconomicus conception and its single ethno-class ›understanding of man’s humanity‹ over-represented as if it were that of the human-in-itself.« Ebd., S. 234. Diesen Gedanken überträgt sie auf anthropozäne Fragestellungen: »And because this genre of being hybridly human must necessarily guard against the possible entropic disintegration of its planetarily extended, Western and westernized world system, together with its fictive nation states’ mode of kind, it must necessarily also guard against – within the terms of its genre specific supra-individual order of consciousness – the bringing to an end of its also lawlikely concomitant, planetarily extended crisis of global warming and climate change. Indeed, it must guard against the very recognition of its direct threat to the continued livability of our planetary habitat.« Ebd. 101 Vgl. Mbembe, On the Postcolony, S. 214.

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

schildert, wird offensichtlich, wenn wir näher betrachten, inwieweit sich in ihm eine besondere Gruppe Menschen zum Menschen im Allgemeinen emporhebt und annimmt, die Welt erlösen zu müssen. Feuerbach zitierend schreibt Mbembe: »As Feuerbach aptly suggests, where there is omnipotence there is also a subjectivity that ›frees itself from all objective determinations and limitations.‹ This absence of constraints constitutes the divinity’s power and its supreme essentiality. The power in question resides in the ability to subjectively posit, and translate into reality, everything representable. Nonetheless, omnipotence and providence are bound together through the idea of salvation. The one god’s omnipotence allows him to produce the world out of nothing. His providence allows him to save the world in exchange for nothing, in a supreme gift of himself, whose sacrificial character ultimately refers to the origin and end of all things.«102 Daran anschließend soll hier gezeigt werden, inwiefern Feuerbachs Überlegungen zum Verhältnis von Mono- und Polytheismus auf der Ebene von Subjektivität zwei Konzepte des Menschen miteinander kontrastieren, nämlich einerseits diejenige Weise des Menschseins, die auf einer in sich abgeschlossenen Subjektform beruht und andererseits eine, die mit den Subjektivierungsweisen mehrerer Menschen zu tun hat. In seinem fünf Jahre nach Das Wesen des Christentums (1841) erschienenen Werk Das Wesen der Religion (1846), das mehr als nur eine wichtige Ergänzung zum vorangegangenen Buch darstellt, da es in ihm nicht nur um das Verhältnis zwischen Menschen, sondern mehr noch um das zwischen ihnen und Natur geht, erklärt Feuerbach den Wunsch zum Ursprung der Religion.103 Unter dem Wunsch versteht er dann ein Verlangen, dessen Befriedigung nicht mit dem Wollen einzelner Menschen übereinstimme, von dem ihr Können also abweiche. Der Wunsch wird stark, wenn das Gelingen einer Handlung oder das Eintreten eines Ereignisses nicht allein in der Gewalt von Menschen liegen – ob etwa die Jagd erfolgreich verlaufen wird, ob es morgen regnet, ob ein sehr kranker Freund überlebt oder nicht. Aus dem Wunsch als der Differenz von Wollen und Können entsteht für Feuerbach Religion: »Wer keine Wünsche hat, der hat auch keine Götter.«104 Religion ist Ausdruck der Verbundenheit von Menschen mit ihnen äußerlichen Kräften. 102 Ebd., S. 214f. 103 In einem erst 1857 publizierten Text wird er dem hinzufügen: »Die Grundbedingung, die Grundvoraussetzung des Glaubens an einen Gott ist darum der unbewußte Wunsch, selbst Gott zu sein. […] Gott ist daher ursprünglich nichts anderes als der von seinem Gegensatz befreite Nichtmensch im Menschen, kein anderes Wesen, nur die andere Hälfte, die dem Menschen fehlt, nur die Ergänzung seines mangelhaften Wesens, seines im Widerspruch mit seinen Wünschen so beschränkten Tatvermögens.« Ludwig Feuerbach, Theogonie nach den Quellen des klassischen, hebräischen und christlichen Altertums, in: ders., »Werke in sechs Bänden, Band 4, Kritiken und Abhandlungen III (1844–1866)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975, S. 299. 104 Ders., Das Wesen der Religion, S. 113. Bereits 1842, ein Jahr nach Erscheinen seines Hauptwerks, will Feuerbach diesen Punkt in einem radikal historischen Sinne verstanden wissen: »Und die Zeit der Befriedigung ist erschienen, wo eben ein Bedürfnis nicht mehr den Charakter eines subjektiven, darum unberechtigten Wunsches hat, sondern unter der Gunst oder Mißgunst äußerer historischer Verhältnisse und Bedingungen mit der Gewalt, d.h. dem absoluten Rechte der Notwendigkeit auftritt. Das Bedürfnis ist die höchste, die souveräne Macht – das Schicksal der Geschichte. Und noch mehr: Das Bedürfnis einer Zeit ist die Religion dieser Zeit – der Gegenstand dieses Bedürfnisses ihr höchstes

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Im vorchristlichen Wunsch drücke sich deswegen eine anthropologische Verstrickung aus, auf die Feuerbachs Denken abzielt, nämlich »das Gefühl oder Bewußtsein des Menschen, daß er nicht ohne ein andres, von ihm unterschiednes Wesen existiert und existieren kann, daß er nicht sich selbst seine Existenz verdankt«105 . Entlang dieser grundlegenden Abhängigkeit erklärt Feuerbach auch die in der ›Naturreligion‹ gängige Praxis der Opfergabe. Indem der polytheistische Mensch der Natur Opfer darbringe, bekenne er seine Verwobenheit mit Kräften, die außerhalb seiner Einflussnahme liegen. Sein Verhältnis zur Natur sei eines des wechselseitigen Gebens und Nehmens. Den anthropologischen Grund der Opfergabe sieht Feuerbach hierin: »Die Aneignung der Natur erscheint daher dem Menschen gleichsam als eine Rechtsverletzung, als eine Aneignung fremden Eigentums, als eine Freveltat.«106 Durch das Opfer gibt er der Natur etwas von ihrem »entwendeten Eigentum wieder zurück«107 . Die vielen Götter des Polytheismus sind im Gegensatz zum einen Gott des Monotheismus keine »supranaturalistischen, eingebildeten Geschöpfe, sondern wirkliche, natürliche Wesen«108 , sie wirken »nicht von oben herab, sondern von unten herauf, nicht aus der Höhe, sondern aus der Tiefe der Natur«109 . Als solche drücken sie Kräfte aus, mit denen sich vorchristliche Gesellschaften verbinden und die sie für sich zu gewinnen suchen würden. So verehren die Anhänger*innen von ›Naturreligionen‹ laut Feuerbach beispielsweise Tiere, denn allein »vermittels der Tiere erhob sich der Mensch über das Tier; nur unter ihrem Schutz und Beistand konnte die Saat der menschlichen Kultur gedeihen«110 . Spätestens ab der zweiten Hälfte der 1840er Jahre besteht für Feuerbach der Vorzug des Poly- gegenüber dem Monotheismus darin, dass ersterer ein Wissen über die Verbundenheit des Menschen mit den Kräften der Natur, die ihn zuallererst hervorgebracht haben, in sich trage, zweiterer jedoch selbstbewusst seine eigenen Voraussetzungen vergesse, nämlich dass Natur und keine von ihr abgeschiedene Wesenheit seine Grundlage sei. Denn, wie er dann sarkastisch anmerkt, »[e]in Wesen, das die Ehre hat, nichts vorauszusetzen, das hat auch die Ehre, nichts zu sein. Aber freilich die Christen verstehen sich auf die Kunst, aus nichts etwas zu machen.«111

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Wesen, ihr Gott.« Ders., Beleuchtung der in den Theologischen Studien und Kritiken enthaltenen Rezension meiner Schrift ›Das Wesen des Christentums‹, S. 170. Ders., Das Wesen der Religion, S. 82. Ebd., S. 108. Ebd. In einer Replik auf seine Kritiker macht Feuerbach 1842 deutlich, dass die christliche Motivik das ›heidnische‹ Opfer nicht hinter sich lässt, sondern in sich aufnimmt und transformiert. In der Figur der jungfräulichen Maria sieht er hier eine vergleichbare Logik am Werk: »Maria ist die volle und zugleich sinnfällige Bestätigung dieser Wahrheit. Maria ist das religiöse Opfer des Fleisches, das feierliche Gelübte der Keuschheit, die aufgegebene irdische Liebe, aber dafür ist sie selber wieder der Gegenstand irdischer Liebe. Was sie dem Menschen mit der einen Hand nimmt, das gibt sie ihm mit der andern wieder zurück.« Ders., Über den Marienkultus, in: ders., »Werke in sechs Bänden, Band 3, Kritiken und Abhandlungen II (1839–1843)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975, S. 155. Ders., Das Wesen der Religion, S. 83. Ebd. Ebd. Ebd., S. 94. Zum Zusammenhang von Christentum und Naturvergessenheit merkt Feuerbach in einer 1848 publizierten Replik auf einen Rezensenten an: »Indem oder soweit ich daher gegen das Christentum bin, soweit bin ich für die Natur; indem oder sofern ich das Christentum verneine,

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

Für die ›heidnische‹ Subjektivität seien alle Dinge der Natur mit ihr verwandt, also durch menschliche Verhältnisse gestiftet, innerhalb der christlichen Subjektivität hingegen gäbe es keine Natur als ein solches Gegenüber.112 Was Feuerbach am Christentum vermisst, die sinnliche Anschauung von Natur als erste Alterität des Menschen, noch bevor er in seine Gattung, also in sinnliche Verhältnisse zu Mitmenschen eingelassen ist, schreibt er vorchristlichen Religionen zu und polemisiert dementsprechend in Beleuchtung der in den Theologischen Studien und Kritiken enthaltenen Rezension meiner Schrift ›Das Wesen des Christentums‹ (1842) gegen die Theologie seiner Zeit. »Anschauung ist Bewunderung, Enthusiasmus, Entzückung in den Gegenstand; in der Anschauung verhält sich der Mensch zum Gegenstand um des Gegenstands willen – ästhetisch, nicht teleologisch. Der Theismus aber betrachtet die Natur nur vom Standpunkt der Teleologie; er hat also keine ästhetische, überhaupt keine Anschauung von ihr. Der Theismus, natürlich nur der religiöse, erlaubt sich die Anschauung der Natur nur unter der Bedingung, daß er den Schöpfer derselben, seine Güte, Macht und Weisheit, nicht die Natur selbst bewundert. Einer Naturanschauung erfreuen sich daher auch die modernen Völker erst, seitdem sie den Standpunkt der theistischen Teleologie aufgaben.«113 Damit Feuerbachs Projekt, Theologie in Anthropologie umzuwandeln, aufgehen kann, müsse von vorchristlichen Religionen die Einsicht übernommen werden, dass die Kräfte der Natur von Menschen unabhängig sind und sich ohne ihr Zutun entwickeln, während Menschen an sie gebunden bleiben – nicht jedoch, weil sie Teil eines göttlichen Plans wären, der teleologisch um einen einzigen Gott kreist, sondern weil sie sich ihrem Bewusstsein entziehen. Indem ›Heid*innen‹ nicht-menschlichen Wirkmächten die Gestalt von Göttern geben, erkennen sie ganz richtig, dass sie von außerhalb menschlicher Gesellschaften situierten Kräften anstatt von einem über ihnen thronenden Gott hervorgebracht werden und dass sie im Vielen statt im Einen verwurzelt sind. Während die monotheistische Subjektivität sich als starke Ich-Instanz von einem einzigen Gott gegeben denkt und es ihr allein um sich als Individuum und Person geht, ist für die polytheistische Subjektivität der Prozess der »Individualisierung«114 – ihre Entstehung aus ihr äußerlichen Kräften – wichtig, wofür Feuerbach sie schätzt und nicht als historisch überwunden oder wie Hegel im Monotheismus vollends aufgehoben betrachtet. Indem die ›Naturreligion‹ nämlich Wesen der Natur verehre, verehre sie die Wirkmacht der Natur, Landschaften, Dinge, Tiere und auch Menschen hervorzubringen. Nicht der Mensch produziere in vorchristlichen Religionen Landschaften, Dinge, Tiere und sich selbst, sondern er emergiere ebenso wie sie aus einem ihm äußerlichen Spiel

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sofern bejahe ich die Natur.« Ders., Über ›Das Wesen der Religion‹ in Beziehung auf ›Feuerbach und die Philosophie. Ein Beitrag zur Kritik beider‹ von R. Haym, 1847, in: ders., »Werke in sechs Bänden, Band 4, Kritiken und Abhandlungen III (1844–1866)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975, S. 228. Vgl. hierzu auch Viveiros de Castro, The Inconstancy of the Indian Soul. Feuerbach, Beleuchtung der in den Theologischen Studien und Kritiken enthaltenen Rezension meiner Schrift ›Das Wesen des Christentums‹, S. 206. Ders., Das Wesen der Religion, S. 98.

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von Kräften. Da Polytheist*innen erkennen würden, dass »Entstehung und Individualisierung unzertrennlich sind«115 , weil »das Leben nur im Konflikt unterschiedener, ja entgegengesetzter Stoffe, Kräfte und Wesen«116 entsteht, liegt dem Glauben an mehr als nur einen Gott »eine ganz richtige Naturanschauung zugrunde«117 . Anstatt mit einem transzendent über ihnen platzierten Wesen beschäftigen sich Polytheist*innen mit den ihnen immanenten und sie bedingenden Stoffwechselprozessen, denen sie eine Subjektivität verdanken, die niemals in sich abgeschlossen sein kann. »Das Höhere setzt das Niedere, nicht dieses jenes voraus, aus dem einfachen Grunde, weil das Höhere etwas unter sich haben muß, um höher zu stehen«118 , schreibt Feuerbach in Das Wesen der Religion (1846). Weil der Gegenstand ihrer Verehrung für die Christ*innen ein über Natur stehender Gott ist, stellt in dieser Hinsicht der Mono- im Vergleich zum Polytheismus einen ›Rückschritt‹ dar, obwohl er auch ein ›Fortschritt‹ ist, da erst in ihm die Verbundenheit aller Menschen untereinander über begrenzte Landschaften, Territorien (und Nationalstaaten) hinweg durchscheint, die im postkolonialen Anthropozän so dringend ist.119 Die Transformation des Poly- in Monotheismus erklärt Feuerbach durch den historischen Übergang des Menschen von einem Wesen, das Natur ausgeliefert ist, zu einem Wesen, das sich über sie erhebt und ihr gegenüber Unabhängigkeit erlangt: »Wo sich der Mensch mit Wille und Verstand über die Natur erhebt, Supranaturalist wird, da wird auch Gott ein supranaturalistisches Wesen.«120 Weil menschliche Subjektivität in der ›Naturreligion‹ hingegen an ein bestimmtes Territorium gebunden und in eine sie umgebende Landschaft eingelassen sei sowie sich in erster Linie als ihr ausgeliefert erfahre, projiziere sie ihre Verbundenheit mit ihr äußerlichen Kräften in einzelne Naturwesen. »Mit vollem Rechte, mit demselben Rechte, mit welchem der universelle Mensch sein universelles Wesen als Gott verehrt, beteten daher die alten, beschränkten, an ihren Boden mit Leib und Seele haftenden, nicht in ihre Menschheit, sondern in ihre Volksund Stammsbestimmtheit ihr Wesen setzenden Völker die Berge, die Bäume, die Tiere, die Flüsse und Quellen ihres Landes als göttliche Wesen an, denn ihre ganze Existenz, ihr ganzes Wesen gründete sich ja nur auf die Beschaffenheit ihres Landes, ihrer Natur.«121 Der Poly- ebenso wie der Monotheismus klammern Feuerbach zufolge beide, wenn auch auf entgegengesetzte Weise, die sinnlichen Verhältnisse sowohl des Menschen zu Natur 115 116 117 118 119

Ebd. Ebd., S. 100. Ebd., S. 98. Ebd., S. 94. Dem fügt Feuerbach in einer Das Wesen des Christentums (1841) vorbereitenden Studie jedoch hinzu: »Der Glaube an ein himmlisches Leben zerstört das Gattungsleben der Menschheit, vertilgt den wahren Gemeingeist, entmenscht den Menschen und ist daher der wahre Vernichtungsglaube. Hierin allein liegt der Grund von der Verachtung, Anfeindung und Unterdrückung des Gattungstriebes im Christentum – der Gattungstrieb widerspricht dem Trieb nach ewiger, selbstischer Seligkeit.« Ders., Über Philosophie und Christentum, S. 316f. 120 Ders., Das Wesen der Religion, S. 123. 121 Ebd.

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

als auch mehrerer Menschen zueinander aus. Während der Mensch im Polytheismus den äußerlichen Dingen der Natur menschliche Eigenschaften zuschreibt, zieht sich der monotheistische Mensch in die Innerlichkeit eines einzigen Gottes zurück. Demnach ist der polytheistische Mensch ein Mensch, der sich von den Dingen und Tieren seines Territoriums in einer umgrenzten Landschaft hervorgebracht versteht, der deterritorialisierte und monotheistische Mensch dagegen ein nur sich selbst innerlicher Mensch. Er erhebt sich zwar von der Partikularität zu einer abstrakten ›Universalität‹, aber so, dass er sich in einem einzigen Gott verankert. Die ›heidnische‹ Subjektivität verkenne ihren graduellen Unterschied von den Kräften, die sie individualisieren. Die christliche Subjektivität ersetze ihre Differenz zu Natur durch eine vollends vollzogene Trennung. »Der Polytheismus, die Naturreligion überhaupt, macht die wirklichen Wesen zu vorgestellten Wesen, zu Wesen der Einbildung, der Monotheismus vorgestellte Wesen, Vorstellungen, Einbildungen, Gedanken zu wirklichen Wesen oder vielmehr das Wesen der Vorstellungs-, Denk- und Einbildungskraft zum wirklichen, absoluten, höchsten Wesen.«122 Feuerbach zufolge korrespondiert die religiöse Konstellation von Poly- und Monotheismus mit der subjektphilosophischen Konstellation von Sinnlichkeit und Geist. Die ›heidnische‹ und christliche Mentalität entsprechen jeweils einer dieser beiden Seiten, während es ihm darum geht, im Kontrast zu Descartes und Hegel nicht mit dem Geist, dem Einen, sondern mit Sinnlichkeit, dem Vielen, nicht mit dem Selben, sondern mit Alterität, nicht mit Identität, sondern mit Differenz, nicht mit ersten, sondern mit zweiten Personen zu beginnen. Allein in einer Rückbesinnung auf vorchristliche Religionen ließe sich ihm zufolge ein dem Christentum inhärenter Widerspruch lösen. Aufgrund des Ursprungs der Religion im Wunsch, also in der Differenz zwischen Wollen und Können, stehen sich Poly- und Monotheismus insofern nahe, als dass der Mensch in beiden ein Verhältnis manifestiert. Aber er manifestiert dieses Verhältnis grundlegend anders. Während sich die Subjektivität von Polytheist*innen in Natur verliere, weil für sie alle Kräfte der Natur menschlich, also mit ihr verwandt seien, klammert der an einen einzigen Gott glaubende Mensch Natur einverleibend aus und kennt nichts von ihm Unabhängiges. So ist der Mono- im Polytheismus bereits angelegt, und anstatt von einer Ablösung des einen durch den anderen zu sprechen, wäre es sinnvoller, sie als eine innerhalb des menschlichen Wünschens und in einer anthropologischen Konstellation stattfindende Akzentverschiebung zu verstehen. »Der Glaube an einen Gott ist entweder der Glaube an die Natur (an das objektive Wesen) als ein menschliches (subjektives) Wesen oder der Glaube an das menschliche Wesen als das Wesen der Natur. Jener Glaube ist Naturreligion, Polytheismus, dieser Geist-Menschreligion, Monotheismus. Der Polytheist opfert sich der Natur auf, er gibt der Natur ein menschliches Auge und Herz; der Monotheist opfert die Natur sich auf, er gibt dem menschlichen Auge und Herzen die Macht und Herrschaft über die Natur; der Polytheist macht das menschliche Wesen von der Natur, der Monotheist die Natur

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vom menschlichen Wesen abhängig; jener sagt: Wenn die Natur nicht ist, so bin ich nicht; dieser aber sagt umgekehrt: Wenn ich nicht bin, so ist die Welt, die Natur nicht.« 123 Mit den verschiedenen historischen Übergängen vom Poly- zum Monotheismus, die er nicht spezifiziert, während er sie in Europa analysiert, ist Feuerbach zufolge subjektivitätstheoretisch ebenso viel gewonnen wie verloren. Zwar wäre der Monotheismus Voraussetzung dafür, dass sich der Mensch in seiner Verschränktheit primär mit anderen Menschen und nicht nur in seiner Abhängigkeit von Naturkräften erkennt, zugleich vergisst der Mensch, der nur noch einen Gott und nicht mehr viele Götter hat, die Bedingungen, die ihn zuallererst hervorbringen. Dabei enthält der eine Gott in sich die vielen Götter, aus denen heraus er entstanden ist, ebenso wie er die vielen Landschaften, Dinge, Tiere und Kräfte, die zu seiner Genese beigetragen haben, in sich trägt. 1842 erklärt Feuerbach, warum er, nachdem er in Das Wesen des Christentums (1841) den Zusammenhang zwischen der Religion des Christentums und der modernen Instituierung der Ich-Instanz einer eingehenden Analyse unterzogen hat, sich im Anschluss dem Verhältnis von ›Heidentum‹ und Natur widmet und unterstreicht, dass nur in einer Kombination mancher Aspekte des Mono- mit manchen Aspekten des Polytheismus sowie in der Verwandlung beider in Anthropologie der Mensch, wie er ihn als Verhältnis zwischen Ich und Du und als Subjektivierungsweise mehrerer Menschen herbeizuschreiben versucht, statthaben könne. »Die Natur ist nach meiner Schrift das erste Prinzip, die Basis der Ethik und Philosophie, der Anfang zu einem neuen Leben der Menschheit, die Grundbedingung ihrer Wiedergeburt, das unerläßliche Antidotum gegen das grundverderbliche Gift des theologischen, supranaturalistischen Dünkels und Lügengeistes; aber sie ist nicht das höchste, das letzte Prinzip. Dieses ist vielmehr die Einheit von Ich und Du.«124 Worauf Feuerbach in seinem fünf Jahre vor Das Wesen der Religion (1846) erschienenen Hauptwerk hinauswill, nämlich die Ablösung der Theologie durch Anthropologie, lässt sich in diesem Satz zusammenfassen: »Der andere ist per se der Mittler zwischen mir und der heiligen Idee der Gattung. Homo homini Deus est.«125 Bevor sich menschliche Subjektivität jedoch in Begegnungen mit anderen Menschen erkennen kann, muss sie sich zunächst Natur als einem Kräftefeld zuwenden. Als Gattungswesen können sich mehrere Menschen nur verstehen, wenn sie sich nicht wie Christ*innen in sich selbst einschließen, sondern von vorchristlichen Religionen die Einsicht übernehmen, dass sie in erster Linie Teilwesen sind. Weiterhin muss der Gattungsmensch von der von Feuerbach mit der ›Naturreligion‹ zusammenphantasierten Subjektivität das in ihr grundlegende Du übernehmen. Nur in seiner Begegnung mit einer anderen Subjektivität hat dieser für die Zukunft geforderte Mensch statt. Den wichtigen Überlegungen Feuerbachs zur vorchristlichen Religion geht seine Kritik am christlichen Gemüt voran, die sich in seinem fünf Jahre vor Das Wesen der Religion 123 Ebd., S. 145. 124 Ders., Beleuchtung der in den Theologischen Studien und Kritiken enthaltenen Rezension meiner Schrift ›Das Wesen des Christentums‹, S. 209. 125 Ders., Das Wesen des Christentums, S. 189.

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

(1846) publizierten Hauptwerk findet. Das Wesen des Christentums (1841) besteht aus zwei Teilen, die jeweils programmatisch ihrer Überschrift folgen, nämlich ›Die Religion in ihrer Übereinstimmung mit dem Wesen des Menschen‹ und ›Die Religion in ihrem Widerspruch mit dem Wesen des Menschen‹ und zusammen eine ambivalente Sicht auf den Monotheismus als »Widerspruch von Glaube und Liebe«126 schildern. Dem Monotheismus wird einerseits zuerkannt, den Menschen als Gattungswesen zu bergen, andererseits aber auch konstatiert, ihn zu verstellen, indem hier sinnliche Verhältnisse zwischen mehreren Menschen in der Person Gottes vergegenständlicht werden. Dabei geht es ihm, wie schon mit seiner vorangegangenen Kritik am cartesianischen Cogito, um eine Kritik am »Wonnegefühl der unbeschränkten Subjektivität«127 , das er jetzt auf das Christentum zurückführt und deswegen um das genaue Gegenteil einer Emanzipationsgeschichte, die vom Poly- zum Monotheismus führen und Feuerbach zum Anwalt einer mit dem Protestantismus begründeten und von ihm selbst so bezeichneten »Universalmonarchie«128 des bürgerlichen Subjekts machen würde. Im Gegensatz zu sowohl von Marx und Engels als auch von Foucault an ihn gerichteten Vorwürfen schreibt Feuerbach 1841, während sich seine Abwendung von Hegel immer klarer abzeichnet: »Gott ist der Begriff oder die Idee der Persönlichkeit als selbst Person, die in sich selbst seiende, von der Welt abgeschlossene Subjektivität, das als absolutes Sein und Wesen gesetzte bedürfnislose Fürsichselbstsein, das Ich ohne Du.«129 Der in der vorliegenden Arbeit als weiße Subjektform beschriebenen Individualität und dem als Person gedachten Gott entspricht das »in sich versunkne, auf sich nur konzentrierte, in sich nur sich beruhigende, die Welt verneinende, gegen die Welt, die Natur überhaupt idealistische«130 Gemüt des christlichen Menschen, der in sich selbst seine Seligkeit findet: »Das Gemüt ist das Verlangen, daß keine Materie, keine Naturnotwendigkeit sei.«131 Während für Feuerbach das »Herz das universale Gemüt«132 ist, ist »das Gemüt das christliche Herz – das Herz, das lediglich in den Inhalt des Christentums das Wesen, das absolute Wesen des Herzens setzt«133 . In der ›Naturreligion‹ war der Mensch noch den Kräften der Natur ausgeliefert. Nun ist er der Vergegenständlichung seiner sinnlichen Verhältnisse in Gott ausgeliefert, worunter Feuerbach die Verschüttung der Liebe durch den Glauben versteht. Im Gegensatz zum monotheistischen Gott ist Feuerbachs Mensch nicht mit sich identisch und an keinem bestimmten Punkt lokalisierbar, sei es in Gott oder einer Abstammung von Gott,

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Ebd., S. 335. Ebd., S. 131. Ebd., S. 122. In seinem Aufsatz über Luther merkt Feuerbach trotz aller Errungenschaften, die er im Protestantismus gegenüber dem Katholizismus sieht, kritisch an: »Wie kann also Luther von diesem Gott, der sich uns ganz, wie er ist, gegeben, ganz ausgesprochen hat, noch einen Gott an sich unterscheiden, ein unbegreifliches, unmenschliches Wesen, das sich nur ›kleidet‹ und ›stellt‹ wie ein Mensch, um – ein guter Einfall! – unter der Firma der Humanität seine Inhumanität dem Menschen zu insinuieren?« Ders., Das Wesen des Glaubens im Sinne Luthers, S. 47f. 129 Ders., Das Wesen des Christentums, S. 122. 130 Ebd., S. 220. 131 Ders., Beleuchtung der in den Theologischen Studien und Kritiken enthaltenen Rezension meiner Schrift ›Das Wesen des Christentums‹, S. 204. 132 Ebd., S. 171. 133 Ebd.

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sondern er ist die Dezentrierung des einen auf viele Menschen hin. Den Menschen als Subjektivierungsweise beschreibt Feuerbach anhand der Liebe, unter der er das Gegenteil des Glaubens versteht und die er dem Gemüt des Christentums entgegensetzt: »Denn wenn es auch eine eigennützige Liebe unter den Menschen gibt, so ist doch die wahre menschliche Liebe, die allein dieses Namens würdige diejenige, welche dem andern zuliebe das Eigne opfert.«134 Hier kehrt mit dem Opfer der Polytheismus im Monotheismus wieder. Von der ›Naturreligion‹ enthält die Liebe ihre Gerichtetheit auf ein Außen des Menschen als Individuum und Person, das sich nun allerdings nicht in erster Linie als Landschaft, Ding oder Tier, sondern vielmehr als anderer Mensch offenbart. Der christliche Mensch als in seinem Gemüt ruhende Person hingegen ist »gleichgültig gegen alles, was nicht unmittelbar auf das Wohl des Selbst sich bezieht«135 . Was Feuerbach im Gegensatz zum Glauben unter Liebe versteht, verortet er im Herzen. Das Herz steht dem christlichen Gemüt ebenso diametral gegenüber wie die Liebe dem Glauben: »Im Herzen bezieht sich der Mensch auf andere, im Gemüte auf sich.«136 Mehr noch: »Das Herz hat die Natur zur Basis, es hat physiologische Bedeutung; das Herz ist eine physikalische Wahrheit – nicht aber das Gemüt, d.h. das Gemüt gedacht im Unterschiede vom Herzen.«137 In Jesus als dem Sohn Gottes im Christentum sieht Feuerbach eine »Amphibolie«138 und den Übergang von der Vergegenständlichung sinnlicher Verhältnisse zwischen Menschen in einem über der Welt stehenden Gott zu seiner Anschauung als Mensch unter Menschen und als Begegnung, die zwischen Menschen statthat. Wie in seiner nachfolgenden Schrift macht Feuerbach auch in Das Wesen des Christentums (1841) die sinnliche Anschauung, die schon in der ›Naturreligion‹ prominent wäre, als den Bereich eines Du gegenüber der allein auf sich gerichteten Ich-Instanz stark: »Die Anschauung des menschlichen Wesens als eines andern, für sich existierenden Wesens ist, als identisch mit dem Begriffe der Religion, ursprünglich eine unwillkürliche, kindliche, unbefangene.«139 Während sich die ›heidnische‹ Subjektivität jedoch – auch hier reproduziert Feuerbach wieder in positiver Weise kolonialgeschichtlich tradierte, rassistische Klischees – ›unwillkürlich‹, ›kindlich‹ und ›unbefangen‹ zu Natur verhalten würde, verhalte sich die christliche Subjektivität nur zu sich selbst. Vor diesem Hintergrund beschreibt er die prominente Stellung des Gottessohnes im Christentum ebenso ambivalent wie Gott selbst. Als »zweite Person«140 repräsentiere Jesus »daher nicht den reinen Begriff der Gottheit, aber auch nicht den reinen Begriff der Menschheit oder Wirklichkeit überhaupt«141 , denn er sei »ein Mittelwesen«142 zwischen Gott als Wesen der Abstraktion und konkreten Mitmenschen.

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Ders., Das Wesen des Christentums, S. 61. Ebd., S. 136. Ebd., S. 332. Ebd. Ders., Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, S. 228. Ders., Das Wesen des Christentums, S. 233. Ebd., S. 96. Ebd. Ebd.

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

In Jesus zeichnet sich für Feuerbach eine Figur ab, durch die Liebe als Liebe nicht zu Gott als einem vom Menschen unterschiedenen Wesen, sondern zu Gott als einem anderen Menschen denkbar wird. Jesus als zweite Person, »[d]ie andere Person ist der sich in sich von sich unterscheidende, sich selbst sich gegenüber- und entgegensetzende, darum sich Gegenstand seiende, bewußte Gott«143 . Feuerbach zufolge ist Jesus ein religiös verklärtes Synonym für das sich in der Begegnung zwischen Menschen sich anschauende menschliche Gattungswesen. Da für ihn der Mensch Gott des Menschen ist, ist er nur unter und mit Mitmenschen, indem er sich praktisch auf andere richtet, anstatt im Glauben selig mit sich selbst zu werden. »Die Liebe identifiziert den Menschen mit Gott, Gott mit dem Menschen, darum den Menschen mit dem Menschen; der Glaube trennt Gott vom Menschen, darum den Menschen von dem Menschen; denn Gott ist nichts andres als der mystische Gattungsbegriff der Menschheit, die Trennung Gottes vom Menschen daher die Trennung des Menschen vom Menschen, die Auflösung des gemeinschaftlichen Bandes. […] Der Glaube isoliert Gott, er macht ihn zu einem besondern, andern Wesen; die Liebe universalisiert; sie macht Gott zu einem gemeinen Wesen, dessen Liebe eins ist mit der Liebe zum Menschen.«144 Der Monotheismus bringt sowohl eine Unabhängigkeit des Menschen von Natur als auch anderen Menschen gegenüber mit sich und setzt auf seine Weise anstelle der »allgemeinen, natürlichen Einheit eine partikuläre«145 , obwohl er dabei nicht an eine bestimmte Landschaft und an ein begrenztes Territorium gebunden ist, dafür aber an einen einzigen Gott, dem kein Ort zukommt. Demgegenüber geht es im Polytheismus, wenn auch eingeschränkt, um die Verbundenheit des Menschen mit Umwelten, denn »[d]ie Heiden waren Götzendiener, d.h. sie schauten die Natur an«146 und waren so nicht in einer sich durch und in Gott herausbildenden Subjektivität eingeschlossen. Anders verhält es sich mit dem Christentum: »Es fehlt hier gänzlich die objektive Anschauung, das Bewußtsein, daß das Du zur Vollkommenheit des Ich gehört […].«147 Bereits in Das Wesen des Christentums (1841) betont Feuerbach die vielen Vorzüge dessen, was er als leider von ihm so genannte ›Naturreligion‹ vom Aufkommen des Glaubens an einen einzigen Gott unterscheidet, und verweist darauf, dass sich durch letzteren zwar auf abstrakte Weise eine ›universale‹ Idee des Gattungswesens durchzusetzen begänne, dieser abstrakte Mensch aber sowohl von Natur als auch von konkreten Mitmenschen getrennt sei. Das Hauptproblem des Christentums und implizit auch des Judentums und des Islams sieht Feuerbach darin, mit der Setzung von Gott als Individuum, Person und Subjekt zugleich auch den Menschen in erster Linie als Individuum, Person und Subjekt zu setzen, womit die grundlegende Relationalität mehrerer Menschen untereinander sowie zwischen ihnen und Natur verdrängt würde.

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Ebd., S. 97. Ebd., S. 291. Ebd., S. 298. Ebd., S. 139. Ebd., S. 184.

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»Die Wahrheit der Persönlichkeit stützt sich nur auf die Unwahrheit der Natur: Die Persönlichkeit ist alles, weil die Natur nichts ist. Die Persönlichkeit von Gott prädizieren heißt nichts andres als die Persönlichkeit als das absolute Wesen erklären; aber die Persönlichkeit wird nur im Unterschiede, in der Abstraktion von der Natur erfaßt. Freilich ist ein nur persönlicher Gott ein abstrakter Gott; aber das soll er sein, das liegt in seinem Begriffe; denn er ist nichts andres als das sich außer allen Zusammenhang mit der Welt setzende, sich von aller Abhängigkeit mit der Natur frei machende persönliche Wesen des Menschen. In der Persönlichkeit Gottes feiert der Mensch die Übernatürlichkeit, Unsterblichkeit, Unabhängigkeit, Unbeschränktheit seiner eigenen Persönlichkeit. Das Bedürfnis eines persönlichen Gottes hat überhaupt darin seinen Grund, daß der persönliche Mensch erst in der Persönlichkeit bei sich ankommt, erst in ihr sich findet.«148 Zwar suche sich der monotheistische nicht mehr wie der ›heidnische‹ Mensch in einem bestimmten Territorium, also in Dingen, Landschaften und Tieren, schließe sich jedoch in einem einzigen, von Natur losgelösten, absoluten Gott ein. Das ›Wesen‹ des Menschen, das in dessen Fremdbezügen besteht, würde vom Monotheismus als Selbstbezug ebenso verstellt wie von den vielen Göttern der ›Naturreligion‹. In ihrem vergegenständlichten Bezug zu Gott bezögen sich Christ*innen zwar auf ein Gattungswesen, aber allein, indem sie das Viele im Einen aufheben würden. »Alle auf eine partikuläre Erscheinung gegründete Liebe widerspricht, wie gesagt, dem Wesen der Liebe, als welche keine Schranken duldet, jede Partikularität überwindet. Wir sollen den Menschen um des Menschen willen lieben. Der Mensch ist dadurch Gegenstand der Liebe, daß er Selbstzweck, daß er ein vernunft- und liebefähiges Wesen ist. Dies ist das Gesetz der Gattung, das Gesetz der Intelligenz. Die Liebe soll eine unmittelbare Liebe sein, ja, sie ist nur, als unmittelbare, Liebe. Schiebe ich aber zwischen den anderen und mich, der ich eben in der Liebe die Gattung realisiere, die Vorstellung einer Individualität ein, in welcher die Gattung schon realisiert sein soll, so hebe ich das Wesen der Liebe auf, störe die Einheit durch die Vorstellung eines Dritten außer uns; denn der andere ist mir dann nur um der Ähnlichkeit oder Gemeinschaft willen, die er mit diesem Urbild hat, nicht um seinetwillen, d.h. um seines Wesens willen Gegenstand der Liebe. Es kommen hier alle Widersprüche wieder zum Vorschein, die wir in der Persönlichkeit Gottes haben, wo der Begriff der Persönlichkeit für sich selbst, ohne Qualität, welche sie zu einer liebens- und verehrungswürdigen Persönlichkeit macht, im Bewußtsein und Gemüt sich befestigt.«149 Im Verlauf der 1840er Jahre argumentiert Feuerbach konsequent für den Menschen als Beziehungsweise, denn »in der Liebe bin ich relatives Wesen, nütze anderm, bin nur Mittel; aber im Glauben bin ich absolutes Wesen, bin ich Selbstzweck«150 . Feuerbach sucht nach einem Menschen, der fehlt. Darum geht es bei den Ausgängen, die er der weißen Subjektform im 19. Jahrhundert aufzeigt, obwohl er sich nicht eingehender mit Kolonialgeschichte befasst. Was Feuerbach als Individualisierung an der von ihm einer phanta148 Ebd., S. 118. 149 Ebd., S. 315f. 150 Ders., Das Wesen des Glaubens im Sinne Luthers, S. 57. Bezüglich des Gegensatzes von Individualismus und Liebe vgl. auch Bouteldja, Whites, Jews, and Us.

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

sierten ›Naturreligion‹ zugeschriebenen Subjektivität bewundert – dass deren Anhänger*innen ihre Genese und die Produktion ihrer Subjektivität aus Naturkräften heraus erkannt hätten –, verweist auf einen Stoffwechsel nicht nur mit Kräften der Natur, sondern auch mit anderen Menschen, der ihn vor Marx und Engels beschäftigt. Der Leitsatz ›Homo homini Deus est‹ kehrt an prominenter Stelle in Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843) wieder: »Der Mensch für sich ist Mensch (im gewöhnlichen Sinn); der Mensch mit Mensch – die Einheit von Ich und Du [–] ist Gott.«151 Nicht in der Institution einer IchInstanz wäre Subjektivität laut Feuerbach deshalb zukünftig zu begründen, sondern in der Öffnung mehrerer Subjektivitäten füreinander. Das verkennt ihm zufolge auch Hegels absoluter Geist, von dem er sich mit der Veröffentlichung seines religionsphilosophischen Hauptwerks entschieden abwenden wird.

2.3 Feuerbachs Abwendung von Hegel »Wir haben am Anfang der Phänomenologie nichts weiter vor uns als den Widerspruch zwischen dem Wort, welches allgemein, und der Sache, welche immer eine einzelne ist. Und der Gedanke, der sich nur auf das Wort stützt, kommt nicht über diesen Widerspruch hinaus«152 , stellt Feuerbach in Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843) fest und fügt dem auf derselben Seite hinzu: »Wenn daher Unsagbarkeit Unvernünftigkeit ist, so ist alle Existenz, weil sie immer und immer nur diese Existenz ist, Unvernunft.«153 Feuerbachs Abwendung von Hegel gründet sich auf seiner Verteidigung der sinnlichen Gewissheit, von »dunkeln, d.i. sinnlichen Vorstellungen«154 und dem Besonderen gegenüber einer bestimmten Vorstellung des Allgemeinen. »Hegel ist ein sich im Denken überbietender Denker – er will das Ding selbst ergreifen, aber im Gedanken des Dings, außer dem Denken sein, aber im Denken selbst – daher die Schwierigkeit, den ›konkreten‹ Begriff zu fassen«155 , hält er ihm 1843 entgegen. Dabei schwingen in Feuerbachs Kritik an Hegels Subjektivismus, obwohl er dieses Thema nicht adressiert, kolonialgeschichtliche Register mit, wenn Hegels Vorstellung eines Weltgeistes in weißen europäischen Männern verortet wird, die sich als Menschen absolut setzten, indem sie andere Menschen entmenschlichten und Natur zu einer Plantage machten und ausbeuteten. »The white spirit organizes white flesh and in turn non-white flesh and other material matters: it has enterprise«156 , beschreibt Richard Dyer in White (1997) das historische Verhältnis zwi-

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Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, S. 321. Ebd., S. 290. Ebd. Zu Feuerbachs Kritik an Hegels Dialektik der sinnlichen Gewissheit merkt Löwith an: »Wäre das Unmittelbare nur das nicht oder noch nicht Vermittelte, dann hätte die Dialektik leichtes Spiel. […] Der dialektischen Vermittlung der Bezugsglieder in einem übergeordneten ›Dritten‹, ihrem Verhältnis als solchem, entspricht in Hegels System der es von Anfang an leitende Grundsatz von der ›Identität der Identität und Nichtidentität‹.« Ders., Vermittlung und Unmittelbarkeit bei Hegel, Marx und Feuerbach, in: Erich Thies (Hg.), »Ludwig Feuerbach. Wege der Forschung«, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1976, S. 151ff. Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, S. 258. Ebd., S. 296. Dyer, White, S. 15.

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schen Weißsein und dessen »expansive relationship to the environment«157 , die er in »the white insistence on spirit, on a transcendent relation to the body«158 verankert sieht. In Toward a Global Idea of Race (2007) bemerkt Denise Ferreira da Silva: »What I find in Hegel’s statements is the completion of the figure of self-consciousness, which now becomes the transparent (interior-temporal) ›I‹, the only one that overcomes the founding dichotomy, interiority/exteriority, when recognizing that the universal foundation it shares with exterior things has always already been it-self.«159 Auch Mbembe problematisiert in On the Postcolony (2001), inwiefern Hegels Universalismus des Geistes mit der Geschichte des Kolonialismus einhergeht, und spricht in diesem Zusammenhang wie Balibar von einem »spirit of violence«160 , der sowohl ein subjektives Verhältnis zur Sinnlichkeit als auch ein praktisches Verhältnis zu Umwelten und zu Mitmenschen markiert. Bevor sie eine physische Gewalt ist, stützt sich koloniale als epistemische Gewalt Mbembe zufolge auf Sprachausübung unter phallischem Vorzeichen, d.h. auf eine Auffassung von Sprache, die in ihr weniger etwas sieht, das in der Begegnung mehrerer Subjektivitäten statthat und mehrere Erfahrungs- und Denkweisen verschränkt, sie im Sinne von Kravagnas transkulturellen Praktiken miteinander in Kontakt bringt161 und sie füreinander öffnet, als vielmehr eine Befehlsstruktur, in der sich der Wille zur Macht von Kolonisatoren offenbart.162 Dabei ist der Phallus nicht nur das Zentrum einer symbolischen Struktur. In den Kolonien kommt er auch im Sinne eines entblößten Organs zum Einsatz, das in dem von ihm eroberten Territorium seine Spuren hinterlässt. »To colonize is, then, to accomplish a sort of sparky clean act of coitus, with the characteristic feature of making horror and pleasure coincide«163 , hält Mbembe fest. In für ihn charakteristischen Denkgesten führt der kamerunische Philosoph aus, warum

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Ebd. Ebd., S. 147. Ferreira da Silva, Toward a Global Idea of Race, S. 70. Mbembe, On the Postcolony, S. 175. Vgl. auch Balibar, Der Schauplatz des Anderen, S. 280. Kravagna, Transmoderne, S. 186f. Vgl. hierzu auch das Plateau ›20. November 1923. Postulate der Linguistik‹ in den gemeinsam von Deleuze und Guattari verfassten 1000 Plateaus (1980). Dort heißt es über eine Auffassung von Sprache primär als Befehlsstruktur: »Sprache ist nicht das Leben, sie gibt dem Leben Befehle; das Leben spricht nicht, es hört zu und wartet. In jedem Befehl […] ist eine kleine Todesdrohung enthalten – ein Urteil, wie Kafka sagen würde. […] Wenn Sprache immer Sprache vorauszusetzen scheint, und wenn man für sie keinen nicht-sprachlichen Ausgangspunkt festmachen kann, so liegt das daran, daß die Sprache sich nicht zwischen etwas Gesehenem (oder Gefühltem) und etwas Gesagtem bildet, sondern daß sie immer schon von einem Sagen zum nächsten geht.« Dies., Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin: Merve, 1992, S. 107. Dem ließe sich mit Robert J.C. Young hinzufügen: »Hegel articulates a philosophical structure of the appropriation of the other as a form of knowledge which uncannily simulates the project of nineteenth-century imperialism; the construction of knowledges which all operate through forms of expropriation and incorporation of the other mimics at a conceptual level the geographical and economic absorption of the non-European world by the West.« Ders., White Mythologies. Writing History and the West, London und New York: Routledge, 2008, S. 34f. Mbembe, On the Postcolony, S. 175.

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

die unzähligen, auch von deutschen Kolonisatoren begangenen Vergewaltigungen afrikanischer und indigener Frauen nicht nur in den Amerikas und der ›koloniale Koitus‹, der von den Tätern als rechtens empfunden wurde, mit einem bestimmten Verhältnis zwischen kolonialer Sprache und dem von ihr markierten Referenten korrespondieren: »Long before the colony was conquered and penetrated, a web of words had been woven around these distant lands and their peoples.«164 An Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1837) macht Mbembe eine Problematik deutlich, die im Folgenden zu Feuerbachs Kritik an der Ausklammerung der Sinnlichkeit durch einen absoluten Geist in Bezug gesetzt und näher entfaltet werden soll. Afrika stellt für Hegel eine bewegungs- und geschichtslose Substanz dar, eine »sensuous arbitrariness«165 , die auf ein Subjekt warten würde, das ihr von Europa aus Geist und Historie brächte. Um die Bewohner*innen Afrikas, denen es an menschlichen Merkmalen mangele, in die Menschheitsgeschichte aufnehmen zu können, müsse der Weg von der Sinnlichkeit zum Geist, in dessen Verlauf etwas sinnlich Gegebenes auf seinen nordeuropäischen Begriff gebracht wird, umgekehrt, ihnen also zuallererst Denken überhaupt nähergebracht werden, was allein durch ihre Versklavung geschehen könne. »Die Sklaverei ist an und für sich Unrecht, denn das Wesen des Menschen ist die Freiheit, doch zu dieser muß er erst reif werden. Es ist also die allmähliche Abschaffung der Sklaverei etwas Angemesseneres und Richtigeres als ihre plötzliche Aufhebung«166 , 164 Ebd. 165 Ebd., S. 178. 166 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 129. In seinen Berliner Vorlesungen behauptet er in rassistisch durchtränktem, kolonialistischem Gestus: »Der eigentümliche afrikanische Charakter ist darum schwer zu fassen, weil wir dabei ganz auf das Verzicht leisten müssen, was bei uns in jeder Vorstellung mit unterläuft, die Kategorie der Allgemeinheit. Bei den N* ist nämlich das Charakteristische gerade, daß ihr Bewußtsein noch nicht zur Anschauung irgendeiner festen Objektivität gekommen ist, wie zum Beispiel Gott, Gesetz, bei welcher der Mensch mit seinem Willen wäre und darin die Anschauung seines Wesens hätte. Zu dieser Unterscheidung seiner als des Einzelnen und seiner wesentlichen Allgemeinheit ist der Afrikaner in seiner unterschiedslosen, gedrungenen Einheit noch nicht gekommen, wodurch das Wissen von einem absoluten Wesen, das ein anderes, höheres gegen das Selbst wäre, ganz fehlt. Der N* stellt, wie schon gesagt worden ist, den natürlichen Menschen in seiner ganzen Wildheit und Unbändigkeit dar; von aller Ehrfurcht und Sittlichkeit, von dem, was Gefühl heißt, muß man abstrahieren, wenn man ihn richtig auffassen will: es ist nichts an das Menschliche Anklingende in diesem Charakter zu finden. Die weitläufigen Berichte der Missionare bestätigen dieses vollkommen […]. Diese Stufe der Kultur läßt sich dann auch näher in der Religion erkennen. Das erste, was wir uns bei dieser vorstellen, ist das Bewußtsein des Menschen von einer höheren Macht (wenn diese auch nur als Naturmacht gefaßt wird), gegen die der Mensch sich als ein Schwächeres, Niedrigeres stellt. Die Religion beginnt mit dem Bewußtsein, daß es etwas Höheres gebe als der Mensch. Die N* aber hat schon Herodot […] Zauberer genannt; in der Zauberei liegt nun nicht die Vorstellung von einem Gott, von einem sittlichen Glauben, sondern sie stellt dar, daß der Mensch die höchste Macht ist, daß er sich allein befehlend gegen die Naturmacht verhält. Es ist also nicht von einer geistigen Verehrung Gottes noch von einem Reiche des Rechts die Rede. Gott donnert und wird nicht erkannt; für den Geist des Menschen muß Gott mehr als ein Donnerer sein, bei den N* aber ist dies nicht der Fall. Obgleich sie sich der Abhängigkeit vom Natürlichen bewußt sein müssen, denn sie bedürfen des Gewitters, des Regens, des Aufhörens der Regenzeit, so führt sie dieses doch nicht zum Bewußtsein eines Höheren; sie sind es, die den Elementen Befehle erteilen, und dies eben nennt man Zauberei. […] Daraus aber, daß der Mensch als das Höchste gesetzt ist, folgt, daß er keine Achtung vor

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lässt Hegel seine männlichen und weißen Zuhörer rund ein halbes Jahrhundert vor der Berliner Kongokonferenz wissen. Da Afrikaner*innen weder Moral noch Gefühl hätten, lebten sie in einer triebgesteuerten Unmittelbarkeit, welche die Europäer*innen hinter sich gelassen hätten. Laut Mbembe beschreibt Hegel in seinen geschichtsphilosophischen Vorlesungen Afrika »as a vast tumultuous world of drives and sensations, so tumultuous and opaque as to be practically impossible to represent, but which words must nevertheless grasp and anchor in pre-set certainty«167 . Demnach kann Hegel Afrika – ebenso wie laut Feuerbach die Entfaltung seines Weltgeistes der Sinnlichkeit – nur als Widerspiegelung seiner eigenen Annahmen über es und als angeblich ›rohe‹ Natur begegnen, welche er in seinen Vorlesungen von Berlin aus bespricht und die darauf warten würde, als territorium nullius von seinem spekulativen System vereinnahmt zu werden. »Das hegelsche Zentrum Europas war Objekt der (europäischen und deutschen) Begierde, die Gegenwart der Zeit und die Mitte des Raums zu bewohnen«168 , merkt Mignolo hierzu an. Trotz eigener exotisierender und rassistischer Formulierungen beispielsweise zu ›Naturvölkern‹ und ›Heiden‹ in seinen religionsphilosophischen Schriften lässt sich an Feuerbachs Abwendung von Hegel zeigen, inwiefern seine Aufwertung der Sinnlichkeit und der sinnlichen Verhältnisse zwischen Mitmenschen sowie zwischen der menschlichen Gattung und ihren Umwelten Auswirkungen auf koloniale Konstellationen hat. Bevor, wie Hans-Jürg Braun es formuliert, für ihn »die tiefsten Geheimnisse im Einfachen, in den einfachsten Dingen, über die der Vertreter und Anhänger der Spekulation mißachtungsvoll hinweggeht«169 , liegen und er den Einzelnen »als sich auf anderes beziehendes und darin gründendes Wesen«170 versteht, steht Feuerbachs Frühwerk noch stark unter dem Einfluss Hegels. Vermittels seiner vorangegangenen Forschungen zum cartesianischen Cogito und zur Religion wird er später jedoch nach einem Pluriversalismus der Sinnlichkeit suchen und diesen in nicht-begrifflichen Bezügen auf Alterität und in subjektiven Empfindungen statt objektiven Begriffen finden, bis er sich in Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843) dahingehend positioniert zu sagen, dass »etwas andres, als er selbst ist«171 , zum Gedanken hinzukommen müsse: »Was ist denn nun aber dieses Nicht-Denken, dieses vom Denken Unterschiedene? Das Sinnliche.«172 sich selber hat, denn erst mit dem Bewußtsein eines höheren Wesens erlangt der Mensch einen Standpunkt, der ihm eine wahre Achtung gewährt. Denn wenn die Willkür das Absolute ist, die einzige feste Objektivität, die zur Anschauung kommt, so kann der Geist auf dieser Stufe von keiner Allgemeinheit wissen. Die N* besitzen daher diese vollkommene Verachtung der Menschen, welche eigentlich nach der Seite des Rechts und der Sittlichkeit hin die Grundbestimmung bildet. […] Aus allen diesen verschiedentlich angeführten Zügen geht hervor, daß es die Unbändigkeit ist, welche den Charakter der N* bezeichnet. Dieser Zustand ist keiner Entwicklung und Bildung fähig, und wie wir sie heute sehen, so sind sie immer gewesen. Der einzige wesentliche Zusammenhang, den die N* mit den Europäern gehabt haben und noch haben, ist der der Sklaverei.« Ebd., S. 121ff. 167 Mbembe, On the Postcolony, S. 176. 168 Mignolo, Epistemischer Ungehorsam, S. 132. 169 Hans-Jürg Braun, L. Feuerbachs Lehre vom Menschen, Stuttgart-Bad Cannstatt: Friedrich Frommann Verlag, 1971, S. 81. 170 Ebd., S. 107. 171 Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, S. 297. 172 Ebd.

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

Feuerbach geht es, wenn er in seiner Spätphase »das Sein des Sinns, der Anschauung, der Empfindung, der Liebe«173 gegen Hegel in den Fokus nimmt, nicht um einen platten Sensualismus und darum, so etwas wie Geist prinzipiell abzulehnen. Jedoch sieht er in diesem, »inwiefern er über die Partikularität und Beschränktheit der Sinne hinaus ist, ihren Provinzialgeist zum Gemeingeist verschmilzt«174 , nichts Hohes, sondern etwas Tiefes, nämlich das »Wesen der Sinnlichkeit«175 . Er besteht dann darauf, dass Denken, »wenn wir das Reale, das Sinnliche zum Subjekt seiner selbst machen«176 , sich nur in der Begegnung ereignet, in Teilwesen immanenten Zusammenhängen, und keiner transzendenten Vernunft entspringt, welche in einer in sich ruhenden Subjektivität eingeschlossen wäre. »Das Sein ist also ein Geheimnis der Anschauung, der Empfindung, der Liebe«177 , schreibt er 1843 emphatisch. Obwohl sich in Feuerbachs Gedanken über Tod und Unsterblichkeit (1830) bereits erste hegelkritische Motive herauszubilden beginnen, ist er sich in seiner kurz zuvor erschienenen Dissertationsschrift Über die Vernunft (1828) während seiner jungen Jahre noch sicher, dass nur ein sich als objektiv verstehendes Denken »die allgemeine Substanz der Individuen«178 darstellen könne. »Es muß notwendig im tiefsten Inneren des Menschen ein Ort sein, an dem dieses Verlangen nach dem anderen erfüllt ist, an dem nicht weiter Ich und Du entgegengesetzt sind, an dem diese Einheit nicht mehr nur Verbindung und irgendeine bestimmte Weise der Einheit ist, sondern unendlich, absolut, ganz erfüllt und vollkommen; diese göttliche Einheit aber ist außer dem Denken nirgends zu finden.« 179 Im Gegensatz zum Denken, das in Feuerbachs Frühphase von einer allgemeingültigen und alle Menschen umfassenden Vernunft garantiert wird, geben die Sinne für ihn, während er noch unter dem Einfluss Hegels steht, nur Besonderes wieder, das zuallererst vergeistigt und zum Universalen emporgehoben werden muss, ansonsten jedoch ausgeschlossen bleibt. In seiner Dissertationsschrift vertraut Feuerbach allein der Nachordnung des sinnlich Gegebenen unter Gedachtes: »Denkend bin ich selbst die menschliche Gattung, nicht der einzelne Mensch, als der ich fühle, lebe handle; ich bin also auch nicht ein bestimmter Dieser oder Jener, sondern ein Niemand.«180 Was ab Ende der 1830er Jahre zunehmend die Sinnlichkeit leisten wird, schreibt er Ende der 1820er Jahre noch der Vernunft zu. Sie ist für ihn zu diesem Zeitpunkt »überall dieselbe, erhoben über den Unterschied von Himmel und Erde; sie läßt wohl in sich verschiedene Weisen des Denkens und Erkennens zu und enthält sie, doch es ist ausgeschlossen, daß sie sich von sich selbst unterscheidet oder trennt. Verschiedene

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Ebd., S. 299. Ders., Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist, S. 192f. Ebd., S. 193. Ders., Grundsätze der Philosophie der Zukunft, S. 298. Ebd., S. 299. Ders., Über die Vernunft, S. 18. Ebd., S. 49. Ebd., S. 26. Vgl. hierzu auch Max Stirner, Der Einzelne und sein Eigentum, Leipzig: Reclam, 1987.

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Arten des Denkens, die es unbestreitbar gibt, bedingen noch nicht eine Verschiedenartigkeit des Denkens selbst, sondern fallen allein in die Beziehung des Individuums zum Denken, sofern dieses gesondert und getrennt von jenem genommen wird. […] Auch wenn von den Menschen jeder etwas anderes für dieses Wesen nimmt, ist doch allein das Denken das wirkliche Wesen des Menschen, und zwar nicht das in einer Beziehung stehende und begrenzte, sondern das absolute und höchste Denken.« 181 Obwohl sie »verschiedene Weisen des Denkens und Erkennens«182 beinhaltet, ist die Vernunft für den jungen Feuerbach doch mit sich identisch und kann sich nicht »von sich selbst«183 unterscheiden oder trennen. Die menschliche Gattung verweist dann noch auf ein allgemeines Denken – »nicht das in einer Beziehung stehende und begrenzte, sondern das absolute und höchste Denken«184 – und begründet sich in ihrer Abkappung von sinnlichen Verhältnissen, nicht jedoch in einer Sinnlichkeit, an der alle Menschen teilhaben und in der Mitteilung des in ihr virulenten Besonderen, wie es einzelnen Subjektivitäten als Empfindung gegeben ist. Dies ändert sich auch in seiner folgenden, unter Pseudonym erschienenen Schrift nicht, obwohl sich hier erste wesentliche Richtungsänderungen andeuten. Auch in Gedanken über Tod und Unsterblichkeit (1830) ist ein einzelner Mensch nicht sinnlich verstrickt, sondern durch die Privation seiner Empfindung von der Gattung getrennt: »[D]ie Affirmation, die Versicherung, Bejahung, Bestätigung des individuellen Seins ist die Empfindung«185 , welche dann noch »der absolut bestimmte Ausdruck der Einzelheit«186 ist, die in Feuerbachs zweiter Monografie als letztlich nichtige einem weiterhin hegelianische Züge aufweisenden Geist als ihrem »Tod, de[m] Zerstörer des Sinnlichen«187 gegenübertritt. In ihrer Studie Der Tod des Subjekts. Eine philosophische Grenzerfahrung (1997) hat Dorothee Vögeli vor diesem Hintergrund in heideggerianischer Manier die These aufgestellt, dass Feuerbach in Gedanken über Tod und Unsterblichkeit (1830) Hegel insofern treu bleibt, als dass er Sinnlichkeit hier ganz im Sinne seines Lehrers in den Blick nimmt, denn »[o]bwohl also das gemeinschaftliche Sein übersinnlicher, geistiger Natur ist, ist es im sinnlichen Leben wirksam«188 . Dem widerspricht jedoch, dass Feuerbach um 1830, während er die in den Sinnen gegebene Einzelheit und das durch seine privativen Empfindungen charakterisierte Individuum gegen ein dann noch allein durch das Denken gekennzeichnetes Gattungswesen ausspielt, bereits wichtige Akzentverschiebungen vornimmt. Schon an diesem Punkt beginnt er nämlich nicht mehr mit dem Geist, sondern mit den vielen Facetten des Sinnlichen. Obwohl die Sinnlichkeit des Menschen im Sinne der Vielschichtigkeit besonderer sinnlicher Bezüge an diesem Punkt für ihn noch

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Feuerbach, Über die Vernunft, S. 44f. Ebd. Ebd. Ebd. Ders., Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, S. 132. Ebd. Ebd., S. 148. Dorothee Vögeli, Der Tod des Subjekts. Eine philosophische Grenzerfahrung. Die Mystik des jungen Feuerbach, dargelegt anhand seiner Frühschrift »Gedanken über Tod und Unsterblichkeit«, Würzburg: Königshausen & Neumann, 1997, S. 48.

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

nicht das Hauptproblem darstellt, ist bereits vor seiner expliziten Abwendung von Hegel fast ein Jahrzehnt später Bewusstsein für Feuerbach kein selbstbezügliches, sondern ein fremdbezügliches Bewusstsein, in dem nicht Vieles zu Einem zusammenläuft, sondern sich Eines dem Vielen gegenüber öffnet. »Zum Bewußtsein gehören daher, wenn man sich vom Sinnlichen, von den Individuen aus sein Wesen will anschaulich machen, alle Menschen, wiefern sie ein ungetrenntes Ganzes ausmachen, ihre gegenseitige, unzertrennliche, ineinander seiende und verwobne Anschauung, das Wissen aller voneinander als ein Wissen zusammen ist erst das Bewusstsein.«189 Auffällig an dieser Textstelle ist, dass Feuerbach hier schon – kurz nach der Veröffentlichung seiner Dissertation und seines diesbezüglich Briefes an den ehemaligen Lehrer – in einen ersten Abstand zu Hegel tritt, lange bevor er dreizehn Jahre später im absoluten Geist den »abgeschiedene[n] Geist der Theologie«190 erkennen wird. Während nämlich für Hegel Bewusstsein zuallererst das Selbstbewusstsein eines Geistes meint, dem seine Umwelt und Mitmenschen als Widerspiegelungen seiner selbst erscheinen, betont Feuerbach bereits rund eineinhalb Jahrzehnte vor seinem offensichtlichen Bruch mit dem Denker des Weltgeistes, dass Bewusstsein nur von einer Alterität her, vom Sinnlichen und von der anderen Seite des absoluten Geistes oder, wie er später sagen wird, dem »endliche[n], subjektive[n] Geist«191 aus Kontur gewinnt. Nicht nur verlegt er schon 1830 die Entstehung des Bewusstseins ins Sinnliche, sondern er spricht auch davon, dass das »Wesen«192 des Bewusstseins über die sinnlichen Verhältnisse zwischen Individuen ›anschaulich‹ würde, zu denen er alle Menschen zählt, »wiefern sie ein ungetrenntes Ganzes ausmachen«193 . Während das Selbstbewusstsein des absoluten Geistes im Sinne Hegels im Begriff besteht, der das Einzelne in die und in der Allgemeinheit des Denkens aufhebt, zielt Feuerbachs relativer Geist bereits 1830 auf ein aus der Verstrickung der sinnlichen Anschauungen vieler Menschen heraus emergierendes Bewusstsein, das die »unzertrennliche, ineinander seiende und verwobne Anschauung, das Wissen aller voneinander«194 ist. Was heißt das für unser postkoloniales Anthropozän? Feuerbachs Bewusstsein ist nicht wie das Bewusstsein hegelianischer Provenienz Selbstbewusstsein und verleibt sich nicht als ein einziges Individuum allgemein alle besonderen Individuen ein. Vielmehr ist es zwischen mehreren Subjektivitäten aufgespannt. Es entsteht aus den sinnlichen Verhältnissen mehrerer endlicher ›Geister‹ heraus und taucht nicht ex nihilo im Inneren eines absoluten Geistes auf. Hiermit steht es dem seit Descartes virulenten solipsistischen Bewusstsein der Moderne und demjenigen entgegen, was Mbembe über die Idee des freien und sich selbst erzeugenden Individuums schreibt, das ihm zufolge nur denkbar sei »in opposition to another, external reality reduced to the condition of 189 190 191 192 193 194

Feuerbach, Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, S. 207. Ders., Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, S. 226. Ebd., S. 227. Ders., Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, S. 207. Ebd. Ebd.

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object, of thing posited as inessential«195 . Schon 1830 deutet sich in Feuerbachs Neuverwendung des Begriffs des Bewusstseins seine spätere Verabschiedung dessen an, was in der vorliegenden Arbeit als weiße Subjektform von den Subjektivierungsweisen mehr als nur eines Menschen unterschieden wird. Feuerbachs in Gedanken über Tod und Unsterblichkeit (1830) angesprochenes Bewusstsein entsteht in der Begegnung mehrerer Menschen, die ihre sinnliche Anschauung als eine über sie verwobene Anschauung der Welt miteinander teilen. »Die Gattung bedeutet nämlich bei F. nicht ein Abstraktum, sondern nur, dem einzelnen, für sich selbst fixierten Ich gegenüber das Du, den Andern, überhaupt die außer mir existierenden menschlichen Individuen«196 , wird er 1845 in der dritten Person auf Max Stirners gegen ihn gerichtete Polemik antworten. Diese gleichzeitige und wechselwirksame Anschauung steht in konträrem Verhältnis zu einem Denken, das mit allgemeinen Begriffen operiert und das »Wesen«197 des Bewusstseins deswegen nicht erreichen könne. Obwohl sich Feuerbach um 1830 noch nicht von Hegel abgekehrt hat, wirft er das Problem des in der sinnlichen Anschauung gegebenen Besonderen und dessen Inkommensurabilität mit einem absoluten Verständnis des Geistes auf. In Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie (1843) wird er weiter gehen, wenn er in Bezugnahme auf eine Stelle aus Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1837) schreibt: »Die Spekulation ist nichts als die wahre und universale Empirie. […] Das Empirische in seiner Totalität ist das Spekulative.«198 Zwar treibt er diesen Gedanken, der die Verabschiedung des Absoluten zugunsten der Verstrickung mehrerer Subjektivitäten ineinander auf den Punkt bringt, Zeit seines Lebens nicht so weit wie manche französische Denker*innen des späten 20. Jahrhunderts, entwickelt aber nicht nur in den Xenien 1830 eine Haltung, die seinen Bruch mit Hegel mehr als nur erahnen lässt. »Da dem Subjekt, weil es in ihm selbst nichts ist als das wahrheitslose Subjekt selbst, auch außer ihm nichts Gegenstand ist als das Zeitliche und Vergängliche, das Endliche, Unwahre und Unwirkliche der wirklichen Welt, so ist natürlich für es die wirkliche Welt eine nicht wirkliche, zukünftige, jenseitige […]. Das Subjekt kennt nur den Schatten, den oberflächlichen Außenschein der wirklichen Welt, weil es in sich selbst nur flach und hohl ist […].«199

195 Mbembe, On the Postcolony, S. 191. 196 Ludwig Feuerbach, Über ›Das Wesen des Christentums‹ in Beziehung auf den ›Einzigen und sein Eigentum‹, in: ders., »Werke in sechs Bänden, Band 4, Kritiken und Abhandlungen III (1844–1866)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975, S. 75. 197 Ders., Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, S. 207. 198 Ders., Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, S. 230. 199 Ders., Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, S. 93. In Über Spiritualismus und Materialismus, besonders in Beziehung auf die Willensfreiheit (1866) wird er in höherem Alter aus Hegels Phänomenologie des Geistes (1807) zitierend schreiben: »Der Geist als die existierende Immaterialität ist die existierende Unwahrheit oder Nichtigkeit der Materie, denn die Grundbestimmung der Materie ist nach Hegel ›das Außersichsein‹ und das Außereinanderseiende ›Vieles, Einzelnes‹, die Seele aber Innerlichkeit, Allgemeinheit, Einheit, also die Aufhebung, die Verneinung ›der Äußerlichkeit, Vereinzelung und Vielheit der Materie‹.« Ebd., S. 373.

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

Während Vögeli in Feuerbachs Frühwerk eine Differenz sich abzeichnen sieht, die im 20. Jahrhundert von Martin Heidegger und dessen französischen Apologeten als ontisch-ontologische Differenz ausbuchstabiert wird und in der sinnlich Seiendes unüberbrückbar vom absoluten Sein getrennt ist, untersucht Ursula Reitemeyer Feuerbachs Abstandnahme zu Hegel aus leibesphänomenologischer Perspektive. Ihr zufolge geht es in seinen Schriften um eine sinnliche Vernunft, die er der spekulativen Vernunft des absoluten Geistes hegelianischer Provenienz gegenüberstellt. Somit entmachte er »die Totalität des Begriffs gegenüber der Wirklichkeit zugunsten der Anschauung«200 , indem er Natur und Geist als Einheit denke, anstatt wie Hegel erstere als Abglanz von und Ausfluss aus letzterem zu verstehen. »Alles sagen die Sinne, aber um ihre Aussagen zu verstehen, muß man sie verbinden. Die Evangelien der Sinne im Zusammenhang lesen heißt: Denken.«201 Mit diesen Worten wird Feuerbach seinen Aufsatz Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist (1846) schließen. Obwohl der Sinnlichkeit demgegenüber in Gedanken über Tod und Unsterblichkeit (1830) noch eine dem Denken untergeordnete Rolle zukommt, erkennt er doch zu diesem Zeitpunkt schon, dass die Empfindungen der vielen Einzelwesen und ihre nicht-begriffliche Anschauung voneinander ein Problem darstellen, das Hegels Geist allzu rasch übergeht. Reitemeyer führt hierzu aus: »Die Sichselbstbewegung der Begriffe führt nach Feuerbach nämlich nicht notwendig in die Natur oder ins sinnliche Sein; sie bewegen sich in sich und durch sich, aber nicht aus sich heraus. So vernichtet sich am Ende das Leben der Begriffe dadurch, daß die ihnen eigene Spontaneität beschlossen wird in dem Zurückgeworfensein der Begriffe auf sich selbst.«202 Während für Hegel die Empfindung, die mit der sinnlichen Anschauung einhergeht, ein Nichts ist, wird sie für Feuerbach von seiner Schrift Zur Kritik der Hegelschen Philosophie (1839) an der Keim aller Wirklichkeit sein. Hierin liegt seine Kritik an Hegels Negativität begründet, welche ihm zufolge die »Genesis des Nichts«203 verkenne und so »das Nichts als bare Münze nehme«204 . Nichts gäbe es nur im von der Sinnlichkeit losgelösten Denken, innerhalb einer aufgeblasenen Ich-Instanz, wenn ein einzelner Mensch vom in der sinnlichen Anschauung gegebenen Besonderen absähe und sich allein denkend zur ›Universalität‹ der Gattung erhöbe: »Und was ist denn in der Tat das Nichts anderes als ein Spektrum, ein Gespenst der spekulativen Imagination?«205 Die sinnliche Anschauung dagegen kenne keine Negation. Carlo Ascheri hat in Feuerbachs Bruch mit der Spekulation (1969) darauf hingewiesen, dass sich Feuerbach mit Zur Kritik der Hegelschen Philosophie (1939) von seinem früheren Lehrer abzuwenden beginnt, indem er einerseits betone, dass Denken nicht durch ein

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Reitemeyer, Philosophie der Leiblichkeit, S. 23. Feuerbach, Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist, S. 195. Reitemeyer, Philosophie der Leiblichkeit, S. 33. Feuerbach, Zur Kritik der Hegelschen Philosophie, S. 50. Ebd. Ebd., S 48.

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allgemeines System vermittelt sei, in dem es dargestellt werden könnte, und andererseits die reale Existenz der Natur, wie sie unabhängig vom Menschen und dessen Denken existiert, als etwas hervorhebe, das ihm äußerlich bliebe. Ascheri ebenso wie Reitemeyer zufolge macht Feuerbach in seiner Spätphase die konkrete sinnliche Anschauung gegenüber abstraktem Denken geltend und korrigiert somit eigene frühere Annahmen, wonach das sinnlich gegebene Besondere gegenüber dem Allgemeinen des Denkens weichen müsse. Zu Feuerbachs Über die Vernunft (1828) merkt Ascheri an: »In der Dissertatio sind Individuum, Leben, Sinnlichkeit eins; sie sind dem Denken untergeordnet, das den Tod der sinnlichen, individuellen Besonderheiten des Individuums vorstellt, die Realisierung der Gattung und der Einheit unter den Menschen und die Erhebung des Individuums zum universellen Sein.«206 In Feuerbachs Frühwerk kann sich ein einzelner Mensch nur innerhalb eines Universalismus des Geistes zur Gattung erheben, indem er sich im Denken negiert, denn »im Denken dagegen ist in mir selbst das andere Ich, ich bin zugleich Ich und der Andere, ununterschieden und nicht ein bestimmter Anderer, sondern der Andere überhaupt (als Gattung)«207 . Ascheri zufolge wird Feuerbach später jedoch unter anderen Gesichtspunkten zum Problem des Verhältnisses zwischen Ich und Du zurückkehren und im Sinne eines Pluriversalismus der Sinnlichkeit die Empfänglichkeit des Ich für im Gegensatz zu dessen Verfügung über das Du hervorheben. Dies geschieht durch Aufwertung der Sinnlichkeit des Menschen. In Die Notwendigkeit einer Veränderung (1842) heißt es vor diesem Hintergrund: »Unsere Sinne widersprechen unserer bisherigen Philosophie, unsere Philosophie den Sinnen – dieser Widersprich löst sich nur, wenn wir das sinnliche Wesen als absolutes Wesen fassen. Der Mensch ist wesentlich sinnliches Wesen. Eine Philosophie ohne Sinnlichkeit, außer der Sinnlichkeit, über der Sinnlichkeit ist eine Philosophie ohne Wahrheit, ohne Realität, ohne Einheit mit dem Menschen.« 208 Wogegen wendet sich Feuerbach hier? In einem »Die sinnliche Gewißheit oder das Diese und das Meinen« betitelten Unterkapitel seiner Phänomenologie des Geistes (1807) unterzieht Hegel die Annahme einer sinnlichen Gewissheit, die als sinnliches Bewusstein der Entfaltung des Geistes als Selbstbewusstsein vorausgehen würde, einer fundamentalen Kritik. Eine sinnliche Gewissheit anzunehmen bedeutet für ihn, sich zunächst »unmittelbar und aufnehmend zu verhalten«209 und von dem »Auffassen das Begreifen abzuhalten«210 . Als solche versteht sich die sinnliche Gewissheit als etwas Konkretes, sei jedoch in Wirklichkeit »die abstrakteste und ärmste Wahrheit«211 , da es ihr an Vermittlung durch

206 Carlo Ascheri, Feuerbachs Bruch mit der Spekulation, Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt, 1969, S. 31. 207 Feuerbach, Über die Vernunft, S. 21. 208 Ders., Die Notwendigkeit einer Veränderung, in: ders., »Feuerbachs Bruch mit der Spekulation«, S. 159. 209 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 82. 210 Ebd. 211 Ebd.

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

das Denken mangele: »Sie erscheint außerdem als die wahrhafteste; denn sie hat von dem Gegenstande noch nichts weggelassen, sondern ihn in seiner ganzen Vollständigkeit vor sich.«212 Hegel zufolge verkennt die Annahme einer sinnlichen Gewissheit die Vermittlung des Seins im absoluten Geist, also die Dialektik von Ansich und Fürsich, durch welchen die Substanz erst Subjekt wird. Was sich als Unmittelbarkeit der sinnlichen Anschauung ausgibt, sei deshalb in Wahrheit nur »ein Beispiel derselben«213 , weil jedes als konkret aufgefasstes ›Dieses‹ in sich schon »ein Dieser als Ich und ein Dieses als Gegenstand«214 enthalte. So sei das in der sinnlichen Anschauung Gegebene als seine eigene Negation mit sich im Zwiespalt und in Subjekt (›Dieser‹) und Objekt (›Dieses‹) gespalten. Im Verlauf der weiteren Argumentation gegen die sinnliche Gewissheit wird Hegel seinen Fokus von den Sinnen weg auf das sprachlich verfasste Denken verschieben und fragen: »Was ist das Diese? Nehmen wir es in der gedoppelten Gestalt seines Seins, als das Jetzt und das Hier, so wird die Dialektik, die es an ihm hat, eine so verständliche Form erhalten, als es selbst ist. Auf die Frage: was ist das Jetzt? antworten wir also zum Beispiel: das Jetzt ist die Nacht. Um die Wahrheit dieser sinnlichen Gewißheit zu prüfen, ist ein einfacher Versuch hinreichend. Wir schreiben diese Wahrheit auf; eine Wahrheit kann durch aufschreiben nicht verlieren; ebenso wenig dadurch, daß wir sie aufbewahren. Sehen wir jetzt, diesen Mittag, die aufgeschriebene Wahrheit wieder an, so werden wir sagen müssen, daß sie schal geworden ist.«215 Für Hegel gibt es keine sinnliche Nacht. Weil deren nur scheinbar konkretes Jetzt bereits am nächsten Mittag eine andere Form angenommen hat, lässt sich nicht sinnlich gewiss von dieser Nacht sprechen. So ist das Jetzt als zeitliche Seite einer Subjektform (›Dieser‹) und als abstrakter Zeitpunkt »durch dies sein Anderssein gar nicht affiziert«216 , nie unmittelbar nur sinnlich als ›Dieses‹ im Sinne einer nicht sprachlichen Empfindung gegeben, sondern begrifflich vermittelt und dadurch bestimmt, »daß anderes, nämlich der Tag und die Nacht, nicht ist«217 in ihm als gedachtem Jetzt. Weil für Hegel ein ›Dieses‹ Gegenstand des Selbstbewusstseins – eines ›Dieser‹ – und nicht Gegenstand des sinnlichen Bewusstseins ist, wohnt ihm die Kraft der Negation inne. Es ist ›Dieses‹ nur für ein ›Dieser‹, weil es nicht dieses Andere ist: »[D]as Bewußtsein ist Ich, weiter nichts […].«218 Negiert wird laut Feuerbach vom in einem Ich verankerten ›Dieser‹ die radikale Alterität des ›Dieses‹, das mehr ist als ein Ansich im Selbstbezug eines Fürsich, nämlich ein jeweils in den Sinnen gegebenes und empfundenes Du, welches zunächst nicht in der Sprache des Ichs verfasst und ihm gegenüber selbstständig ist. Wirkliche Fremdbezüge kann Hegel nicht denken: Das Jetzt als zeitliche Seite eines ›Dieses‹ ist für ihn einem gedachten Allgemeinen nachgeordnet.

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Ebd. Ebd., S. 83. Ebd. Ebd., S. 84. Ebd., S. 85. Ebd., S. 84. Ebd., S. 83.

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Ein sinnliches Sein, das wir in unseren Sinnen von ihm aus meinen, können wir Hegel zufolge deswegen von uns aus nicht sagen. Sobald wir sprechen, sprechen wir allgemein und können nicht mehr von dieser Nacht sprechen. Auch wenn wir sie meinen, sagen wir doch etwas anderes, nicht nur, wenn wir am Mittag sprechen. Diese Negation des sinnlich gegebenen Besonderen durch allgemeines Denken trifft auch auf die räumliche Seite des ›Dieses‹, auf das Hier, zu. »Das Hier ist z.B. der Baum. Ich wende mich um, so ist diese Wahrheit verschwunden und hat sich in die entgegengesetzte verkehrt: Das Hier ist nicht ein Baum, sondern vielmehr ein Haus. Das Hier selbst verschwindet nicht; sondern es ist bleibend im Verschwinden des Hauses, Baumes usf. und gleichgültig, Haus, Baum zu sein.«219 Indem Hegel auf diesem Weg aus dem besonderen ›Dieses‹, dem Du der sinnlichen Gewissheit, ein allein von der Subjektform des ›Dieser‹, dem Ich, gedachtes Allgemeines macht, das sich zwar sagen, nicht aber meinen lässt, verkennt er dem späten Feuerbach zufolge, dass es beim sinnlichen ›Dieses‹ gerade um dieses Jetzt und dieses Hier geht, unabhängig von einem ›Dieser‹, von dem sie gedacht werden, also um jeweils besondere Einzelne, die gerade als Nacht oder als Baum auf einer anderen Ebene sinnlich gegeben sind als sie sprachlich gefasst werden.220 Hegels Welt hat, ebenso wie der monotheistische Gott des Christentums und das cartesianische Cogito, ein einziges Zentrum: Die Institution der Ich-Instanz. Ihr Hier und Jetzt ist im Selbstbezug des absoluten Geistes begründet. Fremdbezüge würden sie dezentrieren und auf der Ebene der Sinnlichkeit des Menschen auf andere Subjektivitäten hin öffnen. Dies wäre der Unterschied zwischen Subjektivierungsweisen und der weißen Subjektform: Die Nächte und Bäume des sinnlichen Bewusstseins sind nicht auf das Selbstbewusstsein als »leere[s] oder gleichgültige[s] Jetzt und Hier«221 reduzierbar, sondern als jeweils Besondere in ihrer Alterität durchaus wirklich, bevor sie in einer Dialektik von Ansich und Fürsich, einem allgemeinen Hier und Jetzt, das Hegels Weltgeist ist, in dem das Anthropozän auf die Gewaltgeschichte des Kolonialismus trifft, getilgt werden können. Sehr deutlich wird Hegels Unfähigkeit, jenseits dessen, was er an Afrika vermisst und was ihm zufolge »bei uns in jeder Vorstellung mit unterläuft, die Kategorie der Allgemeinheit«222 , das Besondere zu denken, wenn er gegen die sinnliche Anschauung polemisiert, die für Feuerbach unter ebenso ästhetischen wie ethischen Gesichtspunkten wichtig sein wird.

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Ebd., S. 85. Demgegenüber ließe sich mit Césaire einwenden: »The superiority of the tree over mankind, of the tree that says yes over mankind who says no. Superiority of the tree that is consent over mankind who is evasiveness; superiority of the tree, which is rootedness and deepening, over mankind who is agitation and malfeasance. And that is why mankind does not blossom at all.« Ders., Poetry and Knowledge, S. xlviii. 220 Silvia Rivera Cusicanqui wertet in ihrer ›visuellen Theorie des Kolonialsystems‹ Sprache ganz anders als Hegel. Vgl. dies., Ch’ixinakax utxiwa. Eine Reflexion über Praktiken und Diskurse der Dekolonisierung, Münster: Unrast, 2018. 221 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 86. 222 Ders., Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 121.

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

»Ich bin reines Anschauen; Ich für mich bleibe dabei: das Jetzt ist Tag, oder auch dabei: das hier ist Baum, vergleiche auch nicht das Hier und Jetzt selbst miteinander, sondern Ich halte an einer unmittelbaren Beziehung fest: das Jetzt ist Tag. […] Wir müssen daher in denselben Punkt der Zeit oder des Raums eintreten, sie uns zeigen, d.h. uns zu demselben diesen Ich, welches das gewiß Wissende ist, machen lassen.«223 Um genau solche Subjektivierungsweisen geht es jedoch bei Feuerbachs später Emphase der Sinnlichkeit des Menschen und dem Bezug eines Ichs auf ein Du, der ein Zurücktreten erster gegenüber zweiten Personen darstellt: Sich geradezu mimetisch einem nicht mit einem selbst identischen Punkt der Zeit und des Raums anzunähern, den Perspektiven, die dort eingenommen werden, um eigene Grenzen zu finden. Mehr noch, die sinnliche Anschauung Feuerbachs, die während der 1840er Jahre immer wichtiger für ihn werden wird, gibt sich keinem Ich zu erkennen, sondern öffnet das Ich gegenüber einem Du, das es in seiner Verstrickung mit ihm eher empfindet denn sprachlich begreift. Während Hegels Universalismus des Geistes auf ein sich innerliches Universum verweist, tritt Feuerbach in seiner späten Phase immer vehementer für einen stets außer sich seienden Pluriversalismus der Sinnlichkeit ein, der Subjektivität auf andere Subjektivitäten hin dezentriert, anstatt sie als irgendwo verankerbar zu verstehen. Das kann Hegels Selbstbewusstsein nicht fassen. Die sinnliche Anschauung richtet sich nicht auf ein Selbes, sondern sie dezentriert das Selbe, indem sie es ausfransen lässt. Sie zeigt sich nicht als Objekt für ein Subjekt, nicht als um ein Fürsich kreisendes Ansich, sondern vielmehr als ein Du, das sowohl den Raum- als auch den Zeitpunkt des Ichs von außen begrenzt, indem es sie mit der Selbsttätigkeit von etwas nicht mit ihm Identischem konfrontiert. Im Eintreten des Ich und Du in gemeinsame Subjektivierungsweisen, indem sie sich gegenseitig sinnlich anschaulich werden und ihre Subjektivitäten als ineinander verschränkt erfahren, nur außerhalb ihrer eigenen Persönlichkeit, Individualität und Subjektivität, begegnen sich Feuerbachs Menschen im Plural. Der menschlichen Gattung näherzukommen heißt dann, vom Allgemeinen Abstand zu nehmen, sich dem Besonderen zuzuwenden und sich auf es hin zu subjektivieren, auf diese Nacht und diesen Baum hin, in »diesem Brote, dem ›Unsagbaren‹«224 , wie Feuerbach in Anspielung auf den Leib Christi von der zukünftigen Philosophie fordert, anstatt sich in einer Ich-Instanz einzuschließen, die alles in sich tilgt, bis am Ende, wenn sie Hand an sich legt, um aus sich selbst zu entspringen225 , auch die Umwelten und die Mitmenschen des Menschen, der sich für einen absoluten Geist hält, als dessen Existenzgrundlage getilgt sein werden. Darin zeichnet sich Empfänglichkeit gegenüber Verfügung aus, und an genau diesem Punkt setzt Feuerbachs Kritik an Hegels Herabsetzung der sinnlichen Gewissheit an. Braun formuliert dies so: »Das spekulative Denken setzt (innerhalb seiner selbst) sich das Sein als das Unmittelbare entgegen. Die Aufhebung des Gegensatzes zwischen dem wirklichen Sein und dem Denken bereitet dann kaum Schwierigkeiten. Gegen diese Unmittelbarkeit des

223 Ders., Phänomenologie des Geistes, S. 88. 224 Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, S. 290. 225 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 186.

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Seins, welches Denken ist, stellt Feuerbach die Antithese von Denken und sinnlich unmittelbar Gegebenem. Der kapitale Fehler Hegels liegt in einem unvermittelten Bruch mit der sinnlich konkreten, empirischen Anschauung. […] Feuerbach vertritt demnach einen Nominalismus, eine Sprachskepsis, durch die er sich von Hegel abhebt: In der Sprache verbleibt das einzelne, empirisch Seiende unerreichbar.«226 Feuerbach zufolge sei Hegels Identifikation der Substanz mit einem Subjekt »ein einfaches (negatives) Viele[s]«227 , wobei die Vermittlungsarbeit eines derart konzipierten Geistes den sinnlichen Verhältnissen zwischen Teilwesen nicht gerecht würde. »Wie soll also das sinnliche Bewußtsein dadurch, daß das einzelne Sein sich nicht sagen läßt, sich widerlegt finden oder widerlegt sein? Das sinnliche Bewußtsein findet eben gerade darin eine Widerlegung der Sprache, aber nicht eine Widerlegung der sinnlichen Gewißheit«228 , schreibt er in Zur Kritik der Hegelschen Philosophie (1839). Das heißt allerdings nicht, dass das sinnlich gegebene Besondere vollends vom Denken getrennt wäre. Im Unterschied zu seinen frühen Schriften wird Feuerbach in Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843) vielmehr in einem Gestus, der Walter Benjamins im frühen 20. Jahrhundert unternommene Überlegungen zu einem mimetischen Vermögen bis zu einem gewissen Grad vorwegnimmt, vom Denken fordern, sich »an die bestimmte Natur der Dinge, deren Zeichen Namen sind«229 , zu binden, anstatt über ihnen zu schweben wie ein Gott über seiner Schöpfung. Wenn die Zeichen der Dinge Namen sein sollen, bedeutet dies, dass die Dinge Eigennamen tragen, also besondere Namen für sie gefunden werden müssen, anstatt ihnen allgemeine Begriffe überzustülpen. Feuerbach zufolge widerlegt Hegels Polemik gegen die sinnliche Gewissheit nicht das Hier und Jetzt, wie es sich als sinnliche Verstrickung zeigt, sondern allein das logische Hier und Jetzt. Es brauche ihm zufolge keine Selbstbewegung des Geistes, um Raum und Zeit als veränderlich zu setzen. Das sinnlich Gegebene sei sich auch dann nicht gleich, wenn es nur angeschaut werde. »Das sinnliche Sein, das Dieses vergeht, aber es kommt wieder ein anderes Sein, das gleichfalls ein Dieses ist, an seine Stelle. Die Natur widerlegt so dieses Einzelne wohl, aber sie korrigiert sich gleich wieder, sie widerlegt die Widerlegung, indem sie ein anderes Einzelnes an seinen Platz setzt.«230

226 227 228 229 230

Braun, L. Feuerbachs Lehre vom Menschen, S. 77ff. Feuerbach, Zur Kritik der Hegelschen Philosophie, S. 33. Ebd., S. 34 Ders., Grundsätze der Philosophie der Zukunft, S. 284. Ders., Zur Kritik der Hegelschen Philosophie, S. 35. »Feuerbach leugnet also – im Gegensatz zu Hegel – nicht, daß die Natur sich zeitlich entfaltet, wirkliche Geschichte hat«, schreibt Alfred Schmidt hierzu. Ders., Feuerbachs Stellung in der Geschichte des Materialismus, in: Erich Thies (Hg.), »Ludwig Feuerbach. Wege der Forschung«, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1976, S. 422. »Wirklichkeit überhaupt ist dann nicht mehr nur als das Andere des Gedankens interpretierbar, wodurch die Substanz der Wirklichkeit in ihrem Begriff aufgehen könnte. Neben die logische Vermittlung können andere, ebenso substantielle Weisen der Vermittlung von Wirklichkeit treten«, folgert wiederum Thies. Ders., Philosophie und Wirklichkeit. Die Hegelkritik Ludwig Feuerbachs, in: ders. (Hg.), »Ludwig Feuerbach. Wege der Forschung«, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1976, S. 462f.

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

Feuerbach zufolge bringt Natur Besonderes hervor, das Hegels Geist nur als Allgemeines begreifen kann. Hegel fasst das Sinnliche allein vom Gedachten und der absoluten Identität des Geistes mit sich selbst aus, er beginnt nicht mit der Empfindung als »dem Anderssein des Gedankens, sondern mit dem Gedanken von dem Anderssein des Gedankens«231 , begibt sich also nicht in eine vom absoluten Geist unterschiedene Alterität hinein. Deshalb entgeht ihm laut Feuerbach das eigentlich pikante Problem der sinnlichen Gewissheit: »Der Gegensatz des Seins – im allgemeinen, so wie selbes die Logik betrachtet – ist nicht das Nichts, sondern das sinnliche, konkrete Sein. Das sinnliche Sein leugnet das logische Sein; jenes widerspricht diesem, dieses jenem.«232 Feuerbachs Kritik an Hegels idealistischem Subjektivismus besteht darin, dass er ihm attestiert, konkretes, sinnliches Sein durch abstraktes, logisches Sein zu ersetzen und so das Besondere, Einmalige und nicht Aufhebbare, das sich für ihn auf der Ebene der Sinnlichkeit in der Begegnung mehrerer Teilwesen zu erkennen gibt, in einem allgemeinen System zu negieren: »Der Idealist sagte zur Natur: Du bist mein alter ego, mein anderes Ich, aber er betonte nur das Ich, so daß der Sinn seiner Rede war: Du bist der Ausfluß, der Abglanz meiner selbst, nichts Besonderes für dich selbst […].«233 Dies hat eine Reihe von Konsequenzen für anthropozäne und postkoloniale Fragestellungen. Dem späteren Feuerbach zufolge kennt Hegels Geist, dessen Blaupause in der vorliegenden Arbeit weiße europäische Männer liefern, kein wirkliches, sondern nur ein gedachtes Gegenüber, und seine Umwelten sind ihm ebenso wie Mitmenschen nichts weiter als das Medium seiner eigenen Selbstdarstellung. Anstatt wie Hegel mit einem allgemein gefassten und abstrakten Begriff des Seins zu beginnen, schlägt der späte Feuerbach deswegen vor, Sein vielmehr konkret, also immer als dieses besondere und sinnlich gewisse Sein der Anschauung und der in ihr aufscheinenden Empfindung zu denken: »So verschieden die Dinge sind, so verschieden ist das Sein. Das Sein ist eins mit dem Dinge, welches ist.«234 Demnach ist Sein für Feuerbach zunächst als von mir verschiedenes Sein gegeben. Es ist nicht für mich da, weder Ansich noch Fürsich, sondern wirklich anders. Als solches verweist es auf mit mir verstrickte Wesen, die grammatikalisch betrachtet in der zweiten anstatt in der ersten Person verortet sind, denn »nur durch den Sinn ist Ich nicht Ich«235 . Bereits in seinem den Grundsätzen der Philosophie der Zukunft (1843) vorangegangenen Aufsatz Zur Kritik der Hegelschen Philosophie (1839) macht Feuerbach den Raum gegenüber der Zeit stark und kritisiert Hegels spekulatives System für dessen »exklusive Zeit«236 , die keinen »tolerante[n] Raum«237 kenne. Hegel wolle hinsichtlich der Entfaltung seines Weltgeistes nur etwas von »Subordination und Sukzession, nichts von Koordination und

231

232 233 234 235 236 237

Feuerbach, Zur Kritik der Hegelschen Philosophie, S. 36. Vgl. hierzu auch die Unterscheidung zwischen ›Thought of the Other‹ und ›the Other of Thought‹ in Édouard Glissant, Poetics of Relation, Michigan: The University of Michigan Press, 2010. Feuerbach, Zur Kritik der Hegelschen Philosophie, S. 28. Ebd., S. 37. Ebd. Ders., Grundsätze der Philosophie der Zukunft, S. 299. Ders., Zur Kritik der Hegelschen Philosophie, S. 8. Ebd.

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Koexistenz«238 wissen. Demgegenüber ist der Raum für Feuerbach wichtiger als die Zeit. Hegel interessiere sich nur für das Zusammenlaufen der Dinge in der Zeit, für deren Darstellung in Form einer Selbstdarstellung, Feuerbach jedoch für ihr Auseinanderlaufen im Raum und etwas, das außerhalb der Darstellung der Dinge im spekulativen System liegt. »Indem ich meine Gedanken darstelle, so versetze ich sie in die Zeit; was in mir ein Zugleich ist, eine über die Sukzession übergreifende Einsicht, wird jetzt ein Nacheinander. Ich setze das Darzustellende als nicht seiend, ich lasse es entstehen vor meinen Augen, ich abstrahiere von dem, was es vor der Darstellung ist.«239 Feuerbach liegt nicht weit weg von Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft (1790), wenn er im Folgenden ausführt, dass Hegels kapitaler Fehler darin bestünde, mit dem Denken anstatt mit der sinnlichen Anschauung zu beginnen, mit gedachtem Sinnlichen und der Philosophie als System und nicht mit dem, was außerhalb davon liegt, und so den Raum gegenüber der Zeit vernachlässige: »Die Wahrheit liegt nur in der Vereinigung des Ich und Du. Das Andere des reinen Gedankens ist aber im Allgemeinen der sinnliche Verstand.«240 Vier Jahre später wird er dieses Problem weiter entfalten und dann zu dem Schluss kommen, dass der Mensch als Gattungswesen nur durch seine sinnliche Verstrickung in Erscheinung trete, nicht jedoch vermittels der Aufhebung des sinnlich Gegebenen im Begriff. »Gegenwärtig handelt es sich noch nicht darum, den Menschen darzustellen, sondern darum, ihn nur erst aus dem Morast, worein er versunken war, herauszuziehen«241 , schreibt er dann. In Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843) treibt Feuerbach seine Gedanken zum Verhältnis von Darstellung und sinnlicher Praxis im Sinne der Gleichzeitigkeit und Wechselwirkung mehrerer Menschen und nicht-menschlicher Teilwesen weiter. Hegels absolutem Geist setzt er dann ebenso wie dem Gott der Theologen und dem ego cogito, ergo sum die Sinnlichkeit des Menschen entgegen und macht Relationalität stark. Theologie – die »vernünftige Theologie«242 von Hegels spekulativem System eingeschlossen – müsse zu Anthropologie werden und Hegels Geist den ›wirklichen‹ Verhältnissen zuallererst sinnlicher Wesen Platz machen, »denn nur ein sinnliches Wesen bedarf zu seiner Existenz anderer Dinge außer ihm«243 wie der Luft zum Atmen. Zukünftig müsse die Philosophie, hier scheint Feuerbach indirekt seine etwas jüngeren Zeitgenossen Marx und Engels zu adressieren, zunächst »aus dem Reiche der ›abgeschiedenen Seelen‹«244 herabgezogen werden »in das menschliche Elend«245 . Anders verhält es sich mit Hegels absolutem Geist, in dem er den monotheistischen Gott der Theologen wiederfindet: »Das Denken ist hier in ununterbrochener Einheit mit 238 239 240 241 242 243 244 245

Ebd. Ebd., S. 16. Ebd., S. 32. Ders., Grundsätze der Philosophie der Zukunf t, S. 247. Ebd., S. 249. Ebd., S. 251. Ebd., S. 247. Ebd.

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

sich selbst; die Gegenstände desselben sind nur Bestimmungen des Denkens, sie gehen rein im Gedanken auf, haben nichts für sich, was außer dem Denken bliebe.«246 Gegenüber einer solchen Einheit des Denkens mit dem Gedachten und der Dialektik von Ansich und Fürsich betont Feuerbach Anfang der 1840er Jahre die sinnliche Differenz der »wirklichen Anschauung«247 , die sich in der Begegnung sinnlicher Wesen ereigne und für ihn zugleich ein sinnlicher Akt ist: »Die spekulative Theologie dagegen verwandelt diesen dem Wesen des Denkens widersprechenden sinnlichen Akt in einen logischen oder theoretischen Akt, die materielle Hervorbringung des Gegenstands in die spekulative Erzeugung aus dem Begriffe«248 , schreibt er, bevor Marx sich mit seinen Thesen gegen ihn wenden wird. Dem Sein des Begriffs setzt Feuerbach nun sinnliches Sein entgegen, also etwas, das verschieden vom Denken sei, die Differenz einer es begleitenden Alterität ins Denken einführe und nicht im Begriff aufginge. Vor der Verfügung über hängt eine Sensibilität für das in den Sinnen Gegebene in Feuerbachs Spätphase zunehmend mit der Selbstständigkeit zweiter gegenüber ersten Personen zusammen. »Im Denken als solchem befinde ich mich in Identität mit mir selbst, bin ich absoluter Herr; da widerspricht mir nichts; da bin ich Richter und Partei zugleich, da ist folglich kein kritischer Unterschied zwischen dem Gegenstande und meinen Gedanken von ihm. Aber wenn es sich lediglich um das Sein eines Gegenstands handelt, so kann ich nicht mich allein um Rat fragen, so muß ich von mir unterschiedne Zeugen vernehmen. Diese von mir als Denkendem unterschiednen Zeugen sind die Sinne. Sein ist etwas, wobei nicht ich allein, sondern auch die andern, vor allem auch der Gegenstand selbst beteiligt ist.«249 Die Sinne als die von mir unterschiedenen Zeug*innen und als der Bereich eines Du, das in konkreten Begegnungen einem Ich gegenübertritt, welches nur sich selbst denken kann, sind für den späten Feuerbach der Ausgang aus Hegels spekulativem System. »Die absolute Philosophie hat uns wohl das Jenseits der Theologie zum Diesseits gemacht, aber dafür hat sie uns das Diesseits der wirklichen Welt zum Jenseits gemacht«250 , resümiert er dann seine langjährige Kritik am Subjektivismus, ohne über Kolonialgeschichte zu sprechen. Mit Feuerbachs Eintritt ins Diesseits und die sinnlichen Verhältnisse zwischen einer Vielzahl menschlicher und nicht-menschlicher Teilwesen darin Anfang der 1840er Jahre kommt der Empfindung in seinem Spätwerk eine entscheidende Rolle zu.251 Während die Empfindung für ihn Ende der 1820er Jahre noch durch Privation gekennzeichnet war und einen einzelnen Menschen von seinem zu dieser Zeit noch allein durch das Denken gekennzeichneten Gattungswesen trennte, heißt es nun, dass in den »alltäglichen Empfindungen […] die tiefsten und höchsten Wahrheiten verborgen«252 lägen, das

246 247 248 249 250 251

Ebd., S. 259. Ebd., S. 260. Ebd. Ebd., S. 286. Ebd., S. 285. Vgl. hierzu auch das Problem der Empfindungen in Ernst Mach Die Analyse der Empfindungen (1902) in Wark, Molekulares Rot, S. 192ff. 252 Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, S. 301.

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Wirkliche im Denken nicht in »ganzen Zahlen«253 , sondern nur in »Brüchen«254 darstellbar sei und sich die »neue Philosophie«255 auf die »Wahrheit der Liebe, die Wahrheit der Empfindung«256 stützen solle, da sie »das zu Verstand gebrachte Herz«257 sei. Denken dürfe nicht »in gerader Linie«258 verlaufen, sondern müsse durch die sinnliche Anschauung als »Gegenpartei des Denkens«259 unterbrochen werden. »Das mit sich identische, kontinuierliche Denken läßt im Widerspruch mit der Wirklichkeit die Welt sich im Kreise um ihren Mittelpunkt drehen; aber das durch die Beobachtung von der Ungleichförmigkeit dieser Bewegung, also durch die Anomalie der Anschauung unterbrochene Denken verwandelt der Wahrheit gemäß diesen Kreis in eine Ellipse. Der Kreis ist das Symbol, das Wappen der spekulativen Philosophie, des nur auf sich selbst sich stützenden Denkens […], die Ellipse dagegen ist das Symbol, das Wappen der sinnlichen Philosophie, des auf die Anschauung sich stützenden Denkens.«260 So wird in Feuerbachs Spätwerk aus dem Kreis des hegelianischen Denkens die Ellipse des zukünftigen Denkens der und durch die Sinnlichkeit des Menschen. Im Gegensatz zum Kreis hat die Ellipse nicht nur einen Brennpunkt, sondern zwei. In einer Ellipse ist das Denken kein von einem bestimmten Zentrum ausstrahlendes Allgemeines, das von Europa aus alle Kontinente dieses Planeten unterworfen und auf der Ebene einer geologischen Geschichte durch die Verwandlung von Natur in eine Plantage die aktuelle Klimakrise eingeleitet hat. Feuerbach, der im 19. Jahrhundert einen wichtigen Beitrag zur Analyse der dem postkolonialen Anthropozän zugrunde liegenden Subjektivität leistet, während sein Schreiben in der Provinz von Europa stattfindet, fordert ein Denken, das mehr ist als ein Denken des Anderen, sondern sich dem Anderen des Denkens annähert. In Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928) fasst Löwith dieses Denken der Zukunft, die eine Zukunft auch des postkolonialen Anthropozäns sein könnte, zusammen, indem er zwei zentrale Forderungen aus ihm ableitet: »1. Rücksichtnehmen auf die das abstrakte Denken allererst bewährende Sinnlichkeit und 2. Rücksichtnehmen auf den das eigene Denken allererst bewährenden Mitmenschen.«261 Der Mensch als Gattungswesen zeigt sich dem späten Feuerbach zufolge nicht in einem absoluten Geist, sondern ist die konkrete Begegnung zwischen mir und dir, die vonseiten Europas gewaltsam verpasst wurde.

253 254 255 256 257 258 259 260 261

Ebd., S. 312. Ebd. Ebd., S. 301. Ebd. Ebd. Ebd., S. 313. Ebd. Ebd., S. 314. Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, 2016, S. 94.

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

2.4 Hegel auf Haiti: Herren, Knechte und andere sinnliche Verhältnisse »Ich ist der Inhalt der Beziehung und das Beziehen selbst; es ist es selbst gegen ein Anderes, und greift zugleich über dies Andere über, das für es ebenso nur es selbst ist«262 , bemerkt Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes (1807). Im Anschluss daran beschreibt er das Selbstbewusstsein, um das es dem Ich zu tun ist, als »die Einheit seiner selbst mit diesem Unterschiede«263 und »Gleichheit seiner selbst mit sich«264 in der Form einer kreisförmigen Bewegung: »Aber in der Tat ist das Selbstbewußtsein die Reflexion aus dem Sein der sinnlichen und wahrgenommenen Welt und wesentlich die Rückkehr aus dem Anderssein.«265 Um dieses Kapitel über Feuerbachs Abkehr von der in Europa instituierten Ich-Instanz abzuschließen, werden hier im Hinblick auf Hegel und Haiti. Für eine neue Universalgeschichte (2009) von Susan Buck-Morss Überlegungen zu Hegels Dialektik von Herr und Knecht und zu der Annahme unternommen, aus ihr könne ein »neuer Humanismus«266 und ein »Universalismus von unten«267 destilliert werden. Hegel sieht in den Figuren des Herren und des Knechts »zwei entgegengesetzte Gestalten des Bewußtseins; die eine das selbstständige, welchem das Fürsichsein, die andere das unselbstständige, dem das Leben oder das Sein für ein Anderes das Wesen ist; jenes ist der Herr, dies der Knecht«268 . Mit Hartman lässt sich sagen, die Subjekte von Hegels Geist seien »whipped into subjection«269 . Der Kreislauf, den Hegel dadurch in Gang setzt, dass sein Weltgeist eine »unvertilgbare Substanz, das flüssige sichselbstgleiche Wesen«270 ist und er im »Setzen der Individualität«271 das »Entzweien der unterschiedslosen Flüssigkeit«272 sieht, lässt sich nur schwer wieder durchbrechen. Hegels Konfrontation zwischen Herren und Knechten ist etwas anderes als Feuerbachs Begegnung zwischen Mitmenschen sowie zwischen ihnen und einer sie durchdringenden Natur. Während bei Hegel das Ich nur ein anderes Ich kennt und Knechte Herren werden wollen, begegnet Feuerbachs Ich, wenn es sich sinnlich auf anderes und andere bezieht, anstatt sie im Geist auf sich selbst zurückzubeziehen, einem Du, demgegenüber es zurücktritt.

Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 137f. Ebd., S. 138. Ebd., S. 139. Ebd. Susan Buck-Morss, Hegel und Haiti. Für eine neue Universalgeschichte, Berlin: Suhrkamp, 2018, S. 109. Ebd., S. 144. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 150. Lévinas, dessen Kritik an der Idee von Totalität immer auch eine Hegelkritik ist, merkt zur Dialektik von Herr und Knecht an: »Der Andere ist nicht die Negation des Selben, wie Hegel es möchte.« Ders., Totalität und Unendlichkeit, S. 444. Dort schreibt er zuvor: »Die Beziehung mit dem Anderen hebt die Trennung nicht auf. Sie entsteht nicht im Rahmen einer Totalität; sie stiftet keine Totalität, der sich das Ich und der Andere integrieren würden.« Ebd., S. 366. 269 Hartman, Scenes of Subjection, S. 43. Vgl. hierzu auch Christoph Menke, Geist und Leben. Zu einer Kritik der Phänomenologie, in: Rüdiger Bubner und Gunnar Hindrichs (Hg.), »Von der Logik der Sprache«, Stuttgart: Klett-Cotta, 2007. 270 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 145. 271 Ebd., S. 142. 272 Ebd. 262 263 264 265 266 267 268

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Insofern muss hier einer prominenten Lesart des Verhältnisses zwischen Herren und Knechten widersprochen werden, der zufolge Hegel ein anti-kolonialer Philosoph gewesen sei. Buck-Morss plädiert in ihrem viel diskutierten Essay Hegel und Haiti (2009) dafür, die 1791 einsetzende und über ein Jahrzehnt andauernde Revolution ehemaliger Sklav*innen auf Haiti und ihre gegenüber den Kolonialherren erhobene universalistische Forderung, als Bürger*innen einen eigenen Staat gründen zu wollen, die 1804 schließlich in der haitianischen Verfassung und der Ausrufung einer unabhängigen Nation mündete, als Hinweis darauf zu lesen, dass Hegels Weltgeist weit über Europa hinaus Gültigkeit für sich beanspruchen könne und auf eine Universalgeschichte der Menschheit verweise. Buck-Morss zufolge sei es den Bewohner*innen Haitis zu Beginn des 19. Jahrhunderts darum gegangen, nicht länger die Knechte ihrer Kolonialherren zu sein, Souveränität zu erlangen und so zu Herren ihrer selbst zu werden. Dass der Fürsprecher des Weltgeistes ihrer Lesart seiner Phänomenologie mit Aussagen an anderer Stelle höchstpersönlich widerspricht, erklärt sie damit, »daß Hegel trotz aller Versuche in den zwanziger Jahren, sich mehr Wissen über Afrika anzueignen, im Endeffekt dümmer wurde«273 . Obwohl er in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1837) dem afrikanischen Kontinent später in rassistischer Manier Geschichtslosigkeit unterstellt, sei Hegel, der aufgrund von Zeitungsberichten »aus einer globalen Perspektive«274 über die Vorgänge auf Haiti informiert gewesen sei, von den Ereignissen in der Karibik begeistert gewesen und hätte in ihnen eine »Manifestation der universellen Freiheit, in deren Verwirklichung er das eigentliche Strukturprinzip und Ziel der Geschichte sah«275 , erblickt. In der Tat verfasste Hegel seine Phänomenologie des Geistes (1807) mehr oder minder parallel zur haitianischen Staatsgründung zwischen 1805 und 1806 in Jena. Publiziert wurde das Meisterwerk des dann Sechsunddreißigjährigen 1807, dem Jahr, in dem zumindest Großbritannien den Sklavenhandel auf seinen Schiffen verbot, während in Teilen Europas gleichzeitig die Industrialisierung einsetzte und immer mehr Dampfmaschinen ihre Kräfte entfalteten. Obwohl er sich gegen eine zu schnelle Abschaffung der Sklaverei aussprechen wird, sei Hegels Phänomenologie des Geistes (1807) Buck-Morss zufolge jedoch maßgeblich von den Aufständen in Haiti inspiriert worden. »Es steht außer Zweifel, daß Hegel über die reale Situation der Sklaven und ihre revolutionären Kämpfe informiert war. Im Zuge der vielleicht politischsten Stellungnahme seiner Karriere machte er die sensationellen Ereignisse in Haiti zum Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation in der Phänomenologie des Geistes. Der reale und erfolgreiche Aufstand der Sklaven in der Karibik gegen ihre Herren war der Augenblick, in dem die dialektische Logik der Anerkennung als Thema der Weltgeschichte sichtbar wurde, als Moment in der Geschichte der universellen Verwirklichung der Freiheit.«276 Obwohl Buck-Morss auf den Widerspruch hinweist, dass dieselben Philosophen, die noch im 19. Jahrhundert die Freiheit des Individuums »als den natürlichen Zustand des

273 274 275 276

Buck-Morss, Hegel und Haiti, S. 103. Ebd., S. 156. Ebd. Ebd., S. 89.

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

Menschen betrachteten und zu einem unveräußerlichen Menschenrecht erklärten«277 , gleichzeitig die »Sklavenarbeiter in den Kolonien als Teil der gegebenen Weltordnung«278 ansahen, entgeht ihr in ihrer euphemistischen Lektüre der Phänomenologie Hegels und deren Rückbezug auf die Geschehnisse in Haiti seit 1791 ein strukturelles Problem bezüglich dessen Konzeption des Selbstbewusstseins, das den Weltgeist und mit ihm die Dialektik von Herren und Knechten in koloniale Gewalt verwickelt sein lässt, anstatt Subjektivierungsweisen mehr als nur eines Menschen aufzuzeigen. Entlang progressiver Lesarten ließe sich zwar behaupten, bei der Herr-Knecht-Dialektik ginge es um die reziproke Anerkennung für sich selbstständiger Selbstbewusstseine.279 In der Tat kursiviert Hegel sogar an zentraler Stelle den Satz: »Das Selbstbewußtsein erreicht seine Befriedigung nur in einem anderen Selbstbewußtsein.«280 Wenn Buck-Morss die Auflehnung von Sklav*innen in Haiti primär als Auflehnung gegen die Verdinglichung ihres Bewusstseins durch das Bewusstsein der Kolonialherren beschreibt, stützt sie sich auf genau diese Aussage Hegels, kommt hiermit aber über die selbstbezügliche Logik der in der vorliegenden Arbeit mit Feuerbach problematisierten weißen Subjektform nur schwerlich hinaus.281 Anstatt wie Feuerbach die Verstrickung mehrerer Subjektivitäten zu denken, die sich in Begegnungen füreinander öffnen, bleiben die einzelnen Selbstbewusstseine bei Hegel ihre jeweils eigenen Zentren, denn, so der große Philosoph irgendwann zwischen 1805 und 1806 in Jena, »[d]ie Mitte ist das Selbstbewußtsein«282 . Indem er Bewusstsein in sich zentriert, blendet Hegel die Sinnlichkeit aus, in der Begegnungen statthaben, ohne sofort in der zirkulären Bewegung des Weltgeistes, auf den das Selbstbewusstsein in immer neuen Schleifen zurückverweist, aufgehoben zu sein. Geradezu programmatisch ebenso für die Stellung der Provinz von Europa wie für ein postkolonial verstandenes Anthropozän klingt demnach Hegels Aussage über die Selbstständigkeit des Geistes, der Alterität nur bedarf, um sich in Bewegung zu halten. »Das Wesen ist die Unendlichkeit als das Aufgehobensein aller Unterschiede, die reine achsendrehende Bewegung, die Ruhe ihrer selbst als absolut unruhiger Unendlichkeit; die Selbstständigkeit selbst, in welcher die Unterschiede der Bewegung aufgelöst sind; das einfache Wesen der Zeit, das in dieser Sichselbstgleichheit die gediegene Gestalt des Raumes hat.«283 Demgegenüber beweisen laut Buck-Morss die Sklav*innen Haitis, indem sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts Unabhängigkeit erlangen, dass sie »keine Dinge bzw. Objekte sind,

277 Ebd., S. 41. 278 Ebd. 279 Vgl. hierzu Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2010. 280 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 144. 281 Vgl. Buck-Morss, Hegel und Haiti, S. 81. 282 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 147. 283 Ebd., S. 140.

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sondern Subjekte, die die materielle Natur verwandeln können«284 . Die Frage ist dann jedoch, welche Konsequenzen für sinnliche Verhältnisse zwischen Teilwesen im Sinne Feuerbachs es hätte, wenn deren Begegnungen die zwischen Herren und Knechten wären und es ihnen darum ginge, von Knechten zu Herren zu werden, indem einzelne Individuen oder Staaten eine ihnen eigene Freiheit erlangten. Obwohl der Autor der vorliegenden Schrift Buck-Morss zustimmt, wenn sie für »die Porösität eines globalen sozialen Feldes«285 plädiert, würde er zwei von ihr rhetorisch gestellte Fragen doch anders beantworten, als dies im Rahmen der von ihr angestellten Verquickung Hegels mit der Revolution auf Haiti geschieht: »Können wir uns ein kollektives Subjekt vorstellen, das so inklusiv ist wie die Menschheit selbst? Gibt es heute einen Weg zur Universalgeschichte?«286 Die Antwort, die Buck-Morss hier mit Feuerbach gegeben werden soll, lautet nein. Indem Hegel das Problem der Anerkennung zwischen Herren und Knechten, bei dem im Kampf um Anerkennung der »Tod des Anderen«287 droht, an der Konfrontation selbstbezüglicher Subjektivitäten festmacht, die jeweils für sich Unabhängigkeit erlangen, verlässt er auch an dieser Stelle nicht die Logik der abendländischen Ich-Instanz. Hegel notiert: »Das Verhältnis beider Selbstbewusstsein[e] ist also so bestimmt, daß sie sich selbst und einander durch den Kampf auf Leben und Tod bewähren.«288 Selbstverständlich soll der erste erfolgreiche Sklavenaufstands der kolonialen Moderne hier nicht abgewertet werden.289 Auch Fanons Die Verdammten dieser Erde (1961) ist sicherlich von Hegels HerrKnecht-Dialektik sowie dem Problem der Anerkennung mitgeprägt, und die Unabhängigkeit, die Haiti 1804 als Nation erlangte, kann nur begrüßt werden. Zwar ist BuckMorss also beizupflichten, wenn sie bezüglich der haitianischen Sklav*innenaufstände von 1791–1804 vorschlägt, sich zu »der Idee einer universellen Menschheit zu bekennen, indem man die anmaßende Annahme zurückweist, irgendein politisches, religiöses, ethnisches, kulturelles oder durch Klassenzugehörigkeit gekennzeichnetes Kollektiv könne diese Idee exklusiv und andere ausschließend für sich reklamieren«290 . Schwierig in einem ebenso anthropozänen wie kolonialen Kontext ist jedoch ihr Rekurs auf Hegels Anerkennungsdialektik sowie deren globale Verallgemeinerung.291

284 Buck-Morss, Hegel und Haiti, S. 81. Dass Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes (1807) Haiti nicht einmal in einer Fußnote erwähnt, spricht Buck-Morss zufolge nicht gegen ihre Thesen, da er auch die französische Revolution nicht angesprochen habe. Vgl. ebd., S. 75. 285 Ebd., S. 205. 286 Ebd., S. 150. 287 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 148. 288 Ebd., S. 148f. 289 Wobei die Gegenwart Haitis doch weitaus weniger verheißungsvoll aussieht als die von BuckMorss gefeierte Staatsgründung zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Vgl. hierzu exemplarisch Peter Hallward, Damming the Flood. Haiti and the Politics of Containment, London und New York: Verso, 2010. 290 Buck-Morss, Hegel und Haiti, S. 199. 291 Für eine brillante Kritik der Logik der Anerkennung mit Bezug auf aktuelle politische Kämpfe Indigener im heutigen Kanada vgl. Glen Sean Coulthard, Rote Haut, weiße Masken. Gegen die koloniale Politik der Anerkennung, Münster: Unrast, 2020.

2. Feuerbachs Kritik der weißen Subjektform bei Descartes, im Christentum und bei Hegel

Wenn Hegel schreibt, dass der Kampf um Anerkennung darin bestünde, ein jeweils eigenes »Außersichsein«292 aufzuheben und von Abhängigkeits- zu Unabhängigkeitsverhältnissen überzugehen, korrespondiert seine Beschreibung mit genau derjenigen Subjektivität, die der gegenwärtigen Misere mancher Länder, die aus ehemaligen Kolonien zu Nationalstaaten geworden sind, zugrunde liegt. Denn die Subjektivität, die Hegels Weltgeist innewohnt und die vermittels ihres Kampfes sowohl gegen Natur als auch gegen Mitmenschen ausschließlich zu ihrem eigenen Selbstbewusstsein gelangt, erhebt sich zum Geist und strebt der Freiheit entgegen, indem sie sich abkappt. Hegel stellt klar: »Das Selbstbewußtsein ist zunächst einfaches Fürsichsein, sichselbstgleich durch das Ausschließen alles anderen aus sich; sein Wesen und absoluter Gegenstand ist ihm Ich; und es ist in dieser Unmittelbarkeit oder in diesem Sein seines Fürsichseins Einzelnes. Was Anderes für es ist, ist als unwesentlicher, mit dem Charakter des Negativen bezeichneter Gegenstand. Aber das Andere ist auch ein Selbstbewußtsein; es tritt ein Individuum einem Individuum gegenüber auf. So unmittelbar auftretend, sind sie füreinander in der Weise gemeiner Gegenstände; selbstständige Gestalten, in das Sein des Lebens – denn als Leben hat sich hier der seiende Gegenstand bestimmt – versenkte Bewußtsein[e], welche füreinander die Bewegung der absoluten Abstraktion, alles unmittelbare Sein zu vertilgen und nur das rein negative Sein des sich selbstgleichen Bewußtseins zu sein, noch nicht vollbracht oder sich einander noch nicht als reines Fürsichsein, d.h. als Selbstbewusstsein[e] dargestellt haben.«293 Wirklich ›universal‹ hingegen wäre, das kann mit Mignolo gegen Buck-Morss eingewendet werden, ein Pluriversalismus, der nicht in sich selbst enthalten, sondern außer sich ist, dabei aber anderem und anderer nicht bedarf, um zu sich selbst zu kommen, sondern sich auf diese hin dezentriert, indem er sich deren Position und Perspektive annähert. Zwar bemerkt Hegel zu seiner Herr-Knecht-Dialektik, dass die ›Wahrheit‹ des selbstständigen Bewusstseins das knechtische Bewusstsein sei, er geht also von der Reziprozität sich gegenseitig anerkennender Selbstbewusstseine aus.294 Diese beziehen sich bei ihm vermittels anderer jedoch immer nur auf sich, anstatt aus sich herauszutreten. Während Buck-Morss in Haiti den Universalismus der Freiheit des Geistes erkennt, weil sie ihren Fokus auf die Gründung einer unabhängigen Nation richtet, könnte es bei dekolonialen Prozessen genauso gut um die Frage gehen, wie ein ›Universalismus‹ aussähe, der sich in seiner Abhängigkeit von etwas nicht mit ihm Identischen formulieren und welches Konzept des Menschen sich daraus ergeben würde.295 Dieser Pluriversalismus der Sinnlichkeit, der sich anderen Positionen, anderen Perspektiven, anderen Menschen und Umwelten gegenüber öffnen würde, anstatt sie einverleibend auszuverleiben und in sich aufzuheben, unterschiede sich in mehrerlei Hinsicht von Hegels Universalismus des Geistes, den Buck-Morss durch ihre ›anti-koloniale‹ Lektüre der Phänomenologie des Geistes (1807) starkzumachen versucht. Vor diesem Hintergrund lässt sich mit Leander Scholz an ihrem Vorhaben kritisieren: 292 293 294 295

Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 149. Ebd., S. 147f. Vgl. ebd., S. 152. Vgl. hierzu Praeg, A Report on Ubuntu.

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»Denn wenn den partikularen Kulturen lediglich eine Rolle auf der historischen Bühne zukommt, solange sie dem Universalen zuarbeiten, und sie wieder abzutreten haben, wenn diese Aufgabe erfüllt ist, dann liegt der Verdacht nahe, dass das gesteigerte Interesse an einem Kulturvergleich letztlich allein dem Vorhaben dient, die eigene, in die Krise geratene Selbstbeschreibung vor einer Infragestellung zu retten, die das Schema von Partikularität und Universalität insgesamt zu sprengen droht.«296 Dieses Kapitel sollte klargestellt haben, dass sinnliche Verhältnisse, die Feuerbach Hegels Logik des Geistes entgegensetzt, in ihrer Fremdbezüglichkeit ein anderes Terrain eröffnen als dasjenige des Kolonialismus, das Fanon in Die Verdammten dieser Erde (1961) schmerzvoll beklagt, wenn er am Ende ausruft: »Im Namen des Geistes, des europäischen Geistes, versteht sich, hat Europa seine Verbrechen gerechtfertigt und die Versklavung legitimiert, welcher es vier Fünftel der Menschheit unterworfen hatte.«297 Während Hegel die Freiheit des Individuums anstrebt, verstricken Feuerbachs sinnliche Verhältnisse mehrere Subjektivitäten ineinander und verweisen auf deren grundlegende Abhängigkeit voneinander, die sich nirgendwo aufheben lässt. Durchaus ähnlich sieht dies Mbembe. In Necropolitics (2019) weist er darauf hin, dass Hegels Konzept der Subjektwerdung »the death of the Other«298 eingeschrieben ist, der in diesem Prozess vom Subjekt einverleibend ausverleibt wird: »Becoming a subject therefore supposes upholding the work of death. To uphold the work of death, such is precisely how Hegel defines the life of Spirit.«299 Mbembe kritisiert an Hegel, was in dieser Arbeit als Selbstbezüglichkeit von fremdbezüglichen Subjektivierungsweisen unterschieden wird, wenn er ausführt, dass »self-creation is itself a life-and-death conflict«300 und darauf hinweist, dass gerade dieses Modell des ewigen Kampfes zwischen Herren und Knechten auf Leben und Tod, damit der Geist zu sich selbst kommen und Souveränität erlangen kann, für unsere gegenwärtige Misere zumindest mitverantwortlich ist.

296 Leander Scholz, Sklaverei, die unsichtbare Tinte. Buck-Morss liest Hegel, in: Ulrike Bergermann und Nanna Heidenreich (Hg.), »total. Universalismus und Partikularismus in post_kolonialer Medientheorie«, Bielefeld: transcript, 2015, S. 99. 297 Fanon, Die Verdammten dieser Erde, S. 264. Dazu bemerkt er: »Der Wohlstand und der Fortschritt Europas sind mit dem Schweiß und den Leichen der N*, der Araber, der Inder und der Gelben errichtet worden. Wir haben beschlossen, das nicht mehr zu vergessen.« Ebd., S. 79. Udo Wolter fasst Fanons durch dessen Hegellektüre gewonnene Erkenntnis zusammen, indem er darauf hinweist, dass für ihn »in der europäischen Entwicklung zur Moderne ein epochaler kognitiver Wandel stattgefunden hat durch das Entstehen einer reflexiven Selbstwahrnehmung der Ich-Identität in Abgrenzung zu einem vergegenständlichten Anderen«. Ders., Das obskure Objekt der Begierde. Frantz Fanon und die Fallstricke des Subjekts der Befreiung, Münster: Unrast, 2001, S. 72f. 298 Achille Membe, Necropolitics, Durham und London: Duke University Press, 2019, S. 72. Eine frühere Fassung dieses gegenüber der Originalausgabe neuen und für die englische Übersetzung titelgebenden Kapitels findet sich auf Deutsch in Marianne Pieper, Thomas Atzert, Serhat Karakayalı und Vassilis Tsiano (Hg.), Biopolitik in der Debatte, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2011. 299 Membe, Necropolitics, S. 68f. 300 Ebd., S. 73.

Zweite Szene des Menschen Grada Kilombas Illusions Vol. I, Narcissus and Echo (2016)

Grada Kilombas Illusions-Trilogie (2016–2019) nahm im Rahmen der 32. Biennale in São Paolo mit der Arbeit Narcissus and Echo (2016), der sich die hier durchgeführte Detailstudie widmen wird, ihren Anfang. Zu diesem Zeitpunkt verstand sich das Werk noch als Lecture-Performance. Kilomba saß, von mehreren Mikrofonstativen umgeben, auf einem Stuhl neben einer großflächigen Videoprojektion und sprach den Text, der in späteren Versionen der Arbeit als Voice-Over zu hören ist, live vor den Besucher*innen des Ausstellungsraums.1 Bereits der erste Teil der Trilogie, der vom Empresa de Gestão de Equipamentos e Animação Culturalin (EGEAC) in Lissabon und dem International Film Festival Rotterdam finanziert und in Berlin produziert wurde, hybridisiert griechische Mythen mit oralen Erzähltraditionen Westafrikas.2 Dem folgte auf der 10. Berlin Biennale 2018 im KW Institute for Contemporary Art ein zweiter Teil mit dem Titel Oedipus. In diesem Kontext verwandelte sich die Performance in eine zweikanalige Videoinstallation. Kilomba war nicht mehr im Raum anwesend, sondern erschien auf einem hochkant links neben der Videoprojektion positionierten Flatscreen. Zwar wurde im Rahmen von 1

2

Die folgende Detailstudie wurde anhand eines Videos angefertigt, das von Kilomba freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurde. In ihrer Rolle als Erzählerin ist sie selbst darin nur während der Ein- und Ausgangssequenz zu sehen. Während sie in der Lecture-Performance von São Paolo live im Museumsraum anwesend und in der späteren Zweikanal-Videoinstallation permanent parallel zum Geschehen auf der großen Projektionsfläche daneben als Videobild zu sehen war, ist hier ansonsten nur ihre Stimme als Voice-Over zu hören. Ein von ihr angefertigtes Manuskript der Textfassung findet sich im Ausstellungskatalog Grada Kilomba: poetic disobediences der Pinacoteca de São Paulo auf https://web.archive.org/web/20201119215525/http://pinacoteca.org.br/wp-content/ uploads/2019/07/AF06_gradakilomba_miolo_baixa.pdf, Zugriff am 26.5.2023. Im gesprochenen Text des vorliegenden Videos kommt es zu leichten Abweichungen vom Manuskript. Um unabhängig davon den Inszenierungscharakter mehr zu gewichten als die Textvorlage, hat sich der Autor dazu entschieden, Zitate dem Video zu entnehmen. Aus diesem Grund kann es zu Differenzen (auch in der Interpunktion) zwischen dem hier wiedergegebenen Text und dem Manuskript sowie der Tonspur kommen. Der Abspann des im Ausstellungsraum im Loop laufenden Videos endet mit dem Hinweis auf die Figur des westafrikanischen Griots, eines Geschichtenerzählers, der aufgrund seines Wissens, seines Gedächtnisses und seiner stimmlichen Fähigkeiten hoch geachtet sei.

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Oedipus (2018) das Setting mit Kilomba auf einem Stuhl und sie umgebenden Mikrofonen beibehalten, jetzt zeigte die Mattscheibe des Bildschirms sie jedoch ebenso wie die auf der Projektion zu sehenden Szenen vor einem cleanen, sterilen, weißen Hintergrund. Ihre Stimme war nur noch über Lautsprecher zu hören. Während Oedipus (2018) im KW Institute vor Contemporary Art noch auf eine Museumswand projiziert wurde, transformierte Kilomba ihr Werk ein Jahr später im Rahmen des vom Gorki Theater organisierten 4. Berliner Herbstsalons, der unter dem Titel De-heimatize it! stattfand, ein weiteres Mal. Mit dem dann hinzugekommenen dritten Teil der Arbeit, Antigone (2019), änderte sich das räumliche Setting der Videoinstallation erneut. In einem weitläufigen Saal im ersten Stock des Palais am Festungsgraben in der Nähe des Gorki Theaters waren in der Mitte des Raums drei Leinwände zu einem Dreieck angeordnet worden, auf die jeweils einer der Teile der Illusions-Trilogie projiziert wurde, die jetzt unter dem Titel A World of Illusions (2019) firmierte. Neben ihnen befand sich jeweils ein weißer Holzblock, auf dem das Beamerlicht Kilomba als Geschichtenerzählerin sowie dazwischen andere kurze Sequenzen sichtbar machte. Auch akustisch war die Situation derart organisiert, dass die Betrachter*innen je nach Positionierung im Raum einen eigenen Fokus setzen und über die Zeitlichkeit der das Werk konstituierenden Erzählstränge verfügen konnten. A World of Illusions (2019) konstellierte drei für die europäische Mentalität prägende Mythen der griechischen Antike, um über deren Versammlung unterschiedliche Subjektivierungsweisen miteinander zu konfrontieren. Weil eine eingehende Analyse des Zusammenspiels der drei Teile von A World of Illusions (2019) den Rahmen des vorliegenden Textes sprengen würde, beschränken sich die folgenden Ausführungen auf Narcissus and Echo (2016). In Narcissus and Echo (2016) geht es insofern um Feuerbachs im vorigen Kapitel besprochene Kritik am modernen Individuum, die Konstellation von Ich und Du, ausgeklammerte zweite Personen, gekappte sinnliche Verhältnisse und die weiße Subjektform, als dass hier anhand des griechischen Mythos von Narziss und Echo eine Subjektivität thematisiert wird, die allein über ihre Widerspiegelung in anderem und anderen zu ihrer Identität gelangt und die Dussel deshalb mit dem solipsistischen Bewusstein der kolonialen Moderne zusammenbringt.3 Dabei hybridisiert die Arbeit mehrere Genres und Stilmittel: In seiner Bildlichkeit ist das Video von Brechts epischem Theater ebenso geprägt wie von MTV-Clips, Slapstick-Comedy und mündlichen Erzähltraditionen, welche nicht auf afrikanische Kontexte beschränkt sind und die Benjamin 1936 in einem europäischen Zusammenhang beschäftigt haben.4 Das Stilmittel der Trennung von Körper und Stimme, mit dem Kilomba bereits seit ihrer Lecture-Performance in São Paolo von 2016 operiert – das projizierte Videobild bleibt stumm, während es von ihr besprochen wird –, geht mit der Offenlegung aller weiteren theatralen Mittel einher.

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Vgl. Dussel, Der Gegendiskurs der Moderne, S. 96. »Erfahrung, die von Mund zu Mund geht, ist die Quelle, aus der alle Erzähler geschöpft haben. Und unter denen, die Geschichten niedergeschrieben haben, sind es die Großen, deren Niederschrift sich am wenigsten von der Rede der vielen namenlosen Erzähler abhebt.« Walter Benjamin, Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, in: ders., »Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2007, S. 104.

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Abb. 19: Grada Kilomba, Illusions Vol. I, Narcissus and Echo, Performance auf der 32. Biennale in São Paulo, 2016 (Foto von Leo Eloy, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin)

Abb. 20: Grada Kilomba, A World of Illusions, Installationsansicht, 4. Berliner Herbstsalon, Maxim Gorki Theater/Palais am Festungsgraben, Berlin, 2019 (Foto von Egbert Trogemann, VG Bild-Kunst Bonn, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin)

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Während Kilomba zu sehen ist, die den Text als Botenbericht in die sie umgebenden Mikrofone spricht, zeigt die Videoprojektion immer wieder Reminiszenzen an ein als solches ausgestelltes Filmdreh-Setting. Das in seiner Gemachtheit anti-illusionistisch offengelegte Geschehen, aushandelnde Blicke zwischen den Darsteller*innen sowie die klar als theatrale Mittel markierten Gegenstände und Kostüme lassen Verfremdungseffekte aus dem epischen Theater auf die globalisierte Ästhetik von Videoclips der Musikindustrie treffen. Der plane weiße Raum, der in Narcissus and Echo (2016) ebenso wie in den anderen beiden Teilen der Illusions-Trilogie den durchgehenden Hintergrund der vor ihm stattfindenden Szenen bildet, konnotiert einerseits den White Cube im Museumskontext bei Brian O’Doherty.5 Andererseits ruft er Kilombas Studie Plantation Memories (2008) auf, in der sie ihre Diskriminierungserfahrungen als Schwarze Frau an deutschen Universitäten schildert: »It is a white space where Black people have been denied the privilege to speak. Historically, it is a space where we have been voiceless and where white scholars have developed theoretical discourses that formally constructed us as the inferior ›Other‹, placing Africans in absolute subordination to the white subject. Here we have been described, classified, dehumanized, primitivized, brutalized, killed. This is not a neutral space.«6 Der rund eine halbe Stunde dauernde erste Videoloop von Kilombas A World of Illusions (2019) beginnt mit einem blendend weißen Bildfeld, in welches in gräulichem Farbton zunächst der Titel, der die Autorin betreffende Teil der Credits und dann allmählich eine Anordnung von Gegenständen eingeblendet wird. Wie die der anderen Teile der Trilogie wurden auch die einzelnen Szenen dieses Videos in den Studios des Berliner Ballhauses Rixdorf in einer weißen Hohlkehle gedreht und in der Postproduktion entsprechend weiterbearbeitet. Sie finden durchgehend vor einem weißen Hintergrund statt, der keine Horizontlinie aufweist. Die weiße Raumzeit, in der sie sich abzeichnen, wirkt zugleich flächig und unendlich weit. Es scheint, also gäbe es nichts außerhalb von ihr. Mit Feuerbach soll deshalb gezeigt werden, inwiefern die Arbeit eine Subjektivität manifestiert, die Hegel den Weltgeist genannt hat und die sich allein in der Institution der Ich-Instanz verankert. Akustisch befinden wir uns, dies ist bezüglich der sich um Narziss und Echo drehenden Geschichte ein wichtiges Detail, an einem schalldichten Ort. Bis auf die im Tonstudio aufgenommenen Textpassagen und die eingespielte Musik sind keine Geräusche zu hören. Der White Cube scheint sie ebenso zu verschlucken wie die Objekte und menschlichen Körper, die sich in ihm befinden. Zu sehen ist in der Anfangssequenz (ab 00:16) mittig ein an Bauhaus-Design erinnernder Stuhl, der aus Holzplatten gefertigt und von Packriemen zusammengehalten wird, als würde er sich auf dem Versandweg befinden. Er ist von neun auf Stativen angebrachten Mikrofonen umstellt, die allesamt auf ihn gerichtet sind und deren Kabelstränge links aus dem Bild hinauslaufen. »I was invited to come here today but I actually feel that there is nothing new I can say«, ist Kilombas sonore Stimme in ebenso traurig

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Vgl. Brian O’Doherty, In der weißen Zelle. Inside the White Cube, Berlin: Merve, 1996. Grada Kilomba, Plantation Memories. Episodes of Everyday Racism, Münster: Unrast, 2019, S. 25f.

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distanziertem wie analytisch scharfem Tonfall als Voice-Over zu hören, während sie von vorne rechts den Bildraum betritt, einen ebenfalls aus Holzplatten gefertigten Tisch neben dem Stuhl platziert und wieder abgeht (00:32). Sie trägt einen schwarzen Overall und weiße Sneakers. »I often have this feeling that everything was already said«, spricht sie im Off, bevor sie kurz zurückkehrt und ein Textbuch auf dem Tisch ablegt. »And I often feel that we all know everything already, we just tend to forget it«, fährt sie fort, als würde sie aus dem Skript ablesen, das sich auf dem Tisch neben ihr befindet. Diese Trennung von Bild- und Tonebene, die zu Beginn des Videos etabliert wird, setzt sich bis zum Ende des Loops fort. Erneut tritt Kilomba ab und kehrt mit einer gläsernen Wasserflasche mit Schraubverschluss zurück, um auf dem Stuhl Platz und das Textbuch zur Hand zu nehmen (00:56). »This is why today I want to tell you a story, the story of Narcissus and of Echo.« Sie justiert nun eines der Mikrofone, aus der Perspektive der Zuschauer*innen das vorne links, als würde sie einen weiteren Satz in es hineinsprechen wollen. Die anderen Stative sind dabei auf sie gerichtet wie Fühler eines Insekts. Langsam wird das Arrangement ausgeblendet, bis kurz nur noch eine weiße Fläche verbleibt (01:05), die, während ein langsamer, getragener Trommelrhythmus einsetzt, mittig von einer allmählich eingeblendeten Bank bedeckt wird (ab 01:07), auf der zuerst links und frontal ausgerichtet ein Mann in kariertem Anzug mit einem ebenso karierten Hut auf dem Kopf und dann, abrupt dazugeblendet, rechts und seitlich ausgerichtet, eine Frau sitzen. Es handelt sich bei ihnen um Moses Leo, mit dem Kilomba eine langjährige Zusammenarbeit verbindet und der auch als Produzent der Illusions-Trilogie tätig ist, und die Schauspielerin Martha Fessehatzion. Obwohl ihr Körper, anders als derjenige Leos, vom Blick der Zuschauer*innen abgewendet ist, blickt sie wie er in Richtung der Kamera. Jetzt erscheint Kilomba im Bild, mittig auf der Bank und ebenso unvermittelt ins Weiß hineingeschnitten wie die anderen beiden (01:13). Kurz darauf betritt eine vierte Person, Zé de Paiva, der für Narcissus and Echo (2016) auch als Kameramann tätig war, von rechts das Bild und setzt sich neben sie (01:19). Im Hintergrund ist nach wie vor das gleichmäßige Schlagen einer Trommel zu hören. Die Personen im Bild schauen nun alle in die Kamera. Plötzlich werden die vier Menschen genauso unvermittelt ausgeblendet, wie sie erschienen sind (01:23). »Action!«, ruft eine Frauenstimme im Off, als würde sie damit die Aufnahme an einem Filmset einleiten wollen. Die Bank bleibt für einen Augenblick allein zurück, bevor auch sie verschwindet (01:28). Vor strahlend weißem Hintergrund zeichnet sich eine römische I. ab, macht das soeben Gesehene zu einer Art Prolog und deutet die Gliederung der folgenden Sequenzen in Akte oder Szenen an, also eine Struktur, die im europäischen Kontext seit dem Theater im antiken Griechenland etabliert ist (01:30). Die folgenden Ereignisse beziehen sich jedoch nicht nur auf griechische Mythen. Sie finden in permanentem Bezug auf die Farbe Weiß statt, aus der heraus sie sich erheben, in die hinein sie wieder abgleiten und vor der sie statthaben. Darauf erscheinen die vier, jetzt alle in Schwarz gekleideten und an dieser Stelle barfüßigen Darsteller*innen in unterschiedlicher Distanz zur Kamera. Aufgrund des indifferenten Hintergrunds lässt sich ihre jeweilige Entfernung allein anhand ihrer Größenunterschiede vermuten (01:32).

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Abb. 21 & 22: Grada Kilomba, Illusions Vol. I, Narcissus and Echo, Video still, 2017 (mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin)

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Mit Fessehatzion, Kilomba und de Paiva zwischen sich und dem weißen Hintergrund steht Leo im Vordergrund des Bildes und blickt uns an. »In the Greek mythology narcissus was a hunter who was known for his beauty. It was said he had the most perfect body, the most perfect face, a perfect nose, perfect lips, the most perfect skin, the most perfect hair, he was a perfect being«, spricht Kilomba im Off, während alle sich langsam von hinten an Leo heranpirschen, dessen Blick zunächst ausdruckslos den der Betrachter*innen der Videoinstallation erwidert, bevor er sich zu den anderen herumdreht, während er weiterhin frontal ausgerichtet stehen bleibt (01:45). Nach einer raschen Überblendung (01:51) ist er von einer sich hinter Fessehatzion befindlichen Position aus zu sehen. Fessehatzion stellt ihm wie die anderen nach und friert einen Augenblick zu spät ein, wenn er seinen Blick auf sie richtet (01:52). Zunächst erinnert die Szene an ein Kinderspiel, das unter anderem unter dem Namen Ochs am Berg bekannt ist und bei dem jemand mit dem Rücken zur Gruppe steht, die sich von hinten anschleicht. Ruft die abgewandte Person dann »1, 2, 3, um!« und dreht sich schnell um, müssen alle verharren. Wird jemand gesehen, der sich zu diesem Zeitpunkt noch bewegt, muss die entsprechende Person zum Ausgangspunkt zurückkehren. In der Tat lächelt Leo die Frau an und gibt ihr ein Zeichen abzutreten, wenn sie nicht stillsteht, als er sie über seine Schulter hinweg ansieht (02:00). Während er seinen machtvoll fixierenden Blick auf sie wirft, hören wir Kilomba per Voice-Over weitererzählen: »He was a perfect being, loved by many, but Narcissus loved no one.« Die anderen tauchen erneut im Bild auf und sind von hinten zu sehen, wie sie Leo als Narziss verfolgen, der sie immer wieder erstarren lässt. »He enjoyed praise and attention, he attracted many lovers all of whom he briefly entertained before scorning and refusing them.« Fessehatzion, die zu spät in ihrer Bewegung verharrt, scheidet aus. »In his heights no one was worthy of him and his beauty.« Wieder eine Blende. Ein weiterer Perspektivwechsel aufseiten der Zuschauer*innen (02:32). Erneut sehen wir Narziss von vorne und drei Körper, die sich ihm vorsichtig von hinten nähern, diesmal jedoch in Großaufnahme und Zeitlupe. Jetzt wirkt Fessehatzion, die er plötzlich fokussiert, geradezu erschrocken. Durch das Montageprinzip von Schuss und Gegenschuss, dem dieser Teil der Videoinstallation folgt, ohne dass im Bild eine Begegnung stattfinden würde, ruft die Sequenz trotz ihrer humorvollen Leichtigkeit koloniale Kontexte, das Problem des double-consciousness von Weißen marginalisierter People of Color und die selbstbezügliche Subjektivität Europas auf.7 »Nemesis, the goddess of judgement, noticed his behavior and cursed Narcissus he should only love someone who could never love him back, …«, kommt aus dem Off. Fast unmerklich verschwimmen die Figuren in den weißen Hintergrund hinein, während Kilomba ihren Satz zu Ende führt: »… his own image.« Der Blick, den Narziss anderen Menschen zuwirft, erwartet keine Erwiderung. Er versteinert und verdinglicht, was Feuerbach im 19. Jahrhundert, als alle Welt von Europa auf sich selbst bezogen wurde, sinnliche Verhältnisse genannt hat.

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»It is a peculiar sensation, this double-consciousness, this sense of always looking at one’s self through the eyes of others, of measuring one’s soul by the tape of a world that looks on in amused contempt and pity«, heißt es hierzu in du Bois, The Souls of Black Folk, S. 5.

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Eine blasse römische II., die sich nur unmerklich vom Weiß abhebt, leitet die nächste Szene ein (02:53). Die Kamera zeigt Leo, der jetzt wieder einen karierten Hut und Lackschuhe trägt und in einer Bewegungsqualität, die zwischen Charlie Chaplin in Modern Times (1936) und Michael Jackson in Moonwalker (1988) angesiedelt ist, einen Solotanz präsentiert. »But the story of Narcissus cannot be told without the story of Echo.« Schnitt. Unendliches Weiß (03:05). Von rechts tritt Fessehatzion auf, geht in die Bildmitte und adressiert den Blick der Zuschauer*innen mit verzweifelt wirkenden Gesten, als würde sie einen Kampf um Anerkennung ausfechten wollen (ab 03:10). »In the Greek mythology Echo was a beautiful Nymph who lived on the mountain. Echo had a failing though, she was fond of talking and would always interrupt others or have the last word. She knew everything better.« Pantomimisch deutet die Schauspielerin Szenen aus einem Beziehungsstreit an, ist dabei jedoch im White Cube mit sich allein und wendet sich in verschiedene Richtungen des horizontlosen Raums, der sie umschließt. Niemand antwortet ihr. Mit niemandem kann sie sich ins Verhältnis setzen. Ihre an ein imaginiertes Du gerichtete Körpersprache ist in sich isoliert, ohne irgendwo auf Resonanz zu stoßen. In Kilombas Version des griechischen Mythos scheint es, als hätte Echo keine Stimme, schon bevor sie von Hera verflucht wird. »One day the goddess Hera was seeking her husband, Zeus, who she had reason to fear was amusing himself among the Nymphs. Hera became suspicious and followed him in an attempt to catch Zeus. However, Echo, trying to protect him, engaged Hera in a long, long conversation, interrupting her and speaking until the Nymphs made their escape, giving time to Zeus to evade her. When Hera realized it she cursed Echo not to speak again, removing her voice with the exception that she could only repeat the last few words she hears.« Wir sehen Fessehatzions Gesicht in Großaufnahme (ab 04:15). Sie spricht unentwegt, aber ohne Ton. Das Bild bleibt stumm, während Kilombas Stimme aus dem Off zu hören ist. »›Now go!‹, shouted Hera. Echo tried to plead for forgiveness but all she could say were the last words of Hera.« Das Gesicht verschwindet unvermittelt. Erneut ist alles weiß (04:44). »›Go, go, go!‹« Fessehatzion zeichnet sich wieder aus dem Weiß heraus ab (04:46). Nach wie vor gestikuliert sie fast wie in Panik. Sie ist seitlich nach links ausgerichtet. »Poor Echo, wandering through the forest alone, sad and desperate.« Die langsame Trommel setzt wieder ein (ab 04:54). Indem Hera Echo dazu verflucht, nur noch die Worte anderer wiederholen zu können, unterstützt sie indirekt den Solipsismus von Narziss und eine Subjektivität, die Fremd- zugunsten ausschließlicher Selbstbezüge kappt. Später zeichnet sich die Einblendung einer römischen III. ab (05:10). Wieder die leere Bank vor weißem Hintergrund und Kilombas ruhige Stimme aus dem Off: »Until one day she saw a beautiful, beautiful, beautiful man named Narcissus who was hunting in the woods.« Leo betritt in kariertem Anzug und mit kariertem Hut tänzelnden Schrittes von rechts das Bild und setzt sich (05:26). »Echo felt deeply in love with him.« Von vorne links tritt Fessehatzion in den White Cube (05:41) und nimmt mit etwas Abstand neben Leo auf der Bank Platz. »She contemplated him and she longed to tell him about her love but as she was unable to speak she could only follow his footsteps and waited in the woods, expecting the moment he would speak.«

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Abb. 23 & 24: Grada Kilomba, Illusions Vol. I, Narcissus and Echo, Video still, 2017 (mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin)

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Leo sitzt mit überkreuzten Beinen da. Seine Hände liegen auf den Knien. Fessehatzion wirkt eingeschüchtert. Beide schauen in die Kamera. »What Echo did not know was that Narcissus ignored those around him und disdained those who loved him.« Wieder eine Blende ins Weiß (06:04). Stille. Eine römische IV. (06:08). Leo, nach links ausgerichtet, tanzt slapstickartig am linken Bildrand. Sie eilt zu ihm und imitiert seine Schritte (ab 06:14). »In love, Echo longed to tell Narcissus about her deep affection.« Sie versucht mit ihm zu reden, aber er wendet sich ab. »So, she kept following him in the woods, hiding and waiting for the moment to speak to him.« Leo steht posend auf der rechten Bildseite (06:26). Fessehatzion stellt ein Stativ vor ihn (06:28) und versucht in das Mikrofon zu sprechen, das allerdings zu hoch angebracht ist für ihre Körpergröße (06:40). »As Echo was cursed by Hera, she had her voice removed and could only speak the last few words she hears.« Er schiebt die Ärmel seines T-Shirts nach oben und präsentiert dezent prahlend seinen Bizeps. Sie eilt mehrere Male aus dem Bild heraus und wieder in es hinein und platziert weitere Mikrofonstative in seiner Nähe. »So, Echo waited impatiently for Narcissus to speak first and had her answer ready in the hope of hearing his voice.« Als wolle sie einen Soundcheck machen, spricht Fessehatzion stumm in eines der Mikrofone, das sie aus einem Stativ herausgenommen hat (06:49). Von einem anderen vorne rechts baumelt ein zusammengerolltes Kabel herab und schwingt hin und her. Während Narziss seinen Slapstick-Tanz vollführt und uns daran erinnert, dass die Komik dieses Genres mit der Diskrepanz zwischen bestimmten Körperbildern und den konkreten Körpern, von denen sie produziert werden, zusammenhängt, versucht Echo vergeblich, ihn zu adressieren. Ein schneller Snare-Drum-Beat setzt ein, gefolgt von einem Becken (ab 06:52). Fessehatzion positioniert weitere Mikrofone. Leo posiert im White Cube wie auf einem Fotoshooting, bevor er mit dem Tanzen fortfährt. Die Lyrics des Songs Horizon Aflame (2011) des südafrikanischen Musikers Neo Muyanga werden von einer traurigen Männerstimme gesungen.8 Kurz umtänzeln Narziss und Echo einander (ab 07:35). Sie greift irgendwann nach einem Megafon, in das sie geräuschlos hineinruft (08:00), während ein Songtext zu hören ist, der von kolonialer Gewalt handelt, in deren Rahmen Subjektivitäten andere Subjektivitäten verschlucken. »I haven’t slept in my own skin, since I met you I have lost my will. A part of me is overtaken by shadows that brighten up the night. A side of you makes me begin wanting to own this love again. I don’t know how long I pretend not to notice you’re inside my dreams. You’re the song I want to sing, you’re the sunset, the horizon aflame, aflame.« Fessehatzion geht ab. Die Mikrofonstative bleiben in einer an die Anfangssequenz des Videoloops erinnernden Konstellation allein zurück. Während eine Orgel einsetzt, wird die Musik langsam ausgeblendet. Wieder ist alles weiß. Römisch V. (08:11) Eine Kamerafahrt lässt den regungslosen Leo im Profil von rechts das Bild betreten. Kilomba spricht mit eindringlicher Stimme im Off: »But Narcissus had also been cursed by the goddess

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In der Version von Narcissus and Echo auf der Biennale in São Paolo 2016 wurde an dieser Stelle der Song I Put A Spell on You (1956) von Screamin‹ Jay Hawkins eingespielt.

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Nemesis who attracted him to a lake with waters like silver blue.« Leo ist frontal in Großaufnahme zu sehen. Er trägt nun eine Brille und hat die Augen zunächst geschlossen, bevor er sie öffnet (08:26). Kurze Stille. Er blickt in die Kamera. »And there came Narcissus, heated and thirsty, followed by Echo.« Die Kamera fährt weiter nach rechts, sodass er links das Bild verlässt (ab 08:43). Der folgende Halbsatz wird vor leerem weißem Hintergrund gesprochen: »As he sat by the lake and leaned over the water to drink, suddenly …« Jetzt taucht de Paiva ebenso im Bild auf wie zuvor Leo, indem er in es hineinfährt (ab 08:50). »Suddenly he saw his own image, mirrored at the surface of the water.« Auch de Paiva kommt kurz mit geschlossenen Augen in Großaufnahme und bildmittig zum Stillstand (09:02). »Perfection, absolute perfection«, sagt Kilomba per Voice-Over. De Paiva öffnet die Augen (09:12). »He stood, gazing himself with admiration.« De Paiva schaut wie zuvor Leo direkt in die Kamera, als würde sogar der Blick der Zuschauer*innen ihn widerspiegeln. »This face, these lips, this nose, these eyes, this skin, this hair – so perfect, so beautiful.« Erneut fährt die Kamera weiter und de Paiva links aus dem Bild heraus (09:34). Indem Kilomba das Verhältnis zwischen Narziss und seinem Spiegelbild von einem Mann darstellen lässt, das zwischen ihm und den von ihm ausgeklammerten Mitmenschen in Gestalt von Echo jedoch von einer Frau, thematisiert sie Blick- und Machtverhältnisse auf den Ebenen sowohl von Race als auch von Gender. Wieder ist kurz nur Weiß zu sehen, dann eine frontal ausgerichtete Großaufnahme Leos, der nun neben der Brille auch wieder Hut trägt (ab 09:36). »Never before he had seen such a beautiful creature. The beauty was such that he thought it might be a water spirit living in the lake.« Leo nimmt die Brille ab, richtet seinen Hut zurecht und sieht uns an. »Narcissus fell in love, not realizing it was merely his own image.« Für einen fast unmerklichen Augenblick werden die Großaufnahmen Leos und de Paivas ineinandergeblendet (09:55), dann verwandelt sich Narziss in sein Spiegelbild. De Paiva trägt jetzt die Brille und den Hut Leos. Auch er nimmt die Brille ab. Den Hut richtet er in gleicher Weise wie zuvor Leo. »He fell in love with his image reflected on the water«, fährt Kilombas Erzählstimme fort. Als das Ebenbild von Narziss blickt de Paiva verführerisch in die Kamera, während sein Gesicht jetzt in das von Fessehatzion geblendet wird (10:09). »And Echo, who could not reach Narcissus with her own words, remained even in silence and was forced to see Narcissus falling in love with himself.« Erneut setzt das Trommelmotiv ein. Fessehatzion setzt sich den karierten Hut auf und schaut wie die beiden Männer vor ihr direkt in die Kamera, bevor sie im Weiß verschwindet (10:24). Römisch VI. (10:26). Von links tritt de Paiva auf, von rechts Leo (ab 10:32). Beide sind von der Seite zu sehen und gehen zunächst zur Bildmitte hin direkt aufeinander zu, bleiben dann jedoch in asynchroner Anordnung stehen – Leo etwas weiter am rechten Bildrand als de Paiva links. Weiterhin spricht Kilomba im Off: »Narcissus could not look away. He was fascinated, so he spoke to the image.« Die beiden heben synchron und wie in Zeitlupe zuerst nur ihre Unterarme, werden danach jedoch ihre Hände nacheinander ausstrecken (10:48). Im Folgenden führen sie gemeinsam unterschiedliche Bewegungen aus und dienen hierbei als Spiegel des jeweils anderen. Kilomba wechselt kurz von der Erzählstimme in die Rolle von Narziss – »›Who are you?‹« –, bevor sie das Narrativ weiterwebt. »Echo, given the opportunity, repeated his words: ›You! You! You!‹« Leo und de Paiva gehen langsam aufeinander zu. Dann verharren sie und fassen sich synchron wie erschrocken ins jeweils eigene Gesicht (11:02). »He spoke again: ›Why you, my beauty?‹

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And Echo replied. ›I have never seen such a beautiful creature‹, he said. ›You are beautiful, my love.‹ Echo repeated his words once again.« Leo und de Paiva streicheln jeweils von oben nach unten mit der Hand über ihre Oberkörper (ab 11:12). »›My love, my love, my love!‹« Die beiden Männer im Bild schauen sich an, während sie synchron gestikulieren und dann verharren. »Narcissus was now sure the image had spoken back to him.« Musik setzt ein. Erneut erklingt das Hauptthema des Songs Horizon Aflame (2011) von Muyanga (ab 11:26). Diesmal gibt es jedoch keine Snare Drum und kein Becken. Allein ein Klavier begleitet die nun noch melancholischer wirkenden Lyrics, die nach einer Wiederholung weiter gesungen werden als in der vorigen Einspielung des südafrikanischen Protestsongs. »When I’m with you I have no skin, my desire, like a pen, writes the words to all the secrets I have harbored«, ist am Ende zu hören. Sowohl der Song als auch das im Bild zu Sehende handeln von einer allzu starken Ich-Instanz, die sich so sehr ausdehnt, dass sie anderen Subjektivitäten keinen Platz lässt. Aus der Perspektive der Opfer klingt hier durch, was Europa bezüglich der Entmenschlichung und Versklavung anderer Menschen und an Epistemoziden zu verantworten hat. Nach der schnellen Überblendung zweier Bildsequenzen (11:31) und nachdem sie ein paar weitere Schritte gegangen sind, stehen Leo und de Paiva in der Bildmitte dicht voreinander. Leo fasst sich mit seinem linken Arm an den Hut (11:35). De Paiva wiederholt die Geste, obwohl er selbst keinen Hut trägt. Langsam bewegen beide synchron ihre linken Arme wieder nach unten, um auf halber Strecke parallel dazu ihre rechten Handflächen zu heben, aufeinander zuzubewegen und sich dann fast zu berühren (11:46). Danach strecken sie synchron ihre linken Arme nach hinten weg. Die Szene wirkt, als wäre Narziss darüber erschrocken, dass sein Ebenbild eine andere Position einnimmt als er und auf eine nicht mit ihm identische und ihm äußerliche Subjektivität verweist. Würde er die in der vorliegenden Arbeit problematisierte weiße Subjektform repräsentieren, zeigte das Zurückweichen von Narziss vor seinem Gegenüber im Moment der Begegnung deren Unfähigkeit an, sich anderem und anderen gegenüber zu öffnen, anstatt sie nur auf sich zu beziehen. Würde es dabei auch um zweite Personen und etwas gehen, das von dieser Subjektivität abfällt, wäre ein vom Ich nicht berührtes Du zwischen dem von Narziss abweichenden Spiegelbild und der größtenteils stumm am Rand stehenden Echo aufgespannt.9 Nach einer weiteren abrupten Blende (11:49) laufen die Bewegungen Leos und de Paivas auseinander. Rechts nimmt Leo schnell seinen Hut vom Kopf, während links de Paiva seinen Unterarm nur halb erhoben hat und wie ein Abbild wirkt, das von seinem Vorbild abfällt. Die beiden bewegen ihre Münder aufeinander zu, als wollten sie sich küssen. Eine schnelle Überblendung (11:55). Wieder mit etwas mehr Abstand zwischen sich bewegen die Männer kurz simultan und achsenverschoben ihren jeweils rechten und linken Arm. Erneut nimmt Narziss seinen Hut ab. Sein Gegenüber ahmt diese Bewegung langsamer nach, sodass sich eine zeitliche Verschiebung ergibt. Noch einmal nähert Leo sein Gesicht de Paiva wie zum Kuss.

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»Wer sich mit niemandem vereinigen möchte, muss sich mit sich selbst vereinigen«, schreibt Friedrich Balke unter mimetischen Gesichtspunkten über die Figur des Narziss bei Ovid. Ders., Mimesis zur Einführung, Hamburg: Junius, 2018, S. 46.

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Abb. 25 & 26: Grada Kilomba, Illusions Vol. I, Narcissus and Echo, Video still, 2017 (mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin)

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Diesmal berühren sich ihre Wangen und sie beginnen, mit ihren Gesichtern als Kontaktpunkt, ein an Contact Improvisation erinnerndes Duett, das ihre Bewegungen kurz aus der Spiegellogik hinausführt (ab 12:06). Als würde sich die weiße Subjektform in den Raum und andere Subjektivitäten darin ausbreiten, wird de Paiva bald von Leo durch den White Cube geführt. Gemächlich schaukeln die beiden mit gebeugten Knien und gesenkten Oberkörpern zuerst vor und zurück. Dann drehen sie sich um die gemeinsame Achse und legen ihre Hände wie beim Tango ineinander. Mit kreisendem Rumpf schwenken sie umher und positionieren sich seitlich zur Kamera, um ein paar angedeutete Tanzschritte nach rechts zu machen (ab 12:36). Den Hut halten sie in ihren ineinander gefalteten Händen, während sie sich in einem gemeinsamen Ausfallschritt nach vorne und wieder zurück beugen. Ihr Gang wirkt unbeholfen und so, als ob sie einen ihnen gemeinsamen Bewegungsfluss betreten, dabei aber scheitern. Während der Song Horizon Aflame (2011), in dem es um die verlorene eigene Haut, einen verlorenen Willen, Besitzergreifung und, mit Feuerbach gesprochen, einen in Flammen stehenden Horizont zwischen Ich und Du geht, weiterläuft, tanzen Leo und de Paiva in verschiedene Richtungen, drehen sich einmal um die eigene Achse (ab 13:03) und umschlingen sich noch inniger. Wie beim Tango scheint Leo als Narziss dabei die ›männliche‹ Führungsrolle zu übernehmen. De Paiva folgt dessen Impulsen. Mit der Zeit wirken die Schritte der beiden Männer gekonnter. Dann verharren sie kurz (13:23). Wie in Zeitlupe löst sich de Paiva von Leo, der regungslos einfriert. Wieder stehen sie sich gegenüber und führen, zeitlich zueinander verschoben, einfache, nun zunehmend asynchrone Bewegungsabläufe aus (ab 13:35). Blende ins Weiß (13:54). Römisch VII. (13:57). Die Musik hat ausgesetzt. Nochmals Leo und de Paiva von der Seite in der rechten Bildhälfte. Leos linke Hand berührt seinen Hut, de Paiva imitiert ihn, ohne selbst einen Hut zu tragen. Das Bild bleibt stumm, während Kilomba die Geschichte per Voice-Over weitererzählt: »He called again: ›Come to me, my love!‹« Die beiden Männer halten den Hut zwischen ihren ausgestreckten Armen, bevor sie ihn andächtig als Zentrum zwischen sich zu rotieren beginnen. Kurz wird der Hut zu einer Art Fetisch und erinnert an eine Kulturgeschichte, in deren Verlauf lange Zeit über nur weiße Männer mit Hüten als vollständige Menschen galten. »›My love! My love! My love!‹ Echo answered with her whole heart and the same words and rushed and ran to Narcissus.« Leo setzt de Paiva den Hut auf, der im Folgenden auch eine Krone sein könnte und auf Fragen der Identität verweist (14:15). »But narcissus, who thought the replies he heard came from the image on the water, looked at Echo with surprise and became furious.« De Paiva hat den Hut kurz in Händen gehalten, gedreht und setzt ihn nun seinerseits Leo auf den Kopf (14:31). »›Hands off!‹ he said. ›I would rather die than you should have me!‹ And turned his back on her.« Das Bild der beiden wird durch eine Großaufnahme von Fessehatzions Gesicht überblendet (14:34). Kurz schaut sie mit geschlossenen Augen in die Kamera, dann blickt sie die Betrachter*innen der Videoinstallation direkt an (14:37). »Humiliated, Echo left in despair. Her heart was broken.« Erneut schließt und öffnet die Frau im Bild ihre Augen. »She ran away to the mountains to hide in the recesses of the woods where she died.« Wie die beiden Männer in einer der vorangegangenen Sequenzen fährt sie daraufhin regungslos links aus dem Bild heraus (ab 14:49). »Her body became a stone and all that remained was a voice which still replies when others speak …« Das Bild ist kurz weiß (14:59).

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»The echo.« Jetzt sehen wir wieder Leo und de Paiva von der Seite, beide in Schwarz gekleidet, die den karierten Hut austauschen (ab 15:03). »Narcissus reached the lake again to see his love. He contemplated him and bent down his head to kiss him.« Noch einmal ein angedeutetes Duett, jedoch weicht de Paiva diesmal zurück (ab 15:13). »And as he did so, the reflection mimicked his actions and kissed him back.« Ein weiteres Mal wechselt der Hut seinen Besitzer (15:23). »Taking this as a sign of reciprocal love, Narcissus touched the water but suddenly … Suddenly the water displaced and the vision disappeared.« Jetzt flieht de Paiva rückwärts aus der Bildfläche links (ab 15:26). Leo bleibt allein zurück und hält seinen Hut in Händen, als wäre dieser die Ursache für das Verschwinden seines Gegenübers (15:27). »›Why, beautiful being? Why do you shun me?‹, he said. ›Surely my face is not one to repel you.‹« Nun tritt auch Leo links ab, während eine weitere Blende stattfindet, nach der er wieder vor de Paiva steht und seinen Hut austauscht (15:41). »›The Nymphs love me and you yourself … Look not indifferent upon me! When I stretch forth my arms, you do the same; and when I smile at you, you smile upon me.‹« De Paiva ist wieder rückwärts eilend abgetreten. Leo schaut ihm hinterher (15:53). »›Please, do not leave me! Please!‹« Langsamen Schrittes geht Leo auf den linken Bildrand zu, kollabiert jedoch, bevor er ihn erreicht (16:06). »Desperate for not having an answer and frightened to touch the water again and to see his love disappearing from the water surface, Narcissus laid still by the lake, gazing into his own image.« Leo liegt am Boden des White Cubes. Sein Kopf berührt den Rand des Bildes, in dem er sich vor indifferentem Hintergrund abzeichnet. Blende. Leo in Großaufnahme am Boden, sein Hut ist ihm entglitten (ab 16:14). »He did not move, he did not eat, he did not drink, he only suffered. Unable to leave his own reflection, Narcissus drowned in the lake. And on the very same place where he was last seen, a flower has grown, the narcissus.« Das Bild bleibt als Still-Image stehen, während Kilomba im Off weiterspricht: »It is said that Echo remained loyal to Narcissus and that her spirit visits him on the lake from time to time.« Blende (16:50). Leo, liegend, aus leicht verschobener Perspektive. Erneut setzt das Leitmotiv des Songs Horizon Aflame (2011) ein. Fessehatzion betritt das Bild von oben rechts. Zunächst sind nur ihre Beine und ein Teil des Oberkörpers zu sehen (17:10). Sie beugt sich zu ihm hinunter. Langsam und auf allen Vieren krabbelt sie auf ihn zu und legt ihre Hände auf seinen Rücken, um sich an ihn zu schmiegen (17:25). Während auf der Tonebene der Refrain erklingt und traurig das Problem von ersten und zweiten Personen besingt, legt sie sich neben ihn und etabliert so kurz das Bild einer stereotypen heterosexuellen Paarbeziehung (ab 17:32), bevor alles wieder ins Weiß geblendet wird (17:48). Die Musik verstummt. Römisch VIII. (17:53). Jetzt sehen wir bildmittig eine, ähnlich wie der Tisch und Stuhl von der Eingangssequenz des Videoloops aus Holz gefertigte schlichte Treppe mit Geländer von der Seite (17:57). Ihre Stufen führen von der rechten zur linken Bildseite hin nach oben. Per VoiceOver webt Kilomba die Erzählung fort und deutet bereits spätere Sequenzen an, die den einen, einzigen, einsamen Menschen des postkolonialen Anthropozäns ins Spiel bringen, der kein Gegenüber kennt, die ökologische Krise der Gegenwart zu verantworten hat und dessen weiße Matrix den gesamten Planeten überspannt. »Narcissus … Narcissus became a metaphor for someone who takes himself and his own body as the object of love.« Tänzelnd betritt Leo von rechts das Bild (18:06). Er trägt wieder einen karier-

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ten Anzug und Brille und spielt wie ein Chaplin des 21. Jahrhunderts in seinen Händen mit dem Hut. Kokettierend wendet er sich frontal der Kamera zu und breitet seine Arme aus, wenn er vor der Treppe angekommen ist (18:12). Mit folgenden Worten wechselt Kilomba, ein Hauptthema ihrer Arbeit episch demonstrierend, die semantischen Register in Richtung der Psychoanalyse: »Narcissism … Narcissism is the love directed towards the image of oneself.« Beschwingt geht Leo nach rechts und dreht uns bald den Rücken zu. »It is the excessive admiration of oneself’s appearance …« Er erklimmt die Stufen der Treppe (ab 18:27) und vollführt, oben angekommen, mechanisch anmutende Discoschritte in Schleife (ab 18:31), während Kilomba den griechischen Mythos interpretiert, indem sie ihn zunächst individualpsychologisch deutet: »And the incapacity to love or acknowledge others as objects of love.« De Paiva durchschreitet den White Cube von rechts nach links (ab 18:37). In seinem rechten Arm trägt er eine große Tragetasche, welche das gleiche Muster aufweist wie der Anzug und der Hut Leos. Leo schaut ihm aus den Augenwinkeln nach, während Kilomba ihre Lesart des Narrativs aus Schwarzer Perspektive um eine weitere Facette bereichert. Jetzt geht es um mehr als individuelle Persönlichkeitsstörungen. Im Anschluss an Fanon ist zu hören: »Narcissistic … Narcissistic is this white patriarchal society, in which we all live, that is fixated in itself and in the reproduction of its own image, making all the others invisible.« Obwohl Kilomba hier von People of Color in rassistisch organisierten und weiß dominierten Gesellschaften spricht, lassen sich diese ebenso wie ihre folgenden Worte ebenfalls auf subjektivitätstheoretischer Ebene und im Hinblick auf das solipsistische Bewusstsein der europäischen Moderne verstehen: Narziss repräsentiert dann einen Menschen, der sich über andere Menschen erhebt, indem er sie inferiorisiert, um sich slapstickhaft selbst zu bestimmen. Diese Selbstbestimmung auf Kosten anderer ist hier, den Gesetzen des Genres nach, zum Scheitern verurteilt: Von links betritt Fessehatzion den Bildraum (18:48). Auch sie trägt eine große karierte Tasche, geht auf die Treppe zu und bleibt, auf Leo nach oben gerichtet, vor deren unterer Spitze stehen. De Paiva kehrt zurück, wie Fessehatzion mit Tragetasche, und positioniert sich hinter ihr (19:03). Er schaut ebenfalls zu Leo herauf, der nach wie vor auf der Stelle tritt, als würde er nur leicht das Tempo des Aufsetzens und Abhebens seiner Füße vom Boden variieren. »I … I am surrounded by images which do not mirror my body.« Kilomba gesellt sich zu den anderen beiden (19:08). Die Tüten rufen massenmediale Bilder von Menschen auf der Flucht an nationalstaatlichen Grenzen und die weiße Hierarchie zwischen color lines wach. »I enter libraries, theatres, museums, galleries, cinemas, universities – always to find myself surrounded by the reflected image of whiteness, always gazing itself and reproducing itself as the ideal object of love.« Fessehatzion, de Paiva und Kilomba wenden sich von Leo ab und einander zu (19:33). »As Fanon wrote …« Die Szene verschwindet vollkommen im Weiß (19:37), während Kilomba im Off flüsternd den anti-kolonialen Psychiater zitiert: »›All this whiteness that burns me.‹«

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Abb. 27 & 28: Grada Kilomba, Illusions Vol. I, Narcissus and Echo, Video still, 2017 (mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin)

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An diesem Punkt stellt sich vermittels des Motivs des Verbrennens bei Fanon eine Verbindung zu dem Song Horizon Aflame (2011) von Muyanga her, in dem ein verzehrendes Feuer den Horizont bildet, der zweite von ersten Person trennt, während sie ihre Haut verlieren. Bei all dem schwingt die Gewalt mit, die ausgeübt wurde, als manche Menschen anderen Menschen ihre Menschlichkeit absprachen, während sie sich als IchInstanz instituierten, indem sie sinnliche Verhältnisse kappten, Umwelten in Plantagen verwandelten und Mitmenschen als Sklav*innen über den Atlantik hinweg verschleppten. Narziss erscheint in Kilombas Arbeit als im Sinne Feuerbachs christlich geprägter Mensch. Er ist in seinem Gemüt gefangen und reißt andere Menschen an sich, während er sich als freies Individuum behauptet. Römisch IX. (19:43). Durch eine Blende kehrt Leo ins Bild zurück. Er steht noch immer auf dem oberen Treppenabsatz und balanciert jetzt an dessen Rand, als hätte er Angst, herunterzufallen (ab 19:46). Wenn er heftig mit den Armen zu rudern beginnt, schwankt die gesamte Konstruktion unter ihm. »There is an illusion, a disruption … A disruption between reality and its mirrored image, an optical disruption, because the images I see do not reflect the society in which I live.« Langsamen Schrittes steigt Leo von links nach rechts die Treppenstufen herab, deren letzte er überspringt (20:08). »A political disruption because the society in which I live is not reflected on the images I see.« Obwohl Kilomba hier als Schwarze Frau über die rassistischen Strukturen weißer Dominanzgesellschaften spricht, erzählt sie mehr als die Geschichte von color lines. Sie erzählt auch die Gewaltgeschichte dessen, was in den folgenden Kapiteln weiterhin weiße Subjektform genannt und an der Figur des Individuums festgemacht wird, das die Welt zur Widerspiegelung seiner selbst macht. Entlang griechischer Mythen webt sie die Geschichte einer Subjektivität, die sich in der Zeit eines Weltbildes eingerichtet hat, das von weißen europäischen Männern erfunden und kolonial globalisiert wurde. Nun versucht Leo, in einem erneuten slapstickhaften Moment, der das Bild, welches Narziss von sich selbst hat, hinter einen konkreten Körper zurücktreten lässt, das Treppenkonstrukt zu verschieben, indem er sich mit aller Kraft dagegenstemmt. Allerdings bewegt sich die Treppe um keinen Millimeter, während seine Füße auf dem Untergrund ausrutschen (ab 20:12). »There is a disruption between object and reflection.« Leo hat sich erhoben. Plötzlich bewegt sich die Treppe doch, als er sie nur kurz mit dem Fuß antippt (20:18). Nach einer schnellen Blende steht er vor der Konstruktion und blickt seitlich in die Kamera, bevor er die Stufen noch einmal hinaufsteigt, um, oben angekommen, in einer Bewegungsschleife zu verharren. Weiterhin fixiert sein Blick die Kamera und wirft so den Blick der Zuschauer*innen zurück. Überhaupt ist unser Blick Teil der Szenerie, da wir es sind, denen Narziss sich als alleinigem Gegenüber zuwendet, wenn er sich von den anderen Menschen im Bild abwendet. Vor diesem Hintergrund ist die White-Cube-Ästhetik aller drei Teile von A World of Illusions (2019) besonders bedeutsam, da die Arbeit bisher vor allem in Ausstellungsräumen gezeigt wurde, die nicht nur weiße Wände haben, sondern auch als Institutionen weiß sind. Wenn O’Doherty mit Hegel im Hintergrund davon ausgeht, dass das Museum als White Cube alles in ihm Ausgestellte in sich aufhebe, lässt dies bezüglich Narcissus and Echo (2016) nicht nur an Mudimbes Kritik an der europäischen Kolonialbibliothek denken, sondern verweist zusätzlich auf die Kreuzung unserer Blicke in einer kolonialgeschichtlich bedingten weißen Matrix, von der die Beschaffenheit unserer sinnlichen

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Verhältnisse zueinander und unsere Subjektivitäten nicht ablösbar sind: »A profound narcissism that seems to reduce the world into the reflected image of whiteness.« Erneut setzt der seichte Trommelrhythmus ein, der schon mehrere Male zu hören war (ab 20:30). Blende. Unendlich weites Weiß (20:39). Das Trommeln setzt sich kurz fort. Römisch X. (20:44). Noch immer tritt Leo als Narziss auf dem oberen Treppenabsatz auf der Stelle, während Fessehatzion von vorne links den Raum betritt. In ihren Händen hält sie einen Gegenstand, der sich bald als Torte herausstellt. Sie positioniert sich, frontal zur Kamera hin ausgerichtet, links neben Leo (20:53). »Within such narcissism, marginalized people hardly find images, symbols or vocabulary to narrate their own history or to name their own trauma.« De Paiva hat ebenfalls das Bild betreten und stellt sich neben die Frau (21:00). Auch er hält einen Gegenstand in seinen Händen. Jetzt erscheint Kilomba, die einen Teller mit weißen Blumenblüten mitbringt (21:08). »Because in the dominant narratives we are constructed not only as the other but also as otherness.« Erneut geht es um mehr als marginalisierte Gruppen in weißen Dominanzgesellschaften. Mindestens ebenso wie ausgeschlossene People of Color behandelt und markiert die Szene anhand der Figur von Narziss weiße Männlichkeit, die niemandem begegnet und eine Subjektivität darstellt, die Feuerbach, mehrere Jahrzehnte vor Europas gegen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzendem ›Wettlauf um Afrika‹, indirekt kritisiert. Mit anderen Mitteln als Feuerbach wendet sich Kilomba gegen eine Subjektivität, deren historische Genese Mignolo anhand der Theo-, Ego- und Organopolitik schildert und mit situierten Körpern kontrastiert.10 Sie thematisiert und markiert eine Subjektivität, die einverleibend ausverleibt, wovon sie abhängt. Leo unterbricht den mechanischen Bewegungsablauf und wendet seinen Körper der Kamera zu (21:16). »The personification of what the society does not want to be like.« Er zieht seinen Hut und verbeugt sich kurz und fast unterwürfig in Richtung des Publikums (21:20). »This allows whiteness to construct itself as the norm, as the normality, as the synonym of humanity.« Nach einer weiteren Blende sehen wir Fessehatzion von schräg hinten (ab 21:34). Sie trägt nun weiße Kleidung sowie ein hochgewickeltes weißes Kopftuch und sitzt auf dem Boden an einem von einer weißen Decke bedeckten niedrigen Tisch, neben dem sich weiße Teller befinden. Von oben schauen wir auf sie herab. Die Szenerie erinnert an europäische Darstellungen Afrikas Afrikas, wie sie spätestens seit den 1880er Jahren verbreitet waren.11 Im Hintergrund befindet sich, nahezu unsichtbar, ein weiterer Teller. Das gesamte Bild hebt sich gerade so aus einem Hintergrund heraus, mit dem es gleichsam fast verschmilzt. Allein das Gelb und Grün der Früchte auf dem Tisch stechen hervor. »It seems the white subject is somehow divided within itself, for it develops two attitudes towards reality.« Fessehatzion durchschneidet eine Honigmelone (ab 21:38). Wenn

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»[K]nowledge begins with the senses. That is why geo- and body-politics of knowing and sensing is so foundational in decolonial thinking. In this epistemology you are where you think, thinking makes you, rather than the other way around, while in Cartesian epistemology it is assumed that thinking is beyond body- and above geo-historical constraint; indeed, this is the main principle of zero point epistemology«, heißt es in Mignolo, The Darker Side of Western Modernity, S. 203. Vgl. auch ders., Epistemischer Ungehorsam. Vgl. hierzu exemplarisch Norbert Aas und Werena Rosenke, Kolonialgeschichte im Familienalbum. Frühe Fotos aus der Kolonie Deutsch-Ostafrika, Münster: Unrast, 1992.

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der White Cube hier wie Narziss als grenzenloses Selbst erscheint, das keinem wirklichen Gegenüber begegnet, dann zeigt sich weiße Subjektivität an dieser Stelle auch in der Weise, wie das horizontlose Weiß die Szene nahezu verschluckt. »The good parts of the ego I experience as being the self and the bad parts are projected onto the others and experienced as external objects.« Die Frau im Bild hat sich eine lange gelbe Kette über die Schulter gelegt und erhebt sich vom Tisch (21:58). »The black body becomes then the external object that embodies what the white society has made taboo, aggression and sexuality.« Sie nimmt den Früchteteller vom Tisch und platziert ihn neben dem anderen Teller im Hintergrund, in dem er fast verschwindet (22:12). »We become then the threatening, the aggressive, the problematic, the chaotic, the dirty, but also the desirable, the exciting, and the exotic.« Vorne rechts verlässt sie das Bild (22:27). »We become what we are not.« Blende ins Weiß (22:30). Römisch XI. Wieder sitzen alle vier Darsteller*innen der Videoinstallation mittig auf der Bank und schauen in die Kamera (ab 22:35). Obwohl Fessehatzions Körper seitlich ausgerichtet ist, blickt auch sie uns an, während sie ihre Arme nach vorne wegstreckt. »Sometimes … Sometimes I feel that I live in a space of timelessness, in an empty space. A space where time seems not to exist«, heißt es im Off. Kilomba erhebt sich von der Bank und verlässt die Szene (22:51). Ihr Platz wird von der anderen Frau eingenommen, worauf de Paiva nach rechts von ihr wegrückt (23:00). Die folgenden Rearrangements der Szene problematisieren das Zusammensein mehrerer Menschen und die von Ein- und Ausschlüssen gekennzeichneten Dynamiken, aus denen das postkoloniale Anthropozän als ebenso ökologische wie politische Krise hervorgegangen ist.12 »I feel that I live in a space where the past interrupts my present and where the present is experienced as if I was in the past.« Auch Leo dreht sich nun von Fessehatzion weg und schaut in Richtung des linken Bildrandes (23:05). Fessehatzion rückt nach rechts und setzt sich neben de Paiva (23:07), der abweisend auf sie reagiert. »I live in a space of timelessness, an empty space, a white space, a white infinity, a white cube that presents itself as absence of color and of meaning«, hören wir Kilomba per VoiceOver sagen. Jetzt erhebt sich Fessehatzion (23:13). Als Kilomba ins Bild zurückkehrt, wird alles wieder weiß (23:16). Scheinbar aus dem Weiß heraus sprechend, fährt sie fort: »But white is not the absence of color but the sum of all colors. It is the accumulation of all possible colors.« Die Bank kehrt aus der planen Fläche heraus zurück (23:37). »In fact, blackness is the absence of color. An interesting metaphor, isn’t it?« Alle gehen im Bild auf und ab, tauschen ihre Positionen auf der Bank und den karierten Hut, rücken voneinander ab und aufeinander zu, als würden sie eine Konstellation von sehr viel mehr als nur vier Menschen bilden, die nicht zusammenkommen können.

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»Even more important, we are forced to acknowledge the fact that we can escape the grip of racism only by creating richer alternatives addressed to the common human hunger for groupness. For that campaign to succeed, more complex and compelling ecologies of belonging will be required. There are further echoes of Fanon’s exhortation to establish a new humanism here«, fordert Gilroy im Rahmen seiner Tanner Lectures on Human Values (2014). Ders., Lecture II. Humanities and a New Humanism, https://tannerlectures.utah.edu/_resources/documents/a-to-z/g/Gilro y%20manuscript%20PDF.pdf, Zugriff am 26.5.202, S. 52.

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Abb. 29 & 30: Grada Kilomba, Illusions Vol. I, Narcissus and Echo, Video still, 2017 (mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin)

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»Blackness is always seen but absent.« Fessehatzion setzt Kilomba den karierten Hut auf und verlässt den Raum (23:50). »Whiteness is never seen but always present, present in all spaces, it is an absent center.« Leo, der breitbeinig auf der Bank links sitzt und in die Kamera blickt, bleibt mit Kilomba allein zurück, die den Zuschauer*innen ihren Rücken zukehrt (ab 23:57). Sie legt den Hut auf der Bank ab (24:02). »It is at the center of everything«, fügt ihre körperlose Stimme dem hinzu und markiert damit eine Subjektivität, über die in den folgenden Kapiteln noch mehr zu sagen sein wird. Beide gehen ab – er rückwärts nach links, sie vorwärts nach rechts (ab 24:04). »But the centrality is not seen as relevant.« Die Bank bleibt mit dem darauf liegenden Hut allein zurück (24:07). Wieder plakativ wie in einem von Brecht verfassten Lehrstück folgt darauf: »We live in a white cube that presents itself as unmarked, unseen, absent, …« Jetzt wird auch die Bank ausgeblendet. Zurück bleibt zum wiederholten Male nur noch strahlendes Weiß (24:18). »Neutral«, führt Kilomba ihren Satz zu Ende. Römisch XII. (24:24). Noch einmal die jetzt leere Bank (ab 24:27). »But, as I said, we cannot talk about Narcissus without talking about Echo.« Leo schreitet tänzelnd von rechts ins Bild und lässt sich auf der Bank nieder (24:40). Er trägt den karierten Anzug mit Hut aus den vorigen Sequenzen, überkreuzt seine Beine und schaut uns an. »Who is Echo? Echo … Echo is the white consensus. She’s the one who repeats and confirms the words of Narcissus.« Von links kehrt Fessehatzion ins Bild zurück und setzt sich neben Leo (24:59). »She follows him, silently, and each moment of her silence supports Narcissus’ sentences.« Beide schauen frontal in die Kamera, wobei ihre Körperhaltung sehr viel weniger Raum einnimmt als seine und ihren ihm gegenüber geanderten Status weniger als Subjekt denn vielmehr als Objekt manifestiert. Echo erscheint als Peripherie einer Welt, die in Narziss zentriert und die Widerspiegelung einer sich absolut setzenden Subjektivität ist, die mit der Unendlichkeit eines weißen Raumes und einer weißen Zeit verschmilzt. »Echo is the character that innocently duplicates Narcissus’ words, claiming not having to know.« Überblendung zur Treppe, deren Stufen Fessehatzion jetzt heraufsteigt (ab 25:18). »Knowing but not having to know is a privilege that not all of us have.« Die Trommelmusik kehrt wieder (25:26), während Fessehatzion am oberen Rand der Treppe steht, den Teller mit der Torte in ihren Händen hält und nach links in die Ferne schaut. De Paiva folgt ihr nach (ab 25:30), dann Kilomba (ab 25:42). Alle halten unterschiedliche Gegenstände in ihren Händen, als sie hintereinander und in verschiedenen Höhen zum Stehen kommen, als wollten sie die Spitze, auf der Narziss sich befindet, durch dessen Nachahmung ebenfalls erreichen. Sobald sie sich synchron der Kamera zuwenden, wird das Bild ausgeblendet (25:54). Jetzt steht Leo wieder allein auf dem oberen Treppenabsatz (ab 25:58). Während der Rhythmus der Trommel treibender wird, Fessehatzion von links das Bild betritt und ein Mikrofonstativ mit aufgerolltem und daran befestigtem XLR-Kabel links neben der Treppe und sich dahinter positioniert (26:13), verfällt er erneut in den mechanischen Discoschritt voriger Sequenzen. Sie schaut frontal in die Kamera und hält dabei das Mikrofon, als wolle sie eine Rede halten (26:16). De Paiva betritt mit einem weiteren Stativ den Raum und positioniert sich in gleicher Weise wie sie links neben ihr (26:22). Beide halten die Mikrofone, als würden sie hineinsprechen. Jetzt gesellt sich Kilomba mit einem dritten Stativ zu ihnen (26:30). Die Trommel ertönt weiter, als Leo wieder seinen Hut vom Kopf nimmt und sich nochmals untertänig in Richtung der Zuschauer*innen verbeugt (26:49).

Zweite Szene des Menschen

Darauf erhebt Kilomba, die ganz links im Bild steht, wie auf einer Protestkundgebung ihren Arm und richtet eine geballte Faust nach oben (26:57). Nach einer schnellen Blende (27:04) ist sie hinter dem Mikrofonstativ verschwunden, taucht jedoch von links mit einem Megafon in ihrer Hand erneut auf (27:05). Die anderen beiden schauen in ihre Richtung, während Leo, ebenfalls ihr zugewandt, ins Stocken gerät und die Treppe nach rechts herabsteigt. Die Szene erinnert an eine Demonstration, wenn darauf alle stumm durcheinanderrufen und auch Leo auf den Treppenstufen wieder beschwingt zu tanzen beginnt. Es scheint, als würde sich der Protest der anderen gegen ihn richten. »Well, it is not only that one does not know but that one has the power not having to know.« Fäuste werden in Leos Richtung gereckt. Aus erhöhter Position verbeugt er sich zu den anderen unter ihm, als würde er sich nach einer Aufführung für den Applaus des Publikums bedanken (27:34). »We could call this a double ignorance. One does not know and one does not have to know.« Frontal ausgerichtet marschiert Leo auf dem oberen Treppenabsatz auf der Stelle. Sein Bewegungsablauf wirkt clownesk. »Or a triple ignorance. One does not know, one does not have to know and actually one should not know.« Er tanzt auf der Stelle (ab 27:40). »A multiple layer of ignorances.« Sein Tanz wird ekstatischer. »It remains then a simple question, which role do we choose to have.« Die anderen gehen freudig umher, während er die Treppe verlässt und sich ihnen zugesellt (28:04). »The role of Narcissus not to know, the role of Echo not wanting to know, the obedience that we should not know or knowing what we since long know.« Während Kilomba diesen Satz spricht, sehen wir erst kurz Weiß (28:07), darauf eine römische XIV. (28:08) und schließlich wieder sie als epische Erzählerin auf dem Holzstuhl neben dem Tisch mit dem Manuskript und von Mikrofonen umgeben, wie in der Eingangssequenz des Videoloops (ab 28:11). »So, I finish with the exact same words I began with. I was invited to come here today but I feel that there is nothing new I can say. I do often have the feeling that everything was already said and I often feel that we all know everything already, we just tend to forget it«, wiederholt sie entgegen ihrer Ansage in leicht variierter Form den Text vom Anfang. Wieder hält sie eines der Mikrofone vor sich, während die anderen sie wie ein Wald umgeben. Dann erhebt sie sich und verlässt den White Cube (ab 28:49). Dieser bleibt, nachdem das Arrangement an Gegenständen ausgeblendet wurde, allein zurück, strahlend und weit (28:54). Dann setzen die Credits ein. Der Videoloop schließt sich, begleitet vom Motiv der Trommeln, bevor er von vorne beginnt. Bereits in einem früheren Aufsatz mit dem Titel No Mask (2005) beschäftigt sich Kilomba, die in ihrer Heimatstadt Lissabon als klinische Psychologin arbeitete, bevor sie zunächst als Autorin und dann als Theatermacherin und Bildende Künstlerin tätig wurde, mit der historischen wie gegenwärtigen Unterdrückung Schwarzer durch weiße Menschen und der rassistischen Praxis, anderen Menschen das Menschsein abzusprechen. Um Sklav*innen am Sprechen zu hindern, war es während des Kolonialismus auf verschiedenen Kontinenten lange Zeit üblich, sie zu knebeln. »Another aspect of the fastened mouth is its link with muteness. The mouth symbolizes speech and enunciation, and therefore, it must be severely confined. What

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could the Black subject say, if her or his mouth were not sealed? And what would the white subject have to listen to?«13 Die psychoanalytischen Anklänge, die auch in den anderen beiden Teilen der IllusionsTrilogie, Oedipus (2018) und Antigone (2019), mitschwingen, sind unverkennbar. Daneben läuft jedoch ein Kontext mit, den der Autor dieser Arbeit am postkolonialen Anthropozän festmacht. Gerade Narcissus and Echo (2016) handelt von den gewaltsamen Ausschlüssen vom Menschsein und dem damit verbundenen Kappen ökologischer Zusammenhänge zwischen mehr als nur einem Menschen, von denen die in der Provinz von Europa geborene Weise des Menschseins und die Figur des Individuums, ohne die moderne Nationalstaaten nicht denkbar wären, geprägt sind. Ebenso geprägt sind sie von einer Subjektivität, die Feuerbach an einem spezifischen Ort und während des deutschen Vormärz anhand seiner Konstellierung von Ich und Du mit etwas ihr Äußerlichem konfrontieren will. Als ausgebildete klinische Psychologin hat sich Kilomba jahrelang mit den Schriften Fanons auseinandergesetzt, dessen Spuren in Gestalt der Frage nach zukünftig zu etablierenden mitmenschlichen Verhältnissen sich neben No Mask (2005) auch in ihrem Buch Plantation Memories (2008) finden. Dort schreibt sie unter Bezug auf Fanon über die Situiertheit der Psychoanalyse, »that the Oedipus complex is virtually a Western phenomenon. A colonized black family does not mirror the colonizing nation; the Oedipus struggle does not allow the black child to gain power in a colonial society commanded by white subjects.«14 In der Tat geht Oedipus (2018), der zweite Teil ihrer Trilogie, diesem Problem nach. Bezüglich des von Kilomba als weiblichem Griot versammelten narrativen Gewebes verschont auch ihre Antigone (2019) europäische Subjektivität nicht von einer dekolonialen Kritik.15 Hier kann nur vermutet werden, dass deren Lesart aus Schwarzer Perspektive vielleicht sichtbar macht, inwiefern weitere Motive und Figuren des griechischen Theaters, obwohl sie historisch vor dem Christentum angesiedelt sind, bereits von der Logik der weißen Subjektform heimgesucht werden.

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Grada Kilomba, No Mask, in: dies., Susan Arndt, Maureen Maisha Eggers und Peggy Piesche (Hg.), »Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland«, Münster: Unrast, 2017, S. 81. Dies., Plantation Memories, S. 86. Zur Frage nach Identität und Ausschluss im Theater der griechischen Antike liegen eine Reihe von Arbeiten vor, die der deutschen Theaterwissenschaft in jüngerer Zeit wichtige neue Wege eröffnet haben und mit unterschiedlichen Akzentuierungen gemeinsam haben, eine Privilegierung von Protagonist*innen aus der Sicht des Chores infrage zu stellen. Obwohl sie sich nicht mit kolonialgeschichtlichen Themen befassen, problematisieren sie wie die vorliegende Arbeit eine ökologische Krise. Vgl. hierzu Jörn Etzold, Gegend am Aetna. Hölderlins Theater der Zukunft, München: Fink, 2019, Sebastian Kirsch, Chor-Denken. Sorge, Wahrheit, Technik, München: Fink, 2020 sowie Ulrike Haß, Kraftfeld Chor, Berlin: Theater der Zeit, 2020.

»[T]he projection of a new mode of extra-human agency represented as directly authoring our present ethno-class or descriptive statement of the human, Man, not only enables Man’s over-representation as if it were the human itself, but also the over-representation of our present hegemonic imperative of securing the well being, security and overall interests of Man, as if it were that of securing the well being, security and overall interests of the human species itself … [This projection] leads to the following conclusion. This is that there can be no alternative to the capitalist mode of economic production as the only mode of economic production able to provide the material conditions of existence both for our present mode of the human (which over-represents itself as if it were the human itself), and for the stable production and reproduction of our present Western-bourgeois social order or ›nature-culture collective‹, in whose now globally extended interrelationship field, Man can alone realize itself as an economically defined mode of being. As a mode of being whose optimal referent nation-state worlds are logically those of the G7 rich, and so-called ›developed countries‹, as contrasted with the poor and so-called ›underdeveloped‹ countries; at the same time as its optimal referent subjects are the now increasingly incorporated global middle classes, to which as academics we all belong.«

– Sylvia Wynter (2002)

3. Gesellschaftliche Verhältnisse: Feuerbach, Marx, Engels und Foucault

Diese Schrift will sowohl mit als auch gegen Marx, Engels und Foucault argumentieren. Mit ihnen denkt sie, weil sie ihnen Recht gibt, dass Feuerbachs Ausführungen zum Menschen als Gattungswesen nur innerhalb von Beziehungen der Produktion, der Macht und des Wissens stattfinden konnten, die historisch zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert verortet sind. »Marx and Foucault present us […] with certain outlooks concerning the production of humans (of ›subjects‹) and of society in the conditions of modernity«1 , stimmt sie Jacques Bidet zu. Als solcher ist der Mensch Quijano zufolge von »Kontrollformen über die Subjektivität«2 und der »Herrschaft des bürgerlichen Europa«3 , also von der Entfaltung des Kapitalismus und seinem Dasein als Bürger*in von Nationalstaaten ebenso schwer ablösbar wie von einer Konstellation, die von Foucault treffend als Biopolitik analysiert wurde.4 Césaire stellt bereits in Über den Kolonialismus (1950) fest: »Von

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Jacques Bidet, Foucault with Marx, London: Zed Books, 2016, S. 187. Die Historizität seiner Forschungen zur Genese der Subjektivität des modernen Menschen aus dem Geist der monotheistischen Religion wurde von Feuerbach selbst explizit hervorgehoben: »Aber es ist anmaßend, die Bedürfnisse des Herzens, aus denen die christlichen Vorstellungen der Trinität, des Himmels, des persönlichen Gottes entsprungen, von der Geschichte abzusondern, sie als unzeitliche, übergeschichtliche Bedürfnisse hinzustellen, d.h. das christliche Gemüt zu dem universalen, schlechthin absoluten Wesen zu machen, dem alle Zeiten und Menschen ohne Unterschied Untertan sein sollen. Auch die Bedürfnisse des Gemüts gehorchen, wie gesagt, der Macht der Zeit«, schreibt er über Das Wesen des Christentums (1841). Ders., Beleuchtung der in den Theologischen Studien und Kritiken enthaltenen Rezension meiner Schrift ›Das Wesen des Christentums‹, S. 170f. Aníbal Quijano, Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika, Wien: Turia + Kant, 2016, S. 42. Ebd., S. 63. Foucaults ambivalentes Verhältnis zur marxistischen Schule ist bekannt. Trotz seiner teilweise hervorbrechenden Polemik gegen manche von dessen Schüler*innen klingt dennoch immer wieder eine Verbundenheit gegenüber Marx durch, etwa, wenn er in einem 1973 an der Katholischen Universität von Rio de Janeiro gehaltenen Vortrag den Begriff der Arbeitszeit verwendet: »Die Zeit der Menschen muss dem Produktionsapparat zur Verfügung stehen; der Produktionsapparat muss die Lebenszeit der Menschen nutzen können. Mit diesem Ziel und in dieser Form wird Kontrolle ausgeübt. Zwei Dinge sind für die Entstehung der industriellen Gesellschaft erforderlich. Einerseits

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

den einst von der Bourgeoisie erfundenen und über die ganze Welt verbreiteten Werten ist der eine der des Menschen und des Humanismus – wir haben gesehen, was daraus geworden ist –, und der andere ist der der Nation.«5 Homi K. Bhabha wiederum hat deren Aporien in DissemiNation in einem dekonstruktiv geschulten Gestus skizziert: »Die spätere Phase der modernen Nation, welche Mitte des 19. Jahrhunderts begann, ist auch eine der am durchgängigsten von Massenmigration im Westen und kolonialer Expansion im Osten geprägten Perioden.«6 Feuerbachs zeitgleich entwickeltes Konzept des menschlichen Gattungswesens stellt nicht nur eine implizite Kritik an der in Europa geborenen weißen Subjektform dar, es ist auch eng mit der westlichen Moderne verwoben. Sein historischer Ort ist eine Zeit, deren Probleme und Widersprüche bis in die Gegenwart wirksam sind. Trotzdem wird hier gegen die Reduzierung von Feuerbachs ›Humanismus‹ auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die ihn zuallererst in der Provinz von Europa hervorbrachten, argumentiert, weil dessen Emphase menschlicher Sinnlichkeit einer postkolonialen Kritik am europäischen Verständnis des Menschen etwas hinzufügt, das sie bereichern könnte. Peter Hallwards von Badiou geprägte Unterscheidung zwischen Spezifiziertem und Spezifischem ist in diesem Kontext hilfreich: »[W]e are always specific to but not specified by our situation, at the apparent limit of that relation whereby the actions of any complex organism are specific to its environment but not determined by it. […] The specific does not pre-exist its distance from the specified, it is itself the ›distancing‹ as such.«7 Feuerbachs Mensch als Subjektivierungsweise mehrerer Menschen wäre so gesehen eine pluriversalisierende Bewegung des Besonderen weg von der abstrakten Allgemeinheit der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen es sich befindet.8 Dies wäre der Pluriver-

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muss die Zeit der Menschen auf den Markt gebracht und denen angeboten werden, die sie durch die Zahlung eines Lohns kaufen möchten; andererseits muss die Zeit der Menschen in Arbeitszeit umgewandelt werden.« Ders., Die Wahrheit und die juristischen Formen, in: ders., »Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 2 (1970–1975)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002, S. 759. Hartman geht in ihrer Rückführung des modernen Bürgertums und seiner ›freien‹ Individuen auf das System der Sklaverei noch weiter, wenn sie schreibt: »The discourse of citizenship presupposed a masculinist subject on which to drape the attendant rights and privileges of liberty and equality, thus explaining why the transition from slavery to freedom was usually and quite aptly narrated as the journey from chattel to man. […] Chattel becomes man through the ascension to the hallowed realm of the self-possessed.« Dies., Scenes of Subjection, S. 123. Césaire, Über den Kolonialismus, S. 83. Homi K. Bhabha, DissemiNation. Zeit, narrative Geschichte und die Ränder der modernen Nation, in: ders., »Die Verortung der Kultur«, Tübingen: Stauffenburg, 2011, S. 208. Vgl. hierzu auch Étienne Balibar und Immanuel Wallerstein, Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg: Argument, 1990. Kilomba merkt zum Problem der Nation an: »It is the presence of non-nationals in the nation, the non-We in the We space, that makes the nation ugly, disfiguring it, infecting it, dirtying it.« Dies., Plantation Memories, S. 111. Hallward, Absolutely Postcolonial, S. 49. Neben den Schriften Dussels, Quijanos und Mignolos vgl. hierzu auch exemplarisch Arturo Escobar, Designs for the Pluriverse. Radical Interdependence, Autonomy, and the Making of Worlds, Durham und London: Duke University Press, 2018.

3. Gesellschaftliche Verhältnisse: Feuerbach, Marx, Engels und Foucault

salismus der Sinnlichkeit in seiner Spannung zum Universalismus des Geistes. In diesem Zusammenhang gilt es, in späteren Kapiteln der vorliegenden Arbeit Feuerbachs Konzept des Gattungswesens und seine Emphase sinnlicher Verhältnisse zwischen Teilwesen erstens mit marxistischen Produktionsverhältnissen und zweitens mit Foucaults Macht- und Wissensverhältnissen zu vergleichen und dabei sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede aufzuzeigen. Obwohl ihr Denken aus verschiedenen Richtungen einsetzt, stehen sich Feuerbach und Foucault in manchem durchaus nah, vor allem im Hinblick auf ihre Kritik am Individualismus. In Subjekt und Macht (1982) schreibt Foucault, ihm sei es eigentlich nie so sehr darum gegangen, »Machtphänomene zu analysieren oder die Grundlagen für solch eine Analyse zu schaffen«9 , sondern er habe stets primär »Objektivierungsformen untersucht, die den Menschen zum Subjekt machen«10 . Was Foucault hier entsprechend seines früheren Buches Die Ordnung der Dinge (1966) als Objektivierungsformen der modernen episteme auflistet und erstens mit der Objektivierung des sprechenden Subjekts in der Sprachwissenschaft (Sprache), zweitens mit der Objektivierung des produzierenden Subjekts in den Wirtschaftswissenschaften (Arbeit) und drittens mit der Objektivierung »der bloßen Tatsache des Lebens«11 in Naturgeschichte und Biologie (Leben) in Zusammenhang bringt, analysiert Feuerbach in seinem Hauptwerk Das Wesen des Christentums (1841) als Vergegenständlichung sinnlicher Verhältnisse zwischen Ich und Du in der Religion. Wie Foucault will auch Feuerbach nach »neuen Formen der Subjektivität suchen und die Art der Individualität zurückweisen, die man uns seit Jahrhunderten aufzwingt«12 . Anders als für Foucault stehen bei Feuerbach jedoch nicht Machtbeziehungen im Sinne einer »handelnde[n] Einwirkung auf andere«13 und deren Handeln im Vordergrund, sondern sinnliche Verhältnisse, deren rezeptive Seite er stark macht. Auf der Ebene von Subjektivität geht es ihm um ›föderale‹ Beziehungsweisen, die etwas anderes oder jemand anderen wirken lassen, anstatt um das selbsttätige Wirken ›freier‹ Individuen. Mit Feuerbach lässt sich innerhalb der von Marx, Engels und Foucault jeweils mit anderen Akzentsetzungen treffend beschriebenen modernen Gesellschaftsformation und über sie hinausgehend für einen konkreten Pluriversalismus der Sinnlichkeit argumentieren, der sowohl ästhetische als auch ethische Implikationen hat, sich mit Mbembe als »anderer Name für Dezentrierung«14 verstehen lässt und den Latour und Haraway unter Einbeziehung nicht-menschlicher Akteur*innen ›komponieren‹ beziehungsweise ›kompostieren‹ wollen.15 Zwar gibt es in der marxistischen Tradition die Figur des Proletariats

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Michel Foucault, Subjekt und Macht, in: ders., »Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 4 (1980–1988)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005, S. 269. Ebd. Ebd., S. 270. Ebd., S. 280. Ebd., S. 285. Achille Mbembe, Ausgang aus der langen Nacht. Versuch über ein entkolonisiertes Afrika, Berlin: Suhrkamp, 2016, S. 109. Vgl. Latour, Kampf um Gaia, S. 367 und Haraway, Unruhig bleiben, S. 203. Zur Vertiefung des Kompositionsgedankens bei Latour vgl. auch ders., Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Berlin: Suhrkamp, 2014. Hier heißt es an entscheidender Stelle: »Was ist ein Objekt? Das Ensemble der

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

und im Werk Foucaults die unförmige Plebs als Widerstandspunkte gegen gesellschaftliche Verhältnisse, gerade letzterem mangelt es bis in seine Spätphase hinein jedoch an einer Antwort auf die Frage, woher genau dieser Widerstand komme und von wem er ausgeübt werde. Foucault spricht dann sogar von einem »Selbst als zu erreichende[m] Ziel«16 und der »Setzung des Selbst durch sich als Zweck«17 und konzentriert sich auf die Sorge um sich und um andere. Ihm scheint dabei aber ein nicht mit Macht- und Wissensbeziehungen zusammenfallender Bezugspunkt zu fehlen. Dies wird an seinen Ideenreportagen besonders deutlich. 1978/79 verfolgt Foucault die islamische Revolution in Iran, der er zunächst hoffnungsvoll bis wohlwollend gegenübersteht. Während die Plebs als Unruheherd in seinen Schriften mit den Jahren zunehmend an Kontur verliert, sieht er dann im Islam, »der nicht bloß eine Religion ist, sondern eine Lebensweise, eine Zugehörigkeit zu einer Geschichte und einer Kultur«18 , und im Glauben der Schiiten an die Wiederkehr des zwölften Imams Muhammad al-Mahdī zunächst einen alternativen Universalismus sich abzeichnen. Als Chomeini und die mit ihm an die Macht gelangten Mullahs jedoch damit beginnen, Massenhinrichtungen Oppositioneller anzuordnen, wird er einen offenen Brief an die neue Staatsführung der Islamischen Republik richten, in dem er an seine vorige Solidarität erinnert, zugleich aber auch, erneut aus einer universalistischen Perspektive heraus, Kritik an der grausamen Ermordung nicht nur der Anhänger*innen des Schahs, sondern auch ehemals kommunistischer Verbündeter der Mullahs übt. »Es ist gut, wenn ein Mensch, irgendeiner und sei es am anderen Ende der Welt, aufzustehen vermag, weil er es nicht erträgt, dass ein anderer gefoltert oder verurteilt wird. Das ist keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates. Wer für einen einzigen, in den Verliesen des Savak [iranischer Geheimdienst; S.H.] Gefolterten protestiert, der mischt sich in die universellste Angelegenheit ein, die man sich vorstellen kann.«19 In späteren Kapiteln dieser Arbeit soll gezeigt werden, inwieweit Foucaults mit Said orientalistisch zu nennende Verklärung der schiitischen Religion, aufgrund der er – geprägt durch seine Gespräche während der Unruhen in Qom mit Mehdi Bazargan, dem damaligen Gründer des Komitees für Freiheit und Menschenrechte, der später vom Ayatollah zum Premierminister ernannt werden sollte – in der Erhebung gegen den Schah die Manifestation einer »politischen Spiritualität«20 sehen konnte, damit zusammenhängt, dass er, im Unterschied zu Marxist*innen unterschiedlicher Provenienz, zwar nicht an

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Quasi-Subjekte, die mit ihm verbunden sind. Was ist ein Subjekt? Das Ensemble der Quasi-Objekte, die mit ihm verbunden sind.« Ebd., S. 579. Foucault, Die Hermeneutik des Subjekts, S. 321. Ebd. Ders., Pulverfass Islam, in: ders., »Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 3 (1976–1979)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003, S. 952. Ders., Offener Brief an Mehdi Bazargan, in: ders., »Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 3 (1976–1979)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003, S. 977. Ders., Wovon träumen die Iraner?, in: ders., »Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 3 (1976–1979)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003, S. 870.

3. Gesellschaftliche Verhältnisse: Feuerbach, Marx, Engels und Foucault

das Proletariat als historisches Subjekt glaubte, aber ebenso wie sie ein heute weltweit installiertes System in Frage stellte: eben dasjenige der europäischen Subjektivität, die er bereits in Die Ordnung der Dinge (1966) entlang der Konzeption des Menschen als empirisch-transzendentale Dublette und der Objektivierung von dessen Gattungswesen in Arbeit, Leben und Sprache analysiert hatte. Bezüglich der Ereignisse in Iran scheint er ausnahmsweise in positiver Weise auf Feuerbach anzuspielen, wenn er schreibt: »In einer erstaunlichen Überlagerung erschien mitten im 20. Jahrhundert eine Bewegung, die stark genug war, das scheinbar bestgerüstete Regime der Welt umzustürzen, und dennoch jenem Traum sehr nahe kam, den das Abendland einst geträumt hatte, als man die Figuren der Spiritualität auf den Boden des Politischen zu zeichnen versuchte.«21 Einen solchen, zunächst nicht mit den auf ihm errichteten gesellschaftlichen Verhältnissen zusammenfallenden Boden stellt Feuerbachs Sinnlichkeit des Menschen dar. Der konkrete Pluriversalismus der Sinnlichkeit, den Feuerbach einfordert, ist keine »abstrakte Forderung nach Universalität«22 etwa im Sinne von Hegels Weltgeist oder der Menschenrechte.23 Nicht nur bezieht sich Recht stets auf Individuen, es verhält sich auch transzendent gegenüber sinnlichen Verhältnissen. Zur Not muss es mit Gewalt durchgesetzt werden. Mit sich setzt es das Unrecht.24 Der Mensch als Verstrickung mehrerer Men21

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Ders., Nutzlos, sich zu erheben, in: ders., »Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 3 (1976–1979)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003, S. 989. Dort sagt er auch über seine ›antistrategische‹ Moral: »Sie respektiert das Besondere, das die Erhebung darstellt, und bleibt unnachgiebig, wenn die Macht das Universelle behindert.« Ebd., S. 992. In den letzten Jahren sind zwei einander entgegengesetzte Lektüren der Ideenreportagen Foucaults zur islamischen Revolution in Iran erscheinen: Bezüglich einer eurozentrischen Lektüre vgl. Janet Afary und Kevin B. Anderson, Foucault and the Iranian Revolution. Gender and the Seductions of Islamism, Chicago und London: The University of Chicago Press, 2005 und als Antwort darauf bezüglich einer die Spezifik vor Ort berücksichtigenden Lektüre vgl. Behrooz Ghamari-Tabrizi, Foucault in Iran. Islamic Revolution after the Enlightment, Minneapolis und London: University of Minnesota Press, 2016. Fanon, Die Verdammten dieser Erde, S. 23. Unter Bezug auf zuvor von Praeg in A Report on Ubuntu (2014) entwickelte Gedanken skizziert Ott in Welches Außen des Denkens? (2018) die Verwicklung der Menschenrechte in die europäische Idee des Individuums: »Der europäische Diskurs habe die Spannung zwischen der juristischen Konzeption individualisierter Menschenrechte und den philosophischen Annahmen zur menschlichen Subjektivierung als von A/anderen mitkonstituierte Größe bis heute nicht ausreichend problematisiert. Bis heute sei aus dieser Divergenz nicht der Schluss gezogen worden, dass der Name Individuum oder ›Ungeteiltes‹ diese Spannung nicht abbilden kann und insofern unangebracht ist.« Ott, Welches Außen des Denkens?, S. 198. Praeg schreibt: »The incarnation of the ›human‹ in politics – an incarnation that always conjoins an image of thought with suppositions about possible modes of being – can never exhaust what it means to be human. The world can never be humane enough and humanism is nothing if not the perpetual deconstructive recognition of the residual inhumanness of all political arrangements.« Ders., A Report on Ubuntu, S. 188. Vgl. auch ebd., S. 263ff. Im Verweis auf die autopoietisch operierende Systemtheorie Niklas Luhmanns stellt Christoph Menke klar: »Das Recht des Rechts und das Recht des Nichtrechtlichen sind ein und dasselbe; in der Verwirklichung des einen verwirklicht sich zugleich auch das andere. […] [B]eide Ansprüche widersprechen sich selbst. Indem das Recht sein Recht gegen das Nichtrechtliche durchsetzt,

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schen und anderer Teilwesen, wie er Feuerbach im 19. Jahrhundert vorschwebt, kann nicht auf individuellen Menschen- im Sinne von Bürgerrechten, sondern muss in ihrer gleichzeitigen und wechselwirksamen Praxis begründet werden.25 Bei der Sinnlichkeit des Menschen geht es, mit Chakrabarty gesprochen, um einen »sense of the common«26 und darum, »not to give up on the differentiated – but to work alongside it, with the realization that it is everybody’s problem«27 . Sinnlich begegnet ein einzelner Mensch anderem und anderen in einem Verhältnis ästhetischer Reziprozität, in dem er handelt und leidet, also Wirkungen entfaltet, die zugleich auf ihn zurückwirken. Ethisch gesehen steht er deswegen in einer Verantwortung gegenüber anderem und anderen nicht vor dem Gesetz, sondern weil er mit ihnen eine gemeinsame Sinnlichkeit teilt und seine Praxis nicht von ihm allein ausgeht, sondern von der Praxis anderer unterbrochen wird und Teil eines komplexen Geflechts von Wirkmächten ist. Bereits in seiner Dissertationsschrift Über die Vernunft (1828) schreibt Feuerbach: »Der Mensch ist generell die Menschen; jeder einzelne begreift alle andern in sich, denn er hat die Gewißheit, Mensch zu sein. In diesem Bewußtsein weiß ich mich zwar als diesen Einzelnen […]; im Bewußtsein meiner selbst ist der Andere inbegriffen; wenn ich mich weiß, d.h. mich setze, weiß und setze ich auch den Anderen […].«28 Zwar nimmt ein einzelner Mensch als Person eine ihm in gesellschaftlichen Verhältnissen zugewiesene Position ein, von der her er sich auf andere Personen und die ihnen jeweils zugewiesenen Positionen bezieht. Sinnlich bezieht er sich jedoch anders auf sie. Mit Stuart Hall lässt sich sagen, dass gesellschaftliche Verhältnisse zwar ›tendenzielle

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proklamiert es zugleich das Recht des Nichtrechtlichen. Aber das Recht kann das Recht des Nichtrechtlichen nur so verwirklichen, dass es dieses Recht verletzt. Der Grund dafür liegt darin, wie das Recht das Recht des Nichtrechtlichen, das es behaupten muss, allein verwirklichen kann: Es können nur ›eigene (immer nur: eigene!) Operationen‹ des Rechts sein, durch die das Recht das Recht des Nichtrechtlichen zur Geltung zu bringen versucht. Das Recht kann sich auf das Nichtrechtliche nur in der Form des Rechts beziehen.« Ders., Recht und Gewalt, Berlin: August, 2012, S. 90. Boaventura de Sousa Santos wiederum meint: »In der Hoffnung, das Wesen alternativer Ideologien oder symbolischer Universen auf spezifisch lokale Ausformungen ohne Auswirkungen auf den universalen Kanon der Menschenrechte reduzieren zu können, wendet dieses Denken die immer gleiche abstrakte Formel auf alles an, womit es in Berührung kommt.« Ders., Epistemologien des Südens. Gegen die Hegemonie des westlichen Denkens, Münster: Unrast, 2018, S. 41. Vgl. hierzu auch María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan, Die Universalität der Menschenrechte überdenken, 8.5.2020, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/309087/die-universalitaet-der-menschen rechte-ueberdenken/ und Nora Sternfeld, Wem gehört der Universalismus?, März 2007, https://tran sversal.at/transversal/0607/sternfeld/de, Zugriff auf beide am 26.5.2023. Vgl. hierzu auch Karl Marx, Zur Judenfrage, in: ders. und Friedrich Engels, »Werke, Band 1«: Berlin: Dietz Verlag, 2017. Dipesh Chakrabarty, Interview. Dipesh Chakrabarty with Actuel Marx, in: ders., »The Crises of Civilization. Exploring Global and Planetary Histories«, Neu-Delhi: Oxford University Press, 2018, S. 265. Ebd. Feuerbach, Über die Vernunft, S. 23.

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Ausrichtungen‹ aufweisen, aber nicht vollends determiniert sind.29 In ihrer Sinnlichkeit ist eine Vielzahl an Menschen nicht auf die Positionen reduzierbar, die sie als Personen in gesellschaftlichen Verhältnissen einnehmen. Vielmehr bringt ihre sinnliche Verstrickung miteinander etwas ins Spiel, das nicht vollends in Gesellschaft aufgeht. Somit begegnet Löwiths treffender Lektüre Feuerbachs zufolge nicht nur eine auf ihre Position festgelegte einzelne Person auf deren Positionen festgelegten anderen Personen, sondern sinnlich auch Mitmenschen. »Dass Ich mir in Wahrheit aber nicht von mir selbst […], sondern nur von ›Dir‹ aus zu eigen werden kann und ›Du‹ meine ganze eigentliche Welt bist, wozu ich existiere, war die leitende Idee der Grundsätze Feuerbachs«30 , bemerkt er hierzu. Der Mensch als Mitmensch und Natur als dessen Mitwelt sind Braun zufolge Feuerbachs große Entdeckungen: »Die Sinnlichkeit soll das Prinzip werden, aus dem sich ein doppelter Bezug dartun läßt: Der des Menschen zum Nichtmenschlichen, zur Natur und der von Mensch zu Mensch, von Ich und Du.«31 Die Figur des Du ist hierbei als Signifikant für etwas der Ich-Instanz Äußerliches zu verstehen. Auch dritte Personen werden zu zweiten Personen, wenn sie als Gegenüber direkt adressiert sind und nicht als ausgeschlossene Subjektivitäten am Rand bleiben. Wird der Mensch im Werk Feuerbachs nicht fälschlicherweise als Subjekt betrachtet, sondern als »Beziehung von Mensch zu Mensch«32 und – wie er spätestens ab Das Wesen der Religion (1846) betonen wird – zu Natur, entlang derer wir für andere Subjektivitäten empfänglich werden, anstatt über sie zu verfügen, dann wäre Feuerbachs Vorstellung vom Menschen ein Korrektiv für die im Westen geborene, moderne Idee des Menschen als unabhängiges Individuum und eine Subjektivierungsweise, die der Vergegenständlichung sinnlicher Verhältnisse in den Produktionsverhältnissen, wie sie von Marx und Engels beschrieben wurden, und den Objektivierungsformen von Foucaults Biopolitik zuwiderläuft, obwohl sie gleichsam historisch mit ihnen zusammenhängt. Sinnliche Verhältnisse erschöpfen sich nicht in gesellschaftlichen Verhältnissen, innerhalb derer sie als Begegnungen statthaben. Die Sinnlichkeit von Menschen wird nicht vollends durch die Gesellschaftsformation, in der sie leben, determiniert. Henning Röhr hat in Endlichkeit und Dezentrierung. Zur Anthropologie Ludwig Feuerbachs (2000) auf eine Parallele zwischen Feuerbach und Foucault, die auch eine Parallele zu Marx und Engels ist, hingewiesen: »Das ›Wesen des Menschen‹ besteht darin, daß sich das Individuum in einem dem Denken vorgängigen Raum der Sinnlichkeit zusammen mit und in Abhängigkeit von anderen allmählich formiert und allmählich an Kontur gewinnt.«33

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Vgl. Stuart Hall, Ideologie und Ökonomie. Marxismus ohne Gewähr, in: ders., »Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4«, Hamburg: Argument Verlag, 2004, S. 29. In einem dem strukturalistischen Marxismus Louis Althussers gewidmeten Aufsatz führt er hierzu aus: »Strukturen enthalten Tendenzen – Kräfte, Öffnungen und Schließungen, die beschränken, formen, kanalisieren und in diesem Sinne ›determinieren‹. Aber sie können nicht im engeren Sinne einer fixen, absoluten Garantie determinieren.« Ders., Bedeutung, Repräsentation, Ideologie. Althusser und die poststrukturalistischen Debatten, in: ders., »Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4«, Hamburg: Argument Verlag, 2004, S. 40. Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 137f. Braun, L. Feuerbachs Lehre vom Menschen, S. 97. Feuerbach, Über die Vernunft, S. 21. Röhr, Endlichkeit und Dezentrierung, S. 196.

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Feuerbachs Debattenbeitrag zum postkolonialen Anthropozän könnte demnach darin bestehen, dem Ort des Abweichens von gesellschaftlichen Verhältnissen den Namen Mensch gegeben zu haben. Hiermit steht er Fanons Überlegungen zur Soziogenese nah, obwohl diese von der hegelianischen Herr/Knecht-Dialektik beeinflusst sind, auf welche sinnliche Verhältnisse, wie hier bereits gezeigt wurde, ebenfalls nicht reduzierbar sind. Indem sich mehrere Menschen als Mitmenschen sinnlich aufeinander beziehen, beziehen sie sich nicht ausschließlich als Personen über ihre Positionen in einer Gesellschaftsformation aufeinander. Dies hat weniger mit ›Freiheit‹ zu tun als mit dem Abstand, in dem sich sinnliche gegenüber gesellschaftlichen Verhältnissen befinden.34 Deshalb vereinfacht Foucault in einem Was ist ein Philosoph? betitelten Interview von 1966 das Denken Feuerbachs allzu sehr, wenn er darin behauptet, »für Feuerbach war Gott eine Illusion, die den Menschen entfremdete; hat der Mensch sich von dieser Illusion gelöst, wird er sich seiner Freiheit bewusst […]«35 . Der Begriff der Freiheit im Sinne des deutschen Idealismus spielt für Feuerbach jedoch keine Rolle. Im Gegenteil wendet er sich gerade gegen den Subjektivismus, der einer bestimmten Idee von Freiheit zugrunde liegt. Sein Hauptwerk versteht sich als historische Analyse der Vergegenständlichung sinnlicher Verhältnisse in der Religion des Christentums und, daraus resultierend, in der europäischen Subjektivität. Damit ist er nicht allzu weit von Foucaults Überlegungen zum Übergang von der Antike zum Christentum und dessen Kritik am Pastorat entfernt. Schon in Über die Vernunft (1828) stellt er fest: »Kein menschliches oder natürliches Geschehen kann für sich allein, als unberührt von der Gesellschaft oder von den vielfach verknüpften, verschiedenartigsten Vorgängen und Kräften aufgefaßt werden, die hier in einer Wirkung zusammentreffen; jedes Tun ist vielfaches Zusammenwirken vieler Tätigkeiten.«36 Auch die von Engels gegen ihn gerichtete Rede von der »Armut Feuerbachs verglichen mit Hegel«37 läuft ins Leere, wenn Feuerbachs Anliegen nicht auf die Befreiung des ›wahren‹ Menschen aus der christlichen Subjektivität oder, wie beim frühen Marx und Engels, auf seine Befreiung aus Produktionsverhältnissen, die sein durch Arbeit definiertes ›Wesen‹ entfremden würden, reduziert, sondern als Kontrastierung sinnlicher Verhältnisse zwischen konkreten Menschen mit den historisch gewachsenen abstrakten Formen, in denen sie in Erscheinung treten, verstanden wird. Sowohl Marx und Engels als auch Foucault liegen zwar richtig, wenn sie aus verschiedenen Perspektiven darauf hinweisen, dass sinnliche Verhältnisse durch gesellschaftliche Zusammenhänge bedingt sind. Das ändert aber nichts daran, dass die sinnliche Begegnung mehrerer Menschen weder mit

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Vgl. hierzu auch Dipesh Chakrabarty, Die zwei Geschichten des Kapitals, in: ders., »Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung«, Frankfurt a.M.: Campus, 2010. Michel Foucault, Was ist ein Philosoph?, in: ders., »Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 1 (1954–1969)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2001, S. 713. Feuerbach, Über die Vernunft, S. 26f. Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: Helmut Reichelt (Hg.), »Texte zur materialistischen Geschichtsauffassung«, Frankfurt a.M., Berlin und Wien: Ullstein, 1975, S. 563.

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Verhältnissen der Produktion noch mit Macht- und Wissensverhältnissen identisch ist. Ebenfalls in Über die Vernunft (1828) stellt der junge Feuerbach fest: »Denn wie nur das sich selbst Gleiche sich ungleich sein kann, so haben in Wahrheit nur in dem, das Eins ist, Widerspruch und Verschiedenheit ihren Ort; und nur das kann sich widersprechen, was eine notwendige Beziehung untereinander hat, was an einem gemeinsamen und identischen Beispiel auftritt und dieselbe Ursache und Natur hat.«38 Feuerbachs Menschen im Plural werden zwar von historisch geprägten gesellschaftlichen Verhältnissen bedingt, ihr sinnlicher Bezug aufeinander geht aber nicht darin auf.39 Während der Weltgeist als von Hegel selbst in seiner Phänomenologie des Geistes (1807) in ambivalenter Weise so bezeichnete »Begierde überhaupt«40 exklusiv auf »die Einheit des Selbstbewußtseins mit sich selbst«41 abzielt und sich seiner nur gewiss werden kann »durch das Aufheben dieses Anderen, das sich ihm als selbstständiges Leben darstellt«42 im Allgemeinen, ist Feuerbachs Denken auf die »Evangelien der Sinne«43 gerichtet und öffnet menschliche Subjektivität für das im Sinnlichen gegebene Besondere. So schreibt er in Das Wesen der Religion (1846): »Und deine Ableitung der Natur oder Welt von Gott ist daher in dieser Beziehung nichts anderes als die Ableitung des sinnlichen, wirklichen Wesens der Natur von ihrem abstrakten, gedachten, nur in der Vorstellung, nur im Gedanken existierenden Wesen – eine Ableitung, die dir deswegen vernünftig erscheint, weil du im Denken stets das Abstrakte, Allgemeine als das dem Denken Nähere, folglich dem Gedanken nach Höhere und Frühere, dem Einzelnen, Wirklichen, Konkreten voraussetzest, obgleich es in der Wirklichkeit gerade umgekehrt, die Natur früher als [Gott], d.h. das Konkrete früher als das Abstrakte, das Sinnliche früher als das Gedachte ist.«44 Anstatt Sinnlichkeit im Geist aufzuheben, hat Denken ihm zufolge in der Begegnung mit etwas zu beginnen, das nicht mit ihm identisch ist. Zwar treffen sich Menschen innerhalb gesellschaftlicher Verhältnisse, ihre Verstrickung ineinander weist jedoch über ihre jeweiligen Positionen darin hinaus.

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Feuerbach, Über die Vernunft, S. 55. Obwohl Feuerbach in Das Wesen des Christentums (1841) tendenziell eine lineare Geschichte schreibt, wäre es falsch, ihm mangelnde Historizität vorzuwerfen: »Mein Wissen, mein Wille ist beschränkt; aber meine Schranke ist nicht die Schranke des andern, geschweige der Menschheit; was mir schwer, ist dem andern leicht; was einer Zeit unmöglich, unbegreiflich, ist der kommenden begreiflich und möglich. Mein Leben ist an eine beschränkte Zeit gebunden, das Leben der Menschheit nicht.« Ders., Das Wesen des Christentums, S. 180. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 139. Ebd. Ebd., S. 143. Feuerbach, Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist, S. 195. Ders., Das Wesen der Religion, S. 103.

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3.1 Der Mensch als Subjektivierungsweise Die in diese Arbeit eingeschobenen Szenen des Menschen spielen die Verstrickung mehrerer Subjektivitäten ineinander gegen eine sich absolut setzende Subjektivität aus, indem sie sinnliche Zusammenhänge thematisieren, welche die für das postkoloniale Anthropozän prägende und auf der Idee des Individuums beruhende Institution der Ich-Instanz aus sich ausschließt. Gerade in Kilombas zuvor besprochener Arbeit Illusions Vol. I, Narcissus and Echo (2016) wird eine weiße Subjektivität beleuchtet, die den Menschen zu einer mit sich identischen Form macht. Die hier entlang von Feuerbachs Sinnlichkeit des Menschen besprochenen Werke der Gegenwartskunst situieren sich in einer Distanz zu diesem Selbstbewusstsein. Bewusstsein ist für Feuerbach nicht bei sich, sondern außer sich und auf etwas gerichtet, das ihm gegenüber unassimilierbar bleibt. Damit vertritt er ab Ende der 1830er Jahre eine Hegel entgegengesetzte Position, wenn dieser in der Phänomenologie des Geistes (1807) über den Geist schreibt: »Die Begierde und die in ihrer Befriedigung erreichte Gewißheit seiner selbst ist bedingt durch ihn, denn sie ist durch Aufheben dieses Anderen; daß dies Aufheben sei, muss dies Andere sein. Das Selbstbewußtsein vermag also durch seine negative Beziehung ihn nicht aufzuheben; es erzeugt ihn darum vielmehr wieder, so wie die Begierde.«45 Feuerbachs Mensch dagegen verweist auf die Verstrickung erster und zweiter Personen ineinander, durch die beiderlei Identität aufs Spiel gesetzt wird. Er ist zwei, was qualitativ mehr ergibt als drei: zwei Subjektivitäten, die in keiner dritten aufgehoben werden können, Milliarden von Menschen, die keine Menschheit als universales Subjekt ergeben. Feuerbachs Mensch als die Gleichzeitigkeit und Wechselwirkung von Ich und Du hat mehr mit einer Bewegung auf andere Subjektivitäten hin zu tun als damit, sich in einer vermeintlich eigenen Subjektivität einzuschließen. »An die Stelle des christlichen Dogmas von der Dreieinigkeit und von Hegels dialektischer Trinität tritt der Grundsatz der Wesensgleichheit von Ich und Du, von Mensch und Mitmensch«46 , gibt Löwith in Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts (1941) zu Protokoll. Dort heißt es auch: »Indem Hegel das andere, das ich nicht selbst bin, als dessen ›eigenes‹ Anderssein interpretiert, verkennt er die spezifische Selbstständigkeit der Natur und des Mitmenschen.«47 Für Feuerbach hingegen sind andere keine abstrakten anderen, sondern konkrete andere. Natur ist für ihn etwas, von dem ich abhänge und dem in Hegels spekulativem System nur eine »verzwickte, untergeordnete, unnatürliche Stellung«48 zukomme, da jenes »viel zu abgesondert von der Anschauung des Menschen in

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Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 143. Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1995, S. 334. Ebd., S. 89. Feuerbach, Zur Beurteilung der Schrift »Das Wesen des Christentums«, S. 218.

3. Gesellschaftliche Verhältnisse: Feuerbach, Marx, Engels und Foucault

der Natur«49 sei: »Die Natur ist für ihn nichts weiter als das Entgegengesetzte, das ›Andre des Geistes‹«50 . Bereits in seinen Xenien verfasst er hierzu lyrische Verse. »Mit scharf gespitztem Federkiele Kratzt’ in großartigem Stile In die Natur aus Lumpenstoff, Daß alles Fleisch von Blute troff, Mit ätzend scharfem Höllenstein Der Geist sein klares Wesen ein. Natur hat nur in Wunden Des Geistes Grund gefunden. Die Freiheitsfahne wehet nur Auf Stang’ und Spitz’ in der Natur. Es sitzet auf des Weltalls Mast Der Geist, der selbstbewußt sich faßt.«51 Vor diesem Hintergrund übt auch die im Folgenden besprochene Arbeit Behind the Sun (2013) der kuwaitischen Künstlerin Monira Al Qadiri Kritik an einer Subjektivität, die sich in einem losgelösten Selbstbewusstsein verankert. In ihr geht es um Subjektivierungsweisen und die Multiperspektivität des menschlichen Gattungswesens, das sie bezüglich Werner Herzogs Filmvorlage Lektionen in Finsternis (1992) mit einer über den Dingen schwebenden Ich-Instanz kontrastiert. »Den ›Anderen‹ zu denken ist, wie wir alle wissen, eine Bedeutung des Menschseins. Mensch zu sein bedeutet, auf den Anderen intendiert zu sein«52 , bemerkt Spivak Ende der 1990er Jahre im Rahmen einer Vorlesungsreihe in Zürich. Diese Ästhetik ist zugleich eine Ethik, in der der Mensch als Subjektivierungsweise dort ist, wo sich erste zweiten Personen gegenüber öffnen. »Unbeschränkt ist also die Gattung, beschränkt nur das Individuum«53 , wie es in Das Wesen des Christentums (1841) heißt. Mit Bhabha ließe sich sagen, dass Begegnungen zwischen ersten und zweiten Personen immer hybride Formen annehmen und beide Seiten danach nie wieder so sein werden wie sie vorher waren.54 Mit Édouard Glissant wiederum ließe sich Feuerbachs Mensch entlang einer Poetik der Beziehung auch als Ergebnis von Kreolisierungsprozessen – als archipelischer Mensch – verstehen, aus denen er kolonialgeschichtlich gewalt-

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Ebd., S. 219. Ders., Das Wesen der Religion, S. 104. Dies hat auch Schmidt unterstrichen: vgl. ders., Emanzipatorische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus, München: Hanser, 1973, S. 95. Ders., Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, S. 246. In Das Wesen der Religion (1846) wird er hierzu weiter ausführen: »Es ist schon ein Widerspruch für den Geist, nur das Andre seiner selbst zu denken; er ist nur in Harmonie mit sich, nur in seinem esse, wenn er nur sich selbst – Standpunkt der Spekulation – oder wenigstens – Standpunkt des Theismus – ein Wesen denkt, welches nichts andres ausdrückt als das Wesen des Denkens, welches nur durch das Denken gegeben, also an sich selbst nur ein, wenigstens passives, Denkwesen ist. So verschwindet die Natur in nichts.« Ders., Das Wesen der Religion, S. 104f. Gayatri Chakravorty Spivak, Imperative zur Neuerfindung des Planeten, Wien: Passagen, 2013, S. 45f. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, S. 181. Vgl. Homi K. Bhabha, Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung, Wien: Turia + Kant, 2016.

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sam hervorgegangen ist.55 Wenn Glissant mit Gilles Deleuze und Félix Guattari das westliche Denken als systematisches Denken des Einen dem Vielen sowie die Wurzel dem Rhizom gegenüberstellt und entgegen der totalen Transparenz des Anderen auf dessen Recht auf Opazität insistiert, steht er Feuerbach durchaus nah, obwohl er aus einer anderen Richtung an die Problematik sinnlicher Verhältnisse herangeht: »Relation is only universal through the absolute and specific quantity of its participants.«56 Gemeinsam mit Feuerbach sind ihm die Abkehr vom Denken des Anderen zugunsten des Anderen des Denkens und eine Emphase von Subjektivierungsweisen, die fremd- statt selbstbezüglich beschaffen sind. Im Gegensatz dazu verweist das Subjekt des Kolonialismus laut Glissant auf »a question of reducing this other to the transparency experienced by oneself. Either the other is assimilated, or else it will be annihilated. That is the whole principle of generalization and its entire process.«57 In Poetics of Relation (1990) schlägt Glissant vor, eine Denkweise, die auf Identitäten fixiert ist, durch eine Logik der Relationalität zu ersetzen. In diesem Zusammenhang beschreibt er eine Reihe von Dichotomisierungen, die aufzuweichen er anstrebt, betont aber auch, dass Relationen kein Selbstzweck seien, sondern dass die Bezugnahme der vom Kolonialismus hinterlassenen Bruchstücke von Subjektivität aufeinander, auf die er hinauswill, »has its source in these contacts and not in itself; that its aim is not Being, a self-important entity that would locate its beginning in itself«58 . Von Hallward ist ihm trotzdem vorgeworfen worden, die Spezifik kolonialer Situationen zu vernachlässigen: »[T]he shift of emphasis is unmistakable, from the engagement with the constrained relation between and among others, toward inclusion in one all-embracing self-differentiation (which is never, of course, to be confused with mere uniformisation).«59 Hallwards Kritik trifft allerdings nicht zu, wenn er so weit geht zu behaupten, in Glissants späterem Denken sei kein Platz mehr für konkrete Positionierungen, »a state of mediate duality (subject vs. object, self vs. other)«60 , da sich dann alles in einen von Deleuze inspirierten »immediate, immanent monism«61 auflösen würde. Diesen Monismus bringt er mit dem Weltmarkt spätestens nach 1989 zusammen und warnt im Hinblick auf ›poststrukturalistisch‹ geprägte postkolonialer Ansätze wie die Glissants, Bhabhas oder Spivaks davor, spezifische Kontexte aus den Augen zu verlieren. »To this extent, Glissant’s work in particular and postcolonial theory in general can only obstruct what is arguably the great political task of our time: the articulation of fully inclusive, fully egalitarian political principles which, while specific to the particular political situation of their declaration, are nevertheless subtracted from their cultural environment. We must strive to prescribe principles whose coherence does not rely upon any notion of community, any kind of cultural proximity, any cultural criteria of sharing and belonging. All progressive politics must presume the cultural

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Vgl. Édouard Glissant, Traktat über die Welt, Heidelberg: Verlag Das Wunderhorn, 1999. Ders., Poetics of Relation, S. 178. Ebd., S. 49. Vgl. hierzu auch Ferreira da Silva, Toward a Global Idea of Race. Glissant, Poetics of Relation, S. 160. Hallward, Absolutely Postcolonial, S. 68. Ebd., S. 103. Ebd.

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despecification of its participants as much as it resists the singular transcendence of a simply sovereign legitimation.«62 Hiermit tut Hallward Glissant Unrecht, weist dieser doch wiederholt darauf hin, dass es ihm mit seinem Konzept der Kreolisierung gerade nicht um eine multikulturelle Globalisierung totaler Transparenz gehe, sondern um ein Insistieren auf der Opazität der unzähligen besonderen Elemente, aus denen sich die postkoloniale Welt zusammensetze. Glissants postkoloniale Welt ist unumkehrbar chaotisch. Sie besteht aus der Resonanz ihrer vielen Teile, »in which each and every identity is extended through a relationship with the Other«63 . In Poetics of Relation (1990) plädiert Glissant gerade nicht für eine monistisch verankerte Subjektivität, die laut Hallward alles Partikulare in sich aufsaugen würde. Vielmehr nimmt er gerade das Besondere und seine Beziehungen in den Blick, wenn er über das Opake schreibt: »The opaque is not the obscure, though it is possible for it to be so and be accepted as such. It is that which cannot be reduced, which is the most perennial guarantee of participation and confluence.«64 Genauso vehement wie Glissant im 20. Jahrhundert der Annahme globaler Transparenz widerspricht Feuerbach im 19. Jahrhundert Hegels Auffassung des Geistes. »Das ›über sein Anderes‹ – ›das Andere des Denkens‹ ist aber das Sein – ›übergreifende‹ Denken ist das seine Naturgrenze überschreitende Denken«65 , moniert er in seinen Grundsätzen der Philosophie der Zukunft (1843). Obwohl Glissants Überlegungen vor einem anderen philosophischen Hintergrund stattfinden, sind sie doch nicht allzu weit von Feuerbachs Denken von Teilwesen und dem Menschen als Subjektivierungsweise entfernt. »Similarly, thought of the Other is sterile without the other of thought. Thought of the Other is the moral generosity disposing me to accept the principle of alterity, to conceive of the world as not simple and straightforward, with only one truth – mine. But thought of the Other can dwell within me without making me alter course, without ›prizing me open‹, without changing me within myself. An ethical principle, it is enough that I not violate it. The other of Thought is precisely this altering. Then I have to act. That is the moment I change my thought, without renouncing its contribution. I change, and I exchange. This is an aesthetics of turbulence whose corresponding ethics is not provided in advance.«66 Das Denken des Anderen ist nicht das Andere des Denkens. Gerade auf etwas dem Denken Äußerliches kommt es aber an, wenn es darum geht, die Subjektivität des Individuums mit anderen Subjektivitäten zu konfrontieren. Zusammen mit Patrick Chamoiseau schreibt Glissant über den gegenwärtigen Zustand der Welt: »Die Versuchung, Mauern zu errichten, ist nicht neu. Jedesmal, wenn es einer Kultur oder Zivilisation nicht gelang, den Anderen mitzudenken, sich mit dem Anderen zu

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Ebd., S. 126. Glissant, Poetics of Relation, S. 11. Ebd., S. 191. Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, S. 291. Glissant, Poetics of Relation, S. 154f.

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denken, den Anderen in sich zu bedenken, wurden diese Abwehranlagen aus Steinen, Eisen, Stacheldraht, Elektrozäunen oder abgeschotteten Ideologien gebaut und stürzten zusammen, um irgendwann mit neuen schrillen Begründungen wieder dazustehen.«67 In diesem Zusammenhang erheben Glissant und Chamoiseau eine Forderung: »Die Beziehung zum Anderen (zu jedem Anderen, in seiner tierischen, pflanzlichen, kulturellen und daher menschlichen Anwesenheit) zeigt uns den höchsten, ehrenwertesten und am meisten bereichernden Teil unserer selbst. Die Mauern müssen fallen.«68 Diese Mauern hängen mit etwas zusammen, das Feuerbach als Abkappung des Geistes von der Sinnlichkeit im Sinne der Beziehungsweisen des Menschen einer jahrzehntelangen Kritik unterzogen hat.

3.2 Subjektivität, Geist und Sinnlichkeit »Der Geist wird zum Geist der Freiheit, indem er sich aus der Natur herausarbeitet«69 , schreibt Scholz in Die Menge der Menschen. Eine Figur der politischen Ökologie (2019) über Hegels Auffassung von Geschichte. Wollten wir in unserer Gegenwart die Entfaltung eines Weltgeistes sehen, müssten wir nicht unbedingt zu dem Schluss kommen, an einem Ende zu stehen.70 Nur schwer von der Hand zu weisen ist jedoch, dass die Territorien des Ich in einem durchaus heideggerianischen Sinn gegenüber denen des Du überhandgenommen haben. »[D]as reine Ich ist und muß fordern, daß der Unterschied, das mannigfaltige Sein, ihm als das Seinige selbst werde, daß es sich als die Wirklichkeit anschaue und sich als Gestalt und Ding gegenwärtig finde«71 , stellt Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes (1807) fest. Aus der gegenwärtigen Situation des postkolonialen Anthropozäns heraus betrachtet scheint offensichtlich, dass die Entfaltung seines Weltgeistes historisch mit der Ausbreitung der bürgerlichen Gesellschaft und des Kapitals sowie dem Konnex aus Industrie und Imperialismus zusammenfällt, also mit der Durchsetzung der Subjektivität weißer Männer. »Statt die Erfahrung mit dem Anderen als Unterbrechung der eigenen Identität zu konzeptionalisieren, die die Voraussetzung für die Begegnung mit dem Anderen ist, wird der andere sofort kolonialisiert […]«72 , hält Luca di Blasi in Anspielung auf Glissant in Der weiße Mann (2013) fest. In Die Verdammten dieser Erde (1961) bemerkt Fanon: »Der Kolonialismus und der Imperialismus sind mit uns nicht quitt, wenn sie ihre Fahnen und ihre Polizeikräfte von unseren Territorien zurückgezogen haben.«73

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Éduard Glissant und Patrick Chamoiseau, Wenn die Mauern fallen, in: dies., »Brief an Barack Obama«, Heidelberg: Verlag Das Wunderhorn, 2011, S. 45. Ebd., S. 57. Scholz, Die Menge der Menschen, S. 19. Vgl. hierzu Eva Geulen, Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 186. Di Blasi, Der weiße Mann, S. 40. Fanon, Die Verdammten dieser Erde, S. 82.

3. Gesellschaftliche Verhältnisse: Feuerbach, Marx, Engels und Foucault

Im Hinblick auf mitmenschliche Beziehungen und, mit Löwith gesprochen, deren Unterschied zu Beziehungen zwischen Personen ist das koloniale Verhältnis des Ich zum Du von Fanon im Hinblick auf seine Soziogenese treffend beschrieben worden. »Alle Formen der Ausbeutung sind identisch, denn alle finden auf ein und dasselbe ›Objekt‹ Anwendung: den Menschen. Wer die Struktur dieser oder jener Ausbeutung abstrakt betrachten will, der verschleiert das entscheidende, grundlegende Problem, nämlich den Menschen wieder an seinen Platz zu stellen.«74 Alle Formen der Ausbeutung richten sich, wenn sie Natur und Menschen unterwerfen, so ließe sich Fanons Beobachtungen mit Feuerbach hinzufügen, zuallererst auf sinnliche Verhältnisse. Sie vergegenständlichen diese und unterwerfen dem Ich ein antwortendes Du. In diesem Zusammenhang weist Alexander G. Weheliye in Habeas Viscus. Racializing Assemblages, Biopolitics, and Black Feminist Theories of the Human (2014) darauf hin, dass Fanon, wenn er schreibt, alle Ausbeutungsformen bezögen sich auf den Menschen, hiermit eine »humanity as a relational ontological totality«75 meine. Dussel spricht diesbezüglich von einer ›Kolonisierung der Lebenswelt‹76 , die sich auf etwas richtet, das sich als sinnliche Praxis vieler Menschen verstehen lässt, in deren Rahmen sich Wirkmächte begegnen und miteinander tätig würden. Den Menschen ›wieder an seinen Platz zu stellen‹ würde demnach bedeuten, Subjektivität ihren Umwelten und ihren Mitmenschen gegenüber zu öffnen, ohne dadurch eine Welt zurückgewinnen zu können, die seit den Meeresüberquerungen europäischer Schiffsflotten zum Zweck der ›Erforschung‹ und Eroberung anderer Kontinente unwiederbringlich verloren ist. Vor allem weiße Menschen müssten dann einsehen, dass sie nicht allein auf der Welt, sondern über die Kolonialgeschichte mit anderen Menschen verstrickt sind, was unzählige Traumata, Verletzungen und Opfer aufseiten derer bedeutet, die lange vom Menschsein ausgeschlossen waren. Was aktuell wiederkehrt, ist die eigenständige Existenz derer, die im Verlauf der kolonialen Moderne entmenschlicht und ausgebeutet wurden. Ausgebeutet wurden neben Natur diejenigen Menschen, denen über Jahrhunderte hinweg ihr Menschsein abgesprochen wurde und deren Subjektivität die Entfaltung dessen, was von Hegel anhand des Weltgeistes treffend beschrieben wurde, keinen Platz gelassen hat. In Das terrestrische 74

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Ders., Schwarze Haut, weiße Masken, S. 77. Fanon schließt sein Buch statt mit einer Schlussfolgerung mit einem an Feuerbach erinnernden, poetisch gestalteten Textteil, in dem er schreibt: »Überlegenheit? Unterlegenheit? Warum nicht einfach versuchen, den anderen zu berühren, den anderen zu spüren, mir den anderen zu offenbaren. Ist mir meine Freiheit denn nicht gegeben, um eine Welt des Du zu errichten?« Ebd., S. 197. Alexander G. Weheliye, Habeas Viscus. Racializing Assemblages, Biopolitics, and Black Feminist Theories of the Human, Durham und London: Duke University Press, 2014, S. 135. Was Weheliye am ›Fleisch‹ festmacht, wird in der vorliegenden Arbeit als Abweichung sinnlicher von gesellschaftlichen Verhältnissen thematisiert: »[H]abeas viscus points to the terrain of humanity as a relational assemblage exterior to the jurisdiction of law given that the law can bequeath or rescind ownership of the body so that it becomes the property of proper persons but does not possess the authority to nullify the politics and poetics of the flesh found in the traditions of the oppressed.« Ebd., S. 136f. Vgl. Dussel, Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen, S. 55f.

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Manifest (2017) verwendet Latour ambivalente Worte für diese verdrängte Geschichte der Gegenwart Europas. »Da Europa einmal über alle Völker hergefallen ist, kommen nun alle Völker nach Europa. Dies umso mehr, als Europa einen weiteren Pakt mit den anderen Erdverbundenen geschlossen hat, die sich nun ebenfalls in Marsch setzen und seine Grenzen überrennen wollen: die Gewässer der Ozeane, ausgetrocknete oder anschwellende Flüsse, Wälder, die rasch wandern müssen, um nicht von der Klimaveränderung erwischt zu werden, Mikroben und Parasiten – sie alle lechzen nach einem großen Austausch.«77 Anstatt das von ihr Verdrängte hereinzulassen, verschließt sich die weiße Subjektform jedoch zunehmend in sich selbst, da sie sich, wie Dyer treffend bemerkt, für »an overseeing subject without properties«78 hält. Wir sind aktuell mit einer Situation konfrontiert, die sich in vielerlei Hinsicht als ebenso ökologische wie politische Krise deuten lässt. »Eine Lösung der ökologischen Krise wird es nur geben, wenn im selben Zug die Krise der Geschichte gelöst wird, beide bilden im Grunde eine einzige Krise«79 , bringt Seibert unser gegenwärtiges Dilemma auf den Punkt. Ausgeklammert sind in ihr neben unzähligen Umwelten – wir tragen Verantwortung für das sechste Artensterben – auch sehr viele Menschen. Chakrabarty merkt hierzu an, dass es in naher Zukunft stärker noch als bisher darauf ankommen wird, Klimawandel und Migration zusammenzudenken, wobei »[i]t may or may not surprise the reader to know that Europe today is dotted with detention centres for those unwelcome people. The number of such centres exceeds 100 and they extend outside Europe into North Africa.«80 Der exponentiell ansteigenden Erderwärmung und dem Unbewohnbarwerden großer Landstriche auf ökologischer Ebene entspricht auf politischer Ebene die verschärfte Abschottung der wohlhabenden und geografisch glücklicher situierten Nationalstaaten nicht nur des globalen Nordens, ein ansteigendes Wohlstandsgefälle innerhalb der Nationalstaaten auf globaler Ebene, das Erstarken regionaler Nationalismen und ein neuer Faschismus, der sich nicht erst seit Trumps vergangener Präsidentschaft in den USA auch in Putins Russland sowie dessen Angriffskrieg gegen die Ukraine, in mehreren europäischen Ländern, in Südamerika, Asien, dem sogenannten ›Nahen Osten‹ und anderen Teilen der Welt abzeichnet und über den sich mit Boaventura de Sousa Santos sagen lässt, dass er »problemlos dazu in der Lage [ist], mit dem demokratischen Staat zu koexistieren«81 . Aktuell wird es immer schwieriger, den Menschen als Subjektivierungsweise mehrerer Menschen zu denken, da sich überall partikulare Identitäten verfestigen und voneinander abschotten, um sich gegenseitig als Phantasmen imaginär

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Bruno Latour, Das terrestrische Manifest, Berlin: Suhrkamp, 2018, S. 119f. Dyer, White, S. 207. Seibert, Zur Ökologie der Existenz, S. 25. Dipesh Chakrabarty, Postcolonial Studies and the Challenge of Climate Change, in: ders., »The Crises of Civilization. Exploring Global and Planetary Histories«, Neu-Delhi: Oxford University Press, 2018, S. 232. Vgl. auch ders., Humanismus in einer globalen Welt, in: ders., »Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung«, Frankfurt a.M.: Campus, 2010. De Sousa Santos, Epistemologien des Südens, S. 80.

3. Gesellschaftliche Verhältnisse: Feuerbach, Marx, Engels und Foucault

zu konstruieren und festzuschreiben, was Balibar zufolge eine »wahnhafte Alterität«82 mit sich bringt. Die Festung Europa ist in diesem Kontext nur eines von vielen Beispielen. Der damit zusammenhängende Ausschlussprozess umfasst Mbembe zufolge einen wachsenden Teil aller Menschen, die so zur überflüssigen Menschheit würden. Unter Bezugnahme auf Sassen und Spivak sieht er in Politik der Feindschaft (2016) aktuell eine Ausweitung der kolonialen Logik der Plantage auf den gesamten Planeten sich abzeichnen: »Früher war der N* ein von der Sonne seiner Erscheinung und der Farbe seiner Haut gekennzeichneter Mensch afrikanischer Abstammung, aber das ist heute nicht mehr unbedingt der Fall. Wir erleben heute eine tendenzielle Universalisierung der Situation, die früher den N* vorbehalten war, allerdings im Modus der Umkehrung. Diese Situation war dadurch gekennzeichnet, dass die menschliche Person auf eine Sache, ein Objekt, eine Ware reduziert wurde, die man kaufen, verkaufen und besitzen konnte. ›Rassensubjekte‹ werden gewiss auch weiterhin produziert, allerdings unter neuen Modalitäten. Der N* ist heute nicht mehr nur der an seiner Hautfarbe erkennbare Mensch afrikanischer Abstammung (der ›Oberflächenn*‹). Der ›Tiefenn*‹ ist heute eine subalterne Gruppe der Menschheit, eine subalterne Menschenart, jene überflüssige und fast schon überschüssige Teil, den das Kapital nicht mehr braucht und der zum Ausschluss bestimmt ist.«83 Diese Entwicklung, die auf globalen Skalen zunehmend zum Ausschluss von immer mehr Menschen führt und sich auf vielerlei Ebenen beobachten lässt, hängt, so lässt sich mit Feuerbachs Kritik an Hegel und in einer Variation von Balibars eingangs genannter These konstatieren, auf subjektivitätstheoretischer Ebene mit der einverleibenden Ausverleibung der Sinnlichkeit durch den Geist und mit der Verdrängung zweiter durch erste Personen zusammen, auf die Mbembe mit Feuerbach verweist, wenn er meint, dass ›der Andere‹ in uns sei, »in der Doppelgestalt des anderen Ich und des Ich als des Anderen«84 . Grammatikalisch betrifft die gegenwärtige Ausklammerung nicht nur das Du gegenüber aktuell auf unterschiedlichen Skalierungsebenen überall erstarkenden Ich-Instanzen, sondern auch das Ihr gegenüber dem Wir. Ausgeklammert werden andere Subjektivitäten im Singular wie im Plural. Bereits Löwith, einer der aufmerksamsten

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Balibar, Der Schauplatz des Anderen, S. 11. Vgl. hierzu auch Hall, Der Westen und der Rest: »Die Figur des ›Anderen‹, der an den äußersten Rand der begrifflichen Welt verbannt und als absoluter Gegensatz, als die Negation all dessen konstruiert war, wofür der Westen stand, tauchte mitten im Zentrum des Diskurses über die Zivilisation, die Kultiviertheit, die Modernität und die Entwicklung des Westens wieder auf. ›Der Andere‹ war die ›dunkle‹, die vergessene, unterdrückte und verleugnete Seite, das Gegenbild der Aufklärung und der Modernität.« Ebd., S. 174. Mbembe, Politik der Feindschaft, S. 218. Mbembes Beobachtungen korrespondieren an dieser Stelle mit einer Bemerkung, die Césaire in seiner Rede über die Négritude (1987) in Miami macht: »Ich erinnere mich noch, wie verblüfft ich war, als ich, zum ersten Mal in Québec, im Schaufenster einer Buchhandlung ein Buch sah, dessen Titel mir zugleich sehr erstaunlich vorkam. Er lautete: Nous autres nègres d’Amérique (Wir weißen N* Amerikas). Natürlich habe ich über die Übertreibung gelächelt, aber ich sagte mir auch: ›Sieh an, dieser Autor hat, auch wenn er übertreibt, die Négritude doch zumindest verstanden.‹« Ders., Über den Kolonialismus, S. 105. Mbembe, Politik der Feindschaft, S. 90.

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

Leser Feuerbachs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, macht in der spezifischen Situation seiner Zeit die Sinnlichkeit des Menschen stark und fordert Ende der 1920er Jahre ein »Rücksichtnehmen auf die das eigene Denken bewährende Sinnlichkeit, deren erkenntnismäßiger Modus die sinnlich-bestimmte und das Denken mit Sinn erfüllende Anschauung ist, und zweitens: Rücksichtnehmen auf den das eigene Denken bewährenden Mitmenschen, der erkenntnismäßig der Partner des dialogischen Denkens ist. In der Berücksichtigung beider Momente wird das sich eigenständig fortbewegende, bloß folgerichtige und abschließende Denken objektiv aufgeschlossen und richtig gestellt.«85 Sinnlich richtet sich Subjektivität auf keine Ich-Instanz, sondern auf ein von ihr unterschiedenes Du.86 Gegen die Seins-Philosophie seines Lehrers Heidegger gewendet bringt Löwith in Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen (1928) die für den Menschen als Gattungswesen konstitutive Beziehung zwischen Ich und Du auf den Punkt. »Was Ich und Du verbindet und wozu sie beisammen sind, ist kein gemeinsames Besorgen, sondern das sind sie selbst. Wenn der eine dem anderen seine ganze Welt bedeutet, kann nicht mehr sinnvoll gefragt werden, was sie – außer ihnen selbst – verbindet und wozu sie – außer ihnen selbst – beisammen sind. Ihr Miteinandersein ist – äußerlich betrachtet – ›zweck-los‹, weil es schon selbst Zweck, ›Selbst-zweck‹ ist.«87 Feuerbachs Leitsatz homo homini Deus est verweist auf einen anderen Menschen als die immer besondere Perspektive einer anderen Subjektivität, die jede Ich-Instanz relativiert. Nicht erst seit seinen gegen Hegel gewendeten Polemiken spielt er das in der Sinnlichkeit gegebene Besondere gegen die Allgemeinheit des Geistes aus, um Sinnlichkeit als das Andere des Geistes vor dessen »Verdauungsprozess«88 zu bewahren. In Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843) wird er zur Tilgung der Sinnlichkeit durch den Geist in Hegels spekulativem System anmerken: »Das Denken greift über sein Gegenteil über – heißt: Das Denken vindiziert sich, was nicht dem Denken, sondern dem Sein zukommt. Dem Sein kommt aber die Einzelheit,

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Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 91. Wolfgang Frede kontrastiert Hegels »Bruch zwischen Sinnlichkeit und Denken« mit dem Denken Feuerbachs so: »Das Verhältnis von Denken und Verstandesanschauung findet seine Analogie in dem Ich-Du-Verhältnis. […] Das Gegenteil des Gedankens ist die ›Sinnlichkeit‹, hier konkret als ›Du‹ bestimmt.« Ders., Ludwig Feuerbach. Zur Genese der materialistischen Methode, Göttingen: Verein zur Förderung gesellschaftstheoretischer Studien e.V., 1984, S. 81. Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, S. 146f. Hans-Georg Gadamer hebt diesbezüglich in seiner Rezension von Löwiths Habilitation von 1929 hervor: »Denn zunächst ist die Anerkennung des Du und Ich in ihrer Selbständigkeit motiviert als Gegenbewegung gegen die faktische Verstrickung des Ich und Du in der Verabsolutierungstendenz des [gesellschaftlichen, S.H.] Verhältnisses.« Ders., Ich und Du (K. Löwith), in: ders., »Gesammelte Werke 4, Neuere Philosophie II«, Übingen: Mohr Siebeck, 1999, S. 238. Feuerbach, Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, S. 211.

3. Gesellschaftliche Verhältnisse: Feuerbach, Marx, Engels und Foucault

Individualität, dem Denken die Allgemeinheit zu. Das Denken vindiziert sich also die Einzelheit – es macht die Negation der Allgemeinheit, die wesentliche Form der Sinnlichkeit, die Einzelheit zu einem Moment des Denkens. So wird das ›abstrakte‹ Denken oder der abstrakte Begriff, der das Sein außer sich hat, ›konkreter‹ Begriff.«89 Eine Reihe von Hegel abweichender Unterscheidungen fällt hier ins Auge. Zunächst siedelt Feuerbach Sein nicht auf der Ebene des Allgemeinen an – der Subjektform des Geistes kommt kein Sein zu –, sondern findet es im Besonderen, das sinnlich gegeben ist. Dann besteht er auf einer Kluft zwischen Denken und Sein, die zugleich eine Kluft zwischen Denken und Sinnlichkeit ist. Der Geist beansprucht das sinnlich Gegebene als das Andere des Denkens als sein Eigentum, indem er auf etwas in den Sinnen gegebenes Besonderes übergreift. Feuerbach zufolge besteht die Übergriffigkeit von Hegels Geist darin, dass er die Selbstständigkeit des Du gegenüber dem Ich ausklammert und Natur für ihn allein der Ort ist, wo er sich entäußern kann und ausfließt. Dementsprechend analysiert Mbembe in On the Postcolony (2001) – wie im vorigen Kapitel erwähnt wurde in direkter Bezugnahme auf Feuerbach – das Verhältnis des Geistes zur Sinnlichkeit, so wie es von Hegel systematisch gefasst wurde, anhand einer sich selbst überschätzenden Subjektivität. »To colonize is to deploy a subjectivity freed from any limit, a subjectivity seeing itself as absolute but which, to experience that absolute, must constantly reveal it to itself by creating, destroying, and desiring the thing and the animal that it has previously summoned into existence. From the standpoint of the conqueror, the colony is a world of limitless subjectivity.«90 Obwohl Hegel selbst die »Freude dieser allgemeinen Besitznehmung«91 in durchaus ambivalenter Weise beschreibt und darauf hinweist, dass der Geist, wenn er »alle Eingeweide der Dinge durchwühlt und ihnen alle Adern öffnet«92 , zunächst Hand an sich selbst legen müsse, bevor er »daraus entspringen möge«93 , verwandelt er doch anderes und andere in Eigenes, »d.h. eben in ein Sein, welches zugleich Ich ist«94 . Das Verhältnis von Hegels Geist zum ihm sinnlich Gegebenen entspricht deshalb, so lässt sich Feuerbach in einem posthumen Dialog mit Positionen anti-, de- und postkolonialer Theorie weiterdenken, historisch dem Verhältnis zwischen kolonialer Ich-Instanz und dem von ihr kolonisierten Du, weil er nichts außer sich kennt.

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Ders., Grundsätze der Philosophie der Zukunft, S. 291. In dieser Hinsicht hätte Adorno direkt auf Feuerbach Bezug nehmen können, wenn er zu seiner Kunstauffassung ausführt: »Das sprachähnliche Moment der Kunst ist ihr Mimetisches; beredt allgemein wird sie einzig in der spezifischen Regung, weg vom Allgemeinen. Die Paradoxie, daß Kunst es sagt und doch nicht sagt, hat zum Grunde, daß jenes Mimetische, durch welches sie es sagt, als Opakes und Besonderes dem Sagen zugleich opponiert.« Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1973, S. 305. Mbembe, On the Postcolony, S. 189. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 186. Ebd. Ebd. Ebd., S. 187.

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»Das anundfürsichseiende Wesen aber, welches sich zugleich als Bewußtsein wirklich und sich sich selbst vorstellt, ist der Geist. Sein geistiges Wesen ist schon als sittliche Substanz bezeichnet worden; der Geist aber ist die sittliche Wirklichkeit. Er ist das Selbst des wirklichen Bewußtseins, dem er oder vielmehr das sich als gegenständliche wirkliche Welt gegenübertritt, welche aber ebenso für das Selbst alle Bedeutung eines Fremden, so wie das Selbst alle Bedeutung eines von ihr getrennten, abhängigen oder unabhängigen Fürsichseins verloren hat.«95 Dagegen wird Feuerbach immer wieder die Gleichzeitigkeit und Wechselwirkung vieler Teilwesen betonen. Seit Das Wesen des Christentums (1841) wird der Begriff der Liebe, den er trotz mancher im 19. Jahrhundert verwendeter heteronormativer Formulierungen und entgegen Engels später Polemik aus demselben Jahrhundert gegen ihn nicht auf romantische Paarbeziehungen beschränkt, leitend für sein Werk werden: »Durch die Liebe erklärt ein Wesen, daß es sich selbst nicht genug ist, daß es nur in der Verbindung mit einem von ihm unterschiedenen Wesen befriedigt ist.«96 Obwohl er, während er seine Gedanken über Tod und Unsterblichkeit (1830) verfasst, noch in brieflicher Korrespondenz mit Hegel steht, den er aufgefordert hat, seine ihm gedanklich noch nahestehende Dissertationsschrift Über die Vernunft (1828) zu lesen, entwickelt er zeitgleich bereits Gedanken, die ihn von früheren Positionen während seiner Studienjahre und der Herr/KnechtDialektik seines ehemaligen Lehrers entfernen. Ihm zufolge öffnet Liebe Subjektivitäten füreinander. In krassem Kontrast zu Hegels ›Kampf um Anerkennung‹ schreibt er dann, »[j]e mehr du von deinem Selbst aufgibst, desto größer und wahrer ist deine Liebe. Denn lieben kann man nicht, ohne sich selbst aufzugeben, denn liebend lebe ich mich in ein andres hinein, ich setze mich, mein Wesen, nicht in mich selbst, sondern in den Gegenstand, den ich liebe, ich binde mein Sein an das Sein eines Andern, ich bin nur in dem Andern, mit dem Andern, für das Andre; bin ich nicht liebend nur für mich, so setze ich liebend mich für ein Andres, ich habe kein eignes, kein Fürsichsein mehr, das Sein des Andern ist mein Sein.«97 Feuerbach ist deshalb so relevant für das sogenannte Anthropozän unter postkolonialen Vorzeichen, weil er schon früh darauf besteht, dass die menschliche Gattung sich nicht in einzelnen Individuen manifestiert. Über die Abhängigkeit des Menschen von seiner Mitwelt schreibt er ebenfalls schon in seiner unter Pseudonym publizierten Schrift Gedanken über Tod und Unsterblichkeit (1830), die dafür sorgen sollte, dass ihm fortan der weitere akademische Weg versperrt war.

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Ebd., S. 325. Ludwig Feuerbach, [Über:] Betrachtungen über den Begriff des sittlichen Geistes und über das Wesen der Tugend Von Dr. Karl Bayer, Erlangen 1839, in: ders., »Werke in sechs Bänden, Band 3, Kritiken und Abhandlungen II (1839–1843)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975, S. 88. Ders., Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, S. 214. Nach dem Zweiten Weltkrieg argumentiert Césaire in ähnlicher Weise: »Attraction and terror. Trembling and wonderment. Strangeness and intimicy. Only the sacred phenomenon of love can still give us an idea of what that solemn encounter can have been …« Ders., Poetry and Knowledge, S. xliii.

3. Gesellschaftliche Verhältnisse: Feuerbach, Marx, Engels und Foucault

»Bist du freilich selber die Menschheit, der Geist, das Bewußtsein selbst, so ist natürlich mit dir Alles aus. Du bist, so glaube ich wenigstens, kein Gott, sondern ein Mensch, und eben weil du nicht ein Gott bist, so sind mehrere deinesgleichen, du bist nicht der einzige Mensch, sondern außer dir existieren noch viele andere Menschen. Glaubst du etwa nicht, daß die Mehrheit der Menschen in deinem Wesen selber ihren Grund und Ursprung habe, glaubst du etwa, daß es zufällig sei, daß mehrere Menschen sind? Mußt du nicht vielmehr überzeugt sein, daß die andern Menschen, ob sie gleich selbstständig existieren, nicht nur zu deiner Existenz, sondern auch wesentlich zu deinem Wesen gehören? Widrigenfalls mußt du glauben, daß du der einzige Mensch bist, der existiert.«98 Feuerbach spricht nur selten wie in obigem Zitat von der Menschheit. Die Menschheit ist ihm zufolge nur ein Abstraktum, »das Wirkliche aber, im Unterschied von diesem Abstraktum, [sind] die unzählig vielen einzelnen, beschränkten«99 Menschen. Eine abstrakte Menschheit gibt es ihm zufolge ebenso wenig wie eine Essenz des Menschen, die in der Subjektivität weißer europäischer Männer Gestalt annehmen würde. »Da du nun aber, wie mir die Erfahrung augenscheinlich lehrt und du wohl selber eingestehst, nicht allein existierst, so sind wir wohl beide verbunden, uns zu überzeugen, daß die Existenz von uns unzertrennlich ist von der Existenz anderer, daß die andern zu unserm Wesen, zur Natur von uns als besondere Individuen nicht weniger notwendig gehören als wir zu uns selbst.«100 Zur Zeit des deutschen Vormärz, über den er leider nicht hinauskommt, ahnt Feuerbach damit die noch immer nicht ›föderal‹ gestaltete, aber real existierende Gleichzeitigkeit und Wechselwirkung einer Vielzahl an Menschen und nicht-menschlicher Teilwesen voraus, deren miteinander verstrickte Positionen das menschliche Gattungswesen dezentrieren. Bis heute jedoch gibt es kein Parlament, in dem dieses im Angesicht einer drohenden Klimakatastrophe trotz aller Unterschiede auch gemeinsam betroffene ›Wir‹ in seinen gewaltsam gewachsenen planetarischen Zusammenhängen repräsentiert werden könnte.

98 Feuerbach, Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, S. 204. 99 Ders., Das Wesen des Christentums, S. 182. 100 Ders., Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, S. 204f.

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Dritte Szene des Menschen Monira Al Qadiris Behind the Sun (2013)

In der 9:35 Minuten dauernden Videoarbeit Behind the Sun (2013) geht es auf mehreren Ebenen um die anthropologische Konfiguration aus Ich und Du, die Feuerbach analysiert, wenn er die Sinnlichkeit des Menschen vor ihrer Aufhebung in einem absoluten Geist zu schützen versucht und sich gegen die abendländische Emphase des Selbstbewusstseins wendet.1 In Reaktion auf den Film Lektionen in Finsternis (1992) von Werner Herzog erzählt die kuwaitische Künstlerin Monira Al Qadiri, was in ihrem Land zu Zeiten des Zweiten Golfkrieges passiert ist, als die Truppen Saddam Husseins, eines ehemaligen Verbündeten des Westens im sogenannten Nahen Osten, sich nach dem Eingreifen eines militärischen Bündnisses um die USA aus Kuwait zurückzogen und dabei als Racheakt mit ökologischen Konsequenzen zahlreiche Ölfelder in Brand steckten. Sie tut dies allerdings aus mehreren und nicht wie der deutsche Regisseur aus nur einer Perspektive. Nachdem Kuwait am 2. August 1990 von Irak erobert und am 28. August 1990 dann annektiert worden war, griff vom 17. Januar bis 5. März 1991 eine von den USA geführte Koalition mit UN-Mandat in den Konflikt ein und befreite es von der irakischen Besatzung. Bis heute unterhalten die USA dort strategisch wichtige Militärstützpunkte und sind auch in das nationale Ölgeschäft involviert. War Saddam Hussein während des Ersten Golfkrieges gegen Iran (1980–1988) vom Westen noch unterstützt worden – sein Regime wurde von Deutschland sogar mit wichtigen Bestandteilen für chemische Waffen beliefert –, in der Hoffnung, dass so die gerade ausgerufene Islamische Republik sofort wieder fallen möge, ist er im Zweiten Golfkrieg sein Gegner. Obwohl der Konflikt aufgrund der militärischen Überlegenheit unter anderem der amerikanischen, englischen und saudischen Streitkräfte gegenüber den Truppen Husseins weniger als zwei Monate währte, stellte er zum damaligen Zeitpunkt den materialreichsten Krieg seit 1945 dar. Die apokalyptischen Bilder brennender Ölfelder und eines von Ruß vollständig geschwärzten Himmels über leeren Wüstenlandschaften, die sich seit der damals von CNN 1

Auszüge dieser Szene des Menschen sind bereits auf Englisch erschienen in Leon Gabriel, Julia Schade, Stefan Hölscher und Ruth Schmidt, Elements Matter. New Relationalities in Colonial Modernity, in: The Nordic Journal of Aesthetics, Vol. 31, No. 46: Aesthetic Relations (2022).

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

über Kabel und Satelliten weltweit übertragenen Live-Berichterstattung ins globale Gedächtnis eingegraben haben, inspirierten Herzog zu Lektionen in Finsternis (1992), einem hoch ästhetisierten, bildgewaltigen Werk. In Herzogs Film sehen wir über zahlreiche Hubschrauberaufnahmen vermittelt eine Landschaft, die eher der Kraterlandschaft eines fremden Sterns als einem Teil dieses Planeten ähnelt. Herzog evoziert mit seinem Werk zugleich den Anfang und das Ende des Lebens auf der Erde. Untermalt mit der Musik Richard Wagners und christlichen Texten zum Weltuntergang aus der Bibel, verwandelt seine doku-fiktionale Appropriation die Spezifik der damaligen Ereignisse – die Auswirkungen des Zweiten Golfkrieges nicht nur auf Kuwait – in ein Szenario der deutschen Romantik. Kurz nach Ende des Krieges, als die Felder noch brannten, war er dafür samt Filmteam und modernster Aufnahmetechnik zu Dreharbeiten in den Golfstaat gereist. Gestochen scharfe Bilder, großenteils aus der Luft aufgenommen, langsame Kamerafahrten entlang aufwendiger Löscharbeiten in der Wüste, bei denen die Arbeiter*innen der Ölindustrie in ihren Schutzanzügen wie Aliens aus einer fremden Galaxie wirken und Nahaufnahmen im Rahmen von Interviews mit überlebenden Opfern des Krieges, die von Folter und Vergewaltigungen durch irakische Soldaten berichten, verleihen bei ihm der spezifischen Situation Kuwaits zu Beginn der 1990er Jahre das Gesicht eines nicht nur historisch und geologisch herausragenden, sondern eines eschatologischen Ereignisses. Herzogs eurozentrische Doku-Fiktion macht aus dem politischen und ökologischen Desaster vor Ort den Sündenfall des Menschen überhaupt und ein menschliches Telos, das sich als Todestrieb herausstellt. Der deutsche Regisseur entscheidet sich für eine allgemeine Sicht auf die Geschehnisse von oben herab. Unterstützt von den bombastischen Orchesterklängen der Musik Wagners und sakralen Texten über die Apokalypse, setzt er die von den brennenden Ölfeldern aufsteigenden Rauchschwaden wie einen Bühnennebel ein und verwandelt das von ihm bearbeitete dokumentarische Material in die fiktionale Erzählung der Genesis, die er den Zuschauer*innen in einer über den Dingen schwebenden Gesamtschau vorführt. Herzogs monumentale Bilder sind jeder situierten und verstrickten Subjektivität entledigt. Sie zeigen brennende Ölfelder aus einem Blickwinkel, der Objektivität für sich beansprucht. Dennoch könnte Lektionen in Finsternis (1992) provinzieller nicht sein. Obwohl der Film die moralische Haltung seines Autors manifestiert und aus einer Umweltkatastrophe, die damals mit dem Leid des Krieges einherging, nämlich aus tausenden Tonnen in die Atmosphäre entlassenem Kohlenstoff, die Allegorie einer universalen Katastrophe macht, reproduziert er in seiner ästhetischen Form, was er inhaltlich zu kritisieren versucht: eine Subjektform, die Dussel am solipsistischen Bewusstsein der kolonialen Moderne festmacht und die den gewaltigen Opern Wagners und seiner Idee des Gesamtkunstwerks, in dem große Geister zu sich selbst gelangen, ebenso nahesteht wie einer sowohl die Zeit als auch menschliche Geschichte abschließenden Phantasie – der christlichen Heilsgeschichte Europas. Al Qadiri greift Herzogs Film auf, variiert dessen Motivik jedoch in entscheidender Weise. Dabei geht es weniger um Anerkennungsverhältnisse als um eine dezentrierte Subjektivität und multiperspektivische Subjektivierungsweisen. Während Herzog einen in sich zentrierten Universalismus inszeniert, entfaltet sich das knapp zehnminütige Video der kuwaitischen Künstlerin entlang von 22 in die Ereignisse verwickelten Perspek-

Dritte Szene des Menschen

tiven. Herzog schaut nahezu gottgleich und vertikal von oben nach unten, Al Qadiri hingegen folgt in ihrer Replik auf ihn den horizontal aufgespannten sinnlichen Verhältnissen zwischen mehreren Verortungen des Geschehens vor Ort zu Beginn der 1990er Jahre. Über ihre Arbeit schreibt sie: »After the first Gulf War in 1991, countless oil fields in Kuwait were set ablaze during the retreat of invading forces. Those months following the war were nothing short of the classic image of a biblical apocalypse: the earth belching fire and the black scorched sky felt like a portrait of hell as it should be, an almost romanticized vision of the end of the world. Werner Herzog, lured by the surrealism of this present-day hell, shot his docu-fiction film ›Lessons of Darkness‹ there which placed images of the oil fires alongside Christian biblical texts and a Wagner soundtrack. Inspired by his endeavor 20 years later, I am re-exploring this cataclysmic event and attempting to expand its meaning, especially because the idea of imminent doom is even more omnipresent in today’s world. Amateur VHS video footage of the oil fires is juxtaposed with audio monologues from Islamic television programs of the same period. At the time, the tools used to represent religion were geared towards visualizing god through nature. Trees, waterfalls, mountains, and animals were the visual staple of religious media, and the narration was not that of the Koran, but of Arabic poetry recited by a skilled orator with a deep voice.«2 Trotz des freundlichen Tons der Bildenden Künstlerin, Performance- und Videomacherin gegenüber Herzog lässt sich ihre Arbeit Behind the Sun (2013) neben anderen Aspekten auch als formale Kritik an dem ihr vorausgehenden Film des deutschen Regisseurs lesen. Al Qadiri stellt dessen katholischem Universalismus einen Pluriversalismus entgegen, der sich statt aus der Bibel aus arabischer Poesie und Popkultur speist und statt aus dem Heiligen aus den profanen Verhältnissen zwischen konkreten Menschen herrührt. Die Künstlerin geht zwar von Herzogs 20 Jahre zuvor entstandenem Film aus, verschiebt jedoch dessen Fokus. So lässt sie Herzogs ästhetische Lösung eines politischen Problems als Teil ebendieses Problems erkennbar werden, nämlich anzunehmen, die gewaltsame Verstrickung von Teilwesen ließe sich losgelöst von ihnen fassen. Während Herzogs Universalismus ein Universalismus des Geistes ist, der historische Ereignisse in einen biblischen Schöpfungsmythos integriert, ist Al Qadiris Pluriversalismus der Sinnlichkeit mehreren Menschen gewidmet. Herzog schaut meistens von oben auf Kuwait herab und reproduziert, obwohl er dies so nicht intendiert, einen kolonialen Blick auf einen geografischen ebenso wie gesellschaftlichen Kontext, der weder etwas mit der deutschen Romantik oder mit Wagner noch mit christlicher Heilsgeschichte zu tun hat. Al Qadiris Antwort auf Lektionen in Finsternis (1992) besteht im Unterschied dazu darin, die Ereignisse von unten zu zeigen, aus der Sicht derjenigen Menschen, die zu einem spezifischen Zeitpunkt an spezifischen Orten waren. Ihr Video besteht aus Amateuraufnahmen kuwaitischer Bürger*innen, die mit damals sehr modischen VHS-Ka-

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https://vimeo.com/79202894, Zugriff am 22.2.2019. Der Timecode der folgenden Detailstudie bezieht sich auf das sich dort befindliche, nicht öffentlich zugängliche Video, das Al Qadiri freundlicherweise für die Anfertigung dieses Kapitels freigegeben hat.

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meras aus Kuwait City und kleineren Städten in die Wüste hinausfuhren, um die gespenstische Szenerie an den Ölfeldern festzuhalten, bevor Herzog mit seinem Team im Land eintraf. Im Gegensatz zur glatten und aufpolierten Ästhetik des Films von Herzog besteht das found footage, das Al Qadiri montiert – 22 zu Beginn der 1990er Jahre vor Ort entstandene VHS-Aufnahmen, deren Körnigkeit auf den zeitlichen Verschleiß von Analogträgern verweist –, aus teilweise verwackeltem, unscharfem oder unfokussiertem Material, das gerade deswegen eine ästhetische Wirkung entfaltet, deren Qualität von Herzogs Qualitätsvorstellungen kaum weiter entfernt sein könnte. Auch die Tonspur von Al Qadiris Video beschäftigt sich mit religiösen Motiven, wenn auch ganz anders als Herzog. Sie greift dafür weder auf die Bibel noch den Koran zurück, sondern wie schon beim Bildmaterial auf populäres found footage. Konkret handelt es sich um O-Töne aus islamischen TV-Sendungen, in denen vermittels der Rezitation arabischer Naturgedichte Allah gepriesen wird.3 In diesen Gedichten erscheint Gott nicht als jemand, der die Welt willentlich erschaffen hat und sie irgendwann ebenso willentlich wieder vernichten wird, sondern Gott wird hier mit der Schönheit einer Natur gleichgesetzt, die sich in ihrem Verhältnis zum Menschen zeigt. Während Herzog sich anhand einer pessimistischen Endzeiterzählung an deren erhabenem Moment abarbeitet, stellt Al Qadiri auf akustischer Ebene einen Optimismus des Schönen in den Vordergrund, der sich aus populären TV-Formaten, die während der Zeit des Zweiten Golfkrieges in mehreren Golfstaaten gesendet wurden, speist und zum Bildmaterial der VHS-Kameras in einer Spannung steht. Was sie damit erzielt, ist mehr als nur ein filming back oder eine Parodie, mit der sie auf Herzogs von Wagner herrührende Verschmelzungsphantasien – mit der Erde, dem Ende des Lebens, dem Tod – antworten würde. Vielmehr wird durch den Abstand, den sie zwischen Bild und Ton etabliert, beiderlei Gemachtsein durch menschliche Praxis erfahrbar, auf die sich sowohl das im Bild zu Sehende als auch die Vorstellung einer Natur, deren Teil der Mensch sei, zurückführen lassen. Behind the Sun (2013) ist erstens weniger prätentiös aufgeladen und artifiziell durchkomponiert als Lektionen in Finsternis (1992), zweitens verhalten sich hier Bild- und Tonspur anders zueinander. Während Herzog apokalyptische Motive der Bibel vermittels didaktisch operierender Texteinblendungen mit den Bildern eines möglichen Endes der Welt konstelliert und so Bild und Ton sich gegenseitig stützen lässt, kontrastiert Al Qadiri die laienhaften Aufnahmen von Handkameras mit einer aus kitschigen Lyrikrezitationen komponierten Tonspur, in der es anhand von Naturgedichten um die Preisung von Gottes Schönheit geht. Zu hören ist in ihrer Videoarbeit aus dem Off die mit einem albernen Halleffekt unterlegte Stimme eines Mannes, der nicht aus dem Koran rezitiert, sondern Gedichte vorliest, in denen in einem geradezu kantischen Sinne Natur von Menschen günstig aufgenommen wird. Im Unterschied zu Herzog setzt Al Qadiri weder auf einen strafenden Gott noch auf das Format des Gesamtkunstwerks, sondern auf folkloristische Poesie sowie auf die Spannung zwischen den von ihr eingesetzten Mitteln. Zwar erfüllen sowohl die Bibelzitate als auch die damals im TV mancher Golfstaaten weit verbreitete Rezitation religiöser Gedichte eine fiktionale Funktion. 3

Bezüglich eines ästhetischen Zugangs zum Koran und zur islamischen Religion vgl. die Habilitationsschrift von Navid Kermani, Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran, München: C.H. Beck, 2000.

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Abb. 31 & 32: Monira Al Qadiris Behind the Sun, Video still, 2013 (mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin)

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Wie im Verlauf der Videoarbeit deutlich wird, weisen sie jedoch andere Qualitäten auf. Wie Herzogs Bilder zeigen auch die Bilder Al Qadiris brennendes Öl und Rauchschwaden. Auf der Ebene des Tons jedoch geht es bei ihr um eine schöne Natur. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, inwiefern Behind the Sun (2013) neben der von Feuerbach beschriebenen anthropologischen Konfiguration aus Ich und Du vom Spannungsverhältnis zwischen weißer Subjektform und Subjektivierungsweisen handelt, wobei die Motivik des Islams, der wie das Christentum auf der Idee eines göttlichen Individuums beruht, auf visueller Ebene von multiperspektivischen Aufnahmen überlagert wird, die sich als ironischer Kommentar auf den deutschen Film von 1992 lesen lassen. Während Herzogs Werk die Geschehnisse vor Ort auf einer großen Skala in einer über den Dingen schwebenden Instanz verankert und so die von Mignolo anhand der Theo-, Ego- und Organopolitik skizzierte Problematik wiederholt, deren historische Genese zu verstehen Feuerbach helfen kann, begibt sich Al Qadiri auf kleineren Skalen in das Geschehen hinein und zeigt, inwiefern es mehrere Perspektiven miteinander verschränkt. Herzogs Film folgt der Devise ego cogito, ergo sum, Al Qadiris Video hingegen dem Motto Ich bin, von wo aus ich denke. Der Gesamtschau des deutschen Regisseurs stellt die kuwaitische Künstlerin Bildsequenzen entgegen, die das Geschehen nur ausschnittsweise zeigen und anstatt vermeintlicher Objektivität subjektiv situierte Positionen manifestieren. So öffnet Al Qadiri die Logik der Ich-Instanz, der Herzog verhaftet bleibt, gegenüber einem Bereich des Du und auf mehrere Subjektivitäten hin. Den Menschen als Subjektivierungsweise setzt Al Qadiri Herzogs Panoramablick entgegen, indem sie aus der Popkultur gewonnenes Audiomaterial mit von beliebigen Leuten produziertem VHS-Material montiert, das sie digitalisiert und neu arrangiert. Während bei Herzog Multiperspektivität von einer objektivierten Perspektive verdrängt wird – er erzählt in genialisch anmutendem Gestus eine Schöpfungsgeschichte, die um einen über den Menschen platzierten Gott herum zentriert ist –, macht Al Qadiri 22 Perspektiven anschaulich, die kein Zentrum haben. Anders als bei Herzog zeigen die Bilder bei ihr keine überirdische Welt, sondern wir müssen uns zu ihnen hinbegeben und können so nachvollziehen, wie sie von Menschen hergestellt wurden. Ein gutes Viertel des Films (00:00 bis 02:50) nimmt unsere Reise zu den Bränden in Anspruch. Während dieser Zeit hören wir nur Wind und rollende Reifen auf einem geschotterten Untergrund. In den ersten Minuten des Videos sehen wir die Ereignisse in Kuwait zu Beginn der 1990er Jahre aus der Perspektive einer Kamera, die vom Fahrersitz eines PKWs aus dessen Seitenfenster gehalten wird. Wir sehen eine nur scheinbar nächtliche Landschaft, die sich entlang einer einsamen Straße erstreckt. Doch als der Himmel aufklart (00:46) und aus dem vorigen tiefen Schwarz graue Rauchschwaden werden, die auch jetzt noch dicht sind, stellt sich heraus, dass es gar nicht Nacht war, sondern unsere Sicht von schwarzem Ruß blockiert wurde, dessen Ursprung brennende Ölfelder sind. In weiter Ferne sehen wir nun Flammen, wobei das Bild immer wieder ruckelt, weil sich die Kamera wegen der Unebenheit der Straße abrupt nach oben oder unten bewegt (01:07 erst nur kurz und dann wieder im letzten Teil der ersten VHS-Sequenz ab 02:19). Dann kommt das Auto zum Stehen. Es gibt einen Schnitt (ab 02:45). Die Feuer sind zwar näher gerückt, aber noch immer in weiter Ferne. Danach, als es schon heller geworden ist, die zweite VHS-Aufnahme und zum ersten Mal eine Stimme, die in einer riesigen Halle zu sprechen scheint und auf Arabisch sagt: »He has created this magni-

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ficent world/with His imagination/for as far as we can see/its order is sound«4 . Während Herzog den majestätischen Text seines Films mit seiner aufgrund ihres bayrischen Akzents markanten, weichen Stimme selbst einspricht, imitiert Al Qadiri in ihrer Antwort darauf zwar formal die erhabenen Untertöne der Vorlage, inhaltlich jedoch rekurriert sie statt auf die Texte großer heiliger Bücher auf folkloristische Gedichte, stellt also Lektionen in Finsternis (1993) vom Kopf auf die Füße. Auf dieser Ebene ließe sich mit Brecht von Verfremdungseffekten sprechen, wird doch, durch den ins Groteske abgleitenden Halleffekt, der die originalen TV-Sendungen kennzeichnet, die allzu menschliche Preisung Allahs als Naturzusammenhang mit einem Augenzwinkern in Richtung Herzogs Bibelexegese montiert. Langsam und von sanften Erschütterungen durchzogen schwenkt die Kamera von rechts nach links – in der Leserichtung der arabischen Schriftsprache – und schweift währenddessen an mehreren Ölquellen vorbei, die sich in große brennende Fackeln verwandelt haben. Zu sehen ist auch der Himmel über ihnen, dessen Blau nur hier und da blass zwischen grauen Wolken hervorguckt. Wieder ein Schnitt, der zweite (03:17). Danach die nächtlichen Aufnahmen einer weiteren VHS-Kamera und eine dritte Perspektive. Dunkelblauer Himmel, der ins Schwarze ausläuft und die lyrische Stimme, die über den Bildschnitt hinweg spricht, als wäre sie vom Wechsel unterschiedlicher Einstellungen nicht tangiert: »This morning and this night/are alternating forever/for one sleeps, and the other awakens/the night is erased by the day …« Ein dritter Schnitt (03:37). Wieder ein Perspektivwechsel. Danach sind wir nahe eines Feuers, direkt vor dessen Rauchwand. Während Herzog, wenn er die Szenerie nicht vermittels lang ausgedehnter Helikopterflüge über den Ölfeldern monoperspektivisch inszeniert, die Arbeiter*innen der Ölindustrie in heroische Posen setzt, zeigt Al Qadiri mithilfe des von ihr zusammengestellten VHS-Materials Szenen, die keinen Überblick für sich beanspruchen und sich an keinem Punkt totalisieren lassen. Die Stimme sagt: »… whenever you wish/and if you will it/our night shall last«. Vierter Schnitt (03:49). Danach die Sonne am Himmel hinter Wolken: »The morning … /… is spun by a deer’s smile/sewing a world full of song and paradise/the sun’s beauty shines unabated/even after it has gone …/… it lights stars in the skies./The sun revolves«. Die Kamera wird parallel zur Gedichtrezitation von der Sonne aus, auf der sie anfangs für einen kurzen Moment verharrt, über den Himmel auf schwelende Brände geschwenkt und macht aufgrund der Differenz zwischen Bild und Ton die Herkunft einer Natur, welche der vorgetragenen Lyrik zufolge Allah widerspiegelt, aus menschlicher Subjektivität deutlich. Anstatt auf eine abstrakte Idee Gottes wie bei Herzog ist Al Qadiris Arbeit auf konkrete Menschen bezogen. Nach dem fünften Schnitt (04:22) sind wir in den Flammen. Langsam tastet die Kamera glühende Pfützen am Boden ab, sodass der Eindruck entsteht, wir könnten uns in der Nähe eines Vulkans befinden, der gerade ausgebrochen ist. Der Kontrast zwischen der Sonne, die auf der Tonebene gepriesen wird, und der zerstörerischen Hitze der Feuer im Bild verwandelt die visuelle Ebene der Arbeit in etwas, das auf traurig komische Weise von den gesprochenen Worten abfällt.

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Diese und alle folgenden lyrischen Zitate beziehen sich auf die englischen Untertitel des Videos.

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Abb. 33 & 34: Monira Al Qadiris Behind the Sun, Video still, 2013 (mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin)

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Zwar ist die Sonne hinter Rauchschwaden versteckt, die zerstörte Landschaft unter ihr sieht aber aus, also würde sie einen Hitzetod sterben. In Lektionen in Finsternis (1992) wird ein allgemeiner Blickwinkel zwischen Wagners Gesamtkunstwerk und der biblischen Apokalypse etabliert. Al Qadiris Behind the Sun (2013) hingegen wendet sich besonderen Situationen zu, die über 22 ursprünglich unabhängig voneinander entstandene VHS-Aufnahmen hinweg präsentiert werden. Während unser Blick nun dank der ZoomFunktion der sechsten VHS-Kamera über brennende Öllachen schweift, fährt die hallige Stimme fort zu sprechen. Mit der Zeit schwankt sie zwischen Kitsch und Würde, fast, als würde sie den Tonfall des deutschen Regisseurs aus Bayern auf die Spitze treiben wollen: »[T]he sun revolves/nothing can delay it/it has its own orbit like the planets/and the moon revolves/as you will it to …« Langsam wird klar, wie sehr die aneinander montierten subjektiven Perspektiven in krassem Kontrast zur Lyrik über eine harmonische und wohlwollende Natur stehen, welche die Off-Stimme preist. Sechster Schnitt, siebte Kameraperspektive (04:44). Jetzt sehen wir die Ruine eines Gebäudes, das vollständig ausgebrannt ist: »[F]or it has homes and rooms in the sky./And the stars«. Die Kamera versucht, die Ruine zu fokussieren. Aufgrund der Brände verschwimmt das Bild jedoch. Gleich wieder ein Schnitt, der siebte (04:54). Jetzt schauen wir horizontal auf brennende Öllachen, die aussehen wie eine Meeresoberfläche bei Sonnenuntergang und die Umweltkatastrophe einem kantischen Naturschönen annähern. Herzog zielt aufs Erhabene und findet dort den Todestrieb. Bei Al Qadiri besteht trotz allem etwas mehr Hoffnung. Das Universum, das sie beschreibt, scheint sich von der einen Sonne gelöst und vielen weiteren Sonnen gegenüber geöffnet zu haben: »[T]he stars swim in space as you guide them to/as they illuminate the walker’s path/while they shine./Oh how many galaxies and nebula/fly in the universe of space/like sunken atoms«. Achter Schnitt (05:30). Danach ein vertikal nach oben schießendes Feuer sowie eine pechschwarze Rauchwand: »A moon/that circled the earth …/… with love/for it is like a hill for nighty creatures.« Neunter Schnitt (05:47) und darauf eine Sicht auf mehrere brennende Quellen unter rotem Himmel: »Many moons …/… boast the Gemini/and many stars …/… are radiating, wandering.« Die Kamera bewegt sich wieder von rechts nach links und zeigt dabei zunehmend weniger vom Boden, der bald nur noch einen kleinen Teil im unteren Bildbereich einnimmt, während die visuelle Ebene von gigantischen Rauchsäulen am Himmel dominiert wird: »Many seas …/… only He knows how far they flow«. Jetzt wird eine Flammensäule fokussiert (06:08). Das Bild besteht am Ende aus ihrem Rot vor schwarzem Hintergrund, als handele es sich um abstrakte Malerei: »[A]nd treasures …/… under His protection/are everlasting./The flowers …« Zehnter Schnitt. Das found footage einer elften VHS-Kamera (06:19). Jetzt taucht eine Reihe verbrannter Bäume auf, die scheinbar einen See säumen, der sich bald als Öllache entpuppt. Durch die Auswahl dieses Materials gelingt es Al Qadiri, mit verschiedenen VHS-Sequenzen Reminiszenzen an Naturschönes und die menschengemachte Katastrophe ineinanderzublenden. Im Hintergrund eine orangefarbene Sonne: »The flowers …/… expose their hiding place with a scent/to which the bees rush with haste./And so the bee infuses its drink.« Elfter Schnitt (06:32). Eine Flammenwand, die weniger von der Apokalypse als von idyllischer Landschaftsmalerei zu künden scheint: »[W]ith aroma/for even the spaces/miss its quivering body/the generous earth bears essences/whose pleas-

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ant taste is enjoyed by many lips.« Zwölfter Schnitt (06:54). Kurzer Zoom in die Flammen hinein. Jetzt folgt die Logik der Montage vollends malerischen Kriterien und dem Wechsel verschiedener Farbspektren. Sie verschränkt Tragisches mit Komischem und manifestiert dabei einzelne Perspektiven, die spätestens an dieser Stelle nicht weiter von Herzogs erhabenen Kameraflügen entfernt sein könnten. Dreizehnter Schnitt (07:00). Eine rote Flammensäule vor schwarzem Hintergrund, auf welche die vierzehnte VHS-Kamera langsam zoomt, bis aus ihr scheinbar ein reißendes Flussbett wird: »The river …/… the river bursts its banks/to water the soil/for it makes the plant’s stalk/grow enormously.« An dieser Stelle ahmen sich die sich im Bildfeld abzeichnenden Konturen und der Inhalt des Gedichts gegenseitig nach, wobei die emporschießende Flamme keinen Boden bewässert, um Pflanzen auf ihm wachsen zu lassen, sondern den Himmel verdunkelt, indem sie Massen an Rußpartikeln freisetzt. Der vierzehnte Schnitt (07:22) lässt aus roten gelbe Flammen werden, die farblich mit der in vorigen Sequenzen auftauchenden Sonne korrespondieren, was durch den pumpenden Bildrhythmus noch verstärkt wird: »The water flows/… smoothly, coldly, calmly/tempting the thirsty.« Diese Beschreibung des Wassers kollidiert mit dem Feuer. Mit dem fünfzehnten (07:36) und sechzehnten Schnitt (07:41) werden aus gelben wieder rote und dann rosa Flammen. Das Feuer ähnelt nun einer aufblühenden Rose. Gegen Ende ihres Videos ordnet Al Qadiri das Bild der Tonspur unter und scheint dabei Herzogs Subsumption der Wüstenlandschaften Kuwaits unter heilige Texte zu imitieren. Anstatt wie der erste Teil der Arbeit visuelle und akustische Ebenen in ein Spannungsverhältnis zueinander zu setzen, provoziert der zunehmende Abstraktionsgrad der letzten Bildsequenzen dazu, in ihnen die Illustration der in den lebensbejahenden Gedichten stattfindenden Preisung Allahs zu sehen, der in einer Menschen wohlgesonnen Natur wirken würde: »It is beautiful …/… so beautiful it rivalled the roses/with its splendor/for the heart becomes lost/in a world of beauty.« Allerdings besteht die Rose aus Feuer und die Natur, mit der Gott in der Lyrik korrespondiert, steht in Flammen. Nach dem siebzehnten Schnitt (08:03) sehen wir in der achtzehnten VHS-Sequenz wieder ausgebreitete Öllachen, die eine Seenplatte in der kuwaitischen Wüste sein könnten, wären da nicht die zahlreichen Feuer, die aus ihnen emporsteigen: »Everyone enjoys the blessings/bestowed upon them/for they take different forms …/… and tastes.« Aus schwarzem Rauch heraus fährt die Kamera kurz in den Himmel, dann folgt der achtzehnte Schnitt (08:22). Noch immer sind überall Flammen, die jetzt aus einer nach oben ragenden Pipeline hervorschießen, welche anthropomorphe Züge aufweist. Es fällt nicht leicht, sich des Eindrucks zu erwehren, eine menschliche Gestalt in ihr zu sehen. Während Erdgeschichte bei Herzog einem über ihr thronenden Gott entspringt und gleichsam wieder in ihn zurückfließt, ist sie bei Al Qadiri mit menschlicher Geschichte und der sinnlichen Praxis von Menschen verwoben. Gott wirkt hier als kitschiger Halleffekt in einer zerstörten Natur, die von Ölfilmen bedeckt ist, während seiner Schönheit gehuldigt wird. Obwohl Al Qadiri im Unterschied zu Herzog keinen einzigen Menschen im Bild zeigt, weist ihr Material aufgrund des Amateurcharakters der VHS-Aufnahmen dennoch menschliche im Sinne subjektiv situierter Spuren auf. Die Stimme fährt fort: »How strange the story is …/… of a man who flaunts himself/when he is merely mortal.«

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Abb. 35 & 36: Monira Al Qadiris Behind the Sun, Video still, 2013 (mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin)

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Jetzt schlägt auch die über die Tonspur des Videos vernehmbare Lyrik eine andere Richtung ein. Hier geht es nicht mehr um Allah, wie er sich vermittels der Schönheit der Natur offenbart, sondern zum ersten Mal um einen Menschen, der seine Sterblichkeit und Endlichkeit verkennt, wenn er meint, allein von sich aus und als Individuum göttliche Eigenschaften zu besitzen. Die Kamera zoomt aus dem Bild heraus. Über den Flammen sehen wir einen fast blauen Himmel, in den sich eine gewaltige Rußsäule hineinschraubt. Nach dem neunzehnten (08:46) und zwanzigsten Schnitt (08:52) erscheint ein Baumstumpf vor einer orangefarbenen Feuerwand, und die Stimme sagt: »If the trees of Being were to become …/… Pens/and their ink was the known water of life/if God gave them rivers of ink/to answer the Plea of His creation/the spring would die/and His words would end.« Der einundzwanzigste und letzte Schnitt (09:11) eröffnet eine andere Perspektive auf denselben Brandherd. Die Bäume tragen keine Blätter. Dann ist das Video zu Ende und der im Ausstellungsraum ablaufende Loop beginnt von Neuem. Während Herzogs Narration aus einem als Person verstandenen Gott geschöpft ist und zu ihm zurückkehrt, endet Al Qadiris Videoarbeit, die seit 2013 in zahlreichen Museen der Gegenwartskunst präsentiert wurde, mit dem Hinweis des Gedichtrezitators, der bis dahin optimistischer klang, dass es schlecht um Menschen bestellt wäre, wenn Natur allein ihretwegen existieren würde. Wenn Bäume Füller wären und ihre Tinte das Wasser in einer Welt, in der Gott Flüsse aus Tinte geschaffen hätte, um ihm Wörter schreibend näherzukommen, würde der Frühling mit ihm verschwinden. Behind the Sun (2013) begibt sich in mehrerlei Hinsicht hinter die Sonne. Auf der Bildebene, weil hier der Himmel von Ruß verhangen ist, in einem weiteren Sinne aber auch, weil im Video anders als im Film Lektionen in Finsternis (1992) eine Multiperspektivität und Subjektivierungsweisen produziert werden, die von der Sonne als irgendwo verankerbarem Zentrum, um das Planeten kreisen, wegführen. Indem Al Qadiri arabische Poesie mit den Videobildern wütender Flammen sowie eines schwarzen Himmels konstelliert und am Ende kurz eine menschliche Gestalt andeutet, bevor schließlich auch die bis dahin fröhliche Lyrik umschwenkt, erinnert sie gegen Herzogs doku-fiktionales Gesamtkunstwerk daran, dass hinter den Geschehnissen in Kuwait zu Beginn der 1990er Jahre Menschen stehen und kein Gott. Es sind spezifisch menschliche Handlungen, die zum Zweiten Golfkrieg geführt und auch das ökologische Desaster danach verursacht haben. Wie die Tinte in den letzten Gedichtzeilen ist Öl ein begehrtes Objekt, das Auswirkungen auf sinnliche Verhältnisse sowohl zwischen Menschen als auch zwischen ihnen und Natur hat. Wie die Tinte beruht der Status von Öl innerhalb ökonomischer Wertkriterien und bezüglich politischen Handelns auf dem Missverständnis, Menschen seien selbstbestimmte Subjektformen.5 Herzogs Narrativ kreist in seinen biblischen und wagnerischen Anklängen um einen ebenso erhabenen wie allgemeinen Bezugspunkt. Er inszeniert eine Landschaft nach dem Verschwinden von Menschen, während Al Qadiri deren viele Perspektiven ins Spiel bringt und offener lässt als er, wie diese einzuordnen sind. Dennoch weist sie, durchaus humorvoll, darauf hin, dass Subjektivitäten miteinander und in Natur als ihren Zusammenhang verstrickt sind, obwohl sie sich dabei in immer spezifischen und besonderen Situationen befinden. 5

Vgl. hierzu exemplarisch Timothy Mitchell, Carbon Democracy. Political Power in the Age of Oil, New York: Verso, 2011.

»Wie lässt sich die Sehnsucht des Kapitals erklären, die Erde verlassen zu wollen? Sie gleichzeitig zu zerstören und hinter sich zu lassen? Wozu all die Träumereien von Spaceshuttles, Kolonien im All oder Reisen zum Mars und dazu noch die Militarisierung des Weltraums? Will der Kapitalismus diese kaputte Erde zerstören, so wie er unsere Körper neu verdrahten will? Ist das das schmutzige Geheimnis des Kapitalismus: die finale Zerstörung der Erde samt unserer widerspenstigen Körper – beides Überbleibsel aus Milliarden von Jahren nichtkapitalistischer Entwicklung? Warum stehen gleichzeitig die Militarisierung des Weltalls und die Reprogrammierung unserer Chromosomen und unseres Nervensystems auf dem Plan? Warum sonst, wenn nicht, um ein durch und durch kapitalistisches Wesen in einem rein kapitalistischen Plasma und einer rein kapitalistischen Sequenz von Arbeitsabläufen zu definieren – schwerelose, formlose Nervensysteme, bereit für endlose Neuverdrahtungen?«

– Silvia Federici und George Caffentzis (2020)

4. Marx, Engels und der Mensch als Gattungswesen

»Feuerbach, mit dem abstrakten Denken nicht zufrieden, appelliert an die sinnliche Anschauung; aber er faßt die Sinnlichkeit nicht als praktische menschlich-sinnliche Tätigkeit«1 , lautet Marxens Fünfte These über Feuerbach und einer seiner Einwände gegen ihn aus dem Jahre 1845. Die Kritik, die Marx und Engels danach in Die deutsche Ideologie (1932) an ihn richten, beruht auf einer Reihe von Missverständnissen. Während Feuerbach sich nämlich auf der Ebene sinnlicher Verhältnisse mit der Form von Subjektivität befasst, die der bürgerlichen Gesellschaft zugrunde liegt und die von Marx und Engels, wenn sie ihr kommunistisches Projekt entwickeln, nicht durchgearbeitet wird, konzentrieren sie sich auf der Ebene gesellschaftlicher Verhältnisse darauf, einen Konflikt herauszustellen, den sie als Widerspruch zwischen der bürgerlichen Gesellschaft als ›Verkehrsform‹ und der Tätigkeit einzelner Individuen in ihr im Sinne von ›Produktivkräften‹ fassen. Dabei gehen sie davon aus, Feuerbachs immer wieder zum Thema gemachtes Verhältnis zwischen ersten und zweiten Personen (seine Konstellation von Ich und Du) sei auf ein Verkehrsverhältnis zwischen Personen reduzierbar, das sie historisieren und mit der geschichtlichen Situation der sich im 19. Jahrhundert in manchen Ländern Europas sowie in den Kolonien herausbildenden Industrialisierung und Massenarmut konfrontieren. Weil Marx und Engels sich nicht näher mit der christlichen Subjektivität befassen, welche Feuerbach analysiert und die auch den Kolonialismus als erste ökologische Katastrophe hervorgebracht hat, interessieren sie sich eher für Klassenkämpfe als für die Weise des Menschseins, die Klassen derart miteinander konstelliert. Die deutsche Ideologie wurde erst sehr spät und posthum – erstmals Anfang der 1930er Jahre durch das Marx-Engels-Lenin-Institut in Moskau – publiziert, ist jedoch bereits 1845/46 verfasst worden, im Anschluss also an die berühmten Thesen über Feuerbach, die Marx im Frühjahr 1845 in Brüssel niederschreibt und die wiederum erst 1888 von Engels

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Karl Marx, [Thesen über Feuerbach], in: ders. und Friedrich Engels, »Werke, Band 3«, Berlin: Dietz Verlag, 1990, S. 534. Die folgenden Zitate sind der von Engels überarbeiteten und punktuell vom Original abweichenden, 1888 posthum veröffentlichten Fassung entnommen. Bezüglich einer Feuerbach in ähnlicher Weise abwertenden Lektüre der Thesen vgl. Ernst Bloch, Keim und Grundlinie. Zu den Elf Thesen von Marx über Feuerbach, in: Erich Thies (Hg.), »Ludwig Feuerbach. Wege der Forschung«, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1976.

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unter der Überschrift Marx über Feuerbach in veränderter Form, und zwar als Anhang eines revidierten Sonderdrucks seiner eigenen Schrift Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (1886), in Druck gegeben werden. Ebenfalls 1845 erscheint der Text Die heilige Familie, der noch eine gewisse Nähe zu Feuerbach durchklingen lässt, die allerdings bald in Distanznahme umschlägt. Diesbezüglich geht es hier um die Frage, inwiefern diese Distanznahme auf einer Lektüre Feuerbachs beruht, die ihm nicht gerecht wird, mit einem Registerwechsel von subjektivitätstheoretischen hin zu gesellschaftspolitischen Fragestellungen zu tun hat und dabei trotz ihrer Stoßrichtung in die von ihm aufgeworfene Problematik des Menschen als Gattungswesen verwickelt bleibt. In Marxens Thesen über Feuerbach (1845), die von Engels Jahrzehnte nach ihrer Entstehung veröffentlicht werden, um seine dann vollends ausgebildete Aversion gegen Feuerbach zu bestätigen, zeigt sich besonders deutlich, inwieweit die beiden zentrale Aspekte im Denken des Vorgängers der Schule, die sie errichten wollen, vernachlässigen, um auf seine Kosten der von ihnen bezogenen Position Kontur zu verleihen.2 Immerhin rechnet Marx hier Feuerbach dem ›Materialismus’ zu, wirft ihm gleich in der Ersten These jedoch vor, »de[n] Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt«3 zu haben, »nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv«4 . In der vorliegenden Arbeit wurde bereits gezeigt, dass hingegen genau dies Feuerbachs Einsatz ist, wenn er das Cogito von Descartes sowie Hegels Weltgeist analysiert, Poly- und Monotheismus anhand ihrer jeweiligen Formen des Wunsches miteinander vergleicht und zu dem Schluss kommt, im Christentum beziehungsweise im Gemüt der Christ*innen manifestiere sich eine Idee von Individualität, die selbstbezüglich ist und in ihrer angenommenen Selbsttätigkeit ihre Abhängigkeit von anderem und anderen verdrängt. Während Feuerbach demnach die dem postkolonialen Anthropozän innewohnende weiße Subjektform implizit kritisiert, wirft Marx ihm vor, die ›Wirklichkeit‹ nur ›in der Form des Objekts‹ zu fassen und nicht ›subjektiv‹ und deshalb nicht als Praxis verstehen zu können. Da für Feuerbach sinnliche Verhältnisse allerdings in der Gleichzeitigkeit und Wechselwirkung mehrerer Menschen und anderer Teilwesen mit- und aufeinander in Raum und Zeit als den »ersten Kriterien der Praxis«5 bestehen, sind für ihn schon vor Marx und Engels Sinnlichkeit, Subjektivität und Praxis nicht so leicht voneinander zu trennen. Bereits Marxens Erste These stellt einen Pappkameraden auf, wenn er darin schreibt: »Feuerbach will sinnliche, von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedene Objekte;

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»›Das Hauptgespenst ist natürlich ›der Mensch‹ selbst.‹ Aber wenn die Menschen dieser Logik zufolge nur als ›Repräsentanten‹ einer abstrakten Allgemeinheit existieren, eines Wesens, eines Begriffs oder eines Geistes, eines Heiligen oder eines Fremden, dann sind sie ›nur als Gespenstige, Gespenster füreinander vorhanden.‹ Die Menschheit ist nichts als eine Kollektion oder eine Serie von Gespenstern. Gehorsame Anwendung hegelianischer Logik? Angemessene Rezitation der Phänomenologie des Geistes?«, fragt Derrida im Verlauf seiner Kritik des Marxismus als Schule, indem er aus Die deutsche Ideologie (1932) zitiert. Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2004, S. 188. Marx, [Thesen über Feuerbach], S. 533. Ebd. Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, S. 232.

4. Marx, Engels und der Mensch als Gattungswesen

aber er faßt die menschliche Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit. Er betrachtet daher im ›Wesen des Christentums‹ nur das theoretische Verhalten als das echt menschliche […].«6 Da Feuerbach allerdings das Verhältnis zwischen Ich und Du immer wieder als ein Verhältnis beschreibt, in dem Subjektivitäten aufeinander einwirken und füreinander empfänglich werden, indem sie einander nicht nur in sich denken, sondern sich einander gegenüber sinnlich öffnen, ist diese Aussage nur schwer zu stützen. Im Gegenteil legt Feuerbach seine Emphase gerade auf eine solcherart verstandene Praxis. Marx und Engels hätten die Möglichkeit gehabt, seine Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843) genauer zu lesen, die bereits vorlagen, als Marx seine Thesen aufstellte. Dann hätten sie darin unter anderem eine Stelle gefunden, die ihren Einwänden widerspricht. »Nur durch die Sinne wird ein Gegenstand im wahren Sinne gegeben – nicht durch das Denken für sich selbst. Das mit dem Denken gegebne oder identische Objekt ist nur Gedanke. Wo kein Sinn, ist kein Wesen, kein wirklicher Gegenstand. Ein Objekt, ein wirkliches Objekt, wird mir nämlich nur da gegeben, wo mir ein auf mich wirkendes Wesen gegeben wird, wo meine Selbsttätigkeit – wenn ich vom Standpunkt des Denkens ausgehe – an der Tätigkeit eines andern Wesens ihre Grenze – Widerstand findet. Der Begriff des Objekts ist ursprünglich gar nichts andres als der Begriff eines andern Ich – so faßt der Mensch in der Kindheit alle Dinge als freitätige, willkürliche Wesen auf –, daher ist der Begriff des Objekts überhaupt vermittelt durch den Begriff des Du, des gegenständlichen Ich. Nicht dem Ich, sondern dem Nicht-Ich in mir […] ist ein Objekt, d.i. andres Ich, gegeben […].«7 Feuerbachs Verständnis von ›Wirklichkeit‹ besteht nicht darin, in ihr nur eine rezeptive Anschauung zu sehen, die der Spontaneität von Subjektivität entgegenstehen würde. Was ihm zufolge von Subjektivität angeschaut wird, ist die Selbsttätigkeit anderer Subjektivitäten, mit denen sie gleichzeitig und wechselwirksam tätig ist. Dies schließt Geschichte und – wie in vorigen Kapiteln dieser Arbeit gezeigt wurde – die von Feuerbach vorgeschlagene Genealogie einer modernen Subjektivität mit ein, die solche Verstrickungen kappt. Demnach geht auch Marxens Vierte These an Feuerbachs Anliegen vorbei, wenn er darin behauptet: »Feuerbach geht aus von dem Faktum der religiösen Selbstentfremdung, der Verdopplung der Welt in eine religiöse, vorgestellte und eine wirkliche Welt. Seine Arbeit besteht darin, die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage aufzulösen. Er übersieht, dass nach Vollbringung dieser Arbeit die Hauptsache noch zu tun bleibt. Die Tatsache nämlich, dass die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich, ein selbstständiges Reich, in den Wolken fixiert, ist eben nur aus der Selbstzerrissenheit und dem Sichselbst-Widersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären.«8 Feuerbach behauptet nicht, es gäbe ein ›Wesen‹ des Menschen, das nicht nur außerhalb der Religion als Verhältnis im Sinne von religare, sondern sogar außerhalb der sinnlichen

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Marx, [Thesen über Feuerbach], S. 533. Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, S. 298f. Marx, [Thesen über Feuerbach], S. 534.

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Verhältnisse mehrerer Menschen zu finden und nicht von gesellschaftlichen Verhältnissen gekennzeichnet sei. Im Gegenteil besteht das menschliche Gattungswesen für ihn gerade in den Verhältnissen zwischen Teilwesen, die wie der von ihm kritisierte Individualismus des Christentums historisch verfasst sind. Zwar nennt Feuerbach nicht den Klassenkampf als Movens von Geschichte, beschreibt aber immer wieder, was Empfänglichkeit füreinander bedeuten würde, nämlich die Öffnung einzelner Teilwesen für die Position und Tätigkeit anderer Teilwesen in historischen Begegnungen. So streift auch Marxens Sechste These das Thema von Feuerbachs Hauptwerk nur, ohne sich wirklich mit ihm auseinanderzusetzen. Dort heißt es: »Feuerbach löst das religiöse in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.«9 Feuerbach nimmt ebenfalls nicht an, das menschliche ›Wesen‹ wohne einzelnen Individuen inne. Im Gegenteil: Sein ›humanistisches‹ Projekt besteht spätestens seit Gedanken über Tod und Unsterblichkeit (1830), also ein Vierteljahrhundert bevor Marx seine Thesen verfasst und mehr als ein halbes Jahrhundert bevor Engels diese in modifizierter Form herausbringt, darin zu zeigen, dass die Figur des Individuums Begegnungen ausklammert, die einzelne Subjektivitäten miteinander verstricken. Spätestens seit Das Wesen des Christentums (1841), das für den Marx der Thesen ein in sich isoliertes Referenzsystem darstellt, beschreibt Feuerbach Individuen explizit bezüglich der Problematik sich als solcher verkennender Teilwesen, die allein in ihrer Öffnung füreinander so etwas wie einer Gattung würden näherkommen können. Für Feuerbach ist ein Teilwesen bereits zu Beginn der 1840er Jahre, was es ist, »durch die Bestimmtheit, die es eben zum Teil des Ganzen oder zu einem relativen Ganzen macht«10 . In seinem von Marx für seine Polemik gegen ihn herangezogenen Hauptwerk führt er dies weiter aus. »Jeder hält daher mit Recht sein Geschäft, seinen Stand, seine Kunst der Wissenschaft für die höchste, denn der Geist des Menschen ist nichts als die wesentliche Art seiner Tätigkeit. Wer etwas Tüchtiges in seinem Stande, seiner Kunst ist, wer, wie man im Leben sagt, seinen Posten ausfüllt, mit Leib und Leben seinem Berufe ergeben ist, der denkt sich auch seinen Beruf als den höchsten und schönsten. Wie sollte er in seinem Geiste verleugnen, in seinem Denken erniedrigen, was er durch die Tat zelebriert, indem er mit Freuden demselben seine Kräfte weiht? Was ich gering schätze, wie kann ich dem meine Zeit, meine Kräfte weihen? Muß ich dennoch, so ist meine Tätigkeit eine unglückliche, denn ich bin zerfallen mit mir selbst. […] Kurz, die Beschäftigungen bestimmen das Urteil, die Denkart, die Gesinnung des Menschen.«11 Wenn Marx vor diesem Hintergrund in der Sechsten These proklamiert, Feuerbach könne keine Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse leisten, verkennt er, dass sein Vorgänger über verschiedene Stationen seines Werkes hinweg bis in die späten 1840er Jahre von Anfang an genau diejenige in der Provinz von Europa geborene Subjektivität problematisiert, die das Individuum zum Zentrum der Welt macht, anstatt Subjektivität aus vielen 9 10 11

Ebd. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, S. 201. Ebd.

4. Marx, Engels und der Mensch als Gattungswesen

Menschen und Umwelten entspringen zu lassen. Dass die bei Feuerbach in der Kritik stehende Form von Subjektivität diejenige ist, der die bürgerliche Gesellschaft innewohnt, geht vollkommen am Marx der Thesen vorbei. So laufen auch seine beiden an Feuerbach gerichteten Vorwürfe ins Leere, von Geschichte zu abstrahieren und erstens »das religiöse Gemüt für sich zu fixieren und ein abstrakt – isoliert – menschliches Individuum vorauszusetzen«12 sowie zweitens die Gattung nur »als innere, stumme, die vielen Individuen bloß natürlich verbindende Allgemeinheit«13 in Erscheinung treten zu lassen. Nichts liegt Feuerbach ferner, besteht die menschliche Gattung ihm zufolge doch gerade aus den sinnlichen Verhältnissen aller Menschen sowie zwischen ihnen und Natur als ihrem historischen Zusammenhang. Die Unterschiedung zwischen Feuerbachs sinnlichen Verhältnissen und dem »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«14 , den Marxens Sechste These einführt und den er in Die deutsche Ideologie (1932) gemeinsam mit Engels weiterentwickelt, lässt aus, dass für Feuerbach gesellschaftliche im Sinne religiöser Verhältnisse bis zu einem bestimmten Grad determinierte sinnliche Verhältnisse sind, also deren eine Seite, deren andere Seite ihm zufolge aber nicht auf ein ›Ensemble‹ reduzierbar ist. Die Historizität sowohl seiner Gegenstände als auch seiner Überlegungen dazu, die Feuerbach immer wieder hervorhebt, wird von Marx ignoriert, wenn er ihm in der Siebten These entgegenhält, nicht zu sehen, dass »das ›religiöse Gemüt‹ selbst ein gesellschaftliches Produkt ist und daß das abstrakte Individuum, das er analysiert, in Wirklichkeit einer bestimmten Gesellschaftsform angehört«15 . Es ist wohl kaum eine Beobachtung denkbar, die noch weiter von Feuerbachs Denken entfernt wäre. Nicht nur in seinen Notizen zum Tagblatt Das Ausland (1828–1893) macht er immer wieder deutlich, dass die Subjektivität, die er analysiert, eine christliche Subjektivität ist und mit der Erhebung mancher Menschen über andere Menschen und Natur korrespondiert, denn, so Feuerbach in seinen wenige Jahre nach der Verfassung von Marx’ Thesen über ihn gehaltenen Vorlesungen im Heidelberger Rathaus, »vor der Realität der monotheistischen Einheit verschwindet die Realität des Unterschieds, die Realität des Anderen […]«16 . Marxens Achte These wiederholt, was Feuerbach vor ihm entfaltet hat: »Das gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus verleiten, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis.«17 Zwar entwickelt Feuerbach im Unterschied zu Marx und Engels eine Analyse und Kritik der Form des Wunsches, aus der die Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft bestehen, und keine Theorie des Klassenkampfes. Ihm aber deswegen Mystizismus vorzuwerfen und zu unterstellen, Subjektivität entspringe für ihn nicht Praktiken und Wirkmächten, geht ebenso fehl wie Marxens Neunte These vom allein ›anschauenden Materialismus‹ Feuerbachs, der es, indem er »die Sinnlichkeit nicht als praktische

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Marx, [Thesen über Feuerbach], S. 534. Ebd. Ebd. Ebd., S. 535. Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, S. 438. Marx, [Thesen über Feuerbach], S. 535.

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

Tätigkeit begreift«18 , nur dazu brächte, »die Anschauung der einzelnen Individuen in der ›bürgerlichen Gesellschaft‹«19 zu leisten. Die Kritik der selbstbezüglichen Subjektivität, die der aus isolierten Personen bestehenden bürgerlichen Gesellschaft zugrunde liegt, ist gerade der Punkt, an dem Feuerbach nicht nur in seinem Hauptwerk ansetzt. Sein Vorschlag besteht in den Heidelberger Vorlesungen dann darin, durch eine ›polytheistische‹ Öffnung dieser Subjektivität zu anderen Verhältnissen zu gelangen.20 Marx und Engels geht es um die Revolutionierung der Produktionsverhältnisse, Feuerbach um die Produktion einer anderen Subjektivität und andere Weisen des Menschseins. So gesehen wirkt auch Marxens Zehnte These, wonach der Standpunkt Feuerbachs als »Standpunkt des alten Materialismus«21 der bürgerlichen Gesellschaft entspreche, der Standpunkt des sich selbst und dem Marxismus als Schule zugeschriebenen neuen Materialismus hingegen »die menschliche Gesellschaft oder die vergesellschaftete Menschheit«22 angemessen darstelle, wie Schattenboxerei. Hier offenbart sich die Ambivalenz, die Marx und Engels auch in Die heilige Familie (1845) der Vorstellung des Menschen als Gattungswesen entgegenbringen. Einerseits werfen sie Feuerbach vor, ahistorisch zu verfahren, wenn er von der Verdinglichung sinnlicher Verhältnisse im einen Gott des Christentums spricht, andererseits sprechen sie selbst, zumindest in der laut Louis Althusser ›vorwissenschaftlichen‹ Phase ihres Werkes, von der kommunistischen als einer ›menschlichen Gesellschaft‹ beziehungsweise von einer ›vergesellschafteten Menschheit‹.23 Dem würde Feuerbach nicht widersprechen, obwohl seine Analyse und Kritik eine andere als die von Marx und Engels ist und er nicht davon ausgeht, dass gesellschaftliche und sinnliche Verhältnisse deckungsgleich sind. Alfred Kosing merkt hierzu an: »Feuerbach stellt die Sinnlichkeit dem Geist gegenüber, doch das darf nicht mißverstanden werden, denn er versteht unter Sinnlichkeit primär die materielle Wirklichkeit, die außerhalb und unabhängig von den menschlichen Sinnen und dem Verstand existiert und dem Menschen in seinen Sinnen gegeben ist. Der Begriff der Sinnlichkeit dient bei Feuerbach dazu, die Materie von der Position seines anthropologischen Materialismus theoretisch zu fassen, und zwar in der Weise, daß die qualitativ mannigfaltige materielle Welt einschließlich des Menschen darin widergespiegelt wird, ohne […] quantitativ auf mechanische Bewegung materieller Teilchen reduziert zu werden.«24 Wenn es in der berühmten Elften These programmatisch heißt, die Welt solle verändert und nicht nur interpretiert werden, kommt bezüglich dieses Textes mit Manifestcharakter, den Engels Jahrzehnte nach seiner Entstehung in modifizierter Fassung einer brei18 19 20 21 22 23

24

Ebd. Ebd. Vgl. Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, S. 53. Marx, [Thesen über Feuerbach], S. 535. Ebd. Zur Unterscheidung zwischen einem frühen und einem späten Marx vgl. exemplarisch Louis Althusser, Étienne Balibar, Roger Establet, Pierre Macherey und Jacques Rancière, Das Kapital lesen, Münster: Westfälisches Dampfboot, 2018. Alfred Kosing, Ludwig Feuerbachs materialistische Erkenntnistheorie, in: Erich Thies (Hg.), »Ludwig Feuerbach. Wege der Forschung«, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1976, S. 315.

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teren Öffentlichkeit als Anhang zu seiner eigenen Polemik gegen Feuerbach präsentiert, der Eindruck auf, Marx verkenne bei seiner leider nur oberflächlichen Lektüre von Das Wesen des Christentums (1841), dass es auch Feuerbach um Veränderung geht, allerdings primär um eine Veränderung der Subjektivität, die den Kitt der bürgerlichen Gesellschaftsformation ausmacht. Eine Marx eigener Positionierung zwischen Hegel und Feuerbach gewidmete Notiz, die sich in dem Heft befindet, in dem auch die von Engels noch unangetasteten Thesen über Feuerbach aus dem Jahre 1845 niedergeschrieben sind, klingt im Vergleich dazu differenzierter. Diesen vier kurzen Gedankenfragmenten zufolge beschränke sich Hegel darauf, das »Selbstbewusstsein statt des Menschen«25 zu denken: »Subjekt – Objekt«26 . Die Unterschiede zwischen Sachen seien ihm im Gegensatz zu begrifflichen Unterschieden unwichtig, weil es ihm nur um die Selbstunterscheidung des Geistes ginge. Feuerbach hingegen hätte die Aufhebung der ›Entfremdung‹ mit der Aufhebung der ›Gegenständlichkeit‹ identifiziert. Zu entwickeln sei deswegen noch die ›wirkliche‹ Aufhebung der Entfremdung im Sinne einer »vom Denken unterschiednen sinnlichen Aktion, Praxis und realen Tätigkeit«27 . Auch in ihrem allerersten gemeinsam verfassten Buch Die heilige Familie (1845) klingen Marx und Engels nicht so, als wollten sie Feuerbach opponieren. Im Gegenteil stellen sie zu diesem Zeitpunkt ihr Projekt noch in seine Nachfolge. »Aber wer hat denn das Geheimnis des ›Systems‹ aufgedeckt? Feuerbach. Wer hat die Dialektik der Begriffe, den Götterkrieg, den die Philosophen allein kannten, vernichtet? Feuerbach. Wer hat, zwar nicht »die Bedeutung des Menschen« – als ob der Mensch noch eine andere Bedeutung habe, als die, daß er Mensch ist! – aber doch ›den Menschen‹ an die Stelle des alten Plunders, auch des ›unendlichen Selbstbewußtseins‹, gesetzt? Feuerbach und nur Feuerbach.«28 In ihrer frühen Phase changieren Marx und Engels zwischen zwei miteinander konkurrierenden Begriffen des Menschen und scheinen dabei von Feuerbachs Ausführungen zu sinnlichen Verhältnissen zwischen Teilwesen einer ihnen gemeinsamen Gattung gelernt zu haben. Einerseits ist der fehlende Mensch als mit anderen Menschen verwobenes Wesen für sie dann eine normative Größe und zu erreichendes Ziel eines Emanzipationsprozesses. Andererseits kündigt der Mensch sich bereits in Die heilige Familie (1845), das kurz vor der Entstehung von Die deutsche Ideologie (1932) veröffentlicht wird, als anderer Name für historisch geprägte gesellschaftliche Verhältnisse an, zugunsten derer sie sich später von Feuerbach abwenden werden. Die heilige Familie (1845) jedoch endet mit einer kritischen Auseinandersetzung mit Eugène Sues Serienroman Die Geheimnisse von Paris (1843), dessen religiöse Untertöne sie unter expliziter Bezugnahme auf seine Begrifflichkeiten ablehnen.

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Karl Marx, [Marx über sein Verhältnis zu Hegel und Feuerbach], in: ders. und Friedrich Engels, »Werke, Band 3«, Berlin: Dietz Verlag, 1990, S. 536. Ebd. Ebd. Karl Marx und Friedrich Engels, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten, in: dies., »Werke, Band 2«, Berlin: Dietz Verlag, 1990, S. 98.

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»Die Trennung des Menschen von der sinnlichen Außenwelt, das Zurückschleudern in sein abstraktes Inneres, um ihn zu bessern – die Blendung – ist eine notwendige Konsequenz der christlichen Doktrin, nach welcher die vollendete Durchführung dieser Trennung, die reine Isolierung des Menschen auf sein spiritualistisches ›Ich‹, das Gute selbst ist.«29 Sowohl als zu verwirklichendes Ziel als auch als Platzhalter für eine gegebene Produktionsweise ist der Mensch, der Marx und Engels in ihrer Frühphase vorschwebt, nicht wie die Figuren aus Die Geheimnisse von Paris (1843) beschaffen, sondern verstrickt. Marx und Engels wollen ihn anhand der Umstände, von denen er bedingt wird, verstehen. »Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so muß man die Umstände menschlich bilden. Wenn der Mensch von Natur gesellschaftlich ist, so entwickelt er seine wahre Natur erst in der Gesellschaft, und man muß die Macht seiner Natur nicht an der Macht des einzelnen Individuums, sondern an der Macht der Gesellschaft messen.«30 Mit diesem oft zitierten Ausspruch verwickeln sich die Urheber von Die heilige Familie (1845) jedoch in einen infiniten Regress. Da sie den Menschen in ihrem gemeinsam verfassten Erstlingswerk einerseits als Resultat gesellschaftlicher Umstände beschreiben und andererseits fordern, dass diese menschlich verfasst sein sollen, stellt sich die Frage, wie dann entscheidbar ist, welche Verhältnisse ›menschlich‹ sind und welche nicht. Da Menschen als gesellschaftliche Wesen von der Gesellschaft, in der sie leben, geformt werden, können sie dieser Logik zufolge nur Menschen ihrer jeweiligen Gesellschaft sein. Gleichzeitig soll der Begriff des Menschen aber auch ein Korrektiv darstellen, anhand dessen sich die Verhältnisse zwischen Individuen verändern ließen. Ihr ambivalentes Konzept des Menschen beziehen Marx und Engels in Die heilige Familie (1845) anders als in Die deutsche Ideologie (1932) noch in affirmativer Weise von Feuerbach, den sie hier der kommunistischen Sache zuordnen und positiv von anderen Junghegelianern abgrenzen: »Wie aber Feuerbach auf theoretischem Gebiete, stellte der französische und englische Sozialismus und Kommunismus auf praktischem Gebiete den mit dem Humanismus zusammenfallenden Materialismus dar.«31 Bevor Engels sich in Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (1886) endgültig von Feuerbach distanziert und ihm vorwirft, den Menschen nicht als Effekt einer bestimmten Produktionsweise verstanden zu haben, nimmt er in der frühen Phase von Marx und Engels, die von Althusser als deren ›humanistische‹ Phase bezeichnet und von einer ›wissenschaftlichen‹ Phase unterschieden wurde, noch eine zentrale Stellung ein.32 Dennoch sind sie laut Engels auf ihn später »nie wieder zurückgekommen«33 . In Die heilige Familie (1845)

29 30 31 32 33

Ebd., S. 189. Ebd., S. 138. Ebd., S. 132. Eine leider allzu leichtfertige Kritik an Althussers ›Prozess ohne Subjekt‹ findet sich in Alfred Schmidt, Geschichte und Struktur. Fragen einer marxistischen Historik, München: Hanser, 1971. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, S. 540.

4. Marx, Engels und der Mensch als Gattungswesen

dagegen wird er immer wieder als Wegbereiter des Kommunismus und Scharnier zwischen Hegels spekulativem System und dem ›Materialismus‹ gerühmt, dessen Mittelpunkt zu diesem Zeitpunkt konkrete Menschen statt abstrakter Produktionsverhältnisse sind. »Hegels Geschichtsauffassung setzt einen abstrakten oder absoluten Geist voraus, der sich so entwickelt, daß die Menschheit nur eine Masse ist, die ihn unbewußter oder bewußter trägt. Innerhalb der empirischen, exoterischen Geschichte läßt er daher eine spekulative esoterische Geschichte vorgehn. Die Geschichte der Menschheit verwandelt sich in die Geschichte des abstrakten, daher dem wirklichen Menschen jenseitigen Geistes der Menschheit.«34 Von Feuerbach übernehmen Marx und Engels in ihrer frühen Phase die Auffassung, dass es, um die ›wirklichen‹ Verhältnisse zwischen Menschen angemessen analysieren und verstehen zu können, notwendig sei, nicht wie Hegel mit der Entfaltung eines abstrakten Weltgeistes zu beginnen, sondern das Diesseits in den Fokus zu nehmen, worunter sie »die praktische Identität des Menschen mit dem Menschen«35 und »die gesellschaftliche oder menschliche Beziehung des Menschen zum Menschen«36 verstehen. Obwohl sich hier schon die später vollzogene Wendung in ihrem Werk andeutet, ist Feuerbach für sie zu Beginn der 1840er noch ein Verbündeter. Von ihm übernehmen die beiden zu dieser Zeit eine Kritik am Denken des Allgemeinen zugunsten der Anschauung des Besonderen, die für sie zunächst einen wichtigen Schritt über Hegel hinaus darstellt. Gegen diesen gerichtet schreiben sie in Die heilige Familie (1845): »Die Spekulation, welche aus den verschiedenen wirklichen Früchten eine ›Frucht‹ der Abstraktion – die ›Frucht‹ gemacht hat, muß daher, um zu dem Schein eines wirklichen Inhalts zu gelangen, auf irgendeine Weise versuchen, von der ›Frucht‹, von der Substanz wieder zu den wirklichen verschiedenartigen profanen Früchten, zu der Birne, dem Apfel, der Mandel etc. zurückzukommen. So leicht es nun ist, aus wirklichen Früchten die abstrakte Vorstellung ›die Frucht‹ zu erzeugen, so schwer ist es, aus der abstrakten Vorstellung ›die Frucht‹ wirkliche Früchte zu erzeugen. Es ist sogar unmöglich, von einer Abstraktion zu dem Gegenteil der Abstraktion zu kommen, wenn ich die Abstraktion nicht aufgebe.«37 Später werden Marx und Engels durch ihre Beobachtung und Analyse zwischenmenschlicher Verhältnisse zu dem Schluss kommen, dass es sich bei ihnen um Klassenverhältnisse handele und den Klassenkampf zum Movens sinnlicher Praxis machen. Zur Zeit von Die heilige Familie (1845) geht es ihnen noch um eine Beschreibung der bürgerlichen Gesellschaft als ›Entfremdung‹ des menschlichen Gattungswesens.

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Marx und Engels, Die heilige Familie, S. 89f. Ebd., S. 41. Ebd. Ebd., S. 60.

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»Eben das Sklaventum der bürgerlichen Gesellschaft ist dem Schein nach die größte Freiheit, weil die scheinbar vollendete Unabhängigkeit des Individuums, welches die zügellose, nicht mehr von allgemeinen Banden und nicht mehr vom Menschen gebundne Bewegung seiner entfremdeten Lebenselemente, wie z.B. des Eigentums, der Industrie, der Religion etc., für seine eigne Freiheit nimmt, während sie vielmehr seine vollendete Knechtschaft und Unmenschlichkeit ist.«38 Das menschliche Gattungswesen wird Marx und Engels zufolge deswegen von der bürgerlichen Gesellschaft verstellt, weil deren ›freie‹ Individuen aus den Banden gelöst sind, die Menschen, mit Feuerbach gesprochen, auf der Ebene ihrer Sinnlichkeit in praktischen Verhältnissen miteinander verflechten. Interessant ist vor diesem Hintergrund der kurze zeitliche Abstand, der die Veröffentlichung von Die heilige Familie (1845) von der Entstehung sowohl von Marxens Thesen über Feuerbach im Frühjahr 1845 als auch von Die deutsche Ideologie (1932) trennt. Im beschädigten Manuskript zu Die deutsche Ideologie, das 1845–46 verfasst wird, also während Marx seine Thesen zu Feuerbach niederschreibt und Die heilige Familie (1845) erscheint, widmen Marx und Engels Feuerbach, der ihnen dann den »Verwesungsprozeß des Hegelschen Systems«39 und den »Verfaulungsprozeß des absoluten Geistes«40 anzeigt, zu Beginn nur knapp 80 Seiten, die weniger von ihm als von ihren eigenen sich nun herausbildenden Gedanken zum Verhältnis zwischen der kapitalistischen Produktionsweise und etwas handeln, das sie zu diesem Zeitpunkt – vielleicht in polemischer Anspielung auf Feuerbachs Randbemerkungen zur geschlechtlichen Liebe – ›Verkehrsform‹ nennen: »Was die Individuen also sind, das hängt ab von den materiellen Bedingungen ihrer Produktion. Diese Produktion tritt erst ein mit der Vermehrung der Bevölkerung. Sie setzt selbst wieder einen Verkehr der Individuen untereinander voraus. Die Form dieses Verkehrs ist wieder durch die Produktion bedingt.«41 Feuerbach ist hier nicht ihr alleiniger Gegner. Ihr Text richtet sich gegen alle, die an »der Auflösung der Hegelschen Schule in eine allgemeine Zänkerei«42 teilnehmen und dabei nicht auf ihrer Seite stehen: Nachdem sie zu Beginn mit Feuerbach abgerechnet haben, widerlegen sie auf rund 20 Seiten Bruno Bauers Bewusstseinsphilosophie und widmen sich schließlich auf den restlichen mehr als 300 Seiten dem Problem des von der Gesellschaft losgelösten Einzelnen bei Max Stirner. Sie blenden dabei in ihrer Argumentation gegen Feuerbach aus, dass dessen Angriff auf das Christentum die Vergegenständlichung sinnlicher Verhältnisse in Gott als abstrakter Einheit hinterfragt. Wenn Feuerbach sinnliche Verhältnisse zwischen mehr als nur einem Menschen hervorhebt, 38 39

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Ebd., S. 123. Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, in: dies., »Werke, Band 3«, Berlin: Dietz Verlag, 1990, S. 17. Ebd. Ebd., S. 21. Die Einführung des Begriffs der ›Verkehrsform‹ zwischen Individuen in Die deutsche Ideologie (1932) korrespondiert mit einer geradezu dümmlichen, später von Engels aufgestellten These zum Moment der sinnlichen Begegnung zwischen Mitmenschen bei Feuerbach: »Diese Phrase wäre gar nicht möglich, wenn Feuerbach nicht an den Geschlechtsakt, den Gattungsakt, die Gemeinschaft von Ich und Du gedacht hätte.« Friedrich Engels, Feuerbach, in: ders. und Karl Marx, »Werke, Band 3«, Berlin: Dietz Verlag, 1990, S. 542. Marx und Engels, Die deutsche Ideologie, S. 41.

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tut er dies nicht, um die Wirkmächtigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse zu bestreiten, sondern um zu markieren, dass sinnliche und gesellschaftliche Verhältnisse nicht deckungsgleich sind. Zwar würde er Marx und Engels nicht widersprechen, wenn sie schreiben, dass nur »bestimmte Individuen, die auf bestimmte Weise produktiv tätig sind«43 eine kapitalistische Gesellschaft bilden. Er würde dem aber hinzufügen, dass deren Subjektivität auf der Ebene ihrer Sinnlichkeit nicht mit diesen verselbstständigten gesellschaftlichen Verhältnissen zwischen Personen identisch ist. Anstatt Feuerbachs Kritik an der aus dem Aufstieg des Christentums resultierenden Subjektivität auf ihre eigenen Analysen des Kapitalismus zu übertragen, also eine Problematik in eine mit ihr familienverwandte hinein zu übersetzen, grenzen Marx und Engels sich in Die deutsche Ideologie (1932), vielleicht um den Übergang zur ›wissenschaftlichen‹ Phase ihres Denkens zu kennzeichnen, in einem Überbietungsgestus von ihm ab und werfen ihm vor, nur von ›dem Menschen‹ in abstracto statt vom »wirklichen historischen Menschen«44 zu sprechen. »Feuerbachs ganze Deduktion auf das Verhältnis der Menschen zueinander geht nur dahin, zu beweisen, daß die Menschen einander nötig haben und immer gehabt haben. Er will das Bewußtsein über diese Tatsache etablieren, er will also, wie die übrigen Theoretiker, nur ein richtiges Bewußtsein über ein bestehendes Faktum hervorbringen, während es dem wirklichen Kommunisten darauf ankommt, dies Bestehende umzustürzen.«45 Feuerbach hätte ihnen wahrscheinlich zugestimmt, hätten sie ihn gefragt, ob die Funktion des Kapitals im Hinblick auf die sich zu ihrer gemeinsamen Zeit gerade herausbildende reale Subsumption aller Lebensprozesse unter eine bestimmte Produktionsweise mit der Funktion Gottes in seinem Denken vergleichbar sei. In beiden Fällen nämlich werden die sinnlichen Verhältnisse mehrerer Menschen in einen ihnen übergeordneten Zusammenhang gebracht, der sie als in sich abgeschlossene und um sich selbst kreisende Personen unter sich subsumiert. Marx und Engels erkennen nicht, dass es Feuerbach gerade um die ›Dekonstruktion‹ der Vergegenständlichung sinnlicher in gesellschaftlichen Verhältnisse geht. So polemisieren sie gegen ihren Vorläufer: »Er kommt also nie dazu, die sinnliche Welt als die gesamte lebendige sinnliche Tätigkeit der sie ausmachenden Individuen aufzufassen, und ist daher gezwungen, wenn er z.B. statt gesunder Menschen einen Haufen skrofulöser, überarbeiteter und schwindsüchtiger Hungerleider sieht, da zu der ›höheren Anschauung‹ und zur ideellen ›Ausgleichung in der Gattung‹ seine Zuflucht zu nehmen, also gerade da in den Idealismus zurückzufallen, wo der kommunistische Materialist die Notwendigkeit und die Bedingung einer Umgestaltung sowohl der Industrie wie der gesellschaftlichen Gliederung sieht.«46

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Ebd., S. 25. Ebd., S. 42. Ebd. Ebd., S. 45.

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Wenn Marx und Engels vor diesem Hintergrund in Die deutsche Ideologie (1932) von ihrem noch kurz zuvor so wichtigen Anliegen abrücken, mit Feuerbach im menschlichen Gattungswesen ein Korrektiv für gesellschaftliche Verhältnisse zu sehen, jetzt den »Widerspruch zwischen den Produktivkräften und der Verkehrsform«47 in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen rücken und Feuerbach vorwerfen, diesen Widerspruch nicht denken zu können, ignorieren sie dessen Hinweis auf die Spannung zwischen einzelnen Personen sowie deren Positionen innerhalb einer Gesellschaftsformation und den sinnlichen Verhältnissen, die Mitmenschen miteinander teilen. »Das Verhältnis der Produktionskräfte zur Verkehrsform ist das Verhältnis der Verkehrsform zur Tätigkeit oder Betätigung der Individuen«48 , schreiben sie, um dafür zu plädieren, dass die gesellschaftliche Arbeitsteilung der eigentliche Riss sei, der durch die Gattung gehe und dass Feuerbachs ›Verkehr‹ zwischen Ich und Du nicht ausreiche, um den Kapitalismus als Verkehrsform angemessen zu analysieren. Obwohl Feuerbachs ›Verkehr‹ erster und zweiter Personen subjektivitätstheoretische Fragen tangiert, brechen sie ihn auf den Konflikt zwischen kapitalistischer Produktionsweise und Produktivkräften herunter. Feuerbachs Fehler sei es deshalb gewesen, Hegels Emphase des Selbstbewusstseins in die ahistorische Idee ›des Menschen‹ transformiert zu haben. Dabei blenden die Gründer der marxistischen Schule aus, dass Feuerbachs Mensch im Kontrast zu Hegels Selbstbewusstsein dezentriert ist. Wenn Feuerbach vom Menschen spricht, spricht er nicht von ›dem Menschen‹, sondern von vielen Menschen, die mit anderen Menschen und Natur verstrickt sind, wenn sie sich nicht als bürgerliche Subjekte missverstehen. Demnach kann Feuerbachs menschliches Gattungswesen, anders als ihn Marx und Engels zu korrigieren beanspruchen, nicht auf das Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse beschränkt sein, sondern weicht von ihm ab. Was Marx und Engels als spezifisch kapitalistische Verkehrsform beschreiben, nämlich die bürgerliche Gesellschaft als Verkehrsform, die ausschließlich Personen ins Verhältnis setzt, wäre eher dem vergleichbar, was Feuerbach auf subjektivitätstheoretischer Ebene kritisiert: ein Subjekt, das seine Verstrickungen kappt und in der vorliegenden Arbeit weiß markiert wurde. Auch die Einwände, die Marx und Engels gegen die im Kontext seiner Hegelkritik formulierten Ausführungen Feuerbachs zur sinnlichen Gewissheit vorbringen, gehen an seinem Anliegen vorbei. Feuerbach würde nicht bestreiten, dass Gegenstände der sinnlichen Gewissheit »nur durch die gesellschaftliche Entwicklung, die Industrie und den kommerziellen Verkehr«49 gegeben sind. Sein Argument in Zur Kritik der Hegelschen Philosophie (1839) zielt auf etwas anderes. Ihm geht es hier wie in anderen Schriften um die Ebene der Subjektivität und deren Öffnung gegenüber etwas nicht mit ihr Identischem, das sie weder begrifflich einholen noch aufheben kann, auf das hin sie sich aber dezentriert. Nur weil für Marx und Engels – in dieser Hinsicht bleiben sie Hegel treu – gesell-

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Ebd., S. 74. Ebd., S. 71. Marx und Engels, Die deutsche Ideologie, S. 43. Bezüglich einer pointierten Kritik an dieser Lesart der sinnlichen Gewissheit bei Feuerbach vgl. Löwith, Vermittlung und Unmittelbarkeit bei Hegel, Marx und Feuerbach.

4. Marx, Engels und der Mensch als Gattungswesen

schaftliche mit sinnlichen Verhältnissen zusammenfallen, können sie dann auch weiter zuspitzen: »Die Individuen, die nicht mehr unter der Teilung der Arbeit subsumiert werden, haben die Philosophen sich als Ideal unter dem Namen ›der Mensch‹ vorgestellt, und den ganzen, von uns entwickelten Prozeß als den Entwicklungsprozeß ›des Menschen‹ gefasst, so daß den bisherigen Individuen auf jeder geschichtlichen Stufe ›der Mensch‹ untergeschoben und als die treibende Kraft der Geschichte dargestellt wurde.«50 Indem Marx und Engels Geschichte und die ihr innewohnenden Spannungen auf das Verhältnis zwischen den Produktivkräften und der Verkehrsform, in der sie sich befinden, herunterbrechen, entgeht ihnen eine wichtige Einsicht Feuerbachs. Laut Feuerbach besteht der ›Verkehr‹ zwischen Ich und Du in der Öffnung erster gegenüber zweiten Personen. Damit will er die Figur des Individuums gegenüber anderen Subjektivierungsweisen öffnen. Später wird Engels in Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (1886) noch heftiger gegen den Autor von Das Wesen des Christentums (1841) polemisieren und ihm einen »belletristische[n], teilweise sogar schwülstige[n] Stil«51 attestieren. Engels reduziert das Verdienst von Feuerbachs Hauptwerk dann darauf, Religion – »religare heißt ursprünglich Verbindung«52 – als ein Gefühlsverhältnis zwischen Menschen im Sinne einer »Liebe zwischen Ich und Du«53 beschrieben zu haben und kommt so zu dem den Kern von Feuerbachs Gedanken völlig verfehlenden Schluss, dass für ihn »die Geschlechtsliebe eine der höchsten, wenn nicht die höchste Form der Ausübung seiner neuen Religion«54 sei. Hiermit hat er ein Problem: »Die Möglichkeit rein menschlicher Empfindungen im Verkehr mit andern Menschen wird uns heutzutage schon genug verkümmert durch die auf Klassengegensatz und Klassenherrschaft gegründete Gesellschaft […].«55 Die von Engels um die Zeit der vom 15. November 1884 bis zum 26. Februar 1885 in Berlin tagenden Kongokonferenz formulierte Polemik gegen Feuerbachs emphatisches Konzept des Menschen besteht erneut darin zu behaupten, dass es ihm an Historizität mangele und er gesellschaftliche Verhältnisse ausblende. Feuerbachs Mensch sei ebenso abstrakt wie Hegels Weltgeist: »Derselbe Feuerbach, der auf jeder Seite Sinnlichkeit, Versenkung ins Konkrete, in die Wirklichkeit predigt, er wird durch und durch abstrakt, sowie er auf einen weiteren als den bloß geschlechtlichen Verkehr zwischen den Menschen zu sprechen kommt.«56 Was Feuerbach Engels zufolge, nachdem er gemeinsam mit Marx die ›historisch-materialistische‹ Methode entwickelt und Geschichte auf Klassenkämpfe reduziert hat, nicht in den Blick nehmen könne, seien eben diese Klassenkämpfe und die Tatsache, dass der Mehrheit der Menschen die Mittel fehlten, um ›Mensch‹ im Sinne Feuerbachs zu sein. 50 51 52 53 54 55 56

Marx und Engels, Die deutsche Ideologie, S. 69. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, S. 549. Ebd., S. 561. Ebd., S. 560. Ebd. Ebd., S. 562. Ebd., S. 563.

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»Die Feuerbachsche Moral setzt entweder voraus, daß diese Mittel und Gegenstände der Befriedigung jedem Menschen ohne weiteres gegeben sind, oder sie gibt ihm nur unanwendbare gute Lehren, ist also keinen Schuß Pulver wert für die Leute, denen diese Mittel fehlen.«57 Anstatt den Menschen abstrakt zu betrachten und als normatives Ziel einer Emanzipation zu setzen, wie es Marx und Engels in Die heilige Familie (1845) selbst noch tun, geht es Engels nun um »die Wissenschaft von den wirklichen Menschen und ihrer geschichtlichen Entwicklung«58 und um eine »Änderung der Produktionsweise«59 , um andere Menschen heranzubilden. Hätten Marx und Engels Feuerbachs Kritik des idealistischen Subjektivismus und seine damit zusammenhängende Hervorhebung des Du gegenüber einer aufgeblähten Ich-Instanz ernster genommen, hätten sie in ihm vielleicht einen Verbündeten sogar noch ihrer ›wissenschaftlichen‹ Spätphase sehen können. Da Feuerbach lange vor Foucault eine Fundamentalkritik moderner Subjektivität unternimmt, hätte er sie dann daran erinnern können, dass das Verhältnis zwischen Personen keines zwischen Mitmenschen sein kann, wenn einmal die Produktionsweise eine andere geworden ist. Denn die von Marx und Engels herausgestellte Arbeitsteilung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, die mit Spivak schon länger als internationale Arbeitsteilung verstanden werden muss, ist nur möglich, weil in ihr anderes (Natur) und andere (Mitmenschen) nicht als gleichberechtigte Zentren angesehen werden, sondern in die Peripherie abgeschoben werden.60 Diesem Problem, das auch für das in der vorliegenden Arbeit thematisierte postkoloniale Anthropozän und die ihm zugrunde liegende weiße Subjektform Konsequenzen hat, widmet sich Silvia Federici in ihrer Studie Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation (2004) zu den am Beginn des Kapitalismus als Verkehrsform stehenden Hexenverbrennungen im Übergang vom Mittelalter zur kolonialen Moderne. Die italienische Feministin nimmt die Erkenntnisse der marxistischen Schule zum Ausgangspunkt, geht jedoch über sie hinaus.

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Ebd., S. 565. Ebd., S. 567. Ebd., S. 578. Vgl. Spivak, Can the Subaltern Speak?. Mike Davis beschreibt unsere gegenwärtige Situation folgendermaßen: »Achtzig Prozent des Marxschen Industrieproletariats leben heute in China oder anderswo außerhalb Westeuropas und der Vereinigten Staaten.« Ders., Planet der Slums, Hamburg: Assoziation A, 2007, S. 17. Dem Industrieproletariat des globalen Südens wiederum stellt er die Bäuer*innen gegenüber, die bis heute weltweit ihrer Subsistenzgrundlage beraubt werden: »Die gewaltsame Einbindung der großen asiatischen und afrikanischen bäuerlichen Subsistenzökonomien in den Weltmarkt brachte gegen Ende des 19. Jahrhunderts Millionen den Hungertod und entwurzelte Abermillionen von ihrem angestammten Land. Das führte schließlich – auch in Lateinamerika – zu einer ruralen ›Semi-Proletarisierung‹. Weltweit entstand eine riesige Klasse verelendeter Nebenerwerbs-Bauern und Landarbeiter, deren Existenz nicht mehr durch Subsistenzanbau gesichert war. Deshalb war das 20. Jahrhundert nicht, wie es sich der klassische Marxismus vorgestellt hatte, ein Zeitalter urbaner Revolutionen, sondern eines der epochalen Bauernaufstände und der von Bauern getragenen nationalen Befreiungskriege.« Ebd., S. 183.

4. Marx, Engels und der Mensch als Gattungswesen

4.1 Von der ursprünglichen Akkumulation zur Einhegung sinnlicher Verhältnisse mit Federici In Das Kapital (1867) beschreibt Marx die ursprüngliche Akkumulation, welche ihm zufolge »Plusmacherei als letzten und einzigen Zweck der Menschheit«61 in deren Geschichte einführe, als etwas, das »nicht das Resultat der kapitalistischen Produktionsweise ist, sondern ihr Ausgangspunkt«62 . Federici zufolge basiert der Kapitalismus, der sich zuallererst mit dem Kolonialismus globalisiert, nicht nur auf einer internationalen Arbeitsteilung zwischen einem globalen Norden, der neben Arbeitskräften vor allem Ressourcen extrahiert, und einem globalen Süden, der diese bereitstellt, sondern auch auf einer geschlechtlichen Arbeitsteilung, deren Erfindung in Europa sie anhand der Hexenverbrennungen markiert. Hexenverbrennungen stellen für sie den historischen Übergang von feudalen zu ›modernen‹ Gesellschaftsformen dar. In diesem Kontext korrespondiert die Ausbeutung von Frauen und ihre Reduktion auf reproduktive Arbeit im Rahmen der »Schaffung der Kernfamilie in Europa«63 mit einer Ausbeutung anderer Kulturen im Kolonialismus sowie einer Ausbeutung von Natur und deren Auffassung als Rohstofflieferantin, die dem »Wettlauf um Afrika«64 und der im 19. Jahrhundert einsetzenden Industrialisierung um Jahrhunderte vorausgeht. Ebenso wie Federici zufolge Frauen zu Beginn des Kapitalismus primär die Funktion zugewiesen wird, Arbeitskraft zu reproduzieren, deren billigste Variante zeitgleich Sklav*innen verkörpern, wird es in ihm Aufgabe der Natur, Ressourcen zu liefen, denen sich ein Mehrwert abpressen lässt. Am Phänomen der Hexenverfolgung, die zunächst in Europa stattfindet und dann in die von ihm kolonisierten Länder exportiert wird, macht Federici deutlich, inwiefern der Kapitalismus darauf angewiesen ist, Verhältnisse sowohl zwischen Menschen als auch zwischen ihnen und Natur, die sich nicht in seinem Sinne produktiv machen lassen, aus sich auszuschließen und zu zerstören. Die brennenden Scheiterhaufen verweisen so auf sehr viel mehr als nur den Verzehr von Arbeitskraft. Sie stellen die Bedingung dar, unter der es erst möglich wird, Körper und Territorien in Kapital zu transformieren. In Hexenjagd. Die Angst vor der Macht der Frauen (2018) schreibt Federici rückblickend auf ihr Werk, dass mit den europäischen Hexen »eine Welt der sozialen/kulturellen Praktiken und Überzeugungen ausgelöscht«65 wurde, »die typisch für das vorkapitalistische Europa war, aber zunehmend als unproduktiv und potenziell gefährlich für die neue Wirtschaftsordnung galt«66 . Der für Debatten über ein postkoloniales Anthropozän so wichtige Einsatz Federicis besteht dabei seit Jahrzehnten im Hinweis darauf, dass der Entstehung des Proletariats im Sinne einer Menge meist männlicher Lohnarbeiter, das Marx und Engels wiederholt als revolutionäres Subjekt beschwören, gewaltsame Prozesse vorangegangen sind, die nicht auf einen quantitativen Tauschwert reduzierbare qualitative

61 62 63 64 65 66

Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 1957, S. 384. Ebd., S. 369. Silvia Federici, Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation, Wien und Berlin: mandelbaum, 2018, S. 24. Ebd. Dies., Hexenjagd. Die Angst vor der Macht der Frauen, Münster: Unrast, 2019, S. 36. Ebd.

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

Beziehungsweisen auslöschten, weibliche Körper disziplinierten und zu Gebärmaschinen machten und zum Tod all derjenigen – meist europäischer Frauen sowie von Männern und Frauen in den Kolonien – führten, die sich nicht in die Verwertungslogik des Kapitals einfügen ließen. Demnach wären die Hexenverfolgungen eine zentrale Komponente im Rahmen der weltweiten Errichtung bürgerlicher Verhältnisse, deren Brutalität in der Rede vom Klassenkampf vonseiten einer eher orthodox orientierten marxistischen Schule verschleiert bleibt. »Die Hexenverfolgungen werden in der Historiographie des Proletariats nur selten erwähnt. Sie bleiben bis heute eine der am wenigsten erforschten Episoden in der europäischen Geschichte – oder vielmehr in der Weltgeschichte, denn der Vorwurf der Teufelsverehrung wurde von den Missionarinnen und Konquistadoren in die ›Neue Welt‹ getragen, als Mittel der Unterwerfung der dortigen Bevölkerungen.«67 Auf den Scheiterhaufen verbrannten so nicht nur die Körper vieler tausender Frauen, sondern mit ihnen unzählige Lebensformen, die der Installation einer kapitalistischen Ordnung in allen möglichen Erdteilen vorangegangen waren. Auch die heute überall brennenden Wälder – beispielsweise der brasilianische Teil des Amazonas, in dem erneut bedrohte indigene Bevölkerungen leben –, die oftmals in Brand gesetzt werden, um Nutzflächen zu schaffen, lassen sich vor diesem Hintergrund verstehen.68 In Caliban und die Hexe (2004) unternimmt Federici eine feministische Lesart des für die Entstehung kapitalistischer Verhältnisse grundlegenden Vorgangs der ursprünglichen Akkumulation, in dem sie nicht nur mit Marx erstens die zunehmende Privatisierung von Land und zweitens »die Scheidung der Arbeiter von den Produktionsmitteln«69 und eine »Vertiefung sozialer Abstände«70 sieht, sondern zusätzlich einen katastrophalen »Zusammenbruch kollektiver Beziehungen«71 , der für sie am Anfang der Moderne steht und den der Kolonialismus global durchsetzt. Federici geht über Marx hinaus, wenn sie darauf hinweist, dass Landprivatisierungen nicht dazu führten, Arbeiter*innen von ihren früheren sozialen Banden (»an die

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68 69 70 71

Dies., Caliban und die Hexe, S. 205. Dem fügt sie später hinzu: »Die Erforschung der Hexenverfolgungen stellt die weitverbreitete Meinung auf den Prüfstand, dass an einem historischen Punkt die Entwicklung des Kapitalismus ein Träger des sozialen Fortschritts war, was in der Vergangenheit viele ›Revolutionäre‹ dazu veranlasst hat, das Fehlen einer ›echten Akkumulation des Kapitals‹ in den ehemaligen Kolonien zu beklagen. Wenn meine Lesart der Hexenverfolgung jedoch richtig ist, dann lässt sich die Geschichte anders deuten, nämlich so dass die afrikanischen Versklavten, die enteigneten Bäuerinnen und Bauern in Afrika und Lateinamerika sowie die massakrierte indigene Bevölkerung Nordamerikas die Leidensgenoss*innen der Hexen im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts sind, denen gleichermaßen ihr kollektives Land genommen wurde, die aufgrund der Kommerzialisierung der Ernten Hunger litten und deren Widerstand als Zeichen einer diabolischen Vereinigung verfolgt wurde.« Dies., Hexenjagd, S. 24f. Vgl. hierzu exemplarisch Christian Parenti, Tropic of Chaos. Climate Change and the New Geography of Violence, New York: Bold Type Books, 2011. Federici, Caliban und die Hexe, S. 81. Ebd., S. 214. Ebd.

4. Marx, Engels und der Mensch als Gattungswesen

Scholle gefesselt und einer andern Person leibeigen«72 ) zu ›befreien‹. In ihnen sollte vielmehr allein eine Befreiung des Kapitals gesehen werden, »denn das Land war nun ›frei‹ verfügbar, als Mittel der Akkumulation und Ausbeutung (anstatt als Subsistenzmittel).«73 Anders als Marx sieht Federici im Vorgang der ursprünglichen Akkumulation keine historisch notwendige und hinsichtlich einer auf den Kommunismus zusteuernden Teleologie irgendwie auch emanzipatorische Entwicklung, die laut Marx »sowohl den Lohnarbeiter wie den Kapitalisten erzeugt«74 und durch welche ständische Strukturen verdampft würden und sich in Luft auflösten. Ihr zufolge hat sich die bürgerliche Gesellschaft nicht als »eine höhere Form gesellschaftlichen Lebens«75 aus dem Feudalismus heraus entwickelt. Vielmehr ist sie Folge eines gewaltsamen Kampfes um die Allmende, zu der es in Caliban und die Hexe (2004) heißt: »Die Allmende beförderte nicht nur Formen kollektiver Entscheidungsfindung und Kooperation; sie war auch die materielle Grundlage, auf der Solidarität und Gesellschaftlichkeit der Bauern gediehen. Sämtliche Feste, Spiele und Versammlungen der bäuerlichen Gemeinschaft fanden auf der Allmende statt. Die soziale Funktion der Allmende war für Frauen besonders bedeutend. Sie verfügten über weniger Landtitel und geringere gesellschaftliche Macht und waren daher für ihre Subsistenz, Autonomie und ihren gesellschaftlichen Verkehr besonders stark auf die Allmende angewiesen.«76 Vor diesem Hintergrund resultiert der Kapitalismus laut Federici, hierin folgt sie Marx, aus der »Auflösung der kollektiven Formen der Landwirtschaft«77 und führt während des Übergangs von der feudalen Ordnung in die Moderne hinein zur »Verelendung breiter Teile der ländlichen und städtischen Bevölkerung durch die Ausweitung der monetären Wirtschaft und die Landenteignungen«78 . Mit den Landenteignungen, die in der Phase der ursprünglichen Akkumulation die Geburtsstunde des Kapitalismus prägen, geht ihr zufolge aber auch, hierin geht sie weiter als Marx, die Ausweitung staatlicher Kontrolle »auf jeden Aspekt der Reproduktion«79 einher, deren Mittelpunkt die unterworfe72 73

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Marx, Das Kapital, S. 371. Federici, Caliban und die Hexe, S. 95. In Das Kapital (1867) steht hierzu geschrieben: »Das Kapitalverhältnis setzt die Scheidung zwischen den Arbeitern und dem Eigentum an den Verwirklichungsbedingungen von Arbeit voraus. Sobald die kapitalistische Produktion einmal auf eigenen Füßen steht, erhält sie nicht nur jene Scheidung, sondern reproduziert sie auf stets wachsender Stufenleiter. Der Prozess, der das Kapitalverhältnis schafft, kann also nichts anderes sein als der Scheidungsprozess des Arbeiters vom Eigentum an seinen Arbeitsbedingungen, ein Prozeß, der einerseits die gesellschaftlichen Lebens- und Produktionsmittel in Kapital verwandelt, andererseits die unmittelbaren Produzenten in Lohnarbeiter. Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation ist also nichts als der historische Scheidungsprozeß von Produzent und Produktionsmittel. Er erscheint als ›ursprünglich‹, weil er die Vorgeschichte des Kapitals und der ihm entsprechenden Produktionsweise bildet.« Marx, Das Kapital, S. 370. Ebd., S. 371. Federici, Caliban und die Hexe, S. 30. Ebd., S. 90. Wenn Haraway bezüglich ihres Chthuluzäns von Allmende spricht, rekurriert sie wohl auf Federici. Vgl. Haraway, Unruhig bleiben. Federici, Hexenjagd, S. 40. Ebd. Dies., Caliban und die Hexe, S. 31.

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nen Körper von Frauen bilden, die verbrannt und getötet wurden, wenn sie sich ihrer patriarchalen Verfügung zu entziehen versuchten, denn fortan wurde »die Zeugung […] unmittelbar in den Dienst der kapitalistischen Akkumulation gestellt«80 . Federici bleibt nicht wie Marx bei der Feststellung stehen, am Anfang des Kapitalismus hätte die »Expropriation«81 europäischer Bäuer*innen beziehungsweise deren »Verjagung«82 von ihren Territorien beziehungsweise die Trennung von ihren Subsistenzmitteln und die Herausbildung ›freier‹ und unabhängiger Arbeiter*innen gestanden, sondern fokussiert in ihren Analysen deshalb das Phänomen der Hexenverbrennung, weil sie in ihr nicht nur die Reduktion von Frauen auf ihre Gebärmütter, sondern ein gewaltsames Kappen zwischenmenschlicher Verhältnisse und von Naturverhältnissen sieht. Noch wichtiger als die marxistische Verwandlung von lebendiger in tote Arbeit wird so das historische Ereignis der Vernichtung all dessen, was sich für diese Verwandlung nicht fruchtbar machen ließ. Federici weist der Ermordung unzähliger Frauen während jenes Augenblicks, als die Verhältnisse zwischen Menschen zunehmend zu äquivalenten Tauschverhältnissen wurden, eine zentrale Funktion innerhalb des weltweiten Aufstiegs des Kapitalismus zu, der bis heute unter dem Namen Globalisierung auf die Destruktion all dessen angewiesen bleibt, was er nicht verwerten kann, weil sie in ihnen eine spezifisch weiße und männliche Subjektivität und deren Verhältnis zu anderem und anderen sieht. Rückblickend kommentiert sie ihre Untersuchungen wie folgt: »Auf dem Scheiterhaufen wurden nicht nur die Körper der ›Hexen‹ vernichtet, sondern eine ganze Welt von sozialen Beziehungen, auf denen die gesellschaftliche Macht der Frauen basierte, und ein riesiger Korpus der Weisheit, der über Generationen von Frauen, von Mutter zu Tochter, weitergegeben worden war – das Wissen über Kräuterkunde, Verhütungs- und Abtreibungsmittel oder magische Mittel, um die Liebe von Männern zu gewinnen.«83 Federici zufolge korrespondiert die historische Verwandlung von Körpern in Arbeitskraft, die dann in einzelnen Individuen lokalisiert ist, mit der Unterordnung der Frauen unter die Reproduktion menschlicher Arbeitskraft insgesamt. Dabei stellt sie einen Zusammenhang her zwischen der Krise der Akkumulation innerhalb von Europa und der »Versklavung der amerikanischen und afrikanischen Ureinwohner auf den Minen und Plantagen der ›Neuen Welt‹«84 . Weil im Übergang von feudalen zu bürgerlichen Gesell80 81 82 83 84

Ebd., S. 113. Vgl. hierzu auch Lise Vogel, Marxismus und Frauenunterdrückung. Auf dem Weg zu einer umfassenden Theorie, Münster: Unrast, 2019. Marx, Das Kapital, S. 383. Ebd. Dies., Hexenjagd, S. 49f. Dies., Caliban und die Hexe, S. 82. Wobei auch Marx auf die historische Koinzidenz von ursprünglicher Akkumulation und Europas kolonialen Bestrebungen hinweist: »Die Entdeckung der Goldund Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingeborenen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Gehege zur Handelsjagd auf Schwarzhäute, bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idylischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation. Auf dem Fuße folgt der Handelskrieg der europäischen Nationen, mit dem Erdrund als Schauplatz. […] Das Kolonialsystem reifte treibhausmäßig Handel und Schif-

4. Marx, Engels und der Mensch als Gattungswesen

schaften der Bedarf an Land und Arbeitskraft innerhalb von Europa nicht gedeckt werden konnte, kam es zur europäischen Expansion in andere Kontinente hinein und zu einer Entwicklung, in deren Verlauf, wie sich Federici hinzufügen ließe, das Anthropozän von Anfang an auch ein Plantagozän war. »Wenn das Plantagensystem für die kapitalistische Entwicklung ausschlaggebend war, dann nicht nur wegen der ungeheuren Mengen von Mehrarbeit, die dadurch akkumuliert werden konnten, sondern auch weil es ein Modell der Arbeitsorganisation, der exportorientierten Produktion, der wirtschaftlichen Integration und der internationalen Arbeitsteilung etablierte, das seitdem für die kapitalistischen Klassenverhältnisse paradigmatisch geworden ist.«85 Gemeinsam ist der zunächst in Europa stattfindenden und danach auf andere Erdteile ausgedehnten Frauenverbrennung, der Kolonisierung anderer Kontinente und der Verwandlung des Planeten in eine Plantage im Rahmen von Prozessen, in denen Ländereien ebenso angehäuft werden wie menschliche Arbeitskraft, dass hier Allmende eingehegt wird. Dies betrifft die Verstrickungsverhältnisse zwischen Menschen ebenso wie diejenigen zwischen ihnen und Natur, die dann in Kapitalverhältnisse verwandelt werden, die wiederum auf individualistischen Besitzverhältnissen basieren. Die vom Kapitalismus zerstörten Beziehungsweisen waren zwar nie einfach ›gut‹ – teilweise ist sich der Autor dieser Schrift bezüglich mancher neopagan anmutender Einlassung Federicis deshalb nicht sicher –, aber eben keine Verhältnisse in erster Linie zwischen privaten Individuen, deren Eigennutz an erster Stelle steht.86 Federici fokussiert neben den Hexenverbrennungen die kapitalistische Einhegung der Allmende, unter der sie nicht nur gemeinsam genutztes Land versteht, sondern auch die sozialen Formen, die damit zusammenhängen, um den Unterschied zwischen dem bürgerlichen Individuum und etwas ihm historisch Vorausliegenden herauszuarbeiten. Eingehegt werden im Verlauf der »staatlichen Zerstörung eines breiten Spektrums an vorkapitalistischen Glaubensvorstellungen, Praktiken und gesellschaftlichen Subjekten«87 deshalb nicht nur Territorien, indem sie eingezäunt werden, sondern auch sinnliche Verhältnisse zwischen Mitmenschen, indem sie individualisiert werden. Wie Feuerbach, Dussel, Mignolo und andere dekoloniale Denker*innen bezieht sich Federici auf

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fahrt. […] Den aufschießenden Manufakturen sicherte die Kolonie Absatzmarkt und eine durch das Marktmonopol potenzierte Akkumulation. Der außerhalb Europas direkt durch Plünderung, Versklavung und Raubmord erbeutete Schatz floß ins Mutterland zurück und verwandelte sich hier in Kapital.« Marx, Das Kapital, S. 383f. Federici, Caliban und die Hexe, S. 133. Zum Plantagozän vgl. auch Haraway, Tsing und Mitman, Reflections on the Plantationocene. Im Hinblick auf Feuerbachs Überlegungen zum Zusammenhang zwischen dem Christentum und der Herausbildung des individuellen Gemüts ist folgende Beobachtung Federicis zum Subjektivitätswandel während der Phase der ursprünglichen Akkumulation interessant: »Selbst das individuelle Verhältnis zu Gott wurde privatisiert: in protestantischen Gebieten durch die Einführung einer direkten Beziehung des Individuums zur Gottheit, in katholischen durch die Einführung der persönlichen Beichte.« Federici, Caliban und die Hexe, S. 105. Ebd., S. 179.

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das Cogito von Descartes, in dem sie den »Ursprung des Geistes«88 aus einer zunächst allein weißen europäischen Männern zugeschriebenen »Fähigkeit zur Selbstführung«89 sieht, wenn sie die Subjektivität analysiert, die mit der Umwandlung von Allmende in Privatbesitz einhergeht. Während sie unter Allmende eine Produktionsweise versteht, »in der Güter geteilt werden und gesellschaftliche Beziehungen von der Solidarität zehren, nicht von dem Wunsch nach selbstsüchtiger Erweiterung«90 , verortet sie die Subjektivität, die dem Kapitalismus und Kolonialismus ebenso wie der Industrialisierung eingeschrieben ist, in der cartesianischen Philosophie. »Bei Descartes werden Körper und Natur miteinander identifiziert, denn beide bestehen aus denselben Teilchen und verhalten sich entsprechend den einheitlichen Gesetzen, die Gottes Wille in Kraft gesetzt hat. […] Tatsächlich fügt sich der Körper in seiner Philosophie in ein Kontinuum uhrwerkartiger Materie ein, das der entfesselte Wille als Gegenstand seiner Herrschaft kontemplieren kann.«91 Diesbezüglich verortet Federici wie Feuerbach die Form der Subjektivität, die mit dem Bürgertum einhergeht und in der vorliegenden Arbeit weiße Subjektform genannt wird, in der Vorstellung von »Selbstführung«92 und »Selbstbesitz«93 des Individuums, das in ihr nicht nur als Person – also in Bezug auf sich selbst als »Herr und Knecht zugleich«94 – fungiert, sondern auch gegenüber anderem und anderen seine Autonomie beweisen muss. Die »Geburt des Individuums in der kapitalistischen Gesellschaft«95 hängt Federici zufolge ebenso mit dessen Selbsteinhegung wie mit der von ihm ausgehenden Einhegung von anderem und anderen zusammen. In einem späteren Text stellt sie klar: »In diesem Sinne müssen wir die Einhegungen als ein breiteres Phänomen betrachten als die bloße Einzäunung von Land. Wir müssen uns eine Einhegung von Wissen, unserer Körper und unserer Beziehung zu anderen Menschen und der Natur vorstellen.«96 Mit der Geburt des Individuums kommt es zur »Verwaltung und Beherrschung sowohl des eigenen Körpers als auch, daran anschließend, der Körper anderer Menschen.«97 Historisch betrachtet korrespondiert der patriarchale Besitz von Frauen durch Männer beziehungsweise die »Unterordnung der Frauen unter die Reproduktion«98 mit dem kolonialen Besitz von Sklav*innen durch ihre Herren und dem ›plantagozänen‹ Besitz von Land und Boden durch deren Eigentümer. Laut Federici geht die Einhegung, als deren Symptom sie die Hexenverbrennung versteht, stets mit der Privatisierung von Allmenden einher,

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Ebd., S. 236. Ebd. Ebd., S. 33. Ebd., S. 176. Ebd., S. 188. Ebd. Ebd., S. 189. Ebd., S. 192. Dies., Hexenjagd, S. 36f. Dies., Caliban und die Hexe, S. 189. Ebd., S. 132.

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also der Umwandlung gemeinschaftlicher Güter in Güter, die nur noch einzelnen Personen gehören. »Im 16. Jahrhundert war ›Einhegung‹ ein Fachbegriff. Er bezeichnete eine Reihe von Strategien, deren sich die englischen Herren und wohlhabenden Bauern bedienten, um das gemeinschaftliche Landeigentum abzuschaffen und ihre eigenen Ländereien zu vergrößern. Meistens ging es dabei um die Abschaffung des sogenannten Gewanns, eines Arrangements, unter dem Dorfbewohner Ackerstücke besaßen, die nicht aneinander angrenzten und sich auf einem nicht eingezäunten Landstück befanden. Zur Einhegung gehörte auch das Umzäunen der Allmende und das Abreißen der Schuppen armer Häusler oder Kätner, die über kein eigenes Land verfügten, dank ihrer Gewohnheitsrechte aber dennoch ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten. Größere Landstücke wurden auch eingehegt, um Wildparks einzurichten, und ganze Dörfer wurden abgerissen, um Platz für Weideland zu schaffen.«99 Vor diesem Hintergrund soll hier vorgeschlagen werden, im Hinblick auf Feuerbachs Kritik des europäischen Subjekts mit Federici den Vorgang der Einhegung aller möglichen Verhältnisse in die Kapitallogik und in mit Geld beglichene Tauschverhältnisse auf der Ebene von Subjektivität ebenfalls als Einhegung sinnlicher Verhältnisse zwischen Menschen sowie zwischen ihnen und ihren Umwelten zu verstehen: Subjektivität als Plantage. Die daraus abgeleitete These lautet, dass weiße europäische Männer, indem sie die Sinnlichkeit des Menschen aus ihrem Denken ausklammern, 1492 eine ökologische Krise einleiten, in deren Verlauf es zur massenhaften Vernichtung von Natur und Mitmenschen kommen wird. Im Rahmen der ursprünglichen Akkumulation, die bis heute, unter neokolonialen Gesichtspunkten betrachtet, in Form von »›Extraktivismus‹ als Mittel der Kapitalakkumulation«100 in vielen Erdteilen weitergeführt wird, kommt es so nicht nur zur Transformation von Allmende in Kapital, sondern auf subjektivitätstheoretischer Ebene auch zur Umwandlung von gleichzeitigen und wechselwirksamen Abhängigkeitsverhältnissen in Verhältnisse, die aus Individuen bestehen, die sich als voneinander und von Natur unabhängig betrachten und denen überall und über verschiedene color lines hinweg »Selbstkontrolle zum Inbegriff der Menschlichkeit«101 wird. Wenn Feuerbach in Das Wesen der Religion (1846) und in seinen darauf folgenden Heidelberger Vorlesungen den Unterschied zwischen polytheistischen und monotheistischen Auffassungen des Menschen beschreibt und darauf hinweist, dass das Christentum, indem es das Individuum in den Mittelpunkt der Welt stellt, eine grundlegende Relationalität und die Verstrickung von Menschen verdrängt, lassen sich seine Ausführungen mit Federici auf die ursprüngliche Akkumulation und die Herausbildung moderner Gesellschaften im Sinne der Kapitalverhältnisse zwischen Individuen übertragen: »Das Abhängigkeitsgefühl des Menschen ist der Grund der Religion; der Gegenstand dieses Abhängigkeitsgefühls, das, wovon der Mensch abhängig ist und sich fühlt, ist aber ursprünglich nichts andres als die Natur.«102 Was Federici als Allmende 99 100 101 102

Ebd., S. 88. Federici, Hexenjagd, S. 112. Ebd., S. 37. Feuerbach, Das Wesen der Religion, S. 81.

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bezeichnet, ist Feuerbach zufolge ein komplexes Verstrickungsgeflecht, welches das moderne Individuum aus sich ausschließt und auf den Scheiterhaufen verbrennt. Im Rahmen seiner Kritik am Monotheismus anhand mancher Aspekte des Polytheismus bemerkt er: »Wir sind mitten in die Natur hineingestellt, und doch sollte unser Anfang, unser Ursprung außer der Natur liegen? Wir leben in der Natur, mit der Natur, von der Natur, und gleichwohl sollten wir nicht aus ihr sein? Welch ein Widerspruch!«103 Federici mit Feuerbach zu lesen würde demnach bedeuten, in ihren Ausführungen zur ursprünglichen Akkumulation auch eine Kolonisierung sinnlicher durch individualistische Verhältnisse und die Transformation einer zwischen mehreren Menschen aufgespannten Subjektivität in eine Subjektform zu sehen, die lange Zeit über allein weißen europäischen Männern vorbehalten war. Die Subjektivität weißer europäischer Männer korrespondiert dabei über die Jahrhunderte ihrer Replikation in verschiedenen Erdteilen vermittels der Körper von Frauen mit der »gewaltsamen Vertreibung ganzer Gemeinschaften von ihrem Land«104 und der Zerstörung all derjenigen Beziehungsformen, die nicht vom Kapital verwertbar sind. Der europäische Kolonialismus, der die Konversion der Kolonisierten in die monotheistische Religion des Christentums hinein beinhaltete, wäre dann mit weltweiten Hexenverbrennungen ebenso einhergegangen wie mit der Einhegung sinnlicher Verhältnisse in das sich seitdem herausbildende Weltsystem der kolonialen Moderne.105 In Caliban und die Hexe (2004) parallelisiert Federici explizit die europäischen Hexenverbrennung mit den Opfern der kolonialistischen Expansion Europas, indem sie darauf hinweist, dass die auf den Plantagen eingesetzten Sklav*innen »dem Kapital das scheinbar unbegrenzte Angebot an Arbeitskraft boten, das die Akkumulation erforderte«106 . An Federici anknüpfend entwickeln Jason M. Moore und sein Team vom World-Ecology Research Network in den letzten Jahren den Begriff des Kapitalozäns. Dieser Begriff ist von Chakrabarty an mehreren Stellen zu Recht dafür kritisiert worden auszublenden, dass die aktuelle Klimakrise dezidiert nicht nur mit dem Kapitalismus zusammenhängt, da beispielsweise die Treibhausemissionen der kommunistischen Blockstaaten vor allem zur Zeit des Kalten Krieges in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts denen des Westens in nichts nachstanden.107 Zentral ist bei Moore jedoch die Kritik an einer ›billigen Natur‹, nach welcher der Kapitalismus fortwährend verlange und die, dies soll jetzt im Austausch mit Feuerbach gezeigt werden, eine bestimmte Subjektivität durch ihr gekapptes Verhältnis zu anderem und anderem unaufhörlich produziere.

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Ebd., S. 96. Federici, Caliban und die Hexe, S. 269. Vgl. hierzu Wallerstein, Das moderne Weltsystem I-IV. Federici, Caliban und die Hexe, S. 245. Vgl. hierzu Chakrabarty, Das Klima der Geschichte sowie seine Tanner Lectures in Human Values von 2015: Ders., The Human Condition in the Anthropocene, https://tannerlectures.utah.edu/_resources/ documents/a-to-z/c/Chakrabarty%20manuscript.pdf, Zugriff am 26.5.2023.

4. Marx, Engels und der Mensch als Gattungswesen

4.2 Das gekappte Verhältnis zu anderem und anderen im Kapitalozän Aufbauend auf Federicis vorangegangenen Überlegungen zur ursprünglichen Akkumulation bei Marx und Engels und zur kolonialgeschichtlichen Einhegung von der Kapitallogik äußerlichen Verhältnissen – zwischen Menschen ebenso wie zwischen ihnen und ihren Umwelten –, zielen die Überlegungen, die Moore und sein Team vom World-Ecology Research Network in den letzten Jahren unternommen haben, auf eine »Natur-als-Matrix«108 und darauf ab, das Verhältnis menschlicher Praxis zu dieser Matrix im Rahmen einer ›doppelten Internalität‹ zu denken. »Die beiden handelnden Größen – Menschheit/Umwelt – sind nicht unabhängig voneinander, sondern durchdringen einander auf jeder Ebene, vom Körper bis zur Biosphäre«109 , heißt es in Kapitalismus im Lebensnetz. Ökologie und Akkumulation des Kapitals (2015). Moore verweist auf den »Stoffwechsel menschlicher und außermenschlicher Naturen«110 , also auf Verstrickungen von Wirkmächten, die ihm zufolge Natur- und Menschheitsgeschichte als einen beiden gemeinsamen historischen Strang konstituieren. Dabei sind einzelne Menschen ebenso Produkte wie Produzent*innen der Umwelten, in denen sie leben, und alle Menschen zusammen – ganz im Sinne von Feuerbachs Gattungswesen – ein »Art-Umwelt-Zusammenhang«111 . Was dem Kapital als wertlos erscheint, da es eine Ressource darstellt, die zuallererst zu Wert gemacht, indem sie dem Lebensnetz entnommen und verarbeitet wird, ist auf der Ebene einer als Matrix gedachten Natur ein »Bündel von Verhältnissen«112 , die seit 1492, dem Jahr, das auch für Moore den Beginn der Moderne darstellt, in Plantagen verpflanzt und dort operabel gemacht werden, wenn sie die Kapitallogik, von der eine heute den gesamten Planeten umspannende Subjektivität nicht ablösbar ist, für sich arbeiten lässt. »Die erste Fabrik war die Plantage«113 , halten Moore und sein Kollege Raj Patel in einem gemeinsam verfassten Buch fest. Während sich der Kapitalismus im Verlauf der Kolonialgeschichte als weltumspannendes Subjekt und im Sinne Wallersteins als Weltsystem herausbildet, Mitmenschen versklavt und Umwelten als Reservoir an Ressourcen verdinglicht, wird ausgeblendet, dass jedes einzelne der vielen Objekte, die er bearbeitet und durch die er sich hindurcharbeitet, auf Verhältnisse verweist, die viele weitere Subjektivitäten und Wirkmächte beinhalten, welche ihrerseits auf ihn zurückwirken. Im Kontext dieser Arbeit lässt sich hierzu sagen: Während sich die weiße Matrix über den Planeten ausbreitet und ihn in

108 Jason W. Moore, Kapitalismus im Lebensnetz. Ökologie und Akkumulation des Kapitals, Berlin: Matthes & Seitz, 2020, S. 62. Direkte und indirekte Verweise auf das Werk Federicis durchziehen kontinuierlich Moores Nachdenken über das Kapitalozän. So kritisiert er bspw. die Annahme, der Kapitalismus habe mit der Industrialisierung im 18. Jarhundert begonnen, mit dem Hinweis auf »die mit dem langen sechzehnten Jahrhundert einsetzenden beträchtlichen Umformungen von Land und Arbeit«. Ebd., S. 271. 109 Ebd., S. 50. 110 Ebd., S. 342. 111 Ebd., S. 23. 112 Ebd., S. 301. 113 Jason W. Moore und Raj Patel, Entwertung. Eine Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen, Berlin: Rowohlt, 2018, S. 27.

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einen Globus verwandelt, skaliert sie den derart kartografierten Erdball auf einen individuellen Ausschnitt aus sehr viel weiterreichenden Bündeln von Natur herunter, denen gegenüber sie doppelt internal bleibt. Moore knüpft seine Überlegungen an die marxistische Schule und deren Konzeption einer anorganischen Natur sowie an deren Verständnis von Arbeit als Metabolismus zwischen menschlichem Gattungswesen und Materie.114 Ebenso wendet er sich gegen diejenigen Spielarten grünen Denkens, die eine ›unschuldige‹ Natur vor menschlichem Zugriff bewahren wollen: »Anstatt zu fragen, was der Kapitalismus der Natur antut, könnten wir fragen, wie die Natur für den Kapitalismus arbeitet? Wo die erste Frage die Abtrennung voraussetzt, impliziert die zweite die Vereinigung: Kapitalismus-in-der-Natur/Natur-in-Kapitalismus.«115 1850 schreibt Feuerbach: »Der Mensch ist, was er ißt.«116 Daran anschließend soll hier gefragt werden, inwiefern sich Spuren des Problems, mit dem sich Feuerbach kurz nach der ersten Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche bezüglich des Unterschieds zwischen Kartoffeln und Erbsen sowie ›föderalen‹ Stoffwechselprozessen befasst, auch in jüngsten Debatten über das Kapitalozän finden lassen. Laut Moore lässt sich der Kapitalismus unter Vorzeichen der Klimakrise als Mobilisierung einer ›billigen‹ Natur (die darauf abzielt, »to make the whole of nature work on the cheap«117 ) und Verfügung über deren in Ressourcen transformierte und durch Extraktion gekappte Bündel von Verhältnissen beschreiben: »But cheap is not free. Cheap is here understood as work/energy and biophysical utility produced with minimal labor-power, and directly implicated in commodity production and exchange.«118 Kapitalverhältnisse verwandeln die Verhältnisse zwischen Menschen ebenso wie zwischen ihnen und Natur in billige Verhältnisse, indem sie deren Reziprozität gewaltsam unterbrechen. So reproduziert der Kapitalismus als globales Subjekt seine Umwelt als von ihm gekapptes Objekt und verdrängt seine Verstrickung mit etwas, dessen er unaufhörlich mehr bedarf und in das hinein er unentwegt expandiert, um es in sich aufzuheben, einzuhegen und im Sinne der Mehrwertproduktion fruchtbar zu machen. Die Verdinglichung von Natur und die

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Schon Federici meint, bereits Marx habe richtig erkannt, »dass die Natur unser anorganischer Körper ist, eine Erweiterung unserer selbst. Somit ist der Tod der Erde unser Tod. Wenn ein Wald abgeholzt, die Meere verschmutzt und tausende Wale an der Küste angespült werden, sterben auch wir.« Dies., Jenseits unserer Haut. Körper als umkämpfter Ort im Kapitalismus, Münster: Unrast, 2020, S. 47. Moore, Kapitalismus im Lebensnetz, S. 26. Dabei formuliert er seine Skepsis gegenüber dem Anthropozän-Konzept in ähnlicher Weise wie die Vertreter*innen kolonialgeschichtlich informierter Ansätze: »Mit dem Anthropozän haben wir eine bequeme Erzählung zur Hand. Bequem, weil sie die für natürlich erklärten Ungleichheiten, Entfremdungen und Gewaltformen, die in den strategischen Macht- und Produktionsverhältnissen der Moderne eingeschrieben sind, nicht in Frage stellt. Eine allzu bequeme Geschichte, weil sie uns nicht im Geringsten dazu auffordert, über diese Verhältnisse nachzudenken. Das Mosaik menschlicher Aktivitäten ist hier auf eine abstrakte Menschheit heruntergebrochen: eine homogen agierende Einheit. Ungleichheit, Kommodifizierung, Imperialismus, Rassenkonstrukte und vieles mehr sind von der Betrachtung größtenteils ausgenommen.« Ebd., S. 262. Feuerbach, Die Naturwissenschaft und die Revolution, S. 263. Jason W. Moore, The Rise of Cheap Nature, in: ders. (Hg.), »Anthropocene or Capitalocene? Nature, History, and the Crisis of Capitalism«, Oakland: PM Press, 2016, S. 112. Ebd., S. 99.

4. Marx, Engels und der Mensch als Gattungswesen

Transformation der Matrix, aus der sie besteht, in eine Warenform, durchschneiden dabei ein Gewebe, das in der vorliegenden Arbeit anhand Feuerbachs Sinnlichkeit des Menschen beschrieben wurde.119 Indem der Kapitalismus Gebrauchs- in Tauschwerten einhegt und global eine abstrakte Zeit etabliert, die sich die Zeit der weißen Subjektform nennen lässt, häuft er eine Welt billiger Dinge und Menschen an, derer er sich bedient, ohne ihnen etwas zurückzugeben. Beim Kolonialismus, der Moore wie Federici zufolge den Beginn des Kapitalismus darstellt, handelte es sich so gesehen um die »Einhegung neuer geographischer Grenzgebiete«120 , also die gewaltsame Expansion in alles hinein, was außerhalb der Subjektivität derjenigen weißen Männer lag, die ihn betrieben. Wie Federici stand Moore zufolge die Aneignung unbezahlter Arbeit und Energie im Mittelpunkt der historischen Expansionsbestrebungen Europas, die auf der Annahme beruhten, durch immer weiteres Vordringen in andere Gebiete hinein wäre unendliche Akkumulation möglich. Allerdings sind die Verhältnisse, welche die Kapitallogik sowohl zu Natur als auch zwischen Menschen etabliert, nicht unerschöpflich. Das ›Lebensnetz‹, auf das der Kapitalismus unentwegt einwirkt, wirkt auf ihn zurück. »Das vom menschlichen Wesen oder Gott, dessen Darstellung Das Wesen des Christentums ist, unterschiedene und unabhängige Wesen – das Wesen ohne menschliches Wesen – menschliche Eigenschaften, menschliche Individualität – ist in Wahrheit nichts andres als die Natur«121 , schreibt Feuerbach in Das Wesen der Religion (1846) und weist damit darauf hin, dass die von ihm in seinem Hauptwerk fünf Jahre zuvor analysierte Subjektivität historisch gewachsen und aus dem Monotheismus heraus entstanden ist, der dieses »Wesen ohne menschliches Wesen«122 aus seiner individualistischen Form von Subjektivität ausklammert. Während Feuerbach in seiner späten Phase für eine Natur plädiert, die in der Gesamtheit ihrer Verhältnisse von menschlicher Praxis unabhängig ist, während diese gleichsam von ihr abhängt und mitbestimmt wird, stellt Moore in seinem Beitrag zu Debatten über das Anthropozän die interessante These auf, dass sich die strikte Trennung zwischen dem »Mosaik der Verhältnisse, das wir Kapitalismus nennen«123 und dessen Umwelten nicht aufrechterhalten lässt, da sich sowohl der Kapitalismus als eine »Weise, Natur zu organisieren«124 als auch die vielen Menschen innerhalb eines ihnen gemeinsamen ›Lebensnetzes‹ befänden. Neben Marx und Engels sowie Federicis Schriften zur Einhegung der Allmende im Rahmen der ursprünglichen Akkumulation ist Moore hierbei unter anderem auch vom Denken Haraways und Latours beeinflusst,

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Diese Verstrickungen erklärt Ian Angus bezüglich Justus von Liebigs ebenfalls im 19. Jahrhundert unternommener Forschungen zu biologischen Stoffwechselprozessen: »Liebigs Arbeit war die Grundlage für eine neue Sicht auf die Natur, die sie nicht als Ansammlung einzelner Dinge – Pflanzen, Tiere, Menschen, Flüsse, die Atmosphäre etc. – verstand, sondern als System, dessen Bestandteile permanent miteinander im Austausch stehen, in dem die Veränderung eines einzelnen Auswirkungen auf alle anderen hat.« Ders., Im Angesicht des Anthropozäns. Klima und Gesellschaft in der Krise, Münster: Unrast, 2020, S. 119. 120 Moore, Kapitalismus im Lebensnetz, S. 151. 121 Feuerbach, Das Wesen der Religion, S. 81. 122 Ebd. 123 Moore, Kapitalismus im Lebensnetz, S. 8. 124 Ebd., S. 9.

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

deren jeweilige Ansätze er mit einem auf nicht-menschliche Prozesse erweiterten ›Klassenkampf‹ hybridisiert: »Zum größten Teil appropriiert der Kapitalismus die menschliche Tätigkeit ebenso wie er mit der übrigen Natur verfährt.«125 Von Dussel lernt Moore, dass der Kapitalismus solipsistisch verfährt, wenn er aus Bündeln von Verhältnissen billige Waren macht. Ebenso wie für Feuerbach und die Vordenker*innen von Netzwerktheorien ist Natur für Moore weniger ein Subjekt, sondern sie verweist auf Stoffwechselprozesse zwischen Teilwesen, die sich gegenseitig hervorbringen und bedingen. Natur ist in Menschen, lange bevor der Kapitalismus auf sie einzuwirken beginnt. In einer doppelten Internalität mit ihr begriffen, stellt der Kapitalismus als »Revolution im Umweltmachen«126 Umwelten ebenso her wie er im Gegenzug durch sie geprägt wird: »Natur ist nicht einfach so da. Wir kennen Natur nur durch unsere Lebensaktivitäten. Aufgrund dieser Lebensaktivitäten erfolgt eine dreifache Transformation: unserer selbst, der äußeren Natur sowie unseres Verhältnisses zu anderen Menschen und der übrigen Natur«127 . Hinsichtlich der hier unternommenen Überlegungen zur europäischen Subjektivität und der Kritik, die sich mit Feuerbachs Konstellation von Ich und Du und den Subjektivierungsweisen mehr als nur eines Menschen an sie richten lässt, kann zu Moores Kapitalozän angemerkt werden, dass es in seinen Herkünften weiß ist. Indem der Kapitalismus als »Weltökologie des Kapitals«128 dem »Wertgesetz«129 der billigen Natur folgt, wenn er das ›Lebensnetz‹ in Warenströmen einhegt, macht er nicht nur aus Natur und Mitmenschen ihm zur Verfügung stehende Ressourcen. Dabei wird verkannt, dass gesellschaftliche Verhältnisse mit Verhältnissen der Natur als Matrix verwoben sind, die auf sie zurückwirken. Billig werden im Kapitalismus die Ressourcen (menschliche und nicht-menschliche) Arbeit, Nahrung, Energie und Rohstoffe, die er extrahiert und sich aneignet. Es ist wichtig festzuhalten, dass Moore sich explizit auch mit der Geschichte der Insel Madeira als erstem »modern sugar-slave nexus«130 , der folgewirksamen »Bezeichnung der Ureinwohner als naturales«131 durch die Kolonisatoren und in diesem Zusammenhang mit der

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Ebd., S. 173. Vgl. hierzu auch den von Moore herausgegebenen Sammelband, in dessen Rahmen Haraway ihr Konzept des Chthuluzäns hinsichtlich Moores Kapitalozän überdenkt: Jason W. Moore (Hg.), Anthropocene or Capitalocene? Nature, History, and the Crisis of Capitalism, Oakland: PM Press, 2016. Er selbst formuliert dort im Verweis auf Haraways Konzept des situierten Wissens eine Erkenntnis, die sich in vergleichbarer Weise bereits in Feuerbachs Gedanken über Tod und Unsterblichkeit (1830) findet: »We begin to see human organization as utterly, completely, and variably porous within the web of life.« Ebd., S. 5. Sein eigener Beitrag im Band fokussiert vor diesem Hintergrund die Entstehung des Kapitalismus aus kolonialgeschichtlichen Kontexten heraus und die Logik der Plantage, die ihm zugrunde liegt. Auf Latours leider allzu polemisch vorgetragenen Anti-Marxismus kann hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. hierzu ders. und Vincent Lépinay, Die Ökonomie als Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen, Berlin: Suhrkamp, 2010. 126 Moore, Kapitalismus im Lebensnetz, S. 277. 127 Ebd., S. 180. 128 Ebd., S. 27. 129 Ebd., S. 181. 130 Moore, The Rise of Cheap Nature, S. 105. 131 Moore, Kapitalismus im Lebensnetz, S. 34.

4. Marx, Engels und der Mensch als Gattungswesen

Ausbeutung unbezahlter Arbeit von »Frauen, Natur und Kolonien«132 befasst, wenn er über die dem Kapitalozän zugrunde liegende »Weltakkumulation«133 schreibt: »Eine Welt nach dem Bild des Kapitals schaffen zu wollen, ist das Korrespondenzprojekt des Kapitalismus, mit dem Kapital versucht, die übrige Welt seinem Wunsch nach einem Universum zu unterwerfen, in dem ›ökonomische Äquivalenz‹ herrscht. Allerdings möchte die Welt – außermenschliche Naturen aller Art, aber auch die re/produzierenden Klassen – nicht unbedingt eine Welt kapitalistischer Gleichwertigkeit sein. Ab einem bestimmten Punkt rebelliert alles Leben – von der Landwirtschaft bis in die Industrie – gegen den Wert-Monokultur-Nexus der Moderne.«134 Wie Dussel, Mignolo und Federici teilt Moore mit Feuerbach die Kritik am »Gefängnis der cartesianischen Binarität«135 , dessen »Grenzen externalisiert und eben nicht koproduziert sind«136 , und an der Annahme, es gäbe eine Instanz, die sich abgrenzen ließe, während sie Peripherien produziert und sie auf sich als Zentrum bezieht. Gemeinsam mit Patel schreibt er in Referenz auf Dussel: »Die kartesische Revolution brachte vier Veränderungen mit sich, die unsere Haltung gegenüber Natur und Gesellschaft bis heute bestimmen. Erstens verdrängte das Denken des Entweder-oder das Denken des Sowohl-als-auch. Zweitens setzte man sich fortan lieber mit Substanzen und Dingen auseinander als mit den Beziehungen, die zwischen diesen Substanzen bestehen. Drittens wurde die Beherrschung der Natur durch die Wissenschaft als soziales Gut etabliert. Viertens machte die kartesische Revolution das koloniale Projekt einer Kartierung und Beherrschung der Welt überhaupt erst denk- und machbar.«137 Die Weise, in der die Kapitallogik ihre Verfügungsgewalt entfaltet, verbindet sie mit der in der vorliegenden Arbeit mit Feuerbach problematisierten Subjektivität. Wie Feuerbach geht Moore davon aus, dass die abendländische Ich-Instanz, wenn sie Fremd- in Selbstbezüge verwandelt, aus Natur »eine brutale Abstraktion, ein Objekt, eine ontologisch abgetrennte ›Basis‹«138 macht. Die im sogenannten Anthropozän offensichtlich werdende Umweltkrise sei demnach zuallererst eine Akkumulationskrise, die er als »Dialektik der Produktivität und Plünderung«139 beschreibt: »Endlose Kapitalakku-

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Ebd., S. 332. Ebd. Ebd., S. 315. Gemeinsam mit Patel führt Moore hierzu weiter aus: »Der Aufstieg des Kapitalismus schuf nicht nur die Vorstellung, dass die Gesellschaft relativ unabhängig vom Netz des Lebens existiert, sondern vermittelte auch die Idee, dass die meisten Frauen, Sklaven, indigenen und kolonisierten Völker keine vollwertigen Menschen und damit keine Mitglieder der Gesellschaft seien. Wer zählte als Mensch, wer nicht, wer gerade noch? Wer kein Mensch war, galt als Teil der Natur, wurde wie ein Ausgestoßener behandelt – und verbilligt.« Moore und Patel, Entwertung, S. 37. Moore, Kapitalismus im Lebensnetz, S. 13. Ebd., S. 73. Moore und Patel, Entwertung, S. 75. Moore, Kapitalismus im Lebensnetz, S. 48. Ebd., S. 465.

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

mulation bedeutet die endlose Internalisierung von Natur«140 . Vermittels unzähliger Plünderungen etabliert die Kapitallogik sowohl zwischen Menschen als auch zwischen ihnen und Natur eine Gewalt, die aus Verhältnissen Waren macht. Anstatt das ›Lebensnetz‹ als von ihnen unabhängige Kräfteverhältnisse zu verstehen, in die sie verstrickt sind, gehen die weißen Männer, die im späten 15. Jahrhundert den Prozess der Akkumulation von Welt und mit ihm die Klimakatastrophe in Gang setzen, wenn sie sich selbst zum Zentrum der Dinge machen, von sich als selbsttätigen Individuen aus und erkennen nicht, dass die Dinge, die sie um sich herum anhäufen, das Resultat gekappter Verhältnisse sind. Die Atmosphäre, die sie somit produzieren, ist in vielerlei Hinsicht toxisch. »Deshalb ist die Verbindung zwischen den ›Zustandsveränderungen‹ der Biosphäre und der Akkumulationskrise enger als allgemein anerkannt«141 , stellt Moore klar. Ähnlich wie Feuerbach mit seinen Überlegungen zum Polytheismus und Haraway mit ihrem Begriff des Chthuluzäns plädiert Moore hinsichtlich seines ›Lebensnetzes‹ dafür, Beziehungsgeflechte in den Blick zu nehmen, »die die mannigfachen Konfigurationen von Menschheit-in-Natur, von Organismen und Umwelten, von Leben und Land oder Wasser und Luft koproduzieren«142 . Das ursprünglich von einem Doktoranden Moores ins Spiel gebrachte Alternativkonzept des Kapitalozäns zielt darauf ab, eine »Dreiheit aus abstrakter gesellschaftlicher Arbeit, ursprünglicher Akkumulation und abstrakter gesellschaftlicher Natur«143 mit dem Klimawandel zusammenzudenken, der sich dann nicht mehr außerhalb der Menschheit abspielt, sondern innerhalb der vielen Subjektivitäten statthat, aus denen sich das Gattungswesen zusammensetzt. Aus dieser Perspektive betrachtet beschreibt das Kapitalozän einen wichtigen Aspekt aktueller Debatten zur Klimakrise. »Here then is a line in the sand between Anthropocene and Capitalocene arguments. In taking the centrality of work as central to our thinking about capitalism – ontologically (how it is defined) and epistemologically (how we know it and its history) – we have a relational view of work, power, and re/production since 1492. From this angle of vision, a very different view of the Anthropocene problem comes into focus: how the origins of a new pattern of environment-making began in the Atlantic world during the ›long‹ sixteenth century.«144 Im Anschluss an Moore lässt sich sagen, dass die weiße Subjektform, indem sie im Verlauf der Kolonialgeschichte Natur ebenso wie Mitmenschen zu billigen Ressourcen macht, durch ihre überall replizierte Weise des Menschseins die Verstrickung von Wirkmächten kappt. Vor diesem Hintergrund muss es in einem postkolonial verstandenen

140 Ebd., S. 460. 141 Ebd., S. 427. Dem fügt er hinzu: »Heute haben wir es daher mit einer Welt zu tun, in der in jeder Ecke und Ritze die Giftrückstände des Kapitals zu finden sind, etwa Schwermetalle in arktischen Gletschern und im Blut von Kindern, Plastikmüllwirbel im Atlantik und Pazifik oder die zunehmende Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre.« Ebd., S. 428. 142 Ebd., S. 14. 143 Ebd., S. 332. 144 Moore, The Rise of Cheap Nature, S. 93f.

4. Marx, Engels und der Mensch als Gattungswesen

Anthropozän darum gehen, »Emanzipation oder Repression nicht vom Standpunkt der Menschheit und Natur«145 aus zu denken, »sondern aus der Perspektive der Menschheitin-Natur […] und der Natur-in-Menschheit«146 , und darum, »zu lernen, auf andere Weise mit dem Netz des Lebens zu interagieren«147 . Auf andere Weise mit dem ›Lebensnetz‹ zu interagieren, ist allerdings kein leichtes Unterfangen in einer Gegenwart, die durch internationale Arbeitsteilung gekennzeichnet ist.

145 Moore, Kapitalismus im Lebensnetz, S. 82. 146 Ebd. 147 Moore und Patel, Entwertung, S. 273.

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Vierte Szene des Menschen Daniel Kötters und Jochen Beckers Chinafrika.mobile (2017)

Auf dem Gelände eines ehemaligen E-Werks in der thüringischen Stadt Weimar, das heute dem dortigen Nationaltheater als Spielstätte dient, ist ein Transparent angebracht worden, auf dem der Satz »MAKE PROGRESS TOGETHER« auf Englisch, Igbo und Mandarin zu lesen ist.1 Bei Chinafrika.mobile (2017) handelt es sich um in eine entortete Aufführung hinein erweitertes dokumentarisches Theater in der Nachfolge Erwin Piscators. Im Unterschied zu herkömmlichem Dokumentartheater jedoch, bei dem vermittels unterschiedlichen Medieneinsatzes häufig Dokumente einbezogen werden, um ein bestimmtes Weltbild zu bekräftigen – zu denken wäre hier beispielsweise an das Œuvre Milo Raus –, steht in dieser Arbeit eine Subjektivität auf dem Spiel, die zwischen den Performer*innen, auf Handydisplays zu sehenden Videoeinspielungen und den Zuschauer*innen produziert wird und hier mit Feuerbach anhand des menschlichen Gattungswesens im Sinne der nirgendwo aufhebbaren sinnlichen Verstrickung unzähliger Teilwesen verstanden werden soll. Indem sie ihren Fokus weitestgehend von individuellen Geschichten und einem manipulativen Zugriff auf das Material durch die Regie weg- und den sinnlichen Verhältnissen zwischen unterschiedlich positionierten Menschen zuwenden, gelingt es Daniel Kötter und Jochen Becker, die Abstraktheit »der Ausbeutung innerhalb der internationalen Arbeitsteilung«2 , die Spivak als Verschiebung eines »unterteilten«3 Feldes beschrieben hat, »das durch den territorialen Imperialismus 1

2 3

Die hier durchgeführte Detailstudie des Stücks bezieht sich auf die Videodokumentation einer Performance, die am 3.9.2017 um 16 Uhr im Rahmen des Kunstfestes Weimar stattfand. Direkte Zitate des in den vier Teilen der performativen Stadtrundfahrt gesprochenen Textes sind der Aufnahme entnommen. Direkte Zitate, die sich auf die vier eingespielten dokumentarischen Sequenzen beziehen, stützen sich auf die dort eingeblendeten englischen Untertitel. Chinafrika (2013–17) war ein Rechercheprojekt von Daniel Kötter und Jochen Becker. Die Ausstellungsreihe Chinafrika.Under Construction (2017–19) wurde von Becker kuratiert, während Kötter Regisseur sowohl des Dokumentarfilms Chinafrika.mobile (2017) als auch der gleichnamigen Performance ist, die hier besprochen wird. Die Projektreihe wurde von der Kulturstiftung des Bundes gefördert und in Trägerschaft von metroZones e.V. realisiert. Spivak, Can the Subaltern Speak?, S. 40. Ebd., S. 57

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

des 19. Jahrhunderts abgesteckt wurde«4 und welches durch die »Ausbeutung billiger Arbeitskraft in den Kompradorländern«5 gekennzeichnet ist, zu konkretisieren und nicht nur gesellschaftliche Verhältnisse sinnlich erfahrbar zu machen, sondern dabei divergierende Perspektiven einander überlappen zu lassen. Derart eröffnen sie Begegnungen, die über die Einhegung von Subjektivität in der Kapitallogik, die für das postkoloniale Anthropozän kennzeichnend ist, hinausweisen. In Chinafrika.mobile (2017) geht es um die sinnlichen Verhältnisse vieler Menschen in ihrer Differenz zu gesellschaftlichen Verhältnissen. Das Als-Ob, das Kötter und Becker ins Spiel bringen, ist durch die Ineinanderblendung räumlich, kulturell und in Bezug auf Klasse weit voneinander entfernter gesellschaftlicher Positionen gekennzeichnet, die sie in ihrer Arbeit miteinander in Kontakt bringen. Kötter und Becker zeigen unterschiedliche subjektive Perspektiven auf zwischen globalem Norden und globalem Süden ungerecht aufgeteilte Arbeit sowie sehr verschieden situierte Menschen. Die Besucher*innen der entorteten Aufführung von Chinafrika.mobile (2017) begegnen über mehr als zwei Stunden hinweg Mitmenschen, deren Position sie zwar nicht einnehmen können, mit denen gemeinsam sie sich jedoch für die Dauer der Aufführung subjektivieren, indem sie sich ihrer jeweiligen Perspektive auf ein allen gemeinsames Geschehen annähern, als ob sie die Welt mit ihren Augen sehen könnten. Dabei sind sinnliche Verhältnisse stets medial vermittelt: Während in den vier performativen Parts der Arbeit Live-Guides durch Weimar und dessen Umgebung führen und sich thüringische Landschaften mit weit entfernten Landschaften Afrikas und Chinas überlagern, begleiten wir in den vier darauf jeweils eingespielten Videos auf unseren Handy-Displays Personen durch einen Blick über deren Schulter auf andere Kontinente. Die Teilnehmer*innen der performativen Stadtrundfahrt an der Grenze zwischen Faktischem und Fiktionalem, die ebenfalls Elemente des Dokumentarfilmformats enthält und ein starkes Gewicht auf Zeugenberichte legt, treffen sich in einem Container, wo ihnen jeweils ein ›fair‹ produziertes Mobiltelefon ausgehändigt und verkündet wird, dass sie im Folgenden mit verschiedenen Reiseleiter*innen an mehrere Orte Afrikas und Chinas reisen würden, um die Lebensgeschichte eines Smartphones zu verfolgen. Neben den vier an das Format einer guided tour angelegten Parts besteht Chinafrika.mobile (2017) aus vier weiteren Teilen, in denen auf den Displays der ausgehändigten Geräte jeweils Bilder der Handels- und Gebrauchswege üblicher Handys zu sehen sind, die von Minenarbeitern, Fabrikangestellten, Händler*innen und Elektroschrott-Sammler*innen angefertigt wurden. Indem die Teilnehmenden der performativen Stadtrundfahrt ihre Subjektivität gegenüber den Subjektivitäten der an der Produktion, Distribution und Wiederverwertung von Smartphones Beteiligten öffnen und sich für rund zwei Stunden gemeinsam mit ihnen subjektivieren, erfahren sie, auf welche Weise die Extraktion von Kobalt aus den zahlreichen Minen der Demokratischen Republik Kongo mit der Herstellung von Handys in China unter anderem für den westlichen Markt und der Wiederverwertung von Elektroschrott auf den Märkten von Lagos (Nigeria) einen verzweigten Stoffwechselprozess bildet, der sie auf der Ebene von Gesellschaft ebenso wie von Natur miteinander verstrickt. In dieser Hinsicht vergleichbar mit dem Film Les Sauteurs. 4 5

Ebd. Ebd., S. 58.

Vierte Szene des Menschen

Those Who Jump (2016), dem sich die nächste Szene des Menschen der vorliegenden Arbeit widmen wird, geht es auch in Chinafrika.mobile (2017) nicht darum, die Welt mit dem Blick anderer zu sehen, wohl aber um eine empathische Annäherung an deren jeweilige Perspektive und deshalb, mit Feuerbach gesprochen, um das Spannungsverhältnis zwischen sehr vielen Menschen und dem, was Spivak über die internationale Arbeitsteilung schreibt: »Eine Gruppe von Ländern, die im Allgemeinen der Ersten Welt angehören, ist in der Position, Kapital zu investieren; eine andere Gruppe, in der Regel der Dritten Welt angehörend, bildet das Feld für mögliche Investitionen […].«6 Bald versammelt sich die Gruppe um den ersten Tourguide der Veranstaltung, Christian Chokola Muhigwa, der erklärt, er sei als MA-Student in Civil Engineering der Bauhaus-Universität Weimar neu in Thüringen: »I will be your guide for a short journey from Weimar to Congo«, sagt er. Die Reisegruppe steigt in einen weißen Van, auf dem der Schriftzug »Chinafrika.mobile« zu lesen ist. Nachdem Muhigwa die Fahrerin als Isabel vorgestellt und sich das Fahrzeug in Bewegung gesetzt hat, weist er die Reisegruppe darauf hin, dass die Demokratische Republik Kongo im Zentrum Afrikas liege. »Anybody here been in Africa before?«, will er wissen. Eine neben ihm im Van sitzende Frau meint, sie sei schon in Ägypten, aber nie im subsaharischen Teil des afrikanischen Kontinents gewesen. Muhigwa verteilt Landkarten, die um die DR Kongo herum zentriert sind und erzählt, dass dieses Land beispielsweise an Ruanda grenze, das durch einen dort in jüngerer Zeit stattgefundenen Genozid international bekannt geworden sei. Dann sei da noch Tansania, »a very touristic place, I see a lot of Europeans there«, sowie im Süden Sambia. Er deutet nun auf den südlichen Zipfel der DR Kongo sowie den Norden Sambias und erklärt, diese Region würde ›Kupfergürtel‹ genannt. In ihr gebe es die größten Kupfer- und Kobaltbestände Afrikas, weswegen viele internationale Konzerne am Abbau dieser Ressourcen interessiert seien. »We are going exactly in that region«, fügt er hinzu. »I want you guys to have additional knowledge about how mining is done in this region. But why mining? You all have mobile telephones in your pockets, maybe smartphones, to be accurate.« Muhigwa kündigt an, im Verlauf dieses Teils der performativen Stadtrundfahrt demonstrieren zu wollen, wie wichtige Komponenten von Smartphones, bevor sie von der Elektroindustrie in China zusammengebaut werden, zunächst in Afrika extrahiert würden und welche Arbeitsschritte hierzu erforderlich seien. Während sich das Fahrzeug aus dem idyllischen Weimar in dessen verlassene Peripherie bewegt, verteilt er weitere Karten. Die erste zeigt Orte, an denen Fiber zur Herstellung von Glasfaserkabeln gewonnen wird. Kinshasa, die Hauptstadt der DR Kongo, liege weit von den Minen des Kupfergürtels entfernt. Er selbst sei im Nordosten des Landes aufgewachsen. »Just to give you an idea about minerals, I will give you additional maps. So we have our origin maps here.« Im gewollt Frohmut ausstrahlenden Tonfall eines Reiseführers fährt er fort: »You can see in Congo we have diamonds, gold, coltan, copper, cobalt, tin, tantal, and so on.« Er wolle sich hier jedoch auf Coltan, Kupfer und Kobalt konzentrieren, da diese für die Herstellung von Mobiltelefonen benötigt würden. »You have these three elements right now, maybe in your pockets.« Im Anschluss fragt er, ob jemand wisse, wo genau Coltan in Handys verbaut sei. Ein Zuschauer vermutet, es wäre in den Screens zu finden, was 6

Ebd.

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Muhigwa verneint. »I have never even heard about coltan«, gesteht eine andere Teilnehmerin. Muhigwa klärt sie darüber auf, dass Coltan sich aus zwei Komponenten zusammensetze, nämlich aus den Mischkristallen Columbit und Tantal. Letzteres würde für den Hightech-Sektor benötigt. Jetzt kündigt er an, das konkretisieren zu wollen, und holt die Originalverpackung eines Geräts aus seiner Tasche hervor. Ihr entnimmt er allerdings nur einen größeren Chip: »This is the motherboard of our telephone«, sagt er. Wir lächeln mit ihm, wenn er hinzufügt: »I destroyed my own telephone just to show you.« Auf dem Motherboard seien kleine schwarze und graue Elemente zu finden, die Kondensatoren genannt würden. Er reicht die Platine herum, die eine ganze Reihe solcher Kondensatoren aufweist. »These capacitors are made by tantalum«, und sie fänden sich nicht nur in Handys, sondern auch in Computern und vielen weiteren Hightech-Elektrogeräten. »What about cobalt?«, möchte er hören. Nach einem anfänglichen Schweigen vermutet die Frau auf dem Beifahrersitz des Vans, dass das Übergangsmetall in Batterien verbaut sei. Sie liegt richtig. Muhigwa präsentiert darauf ein älteres Mobiltelefon und schildert, dass die für solche Geräte verwendeten Nickel-Batterien den Nachteil hätten, schwer und klobig zu sein. »If you stop using them, they start leaking. You see? It’s leaking.« Da Nickel-Batterien schnell verschleißen würden, seien Forscher*innen auf die Idee gekommen, eine neue Generation von Batterien auf der Basis von Kobalt zu entwickeln. Der Schachtel auf seinem Schoß entnimmt er nun ein solches Objekt. Bis jetzt wird in der Schwebe gehalten, inwiefern Muhigwa in seiner Rolle als Guide oder als teilnehmende Privatperson spricht. Muhigwa wechselt dezent in das Format der Lecture Performance, das in den folgenden Stunden wiederholt in die Stadtrundfahrt Einkehr finden wird. »These batteries are flat, nice for design. Actually, telephones tend to be more flat when you have batteries like this.« Er meint, wenn er diese neue Batterie öffnen würde, seien in ihrem Inneren mehrere Schichten Kobalt zu finden. Zwischen diesen bewegten sich Lithium-Ionen, wenn der Akku geladen oder das Telefon verwendet würde. Muhigwa möchte erfahren, welches die ersten Geräte waren, die von den Anwesenden jeweils genutzt wurden. »LG«, sagte eine Frau von vorne, »Nokia« die neben ihm sitzende Person. Muhigwa berichtet, sein erstes Handy sei ein Ericsson gewesen, das er danach ebenfalls aus der Schachtel hervorholt und herumreicht. »I was so lucky to have this one, because in Congo before 99 there was no telephone, even landline telephone, these big telephones, not at all.« Erst um das Jahr 2000 herum sei der kongolesische Markt erschlossen worden, obwohl von hier die Rohstoffe stammten, aus denen derlei Produkte angefertigt würden. Jedoch sei zunächst niemand finanziell in der Lage gewesen, ein Handy zu erwerben, außer vielleicht der Präsident und einzelne Geschäftsleute, witzelt er. Er hätte also Glück gehabt, eines zu besitzen, aber mit niemandem telefonieren können – »it was just for fashion, walking with it«. Der Van kommt in einer bewaldeten Gegend vor einem verschlossenen, von chinesischen Lampions flankierten Eingangstor am Stadtrand von Weimar zum Stehen. Muhigwa meint, nachdem die Gruppe nun Italien, Libyen, den Sudan und Uganda passiert habe, sei sie auf dem Weg in den Süden der DR Kongo, zu den Minen von Walenga.

Vierte Szene des Menschen

Abb. 37 & 38: Daniel Kötters und Jochen Beckers Chinafrika.mobile, Still aus der Videodokumentation der Performance, 2017 (mit freundlicher Genehmigung der Künstler)

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Heute seien die Minen im Besitz chinesischer Konzerne: »Maybe they will allow us to have a look.« Er verlässt kurz den Bus, um das Tor zu öffnen, dann kehrt er in die Kabine zurück. Da ›die Chinesen‹ heute die »gods of electronics« seien, gebe es viele chinesische Firmen, die im kongolesischen Minengeschäft involviert seien. Made in China meine somit oft indirekt auch Made in Congo. Der Van fährt über einen holprigen Schotterweg. Nachdem er auf einem steinigen Platz zum Stehen gekommen ist, wird die Gruppe von ihrem Reiseführer gebeten, nichts im Fahrzeug zurückzulassen, da sie ihren weiteren Weg mit einem Flugzeug zurücklegen werde. Wenn alle ausgestiegen sind, bittet er darum, zusammenzubleiben, »in case there is a lion or a dangerous animal«. Er lacht. Das sei natürlich Spaß, da es Löwen nur im Norden gäbe. Im Süden hingegen seien eigentlich fast gar keine Tiere, sondern nur Minen zu finden. Darauf scherzt er zynisch weiter, dass es, wenn einzelne Teilnehmer*innen der Exkursion einem Gorilla begegnen sollten, am besten wäre, sich nicht von der Stelle zu rühren. Das sei ihm selbst bereits passiert. Er sei wie angewurzelt stehen geblieben, habe danach aber seine Reisegruppe nicht wiederfinden können. Erneut lächelt er die größtenteils weißen Zuschauer*innen an. Im Anschluss wechselt er das Thema: »Let’s imagine you are in the mines in Congo.« Wie könne auf der Suche nach Coltan entschieden werden, in welchem Stein es zu finden sei? Er zeigt auf den thüringischen Schotter und will wissen, wo hier Coltan verborgen sei. Vielleicht sei es an der Farbe zu erkennen? Mehrere Leute suchen jetzt den Grund ab und präsentieren eine Reihe kleiner Steine, liegen damit jedoch ihrem Guide zufolge falsch. Dann wird einer fündig. »But how will you be sure that there is coltan inside?« Muhigwa erklärt daraufhin, dass es, da Coltan Metall enthalte, notwendig sei, den entsprechenden Stein in kleinere Stücke zu zerschlagen und diese anschließend magnetisch abzutasten: »If they are attracted or if they are moving than that’s coltan. Quite easy.« Während die Gruppe ihren Weg über das Geröll vor Weimar fortsetzt, erklärt ihr Guide, dass es im Kongo zwei Arten von Bergbau gebe, eine, die »well-organized« sei und unter Zuhilfenahme von Maschinen durchgeführt würde, und eine andere, eher ›manuelle‹. Um sie ausführen zu können, müsse man stark und »full of energy« sein, da sie darin bestünde, mit einfachen Werkzeugen wie Schaufeln, Pickeln, Meißeln, Hämmern oder sogar bloßen Händen zu graben. Dies veranschaulicht er anhand des Kobalt-Abbaus: Um Kobalt zu gewinnen, müssten zunächst vertikale Schächte ausgehoben werden. In rund 40 Metern Tiefe würden dann horizontale Abzweigungen in den harten Stein geschlagen, enge Tunnel, durch die hindurch anschließend nach dem Erz gesucht würde. »The risk of doing that is that if you are digging a horizontal gallery without putting supports, the ceiling above you can fall and bury you alive. And that happens frequently.« Er deutet auf mehrere große, auf dem Gelände herumliegende Steine und erklärt, dass sie gerade geschnitten worden seien, was ein Zeichen für industriellen Bergbau wäre. Manueller Bergbau hingegen, wie er in der DR Kongo stattfände, um Kobalt, Kupfer und Coltan für die Herstellung unter anderem von Handys zu gewinnen, sei etwas völlig anderes. »Can you be an artisanal miner?«, fragt er ein männliches Mitglied der Reisegruppe, das sofort verneint, worauf er darauf hinweist, dass Bergleute manchmal auch das Glück hätten, große Diamanten zu finden. Sie seien dann plötzlich reich und müssten nicht mehr in Minen ihr Leben riskieren. Als Kind sei ihm immer wieder erzählt worden, wie reich an Bodenschätzen seine Heimat sei.

Vierte Szene des Menschen

Abb. 39 & 40: Daniel Kötters und Jochen Beckers Chinafrika.mobile, Still aus der Videodokumentation der Performance, 2017 (mit freundlicher Genehmigung der Künstler)

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Jetzt aber sei er sich eher über die negativen Konsequenzen dieser Segnung bewusst als früher. »Let me give you an example of the impact of mining on an international scale«, fährt er fort und erklärt uns, dass die Atombombe, die zum Ende des Zweiten Weltkrieges über Hiroshima abgeworfen wurde, Uranium enthalten habe, das aus dem Kongo stammte. Muhigwa etabliert eine informelle Atmosphäre, während er uns weiter den Weg weist. Ein anderes Beispiel sei Kobalt, das nicht nur in Handybatterien verbaut, sondern auch für die Düsentriebwerke von Kampfflugzeugen sowie für Raketen verwendet werde. »So, when I think that because of having a lot of minerals we got a kind of political instabilities, just for those big companies to have access on minerals, and I realize that those minerals are used to build weapons, for me … it affects me sometimes.« Die Gruppe hat die Geröllhalde verlassen und läuft einen Waldweg entlang. Das meiste Kobalt würde nicht für Batterien, sondern zum Bau von Waffen verwendet. Der Genozid in Ruanda hinge mit Coltan zusammen. »We all remember that in 94 there was a genocide in Rwanda. It was a fight between two ethnic groups, Hutu and Tutsi.« Der Anführer der Tutsi sei Paul Kagame gewesen, der bis heute Präsident von Ruanda sei. Nach heftigen Kämpfen und einem ersten von Hutu an Tutsi verübten Völkermord sei es seinen Truppen gelungen, die Hutu aus Ruanda zu vertreiben, die dann in den Kongo geflüchtet seien. Da sich die Tutsi-Truppen nach dem ihnen Widerfahrenen allerdings mit Hutu als Nachbarn nicht sicher gefühlt hätten, seien sie den Hutu in den Kongo gefolgt und hätten dort einen zweiten Genozid begangen, der weniger bekannt und anerkannt als der erste sei. Anstatt seine Mission abzuschließen, habe Kagame daraufhin allerdings festgestellt, dass es vor Ort eine Menge an Coltan gibt: »And he said, ok, let me change my idea, and he started mining.« Natürlich habe Kagame nicht die ruandische Armee damit beauftragen können, in einem benachbarten Land Bodenschätze zu extrahieren, also habe er unzählige Milizen gegründet, die bis heute im Osten der DR Kongo aktiv seien. Wenn eine solche Miliz ein Dorf erreicht habe, in dessen Gegend sie Coltan vermutete, »instead of making some cooperation, or things like that, they were just killing everybody«. Bisher war die Stimmung der Reisegruppe gelassen. An diesem Punkt kippt sie. Etwas zwischen tiefer Betroffenheit und Schock zeichnet sich in den Gesichtern der Teilnehmenden ab, als ihr Guide unterstreicht, was er erzähle, sei wahr, da er selbst mit eigenen Augen gesehen habe, wie solche Tötungen abliefen. »Those people in the village, they don’t care about minerals. They are good in agriculture. They do agriculture. They don’t care about coltan or cobalt.« Zwar wäre es auch möglich gewesen, den Bauern das Land, in dem sich die von der Elektroindustrie heiß begehrten Rohstoffe befinden, abzukaufen – denn sie hätten das Geld bitter nötig –, die Milizen hätten jedoch alle umgebracht, die ihnen im Weg standen. Wer kein junger Mann und stark genug gewesen sei, um wegzurennen, sei getötet worden. Für Frauen sei es noch viel schlimmer gewesen. Sie seien erst vergewaltigt und dann ermordet worden. »This happened. And in some village up to now some stuff like that is still happening. And that’s why sometimes we call coltan the blood mineral.« Viele NGOs und Regierungen setzten sich gegen den derzeitigen Coltanabbau ein, weil sie ein Problem mit den Umständen hätten, unter denen dieser Rohstoff allzu oft gewonnen würde. »Because if you are buying that coltan coming from unstable zones, so you are like a partner of those people doing horrible things and you are like supporting

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them.« Er erklärt, dass es sich bei den Vorfällen im Osten der DR Kongo um einen ›kalten Genozid‹ handele, der schleichend verlaufe und von dem nur die wenigsten wüssten. Allerdings seien ihm laut einer 2008 veröffentlichten Studie des International Rescue Committee (IRC) bereits sechs Millionen Menschen zum Opfer gefallen.7 Die Reisegruppe ist aus dem Wald herausgetreten und erreicht einen schmalen Pfad, der in ein Dorf zu führen scheint, das sich im Hintergrund abzeichnet. Muhigwa erklärt, dass es eine Zeit gegeben habe, während der die DR Kongo so arm gewesen sei, dass die Regierung die Entstehung der Minen unterstützt habe. Auf dem Weg stehen Sonnenschirme und rote Hocker. Muhigwa bittet die Teilnehmer*innen der performativen Stadtrundfahrt, Platz zu nehmen. Er selbst stellt sich, mit dem Rücken zur thüringischen Dorfkulisse, lehrerhaft vor ihnen auf und erklärt seinem Publikum, dass die Minenarbeiter ihr Bestes täten, um nicht mit den Milizen in Kontakt zu kommen. Im Hintergrund hängt wieder ein Transparent mit Schriftzeichen auf Mandarin. Diesmal steht der Swahili-Sinnspruch »Faida kwa sote na faida pamoja« und in Großbuchstaben dessen englische Übersetzung, »RECIPROCAL BENEFIT AND MUTUAL BENEFIT« daneben. Niemand weiß zunächst, dass es sich bei den Worten um eine kongolesische Weisheit handelt. Ebenso wenig ist den Zuhörer*innen in Weimar bekannt, dass sie auf Swahili verfasst ist. Nachdem jemand vermutet hat, es könne sich bei der Sprache um Kongolesisch handeln, lacht Muhigwa wieder und weist darauf hin, dass es in der DR Kongo rund 200 verschiedene Sprachen und über 300 Dialekte gäbe. Wer sich jedoch im Westkongo oder in Tansania aufhalte, werde auf diese Weise gegrüßt. Die Leute wünschten sich dort, wenn sie sich auf der Straße begegneten, ›gegenseitigen Nutzen‹ und ›gemeinsamen Vorteil‹. In der DR Kongo gebe es rund zwei Millionen Minenarbeiter, die an der Extraktion von Coltan beteiligt seien. Jeder von ihnen würde 20 Kilogramm Coltan pro Woche zutage fördern. »That’s a lot of money, normally, but the only buyer are Chinese and they have the monopoly.« So würden ›die Chinesen‹ den Preis für Coltan bestimmen und den Arbeitern für 20 Kilogramm rund 20 Dollar zahlen, also einen Dollar pro Kilo. Da die Bergarbeiter keine andere Wahl hätten, müssten sie ihre Ware zu diesem Preis an die Abnehmer verkaufen. Der Preis auf den internationalen Absatzmärkten für Coltan betrage hingegen 120 Dollar für ein einzelnes Kilo. »And that’s not fair, yeah, that’s not fair.« Diese Gewinnmarge wachse noch gewaltiger an, wenn in Betracht gezogen würde, dass es hier um zwei Millionen Menschen gehe, von denen jeder einzelne wöchentlich 20 Kilogramm Coltan abbaue, für die er von den chinesischen Ankäufern viel zu wenig Geld erhalte. Da die Beziehungen zwischen China und Afrika in letzter Zeit jedoch enger würden, verbessere sich auch die Situation der Minenarbeiter. Muhigwa muss jetzt gehen. Eine Frau will im Gespräch noch wissen, wie es möglich sei, dass China ein solches Monopol aufbauen konnte. Er erklärt ihr, dass ein Großteil der Hightech-Elektrogeräte, die heute weltweit in riesigen Mengen nachgefragt wären, in China produziert würden und viele von ihnen Coltan enthielten. »So, China is actually in need of those coltan and so on.« Bezüglich anderer Bodenschätze wie Gold gebe es jedoch auch kanadische und amerikanische Firmen vor Ort. »I am about to go, but don’t 7

Vgl. hierzu exemplarisch Six Million Dead in Congo’s War, 24.2.2010, https://www.caritas.org/2010/ 02/six-million-dead-in-congos-war/, Zugriff am 26.5.2023.

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worry, someone will come and pick you up. One last thing: Put your headphones and play the video number 1.« Bevor er die Szene verlässt, fordert Muhigwa die Teilnehmer*innen seiner Tour auf, die Mobiltelefone, die ihnen zu Beginn ausgehändigt wurden, in Betrieb zu nehmen. Auf ihnen sei ein Video zu sehen, das uns helfen würde, besser zu verstehen, was es mit den kongolesischen Minen auf sich habe. Die Smartphones zeigen ein Video, das in Kolwezi in der Provinz Lualaba entstanden ist und von Minenarbeitern gedreht wurde, die ebenso wie die Protagonist*innen, die in den folgenden drei Videos jeweils ihre subjektiven Positionen innerhalb der internationalen Arbeitsteilung offenlegen, von Kötter mit einer Handy-Kamera ausgestattet wurden.8 Wir sehen, wie jemand durch einen engen Schacht erst in die Tiefe hinabsteigt, um sich darauf erst gebückt und dann zwischen engen Felsspalten hindurchkriechend denjenigen Stellen im Stollen zu nähern, wo es noch Kobalt aus dem Massiv herauszuschlagen gibt. Das Video beginnt mit einem Black, das vom grellen Licht einer Taschenlampe durchschnitten wird, das plötzlich scharfkantiges Gestein sichtbar macht. Im Hintergrund ist ein gleichmäßiges Scheppern zu hören. Vermittels der Handy-Kamera entstehen, wenn der Minenarbeiter im Anschluss aus der Wand herausgeschlagenes Material in einen Sack wirft und dabei mit seinem Kollegen spricht, körperlich situierte Bilder. Nicht jeder Stein wird mit Hammer und Meißel entfernt. Einzelne Brocken dienen ebenfalls als Schlaginstrumente, um damit andere Brocken aufzubrechen. Die Stimme hinter der Kamera erklärt, dass das Weiße am Stein »Abraum« sei und nur kleine schwarze Flecken im Material auf Kobalt hindeuteten. Der Rest sei Müll und deswegen »zum Wegwerfen« bestimmt. Der Kamerafokus wechselt von der manuellen Tätigkeit desjenigen, der das Mobiltelefon mit sich führt, weg und zu seinem Kollegen hin, der von hinten zu sehen ist, während er sich mit einer Schaufel den Weg durch den Fels bahnt. Die Atmosphäre ist klaustrophobisch. Wenn die beiden Männer eine größere Menge des Gesteins gesammelt haben, beginnen sie bereits im Tunnel, einzelne Stücke gegeneinander zu schlagen, um zu überprüfen, ob sich in ihrem Inneren wirklich Kobalt befindet. Nachdem sie einen der vollen Säcke zugeknotet haben, stellt sich derjenige mit der Kamera als Marcel Kapepe vor und erklärt, dass er ein Kongolese aus Kolwezi in der Provinz Lualaba sei. »Kolwezi ist bekannt für den Kleinbergbau von Kobalt und Kupfer«, führt er aus, während er sich mit der Tagesausbeute durch den horizontalen Tunnel auf den vertikalen Schacht zubewegt, aus dem heraus bald heller Lichtschein das Sichtfeld der Handykamera erfüllt.

8

Wobei sich das erste der vier im Rahmen von Chinafrika.mobile (2017) gezeigten Videos von vergleichbaren Arbeiten wie bspw. Steve McQueens Videoinstallation Caribs’ Leap/Western Deep, die erstmals 2002 auf der Documenta in Kassel gezeigt wurde, dadurch unterscheidet, dass in ihm nicht nur das Dokumentarische ins Extrem getrieben wird, sondern Subjektivität eine wichtigere Rolle spielt und die Menschen, welche extraktive Prozesse ›von unten‹ erfahren, zu Wort kommen und ihre Sicht der Dinge schildern.

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Abb. 41: Daniel Kötters und Jochen Beckers Chinafrika.mobile, Still aus der Videodokumentation der Performance, 2017 (mit freundlicher Genehmigung der Künstler)

Abb. 42: Still aus dem Dokumentarfilm Chinafrika.mobile von Daniel Kötter, 2017 (mit freundlicher Genehmigung des Künstlers)

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Abb. 43 & 44: Still aus dem Dokumentarfilm Chinafrika.mobile von Daniel Kötter, 2017 (mit freundlicher Genehmigung des Künstlers)

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Nach einem Schnitt ist der Tunnelschacht von oben zu sehen. Noch immer ist Kapepe im Off zu hören und meint, dass er zwar wisse, wo und wie Löcher zu graben seien, trotzdem jedoch immer auch eine ernste Gefahr für Leib und Leben bestehe. Wer sich bei Unfällen nur die Knochen breche, habe noch Glück gehabt. Beim Abstieg in die Erdlöcher könne man leicht abrutschen. Nun erreicht sein Kollege das Tageslicht und setzt sich zunächst erschöpft zu Boden. Das Sonnenlicht lässt das Gefühl aufkommen, wenige Dutzend Meter weiter unten könne es unmöglich stockfinster sein. Nach einem erneuten Schnitt sind die beiden Männer zu sehen, während sie ein klappriges Fahrrad über eine staubige Straße schieben. Es ist mit Leinensäcken beladen, in denen sich das erbeutete Kobalt befindet. »Man muss das machen, was einen bezahlt«, erklärt der Sprecher und Urheber der entstandenen Aufnahmen in Zeugenfunktion. Nach einem weiteren Schnitt sitzen die Männer auf einem Motorrad. Der Hintere filmt die Fahrt mit einem iPhone. In Kolwezi gebe es geteilte Meinungen über die Präsenz ›der Chinesen‹ in der Region. Die einen meinten, wenn sie abzögen, würden viele ihre Arbeit verlieren. Andere sähen nur Ausbeuter in ihnen: »Das sind Diebe, die uns bestehlen.« Er selbst fühlt sich anscheinend der ersten Gruppe zugehörig. Trotzdem wisse er, dass chinesische Firmen hier Bodenschätze zu verbilligten Preisen kauften, um sie auswärts für sehr viel mehr Geld wieder zu verkaufen. »Über das Kobalt wissen wir nur, was uns die Weißen erzählen«, fährt er fort, während er mit einem Smartphone filmt. Er selbst habe keine Ahnung, wohin das Kobalt ginge und was damit gemacht würde. Nach noch einem Schnitt ist eine nicht näher identifizierte Stimme aus dem Off zu hören. Anders als zuvor auf dem Motorrad findet simultan dazu eine unverwackelt glatte und geradezu schwebende Kamerafahrt statt, die bald eine Stelle passiert, wo im Hintergrund Dutzende von Bergleuten auf einem Hügel Säcke mit Geröll füllen und umhertragen. Die Stimme beklagt sich darüber, dass China hier nur deshalb so einflussreich sei, weil die Bergbauvereinigung nicht vollständig unter Kontrolle der DR Kongo sei. »Warum nimmt der Kongo nicht Teil am Produktionsprozess von Mobiltelefonen?«, will sie wissen. »Auch bei Elektroautos könnte der Kongo eine Rolle spielen. Warum überlegt niemand, die Herstellung von Elektroautos in den Kongo zu verlegen?« Anstatt immer nur Rohstoffe zu exportieren, an denen Blut klebe, könne man eine Batterie-Fabrik im Ostkongo errichten, um die Kämpfe dort zu beenden. Es sei sinnvoll, im Kongo Fabriken aufzubauen, um in ihnen kongolesische Erze weiterzuverarbeiten. Die im Land entstandenen Produkte könnten dann an Handy-Fabriken weiterverkauft werden, »egal ob die nun in China oder woanders sind«. Währenddessen fährt die Kamera in eine Ortschaft hinein, deren wenige Gebäude zerfallen scheinen. Es mangele an Visionen, deshalb sei die Lage so verfahren. Nach einem weiteren Schnitt sehen wir einen Mann, der einen steinigen Hügel emporsteigt. Von oben werden vom Bergbau zerfurchte Landschaften sichtbar; sie wirken wie von Wunden übersät, die nur teilweise vernarbt sind. Zurück in der Peripherie von Weimar. Nachdem das auf den Smartphones gezeigte Video zu Ende ist, werden wir von einer anderen Reiseleiterin empfangen. Eine junge Frau nähert sich den Sitzhockern und stellt sich als Ting Wei Li vor. Sie sei in China geboren und aufgewachsen, lebe jedoch seit sechs Jahren in Berlin. Wenn jemand Fragen auf Deutsch habe, könne sie auf Deutsch antworten. »But now I am gonna take you on a tour with one of our copper truck through almost the entire half of Southern African continent.« Vom Hafen in Südafrika aus würden wir ein Containerschiff betreten, das uns

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nach Shenzhen ins chinesische Perlflussdelta brächte. »Before we start our trip, I want to show you some moments in which the Chinese enter the life cycle of a mobile phone.« Aus einer transparenten Mappe entnimmt Wei Li zwei Fotografien. Eine zeigt eine Preisliste, die andere ein Kobalt-Depot in der Nähe von Kolwezi. Hierhin hätte Marcel, der soeben noch auf den Smartphone-Displays zu sehen war, seine Ausbeute zweier Tage gebracht. Solche Depots seien in den Händen chinesischer Firmen. Eigentlich hätte Marcel auch die Transaktionen im Kobalt-Depot filmen sollen, sei aber daran gehindert und sogar von Kollegen verprügelt worden. Deshalb habe er nur ein Foto angefertigt, das ein Gerät zeige, welches den Kobaltgehalt in mitgebrachten Gesteinsbrocken messen könne. So würden je nach Qualität des Materials hinsichtlich der weiteren Verarbeitung durch die Elektroindustrie auf chinesischer Seite anhand der auf dem anderen Foto abgebildeten Liste Preisjustierungen vorgenommen. Weil Marcel nur wenige Fotos habe anfertigen können, müsse an dieser Stelle leider auf weitere Ausführungen zu den Vorgängen in den Kobalt-Depots verzichtet werden. Die Reise würde uns jetzt direkt nach Südafrika führen, von wo aus das angekaufte Erz ins Perlflussdelta überführt und in Shenzhen für den Bau von Platinen verwertet würde. An dieser Stelle fehlen weitere Dokumente, um im Gespräch mit dem Publikum getroffene Aussagen zu stützen, aber die Erzählung wirkt stringent. Während die Reisegruppe über einen sandigen Weg in das thüringische Dorf hineinspaziert, fragt Wei Li, ob schon mal jemand in China gewesen sei. Eine Besucherin der entorteten Aufführung erzählt, sie sei bereits in Peking zwischengelandet, mehr aber nicht. »So, any other of you? Never been to China? It’s your first trip then«, sagt die Guide, als das Grüppchen vor einem alten Fachwerkhaus pausiert. Im Hintergrund ist ein blauer Van zu sehen, auf den sie sich im Anschluss zubewegt. Die Türen des Fahrzeugs sind bereits geöffnet. Neben ihm steht ein hochgewachsener Mann mit Mütze. Nachdem er als »Captain Frank« vorgestellt wurde, begrüßt er die Gruppe: »Hello everybody and welcome to our container ship.« An dieser Stelle nehmen die Kontrastierung gesellschaftlicher mit sinnlichen Verhältnissen und, ganz im Sinne von Balibar9 , die Überlagerung fiktionaler mit faktischen Aspekten, die Chinafrika.mobile (2017) prägen, komische Züge an. Dies geschieht einerseits durch den Vergleich eines Vans mit einem Containerschiff, andererseits aber auch – da ein thüringisches Dorf zunächst eher weniger an den riesigen Umschlaghafen der südafrikanischen Stadt Durban denken lässt – hinsichtlich der spezifischen Örtlichkeit, an der diese Aussage getätigt wird. Mit Fakten und Fiktionen überlagern sich auch Räumlichkeiten. Es wird manifest, inwiefern sich in einer global eingehegten Welt, die von internationaler Arbeitsteilung bestimmt ist, nur schwer Grenzen zwischen immer anders situierten Subjektivitäten ziehen lassen, weil sie, wenn auch auf Umwegen, miteinander verstrickt sind. Nicht nur sind, wie sich im Anschluss an Moore10 sagen lässt, Menschen und Natur miteinander verwoben, sondern auch sehr viele Subjektivitäten, obwohl sie völlig anders an der sogenannten ›Globalisierung‹ partizipieren.

9 10

Vgl. Balibar, Der Schauplatz des Anderen. Vgl. Moore, Kapitalismus im Lebensnetz.

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Abb. 45 & 46: Daniel Kötters und Jochen Beckers Chinafrika.mobile, Still aus der Videodokumentation der Performance, 2017 (mit freundlicher Genehmigung der Künstler)

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Die anstehende Reise würde länger dauern. Wir sollten also den Blick aufs Meer genießen. »As we are going to start our trip, I want to explain you some background and show you some possible routes«, führt Wei Li aus, nachdem alle auf ihren Sitzen Platz genommen haben. Wie zuvor Muhigwa im ersten Teil der performativen Stadtrundfahrt verteilt sie Karten, die sie der Mappe entnimmt, in der sich auch die Fotografien befunden haben. Dort seien die sogenannte blaue und rote Linie zu sehen. Das konzentrierte Kobalt würde entlang der roten Linie den kongolesischen Kupfergürtel verlassen. Lange Zeit über sei es auf Straßen transportiert worden. Während der 1970er und 80er Jahre jedoch hätte die chinesische Regierung aus »political friendship between the socialist brother states and Africa« den Bau eines Schienennetzes finanziert. Die »TAZARA-Railway« durchziehe Tansania und Sambia und spiele bis heute eine wichtige Rolle in den chinesisch-afrikanischen Beziehungen und für den Transport von Rohstoffen. Sogar in der Schule würde diese historische Periode in China unterrichtet. Jeder dort kenne die TAZARA. Wer mehr darüber erfahren wolle, könne sich nach der Rückkehr nach Weimar im Container weitere Videos dazu ansehen. Wieder führt die Fahrt durch blühende thüringische Landschaften und Teile Deutschlands, in denen rund zwei Jahre später bei einer Landtagswahl fast jede vierte Stimme an die AfD gehen wird. »This is our destination.« Wei Li verteilt eine weitere Karte. »As you can see in the right corner, there is a map of China and this orange area in the middle is the Pearl River Delta.« Es liege in der Provinz von Guangdong im Südosten des Landes und sei mit 120 Millionen Einwohner*innen die größte urbane Gegend der Welt. Ihre weitere Reise würde die Gruppe nach Shenzhen führen, dessen Population allein schon 12 Millionen Menschen umfasse, also 185 Mal mehr als Weimar, wobei seine Fläche nur 20 Mal größer sei. »So, it means it’s quite densely populated.« Alle peripheren Stadtteile, die gegenwärtig zu Shenzhen gehörten, seien vor nur 40 Jahren noch verstreute Dörfer gewesen. »So, they are all young cities, compared with Weimar.« Shenzhen liege in der Nähe von Hongkong, das 1997 von der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien an China zurückgegeben worden sei. Bereits zuvor, nämlich seit 1979, habe es enge wirtschaftliche Beziehungen zwischen China und Afrika gegeben. Zu dieser Zeit habe China sechs mit Hongkong vergleichbare »special economic zones« eröffnet. Eine von ihnen sei Shenzhen gewesen. In diesen Zonen sei es Unternehmen aus dem Ausland, die nicht in chinesischer Hand seien, erlaubt gewesen, Niederlassungen und Filialen zu errichten und dadurch von niedrigen Arbeitslöhnen und geringen Steuern zu profitieren. Weil alle »special economic zones« im Osten Chinas in der Nähe des Meeres lägen, sei dort auch der globale Im- und Export leichter. »It was very attractive to a lot of foreign companies.« Der Fahrer des Vans schaltet sich kurz ein und fragt, ob alles in Ordnung sei oder ob jemand frische Luft benötige. »How do you like the ocean? Can you smell the breeze?«, fragt er. Die gesamte Reisegruppe muss lachen, bejaht und steigt in das imaginäre Szenario ein. »Yeah, it’s the middle of the trip, so you can still enjoy the ocean. We are pretty soon in the Pearl River Delta«, fügt er hinzu, während er das Fahrzeug durch ein thüringisches Neubaugebiet steuert. Am verlassenen Straßenrand belädt eine Familie gerade den Kofferraum ihres PKWs. »The idea of special economic zone now was exported from China to Africa«, erklärt Wei Li. Wie Europa in China würde China in Afrika aus niedrigen Löhnen und einer laxen Arbeitsgesetzgebung Vorteile ziehen. Nicht nur

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im Kupfergürtel des Kongo gebe es solche »special economic zones«, sondern auch im nigerianischen Lagos, wohin uns die Reise später führen werde. Shenzhen sei für seine unlizensierten Produkte bekannt, die international als Shanzhai-Fakes zirkulierten. Der Name Shanzhai komme daher, das Shenzhen im lokalen Dialekt wie Shanzhai ausgesprochen werde. »But nowadays this term is not very often heard because, I think, in recent years the Chinese already are going from imitation way to innovation.« Die global führende Marke Huawei beispielsweise, die mittlerweile auch eine Zweigstelle in Düsseldorf unterhalte und mit einer riesigen Leuchtreklame am Potsdamer Platz in Berlin für sich werbe, stamme aus Shenzhen. »People never call it Shanzhai products anymore.« Sie lacht. Seit den 1990er Jahren sei die überwiegende Mehrzahl der weltweit gehandelten Elektrogeräte in Shenzhen hergestellt worden. Die Guide will wissen, ob jemand Huawei-Produkte verwende. Daraufhin meint eine Teilnehmerin der Exkursion, sie komme aus Südkorea und dort verwendeten viele Leute Huawei-Handys. Wei Li fügt dem hinzu, dass chinesische Firmen bei Saturn-Hansa in Deutschland mittlerweile einen eigenen Auslagetisch hätten, was sie sehr glücklich mache. Als der Van eine Autoeinfahrt zu einem Fabrikgelände bei Weimar passiert, schaltet sich kurz Captain Frank ein und weist darauf hin, dass wir uns nun im Perlflussdelta befänden. Obwohl nach wie vor 25 Prozent der chinesischen Smartphonenutzer*innen iPhones hätten, sei diese Zahl im Rückgang begriffen. Huawei sei preisgünstiger als Apple und erobere weltweit immer mehr Märkte – »iPhone is a bit overprized«. Allein das Display eines neues iPhone 7 koste fast so viel wie das beste Huawei-Gerät. »Now we are going to check out one of the mobile phone assembly factories in Shenzhen.« Während das Fahrzeug über leere thüringische Landstraßen rollt, behauptet Wei Li, »we are in the most densely populated area in the world«. Alle lachen. Captain Frank fügt hinzu: »We will still build the new skyscrapers. You can imagine here already.« Vor den Autofenstern rauschen einzelne Bäume vorbei. Erneutes Gelächter. Darauf erklärt die Tourleiterin ihrer Reisegruppe, dass Mobiltelefon auf Chinesisch »Shǒujī« heiße. Shǒujī bedeute einfach ›Eine-Maschine-in-den-Händen-halten‹ und würde ebenfalls für andere Apparate verwendet, die bei ihrer Verwendung in den Händen gehalten werden. In einer chinesischen Handyfabrik würden Shǒujī produziert. Allerdings würden die Arbeiter*innen vor Ort nur kleine Arbeitsschritte ausführen, deren größerer Kontext ihnen unbekannt sei. In China seien andere als die in anderen Ländern üblichen Apps und Programme gebräuchlich. Anstatt WhatsApp gebe es hier WeChat, das allerdings »multifunctional« sei und viel mehr Funktionen beinhalte. Mit diesem Chat-Tool sei es möglich, zu zahlen, Bestellungen aufzugeben oder Kontoauszüge abzurufen. Wi Lei erzählt uns das im Plauderton und wie nebenher, während uns bewusst wird, wie sehr wir sowohl mit der DR Kongo als auch mit Shenzhen verstrickt sind, da auch unsere privaten Handys wahrscheinlich auf ebendiesem Wege hergestellt wurden. »It’s efficient. Everything in one, it’s not separate.« So wären dann auch die Telefonnummern der Endverbraucher*innen direkt mit ihren Identitätsnummern verknüpft, was ›der Regierung‹ zugutekäme. Während der Van sich einem leerstehenden thüringischen Fabrikgebäude nähert, erklärt die Tourleiterin in ihrer Lecture Performance, dass es sich hierbei um eine mittelgroße Fertigungsstätte in Shenzhen handele, in der rund 3.000 Personen beschäftigt seien.

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Abb. 47 & 48: Daniel Kötters und Jochen Beckers Chinafrika.mobile, Still aus der Videodokumentation der Performance, 2017 (mit freundlicher Genehmigung der Künstler)

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Vor einem verschlossenen Rolltor sind chinesische Lampenschirme aufgestellt worden. Wei Li verlässt das Fahrzeug, öffnet den Eingang in die Fabrikhalle und geht hinein, während ihr das Fahrzeug langsam folgt. »No one is working today«, scherzt eine der Besucherinnen der entorteten Aufführung. Captain Frank antwortet ihr, dass heute Sonntag sei. »Thank you very much for travelling with container shipping«, verabschiedet er sich. Die Guide öffnet von außen die Schiebetür des Vans und bittet die Teilnehmer*innen der performativen Stadtrundfahrt, auszusteigen. Die Gruppe versammelt sich vor einer Reihe roter Hocker, die derselben Serie angehören wie diejenigen, die zuvor an einem thüringischen Ortseingang gestanden hatten. Im Hintergrund ist wieder ein Plakat installiert worden, auf dem diesmal »PASSION FOR WORK, PASSION FOR LIFE« steht. Solche der Motivation dienenden Banner fänden sich heute in China an vielen Orten wie Schulen, Spielplätzen oder Fabriken. »And now you are on the second stop of your Tour«, verkündet Wei Li und fordert die Reisegruppe auf, sich ihre Kopfhörer aufzusetzen und vermittels der Smartphones das zweite Video abzuspielen. Während die leicht verschwommenen Bilder einer Handykamera in starker Zeitlupe von hinten einem Fabrikvorsteher in eine Fertigungshalle folgen, verkündet eine Stimme aus dem Off, dass Shenzhen die erste chinesische Stadt sei, die sich dem Rest der Welt geöffnet habe. Sie habe ein »Kreativ-Gen«. Während die Bilder auf engstem Raum nebeneinandersitzende und in identische Arbeitsuniformen gekleidete Angestellte der Elektroindustrie zeigen, erklärt der Sprecher, die Stadt habe schon länger die Lust am Reichsein entwickelt. Damals habe es noch an Kreativität im Design gemangelt, man habe aber schon Geld machen können. »Wir Chinesen haben zu lange unter der Armut gelitten.« Damals sei das Shanzhai-Phänomen aufgekommen. Doch dann seien die Kunden von DVD und CD zu MP3 und MP4 und schließlich zum Smartphone gewechselt. 2009 hätten Smartphones Shenzhen grundlegend verändert. Der Shanzhai-Stil sei global geworden. Zulieferfirmen für Hightech-Produkte gebe es in Europa keine mehr. »Es gibt drei Entwicklungsphasen.« Am Anfang habe die soziale Ökonomie gestanden. In ihr sei nur produziert worden, was auch gebraucht werde. »Design spielte dabei keine Rolle.« Jetzt befänden wir uns in der zweiten Phase, in der Produkte nach internationalen Standards besser sein müssten als andere. Auf der dritten Stufe würde es zukünftig um »individuelle Ökonomie« gehen. Die zweite Stufe sei »Qualitäts-Ökonomie«. In Phase 3 hingegen werde es um »Big Data«, »zielgenaues Marketing« und »Industrie 4.0« gehen. Der Smartphone-Sektor würde bald an seine Grenzen stoßen. Vieles sei aber noch möglich. Das Schwierigste sei die Batterieproduktion. Huawei investiere seit Jahren viel in Forschung in diesem Bereich. »Schwer zu sagen, wann genau eine neue Art des Telefons die aktuellen ersetzen wird.« Nach einem Black befinden wir uns in Guangzhou, einem wichtigen Umschlagplatz in China. Die Kamera zeigt einen Schwarzen Menschen, der sich als Ozuma vorstellt und erklärt, dass wir vor dem Dashatou-Markt stünden. Während aus subjektiver Perspektive eine Rolltreppe gefilmt wird, die nach oben und ins Innere des stark frequentierten Marktes fährt, meint Ozuma aus dem Off, dass viele Afrikaner*innen von hier günstige Smartphones beziehen würden, die »refurbished« seien. Solche Geräte würden stark nachgefragt. »Es gibt hier Leute, die Telefone verkaufen, testen und warten.« Zu sehen sind Menschen, die sich durch gut gefüllte Kaufhausgassen drängen. »Hier findet man Verkäufer genauso wie Ingenieure.«

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Abb. 49 & 50: Still aus dem Dokumentarfilm Chinafrika.mobile von Daniel Kötter, 2017 (mit freundlicher Genehmigung des Künstlers)

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Abb. 51 & 52: Daniel Kötters und Jochen Beckers Chinafrika.mobile, Still aus der Videodokumentation der Performance, 2017 (mit freundlicher Genehmigung des Künstlers)

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Ozuma filmt jemanden, der unzählige Verpackungsschachteln in einer riesigen Styroporkiste unterbringt. Man müsse nachzählen, da ›den Chinesen‹ nicht zu trauen sei. »Vielleicht fällt Euch im Video auf, dass ich im Markt an einer Stelle stehenbleiben muss, um zu filmen. Weil ich nicht so viel rumlaufen sollte. Die Chinesen sind total empfindlich mit Fotos oder Video in ihrem Markt. Weil alles, was in diesem Markt verkauft wird, sind Kopien.« Mittlerweile würde die Polizei patrouillieren und Kontrollen durchführen. Zurück in der verlassenen thüringischen Fabrikhalle. Die Zuschauer*innen, die eben noch das zweite Video von Chinafrika.mobile (2017) gesehen haben, werden jetzt von Daniel Ofosu begrüßt. Der Ghanaer trägt ein Paket unter seinem linken Arm und reicht zunächst jedem die Hand. »I come from Ghana and I’m an artist by profession. I lived in Germany for about four years and I studied at the Bauhaus University«, stellt er sich vor. Er überlege, einen Artistic PhD zu absolvieren, und meint, er sei diesbezüglich offen für Hinweise und Tipps. »Ok, I’ll be your tour guide from here.« Die Handy-Fabrik, in der wir uns befinden würden, sei in gemeinsamem Besitz von ihm und Wei Li, »the lady that just left you. We are co-owners of this company«, flunkert er. Die Mobiltelefone, die hier in Shenzhen produziert würden, seien speziell für den afrikanischen Markt vorgesehen. Viele von ihnen würden über einen Zwischenhändler in Leipzig vertrieben. Ofosu will wissen, wer sich an die letzte Szene des soeben gesehenen Videos erinnern könne, und spinnt so ein fiktionales Narrativ fort, das parallel zur Präsentation von Zeitzeug*innenberichten und Dokumenten die heterogenen Elemente des ausufernden Als-Obs der performativen Stadtrundfahrt miteinander verklammert. Eine Teilnehmerin antwortet, ihr käme das Geräusch von Klebeband, das an Styroporkisten angebracht wird, in den Sinn. Der Guide reicht das Paket herum, das er mitgebracht hat: »This is how the tape looks like in reality.« Im Inneren der Box befinden sich dutzende Smartphone-Verpackungen. »I am going to be your tour guide from here to Lagos, Nigeria«, meint er. Der Weg nach Lagos würde die Gruppe durch Hongkong führen. Zunächst weist er aber auf das Banner im Hintergrund und bemerkt, dass sich auch amharische Schriftzeichen darauf befänden. Amharisch sei die Hauptsprache in Äthiopien, wo der chinesische Staat ebenfalls »special economic zones« unterhalte. Ofosu sei glücklich, dass sein Unternehmen verschiedene Zweige aufweise. Einer von ihnen heiße Tecno und befände sich in Äthiopien. Von dort aus würden die Handys im gesamten afrikanischen Kontinent distribuiert. Er nimmt das Paket wieder entgegen: »Please follow me.« Manche würden sich vielleicht darüber wundern, von einem Ghanaer nach Nigeria geführt zu werden. Obwohl Ghana und Nigeria von mehreren zwischen ihnen liegenden Staaten getrennt seien, hätten sie neben der in beiden verbreiteten englischen Sprache viele weitere kulturelle Gemeinsamkeiten. »We are so close. Nigeria is my second home, so feel safe with me.« Die Gruppe betritt wieder den Van, an dessen Steuer nun jemand sitzt, der als Peter vorgestellt wird. Peter würde uns zur Grenze zwischen China und der Sonderwirtschaftszone von Hongkong bringen. »Anytime I travel to Europe, my European friends that I meet they ask me is Africa one country«, erzählt der Guide, als sich das Fahrzeug in Bewegung setzt. Daraufhin verteilt er weitere Karten und weist darauf hin, dass es in Afrika 54 Staaten gebe. Die Karten zeigten drei unterschiedliche Handelswege, auf denen chinesische Handys nach Afrika kämen. Ofosu erklärt, dass der erste Weg über Europa oder die USA führe, der zweite direkt in unterschiedliche Teile des afrikanischen Kontinents und der dritte über die

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Zweigstelle seiner Firma in Äthiopien, von wo aus sie dann zentral verteilt würden. »It’s a pilot project.« Die Geräte, die über Europa oder die USA geliefert würden, »like Nokia, Samsung and the like«, seien nicht speziell für den afrikanischen Markt angefertigt, die anderen hingegen schon. Alle führenden Marken hätten Retail Outlet-Stores in Afrika, sodass dort sehr viele gebrauchte oder wiederaufbereitete Geräte erhältlich seien. »People regard the ones that come through Europe and the US as better phones in terms of quality, you know, compared to the ones that come directly.« In Europa und den USA gebe es bestimmte Qualitätsstandards. In Afrika hingegen seien Handys gefragt, die sich die breite Masse leisten könne – »so, it’s cheap in quality, cheap in price«. Ofosu präsentiert nun die Schachtel eines Geräts, das seine fiktive Firma anbiete, um die Bedürfnisse der Menschen vor Ort zu befriedigen. Er entnimmt ihr ein Mobiltelefon von Itel. Neben Itel gäbe es noch Tecno und Infinix, welche speziell für den afrikanischen Markt produziert würden. Diese Maschinen könnten jeweils mit zwei SIM-Karten bestückt werden. Da viele Netzanbieter vor Ort überlastet seien, wollten die Nutzer flexibel sein und sich bei Bedarf über ein und dasselbe Gerät mit alternativen Netzen verbinden können. Einen weiteren Unterschied stellten die integrierten Kameras dar. Die Ausführungen des Tourguides der dritten Wegstrecke von Chinafrika.mobile (2017) lassen an Dyers Überlegungen zum Weißsein als unter vielem anderem auch technische Norm denken, wenn er sagt: »In Europe you have cloudy weather and your skin color is lighter. But in Africa our skin color is darker and it’s sunnier. So, when it comes to the camera configuration, obviously it has to be different.« Zur Demonstration dieser Differenz werden wir aufgefordert, ein Selfie anzufertigen und dabei zu lächeln. »Cheers!« Außerdem seien die Datenspeicher, die in für den afrikanischen Markt vorgesehenen Geräten integriert sind, größer als die in denen für westliche Industrieländer, da viele User dort keine Computer oder Laptops hätten, also mehr Material in ihren Smartphones aufbewahrten. Der Van passiert ein Banner, das an einem Baustellenzaun angebracht wurde und auf dem in drei Sprachen »FOCUS ON EFFICIENCY. LONG TERM DEVELOPMENT« zu lesen ist. Ofosu weist darauf hin, dass dieser Slogan die chinesisch-afrikanischen Beziehungen beschreibe. Neben dem Transparent ist eine lange Reihe weiterer Bauzäune mit Fotografien behangen, welche die bisherigen Stationen der Reise durch das Leben eines Smartphones protokollieren. Neben der Kobaltmine im Kongo sehen wir staubige Straßen, die Fabrik in Shenzhen und den Dashatou-Markt in Guangzhou. Des Weiteren sind aber auch dicht frequentierte Marktstände sowie ärmlich wirkende Menschen zu sehen, die sich über Handywracks und ausgebaute Platinen beugen. Hierzu merkt der Guide an, dass diese Bilder die nächsten Stationen der Reise vorwegnähmen, und zwar zunächst das Ikeja Computer Village in Lagos (Nigeria), wo sich einer der größten Märkte für importierte Handys für den afrikanischen Markt befände. Das Gespräch nähert sich erneut technischen Details. Auch die Lautsprecher von Mobiltelefonen für den afrikanischen Markt seien stärker als diejenigen für nördliche Märkte. »European cities are quieter, pretty quiet compared to African cities«, sodass entsprechende Konfigurationen nötig seien. Jetzt erzählt Ofosu die Geschichte eines christlichen Missionars aus Nigeria, der einem chinesischen Händler begegnet sei und ihn gefragt habe: »My brother, do you know Christ?« Der Händler habe geantwortet, dass er Christus nicht kenne, ihm jedoch versichert, dass er sofort ein Duplikat erstellen könne, wenn ihm das Original überreicht würde.

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Abb. 53 & 54: Still aus dem Dokumentarfilm Chinafrika.mobile von Daniel Kötter, 2017 (mit freundlicher Genehmigung des Künstlers)

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Daraufhin erfahren die Zuhörer*innen, dass es afrikanische Geschäftsleute gebe, die auf Märkten in China Smartphones präsentierten und darum bäten, diese detailgenau zu kopieren, aber ohne Markenlogo, um sie dann vor Ort massenweise verkaufen zu können. Der Name eines dieser Geräte sei Bird. Wer ein solches Gerät kaufe, habe eigentlich ein Nokia, das allerdings nicht als solches zu erkennen sei. Der Bus stoppt auf einer Kreuzung in der Nähe des Weimar Atriums, einer Einkaufsmall, deren Architektur eng mit einer spezifisch deutschen Geschichte verstrickt ist. »Now we are at the border between China and Hongkong«, erklärt der Reiseleiter und verabschiedet seinen Fahrer Peter. »It is very expensive to live here.« Während er auf einen ostdeutschen Plattenbau zeigt, der sich vor dem Weimar Atrium erhebt, berichtet er von den Chungking Mansions, einem Gebäude in Hongkong, in dem viele Afrikaner*innen lebten und das manchen aus Wong Kar-Wais Film Chungking Express (1994) bekannt sein dürfte. Eine Zuschauerin meint, sich nur noch verschwommen an den Film erinnern zu können. »20 percent of the mobile phones that travel from China to Sub-Saharan Africa go through this place.« In dem Gebäude lebten rund 120 verschiedene Nationalitäten. Wann immer er in Hongkong sei, gehe er dorthin, um Salsa zu tanzen. Falls sich jemand wundere, was er mit kubanischem Salsa zu tun habe: »It has its roots in Africa.« Der Flug von Hongkong nach Lagos dauere zwar 17 Stunden, Ofosu kenne jedoch eine Abkürzung. Er bittet seine Reisegruppe, sich entsprechend zu positionieren und demonstriert einen Grundschritt der Salsa-Technik, bei dem es darum ginge, sich erst nach vorne zu bewegen, es sich dann anders zu überlegen und wieder einen Schritt zurück zu machen. Dreimal exerziert die Gruppe die Bewegungsabfolge, dann heißt es augenzwinkernd, sie könne sicherlich bereits die Sonne von Lagos spüren. Der weitere Weg führt uns anschließend ins Weimar Atrium. »As we go, I want you to have a quick look at this. This is how we use mobile phones in Africa.« Ofosu verteilt weitere Fotografien und erklärt im Inneren des Kaufhauses, dass in vielen afrikanischen Ländern Zahlungen zunehmend über Smartphones abgewickelt würden. Nachdem er die Reisegruppe an verschiedenen Geschäften vorbei eine Rolltreppe hinaufgeführt und ihnen ein weiteres Banner gezeigt hat, auf dem »TO BE A CHINAAFRICA FRIENDLY HARMONIOUS ENTERPRISE« steht, bittet er sie, ihm diesen Satz auf Igbo, einer der Sprachen Nigerias, nachzusprechen. Dann unterrichtet er die Teilnehmenden, dass sie bald von Patricia abgeholt würden und fordert sie auf, das dritte Video auf ihren Smartphones abzuspielen: »My journey with you ends here. I have really enjoyed my trip with you.« Ofosu tritt ab und hinterlässt wie die anderen Guides das Gefühl, mit ihm nicht nur einer Bühnenperson begegnet zu sein, die im Stück zweier weißdeutscher Theatermacher auftritt, sondern auch einer Subjektivität, die eine spezifische Perspektive auf globale Prozesse und eine bestimmte Position in unserer ›globalen Welt‹ einnimmt. Wer jetzt auf sein Display schaut, sieht das Ikeja Computer Village in Lagos. Unzählige Menschen drängen sich an Autos, Bussen und Fahrrädern vorbei durch eine Straße. An den Seiten sind die Logos verschiedener Geschäfte zu sehen. Unter Sonnenschirmen werden Elektronikwaren feilgeboten. »Gebraucht-Handys aus Großbritannien sind beliebt wegen der Herstellungsqualität. Die Qualitätskontrollen dort sind höher als zum Beispiel in Westafrika«, sagt eine Stimme aus dem Off. Deshalb seien sie hier heiß begehrt. Allerdings könnten sich nur wenige die Originalprodukte leisten. Langsam fährt die Kamera an verschiedenen Straßenständen vorbei, auf denen Mobiltelefone ohne Ver-

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packung offen ausliegen. Überall sind Kund*innen zu sehen, welche die Telefone betrachten oder in ihren Händen halten und ausprobieren. Der Kameramann, der die Aufnahmen anscheinend mit einem Apple-Gerät anfertigt, wird aufgefordert: »Meister, verkauf mir deine Kamera, dein iPhone 6.« Die meisten der Smartphones kämen über Dubai aus China, meint die Stimme aus dem Off. Man sähe aber auch Handys mit der Aufschrift Made in Malaysia. Nicht alle seien komplett in China hergestellt. »Aber nigerianische Geschäftsleute reisen mit ihrem Geld nach China.« Dort würde der Standard dem Preislevel angepasst, das sich die Konsument*innen vor Ort leisten könnten. Weiterhin fährt die Kamera an den zahlreichen Ständen vorbei, die auch Kabel, Ladegeräte und weiteres Zubehör verkaufen. Dann bahnt sie sich ihren Weg durch die Menge hindurch bis in eine kleine Gasse. Überall sind Menschen und zum Kauf angebotene Produkte zu sehen. Es geht weiter in einen Basar. Über einem Laden steht bontel Mobile – Sky Point Communication, darunter sind zwei längere Telefonnummern abgedruckt. Über unzähligen Glasvitrinen gebeugt stehen Menschen und begutachten die darin offerierte Ware. »Ich heiße Anaheche«, stellt sich jetzt eine Sprecherin im Off vor. »Ich bin hier in meinem Laden, wo wir Handys von Tecno, Infinix, Itel und kleine Samsung verkaufen.« Anaheche glaubt, dass alle Mobiltelefone in China hergestellt würden. Auf ein »ChinaHandy« gebe es keine Garantie: »Einmal gekauft, hat man kein Recht, es zu reklamieren.« Die Kamera bewegt sich in eine Werkstatt hinein, während es im Off heißt, man müsse defekte Handys selber reparieren oder wegwerfen. Hier gebe es keine Ersatzteile. Im besten Falle könne mit den Verkäufern eine Einigung gefunden werden, nicht mehr funktionstüchtige Geräte einzutauschen. »Wenn die chinesischen Handymarken nach Nigeria kommen, helfen sie dem Mittelstand und den Armen. Die Armen können sich jetzt Handys leisten. Als es noch keine Tecno- oder Infinix-Handys auf dem Markt gab, gab es so viele, die sich kein Handy leisten konnten.« Nicht jeder könne den Preis für ein Samsung, iPhone oder HTC aufbringen. Nachdem sie weitere Vitrinen abgetastet hat, kommt die Kamera an einem Werkstatttisch zur Ruhe und schaut einem Elektriker über die Schulter, der gerade ein Smartphone aufgeschraubt hat und eine Platine darin untersucht. Daneben spielt auf einem anderen Gerät jemand ein Fußball-Videospiel. Jetzt spricht wieder ein Mann im Off: »Jemand, der kein Handy hat, kann sich manchmal fühlen wie in einer Leichenhalle. Leute wollen lieber auf dem Sterbebett sein als ohne Handy.« Mit einfachen Schraubenziehern wird das Gerät notdürftig repariert. Die Kamera zeigt Nahaufnahmen aus seinem Inneren. Trotzdem habe sich das Leben dank der Geräte enorm verbessert. »Informationen sind leichter und schneller zugänglich« und der Papierkram habe sich enorm reduziert. »Meine gesamte Bibel, zum Beispiel, hat Platz in meinem Handy.« Er müsse nur genug Speicherplatz zur Verfügung haben, dann könne er Dinge in den sozialen Netzwerken »live« teilen und sich dank Google Maps an Orten zurechtfinden, an denen er noch nie zuvor gewesen sei. Alles wäre auf einem Gerät, »Fernsehen, Musik, Drahtlosradio, WhatsApp, Facebook«. Manche wollten auch ein Handy mit Kühlschrank, Ventilator oder Aircondition. »Ein Mobiltelefon sollte mobil sein, mit Reifen und so. Es sollte konvertierbar sein in ein Automobil.« Bald würden wir eine Technologie erleben, dank derer wir ohne Telefon miteinander redeten. Während das Gerät im Bild wieder zusammengeschraubt und sein Inneres vom Gehäuse verborgen wird, erklärt die Off-Stimme, dass Afrika sich enorm gewandelt habe und mit dem Rest der Welt Schritt halten würde. »Ihr könnt Tech-

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nologie nicht auf ewig für euch behalten. Teilen macht Spaß! Und Teilen bringt Geld!« Während das Bild ausgeblendet wird, lacht die Stimme. Zurück im Weimar Atrium. »Hi! How is everyone doing? Good? A little bit tired? It has been a long trip«, begrüßt Patricia Rothen, eine junge weiße Frau, die Zuschauer*innen der entorteten Aufführung von Chinafrika.mobile (2017) und leitet den vierten und letzten Teil der Stadtrundfahrt ein, die bereits jetzt weit über die Grenzen sowohl von Weimar als auch von Thüringen hinaus- und zu den eingehegten und ausgebeuteten nicht-menschlichen wie menschlichen Ressourcen und Arbeitskräften des globalen Südens hingeführt hat. Sie kündigt an, die Gruppe während des letzten Abschnittes ihrer Reise begleiten und sie nach Deutschland zurückbringen zu wollen, »so that you can have a well-deserved rest«. Rothen erzählt, sie studiere Medizin in Jena. Ihre Mutter komme jedoch aus Südafrika. Deshalb habe sie einen persönlichen Bezug zum Thema der Arbeit von Kötter und Becker. Im Gegensatz zu Ofosu, der sich als Firmeninhaber vorgestellt hat, wird an dieser Stelle der Akzent vom Fiktionalen ins (anscheinend) Faktische zurückverschoben, wenn sie im Anschluss erklärt, ihre Familie würde immer vor den deutschen Wintern nach Südafrika entfliehen, um dort Verwandte zu besuchen. Mit China sei sie später in Kontakt gekommen, als ihre Eltern vor fünf Jahren nach Shanghai gezogen seien. »On your trip today you really follow the whole life of the cell phone from its birth in the mines of the Congo and then the production in China and now the sale and repair of second hand phones at Ikeja Computer Village in Lagos, Nigeria.« Während sie sich im Weimar Atrium umschaut, bemerkt sie, dass Lagos sehr voll und laut sei, sie aber trotzdem versuchen werde, sich verständlich zu machen. Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen China und dem afrikanischen Kontinent sei faszinierend, dass sie kulturell so verschieden seien und sehr weit voneinander entfernt liegen würden, beide jedoch in den letzten Jahrzehnten ökonomisch unglaublich gewachsen seien, was auf ihre Kooperation miteinander zurückginge. »I am gonna be guiding you to the last life stage of the phone all the way up to its death.« Zuvor wolle sie noch weitere Eindrücke vom Ikeja Computer Village ermöglichen. Hierfür bittet Rothen die Reisegruppe, ihr in den Aufzug nach unten zu folgen. Dort erklärt sie vor einer Saturn-Filiale, in Lagos gäbe es nicht nur Geschäfte für Second-Hand-Handys und afrikanische Billigmarken, sondern auch »upscale, fancier stores« für die »small but substantial upper class« Nigerias. Den Angehörigen dieser Klasse sei es wichtig, stets die neuesten und besten Geräte zu besitzen. »So here is an example of a place where they would shop«, fügt sie hinzu, während sie auf den Eingangsbereich von Saturn deutet. »Everything from the new Samsung to the new iPhone – this is where they would come.« Das Problem mit Smartphones sei, dass sie nur für wenige Jahre ›neu‹ seien, da sie kontinuierlich von ihnen nachfolgenden Generationen und Modellen ersetzt würden. »The question is what happens to these phones once they become outdated.« In Deutschland würden alte Geräte entsorgt. In den Außenbezirken des Ikeja Computer Village gebe es Bereiche, in denen Elektroschrotthändler veraltete oder kaputte Handys aufkauften, um sie auszuschlachten und ihre einzelnen Komponenten weiterzuverwerten. »The scrap dealers buy specifically these outdated and old phones to take them apart and take out the viable materials, so, the copper, the gold, and the coltan. And they collect it and sell it to other dealers, often to Chinese dealers.« Die Schrotthändler würden die Geräte zum Recyceln von Läden, Schulen und einzelnen Individuen beziehen.

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Abb. 55: Daniel Kötters und Jochen Beckers Chinafrika.mobile, Still aus der Videodokumentation der Performance, 2017 (mit freundlicher Genehmigung der Künstler)

Abb. 56: Still aus dem Dokumentarfilm Chinafrika.mobile von Daniel Kötter, 2017 (mit freundlicher Genehmigung des Künstlers)

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Abb. 57 & 58: Still aus dem Dokumentarfilm Chinafrika.mobile von Daniel Kötter, 2017 (mit freundlicher Genehmigung des Künstlers)

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Rothen präsentiert eine Platine, die sie einem ihrer alten Smartphones entnommen habe, und benennt deren einzelne Komponenten. Abwechselnd zeigt sie auf die SIMKarte, die Kamera, den Anschluss für das Ladegerät, den Vibrationsmotor, das Batteriefach und so weiter. »As you can see, there is all these little lines of copper but also gold running through.« Unsere Reise würde jetzt zurück nach Deutschland führen. Die Gruppe verlässt das Weimar Atrium und kommt draußen vor einem Schild zum Stehen, auf dem »welcome-center« geschrieben steht. Die Guide verkündet, dass wir wieder in Deutschland seien, und erklärt, dass dies der Ankunftsort für Besucher*innen und Tourist*innen sei. »Our trip was very quick, luckily we didn’t have any problem with the immigration control department – that made things a lot easier.« China betreibe eine relativ offene Visums-Politik gegenüber afrikanischen Händlern. Kötter und Becker seien für die Recherche und Vorbereitung von Chinafrika.mobile (2017) viel gereist, um Interviews zu führen und Filmaufnahmen zu machen. Als deutsche Staatsangehörige hätten sie keine Probleme gehabt, die entsprechenden Visa zu erhalten. Rothen zeigt nun die Fotografie eines afrikanischen Händlers. Ihm hingegen, den Kötter und Becker in Lagos kennengelernt hätten und der eigentlich an der Premiere des Stücks im Rahmen des Steirisches Herbstes in Graz hätte teilnehmen sollen, sei das Visum zur Einreise in den Schengenraum mit der Begründung verweigert worden, er habe vor, in Europa Asyl zu beantragen.11 Auf der mehrspurigen und stark befahrenen Straße im Hintergrund rauschen Autos vorbei. Niemand in der Botschaft vor Ort habe ihm geglaubt, dass er aus Arbeitsgründen nur temporär nach Österreich einreisen wolle. Dasselbe sei mehreren an dem Projekt Beteiligten mit unterschiedlichen afrikanischen Staatsbürgerschaften passiert. »We are going to move on and we will come to our last stop which is gonna be the death of the phone and our phone graveyard«, meint die Reiseleiterin und erklärt, dass sich die Gruppe jetzt zu Fuß auf den Rückweg zu dem Container begeben werde, an dem vor fast zwei Stunden die Rundfahrt über mehrere Kontinente hinweg begonnen hatte. Rothen will wissen, wer sich noch an das chinesische Wort »Shǒujī« und dessen Bedeutung erinnern könne, über die Wei Li ihnen in ihrer Lecture Performance im zweiten Teil dieser entorteten Aufführung berichtet habe. Wie bereits vor der Baustelle, an der wir im dritten Teil des Stücks im Van vorbeigefahren sind, sind auch an dem Holzzaun, den wir nun passieren, eine Reihe großformatiger Fotografien angebracht, die unterschiedliche chinesische und afrikanische Orte in den Weimarer Stadtraum einschreiben. Rothen führt uns hinter den Zaun, wo wir den Container sehen, in dem unsere Reise ihren Anfang nahm. »This shipping container is our last stop and it’s the main form of transportation in the life of a cell phone«, heißt es. Jedes Handy würde mindestens dreimal und in drei verschiedenen Zuständen in einem solchen Container befördert, »as raw material from Africa to China and then as a finished product from China back to Africa and Europe and wherever phones are sold«. Sie hält die Platine nach oben: »And then often in this kind of form from Africa back to

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Vgl. hierzu auch Ewelina Benbenek, Nadine Jessen und Elisa Liepsch, Theater als Solidarische Institution, in: Elisa Liepsch und Julian Warner (Hg.), »Allianzen. Kritische Praxis an weißen Institutionen«, Bielefeld: transcript, 2018 sowie Julia Wissert, Was würden wir atmen, wenn weiße Menschen nicht die Luft erfunden hätten?, in: ebd.

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China. So, there is a whole cycle here. And Germany can be an important transit stop in this.« Um diese globale Logistik12 zu konkretisieren, erklärt die Guide im Anschluss, dass der Container, vor dem wir gerade stehen, aus Hamburg stamme. Ein einziger solcher Container bringe jährlich mehr als 150.000 Tonnen elektronischen Mülls von Deutschland nach Asien und Afrika. Nur 45 Prozent des in der Bundesrepublik Deutschland anfallenden Elektroschrotts würden professionell entsorgt, der Rest hingegen in solchen Containern aus Europa heraus verschifft. »The term for this is ›waste tourism‹ and it refers mainly to African dealers who come to Europe and Germany, often for several months, and buy masses of this electronic waste and then send it overseas to places like Ikeja Computer Village.« Der Export von Elektroschrott aus Europa nach Afrika sei deshalb problematisch, weil in den derart entsorgten Bauteilen unter anderem auch Blei und Cadmium, also hochtoxische Substanzen, enthalten seien, welche gefährlich sowohl für die Umwelt als auch für Menschen seien, die mit ihnen in Berührung kämen. Rothen schließt den Container auf. In seinem Inneren befinden sich die bereits bekannten roten Hocker, Säcke voller Elektroschrott sowie zwei eingeschaltete Neonleuchten. »As promised, this is our phone graveyard. All these phones are from Weimar.« Daraufhin wiederholt die Guide, dass die Geräte, die wir zu Beginn ausgehändigt bekommen haben, Shiftphones seien, die ebenfalls aus recyceltem Material produziert worden seien, aber unter ›fairen‹ Bedingungen für die Arbeiter*innen sowohl in Afrika als auch in China. Shiftphones enthielten kein Coltan, da dessen Extraktion mit kriegerischen Auseinandersetzungen im Kongo zu tun habe. Außerdem sei ihre Lebensdauer sehr viel länger als die üblicherweise auf dem Markt erhältlichen Marken. Dann verabschiedet sich auch Rothen: »In a second you can watch film number 4.« Wir befinden uns auf dem Owode Onirin Market in der Peripherie des Ikeja Computer Village von Lagos. »Anthony ist mein Name. Aber mein Geschäftsname ist ›Tony Schrott‹. Ich bin Nigerianer«, sagt eine Stimme aus dem Off. Erneut schauen wir einem Menschen über die Schulter, der auf einem uns unbekannten Weg ist. Anthony berichtet, er habe in Großbritannien Informatik studiert. In das Schrottgeschäft involviert sei er seit nunmehr über 10 Jahren. Während die Kamera ihm von hinten durch den Markt folgt, erklärt er, dass Schrott mehr und mehr zu einer Ware würde, mit der sich gute Geschäfte machen ließen. »Neue Sachen werden produziert, diese neuen Sachen altern und kommen irgendwann ans Ende ihres Lebenszyklus.« Der Boden ist von Metallteilen und Mikropartikeln übersäht. Während die Kamera weiter Anthony nachstellt und dabei viele Menschen streift, die mit Hämmern, Schweißgeräten und Zangen unterschiedliche Metallteile bearbeiten und auf Schubkarren umherfahren, sagt er, als gerade jemand im Bildfeld ein massives Stück Draht von einer riesigen Spindel wickelt und zu verbiegen versucht und ein anderer in Flip-Flops mit der Rückseite eines Axtkopfes auf Autoteile schlägt, um sie voneinander zu lösen: »Es gibt etwas, das wir Dematerialisierung nennen. Die Idee dahinter ist: Beziehe dein Material nicht von den Rohstoffen, sondern von

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Zum Problem der globalen Logistik vgl. exemplarisch Gerko Egert, Operational Choreography: Dance and Logistical Capitalism, in: Georg Döcker, Eve Katsouraki und Gerald Siegmund (Hg.), »Power and Powerlessness in Performance«, Performance Philosophy, Vol. 7. No. 1 (2022) sowie dessen Habilitationsschrift Choreopower. Untersuchungen zur Macht der Bewegung, Unveröffentlichtes Manuskript.

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Fertigprodukten, die jetzt Schrott sind.« Die Kamera zeigt einen geöffneten Sack von oben, in dem unzählige Kupferdrähte liegen. »Man braucht zum Beispiel Kupfer, Gold und bezieht es von Fertigprodukten.« Auch aus alten Platinen ließe sich noch etwas extrahieren. Sobald etwas auf dem Müll lande, könnten ihm viele Komponenten entnommen werden. Jetzt sehen wir einen hageren älteren Herrn, der vor einem Blecheimer kniet und mit einem Spitzhammer größere Platinen bearbeitet. Wie Glasscherben zerbrechen sie unter seinen Hieben. Jemand anderes knipst mit einer Kneifzange Kondensatoren von ihren Lötstellen ab. »Viele große Firmen aus China, Großbritannien beauftragen die Sammler, Schrott zu besorgen. Ich glaube, das hat mit der schwachen Wirtschaft in Nigeria und ganz Westafrika zu tun.« Hier gäbe es weniger Regeln als in Großbritannien. Während die Kamera Männer ins Visier nimmt, die Dutzende Säcke voller Kleinteile übereinanderstapeln, vermutet der Sprecher aus dem Off, die meisten davon würden nach China zurückgeschickt. Es gebe auch interessierte Koreaner*innen und Inder*innen. »Schrott wird es immer geben!« Er selbst habe gerade zwei brandneue Handys für seine Kinder gekauft. Auch sie würden irgendwann zu Schrott. Die Kamera fährt über eine Vielzahl an Händen, die in Haufen von Bauteilen herumwühlen, die auf dem Erdboden liegen, während jemand mit einem Schraubenzieher Handygehäuse aufstemmt, um an ihr Inneres zu gelangen. Mehrere Minuten lang sehen wir dem Treiben im Close-up zu, dann ist Chinafrika.mobile (2017) zu Ende. Wir sind zwar wieder in Weimar, zugleich aber in Lagos, in Guangzhou, in Shenzhen und im kongolesischen Kupfergürtel. Diese geografischen Orte, so weit sie räumlich, kulturell und in Bezug auf Klasse voneinander entfernt sein mögen, sind gleichzeitig und wechselseitig miteinander verflochten. Sie bilden exemplarische Lokalitäten, an denen auf planetarischer Ebene ein eingehegter Stoffwechselprozess sowohl zwischen Menschen als auch zwischen ihnen und Natur statthat. Es überlagern sich dabei, mit Federici gesprochen, die Allmende und die Plantage: Über getrennte Positionen erstreckt sich, ließe sich dem mit Feuerbach hinzufügen, ein menschliches Gattungswesen, dessen Milliarden von Teilwesen innerhalb der internationalen Arbeitsteilung sehr verschieden fixiert sind. Kötters und Beckers erweitertes Dokumentartheater und die in ihm enthaltenen Zeug*innenberichte lassen unter dem Vorzeichen eines postkolonialen Anthropozäns zusätzlich an Spivak denken, wenn sie in einem Interview anmerkt, dass es heute darum gehen müsse, »in eine Struktur der Verantwortlichkeit […] einzutreten, in der Antworten in beide Richtungen fließen«13 . Wer mag, kann im Container verbleiben und sich noch weiteres Bildmaterial anschauen, das Kötter an verschiedenen Orten Afrikas und Chinas aufgenommen hat. Ansonsten sind wir zurück in Deutschland. Die Gewalt unter anderem der 1839–42 und 1856–60 geführten ›Opiumkriege‹, durch die von Europa ausgehend die weiße Subjektform im Verlauf moderner Kolonialgeschichte den Rest der Welt einverleibend ausverleibt hat, kehrt in Chinafrika.mobile (2017) in Gestalt globalisierter Extraktions-, Produktions- und Verwertungsprozesse wieder. Spätestens seit der Kulturrevolution unter Mao Zedong in den 1960er und 13

Gayatri Chakravorty Spivak, Donna Landry und Gerald Maclean, Ein Gespräch über Subalternität, in: Gayatri Chakravorty Spivak, »Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation«, Wien: Turia + Kant, 2008, S. 129.

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70er Jahren spielt der postkoloniale chinesische Staat in der von Spivak beschriebenen internationalen Arbeitsteilung eine wichtige Rolle. Nicht nur bezüglich der blutigen Vergangenheit des Kongo unter belgischer Herrschaft ist Kötters und Beckers entortete Aufführung deshalb von den historischen Spuren durchzogen, die unsere Gegenwart kennzeichnen. Dennoch eröffnet sie innerhalb dieser eingehegten Welt sowie der Machtverhältnisse, die sie konstituieren, Begegnungen zwischen ersten und zweiten Personen, in deren Verlauf wir registrieren, dass wir, wie Balibar richtig beobachtet hat, keine gemeinsame ›imaginäre‹ Welt bewohnen, obwohl wir ›real‹ miteinander verflochten sind. Indem Kötter und Becker Lokales und Globales sowie faktische und fiktionale Qualitäten zwischenmenschlicher Begegnungen übereinanderschichten und heterogene Orte und Zeiten ineinanderblenden – hinsichtlich der von Marx und Engels herausgearbeiteten Kapitallogik teilen sich die postindustriellen Landschaften Thüringens mit denen Afrikas und Chinas eine verzweigte Historie –, problematisieren die beiden weißen Theatermacher die für das postkoloniale Anthropozän folgenreiche Umweltkrise vieler Menschen und konfrontieren sie mit deren sinnlicher Anschauung aus spezifischen Perspektiven. Mit Sarr lassen sich die von ihnen eröffneten Subjektivierungsweisen und deren Multiperspektivität als »relationale Ökonomie«14 bezeichnen. Federici hat sie hinsichtlich der Allmende beschrieben und Moore zielt auf sie ab, wenn er Menschen und Natur auf einer Ebene bündelt.15 Die Umweltkrise als Krise der einhegenden Plantagenund Kapitallogik hingegen findet sich nicht nur in den aufgewühlten Landschaften des kongolesischen Kupfergürtels, in chinesischer Massenproduktion, europäischem Elektroschrott oder den verseuchten Böden von Lagos, sondern vielmehr noch auf der Ebene von Subjektivität als Plantage, die wiederum in der gegen Ende dieser Arbeit untersuchten Inszenierung Mittelreich (2017) von Anta Helena Recke im Fokus steht.

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Sarr, Afrotopia, S. 84. Vgl. Federici, Caliban und die Hexe und Moore, Kapitalismus im Lebensnetz.

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  »Wir brauchen so viele Definitionen der Menschheit wie es Zugehörigkeiten zur Welt gibt – aber gerade zu diesem Zeitpunkt haben wir es geschafft, die ganze Oberfläche der Erde mit Exemplaren ein und desselben ökonomisierenden und kalkulierenden, menschenähnlichen Roboters zu besiedeln. Unter der Bezeichnung Globalisierung hat sich die Kultur dieses seltsamen GMO – seine lateinische Bezeichnung ist Homo oeconomicus – überall ausgebreitet … Und das ausgerechnet jetzt, wo ein dringender Bedarf an ganz anderen Formen der Homodiversität besteht! Pech gehabt: Nun müssen wir der Welt mit einem Menschen gegenübertreten, der auf eine winzige Anzahl intellektueller Kompetenzen reduziert ist, versehen mit einem Hirn, das ihn nur zu den einfachsten Rendite- und Konsumkalkülen befähigt; einem Menschen, den eine ganz geringe Anzahl von Begierden kennzeichnet und der zu schlechter Letzt davon überzeugt wurde, daß er sich wirklich für ein Individuum zu halten hat, und zwar im atomaren Sinn des Wortes.«

– Bruno Latour (2015)

5. Feuerbachs Anthropologie zwischen Kant und Foucault

Feuerbachs Emphase des Gattungswesens, das nicht erst seit Das Wesen des Christentums (1841) einen prominenten Platz in seinem Denken einnimmt, ist von Kants Anthropologie beeinflusst, geht aber über dessen Überlegungen zum Menschen als Weltbürger*in hinaus. Dabei weist Feuerbach Mitte des 19. Jahrhunderts, also während der Industrialisierung nicht nur Europas, in eine Richtung, die über ein Jahrhundert später von Foucault und Derrida eingeschlagen wird, wenn sie aus unterschiedlichen Perspektiven darauf aufmerksam machen, dass es keine menschliche Essenz gibt und sich die Uneigentlichkeit des Menschen nur dezentral und entlang komplexer diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken (Foucault) beziehungsweise als unabschließbares Wir ohne fixen Horizont (Derrida) verstehen lässt. Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1796/97), die aus Vorlesungen hervorgegangen ist, die er zwischen 1772 und 1795 an der Universität Königsberg gehalten hat, enthält trotz ihrer Eurozentrik und ihrer rassistischen Momente Ansätze einer Kritik dessen, was in der vorliegenden Arbeit bisher anhand der weißen Subjektform thematisiert wurde. Allerdings legt Kant im Unterschied zu Feuerbach, dem es um die ihnen äußerlichen sinnlichen Verhältnisse zwischen Subjektivitäten geht, seinen Akzent in erster Linie auf die Innerlichkeit einzelner Subjektivitäten, die er vor Feuerbach als deren Gemüt bezeichnet. Wenn er sich am Ende seiner Anthropologie ›vernünftige‹ Wesen »auf irgendeinem anderen Planeten«1 vorstellt, die ihre Gedanken immer auch laut aussprechen würden, kommt er zu dem Schluss, dass solche Geschöpfe sich nicht miteinander vertragen und nur eine »Karikaturzeichnung«2 der Menschheit abgeben könnten: »Es gehört also schon zur ursprünglichen Zusammensetzung eines menschlichen Geschöpfs und zu seinem Gattungsbegriffe: zwar anderer Gedanken zu erkunden, die seinigen aber zurückzuhalten […].«3 Weil Kant davon ausgeht, dass Menschen einander nicht von Natur aus wohlgesonnen sind, können seine Weltbürger*innen nicht aus der »freien Zusammenstimmung

1 2 3

Immanuel Kant, Anthropologie, in: ders., »Sämtliche Werke. Band 3«, Stuttgart: Mundus, 2000, S. 325. Ebd. Ebd.

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der Einzelnen heraus«4 geboren werden, »sondern nur durch fortschreitende Organisation der Erdenbürger in und zu der Gattung als einem System, das kosmopolitisch verbunden ist«5 . Im Gegensatz zu Hegel, der diese Aussage Kants allzu ernst nehmen wird, interessiert sich Feuerbach nicht für ein solches Weltsystem. Er meint, dass es der Anthropologie, wenn sie die Theologie wirklich ablösen wolle, nicht um die Innerlichkeit einzelner Subjektivitäten zu tun sein solle, sondern um deren Verhältnisse als Teilwesen zueinander. Gegen Hegel gerichtet gibt er 1839 zu Protokoll: »Zu bedauern ist nur, daß Hegel […] den Gattungsbegriff der Menschheit, den Kant eigentlich erst in die Philosophie einführte […], nicht genug […] in Anwendung gebracht hat; dann würde seine Philosophie nicht den zweideutigen Nimbus von Mystizismus haben, der sie jetzt umgibt […].«6 Anders als Hegels Phänomenologie, hierauf wird Foucault später insistieren, besteht Kants Anthropologie nicht darin, mit einem Subjekt zu beginnen und alles Weitere aus ihm abzuleiten, sondern anhand empirischer Beobachtungen von einzelnen Menschen und deren Beziehungen, im Hinblick auf Gruppen, die er in rassistischer Weise als ›Völker‹ und ›Rassen‹ bezeichnet, einen Gemeinsinn herauszuarbeiten, den Menschen miteinander teilten und der sie als Weltbürger*innen an der menschlichen Gattung teilhaben ließe.7 Während Kant jedoch durchweg eurozentrisch argumentiert, für die Herausbildung des Gemeinsinns eine richtige »Denkungsart«8 sowie den korrekten Gebrauch von Verstand, Urteilskraft und Vernunft zur Voraussetzung macht und deshalb ein bestimmtes Genre des Menschen unterstellt – wogegen sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur Foucault und Derrida, sondern mit ihnen auch Wynter wenden werden –, geht es Feuerbach im 19. Jahrhundert um die Sinnlichkeit des Menschen, die mehrere Subjektivitäten füreinander öffnet, ohne sie in einem System zu vereinen. Von Kant, für den »alles, was die Geselligkeit befördert«9 , bereits ein »die Tugend vorteilhaft kleidendes Gewand«10 ist, weshalb er die Tischgesellschaft als »gesellige[s] Vergnügen«11 sehr schätzt, lernt Feuerbach, dass die Ich-Instanz, die für Hegel auch dann noch zentral bleibt, wenn er vom Weltgeist spricht, auf anderes und andere angewiesen ist. Was Feuerbach auf der Ebene der sinnlichen Verhältnisse mehrerer Subjektivitäten an der Beziehung zwischen Ich und Du festmacht, thematisiert Kant im Hinblick auf 4 5 6 7

8 9 10 11

Ebd., S. 326. Ebd. Feuerbach, Über Philosophie und Christentum, S. 295. Auch in Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist (1846) bezieht sich Feuerbach auf Kants Anthropologie. Vgl. ebd., S. 169. Hannah Arendts Ausführungen zu Gemeinsinn, Urteilskraft und einem ›Denken ohne Geländer‹ gehen neben dessen dritter Kritik ebenfalls auf Kants Anthropologie zurück. Vgl. dies., Vom Leben des Geistes – Das Denken. Das Wollen, München: Piper, 1998 sowie dies., Das Urteilen, München: Piper, 2012. Zu Kants Figur des Weltbürgers vgl. auch Kwame Anthony Appiah, Der Kosmopolit. Philosophie des Weltbürgertums, München: Beck, 2009. Kant, Anthropologie, S. 153. Ebd., S. 286. Ebd. Ebd., S. 283.

5. Feuerbachs Anthropologie zwischen Kant und Foucault

die Vermögen des Gemüts. »In Ansehung des Zustands der Vorstellungen ist mein Gemüt entweder handelnd und zeigt Vermögen (facultas), oder es ist leidend und besteht in Empfänglichkeit (receptivitas)«12 , nimmt er eine später für Feuerbach wichtige Unterscheidung vor. Weil Kant jedoch den Verstand der Sinnlichkeit vorzieht, geht er nicht so weit wie Feuerbach, der erste Personen zweiten nachordnet. Er problematisiert aber bereits die Idee einer in sich verankerten Ich-Instanz, wie sie durch das cartesianische Cogito überliefert wurde. »Von dem Tage an, wo der Mensch anfängt, durch Ich zu sprechen, bringt er sein geliebtes Selbst, wo er nur darf, zum Vorschein, und der Egoismus schreitet unaufhaltsam fort«13 , moniert er. Kants Anthropologie, auf die Feuerbach, um sich von Hegel zu distanzieren, hier und dort Bezug nimmt, verläuft auf zwei Ebenen. Einerseits stellt sie eine Analyse des Gemüts dar, jener Dimension der Innerlichkeit des Subjekts also, die Feuerbach kritisieren und mit der Öffnung des Ich auf ein Du hin konfrontieren wird. Das Gemüt ist für Kant »ein bloßes Vermögen zu empfinden und zu denken«14 und als solches eine »besondere, im Menschen wohnende Substanz«15 . Andererseits geht es Kant aber auch um den Menschen als sich äußerliches Wesen und – diesen Begriff verwendet Kant lange vor Marx und Engels – den »Verkehr«16 zwischen mehreren Menschen, ohne den kein einzelner Mensch sein kann. Während das Gemüt einzelner Menschen zwischen dem aktiven, spontanen Vermögen des Verstandes und dem passiven, rezeptiven Vermögen der Sinnlichkeit aufgespannt sei, seien mehrere Menschen als Weltbürger*innen durch ihren Gemeinsinn miteinander verbunden. Der Rassismus, der wiederholt aus Kants Text hervorbricht, ist nicht zu leugnen, ebenso wenig wie der geografische Ort, an dem sein Schreiben statthat. Während er gegen den Egoismus und für einen Pluralismus als ›Denkungsart‹ plädiert, also dafür, »sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten«17 , geht er von der Überlegenheit der europäischen Tischgesellschaft gegenüber den von Europas ›Völkern‹ kolonisierten ›Rassen‹ aus, die ihr zuallererst die Zutaten für ihre Mahlzeit liefern. Kants Gemüter bilden ihren Geschmack aus, indem sie von anderem und anderen die dazu benötigten Zutaten extrahieren. Die Superiorität bestimmter ›Völker‹ – für am fortschrittlichsten hält er die Engländer*innen und Französ*innen, ohne die von ihnen ausgeübte koloniale Gewalt zu thematisieren – verortet er im Vermögen des Verstandes zur Bildung von Begriffen, das je nach Erdteil unterschiedlich stark ausgeprägt sei, ohne welches sich die ›Denkungsart‹ von Weltbürger*innen jedoch nicht etablieren ließe.18 Neben ihrem Verstand bedürfen Kants 12 13 14 15 16 17 18

Ebd., S. 161. Ebd., S. 151. Ebd., S. 180 Ebd. Ebd., S. 148. Ebd. So schreibt er an einer Stelle über die von den Europäer*innen durch Krankheitsübertragung und Genozid fast vollständig ausgelöschten Indigenen der Amerikas: »Wer sich immer nur symbolisch ausdrücken kann, hat noch wenig Begriffe des Verstandes, und das so oft Bewunderte der lebhaften Vorstellung, welche die Wilden (bisweilen auch die vermeinten Weisen in einem noch rohen Volke) in ihren Reden hören lassen, ist nichts, als Armut an Begriffen und daher auch an Wörtern,

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

Weltbürger*innen, deren Gedanken einander verschlossen sind, die sich aber sprachlich miteinander verständigen sollen, der Urteilskraft sowie der Vernunft. Das Zusammenspiel zwischen Verstand, Urteilskraft und Vernunft beschreibt er wie folgt: »Wenn nun Verstand das Vermögen der Regeln, die Urteilskraft das Vermögen, das Besondere, sofern es ein Fall dieser Regel ist, aufzufinden ist, so ist die Vernunft das Vermögen, von dem Allgemeinen das Besondere abzuleiten und dieses Letztere also nach Prinzipien und als notwendig vorzustellen.«19 Die Hierarchisierung, die Kant in diesem Zusammenhang zwischen Verstand und Sinnlichkeit etabliert, korrespondiert mit der Rangordnung, die er zwischen der Tischgesellschaft europäischer Weltbürger*innen und den von ihnen kolonisierten ›Rassen‹ in anderen Erdteilen vornimmt. Besonders deutlich wird dies, wenn er schreibt: »Zu welchen Kindereien sinkt nicht der Mensch selbst in seinem reifen Alter hinab, wenn er sich am Leitseil der Sinnlichkeit führen lässt! Wir wollen jetzt sehen, um wie viel oder wenig er es besser mache, wenn er unter der Beleuchtung des Verstandes seinen Weg verfolgt.«20 Kants Ausführungen zur Sinnlichkeit in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1796/97) sind im Kontext eines postkolonial gefassten Anthropozäns ebenso doppelbödig wie diejenigen zum Gemüt einzelner Menschen und deren Verkehr miteinander. Zwar wertet er die Sinnlichkeit als die eine Hälfte menschlicher Erkenntnisvermögen gegenüber dem Verstand als deren anderer Hälfte ab, betont aber, dass der Verstand die Sinnlichkeit für sein ›Geschäft‹ brauche. Die Sinne sind ihm zufolge »wie das gemeine Volk, welches, wenn es nicht Pöbel ist (ignobile vulgus), seinem Oberen, dem Verstande, sich zwar gern unterwirft, aber doch gehört werden will«21 . Hierzu führt er aus: »Verstand, als das Vermögen zu denken (durch Begriffe sich etwas vorzustellen), wird auch das obere Erkenntnisvermögen (zum Unterschiede von der Sinnlichkeit, als dem unteren) genannt, darum, weil das Vermögen der Anschauungen (reiner oder empirischer) nur das Einzelne in Gegenständen, dagegen das der Begriffe das Allgemeine der Vorstellungen derselben, die Regel, enthält, der das Mannigfaltige der sinnlichen Anschauungen untergeordnet werden muss, um Einheit zur Erkenntnis des Ob-

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sie auszudrücken: z.B. wenn der amerikanische Wilde sagt: ›Wir wollen die Streitaxt begraben‹, so heißt das soviel, als: wir wollen Frieden machen, und in der Tat haben die alten Gesänge, vom Homer bis zum Ossian, oder von einem Orpheus bis zu den Propheten, das Glänzende ihres Vortrags bloß dem Mangel an Mitteln, ihre Begriffe auszudrücken, zu verdanken.« Ebd., S. 207. Gleichzeitig wendet er sich, allerdings in rassistischem Vokabular, gegen den zu seiner Zeit dominierenden physiognomisch argumentierenden Rassismus: »Sonst sind die Einheimischen ungewohnten Gesichter der Fremden für Völker, die aus ihrem Lande nie herauskommen, gemeiniglich ein Gegenstand des Spotts für diese. […] Was die bloßen Hirnschädel betrifft und ihre Figur, welche die Basis ihrer Gestalt ausmacht, z.B. die der N*, der Kalmücken, der Südsee-Indianer u.a. […], so gehören die Bemerkungen darüber mehr zur physischen Geographie, als zur pragmatischen Anthropologie.« Ebd., S. 298. Ebd., S. 214f. Ebd., S. 211. Ebd., S. 166.

5. Feuerbachs Anthropologie zwischen Kant und Foucault

jekts hervorzubringen. – Vornehmer ist also freilich der Verstand, als die Sinnlichkeit, mit der sich die verstandslosen Tiere nach eingepflanzten Instinkten schon notdürftig behelfen können, so wie ein Volk ohne Oberhaupt; stattdessen ein Oberhaupt ohne Volk (Verstand ohne Sinnlichkeit) gar nichts vermag. Es ist also zwischen beiden kein Rangstreit, obgleich der eine als Oberer und der andere als Unterer betitelt wird.«22 Ebenso wie die an mehreren Stellen seiner Anthropologie erwähnte Tischgesellschaft weißer Männer, anhand derer er die Gesellschaftlichkeit des Menschen zu demonstrieren versucht, nur zustande kommt, weil sich deren Weltbürger*innen als miteinander Konversation betreibende Gemüter selbst besitzen und außer Acht lassen, dass dieser Selbstbesitz auf unzähligen kolonisierten und versklavten Körpern beruht, verfügt bei Kant der Verstand über die Sinnlichkeit. Es fällt schwer, den sein Denken bedingenden kolonialen Kontext nicht mitzuhören, wenn er notiert: »Verstand und Sinnlichkeit verschwistern sich, bei ihrer Ungleichartigkeit, doch so von selbst zur Bewirkung unserer Erkenntnis, als wenn eine von der anderen, oder beide von einem gemeinschaftlichen Stamme ihren Ursprung hätten; welches doch nicht sein kann, wenigstens für uns unbegreiflich ist, wie das Ungleichartige aus einer und derselben Wurzel entsprossen sein könne.«23 Die Weise, auf die der Königsberger Philosoph Verstand und Sinnlichkeit innerhalb des Gemüts miteinander konstelliert, korrespondiert bis zu einem gewissen Grad mit Feuerbachs ebenfalls vom europäischen Rassismus und dessen Phantasmen mitgeprägten Überlegungen zum Polytheismus, obwohl hier gegenteilige Akzente gesetzt werden. Wie in vorigen Kapiteln dieser Schrift gezeigt wurde, verweist Sinnlichkeit für Feuerbach nicht auf ein Denken des Anderen, sondern auf das Andere des Denkens. Damit deutet er die Problematik einer dezentrierten Subjektivität an, die über ein Jahrhundert später von mancher französischen Philosophie und karibischen Denker*innen wie Glissant und Wynter ausbuchstabiert werden wird. Außerdem verwickelt er sich nicht wie Kant in die Fallstricke des Gemüts und seiner Vermögen, sondern fokussiert die sinnlichen Verhältnisse zwischen Menschen sowie zwischen ihnen und einer als deren Zusammenhang gedachten Natur. Feuerbachs Anthropologie bewegt sich Mitte des 19. Jahrhunderts auf eine Auffassung des menschlichen Gattungswesens hin, die in ihm keine Ansammlung von Individuen, sondern die Gleichzeitigkeit und Wechselwirkung vieler Teilwesen versteht. Obwohl nach Kant alle Menschen Weltbürger*innen werden und eine entsprechende Denkungsart ausbilden können, müssen sie zuvor Verstand, Urteilskraft und Vernunft als ihre Vermögen erkennen und ihnen Sinnlichkeit subsumieren. Feuerbach sieht dies der hier vorgeschlagenen Lesart seiner Schriften zufolge anders. Um der Sinnlichkeit des Menschen näherzukommen, muss ich mein Denken und also mich hinter dich zurückstellen, seiest du nun ein Mitmensch, diese Nacht oder dieser Baum.

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Ebd., S. 212. Ebd., S. 195.

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5.1 Foucaults empirisch-transzendentale Dublette und der weiße Mensch Wenn Foucault im letzten Abschnitt von Die Ordnung der Dinge (1966) prophezeit, dass in Zukunft »der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand«24 , dann bezieht sich diese Aussage auf seine zuvor getätigten Untersuchungen, denen ein anderer Begriff des Menschen zugrunde liegt als derjenige, der Feuerbach vorschwebt, wenn er die menschliche Gattung denkt. Obwohl die beiden anderen Fragen nachgehen, treffen sie sich dennoch an manchen Punkten, da sie trotz aller Differenzen auf verschiedenen Ebenen für eine Öffnung des Anthropozentrismus plädieren, also etwas dezentrieren wollen, das sich als Menschenbild weißer Männer fassen lässt, dessen Tendenz laut Ferreira da Silva darin besteht, »other, coexisting modes of being human«25 zu verdrängen. Foucault geht es hinsichtlich seiner Überlegungen zur modernen episteme, die ihm zufolge zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Europa die Wissensordnung der Klassik und deren »Souveränität der Wörter«26 ablöst, welche dort ihrerseits zuvor auf die der Renaissance und deren »zu entschlüsselnde Markierungen«27 zwischen den Dingen gefolgt ist, um den modernen europäischen Menschen. Laut Foucault erscheint dieser um 1800 als empirisch-transzendentale Dublette im Sinne einer mit sich selbst gleich bleibenden Größe und als dennoch stets zurückweichender Bezugspunkt auf den Feldern von Arbeit, Leben und Sprache. Foucault interessiert sich nicht wie Feuerbach für den Menschen als Ort der Begegnung im Singular ebenso wie im Plural zwischen ersten und zweiten Personen. Trotz ihrer ansonsten durchweg positiven Haltung gegenüber Foucault und dessen Kolleg*innen aus dem ›poststrukturalistischen‹ Umfeld relativiert Ott in Welches Außen des Denkens? Französische Theorien in (post)kolonialer Kritik (2018) sie deswegen ganz richtig, wenn sie schreibt: »Gänzlich verschwinden die menschlichen A/anderen aus dem Blickfeld, wenn das A/andere mit autorlosen Aussagestrukturen wie bei Foucault oder mit maschinellen Produktionen wie bei Deleuze und Guattari verbunden wird. Es steht dann als Bezeichnung für den Mittelbereich menschlicher Existenz nicht mehr bereit.«28 Foucaults Fokus liegt auf dem Verhältnis des Menschen in seiner Endlichkeit zu dessen Anderem – mit sehr großem A – in Gestalt der modernen Wissensordnung, die durch die drei miteinander konkurrierenden Felder der Humanwissenschaften – Ökonomie, Biologie und Sprachwissenschaft – gebildet wird und sein Wesen als arbeitendes, lebendiges und sprechendes behauptet. Feuerbachs Konzept des Menschen, das die Verstrickung mehrerer Subjektivitäten ineinander meint, wird von Foucaults Kritik nicht tangiert, wenn er darauf hinweist, dass der durch die Humanwissenschaften festgelegte Mensch

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26 27 28

Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 462. Denise Ferreira da Silva, Before Man: Sylvia Wynter’s Rewriting of the Modern Episteme, in: Katherine McKittrick (Hg.), »Sylvia Wynter. On Being Human as Praxis«, Durham: Duke University Press, 2015, S. 91. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 376. Ebd. Ott, Welches Außen des Denkens?, S. 36.

5. Feuerbachs Anthropologie zwischen Kant und Foucault

ebenso Subjekt der modernen Wissensordnung sei wie er als ihr empirisches Objekt unaufhörlich wiederkehre. Er sei Ergebnis einer »Vermengung des Empirischen und Transzendentalen […], deren Teilung Kant indessen gezeigt hatte«29 . Was in Die Ordnung der Dinge (1966) in der Kritik steht, ist nicht der Mensch als Subjektivierungsweise, sondern eine von Foucault ebenso wie von Kant kritisierte Mischung des Transzendentalen im Sinne eines Fundamentalen mit dem Empirischen als dem im Wissen Gegebenen, der Foucault den Namen Mensch gibt. Mit dieser Kritik knüpft er an Überlegungen an, die er bereits in der parallel zu seinem Habilitationsprojekt Wahnsinn und Gesellschaft (1961) – dessen letztes Kapitel das Problem des ›anthropologischen Zirkels‹ aufwirft und seiner zukünftigen Arbeit die Richtung weist – entstandenen Ergänzungsschrift Einführung in Kants Anthropologie (1964) unternommen hat. Dort hält er an entscheidender Stelle fest: »Offen gestanden ist der Niveauunterschied zwischen der Kritik und der Anthropologie so groß, daß er zunächst jeden Versuch eines strukturellen Vergleichs zwischen beiden als vergeblich erscheinen läßt. Als Sammlung empirischer Beobachtungen hat die Anthropologie keinen ›Kontakt‹ mit einer Reflexion der Bedingungen der Erfahrung. Und dennoch bedeutet dieser wesentliche Unterschied nicht, daß keine Beziehung bestünde. Eine gewisse Analogie über Kreuz läßt in der Anthropologie flüchtig etwas wie das Negativ der Kritik erkennen.«30 In diesem als Vorwort zu seiner französischen Übersetzung von Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1796/97) vorgesehenen Text schneidet er bereits eine Reihe wichtiger Aspekte an, die er in Die Ordnung der Dinge (1966) ausformulieren wird. In Kants Überlegungen zum Menschen als Weltbürger*in sieht er keine Abwendung von den zentralen Fragestellungen der Kritik, sondern er schlägt vor, Kants Anthropologie bezüglich der in dessen vorangegangener kritischer Phase so wichtigen Reflektion auf die Bedingungen von Erfahrung und die Grenzen des unter diesen Bedingungen Möglichen zu lesen. Für Foucault ist der Mensch kein Wesen, das sich selbst in der Erfahrung gegeben sein kann. In einem späteren, Kant gewidmeten Text von 1984 wird er unter dem Titel Was ist Aufklärung? fordern: »Die kritische Ontologie unserer selbst darf man sicher nicht als eine Theorie, eine Lehre und noch nicht einmal als ein durchgängiges, in Akkumulation begriffenes Wissenskorpus ansehen; man muss sie als eine Haltung, als ein ethos, als ein philosophisches Leben begreifen, bei dem die Kritik dessen, was wir sind, zugleich historische Analyse der uns gesetzten Grenzen und Probe auf ihre mögliche Überschreitung ist.«31 In der Erfahrung gegeben ist eine Welt, die aufgrund ihr äußerlicher Voraussetzungen aufscheint. Dabei bleibt das Fundamentale als die andere Seite der Grenzen dieser Erfahrung ihr gegenüber irreduzibel. Was jenseits der Grenzen der Erfahrung liegt, kann

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Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 410. Vgl. hierzu auch Kerstin Andermann, Anthropologie und Kritik. Kant, Foucault und die philosophische Anthropologie, in: dies. und Andreas Jürgens (Hg.), »Mythos – Geist – Kultur«, München: Fink, 2013. Michel Foucault, Einführung in Kants Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2010, S. 59. Ders., Was ist Aufklärung?, S. 706f.

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nicht aus ihr heraus erklärt werden, da ihr Anderes nicht das Andere eines mit sich Gleichen ist. Foucaults Einsatz ist hier keine Abwendung von Kant, sondern von der phänomenologischen Tradition, die auf ihn gefolgt sei und von Hegel über Husserl bis zum im Nachkriegsfrankreich dominierenden Existenzialismus Jean-Paul Sartres reiche. Zur Absetzung Kants von der Phänomenologie merkt er an: »Die Anthropologie von Kant lehrt uns etwas anderes: Das Apriori der Kritik im Ursprünglichen zu wiederholen, das heißt in einer wahrhaft zeitlichen Dimension.«32 Kants Anthropologie stelle keinen Kulminationspunkt dar, an dem sich dessen kritische Überlegungen aufgrund eines endlich offengelegten ›Wesens‹ des Menschen erledigen würden. Anstatt ein menschliches Wesen zu definieren, läge es »im anfänglichen Sinne der Anthropologie, Erforschung zu sein: Erforschung eines Ensembles, das sich niemals in seiner Totalität darbietet, niemals in sich selbst ruhend […]. Nicht zu beschreiben, was der Mensch ist, sondern was er aus sich machen kann.«33 In Kants Anthropologie sieht Foucault aber zugleich den Ausgangspunkt von ihm zurückgewiesener Denkweisen, die sich unter Berufung auf eine Lehre vom Menschen von der Reflektion auf Grenzen und Fragen nach der Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung verabschiedet und somit dasjenige, was er mit Kant bewahren will, nämlich die Methode der Kritik, hinter sich gelassen hätten. In diesem Zusammenhang stellt er klar, dass er mit Kant »die Analyse der Bedingungen«34 und die »Befragung der Endlichkeit«35 auf zwei unterschiedlichen Ebenen ansiedeln und getrennt halten will. Der Philosophie nach Kant wirft er vor, vom Fundamentalen angenommen zu haben, in der Erfahrung gegenwärtig werden zu können: »Man wird eines Tages wohl der ganzen Geschichte der postkantischen und zeitgenössischen Philosophie vom Gesichtspunkt dieser fortdauernden Vermengung aus ins Gesicht sehen müssen, das heißt auf der Basis einer Aufkündigung dieser Vermengung«36 , schreibt er Anfang der 1960er Jahre. Obwohl Foucault in der Ergänzungsschrift zu seiner Habilitation noch nicht den Begriff der empirisch-transzendentalen Dublette verwendet, zeichnet sich bereits ein paar Jahre vor Die Ordnung der Dinge (1966) der weitere Verlauf seines zukünftigen Denkens in Ansätzen ab, wenn er konstatiert, das Problem der Endlichkeit sei mit der Phänomenologie von einer »Frage nach der Grenze und der Überschreitung«37 in eine »Frage nach der Rückkehr zu sich selbst«38 und in eine »Problematik des Selben und des Anderen«39 umgekehrt worden, und meint, mit ihr habe die Philosophie ein vermeintlich menschliches Wesen in einer um sich selbst kreisenden Instanz eingeschlossen, welche er bereits an diesem Punkt mit einer zu überwindenden »anthropologischen Illusion«40 in Zusammenhang bringt. Foucault steht Feuerbach nicht entgegen, wenn er darauf hinweist, dass sich mit Kants kritischer Anthropologie der Mensch nicht auf die Weise redu32 33 34 35 36 37 38 39 40

Ders., Einführung in Kants Anthropologie, S. 86. Ebd., S. 46. Ebd., S. 100. Ebd. Ebd. Ebd., S. 116. Ebd. Ebd. Ebd., S. 117.

5. Feuerbachs Anthropologie zwischen Kant und Foucault

zieren lässt, auf die er in der Erfahrung erscheint und eine bestimmte Position in gesellschaftlichen Verhältnissen einnimmt. »Die Anthropologie ist in dem Sinn pragmatisch, dass sie den Menschen weder als zugehörig zur moralischen Sphäre ins Auge fasst (sie hieße sonst praktisch) noch als zugehörig zur zivilen Gesellschaft der Rechtssubjekte (sie wäre sonst juridisch); sie betrachtet ihn als ›Weltbürger‹, das heißt als zugehörig zum konkreten Allgemeinen […].«41 Während sich mit Feuerbach eine Unterscheidung zwischen sinnlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen treffen und auf einem Abstand beider zueinander insistieren lässt, versteht Foucault Kants Weltbürger*innen nicht anhand ihrer sinnlichen Verhältnisse, sondern bestimmt das konkrete Allgemeine durch den »Aufenthalt in der Sprache«42 des Menschen. Kants Mensch als Weltbürger*in ist ihm zufolge nicht durch die Zugehörigkeit zu »dieser sozialen Gruppe oder jener Institution«43 definiert, sondern nur im »Austausch [ist] die universale Wahrheit des Menschen vollendet«44 . An Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1796/97) findet er bemerkenswert, dass es darin zwar um »die Zugehörigkeit der Individuen zueinander in der konkreten und besonderen Beziehungsform des Paares, der familiären Gruppe, des Herdes, des ›Hauses‹«45 ginge – Foucault umgeht hier durch eine Anspielung auf Heidegger die von Kant verwendeten rassistischen Begriffe ›Volk‹ und ›Rasse‹ –, diese Beziehungsformen jedoch nicht als ›natürlich‹ oder überzeitlich determiniert präsentiert würden, sondern, dies könne eine genealogische Kritik zeigen, historisch gewachsen und wandelbar seien. Anstatt nach einem Wesen des Menschen zu suchen, will Foucault mit Kant kritisch die Grenzen befragen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt festlegen, was der Mensch sei, und deren historische Genese analysieren. Foucault unterstreicht, dass für Kant »die Verdinglichung in der Beziehung des Mannes und der Frau«46 in der Ehe keine Tatsache sei, auf der sich das Recht fundieren ließe, sondern im Gegenteil etwas, das aus einem bestimmten Rechtszustand resultiere.47 Mit Kant stellt er klar, dass sowohl praktische als auch juridische Beziehungen zwischen Menschen nicht naturgegeben sind, sondern aus gesellschaftlichen Verhältnissen resultieren, die eine Geschichte haben. Augenfällig ist vor diesem Hintergrund Foucaults Lesart des kantischen Begriffs des Gemüts. Anders als Feuerbach bringt er das Gemüt nicht mit der Innerlichkeit von Subjektivität und dem christlichen Individualismus zusammen, sondern sieht in ihm etwas, an dem sich ein hegelianisch gedachter Geist bricht und das eine Differenz zu ihm ins Spiel bringt. »Man könnte glauben, daß das Gemüt in dieser zeitlichen Zerstreuung, die ihm eigen ist, seinen Weg auf eine Totalisierung hinnähme, die sich in und durch den Geist be41 42 43 44 45 46 47

Ebd., S. 36. Ebd., S. 95. Ebd. Ebd. Ebd., S. 34. Ebd., S. 35. Vgl. ebd.

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werkstelligte. Das Gemüt würde sein Leben dieser entfernten, dieser unerreichbaren, aber wirkmächtigen Gegenwart schulden. Aber wenn dem so wäre, wäre der Geist von Spielbeginn an als ein ›regulatives‹ Prinzip und nicht als ein belebendes Prinzip bestimmt. Außerdem würde sich die ganze Kurve der Anthropologie nicht nach dem Thema des die Welt bewohnenden Menschen ausrichten, der mit seinen Pflichten und Rechten in diesem kosmopolitischen Stadtkern residiert; sondern nach dem Thema eines Geistes, der nach und nach den Menschen mit einer gebieterischen geistigen Souveränität wieder bedecken würde und die Welt mit ihm. Man kann also nicht sagen, daß die Idee eines Geistes die Regulierung der empirischen Diversität des Gemüts in den Griff bekommt, und seiner Dauer unablässig die unmögliche Vollendung verspricht.«48 Hier kündigt sich bereits das später von Foucault ausbuchstabierte Problem der empirisch-transzendentalen Dublette als kritische Distanzierung von der Phänomenologie hegelianischer Provenienz an. Foucault warnt davor, so weit wie Hegel zu gehen und mit ihm die Idee des Geistes als Movens der Geschichte auszuweisen. Im Gegenteil: Allein im Austausch zwischen Menschen, die ihn jedoch anders als Feuerbach nicht anhand ihrer sinnlichen Verhältnisse, sondern zunächst entlang ihrer sprachlichen Verhältnisse und später dann aufgrund von Macht- und Wissensverhältnissen interessieren, bilden sich Geschichte und mit ihr zeitlich und regional spezifische Felder diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken sowie Felder möglicher Erfahrung heraus. Foucaults Anliegen besteht Anfang der 1960er Jahre darin, darauf hinzuweisen, dass kein Erfahrungsfeld ebenso empirisch gegeben wie seine eigene Grundlage sein könne, sondern dass Erfahrung auf ihre Bedingungen und Grenzen hin befragt werden müsse. Erfahrungsgrenzen müssten, so Foucault zwischen Wahnsinn und Gesellschaft (1961) und Die Ordnung der Dinge (1966), im Rahmen einer kantischen Kritik näher befragt werden, wobei ihn der Bereich außerhalb von Erfahrung interessiert, der ihr als ihr Anderes nie gleich werden könne. Obwohl es in der Anthropologie um Fragen des Menschen geht, darf ihm zufolge nicht danach gefragt werden, was der Mensch sei, und die Antwort auf diese Frage aus der Weise abgeleitet werden, wie er zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort empirisch gegeben ist, sondern es muss vielmehr untersucht werden, welche apriorischen Formen bestimmten Vorstellungen des Menschen vorausgehen. »In dem Moment, in dem man glaubt, das kritische Denken auf der Ebene einer positiven Erkenntnis zur Geltung bringen zu können, vergißt man in der Tat das, was in der von Kant erteilten Lektion das Wesentliche war. […] Sie besagt auf jeden Fall, daß die Empirizität der Anthropologie sich nicht auf diese selbst gründen kann; daß sie nur möglich ist, insofern sie die Kritik wiederholt; daß sie daher die Kritik auch nicht einhüllen kann; sondern daß sie gut daran täte, sich auf sie zu beziehen; und daß, wenn sie als empirisches und äußeres Analogon der Kritik fungiert, sie dies nur in dem Maße kann, wie sie auf den bereits benannten und offengelegten Strukturen des Apriori beruht.«49

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Ebd., S. 55. Ebd., S. 111.

5. Feuerbachs Anthropologie zwischen Kant und Foucault

Hinsichtlich des in Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1796/97) beschriebenen Eheverhältnisses und des damit verbundenen Besitzanspruches von Ehepartner*innen heißt das, aus der Ehe als empirisch Vorfindbarem nicht ableiten zu dürfen, dass diese Form eines Verhältnisses zum Fundamentalen der Erfahrung gehört, sondern mit Kant Empirisches und Transzendentales getrennt zu halten, also zu analysieren, welche historischen Bedingungen dem Eheverhältnis als Teil eines Erfahrungsfeldes vorausgegangen sind und es möglich gemacht haben. Andrea Hemminger weist in Kritik und Geschichte. Foucault: ein Erbe Kants? (2004) darauf hin, dass beide am Apriori und somit den Grenzen von Erfahrung interessiert sind – »wobei der Begriff der Grenze das Andere in seiner irreduziblen Andersheit ins Spiel bringt«50 – und einen Monismus ablehnen, »der jegliches Außen als ein Außen begreift, das in ein Innen einzuholen ist, als ein Anderes, das zum Selben werden muß«51 . Was in der kantischen Kritik allerdings ein transzendentales Apriori bleibt, nämlich das Zusammenspiel von Raum und Zeit als reinen Formen sinnlicher Anschauung einerseits und den Kategorien und Verstandesbegriffen andererseits, verzeitlicht Foucault. In Die Ordnung der Dinge (1966) wird er sein dementsprechend gewendetes Apriori wie folgt definieren: »Dieses Apriori ist das, was in einer bestimmten Epoche in der Erfahrung ein mögliches Wissensfeld abtrennt, die Seinsweise der Gegenstände, die darin erscheinen, definiert, den alltäglichen Blick mit theoretischen Kräften ausstattet und die Bedingungen definiert, in denen man eine Rede über die Dinge halten kann, die als wahr anerkannt sind.«52 In unterschiedlichen Etappen seiner Analyse von Macht- und Wissensformationen wird es Foucault in seinem späteren Denken darum gehen, historische Bedingungen, die unter postkolonialen Gesichtspunkten betrachtet auf Europa beschränkte regionale Epistemologien darstellen und Wynter zufolge auf ein überrepräsentiertes Genre des Menschen verweisen, als etwas offenzulegen, das Erfahrung fundiert. Schon für Kant beruht jede mögliche Erfahrung auf dem Verhältnis der Sinnlichkeit zu den Verstandeskategorien, also, mit Hemminger formuliert, auf der Verkettung »der Anschauung eines Gegenstandes, das ist eine unmittelbare und einzelne Vorstellung, durch die uns ein Gegenstand sinnlich gegeben wird, indem er das Gemüt auf eine gewisse Weise affiziert«53 , und »Begriff, das ist die mittelbare Vorstellung durch ein Merkmal, das mehreren Gegenständen gemeinsam ist, wodurch der Gegenstand intellektuell gedacht wird«54 . Kants Apriori ist jedoch ahistorisch strukturiert. Foucaults Verdienst besteht laut Hemminger darin, die Problematik einer Erfahrung, die auf bestimmten Verhältnissen zwischen Anschauungen und Begriffen beruht, zu historisieren: »Gegenüber Kant ersetzt Foucault auf diese Weise das transzendentale Subjekt durch die diskursive Praxis. Verknüpft das Kantische

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Andrea Hemminger, Kritik und Geschichte. Foucault: ein Erbe Kants?, Berlin und Wien: Philo, 2004, S. 197. Ebd., S. 141. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 204. Hemminger, Kritik und Geschichte, S. 88. Ebd., S. 89.

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›Ich denke‹ Anschauung und Begriff, so verknüpfen sich in der diskursiven Praxis von Foucault Aussagefunktion und diskursive Regelmäßigkeit.«55 Zwar behält Foucault in Einführung in Kants Anthropologie (1964) Kants Konzept der Sinnlichkeit als zunächst passiv erfahrene Affizierung des Gemüts bei, macht aus dessen Transzendentalismus aber eine archäologische Analyse der Gegenwart und aus der zeitlosen Verstandeskraft geschichtlich sich wandelnde Formen, die spätestens seit Archäologie des Wissens (1969) aus dann näher beschriebenen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken resultieren werden. Sinnlichkeit erfüllt dabei eine wichtige Funktion in seiner Lesart Kants, da es sich bei ihr um eine Grenzfigur handelt, die sich nicht bruchlos in die »immanenten Regelmäßigkeiten«56 historischer Formationen einfügt. Sie ist nicht nur in epistemologischer Hinsicht eine Grenze, sondern stellt auch unter genealogischen Gesichtspunkten etwas dar, das sich als Anderes nicht vollends auf Gleiches zurückführen lässt. »Zweifellos gibt es ein Auffassungsvermögen, das in Beziehung auf den sinnlichen Inhalt ein produktives Vermögen innezuhaben scheint: Ist es nicht fähig, ›die Anschauung hervorzubringen‹? Es handelt sich da allerdings um den Verstand, der als allgemeines Erkenntnisvermögen betrachtet wird. Strenggenommen stellt sich der Verstand der sinnlichen Anschauung, die ihm absolut irreduzibel bleibt, insofern entgegen, als die Einbildungskraft als Reproduktionsvermögen sich nach der ursprünglichen und unübersteigbaren Produktivität der sinnlichen Anschauung richtet.«57 Bereits in Einführung in Kants Anthropologie (1964) geht es um Diskurse und Praktiken, die Foucault ein paar Jahre später, in Die Ordnung der Dinge (1966), als Arbeit, Leben und Sprache ausführlicher analysiert. Was ihn dabei interessiert, ist das Verhältnis historisch gewendeter kantischer Verstandeskategorien zum sinnlich Gegebenen, entlang dessen »der Mensch über den Dingen und zwischen seinesgleichen ein Netz des Austauschs, der Wechselseitigkeit und des tauben Verstehens spannt, das zwar nicht gerade die freie Stadt der Geister und nicht die totale Aneignung der Natur, dafür aber diese universelle Wohnstatt des Menschen in der Welt bildet«58 . Foucaults Methode besteht fortan darin, die Vielzahl der ihm vorliegenden (empirischen) Materialien mit (historischen) Formationen zu verbinden, ohne sie aufeinander zu reduzieren. Damit ist er nicht weit von Feuerbach entfernt, wenn dieser in Zur Kritik der Hegelschen Philosophie (1839) eine ›genetisch-kritische‹ Methode einfordert und Hegel gegenüber Kant vorwirft: »Aus dem Extrem eines hyperkritischen Subjektivismus sind wir mit der absoluten Philosophie in das Extrem eines unkritischen Objektivismus gestürzt.«59 Genauso wie Foucault will Feuerbach etwas sinnlich Gegebenes nicht mit dem es Fundierenden zusammenfallen lassen. Die »Einheit des Denkenden und Gedach-

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Ebd., S. 154. Ebd., S. 148. Foucault, Einführung in Kants Anthropologie, S. 30. Ebd., S. 90. Feuerbach, Zur Kritik der Hegelschen Philosophie, S. 51.

5. Feuerbachs Anthropologie zwischen Kant und Foucault

ten«60 lehnt er als »Geheimnis des spekulativen Denkens«61 ab. Eben hierin besteht seine Kritik an Hegels Weltgeist: Das in der Erfahrung Gegebene soll auf ihm äußerliche Herkünfte zurückgeführt werden. »Die genetisch-kritische Philosophie ist die, welche einen durch die Vorstellung gegebenen Gegenstand […] nicht dogmatisch demonstriert und begreift, sondern seinen Ursprung untersucht, welche zweifelt, ob der Gegenstand ein wirklicher Gegenstand oder nur eine Vorstellung, überhaupt ein psychologisches Phänomen ist, welche daher aufs Strengste zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven unterscheidet.«62 Obwohl Feuerbach die christliche Subjektivität und deren Verhältnis zur polytheistischen Subjektivität in den Fokus nimmt, während Foucaults Untersuchungen nach seiner frühen Auseinandersetzung mit Kant auf Macht- und Wissensbeziehungen als das Andere von Menschen fokussiert sind, treffen sich beide in ihrer Kritik dessen, was in der vorliegenden Arbeit als weiße Subjektform problematisiert wird. Beide bestehen auf einem Abstand zwischen dem sinnlich Gegebenen und einer es auffassenden Instanz, wobei sie ersteres nicht in rekursiven Schleifen um das immer Gleiche kreisen lassen wollen. Während Feuerbach an einem Begriff der menschlichen Gattung interessiert ist, die in der Verstrickung vieler Subjektivitäten besteht, durch die jede einzelne von sich selbst entfernt wird, will Foucault mit Kant wissen, wie der europäische Mensch geworden ist, was er ist. Obwohl er sich hierbei auf Nietzsche und dessen Konzept des Übermenschen bezieht, stehen seine Überlegungen Feuerbachs Öffnung erster auf zweite Personen hin zumindest nicht entgegen, wenn er in seiner Einführung in Kants Anthropologie (1964) schreibt: »In einer anthropologischen Perspektive gewinnt die Wahrheit folglich durch die zeitliche Zerstreuung der Synthesen und in der Bewegung der Sprache und des Austauschs Gestalt; hier findet sie nicht ihre einfache Form – weder die apriorischen Momente ihrer Konstitution noch den reinen Schock des Gegebenen; sie findet in einer bereits verronnenen Zeit, in einer bereits gesprochenen Sprache, im Inneren eines zeitlichen Fließens und eines linguistischen Systems, die niemals an ihrem Nullpunkt gegeben sind, etwas, das wie ihre originäre Form ist: das Universale, das mitten in der Erfahrung in einer Bewegung des wahrhaft Zeitlichen und des wirklich Ausgetauschten geboren wird. Von hier aus wird die Analyse des Gemüts in der Form des inneren Sinns zur kosmopolitischen Vorschrift in der Form der menschlichen Universalität.«63 Auch für Foucault ist Sinnlichkeit, obwohl er sich anders als etwa Deleuze nicht eingehender mit ihr beschäftigen wird, ein Überschuss, auf den seiner genealogischen Methode zufolge ebenso wie laut Feuerbachs genetisch-kritischer Methode reflektiert werden soll.64 Als solches markiert sie die Differenz zwischen den Dingen und ihrer Ord60 61 62 63 64

Ders., Grundsätze der Philosophie der Zukunft, S. 259. Ebd. Ders., Zur Kritik der Hegelschen Philosophie, S. 43. Foucault, Einführung in Kants Anthropologie, S. 96. Vgl. exemplarisch Gilles Deleuze, Francis Bacon. Logik der Sensation, München: Fink, 1995. Retrospektiv wird Foucault in einer Vorlesung vom 9. Januar 1980 den in den 1970er Jahren aufgekom-

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nung. Während Foucault Anfang der 1960er Jahre in Paris mit Kant eine »Arbeit an den Grenzen«65 von Erfahrung einfordert, um der Phänomenologie zu entgehen, will Feuerbach um die Zeit des deutschen Vormärz herum die religions- wie philosophiegeschichtlich gewachsene Ich-Instanz gegenüber einem Du und damit die Subjektivitäten konkreter Menschen füreinander öffnen, um einem multiperspektivisch verfassten Gattungswesen näherzukommen. Obwohl beide ihre Sprecherposition nicht als weiß markieren, sprechen sie dabei zwischen den Zeilen über die Problematik des weißen Menschen.

5.2 Die moderne Wissensordnung und das koloniale Erbe Europas Ein paar Jahre nach seiner Kantlektüre unternimmt Foucault in Die Ordnung der Dinge (1966) eine Analyse der modernen Wissensordnung, deren Anthropozentrismus er in Einführung in Kants Anthropologie (1964) bereits hervorgehoben hat. In seinem zweiten Buch nennt er diese Wissensordnung episteme und bescheinigt ihr einen ›anthropologischen Schlummer‹, da sie, anders als die Renaissance mit ihren Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den Dingen oder die Klassik mit ihrem Repräsentationsraster, den Menschen als ständig zurückweichenden Ursprung denke, die Dinge auf ein vermeintlich menschliches ›Wesen‹ zurückbeziehe und in ihm verankere. Während der 1960er Jahre steht Foucault noch stark unter dem Einfluss des Strukturalismus. Daher rührt vielleicht, dass er gegen Ende seiner Ausführungen die linguistisch verfasste Ethnologie und Psychoanalyse als »Gegenwissenschaften«66 präsentiert, die nicht im ›anthropologischen Zir-

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menen Doppelbegriff der Wissens-Macht durch eine ›Regierung durch die Wahrheit‹ ersetzen: »Der Begriff des Wissens hatte genau die Funktion, den Gegensatz von wissenschaftlich und nichtwissenschaftlich, die Frage von Illusion und Realität, die Frage von wahr und falsch beiseitezuschieben. Nicht um zu sagen, dass diese Gegensätze auf alle Fälle weder Sinn noch Wert hatten – das ist nicht das, was ich sagen wollte. Ich wollte einfach sagen, dass es beim Wissen darum geht, das Problem in Begriffen der konstitutiven Praktiken zu stellen, der Praktiken, die für die Gegenstandsbereiche und Konzepte konstitutiv sind und innerhalb derer die Gegensätze von wissenschaftlich und nicht-wissenschaftlich, wahr und falsch, Realität und Illusion ihre Wirkungen entfalten können. Was den Begriff der Macht anbelangt, so hatte dieser im Wesentlichen die Funktion, den Begriff des Systems der herrschenden Vorstellungen durch die Frage, das Analysefeld der Prozeduren und Techniken, durch die sich Machtbeziehungen herstellen, zu ersetzen. Nun die zweite Verschiebung in Bezug auf diesen Begriff der Wissens-Macht. Es geht somit darum, sich davon frei zu machen und zu versuchen, den Begriff der Regierung durch die Wahrheit auszuarbeiten. Sich vom Begriff der Wissens-Macht frei machen, wie man sich vom Begriff der herrschenden Ideologie frei gemacht hat. Wenn ich dies sage, bin ich letztlich vollkommen heuchlerisch, da es evident ist, dass man sich von dem, was man selbst gedacht hat, nicht so frei macht wie von dem, was andere gedacht haben. Daher werde ich sicherlich mit dem Begriff der Wissens-Macht nachsichtiger sein als mit dem der herrschenden Ideologie, aber es ist an Ihnen, mir dies vorzuhalten. In dem Unvermögen, mich selbst so zu behandeln, wie ich die anderen behandeln konnte, würde ich daher sagen, dass es im Wesentlichen darum geht, den beiden Begriffen des Wissens und der Macht einen positiven und differenzierten Inhalt zu geben, indem man vom Begriff der WissensMacht zum Begriff der Regierung durch die Wahrheit übergeht.« Michel Foucault, Die Regierung der Lebenden, Berlin: Suhrkamp, 2014, S. 28f. Hemminger, Kritik und Geschichte, S. 209. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 454.

5. Feuerbachs Anthropologie zwischen Kant und Foucault

kel‹ verfangen seien, weil sie »nicht mehr vom Menschen selbst«67 sprächen und »nicht aufhören, diesen Menschen ›kaputt‹ zu machen, der in den Humanwissenschaften seine Positivität bildet und erneut bildet«68 . Dabei interessiert er sich nicht sonderlich für konkrete Menschen. Über Foucault hinausgehend bemerkt Robert J.C. Young in White Mythologies. Writing History and the West (1990) in diesem Zusammenhang: »The creation of man as centre was effected by defining him against other, now marginalized groups, such as women, the mad, or, we would add, the allegedly subhuman ›native‹. This move formed the basis for the human sciences which, through their organization around the figure of man, once more brought about a unity to History.«69 Kurz nach Erscheinen von Die Ordnung der Dinge gibt Foucault 1966 im Alter von 38 Jahren der Literaturzeitschrift Quinzaine littéraire ein Interview, in dem er seiner Generation in polemischen Worten verspricht, den Existenzialismus Sartres ablösen zu wollen und mit ihm auch den ›Humanismus‹ zu überwinden. Seine Forschungen würden »nicht nur das überkommene Menschenbild auslöschen, sondern meines Erachtens die Idee des Menschen in der Forschung und im Denken tendenziell überflüssig machen. Die größte Last, die wir aus dem 19. Jahrhundert geerbt haben – und von der wir uns befreien sollten –, ist der Humanismus …«70 Röhr hat in Endlichkeit und Dezentrierung (2000) darauf hingewiesen, dass Foucaults Kritik an der Anthropologie eher eine Kritik am Anthropozentrismus ist, der auch Feuerbach zustimmen würde, obwohl sich seine Überlegungen auf einer anderen Ebene entfalten. »Auf den Menschen bezogene Endlichkeitsanalysen müssen aber nicht zwangsläufig in einem unendlichen Regreß hin auf Unbedingtes leerlaufen bzw. in einem visionären Progreß hin auf Totalität hyperbolisch werden. Foucault konstruiert die Figur der Analytik der Endlichkeit in stark typisierendem Zugriff auf den Diskurs der frühen Moderne als ein geschlossenes, von einer paradoxalen epistemologischen Konstellation in Gang gehaltenes System. Damit blendet er einerseits ideengeschichtliche Seitenwege ab und verschenkt andererseits analytische Möglichkeiten einer Philosophie der Endlichkeit. Für beides kann die Position Feuerbachs beispielhaft herangezogen werden.«71 In Feuerbachs Anthropologie, die ihm zufolge die Theologie ebenso ablösen soll wie die spekulative Philosophie und damit auch eine Denkweise, von der er sich ebenso wie Foucault abwendet, geht es um ein Konzept des Menschen geht, das auf Beziehungsweisen zwischen ersten und zweiten Personen und der Verstrickung von Subjektivitäten ineinander beruht. Demgegenüber zielt Foucault auf ein Menschenbild, das dem kolonialen

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Ebd., S. 456. Ebd., S. 454. Young, White Mythologies, S. 110. Michel Foucault, Gespräch mit Madeleine Chapsal, in: ders., »Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 1 (1954–1969)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2001, S. 667. Röhr, Endlichkeit und Dezentrierung, S. 26.

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Erbe Europas entspringt, seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts die europäischen Humanwissenschaften strukturiert und Menschen als arbeitende, lebendige und sprechende Wesen objektiviert.72 Im Anschluss an Röhr kann gesagt werden, dass sowohl Foucault als auch Feuerbach Kritik an der Konstellation des 19. Jahrhunderts üben: Feuerbach, indem er die Sinnlichkeit des Menschen hervorhebt, Foucault in Bezug auf die historischen Prozesse, die ›den Menschen‹ in seiner Endlichkeit übersteigen und im Verlauf von deren Entfaltung ein bestimmtes Verständnis des Menschen zukünftig verschwinden würde wie ein Gesicht im Sand. Feuerbach fokussiert Multiperspektivität und Subjektivitäten, die sich sinnlich anschaulich werden, Foucault setzt, zumindest noch während der 1960er Jahre, alle Hoffnung in den Strukturalismus. Insofern sind seine Ausführungen zum Tod des Menschen als Kritik am marxistischen Humanismus eines Sartre oder an der Phänomenologie Husserls und Merleau-Pontys zu verstehen. Er tut Feuerbach Unrecht, wenn er in einem entsprechenden Interview aus dieser Zeit meint: »Der Mensch des 19. Jahrhunderts ist der in der Menschheit Fleisch gewordene Gott. Es kam gleichsam zu einer Theologisierung des Menschen, einer Rückkehr Gottes auf die Erde, und das bewirkte, dass der Mensch des 19. Jahrhunderts sich gewissermaßen theologisierte. Wenn Feuerbach sagte, man müsse die in den Himmel verlagerten Schätze auf die Erde zurückholen, verlegte er die Schätze, die der Mensch einst Gott zugesprochen hatte, mitten in den Menschen hinein.«73 Diese auf Sartre gemünzte Aussage blendet aus, dass Feuerbach in seinem Hauptwerk analysiert, wie sinnliche Verhältnisse im Monotheismus des Christentums vergegenständlicht werden und damit die Vorstellung eines menschlichen ›Wesens‹, das sei wie Gott, gerade ablehnt. Sowohl Foucault als auch Feuerbach wollen, dass der christliche Mensch verschwindet wie ein Gesicht im Sand, wenn unter diesem ein Individuum verstanden wird, dem seine Arbeit, sein Leben und seine Sprache zum Wesen geworden sind, das sich auf Anderes nur als Gleiches bezieht und das, wie Röhr es formuliert, in einer narzisstischen »Dynamik im gespaltenen Raum des Selben«74 gefangen ist. Foucault untersucht im 20. Jahrhundert die einzelne Individuen überragenden Wissensfelder als Anderes des Menschen, während Feuerbach im 19. Jahrhundert konkrete andere Menschen in den Blick nimmt. Was Foucault in seiner strukturalistisch geprägten Phase als empirisch-transzendentale Dublette ebenso wie Feuerbach als den Subjektivismus seiner Zeit zurückweist,

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Vgl. hierzu auch Foucault, Subjekt und Macht. Ders., Foucault antwortet Sartre, in: ders., »Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 1 (1954–1969)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2001, S. 848. Neben der Arbeitszeit versteht Foucault später die Umwandlung des Körpers in Arbeitskraft als weitere Grundlage des Kapitalismus, sieht jedoch anders als der junge Marx und mit ihm der in der Nachkriegszeit dominierende humanistische Marxismus in der Arbeit nicht das Wesen des Menschen: »Damit die Arbeit als Wesen des Menschen erscheint, bedarf es der Einwirkung einer politischen Macht, die diese Synthese herstellt. […] Macht und Wissen sind also tief in den Produktionsverhältnissen verankert und liegen nicht einfach darüber.« Ders., Die Wahrheit und die juristischen Formen, S. 766f. Röhr, Endlichkeit und Dezentrierung, S. 19.

5. Feuerbachs Anthropologie zwischen Kant und Foucault

ist der moderne Mensch des Abendlands, der sich aus dem kolonialen Erbe Europas heraus erhebt, als transzendentale Bedingung des Wissens auftritt und eine an diese Bedingung geknüpfte empirische Positivität um sich herum anordnet, ihr also sein vermeintliches Wesen aufprägt: »Noch grundlegender dringt das moderne Denken vor in jene Richtung, in der das Andere des Menschen das Gleiche werden muß, das er ist.«75 Demnach ist die moderne Wissensordnung, die er nun weiter und tiefer als in Einführung in Kants Anthropologie (1964) bereits angelegt beschreiben wird, zwischen zwei Polen aufgespannt, nämlich einerseits dem Positivismus (»die Wahrheit des Objekts schreibt die Wahrheit des Diskurses vor, der dessen Bildung beschreibt«76 ) und andererseits der Eschatologie (»die Wahrheit des philosophischen Diskurses konstituiert die Wahrheit während ihrer Formierung«77 ). Eschatologisch verfasst ist demnach auch die marxistische Schule, die aus einem bestimmten Wesen des Menschen, das in ihr durch Arbeit definiert wird, dessen Befreiung aus entfremdeten Verhältnissen ableiten will. Hierzu bemerkt Foucault: »Tatsächlich handelt es sich dabei weniger um eine Alternative als um ein Oszillieren, das jeder Analyse inhärent ist, die das Empirische auf der Ebene des Transzendentalen zur Geltung bringt. […] Der Mensch erscheint darin als eine gleichzeitig reduzierte und verheißene Wahrheit.«78 Im Unterschied zu Foucault ist der Mensch bei Feuerbach weniger ein Problem des Wissens, sondern das Problem konkreter anderer Menschen in ihrer sinnlichen Gewissheit, wobei er in dieser Hinsicht von Foucaults Frage nach historischen Formen a priori abweicht. Feuerbach würde nicht bestreiten, dass gesellschaftliche Verhältnisse, die Menschen von bestimmten Positionen aus miteinander verstricken, geschichtlich geprägt sowie in epistemologischer Hinsicht regional verortet sind und sich das sie Fundierende nicht aus ihnen selbst heraus erklären lässt. Genau das will er unter seiner genetisch-kritischen Methode verstanden wissen und so geht er vor, wenn er Mono- und Polytheismus als Formen des Wunsches analysiert. Ihn interessiert jedoch im Unterschied zu Foucault der sinnliche Bezug einer Subjektivität auf andere Subjektivitäten, den sie nicht auf sich reduzieren kann und der sie dezentriert. Röhr ist deswegen zuzustimmen, wenn er darauf hinweist, dass Foucaults im Rahmen seiner Analytik der Endlichkeit formulierte Kritik Feuerbach nicht wirklich betrifft, da dieser »weder von Totalitätsansprüchen getrieben ist, noch sich der eschatologischen Suche nach einem Ersten oder Letzten verschrieben hat«79 . Feuerbachs Mensch ist weder auf eine »konstitutive Subjektivität noch auf eine umfassende Ordnung zurückzuführen«80 , sondern meint viele Menschen. Während für Foucault in der Klassik das Sein noch in einem bruchlosen, kontinuierlichen Repräsentationsraum enthalten war, erscheint der Mensch ihm zufolge in Europa

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Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 396. Ebd., S. 386. Ebd. In diesem Zusammenhang lässt sich mit Löwith auf Kolonialgeschichte verweisen: »Dem Kompaß vergleichbar, der uns im Raum Orientierung gibt und uns befähigt, ihn zu erobern, gibt der eschatologische Kompaß Orientierung in der Zeit, indem er auf das Reich Gottes als letztes Ziel und Ende hinweist.« Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S. 29. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 386f. Röhr, Endlichkeit und Dezentrierung, S. 140. Ebd., S. 199.

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

zeitgleich »mit seiner nicht eindeutigen Position als Objekt für ein Wissen und als Subjekt, das erkennt«81 , womit sich mit ihm eine Kluft zwischen den Dingen und der Ordnung der Wörter auftut: »Man kann zu ihm nur Zugang durch seine Wörter, seinen Organismus, die von ihm hergestellten Gegenstände haben«82 , denn »wo der Ort der Analyse nicht mehr die Repräsentation, sondern der Mensch in seiner Endlichkeit ist, handelt es sich darum, die Bedingungen der Erkenntnis ausgehend von den empirischen, in ihr gegebenen Inhalten an den Tag zu bringen«83 . Damit thematisiert er schon früh, wenn auch nur sehr indirekt, das koloniale Erbe Europas. Foucault fokussiert Ordnungssysteme, die ein modernes Bild des Menschen fundieren: »Vor dem Ende des 18. Jahrhunderts existierte der Mensch nicht. Er existierte ebenso wenig wie die Kraft des Lebens, die Fruchtbarkeit der Arbeit oder die historische Mächtigkeit der Sprache.«84 Laut Foucault sind der abendländische Mensch und das Ungedachte ›Zeitgenossen‹. Das Ungedachte als das »brüderliche Andere«85 wird von ihm hinsichtlich der modernen episteme aber nicht an konkreten anderen Menschen festgemacht, sondern an europäischen Texten der von ihm untersuchten Zeit. Seine Ausführungen beziehen sich auf eine Wissensordnung, die um 1800 in der Provinz von Europa entsteht und von dort aus in andere Länder exportiert wird: »Das ganze moderne Denken ist von dem Gesetz durchdrungen, das Ungedachte zu denken, in der Form des Für sich die Inhalte des An sich zu reflektieren, den Menschen aus der Entfremdung zu befreien […], indem man ihn mit seinem eigenen Wesen versöhnt […].«86 Diese Versöhnung mit dem eigenen Wesen bezieht sich, obwohl Foucault das nur beiläufig markiert, auf den aus der modernen Kolonialgeschichte hervorgegangenen weißen Menschen, der mit dem Ende des klassischen Zeitalters Subjekt und Objekt von Ökonomie, Biologie und Sprachwissenschaft wird. Als historische Prozesse übersteigen Arbeit, Leben und Sprache einzelne, endliche Subjektivitäten, von denen nur die Rede sein kann vor einem Hintergrund, der von Macht- und Wissensverhältnissen gebildet wird, nach denen sie sich gliedern, da sie sich »nach dem bereits Begonnen der Arbeit, des Lebens und der Sprache artikulieren«87 . Subjektivität, in der Feuerbach zufolge die menschliche Gattung zerstreut ist, stellt Foucault erst mit seinen Vorlesungen zur Hermeneutik des Subjekts von 1981/82 und seinem Aufsatz Das Subjekt und die Macht (1982) in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Bis dahin interessieren ihn vor allem die historischen Formationen, die den modernen Menschen des Abendlandes um 1800 hervorbringen. Als empirisch-transzendententale Dublette findet sich dieser Mensch nicht, indem er sinnlich empfänglich wird, sondern indem er versucht, sich in den Prozessen von Arbeit, Leben und Sprache, die ihn Wynter zufolge als ›Man(2)‹ in der Provinz von Europa haben entstehen lassen, wiederzuerkennen, insofern er sie sowohl zum Ursprung als auch zum Ziel einer monohumanistischen Geschichte macht.88 81 82 83 84 85 86 87 88

Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 377. Ebd., S. 378f. Ebd., S. 385. Ebd., S. 373. Ebd., S. 394. Ebd. Ebd., S. 398 Vgl. hierzu exemplarisch Wynter, The Ceremony Found.

5. Feuerbachs Anthropologie zwischen Kant und Foucault

Während dem Menschen in den Wissensordnungen der Renaissance und Klassik keine prominente Stelle zukam, da sie entweder vermittels Ähnlichkeitsbeziehungen oder anhand repräsentativer tableaux eine Ordnung stifteten, die unabhängig von ihm existierte, sind es nun seine Endlichkeit und deren Eingelassensein in Geschichte, die zum Problem werden. Foucault scheint über Hegels Phänomenologie des Geistes (1807) zu sprechen, wenn er die Analytik der Endlichkeit vom klassischen Ordnungssystem abgrenzt und meint, sie müsse fortan zeigen, »daß dieser Ursprung, dessen Zeitgenosse der Mensch nie ist, ihm gleichzeitig entzogen und auf die Weise des unmittelbaren Bevorstehens gegeben wird. Kurz gesagt, es handelt sich immer für sie darum zu zeigen, wie das Andere, das Ferne, ebenso wohl das Nächste und das Gleiche ist. So ist man von einer Reflexion über die Ordnung der Unterschiede (mit der Analyse, die sie voraussetzt und jener Ontologie des Kontinuums, jener Forderung eines vollen, bruchlosen, in seiner Perfektion entfalteten Seins, die eine Metaphysik voraussetzen) zu einem Denken des Gleichen übergegangen, das stets seinem Gegenteil abzugewinnen ist: das impliziert […] eine Dialektik und jene Form von Ontologie, die, weil sie des Kontinuums nicht bedarf, weil sie das Sein nur in seinen begrenzten Formen oder in der Entfernung seines Abstands zu reflektieren hat, auf eine Metaphysik verzichten kann und muß. Ein dialektisches Spiel und eine Ontologie ohne Metaphysik verlangen nacheinander und entsprechen einander durch das moderne Denken hindurch und während seiner ganzen Geschichte. Denn es ist ein Denken, das nicht mehr zu der niemals beendeten Bildung des Unterschieds verläuft, sondern zu der stets zu vollziehenden Enthüllung des Gleichen. Nun verläuft eine solche Enthüllung nicht ohne das gleichzeitige Auftauchen des Doppels und jenes sehr, sehr kleinen, aber unaufhebbaren Abstands, der in dem ›und‹ des Zurückweichens und der Wiederkehr, des Denkens und des Ungedachten, des Empirischen und des Transzendentalen, dessen, was zur Ordnung der Positivität gehört, und dessen, was zur Ordnung der Grundlagen gehört, ruht. Die von sich selbst in einem in bestimmtem Sinn ihr innerlichen Abstand, der sie aber in einem anderen Sinne erst bildet, getrennte Identität, und die Wiederholung, die das Identische, wenn auch in der Form der Entfernung gibt, sind zweifellos im Zentrum dieses modernen Denkens befindlich, dem man die Entdeckung der Zeit schnell zuschreibt.«89 An dieser Stelle stehen sich Foucault und Feuerbach trotz aller Differenzen nah. Beide wollen von der Aufhebung des Anderen im Selben wegkommen. Im Unterschied zu Foucault glaubt Feuerbach jedoch in der Sinnlichkeit des Menschen eine ›Philosophie der Zukunft‹ gefunden zu haben, während Foucault, trotz des im Sand verschwindenden Gesichts gegen Ende von Die Ordnung der Dinge (1966), nicht über die moderne episteme hinausgeht: »Wir denken an diesem Ort.«90 So spielen Menschen bei ihm eine andere Rolle als rund ein Jahrhundert zuvor bei Feuerbach und in der gegenwärtigen Situation des postkolonialen Anthropozäns.

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Ebd., S. 409. Nancy liest Hegel wohlwollender als Foucault. Vgl. ders., Hegel – Die spekulative Anmerkung. Die Unruhe des Negativen, Berlin und Zürich: diaphanes, 2011. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 461.

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Fünfte Szene des Menschen Abou Bakar Sidibés Les Sauteurs. Those Who Jump (2016)

Obwohl es in Al Qadiris Behind the Sun (2013) und in Kötters und Beckers Chinafrika.mobile (2017) auch um die Begegnung von Subjektivitäten und deren Multiperspektivität in einer ›globalen Welt‹ geht, zeigen sich konkrete andere Menschen in dem Film Les Sauteurs. Those Who Jump (2016) von Moritz Siebert, Estephan Wagner und Abou Bakar Sidibé auf besondere Weise.1 Entstanden ist das Werk aus einer workshopähnlichen Situation heraus, in deren Rahmen Sidibé, dessen Fluchtversuch über Nordafrika von Mali nach Europa an den meterhohen Grenzzäunen vor der spanischen Enklave Melilla bei Marokko gescheitert war, von Siebert und Wagner eine HD-Kamera übergeben und er darum gebeten wird, sein Leben und das seiner Mitstreiter zu dokumentieren. Zum Zeitpunkt seiner Begegnung mit dem deutsch-dänischen Regie-Duo in Marokko hält sich Sidibé schon über ein Jahr lang in einem Camp auf dem Berg Gourougou im Wald nahe der europäischen Grenze auf und hat bereits zahlreiche erfolglose Versuche unternommen, in die Europäische Union zu gelangen. Nach nur wenigen Vorschlägen zum Format vonseiten Sieberts und Wagners, über die Sidibé schon bald weit hinausgeht, indem er eigenständige ästhetische Entscheidungen trifft, liegt es nun an ihm, der im Vorspann des Films deshalb als Ko-Regisseur statt als Kameramann genannt wird, Szenen seines Alltags und seinen Kontakt zu anderen in dieser Notlage digital festzuhalten. Direkt nach dem Vorspann (00:21) sehen wir jedoch zunächst die Bilder verschiedener Nachtsichtkameras, die eine hügelige Landschaft und am Ende Gebäudefassaden abtasten. Bald tauchen in einem Textfeld am unteren Bildrand technische Kürzel auf, die darauf hinweisen, dass die Kamera wahrscheinlich nicht von Menschenhand gesteuert 1

Im Inhaltsverzeichnis, in der Kapitelüberschrift sowie den Bildunterschriften dieser Detailstudie wird nur Sidibé als Autor genannt, da er es war, der die Aufnahmen zu Les Sauteurs (2016) ohne Skript und genaue Regieanweisungen angefertigt hat. Zwar wurde das Projekt nicht von ihm, sondern von Siebert und Wagner initiiert, er war aber auch am Schnitt und den Entscheidungen bezüglich der Off-Texte beteiligt, die in der Postproduktion hinzugekommen sind, deshalb sei sein Name hier besonders hervorgehoben. Alle folgenden Timecode-Angaben und Zitate beziehen sich auf die deutsch untertitelte Fassung des Films, der 2016 in Anwesenheit aller drei Autoren im Rahmen der Reihe Forum Expanded auf der Berlinale seine Premiere feierte. Die wörtlichen Zitate sind den deutschen Untertiteln entnommen.

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wird, sondern von einem Computer, der darauf programmiert wurde, anhand bestimmter Parameter auf verschiedene Informationen in den übertragenen Daten zu reagieren. Hier und dort scheinen sich Punkte zu bewegen, wahrscheinlich Menschen, die in der Ferne von den Kameras erfasst werden. Wir lesen »GAIN: 11«, dann »FOV: NV« und schließlich »FOV: SNFOV«, bevor wir uns nach einem harten Schnitt plötzlich in einer anderen Szenerie befinden, nämlich bei Sidibé und seinen Gefährten, die sich irgendwo versteckt haben müssen (01:17). Noch immer ist es Nacht, sodass der Eindruck entsteht, wir würden nun wie nach einem Seitenwechsel aus einer anderen Perspektive auf dieselben Ereignisse blicken, nämlich von den Punkten im Bildfeld der Überwachungskameras aus. Vom Grenzregime Europas sind wir nach Nordafrika zu Menschen gewechselt, die aktuell von europäischen Abschottungsmaßnahmen betroffen sind. Das Bildmaterial der auf Körperwärme reagierenden Nachtsichtkameras war schwarzweiß. Sofort fällt auf, dass die Auflösung und Qualität der Bilder, die Sidibé mit seiner HD-Kamera produziert, nicht nur hinsichtlich der Anzahl einzelner Pixel und ihrer gesättigten Farbe die zuvor gezeigten Aufnahmen verblassen lassen. Ebenfalls im Unterschied zu den Überwachungskameras fängt Sidibés HD-Gerät eine Atmosphäre ein, wozu auch das interne Mikrofon beiträgt. Im Hintergrund ist das Zirpen von Grillen zu hören. Kurze Sequenzen unterschiedlicher Länge sind an dieser Stelle gemeinsam von Siebert, Wagner und Sidibé miteinander montiert worden. Hinter Büschen sehen wir einen klaren Sternenhimmel, dann von oben erst ein paar All Stars-Schuhe, danach die in ausgewaschenen Bluejeans steckenden Beine einer zweiten Person sowie Laubwerk, Unterholz und aufragende Kakteen. Das HD-Gerät schwenkt von links nach rechts und wieder zurück. Der Kontrast dieser Bilder zu jenen der spanischen Guardia Civil und der Eindruck einer subjektiv situierten Perspektive, die sich mit Mignolo unter körperpolitischen Gesichtspunkten verstehen lässt (›Ich bin, von wo aus ich denke‹2 ), werden durch die teilweise ruckartigen Bewegungen, die sie durchziehen, noch verstärkt (ab 01:30). »Hast du Angst?« fragt eine Stimme (02:06) und eine zweite Person fragt zurück, ob die erste Person ihrerseits Angst habe. Die Antwort lautet Ja. Jetzt tauchen kurz Arme im Bild auf, dann sehen wir zum ersten Mal ein Gesicht (02:20). Langsam wird es hell. Die beiden Männer haben bei Nacht das Grenzgebiet beobachtet, das auch die Kameras der Guardia Civil bereits abgetastet hatten. Unter Holzstümpfen hindurch kriechen sie aus ihrer Warte heraus. Haben wir bisher alles aus Sicht desjenigen gesehen, der zu Beginn die Bluejeans der anderen Person filmte, wechselt bei Minute 03:05 zum ersten Mal kurz die Perspektive. Die Kamera muss übergeben worden sein, denn nun sehen wir einen in Schwarz gekleideten Mann, der sich später als Sidibé herausstellen wird, wie er sich seinen Weg durchs Unterholz bahnt, wobei die Kamera sofort erneut übergeben wird, diesmal ohne währenddessen ausgeschaltet zu werden und ohne Schnitt (03:12).

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Vgl. Mignolo, The Darker Side of Western Modernity sowie ders., Epistemischer Ungehorsam.

Fünfte Szene des Menschen

Abb. 59-61: Abou Bakar Sidibés Les Sauteurs. Those Who Jump, Film still, 2016 (mit freundlicher Genehmigung der Künstler)

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Dies passiert wenig später nochmals, da die beiden Männer dann einen größeren Felsen erklimmen, wofür sie jeweils beide Hände benötigen (03:30). Bereits in den ersten Minuten von Les Sauteurs (2016) werden geradezu haptische Perspektiven etabliert, die sich im Hinblick auf in sinnliche Verhältnisse verstrickte Subjektivitäten lesen lassen. Als mehrere Subjektivitäten miteinander verschränkende stehen die hochaufgelösten Bilder, die der Film konstelliert, einer grobkörnigen Panoramasicht auf die Dinge gegenüber, die sich vermittels der das Grenzgebiet observierenden Kameras und des Vorgehens sowohl der marokkanischen als auch der spanischen Polizei manifestiert. Das in seiner Verfahrensweise an den ethnografischen Film und die visuelle Anthropologie angelehnte Werk zeigt die Geschehnisse vor allem aus Sicht der Geflüchteten, die es zu handelnden Subjekten macht, anstatt sie – wie in der massenmedialen Berichterstattung über Flucht und Migration üblich – zu Objekten eines Diskurses über sie zu degradieren, an dem sie nicht teilhaben.3 Die ästhetische Qualität von Les Sauteurs (2016) besteht darin, entlang unterschiedlicher Blickachsen subjektive Perspektiven qua filmischer Montage aufeinander zu beziehen und die überwiegend in den Nationen Europas situierten Rezipient*innen des Films darin einzubeziehen. Obwohl Sidibé im Verlauf der Postproduktion erklärte, schon während der Aufnahmen habe er gehofft, dass die Arbeit auch in afrikanischen Kontexten und für ein Schwarzes Publikum gezeigt werden könnte, da seine Bilder an ein solches adressiert seien, war sie bisher meistens auf europäischen Festivals und dort überwiegend für weiße Zuschauer*innen zu sehen. Jetzt filmt Sidibé wieder, und vor einer Fortsetzung des Vorspanns und weiteren Titeln (03:50) sehen wir kurz eine Landschaft, welche sich als diejenige herausstellt, die zu Beginn aus Sicht der computergesteuerten Überwachungskameras gezeigt wurde. Der nächste Teil des Films führt uns in ein provisorisch errichtetes Lager im Wald nahe des Grenzzauns (04:08). Das gemeinsame Werk des Trios aus Siebert, Wagner und Sidibé verbirgt seine technischen Mittel nicht, während es eine dezentrierte Subjektivität produziert. Im Gegenteil legt es sie offen: Eingeleitet durch ein Piepen, wie es typisch für das Betätigen der Aufnahmetaste digitaler Kameras ist, sehen wir nun sitzende Personen, die sich auf Decken und Plastikplanen niedergelassen haben. In den Bäumen hängt zum Trocknen aufgehängte Wäsche. Hier und dort sind provisorische Zelte errichtet worden. »Ich fange an«, sagt Sidibé. »Ja, leg los«, antwortet ein anderer. Die Kamera wackelt. Sidibé: »Ich filme einfach die Leute. Auch wenn es nichts zu sehen gibt.« Aber es gibt sehr viel zu sehen. Nicht nur die elenden Bedingungen, unter denen die aus verschiedenen subsaharischen Ländern Afrikas Geflüchteten verharren, in der Hoffnung, ihr nächster Versuch eines Grenzdurchbruchs nach Melilla möge gelingen. Jetzt geht Sidibé im Lager umher und filmt seine Freunde, die währenddessen versuchen, unter diesen Umständen so etwas wie eine Ordnung zu improvisieren und aufrechtzuerhalten. Einer repariert einen Messbecher (04:42) und schimpft auf die marokkanische Polizei, die das Gefäß bei ihrer letzten Auflösung des Zeltcamps beschädigt habe, ein anderer sitzt vor einer Feuerstelle, kocht und fragt Sidibé, was er mit der Kamera vorhabe. »Einen

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Vgl. hierzu exemplarisch Julia Bee, Gefüge des Zuschauens. Begehren, Macht und Differenz in Film- und Fernsehwahrnehmung, Bielefeld: transcript, 2018 und Bina Elisabeth Mohn, Kamera-Ethnographie. Ethnographische Forschung im Modus des Zeigens. Programmatik und Praxis, Bielefeld: transcript, 2019.

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Film machen«, antwortet dieser (05:08). Der andere Mann bittet darum, einem gewissen Baba die Kamera zu übergeben, damit er filmen könne. Wieder bleibt sie nicht nur in wenigen Händen, sondern zirkuliert in der Gruppe. Obwohl die Bildmontage außerhalb der Szene stattfindet und auktorial geregelt ist, basiert Les Sauteurs (2016) auf den Subjektivierungsweisen mehrerer Menschen bezüglich einer Situation, in die sie unterschiedlich verwickelt sind. Erneut taucht Sidibé, der im Unterschied zu seinen ebenfalls filmenden Mitstreiter später Ko-Regisseur des Films sein wird, im Bild auf (05:35). Baba, der das HD-Gerät nun bedient, sagt, hier sei Abou zu sehen, der ›zukünftige Afrikaner in Europa‹. »Bald gehe ich nach Europa«, antwortet Sidibé und weist Baba darauf hin, dass er vom Zoom keinen Gebrauch machen solle – wahrscheinlich einer Bitte Sieberts und Wagners folgend. Bei Minute 06:20 wechselt die Szenerie. Die Männer scheinen sich wieder auf den Weg zum Grenzzaun zu begeben. Im Gehen filmt die HD-Kamera von hinten Füße, die über einen unebenen, steinigen Boden laufen und eine hochgekrempelte Jeanshose, wobei der Schatten des Kameramanns ebenfalls im Bild auftaucht. Nach einem weiteren Schnitt (06:41) sehen wir mehrere Männer auf großen Felsen sitzen und über die Lage beraten. »Auf der spanischen Seite gibt es eine neue Nachtsicht-Kamera«, meint einer. Wir sehen wenige Gebäude vor einer Bucht und dann, während nach links geschwenkt wird, eine kleine Wohnsiedlung. »Es ist egal, wo du an den Zaun gehst: Sie sehen dich«, ruft ein anderer aus. Zu hören sind die Turbinen eines Passagierflugzeugs, das kurz darauf auch im Bild auftaucht, und einer der Männer äußert den Wunsch, dass es in den Zaun stürzen möge, damit ein Durchkommen möglich sei. Allgemein trauriges Gelächter, während die Kamera langsam der fernen Maschine am Himmel folgt. Die Männer begeben sich auf ihren Weg zurück ins Lager (08:05). Aus dem Off erklärt Sidibé, dass er seit 15 Monaten auf dem Berg Gourougou lebe und sich nicht erinnern könne, wie oft er schon über den Zaun gesprungen sei im Versuch, die Grenze zwischen Marokko und Spanien zu überwinden. Die HD-Kamera filmt wieder aus subjektiver Perspektive von oben nach unten, während er geht, sodass nur eine kurze Hose in Camouflagemuster und Sportschuhe zu sehen sind. Vor einem Monat sei er Siebert und Wagner begegnet, die ihn gefragt hätten, ob er einen Film über sein Leben hier zwischen den Bäumen im Wald machen wolle. Sie hätten ihm eine Digitalkamera und Geld gegeben, damit er das Gerät nicht gleich wieder verkaufe, doch er hätte sowieso dokumentieren wollen, was hier geschehe. Wieder ein Schnitt (09:05). Danach sehen wir, wie die Männer an einem öffentlichen Toilettenhäuschen große Flaschen mit Wasser füllen, um sich damit nahe des Zeltcamps zu waschen. Nachdem wir sie des Nachts um ein Lagerfeuer herum sitzen gesehen haben, werden ab Minute 11:48 wieder Bilder von Nachtsichtkameras zwischen die Aufnahmen der Geflüchteten geschnitten, bevor wir uns erneut bei ihnen im Lager befinden (13:00) und sehen, wie sie ihren Alltag dort organisieren, Lebensmittel untereinander verteilen, Musik hören, singen und in kleinen Gruppen zwischen den Bäumen Fußball spielen.

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Abb. 62-64: Abou Bakar Sidibés Les Sauteurs. Those Who Jump, Film still, 2016 (mit freundlicher Genehmigung der Künstler)

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Ein Rudel streunender Hunde lebt dort zusammen mit ihnen und wird mit Wasser und Essensresten versorgt. Wir sehen wieder Melilla vom Hügel aus (16:28). Sidibé erklärt aus dem Off, dass die Stadt seine große Liebe sei, da sie für ihn Europa auf afrikanischem Boden darstelle: »Jeden Tag sehe ich meine Zukunft vor mir. Doch kriege ich sie nicht zu fassen.« Langsam tastet die Kamera das Panorama Melillas ab, bevor sie andere Männer zeigt, die auf den Felsen sitzen und sich fragen, was sie in Europa erwarten wird: ob sie dort Arbeit und eine Frau finden können. »Man sagt, schon kurz nach Ankunft wird deine Haut heller«, meint einer und fügt im Spaß hinzu, in Europa gäbe es eine Seife, »die alles abwäscht«.4 Mit Bhabha ließe sich hier von kolonialer Mimikry sprechen, die allerdings in diesem Fall nicht nur das nachgeahmte Objekt (Europa als historischen Kolonisator), sondern auch die eigene Position selbstironisch einfärbt.5 Bei Minute 18:51 ist die Aufnahme eines verschwommenen Sonnenuntergangs hinter scharf gestelltem Blätterwerk zu sehen. Sidibé scheint ein Gespür für das ihm zur Verfügung gestellte Aufnahmegerät zu haben, filmt trotz seiner prekären Lage und dringend zu lösender Probleme diesen Moment und erinnert dabei an eine postkoloniale Version von Gabriel Gauny, eine von dem französischen Philosophen Jacques Rancière oft erwähnte Figur des europäischen Arbeitertraums aus dem 19. Jahrhundert.6 Nachdem kurz auf die Sonne fokussiert wurde und das Gestrüpp in den Hintergrund getreten ist, verfolgen wir den erneuten Versuch eines Grenzübertritts (19:12). Mehrere Männer bewegen sich des Nachts auf den Zaun zu, während Sidibé deren Nervosität filmisch einfängt. Plötzlich wieder die Bilder von Nachtsichtkameras aus spanischer Perspektive (20:14). Zu sehen sind nun zwei lange Reihen sich schemenhaft abzeichnender Menschen, die sich über Bergpfade hinweg ihren Weg nach unten zum Zaun bahnen. Den zahlreichen Bildpunkten zufolge müssen viele Dutzend an der Aktion beteiligt sein. Jetzt Aufnahmen direkt vom Zaun, der aus drei hintereinander errichteten, meterhohen Reihen besteht, auf welche die Menge zustürmt und die sie erklimmt. Allerdings warten auf der anderen Seite martialisch gekleidete Polizisten der Guardia Civil. Wieder ein Schnitt, danach ein Verband, der einem Verletzten an einer blutenden Kopfwunde angelegt wird (21:28). Darauf ein anderer mit einem verletzten Fuß, der in Mullbinden eingewickelt ist. Der Versuch des Grenzübertritts ist gescheitert. Während wir so etwas wie einen notgedrungenen Alltag im Grenzcamp einkehren sehen, erklärt Sidibé aus dem Off, er habe seine Reise in Richtung Norden mit nur 40 Euro in der Tasche angetreten (24:43). Während es seinem Bruder vor einem Jahr gelungen sei, Spanien zu erreichen, sitze er seitdem hier fest und komme nicht weiter. Danach filmt er erst sich, bevor er die Kamera einem Freund übergibt, während die beiden in einer nahegelegenen Ortschaft in Mülltonnen nach Lebensmitteln suchen, die sich noch verwenden lassen.

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Das Motiv der Seife lässt an die Zerrissenheit der afrodeutschen Autorin May Ayim denken, die als Kind Seife gegessen hatte, um dadurch ›weiß‹ zu werden. Sie beging im Alter von 36 Jahren Suizid. Vgl. exemplarisch dies., Grenzenlos und unverschämt, Berlin: Orlanda Frauenverlag, 1997. Vgl. hierzu Homi K. Bhabha, Von Mimikry und Menschen: Die Ambivalenz des kolonialen Diskurses, in: ders., »Die Verortung der Kultur«, Tübingen: Stauffenburg Verlag, 2011. Vgl. Jacques Rancière, Die Nacht der Proletarier. Archive des Arbeitertraums, Wien: Turia + Kant, 2013.

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Abb. 65-67: Abou Bakar Sidibés Les Sauteurs. Those Who Jump, Film still, 2016 (mit freundlicher Genehmigung der Künstler)

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Überall schwirren Fliegen umher, die sich auf dem Essen niedergelassen haben und aufgescheucht werden, wenn die Männer die Plastiktüten mit Gemüseresten dazwischen durchwühlen. Mit ihren Fundstücken kehren sie in den Wald zurück. Wieder ist es Nacht (27:33). »Auf dem Gourougou hat man stets Angst. Angst davor, dass die Polizei das Lager stürmt und alles verbrennt. Angst vor den Schlägen der Polizei, wenn wir über den Zaun springen. Angst davor, nach Europa zu kommen und alles war vergeblich«, erklärt Sidibé aus dem Off, während die HD-Kamera Laubwerk und Zelte im Dunkeln zeigt. Nach einem weiteren Schnitt (28:47) sehen wir Hubschrauber, die über dem Zeltlager kreisen, und hektisch davonstürmende Geflüchtete. Sidibé wird von einem Gefährten gebeten zu filmen, damit die Welt sehe, was hier passiere. Seine Kamerabewegungen sind nun hektisch und verwackelt. Nach jedem Schritt schwankt das Bild. In der Ferne sehen wir marokkanische Polizisten, die sich dem Lager auf demselben Bergweg nähern, auf dem zuvor die Afrikaner von den computergesteuerten Nachtsichtgeräten registriert worden waren. Bald tauchen Rauchschwaden im Hintergrund auf: ein Hinweis darauf, dass die Beamten das Lager zerstört und das wenige Hab und Gut der Geflüchteten in Brand gesetzt haben. Als Sidibé und seine Freunde zurückkehren, sind hier und dort Feuer zu sehen. Sogar Reis und andere Essensvorräte sind den vom marokkanischen Grenzschutz gelegten Feuern zum Opfer gefallen (32:14). Zum Glück finden sich noch ein paar Decken und unter Steinen versteckte Lebensmittel. Ansonsten ist alles vernichtet worden. Die Männer räumen auf, kehren Schutt beiseite, entfernen den überall herumliegenden Plastikmüll, beten. Jetzt ist wieder Nacht (34:44). Während Sidibé die Signallichter eines Passagierflugzeugs am Himmel und dann das nächtliche Melilla filmt, ist seine während der Postproduktion hinzugefügte Stimme aus dem Off zu hören. »Sieht man die Welt durch eine Kamera, nimmt man die Umgebung anders wahr. Ich begann Gefallen zu finden an der Erzeugung von Bildern. Nach und nach entdeckte ich die Schönheit darin. Sie haben einen Sinn für mich. Ich begann, mich mit Bildern auszudrücken. Ich spüre, dass ich existiere, weil ich filme.« Nach einem weiteren Schnitt ist es wieder Tag. Die Männer spielen in größeren Gruppen Fußball (35:55): Elfenbeinküste gegen Mali, heißt es. Gruppenaufnahmen werden angefertigt, dann beginnt die Partie. Aus dem Off erklärt Sidibé ab Minute 37:51, dass die Menschen im Zeltlager sich auch in anderen Angelegenheiten aufgrund ihrer Nationen organisierten, es daneben jedoch Gesetze gäbe, die für alle gälten, nämlich erstens das gegenseitige Versprechen, dass sie es über die Grenze schaffen würden, zweitens, dass jede nationale Gemeinschaft ihre eigene Verwaltung mit Präsidenten und Ministern hätte, welche die Angriffe auf den Zaun organisierten, und drittens, dass es niemandem erlaubt sei, mit der marokkanischen Polizei zu sprechen. Sidibé fährt fort: »Der Gourougou ändert unser Leben. Der Händler war Mechaniker. Der Arzt war Händler. Der Zigarettenhändler war Fußballprofi. Der Koch war Jura-Student.« Obwohl das multiperspektivische Filmmaterial, das in Les Sauteurs (2016) montiert ist, mit den distanzierten Bildern spanischer Wärmebildkameras kontrastiert wird, liegt es an Sidibé, wie er zusammen mit seinen Leidensgenossen einzelne Momente arran-

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giert und festhält. So zeigt er ab Minute 42:29 eine Reihe Schlafender, während seine später hinzugefügte Stimme aus dem Off berichtet, dass er und die anderen auf dem Berg Gourougou jede Nacht träumten und sein schlimmster Albtraum darin bestünde, sich vorzustellen, nach Mali zurückkehren zu müssen. Natürlich würden alle von den Sprüngen und den Schlägen der Polizei träumen. Wieder sind wir tagsüber im Lager (43:18), dann weiter oben bei den Felsen mit Blick auf Melilla. Nachdem der Signalton der Aufnahmetaste der HD-Kamera zu hören war, spielt jemand den Song »I will always love you« von Dolly Parton (43:53) auf seinem Handy ab, während die Kamera die Skyline der Stadt und im Hintergrund ein Kreuzfahrtschiff im dortigen Hafen zeigt. Schweigend lauschen die Männer der Musik und beobachten den Horizont. Zurück im Zeltlager. Es ist Nacht (45:44). Der Boden ist mit Müll bedeckt. Ein Feuer brennt. Schnell wechseln wir zwischen verschiedenen zusammengeschnittenen Szenen hin und her. Im Anschluss sehen wir, wie die Geflüchteten mit Kreide einen Kreis mit einem Herz darin auf den Waldboden streuen, um darüber ein Huhn zu schlachten und mit dessen Blut den Kreis und das Herz nachzuzeichnen (48:30). Eine Eselsmutter spielt im Lager mit ihren Fohlen und rennt dabei zwischen aufgehäuftem Plastikmüll umher (49:07). Dann singt jemand ein Lied, in dem es um die Gründe seines Aufbruchs nach Marokko und eine bessere Zukunft außerhalb des Berges Gourougou geht (49:53). Wieder sind wir mit Sidibé durchs Gestrüpp auf dem Weg zum Aussichtspunkt oben bei den Felsen (51:21). Aus dem Off spricht seine später im Studio aufgenommene Stimme: »Ich habe das Recht, nach Europa zu gehen. Ihr könnt uns nicht alles wegnehmen und uns dann ausschließen.« Die Männer sitzen im Gebüsch und rauchen, bevor sie über Gesteine und Geröll zu den Zelten zurückkehren, wo sie sich darüber austauschen, dass Syrer*innen leichter als sie die EU-Grenzen passieren könnten und der Lagerpräsident keine gute Arbeit leiste, da er immer nur die Angehörigen einzelner Nationen zum Zaun schicke, obwohl insgesamt über 1.000 Leute auf dem Berg wohnten (53:05). In einer späteren Einstellung (55:26) bricht eine Gruppe Männer im Dämmerlicht erneut zum Zaun auf, um ihr Glück, das Sidibé als »Boza«7 bezeichnet und an günstigen Windrichtungen und dem Aufkommen von Nebel festmacht, zu versuchen. Dazwischen die im Auftrag der EU installierten Kameras am Grenzzaun, die jetzt eine Reihe Männer zeigen, die schnellen Schrittes an dessen erster Reihe entlanglaufen (56:39) und in der folgenden Einstellung über sie hinwegklettern (56:55). Schon wieder formieren sich hinter der letzten, dritten Zaunreihe, auf spanischem Territorium, Dutzende schwer bewaffneter Polizisten. Nach einem weiteren Schnitt sehen wir Sidibé, dem ein Handy übergeben wird, mithilfe dessen er die Mutter eines Mitstreiters anruft. Der junge Mann sei gestern Nacht von einem der hohen Zäune gestürzt und dabei ums Leben gekommen. Da sie nicht erreichbar ist, hinterlässt er ihr eine Nachricht (58:18). Die Männer wirken erschöpft und verzweifelt, während sie wie zuvor von oben auf Melilla schauen. Ab Minute 1:01:33 erblicken wir den in Nebel liegenden Gourougou.

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Das Wort ›Boza‹ stammt aus der westafrikanischen Sprache Bambara und bedeutet eigentlich so viel wie ›Sieg‹. Allerdings verwenden es auch andere Migrant*innen aus subsaharischen Ländern, wenn sie auf Erfolg hoffen oder es ihnen gelingt, die abgeschirmten Außengrenzen der EU zu überwinden.

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Abb. 68-70: Abou Bakar Sidibés Les Sauteurs. Those Who Jump, Film still, 2016 (mit freundlicher Genehmigung der Künstler)

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Nach wie vor befinden wir uns auf der Aussichtsplattform bei den Felsen. Weiterhin trauert die Gruppe um ihren verstorbenen Freund. Das Zeltlager liegt in dichtem Nebel (1:03:02). Mehrere Männer gehen nervös auf und ab. Bei Minute 1:04:36, es ist wieder Tag, filmt Sidibé von oben einen am Boden sitzenden anderen Mann, der von weiteren Personen als »Verräter« bezeichnet wird. Er soll mit der marokkanischen Polizei gesprochen und ihr wichtige Informationen zum letzten Versuch der Gruppe, den Grenzzaun zu überwinden, übermittelt haben. Es wird überlegt, wie nun zu verfahren sei. Der eben noch am Boden Sitzende scheint Angst zu haben, während er aus dem Lager herausgeführt und ihm nahegelegt wird, nicht nur den Berg Gourougou, sondern Marokko sofort zu verlassen. Auf Verrat stünden schwere Strafen. Die Männer verabschieden ihn auf einer Landstraße, während Unbeteiligte auf Mopeds vorbeirauschen. Sidibé schwenkt die Kamera zwischen den schnell durcheinander Sprechenden hin und her. Manchen ist es nicht genug, dass der ›Verräter‹ nur gehen soll. Sie wollen ihm physisch zu Leibe rücken, was von anderen verhindert wird. Dann sitzen wir kurz vor einer Decke zwischen den Zelten, auf der mehrere Männer schweigend ein Brettspiel miteinander spielen (1:07:52). Wieder erklimmt Sidibé gemeinsam mit ein paar seiner Gefährten den Beobachtungspunkt, während er beim Gehen über das Geröll am Boden seine eigenen Füße filmt (1:08:21). Die Gruppe überlegt, beim nächsten Grenzübertrittsversuch alle Kräfte zusammenzulegen und sich nicht mehr in nach Nationen getrennte Grüppchen aufzuteilen. So würden die Erfolgschancen enorm erhöht. Sidibé filmt Melilla und das dahinter liegende Mittelmeer, bevor er nach einem weiteren Schnitt (1:09:53) neben einer Person Platz nimmt, die gerade Schuhsohlen mit Metallhaken und größere Metallhaken zum Halten in den Händen präpariert, um so besser die drei Zaunreihen hochkletttern und die Grenze passieren zu können. Während er der Kamera die fertigen Schuhe präsentiert, erklärt einer seiner Mitstreiter (ab 1:11:32): »Das ist unser Boza. Das wird unser Boza. Das ist die Zauberkraft Afrikas. Das ist Kopfarbeit. […] Bis vor Kurzem kletterten wir mit den Händen. Dann wurde der Zaun feinmaschig, also erfanden wir die Haken. Mit den Haken und diesen Schuhen gelangen wir nach Europa. Das ist unser Visum.« Jetzt sind alle fest entschlossen, den nächsten Versuch gemeinsam und mithilfe der Haken zu unternehmen. Nach einer kurzen Einstellung, in der Sidibé von einer anderen Person gefilmt wird, während er außerhalb des Zeltlagers durch den Wald streift und aus dem Off berichtet, dass täglich neue »Brüder« ebenso hoffnungsvoll am Berg Gourougou ankämen wie resigniert von dort weggingen (1:12:33), sind wir schon wieder bei den Zelten. Diesmal will er den Grenzübertritt endlich schaffen. Zurück im Camp hören wir Musik und Gesang. Die Männer machen sich Mut für die nächste Erstürmung des Grenzzauns. Darauf ist es schwarz. Nacht (1:14:12). Von oben wird mit vor Aufregung wackelnder HD-Kamera der Grenzzaun gefilmt. Erneut repräsentiert das Bild eine haptische Perspektive: Beim Betrachten könnten sogar die Zuschauer*innen meinen, sie würden das Grenzgebiet um den Zaun herum in all seinen Details auskundschaften, um den richtigen Moment für das Losstürmen abzupassen. Plötzlich fährt ein Auto vorbei. Schnitt. Seitenwechsel.

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Abb. 71-73: Abou Bakar Sidibés Les Sauteurs. Those Who Jump, Film still, 2016 (mit freundlicher Genehmigung der Künstler)

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Die Nachtsichtkameras der spanischen Guardia Civil (1:15:17). Ihre Aufnahmen zeigen einen Pulk an Bildpunkten, zu dem aus langen Reihen weitere hinzuströmen. Eine Perspektive direkt auf den Bereich zwischen den drei Zaunreihen (1:16:26), wo jetzt eine Menge an Menschen zunächst die erste, dann die zweite und schließlich die dritte erklimmt. Die Polizei scheint diesmal nicht schnell genug vor Ort einzutreffen. Am Ende von Les Sauteurs (2016) befinden wir uns auf der anderen Seite der Grenze, in Melilla, in Spanien, auf EU-Territorium, im Schengenraum. Wer hier ankommt, hat das Recht, einen Antrag auf Asyl zu stellen und darf nicht des Landes verwiesen werden, ehe ein Gericht darüber befunden hat. Ob die Männer es schaffen werden, ist noch immer nicht entschieden, aber zumindest haben sie nun Anrecht auf ein Verfahren nach europäischem Recht. Sie jubeln vor Freude, fallen vor der Kamera nieder. Auch Sidibé taucht irgendwann im Bild auf (1:17:14), was den Zuschauer*innen klarmacht, dass nicht er, sondern ein anderer während der letzten Sequenzen die Kamera geführt hat. Er wirkt müde und erschöpft. Er weint. Dann ist der Film bei Minute 1:18:22 zu Ende und der Abspann setzt ein. Gewidmet ist das Werk Mustapha Togola, der beim Versuch von den Zäunen zu springen, gestorben war. Um den Menschen als Subjektivierungsweise im Sinne Feuerbachs im Unterschied zur weißen Subjektform, die der Gewaltgeschichte des Kolonialismus zugrunde liegt und bis heute im postkolonialen Anthropozän fortwirkt, geht es in Les Sauteurs (2016) in mehrerlei Hinsicht. Zunächst, weil im Verlauf der knapp 80-minütigen Laufzeit des von arsenal. institut für film und videokunst e.V. in Deutschland für den Kinoverleih vertriebenen und von The Danish Film Institute finanzierten Films Verstrickungen deutlich werden, die nicht nur das Elend betreffen, in dem sich manche Menschen befinden, sondern auch das größtenteils europäische Publikum auf immersive Weise mit einbeziehen und auf andere Positionen hin subjektivieren, ohne dabei moralisch zu sein. Zusätzlich aber auch, weil durch die zwischen das dokumentarische Material geschnittenen Sequenzen der Nachtsichtkameras ›Objektivität‹ in ihrer Ausschlusslogik sichtbar wird. Der Blick der Wärmebildkameras verdinglicht die Körper der Geflüchteten. Mit Dyer ließe sich sagen, er stelle die »technical-epistemological configuration«8 eines weißen Raumes totaler Sichtbarkeit dar, denn seine Bilder »are shot through with the assumptions that it is possible to see the world as transparent and that light comes from above«9 . Demgegenüber produzieren Sidibé und seine Freunde keine verwackelten Handyvideos, welche, so Steyerl in Die Farbe der Wahrheit. Dokumentationen im Kunstfeld (2008), durch Unschärfe Anspruch auf Authentizität erheben könnten,10 sondern zunehmend technisch versierte, hochaufgelöste und durchkomponierte Bilder, deren ästhetische Qualität die der Überwachungskameras in den Schatten stellt. Anders als in Kötters und Beckers Chinafrika.mobile (2017) stellt sich bezüglich Les Sauteurs (2016) nicht die Frage nach

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Vgl. Dyer, White, S. 110. Ebd. Dyers verschiedene Medienanalysen beinhaltende Untersuchungen erscheinen in einem anderen Licht, wenn auch das europäische Grenzregime als ein weißes Sichtbarkeitsregime begriffen wird, in dem Hautfarben und Blickverhältnisse miteinander korreliert sind: »Whites are the one particular group that can take up the non-particular position of ordinariness, the position that claims to speak for and embody the commonality of humanity.« Ebd., S. 222f. Vgl. Hito Steyerl, Die Farbe der Wahrheit. Dokumentationen im Kunstfeld, Wien: Turia + Kant, 2015.

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dem Wahrheitsstatus von Dokumenten. Worum es hier in erster Linie geht, sind konkrete Menschen und deren innerhalb Europas unsichtbar gemachte Perspektiven. »Klimawandel kann ein Grund zur Flucht sein, obwohl die Geflüchteten keinen Nachweis erbringen können, von der Sonne individuell verfolgt zu werden«11 , heißt es an einer Stelle in Charlotte Wiedemanns Der lange Abschied von der weißen Dominanz (2019). Ngũgĩ wa Thiong’o wiederum hält in Afrika sichtbar machen. Essays über Dekolonisierung und Globalisierung (2016) fest: »Auch Umweltverbrechen, zumeist von den Industrienationen begangen – die Vergiftung des Wassers, die Verschmutzung der Luft, die globale Erwärmung, die Produktion und Verbreitung nuklearen Abfalls – sind Verbrechen an der Menschheit und der Menschlichkeit.«12 Über die Gründe der jungen Männer für ihre Flucht erfahren wir im Film nichts. Sidibé stammt aus Mali, einem westafrikanischen Land, das unter einer durch die aktuelle Klimakrise bedingten Dürre und Wüstenbildung leidet und in dem sich dadurch hervorgerufene Konflikte entladen. Während sich die Welt eines großen Teils des Publikums von Les Sauteurs (2016) allein in dem objektivierenden Blick spanischer Kameras und anhand der Brutalität des im Auftrag der Europäischen Union handelnden marokkanischen Grenzschutzes sowie auf spanischer Seite der Guardia Civil zeigt, sehen die Zuschauer*innen für die Dauer des Films die Welt aus den Augen der noch vor den kontinentalen Grenzen Europas gestrandeten Männer am Berg Gourougou, deren Position sie dennoch nicht einnehmen können. Dabei arbeitet der Film mit etwas, das sich als Technik der Einfühlung bezeichnen lässt, ohne didaktisch oder sentimental zu sein. Es wäre nicht treffend, die das Bild produzierenden Menschen mit Spivak als Subalterne zu verstehen. Nach der Übergabe einer HD-Kamera durch das deutsch-dänische Filmteam an sie sind die Akteure des Films durchaus in der Lage, zumindest filmisch im Sinne der von Deleuze und Foucault in Die Intellektuellen und die Macht (1972) erhobenen Forderung für sich selbst zu sprechen.13 Genau hierum geht es: ein filming back oder – mit Natasha A. Kelly formuliert – ein »Gegenblicken«14 , das den Blick der Zuschauer*innen dezentriert. »Dekolonialität entsteht demnach nicht aus moralischen Gründen, sondern aus dem Verlangen, ein Mensch zu werden«15 , schreibt Kelly. In der Tat lässt sich Les Sauteurs (2016) als zutiefst ›menschlicher‹ Film bezeichnen, eine Formulierung, die auch der für seine Misanthropie bekannte Filmemacher Joshua Oppenheimer gewählt hat, um das Werk seiner Kollegen zu beschreiben. Bezüglich der Frage nach sinnlichen Verhältnissen und Subjektivierungsweisen ist, unabhängig vom im Bild Gezeigten, die workshopähnliche Situation, aus der heraus Les Sauteurs (2016) entstanden ist, von Bedeutung. Anfangs ist sich Sidibé unsicher. 11 12 13 14 15

Charlotte Wiedemann, Der lange Abschied von der weißen Dominanz, München: dtv, 2019, S. 194. Ngũgĩ wa Thiong’o, Afrika sichtbar machen. Essays über Dekolonisierung und Globalisierung, Münster: Unrast, 2019, S. 102. Vgl. Michel Foucault und Gilles Deleuze, Die Intellektuellen und die Macht, in: Michel Foucault, »Von der Subversion des Wissens«, München: Hanser, 1974. Kelly, Afrokultur, S. 147. Ebd., S. 93.

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Dann entwickelt er jedoch ein Gespür für unterschiedliche Framings, experimentiert mit Brennweiten, der Verschiebung von Vorder- und Hintergrund, Nah- und Fernaufnahmen und so weiter. Er arrangiert Settings, die seine Situiertheit mit der anderer verschränken. Das empathische Verhältnis, das er dabei zu den Betrachter*innen der von ihm festgehaltenen Bilder etabliert, beruht zwar nicht auf einem »oppositionellen Blick«16 , wie hooks ihn beschreibt, lässt ihn und seine Mitstreiter jedoch in den besten Momenten des Films nicht als ›Geflüchtete‹ erscheinen, sondern als Bewohner einer sinnlich geteilten Welt. Obwohl wir die Subjektivität anderer nicht annehmen können, nähern wir uns ihr im Verlauf des Films an und problematisieren dadurch unsere Perspektive und den mit ihr verbundenen Ort.17 In dieser Hinsicht kann Les Sauteurs (2016) komplementär zu Sun & Sea (2017) gelesen werden, dem die erste Detailstudie der vorliegenden Arbeit gewidmet war. Was hier für alle Beteiligten produziert wird, ist eine auf der Beziehung zwischen Personen beruhende Form von Subjektivität, die sich im Sinne Löwiths gegenüber Mitmenschen öffnet, indem sie sich ihnen sinnlich annähert. Weil Les Sauteurs (2016) diejenigen Menschen, die für das europäische Grenzregime Objekte sind, zu Subjekten macht, gelingt es dem Film, ins Spiel zu bringen, was im Rahmen dieser Arbeit als Pluriversalismus der Sinnlichkeit mit demjenigen Universalismus des Geistes kontrastiert wird, der über die Jahrhunderte seiner kolonialen Gewaltgeschichte hinweg anderes und andere ausgebeutet und entmenschlicht hat.

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hooks, Black Looks, S. 168. Im Hinblick auf die Unterschiedlichkeit von Orten verweist Wiedemann auf zweierlei Arten von Mobilität in der ›globalen Welt‹: »Ich nenne dies eine weiße und eine schwarze Mobilität, wobei damit am wenigsten die Hautfarbe gemeint ist, denn unter den vier Milliarden Fluggästen jährlich ist zum Beispiel ein steigender Anteil Asiaten. Sondern es handelt sich um einen Unterschied in der Blickrichtung, der Legitimität, der Bewertung und der Worte. Die weiße Mobilität wird mit Reisen, Tourismus, Business übersetzt, die schwarze Mobilität mit Migration, Flucht, Illegalität. Es zählt zur weißen legitimen Mobilität, für einen City-Urlaub am Wochenende den CO2 -Ausstoß zu erhöhen; es ist schwarze illegitime Mobilität, wenn ein Mensch ohne Visum ein schwankendes Boot besteigt. Die weiße Mobilität ist auf der Seite jener, die Status haben und ihn bewahren wollen. Schwarze Mobilität bedeutet, Status zu begehren und ihn erringen zu wollen.« Dies., Der lange Abschied von der weißen Dominanz, S. 141f. Zur weißen Mobilität vgl. auch Grégory Salle, Superyachten. Luxus und Stille im Kapitalozän, Berlin: Suhrkamp, 2022.

»während noch immer und schon wieder die einen zerstückelt und verteilt und vertrieben werden die einen die immer die anderen sind und waren und bleiben sollen erklären sich die eigentlich anderen noch immer und schon wieder zu den einzig wahren erklären uns die eigentlich anderen: noch immer und schon wieder den krieg es ist ein blues in Schwarzweiß 1/3 der welt zertanzt die anderen 2/3 sie feiern in weiß wir trauern in Schwarz es ist ein blues in Schwarzweiß es ist ein blues das wieder vereinigte deutschland feiert sich wieder 1990 ohne immigrantInnen flüchtlinge jüdische und schwarze menschen … es feiert in intimem kreis es feiert in weiß doch es ist ein blues in Schwarzweiß es ist ein blues das vereinigte deutschland das vereinigte europa die vereinigten staaten feiern 1992 500 jahre columbustag 500 jahre vertreibung versklavung und völkermord in den amerikas und in asien und in afrika 1/3 der welt vereinigt sich gegen die anderen 2/3 im rhythmus von rassismus sexismus und antisemitismus wollen sie uns isolieren unsere geschichte ausradieren oder bis zur unkenntlichkeit mystifizieren es ist ein blues in Schwarzweiß es ist ein blues doch wir wissen bescheid wir wissen bescheid 1/3 der menschheit feiert in weiß 2/3 der menschheit macht nicht mit« – May Ayim (1995)

6. Spivak, Derrida, Foucaults europäischer Mensch und der Kolonialismus

Foucault entwirft bis zuletzt keine vierte episteme. Seine Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität finden Ende der 1970er Jahre vor dem Hintergrund dessen statt, was er in Die Ordnung der Dinge (1966) europäische Moderne nennt. Diese Moderne beruhe auf einer »abendländischen ratio«1 und stelle eine regional verankerte Epistemologie dar, »die sich in ihrer Geschichte gebildet hat und die Beziehung begründet, die sie mit allen anderen Gesellschaften haben kann, sogar mit der Gesellschaft, in der sie historisch erschienen ist«2 . In diesem Kontext verortet Foucault, wenn er auf die Ethnologie zu sprechen kommt – anders als ihm von Spivak vorgeworfen wurde3 – sein eigenes Denken in der Geschichte des Kolonialismus, denn die Ethnologie entfalte »ihre Dimensionen nur in der stets verhaltenen, aber stets aktuellen historischen Souveränität des europäischen Denkens und der Beziehung, die sie allen anderen Kulturen wie sich selbst gegenüberstellen kann«4 . Mit Foucault und nicht gegen ihn kann Susanne Leeb in Die Kunst der Anderen. »Weltkunst« und die anthropologische Konfiguration der Moderne (2015) deshalb aufzeigen, inwiefern sich seit dem 18. Jahrhundert die kulturelle Identität Europas über ein Othering anderer Kulturen herausgebildet hat.5 Foucault scheint also genauso wie der von Spivak bevorzugte Derrida den Zusammenhang zwischen der Geschlossenheit der modernen episteme und der, wie Derrida es formuliert, »Inkompetenz«6 der Wissenschaft und Philosophie richtig verstanden zu haben, obwohl seine genealogisch geprägten Überlegungen aus einer anderen Richtung unternommen werden als die seines dekonstruktiven Kollegen.7 Während Foucault darauf hofft, dass der Mensch im Sinne einer empirisch1 2 3 4 5 6 7

Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 451. Ebd. Vgl. Spivak, Can the Subaltern Speak?. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 451. Vgl. Susanne Leeb, Die Kunst der Anderen. »Weltkunst« und die anthropologische Konfiguration der Moderne, Berlin: b_books, 2015. Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1983, S. 169. Entgegen Spivaks Darstellung des Feldes beklagt Gilroy Anfang der 1990er Jahre die Dominanz dekonstruktiver Ansätze innerhalb der Postcolonial Studies zumindest im angelsächsischen Raum:

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

transzendentalen Dublette zukünftig verschwinden würde wie ein Gesicht im Sand, fordert Derrida das Denken einer nicht länger logozentrisch verankerten Differenz und ein Wir, dessen Horizont nicht feststellbar ist. Obwohl ihre Denkweisen andere sind, haben Foucault, Derrida und Feuerbach gemeinsam, ein bestimmtes Menschenbild, das während seiner Entstehung zunächst auf Europa begrenzt ist und das Wynter als ein überrepräsentiertes Genre der Ökumene aller Menschen gegenüberstellt, dezentrieren zu wollen: Foucault, indem er die Klammer zwischen Fundamentalem und empirisch Gegebenen hinterfragt, Derrida, indem er Schrift als Differenz denkt, und Feuerbach, indem er den Monotheismus mit dem Polytheismus konfrontiert und Subjektivität entlang sinnlicher Verhältnisse auf anderes und andere hin öffnet. Spivak dagegen wirft in Bezug auf das unter dem Titel Die Intellektuellen und die Macht (1972) publizierte Gespräch zwischen Deleuze und Foucault, das sich zunächst nur gegen die Figur des engagierten Intellektuellen richtet, der wie Sartre von einer universalistischen Position aus für verschiedene Gruppen das Wort ergreift und in ihrem Namen spricht,8 den beiden vor, sie würden verkennen, dass es subalterne Menschen gibt, die im international arbeitsteiligen Kapitalismus nicht von sich aus das Wort ergreifen und zur Sprache kommen könnten. Demzufolge würden Deleuze und Foucault, indem sie fordern, verschiedene marginalisierte Gruppen für sich selbst sprechen zu lassen, »sowohl die epistemische Gewalt des Imperialismus als auch die internationale Arbeitsteilung ignorieren«9 und zumindest in ihrem Anfang der 1970er Jahre geführten Dialog eigenen subjektkritischen Ansätzen widersprechen. Deleuze und Foucault würden sogar dort noch handlungsmächtige Subjekte unterstellen, wo im Fall des mit der Satī verbundenen Femizids, also der Selbstverbrennung hinduistischer Witwen und deren rechtlicher Kodifizierung durch englische Kolonialherren, vielmehr »die Unzugänglichkeit oder Unübersetzbarkeit eines im Rahmen einer Auseinandersetzung auftretenden Diskursmodus in einen anderen«10 vorliege: Indem die englischen Kolonialherren aus einem abergläubischen Ritual ein Verbrechen machten, verdrängten sie ebenso wie die männlichen Hindus die von der Satī betroffenen weiblichen Hindus aus dem Diskurs und verweigerten ihnen so ein Mitspracherecht. Auf die einzelnen Aspekte der von Spivak in Can the Subaltern Speak? (1988) formulierten Polemik gegen die Ansätze von Deleuze und Foucault und ihre Unterstellung, die beiden würden 1972 wieder ein ungeteiltes Subjekt in den Machtdiskurs einführen,

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»Urged by the post-structuralist critiques of the metaphysics of presence, contemporary debates have moved beyond citing language as the fundamental analogy for comprehending all signifying practices to a position where textuality (especially when wrenched open through the concept of difference) expands and merges with totality. […] Textuality becomes a means to evacuate the problem of human agency, a means to specify the death (by fragmentation) of the subject and, in the same manoeuvre, to enthrone the literary critic as mistress or master of the domain of creative human communication.« Ders., The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness, London und New York: Verso, 1993, S. 77. Vgl. Foucault und Deleuze, Die Intellektuellen und die Macht. Spivak, Can the Subaltern Speak?, S. 60. Ebd., S. 88.

6. Spivak, Derrida, Foucaults europäischer Mensch und der Kolonialismus

kann hier nicht näher eingegangen werden.11 Dennoch sei ihre zentrale Referenz auf ›Grammatologie als positive Wissenschaft‹, das dritte Kapitel aus Derridas Grammatologie (1967), kurz erläutert, da es an dieser Stelle, trotz aller Differenzen und des langjährigen Streits zwischen Foucault und Derrida aufgrund von Foucaults Lesart des Cogitos von Descartes in Wahnsinn und Gesellschaft (1961), eine Reihe von Überschneidungen im Denken von Foucault und Derrida wie auch von Feuerbach und Derrida gibt. Obwohl Foucault nicht nur in Die Ordnung der Dinge (1966) den Kontext von Imperialismus und Kolonialismus erwähnt und an prominenter Stelle explizit von einer »kolonisatorische[n] Situation«12 spricht, wenn er das Aufkommen der modernen episteme um 1800 beschreibt, wirft Spivak ihm vor, hierfür nur »Deckallegorien«13 zu liefern. »Manchmal hat es den Anschein, als ob gerade die Brillanz von Foucaults Analyse der Jahrhunderte des europäischen Imperialismus eine Miniaturversion dieses heterogenen Phänomens produzieren würde: Organisation von Raum – aber durch Ärzte; Entwicklung von Verwaltungsapparaten – aber in Irrenanstalten; Überlegungen zur Peripherie – aber in Bezug auf Geisteskranke, Gefängnisinsassen und Kinder. Die Klinik, die Irrenanstalt, das Gefängnis, die Universität – sie alle scheinen Deckallegorien zu sein, die eine Beschäftigung mit den größeren Narrativen des Imperialismus verhindern.«14 Während sie Deleuze und Foucault attestiert, durch ihre Ausblendung der Subalternen an der kolonialen »Konstituierung des/der Anderen als Schatten des Selbst«15 mitzuwirken, sodass ihnen kolonisierte Andere unzugänglich blieben16 , sieht sie in Derrida ei11

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Vgl. ebd., S. 26 sowie ebd., S. 34f. Spivak scheint in ihrem 1988 erstmals veröffentlichten und seitdem mehrere Male überarbeiteten Essay ein doppeltes Anliegen zu verfolgen. Einerseits geht es ihr anhand der Figur der Satī darum zu zeigen, inwieweit Imperialismus und Kolonialismus nach dem Motto ›Weiße Männer retten braune Frauen vor braunen Männern‹ verfahren und dabei die Witwe zwischen zwei miteinander konkurrierenden epistemischen Gewalten gefangen wird, also nicht ihrerseits zur Sprache kommt. Andererseits scheint Spivak – nicht immer allzu gerecht – Wissenschaftspolitik zu betreiben. Hierbei spielt sie Derrida, dessen Grammatologie (1967) sie ins Englische übersetzt hat und dessen dekonstruktiver Methode sie sich zugehörig fühlt, gegen Deleuze und Foucault aus. Problematisch wird diese in ihrer Argumentation mitlaufende Ebene dann, wenn sie entgegen Derridas meistens sehr nuancierten und aufs Detail bedachten Lesarten der Texte anderer allzu sehr vereinfacht, um einen deutlichen Abstand zwischen ihrem Mentor und anderen französischen Philosoph*innen herzustellen: »Im Gespräch zwischen Foucault und Deleuze scheint es darum zu gehen, dass es keine Repräsentation, keinen Signifikanten gibt. (Sollte davon ausgegangen werden, dass der Signifikant bereits entsorgt ist? Es gibt mithin keine Zeichenstruktur, die die Erfahrung bestimmt, und wir können also die Semiotik verabschieden?)« Ebd., S. 38. An solchen Punkten droht ihre Polemik ins Denunziatorische zu kippen und erweist sich als wenig produktiv für das gegen Ende des Textes aufgeworfene Problem, nämlich die Satī und damit zusammenhängende Fragen nach der subalternen Frau. Hierzu merkt Young an: »This raises an immediate and serious question, namely to what extent does Spivak create the very homogenized positions that she wishes to attack? To what extent does she require a totalization for the production of her own ›epistemic violence‹?« Ders., White Mythologies, S. 201. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 451. Spivak, Can the Subaltern Speak?, S. 65. Ebd. Ebd., S. 41. Vgl. ebd., S. 46.

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nen Denker, der seine europäische Positionierung besser mitreflektiert habe. Allein mit Derrida sei es möglich, das ethnozentrische Subjekt davon abzuhalten, sich zu etablieren, »indem es selektiv eine/n Andere/n definiert«17 . Im von Spivak für ihre Argumentation gegen Deleuze und Foucault herangezogenen dritten Kapitel seiner Grammatologie (1967) widmet sich Derrida anhand von André Leroi-Gourhans archäologischen Arbeiten der Frage, inwiefern sich in der westlichen Welt durch den Ethnozentrismus im Sinne einer »Sollizitation des Logozentrismus«18 eine bestimmte Idee des Menschen in der Unterscheidung vermeintlich phonetischer von vermeintlich ideo- oder piktogrammatischen Sprachen herausgebildet hat. Im Anschluss daran zeigt er, dass diese strikte Trennung so nicht aufrechtzuerhalten ist. Mit der Herabsetzung von Kulturen, die angeblich nur eine ›unterentwickelte‹ Sprache hätten, weil deren Zeichensysteme nicht an Lautsprache gebunden wären, durch die allein ein ›Volk‹ sich selbst gegenwärtig werden könne, ist demnach ein politischer Einsatz verbunden, denn es ist »ein und dieselbe Geste, außerhalb seiner eigenen Gemeinschaft den Namen des Menschen und die Befähigung zur Schrift nicht anerkennen zu wollen«19 . Mit der Etablierung der Grammatologie als Teil der Humanwissenschaften in Europa sei es zu einer Verdrängung mehrdimensionaler durch lineare Auffassungen von Schrift sowie zu einer Privilegierung der Lautschrift gekommen, welche allein auf gesprochene Sprache und somit die Selbstpräsenz des ethnozentrischen Subjekts und dessen Abgrenzung von angeblich geschichts- und sprachlosen ›Völkern‹ verweise: »Man muß wissen, was die Schrift ist, um, wissend, wovon man spricht und was in Frage steht, sich fragen zu können, wo und wann die Schrift beginnt.«20 Anhand der Überlegungen von Leibniz zur chinesischen Schrift zeigt Derrida einerseits, inwieweit im Westen die Idee einer von der Stimme befreiten Schrift mit der Idee von Arbitrarität, Künstlichkeit und Geschichtslosigkeit zusammenhängt, andererseits aber auch, dass es sich hierbei um ein europäisches Phantasma handelt, durch das die eigene vermeintliche Selbstpräsenz (der weißen Subjektform, wie sich dem im Kontext der vorliegenden Arbeit hinzufügen ließe) durch die Konstruktion eines ihr gegenüber Anderen erreicht wird, welche die Schrift des Anderen mit ›vertrauten Schemata‹ besetzt.21 Der Gegensatz, den Spivak zwischen Deleuzes und Foucaults Plädoyer für Selbstermächtigung und Derridas Kritik am Logozentrismus errichtet, geht für sie darauf zurück, dass Alterität eine Konstruktion sei, die nur innerhalb des europäischen Denkens existiere. »Mit welchem Recht darf schließlich unterstellt werden, daß dem gesprochenen Wort in früheren Zeiten in China – vor der Entstehung der chinesischen Schrift – die Bedeutung und der Wert zukommen könnte, die wir ihm im Abendland zuerkennen? Aus welchem Grund hätte in China das gesprochene Wort von der Schrift in den Schatten gestellt werden sollen?«22 17 18 19 20 21 22

Ebd., S. 68. Derrida, Grammatologie, S. 130. Ebd., S. 148. Ebd., S. 131. Vgl. ebd., S. 143. Ebd., S. 165. Bezüglich einer Kritik an Derridas trotz allem orientalistischen Lesart der chinesischen Schrift vgl. Rey Chow, Ideo-Grafien. Ethnische Stereotype und stereotyper Logozentrismus, in: Berger-

6. Spivak, Derrida, Foucaults europäischer Mensch und der Kolonialismus

Spivak unterstreicht Derridas Charakterisierung des Logozentrismus als »ethnozentrische Metaphysik«23 und die von Leibniz der chinesischen Schrift zugesprochene Ferne von der Lautsprache als »chinesische[s] Vorurteil«24 und »europäische Halluzination«25 . Sie führt aber nicht näher aus, dass Derrida, indem er die Grammatologie als positive Wissenschaft – im Sinne sowohl einer Humanwissenschaft als auch einer auf das Abendland begrenzten regionalen Epistemologie – ablehnt, an entscheidender Stelle und in Bezug auf Leroi-Gourhans Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst (1964/65) für ein universales Verständnis von Schrift eintritt, die er als Dezentrierung des Menschen aufgrund einer irreduziblen Differenz verstanden wissen will. »Diesem oder jenem Konsignationsverfahren die Bezeichnung Schrift vorzuenthalten, ist kennzeichnend für den ›Ethnozentrismus‹, der am ausgeprägtesten die vorwissenschaftliche Sicht des Menschen bestimmt und gleichzeitig bewirkt, daß ›in zahlreichen menschlichen Gemeinschaften das Wort ›Mensch‹ das einzige ist, mit dem die Individuen ihre ethnische Gruppe bezeichnen.‹ Aber es reicht nicht hin, den Ethnozentrismus denunzieren und die anthropologische Einheit durch die Disposition der Schrift definieren zu wollen. A. Leroi-Gourhan beschreibt folglich die Einheit des Menschen und des menschlichen Abenteuers nicht mehr durch die bloße Möglichkeit der Schrift im allgemeinen, sondern als eine Etappe oder eine Artikulation in der Geschichte des Lebens – dessen, was wir hier die Differenz nennen –, als Geschichte der gramma.«26 Derrida zufolge konstituiert die Entstehung der phonetischen Schrift innerhalb der Geschichte Europas die »Linearität des Symbols«27 , durch welche die nicht-lineare Schrift, in Form des Ideo- ebenso wie des Piktogramms, zurückgedrängt und als vermeintliche Vergangenheit des Westens festgeschrieben wird. Derridas Überlegungen zum Logozentrismus scheinen, obwohl sie aus einer anderen Richtung kommen, auf ein ähnliches Problem abzuzielen wie Foucaults Untersuchung der empirisch-transzendentalen Dublette, die ein Jahr vor der Grammatologie (1967) veröffentlicht wurde, wenn er schreibt: »Wahrscheinlich müsste man sich eines anderen Wortes als des Wortes Geschichte bedienen, welches zweifellos seit je mit einem linearen Ablaufschema der Präsenz in Verbindung gebracht wurde, um damit zum Ausdruck zu bringen, daß ihre Linie – nach den Gesetzen der Geraden oder des Kreises – die finale Präsenz der ursprünglich Präsenz zuordnet.«28 Derrida bringt das Menschenbild weißer Männer, das Feuerbach im Hinblick auf das christliche Gemüt, dessen allzu starke Ich-Instanz und das ›Wort Gottes‹ kritisiert, ohne Kolonialgeschichte zu thematisieren, mit der phonetisch dominierten Schrift zusam-

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mann und Heidenreich (Hg.), »total. Universalismus und Partikularismus in post_kolonialer Medientheorie«, Bielefeld: transcript 2015. Derrida, Grammatologie, S. 140. Ebd., S. 142. Ebd. Ebd., S. 148f. Ebd., S. 151. Ebd., S. 152.

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men, während er davon ausgeht, dass diese begrenzte Auffassung des Menschen durch die Ausbreitung digitaler Medien zukünftig mit dem linearen Schriftmodell und dessen Ordnung der Zeit in Abfolgen sowie der einzelnen Schriftelemente in Zeilen verschwinden würde: »Urschrift wäre ein Name für diese Vielfältigkeit (complicité) der Ursprünge. Und was in ihr verlorengeht, ist der Mythos von der Einfältigkeit (simplicité) des Ursprungs. Ein Mythos, der an den Begriff des Ursprungs selbst gebunden ist […].«29 Derrida steht Feuerbach trotz mancher Ferne auch nah, wenn er seinen Schriftbegriff weiter ausführt. Die sinnliche Verstrickung mehrerer Menschen, die Feuerbach interessiert, kann durchaus bezüglich der Problematik gelesen werden, die Derrida als Differenz zu fassen versucht, denn »diese Bewegung der Differenz selbst, die wir aus strategischen Gründen als Spur (trace), Aufschub (réserve) oder Differenz bezeichnet haben, dürfte nur in der historischen Geschlossenheit […] Schrift genannt werden«30 . Feuerbach fokussiert sinnliche Verhältnisse, Derrida Schrift. Im Hinblick auf Spivaks Forderung, das ethnozentrische Subjekt davon abzuhalten, sich zu etablieren, indem es »selektiv eine/n Andere/n definiert«31 , treffen sich die beiden trotzdem, denn ebenso wie Derridas Schriftbegriff und seine Emphase der Differenz ist Feuerbachs Sinnlichkeit des Menschen mit dessen Dezentrierung verbunden. Spivak bezieht sich in ihrer Zurückweisung von Deleuze und Foucault auf Derrida, weil er sich ihr zufolge als europäisches Subjekt mitreflektieren und »die Gefahr einer Aneignung des/der Anderen durch Assimilierung«32 bedenken würde. Doch wird sie damit der Komplexität des Problems gerecht, das Foucault am Ende von Die Ordnung der Dinge (1966) aufwirft, nämlich des zukünftigen Verschwindens einer westlich geprägten Idee des Menschen? Während der 1960er Jahre, zeitgleich mit dem Entstehen von Derridas Grammatologie (1967), setzt Foucault noch große Hoffnungen in die Ethnologie, die er neben der Psychoanalyse gegenüber anderen Humanwissenschaften hervorhebt und von der er annimmt, nicht nur Wissen zu produzieren, sondern ihre eigenen Grundlagen befragen zu können, also kein sie fundierendes ›Wesen‹ des Menschen vorauszusetzen, das es dann empirisch zu rekonstruieren gälte. Ethnologie und Psychoanalyse haben ihm zufolge gemeinsam, dass sie »trotz ihrer quasi universellen ›Tragweite‹ nie einen allgemeinen Begriff des Menschen erreichen. In keinem Augenblick zielen sie darauf ab, das

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Ebd., S. 167. Zur Dekonstruktion der ethnozentrischen Unterscheidung zwischen phonetischer und ideo- oder piktogrammatischer Schrift führt Derrida weiter aus: »Und muß man nicht auf jene heliozentrische Vorstellung vom gesprochenen Wort reflektieren? Und auf die Ähnlichkeit des Logos mit der Sonne (mit dem Gut oder dem Tod, dem man nicht ins Angesicht blicken darf), mit dem König oder dem Vater […]? Was ist die Schrift, wenn sie dieses analogische System in seinem verwundbarsten und geheimsten Zentrum treffen kann? Was muß die Schrift sein, um die Verfinsterung (éclipse) dessen darstellen zu können, was Gut und was Vater ist? Darf die Schrift noch länger als Verfinsterung betrachtet werden, welche die Herrlichkeit des Wortes überlistet und sie ihres Glanzes beraubt? Und wenn es irgendeine innere Notwendigkeit für diese Verfinsterung gibt, muß dann nicht das Verhältnis zwischen dem Schatten und dem Licht, der Schrift und dem gesprochenen Wort eine andere Gestalt annehmen?« Ebd., S. 166. Ebd., S. 169. Spivak, Can the Subaltern Speak?, S. 68. Ebd. S. 106.

6. Spivak, Derrida, Foucaults europäischer Mensch und der Kolonialismus

einzukreisen, was es an Spezifischem, Irreduziblem an ihm geben könnte, was überall, wo er der Erfahrung gegeben ist, an einförmig Gültigem vorhanden sein könnte«33 . Obwohl Foucault im letzten Kapitel von Die Ordnung der Dinge (1966) wiederholt auf Nietzsche und dessen Übermenschen zu sprechen kommt, um einen Wendepunkt der abendländisch-modernen Wissensordnung zu markieren, und Feuerbach nur an einer einzigen Stelle im Vorübergehen erwähnt, ohne sich mit ihm auseinanderzusetzen34 , würde Feuerbach ihm wahrscheinlich zustimmen, wenn er schreibt, dass der Tod Gottes bei Nietzsche »die absolute Zerstreuung des Menschen«35 ankündigt, so wie er sie bereits an der prominenten Stellung des Verkehrs und sprachlichen Austauschs in Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1796/97) festgemacht und vor einem phänomenologischen Zugriff in Schutz genommen hatte. Demnach kann Foucaults europäischer Mensch, der zukünftig wie ein Gesicht im Sand verschwinden würde, nicht Feuerbachs sich über unzählige Subjektivitäten erstreckendes menschliches Gattungswesen meinen. Mit dem Namen Mensch ist bei Foucault das mit der empirisch-transzendentalen Dublette zusammenhängende Problem des Anthropozentrismus adressiert. Was Feuerbach jedoch unter Anthropologie versteht, nämlich wie Foucault eine Zerstreuung des Menschen, wäre, um in Foucaults Bild zu bleiben, eher mit den Sandkörnern am Meeresufer als mit einem Gesicht darin in Verbindung zu bringen. Obwohl Foucault 1966 Arbeit, Leben und Sprache noch nicht wie in seinem späteren Aufsatz Subjekt und Macht (1982) als »Objektivierungsformen«36 bezeichnet, »die den Menschen zum Subjekt«37 machen, in denen die menschliche Gattung vergegenständlicht wird und denen gegenüber wir »nach neuen Formen von Subjektivität suchen und die Art von Individualität zurückweisen [müssen], die man uns seit Jahrhunderten aufzwingt«,38 sind es doch bereits hier ein zirkulärer Bezug zwischen der Weise, wie Menschen in diesen drei Wissensfeldern jeweils erscheinen, und deren Selbstfundierung, die Foucault mit Kant einer Kritik unterzieht. Anfang der 1980er Jahre wird er weiter gehen und schreiben: »Wir brauchen daher eine neue Ökonomie der Machtbeziehungen […] Ich kann es auch anders ausdrücken: Seit Kant hat die Philosophie die Aufgabe, zu verhindern, dass die Vernunft die Grenzen des in der Erfahrung gegebenen überschreitet, doch seit dieser Zeit – das heißt seit der Entstehung des Staates und der politischen Verwaltung der Gesellschaft – hat sie auch die Aufgabe, die überzogene Macht der politischen Rationalität zu überwachen.«39 Foucault geht es in seinem Werk von 1966 um die Frage, wie mit dem Einsetzen der modernen Wissensordnung, welche die Ähnlichkeitslogik der Renaissance ebenso ablöst wie das Repräsentationsmodell der Klassik, der abendländische Mensch als Subjekt und 33 34 35 36 37 38 39

Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 453. Vgl. ebd., S. 460. Ebd. Foucault, Subjekt und Macht, S. 269. Ebd. Ebd., S. 280. Ebd., S. 271.

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

Objekt des Wissens um sich selbst kreist, ohne sich in diesem Selbstbezug jemals erreichen zu können. »Sie haben in der Tat das ganze Werden umfaßt, weil man seit mehr als einem Jahrhundert die Dynastie ihrer Privilegien verfolgen kann: Zunächst die Herrschaft des biologischen Modells (der Mensch, seine Psyche, seine Gruppe, seine Gesellschaft und die Sprache, die er spricht, existieren in der Romantik als Lebendige, und zwar in dem Maße, in dem sie in der Tat leben; ihre Seinsweise ist organisch, und man analysiert sie in Termini der Funktion). Dann kommt die Herrschaft des ökonomischen Modells (der Mensch und seine ganze Aktivität sind der Platz von Konflikten, deren mehr oder weniger manifester Ausdruck oder mehr oder weniger gelungene Lösung sie sind). Schließlich, so wie Freud nach Comte und Marx kommt, beginnt die Herrschaft des philologischen Modells (wenn es sich um die Interpretation und die Entdeckung der verborgenen Bedeutung handelt).«40 Foucault zufolge wäre das moderne Denken nur aus seinem anthropologischen Schlummer zu wecken, wenn das anthropologische Viereck »bis in seine Grundlagen«41 zerstört würde: erstens die »Verbindung der Positivitäten mit der Endlichkeit«42 , zweitens »die Reduplizierung des Empirischen im Transzendentalen«43 , drittens »die ständige Beziehung des Cogito zum Ungedachten«44 und viertens »der Rückzug und die Wiederkehr des Ursprungs«45 . Foucaults empirisch-transzendentaler Dublette liegt hierbei kein überzeitliches oder ortloses Menschenbild zugrunde. Er spricht explizit von einer abendländischen Ratio, die sich sowohl in der Zeit mit dem Anthropozän zusammenhängender ökologischer Prozesse als auch am politischen Höhepunkt des Kolonialismus herauszubilden beginnt und fortan einen mit sich gleichbleibenden Menschen »als lebendiges Wesen, als arbeitendes Individuum oder als sprechendes Subjekt«46 reproduziert. »In dieser Wendung bedeckt die transzendentale Funktion mit ihrem gebieterischen Raster den untätigen und grauen Raum der Empirizität. Umgekehrt beleben sich die empirischen Inhalte, richten sich allmählich auf, stehen und werden sogleich in einen Diskurs aufgenommen, der ihre transzendentale Anmaßung in die Ferne rückt. Und plötzlich hat die Philosophie in dieser Wendung einen neuen Schlaf gefunden. […] Die präkritische Analyse dessen, was der Mensch in seiner Essenz ist, wird zur Analytik all dessen, was sich im Allgemeinen der Erfahrung des Menschen geben kann.«47 Anders als ihm von Spivak unterstellt wird, beschreibt Foucault durchaus die Kolonisierung des Menschen und die Verwandlung von Subjektivität in eine Plantage, zeigt aber keinen Ausweg aus diesem Dilemma auf. Für Feuerbach ist es die sinnliche Dezentrierung 40 41 42 43 44 45 46 47

Ders., Die Ordnung der Dinge, S. 431. Ebd., S. 411. Ebd., S. 404. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 410f. Ebd., S. 411.

6. Spivak, Derrida, Foucaults europäischer Mensch und der Kolonialismus

erster auf zweite Personen hin, die Subjektivität an ihren Rändern ausfransen lässt, für Derrida das Denken der différance, die den Logozentrismus und dessen Selbstpräsenz von innen heraus dekonstruiert. Trotz aller Unterschiede in ihren Ansätzen und Denkfiguren haben Spivak, Derrida, Foucault und Feuerbach gemeinsam, eine in sich ruhende Subjektivität zugunsten nirgendwo verankerbarer Beziehungsweisen zurückzuweisen, denen Feuerbach den Namen Mensch gibt. In einem anderen Kontext wird sich Foucault der Figur der Plebs widmen, um Auswege aus seiner empirisch-transzendentalen Dublette anzudeuten. Allerdings zeigen sich Menschen anhand der Plebs nur als Abfall und Überschuss am Rande einer Ordnung, die ihr Gattungswesen einhegt und in sich aufgehoben hält.

6.1 Der Mensch als Abfall: Die Plebs im Werk von Foucault Obwohl Foucaults Überlegungen zur Plebs von Europa kolonisierte Menschen ausblenden, erhellen seine Ausführungen zu dieser von Macht- und Wissensverhältnissen abfallenden Figur die Grenzen und Ränder der bürgerlichen Gesellschaft und mit ihnen etwas, das in der vorliegenden Arbeit als weiße Subjektform den Subjektivierungsweisen mehrerer Menschen gegenübergestellt wurde. »I am told to be out of my place, for […] I cannot be the queen, but only the plebeian«48 , schreibt Kilomba in Plantation Memories (2008). Foucault analysiert, wenn er in den 1970er Jahren über die Plebs spricht, auf welche Weise es bei der Herausbildung gesellschaftlicher Verhältnisse zwischen Personen im Rahmen der europäischen Moderne zur Verwandlung von Menschen in Arbeitskräfte und zum Ausschluss von noch mehr Menschen kam. Neben der Subjektivität des bürgerlichen Individuums, die er spätestens in Subjekt und Macht (1982) zurückweist, steht er dabei auch dem Proletariat als geschichtlichem Movens kritisch gegenüber. Immer wieder insistiert er auf der Unmöglichkeit, aus der Plebs das Subjekt politischer Projekte machen zu können. Das europäische Proletariat ist Foucault zufolge Teil einer Gesellschaftsformation, an deren Schwellen er die Plebs lokalisiert. An ihr zeigt sich, wie die hier ins Rampenlicht gerückte weiße Subjektform, während sie anderes und andere entmenschlicht und ausbeutet, zugleich eine ›Überschussbevölkerung‹ produziert.49 Foucaults auf die Provinz von Europa fokussierten Überlegungen zur Plebs lassen sich auf die Geschichte des postkolonialen Anthropozäns und auf kolonialgeschichtliche Fragestellungen übertragen. Zwar interessiert er sich anders als Fanon, dessen Schreiben zeitgleich an einem anderen Ort situiert ist, nicht für die Thematik des Menschen als Gattungswesen. Wenn sie Feuerbachs Emphase gleichzeitiger und wechselwirksamer Teilwesen gegenübergestellt werden, zeigen seine Bemerkungen hierzu jedoch, wie sinnliche Verhältnisse zwischen mehreren Menschen im Verlauf der Moderne auf dasjenige reduziert werden, was Wynter, im Anschluss an Foucault, in Gestalt des bürgerlichen Individuums als »middle-class model of being ›Man‹«50 mit dem Monohumanismus zusammenbringt. Ihr zufolge bringt diese Reduktion erstens die 48 49 50

Kilomba, Plantation Memories, S. 29. Vgl. hierzu auch Mbembe, Necropolitics. Wynter, 1492: A New World View, S. 43.

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

Aufspaltung der Ökumene vieler Genres des Menschen in »Redeemed Spirit«51 und »Fallen Flesh«52 , zweitens hinsichtlich der Natur eine »arbitrarily divided habitable/uninhabitable earth«53 und drittens in Bezug auf Mitmenschen eine »ostensibly dysselected Otherness«54 mit sich. So wird ersichtlich, dass Foucault, obwohl er den Begriff des Menschen ablehnt, anhand der Plebs dennoch treffend beschreibt, wie sich eine dezidiert europäische Subjektivität historisch auf dem gesamten Planeten repliziert, ihn in immer feinere Netze der Macht und des Wissens einspannt und dadurch einen ihr eigenen Abfall produziert. Bevor es zur Abgrenzung der Plebs vom marxistisch geprägten ›Lumpenproletariat‹ kommt, problematisiert Foucault mit diesem Begriff, was sich als Gegenstand einer von der Dominanz teleologischer Geschichtsphilosophie emanzipierten genealogischen Methode bezeichnen lässt. Bereits in Nietzsche, die Genealogie, die Historie (1971) übt er mit Nietzsche Kritik an der »Historie der Historiker«55 sowie ihrem »Spiel des Wiedererkennens«56 und plädiert dafür, den zeitlichen Verlauf der Dinge nirgendwo zu vereinheitlichen. Anstatt wie Hegel Geschichte innerhalb eines in sich ruhenden Subjekts zu lokalisieren, will er danach auch in anderen Schriften darauf hinaus, sie zu dezentrieren und analysieren, inwiefern sie von Kämpfen durchzogen ist, die Federici im Hinblick auf den Beginn der kolonialen Moderne als Einhegungen beschrieben hat.57 Während der 1970er Jahre wird Foucault wiederholt auf die Plebs zurückkommen und zeigen, dass sie als das Abfallprodukt der Macht und des Wissens während der Selbstentfaltung moderner Zeiten zunehmend die ›Einsperrung‹ mancher und den gesellschaftlichen Ausschluss sehr vieler Menschen bedeutet. Aus einer anderen Perspektive sagt Mbembe in einem Spiegel-Interview von 2017 über die Geschichte der Gegenwart des postkolonialen Anthropozäns und seine Vorstellung vom Schwarz-Werden der Welt: »Ich beschreibe damit die Bedingungen, die heutzutage die Existenz von Millionen Menschen bestimmen. Es ist das wachsende Heer der Armen, Abgehängten, Ausgegrenzten, die gegenwärtig erleiden, was die Afrikaner während der Zeit des Sklavenhandels erlitten haben. Die Universalisierung der ›conditio nigra‹ ist ein konstitutives Moment der Moderne. Man könnte auch sagen: Die Welt wird schwarz.«58 Zwar relativiert Mbembe mit dieser Polemik problematischerweise die historische Realität des transatlantischen Sklavenhandels, weist aber zugleich auf die aktuelle Realität unzähliger ›zum Ausschluss bestimmter‹ Leben hin. Foucaults Gedanken zur Plebs müssen nicht, wenn sie entlang Mbembes These vom Schwarz-Werden der Welt gelesen wer-

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Dies., The Ceremony Found, S. 204. Ebd. Dies., 1492: A New World View, S. 23. Ebd., S. 41. Michel Foucault, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders., »Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 2 (1970–1975)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002, S. 179. Ebd., S. 179. Vgl. Federici, Caliban und die Hexe. Achille Mbembe, »Die Welt wird schwarz«, Der Spiegel, November 2017, http://magazin.spiegel.de /EpubDelivery/spiegel/pdf/149997445, Zugriff am 26.5.2023, S. 95.

6. Spivak, Derrida, Foucaults europäischer Mensch und der Kolonialismus

den, auf Europa beschränkt bleiben. Deshalb hätte Spivak in ihm einen Verbündeten für ihre Überlegungen zur Figur der Subalternen sehen können, wenn sie über die »gewaltförmige Aporie zwischen Subjekt- und Objektstatus«59 nachdenkt und davon ausgeht, dass es keinen Raum gibt, »von dem aus das vergeschlechtlichte subalterne Subjekt sprechen kann«60 . Anschließend an Foucaults und Derridas Kritik am Begriff des Menschen und an die Aversion, die Spivak bezüglich der fehlenden Thematisierung kolonialer Zusammenhänge durch manche französische Nachkriegsphilosophie formuliert, lässt sich die Plebs als subalterne Figur lesen. Das Plebejische wäre so gesehen ein Abfall, der einverleibend ausverleibt wurde und auf eine ökologische Katastrophe verweist, die in Gestalt weltweit anwachsender Slums auch eine politische Katastrophe darstellt. »Auch wenn der globale Slum kein einheitliches Subjekt besitzt und sich keine einheitliche Richtung ausmachen lässt, sind doch trotz allem unzählige Akte des Widerstands zu verzeichnen«61 , schreibt Mike Davis. Feuerbach selbst verwendet den Begriff der Plebs im Kontrast zu einzelnen Individuen, die ihre Abhängigkeit leugnen: »[W]ir halten uns daher für adlig, weil unser Ursprung aus plebejischem Blut jenseits unsers Bewußtseins liegt, für ewig, weil uns die Data der Zeitrechnung fehlen.«62 Demnach wäre das Plebejische für Feuerbach bereits vor Foucault etwas, das Individuen aus sich ausschließen und von sich absondern, wenn sie sich losgelöst von anderem und anderen allein mit der menschlichen Gattung identifizieren. Foucault thematisiert mit der Plebs, während er nietzscheanisch mit dem ›Humanismus‹ auch den Begriff des Menschen verabschiedet, über verschiedene Etappen seines Schaffens hinweg einen Rest, der nicht mit den historisch sedimentierten Gesellschaftsformationen zur Deckung kommt. Obwohl für ihn das Plebejische als dasjenige, was seiner Positionierung in Macht- und Wissensverhältnissen entgeht, einen überzeitlichen Topos darstellt, changieren dessen Ausprägungen innerhalb von Geschichte. Nach Nietzsche, die Genealogie, die Historie (1971) wird sich die Plebs für ihn immer mehr zu etwas wandeln, das von Spaltungen und Rissen durchzogen ist und die bürgerliche Gesellschaft aus sich ausschließt, das aber auch eine Kraft darstellt, die einer bestimmten Weise, regiert zu werden, entgeht. Sie bleibt dabei jedoch, insofern ist Spivak zuzustimmen, auf die Provinz von Europa beschränkt und wird von ihm nicht mit dem globalen

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Spivak, Can the Subaltern Speak?, S. 102. Ebd., S. 103. Davis, Planet der Slums, S. 210. Vgl. hierzu auch Alain Brossat, Plebs Invicta, Berlin: August, 2013 und Stefan Apostolou-Hölscher, ›Etwas Plebejisches in den Körpern und in den Seelen‹. Alain Brossats Radikalisierung der Gedanken Foucaults zu den Infamen, in: Oliver Flügel-Martinsen und Franziska Martinsen (Hg.), »Demokratietheorie und Staatskritik aus Frankreich. Neuere Diskurse und Perspektiven«, Stuttgart: Steiner, 2014. Feuerbach, Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist, S. 166.

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Süden oder der internationalen Arbeitsteilung in Zusammenhang gebracht.63 In seiner Vorlesungsreihe über Die Macht der Psychiatrie (1973–74) macht Foucault ausschließlich bezüglich Europa das mit der Plebs einhergehende Problem des Unklassifizierbaren an der Überlagerung der souveränen durch die disziplinäre Macht im 18. Jahrhundert fest. »Für die disziplinarischen Systeme, die also einteilen, hierarchisieren, überwachen usw., werden diejenigen der Punkt des Strauchelns sein, die nicht eingeteilt werden können, die der Überwachung entgehen, die nicht in das Aufteilungssystem eingepaßt werden können; kurz, das wird das Residuum sein, das Irreduzible, das Unklassifizierbare, das Nichtassimilierbare.«64 Aus dieser Perspektive betrachtet weist die Figur der Plebs, wie Foucault sie im Verlauf der 1970er Jahre in unterschiedlicher Gestalt untersucht, zugleich Parallelen und Differenzen zu Feuerbachs sinnlichen Verhältnissen auf. Zwar ist sie nicht die Öffnung einzelner Subjektivitäten füreinander, sondern Ergebnis von deren Willen zur Macht. Sie ist aber auch etwas, das nicht aufgehoben werden kann, sondern abfällt. Als »Wettstreit zwischen Staub und Wolke«65 impliziert sie einerseits eine Verbindung mit den historischen Formen a priori, ist aber andererseits nicht vollständig auf sie rückführbar. Sie stellt eine Öffnung der Macht und des Wissens dar, die sich an deren Grenze ereignet und etwas markiert, das sich mit Rancière bedingungslose »Teilhabe an einer sinnlichen Gleichheit«66 nennen lässt. Foucault selbst spricht immer wieder von einem Zusammenspiel von Sicht- und Sagbarkeiten mit einer diese verunsichernden Rückverwandlung der »festgestellte[n] Tatsache und de[s] Zugang[s] zur Wahrheit«67 in die Kraft des »blitzartig aufscheinende[n] Ereignisses«68 . Für Feuerbach besteht das sinnlich Gegebene, das er als ›sinnliche Gewissheit‹ vor Hegels Weltgeist in Schutz zu nehmen versucht, in seinem Abfall von den Begriffen, die es aufheben. Es verweist, in Rancières Worten, auf »die unversöhnliche Singularität der Empfindung«69 . So gesehen würde es sich beim Plebejischen ebenso wie bei sinnlichen Verhältnissen um etwas handeln, das als Grenze der Macht und des Wissens mit ihnen sowohl in einer Beziehung steht als auch von ihnen abfällt – ein relatives, kein absolutes Außen. In seiner Argumentation gegen die ›Historie der Historiker‹ argumentiert Foucault jedoch genealogisch, nicht subjektivitätstheoretisch. Anstatt den Lauf der Dinge als ei63

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Außerdem geht es Spivak mit ihrer Subalternen anders als Foucault mit seiner Plebs explizit auch um eine Genderproblematik: »Zwischen Patriarchat und Imperialismus, Subjektkonstituierung und Objektformierung, verschwindet die Figur der Frau, und zwar nicht in ein unberührtes Nichts hinein, sondern in eine gewaltförmige Pendelbewegung, die in der verschobenen Gestaltwerdung der zwischen Tradition und Modernisierung gefangenen ›Frau der Dritten Welt‹ besteht.« Dies., Can the Subaltern Speak?, S. 101. Michel Foucault, Die Macht der Psychiatrie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005, S. 87. Ders., Der Staub und die Wolke, in: ders., »Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 4 (1980–1988)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005, S. 13. Jacques Rancière, Der verlorene Faden. Essays zur modernen Fiktion, Wien: Passagen, 2015, S. 34. Michel Foucault, Über den Willen zum Wissen. Vorlesungen am Collège de France 1970–71, Suhrkamp: Berlin, 2012, S. 252. Ebd. Rancière, Der verlorene Faden, S. 63.

6. Spivak, Derrida, Foucaults europäischer Mensch und der Kolonialismus

ne auf ein menschliches Zentrum bezogene Totalität in ihrer kontinuierlichen Entwicklung zu begreifen, müsse es einem genealogischen Verfahren darum gehen, sich mit dem Diskontinuierlichen zu befassen und Wissen in seiner radikalen Perspektivität und Parteilichkeit als Movens eines Willens zur Macht zu begreifen. Die »wirkliche Historie«70 Nietzsches besteht demnach darin, »das übliche Verhältnis zwischen dem Eintritt des Ereignisses und der kontinuierlichen Notwendigkeit«71 zu verkehren, also, was Foucault hiermit implizit anspricht, nicht mit einem Allgemeinen zu beginnen, um ihm das Besondere entlang einer vertikalen Logik zu subsumieren, sondern das Besondere als Teil horizontaler Streuungen und Relationen zu denken. Anstatt der Anordnung der Ereignisse in »einer teleologischen Entwicklung«72 oder entlang »einer natürlichen Kausalkette«73 müsse es darum gehen, in ihnen das Spiel und die Umkehrung von Kräfteverhältnissen zu sehen. Dem würde Feuerbach wahrscheinlich nicht widersprechen, Foucaults Gewährsmann ist jedoch Nietzsche. Zwar habe, so argumentiert er, die zu Nietzsches Zeit noch neue Geschichtswissenschaft erste wichtige Schritte in Richtung der Genealogie unternommen, da es schon ihr darum ginge, »alles zu erkennen, ohne eine Hierarchie der Bedeutung einzuführen; alles zu verstehen, ohne auf den Rang zu achten, und alles zu akzeptieren, ohne Unterschiede zu machen«74 . Sie beziehe die Ereignisse jedoch auf eine zu sich selbst kommende, abstrakte Menschheit und verkenne die Konfliktlinien und Machtkämpfe, die ihr zugrunde lägen und die sich nicht vereinheitlichen ließen. In Nietzsche, die Genealogie, die Historie (1971) führt Foucault den Begriff der Plebs auf ambivalente Weise ein, da er mit Nietzsche die Herangehensweise der Historiker des 19. Jahrhunderts an geschichtliche Ereignisse an prominenter Stelle dafür kritisiert, dass sie aus der Plebs ein historisches Subjekt machen würden. Die Verklärung der Plebs zu einer einheitlichen Gestalt, von der her und auf die hin Geschichte ihren Lauf nehmen würde, bringt er polemisch folgendermaßen auf den Punkt: »Woher kommt die Geschichte? Aus der Plebs. An wen wendet sie sich? An die Plebs.«75 Es müsse vielmehr darum gehen, so sein Vorschlag, hinter dieser »Maske des Universellen«76 eine »Bühne, auf der die Kräfte sich in Gefahr begeben und aufeinanderstoßen«77 , offenzulegen und ihr Wirken aufeinander zu analysieren, ohne den vermeintlich ›objektiven‹ Standpunkt eines geschichtlichen Subjekts einzunehmen. Anstatt an einen kontinuierlichen Fortschritt – und, wie sich mit Feuerbach und Löwith hinzufügen ließe, eine aus der Theologie herrührende Teleologie und Eschatologie – zu glauben, müsse die Genealogie an einem »Gegengedächtnis«78 arbeiten, also all das, was nicht in der Historie der Historiker aufgeht, ans Licht bringen, um die eine Geschichte von sich selbst abfallen zu lassen und mit dem von ihr Ausgeklammerten zu konfrontieren. Im Gegensatz zu späteren Überlegungen stellt die Plebs für Foucault Anfang der 1970er Jahre noch das 70 71 72 73 74 75 76 77 78

Foucault, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, S. 180. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 183. Vgl. ebd., S. 184. Ebd. Ebd., S. 185. Ebd., S. 186.

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Zentrum dar, das es zu dezentrieren gilt. Dabei denkt er jedoch an gewaltsame Konflikte sowie Politik als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln und nicht wie Feuerbach und Löwith nach ihm an Begegnungen zwischen Mitmenschen.79 Anders als in seinem Aufsatz über Nietzsche verwendet Foucault den Begriff der Plebs in drei Gesprächen, die er ein Jahr später, 1972, erstens mit Niklaus Meienberg für das deutsche Tages-Anzeiger Magazin, zweitens unter anderem mit Paul Virilio für eine Sonderausgabe der Zeitschrift Esprit zum Thema Normalisierung und soziale Kontrolle und drittens mit anonym bleibenden Maoisten über die Idee von Volkstribunalen für Les Temps modernes führt. Bereits hier geht es ihm nicht mehr darum, die Plebs als eine mit sich selbst identische geschichtliche Bewegung zu kritisieren. Foucault widmet sich ab jetzt explizit der Moderne und verlegt in diesem Rahmen das Plebejische zunehmend an die Ränder der bürgerlichen Gesellschaft. Anhand der Plebs problematisiert er deren Grenzen.80 In dem als Die große Einsperrung (1972) betitelten Gespräch, das anlässlich seiner Aktivitäten im Rahmen der französischen Gefängnis-InformationsGruppe (G.I.P.) geführt wurde, geht er wie Federici und zumindest in Anklängen an die marxistische Schule davon aus, dass die Einsperrung erst mit dem Aufkommen des Kapitalismus und dessen »Problem der Arbeitskräfte und der Arbeitslosen«81 sowie wegen der Aufstände in Frankreich, Deutschland, England und anderen Ländern seit dem 17. Jahrhundert aus ökonomischen Gründen zu einem damals neuen Phänomen wurde. Während Foucault zufolge bis dahin die Armee eingesetzt worden sei, um Aufstände brutal niederzuschlagen, ohne sich um einzelne Menschenleben zu kümmern, hätten die europäischen Staaten damals festgestellt, dass hierdurch enormer Schaden entstehe, weil solche Aufstandsbekämpfungen zur Folge gehabt hätten, dass durch sie nicht nur Menschenleben, sondern auch Güter vernichtet worden seien und sie deswegen die Besitzenden ebenso getroffen hätten wie die »kleinen Leute«82 . Demnach ermöglichten es die Gefängnisse im 17. Jahrhundert laut Foucault manchen europäischen Staaten, einen Teil ihrer Bevölkerung permanent einzuschließen, ohne damit größeren ökonomischen Schaden anzurichten. Jedoch weist er im Anschluss darauf hin, dass andere Mitglieder dieses ursprünglichen Proletariats schließlich während des 19. Jahrhunderts zunehmend die bürgerlichen Werte verinnerlichten und es dadurch zum Abfall des »Subproletariat[s]«83 und der »Marginalisierten der Gesellschaft«84 von den proletarischen Schichten kam, es also mehr als nur die eine von der marxistischen Schule gekennzeichnete Konfliktlinie gibt. Im Verlauf des Dialogs spricht Foucault über die von der hier so genannten weißen Subjektform ausgeklammerten Menschen als »gewalttätigen marginalen Schichten der plebejischen Bevölkerung«85 , bevor er dafür

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Vgl. hierzu exemplarisch ders., In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1999. Vgl. hierzu auch Frank Ruda, Hegels Pöbel. Eine Untersuchung der ›Grundlinien der Philosophie des Rechts‹, Konstanz: Konstanz University Press, 2011. Ders., Die große Einsperrung, in: ders., »Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 2 (1970–1975)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002, S. 369. Ebd. Ebd., S. 376. Ebd. Ebd., S. 377.

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plädiert, den »Vertreter[n] einer neuen Plebs«86 , zu denen er damals schon die Jugendbanden mancher Pariser Vororte zählt, das Wort zu erteilen und sich deren Perspektive anzunähern, anstatt nur über das Proletariat zu reden und aus ihm ein geschichtliches Subjekt zu machen. An diesem Punkt korrespondiert seine Schilderung von Ereignissen innerhalb von Europa mit solchen in den Kolonien, wie Fanon sie zeitgleich beschreibt.87 Einen Konflikt ebenso wie mögliche Allianzen zwischen dem marxistischen Proletariat und der nun durchaus subaltern aufgefassten Figur der Plebs thematisiert Foucault auch in der mit Paul Virilio und anderen abgehaltenen Gesprächsrunde aus demselben Jahr, obwohl er in diesem Kontext weitere Akzentverschiebungen vornimmt. Hinsichtlich der von den Teilnehmern der Männerrunde problematisierten Unterscheidung zwischen ›arbeitenden‹ und ›gefährlichen‹ Klassen erwähnt er hier erstmals eine »nicht-proletarische, nicht proletarisierte Plebs«88 und antwortet seinem Gesprächspartner Donzelot, der darauf aufmerksam macht, dass man es bei ihr mit ›Gefängnisinsassen‹, ›Geisteskranken‹ und ›Straftätern‹ zu tun habe, es wäre trotzdem falsch, eine Trennlinie zwischen dem Proletariat und jenen noch viel mehr Marginalisierten zu ziehen. Die Plebs erscheint hier nicht mehr als eine Kategorie unterhalb oder jenseits des Proletariats, sondern sie soll nun als umfassendere Größe gedacht werden. Obwohl Foucault auch hier nicht explizit auf europäische Kolonialgeschichte eingeht, klingt diese durch, wenn er sagt: »Es gibt in der globalen Masse der Plebs einen Schnitt zwischen dem Proletariat und der nicht proletarisierten Plebs, und ich glaube, dass Institutionen wie Polizei, Justiz und Strafsystem eines der Mittel sind, die eingesetzt werden, um diesen Bruch, den der Kapitalismus braucht, unaufhörlich zu vertiefen.«89 Obwohl er in Die große Einsperrung (1972) in ausschließlichem Bezug auf die Provinz von Europa die im 19. Jahrhundert entstehende Kluft zwischen Proletariat und Plebs beschreibt, betont er doch auch einen Konflikt zwischen beiden und argumentiert damit ganz im Sinne Spivaks gegen die »Universalität der Erzählung von den Produktionsweisen«90 . Während im 19. Jahrhundert Teile des Proletariats die Werte der Bourgeoisie verinnerlicht hätten, legt er nun mehr Wert auf deren mögliche Vereinigung. Foucault zufolge gibt es zwei Wege, wie die Trennung von nicht proletarisierter Plebs und Proletariat aufgeweicht werden könne: einerseits, indem die Plebs, wie zuvor schon das Proletariat, die Werte und Normen der Bourgeoisie verinnerlicht. Dadurch würde die Plebs jedoch »entwaffnet sein, weil sie ihre Besonderheit gegenüber dem Proletariat verliert und für die Bourgeoisie nicht länger eine Gefahr als Ferment und Herd von Aufruhr und möglichen Erhebungen darstellt«91 . Denn, so Foucault weiter, das Wertesystem, das sie dann übernehmen würde, wäre nichts anderes als ein Machtinstrument in den Händen der Bourgeoisie, und wenn es zu einem neuen Bündnis zwischen Proletariat und Plebs kommen sollte, das »nicht einfach nur ein taktisches Bündnis von einem Tag oder einem

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Ebd. Vgl. Fanon, Die Verdammten dieser Erde. Michel Foucault, Paul Virilio et al., Arbeitende und gefährliche Klassen, in: ders., »Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 2 (1970–1975)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002, S. 416. Ebd., S. 417. Spivak, Can the Subaltern Speak?, S. 84. Foucault, Virilio et al., Arbeitende und gefährliche Klassen, S. 418f.

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Abend«92 sein dürfe, setze dies zunächst eine Abwendung von den bürgerlichen Normen und, genau umgekehrt, die ›Marginalisierung‹ des Proletariats als Teil einer umfassenderen Plebs voraus.93 Genauso wie Wynter, wenn sie die »breadwinner-democracy«94 des Monohumanismus dafür kritisiert, eine Demokratie »only for those categories of people who attain to our present middle-class or bourgeois conception of being human«95 zu sein, steht Foucault dem bürgerlichen Individuum, das von Europa hervorgebracht wurde, misstrauisch gegenüber. Obwohl er sich an den meisten Stellen innereuropäischen Situationen zuwendet, berühren andere seiner Ausführungen nicht nur Fragestellungen der Kolonialgeschichte, sondern gehen auch auf sie ein. In seiner vehementen Kritik an der Idee des Volkstribunals aus Über die Volksjustiz. Eine Auseinandersetzung mit Maoisten (1972) geht er noch einen Schritt weiter. Während seine Dialogpartner im Hinblick auf die bäuerliche Revolution in China im Volkstribunal eine Form der Volksjustiz sehen, die im Namen der Massen sprechen würde, ruft Foucault die Ereignisse nach der Französischen Revolution in Erinnerung und versteht die Tribunale jener Zeit als eine Deformation des Rufs nach Gerechtigkeit durch die Plebs, die er hier nicht näher spezifiziert. In diesem Falle wäre es nämlich zum Erstarken einer dritten Instanz »zwischen der an der Macht befindlichen Bourgeoisie und der Pariser Plebs«96 gekommen, welche damals »eine Ideologie, die bis zu einem gewissen Punkt die Ideologie der herrschenden Klasse war und ihnen sagte, was zu tun und zu sein ›gut‹ und ›nicht gut‹ war«97 , übernommen habe. Im Verlauf der Konversation wird Foucault das Dispositiv des Gerichts, welches auf einer »abstrakte[n] universelle[n] Idee von Gerechtigkeit«98 beruht und die Volksjustiz in den Staatsapparat integriert, an der Theatralität der Architektur von Gerichtssälen verdeutlichen und insgesamt ablehnen. Ihm zufolge besteht die Unvereinbarkeit von Volksjustiz und Tribunalen bereits in dem Tisch, an dem üblicherweise Richter und Anwälte sitzen und der als eine dritte Instanz in neutraler Distanz zu den beiden Prozessparteien positioniert ist und sie ›transzendiert‹. Nur aufgrund »einer bestimmten Wahrheitsnorm und einer gewissen Anzahl von Vorstellungen über das Gerechte und das Ungerechte«99 und seiner Macht zur Durchsetzung der richterlichen Entscheidung könne das Volkstribunal im Namen aller Recht sprechen. Anstatt aber im Namen aller zu richten, sei es die historische Funktion der Gerichte und des Strafsystems gewesen, »eine bestimmte Anzahl von Widersprüchen und einen Hauptwiderspruch einzuführen, und zwar die proletarisierten Plebejer und die nicht proletarisierten Plebejer zueinander in einen Gegensatz zu bringen«100 und die Moral der Bourgeoisie als universale Moral durchzusetzen.101 Demgegenüber steht seit 92 93 94 95 96

Ebd., S. 419. Vgl. ebd., S. 419. Wynter und Scott, The Re-Enchantment of Humanism, S. 157. Ebd. Michel Foucault, Über die Volksjustiz. Eine Auseinandersetzung mit Maoisten, in: ders., »Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 2 (1970–1975)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002, S. 427. 97 Ebd. 98 Ebd., S. 432. 99 Ebd. 100 Ebd., S. 438. 101 Vgl. ebd., S. 439.

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der Einrichtung des Strafsystems und der Übertragung exekutiver Funktionen von der Armee auf Polizei und Gerichte die Plebs, in der Foucault jetzt »die Speerspitze der Erhebung des Volkes«102 sieht. Das heißt allerdings keineswegs, dass er für eine Situation, in der sich die proletarisierte und die nicht proletarisierte Plebs vereinten, jegliche Normierungsinstanz ablehnen würde. Zwar steht er der Institution des Gerichts, welches auf einer »Arbeitsteilung«103 beruhe, ablehnend gegenüber, weil er in ihr ein Werkzeug in den Händen des Bürgertums sieht, das seine Macht vermittels der Plebs reproduzierte. Die Norm im Sinne eines Akts der Volksjustiz würde Foucault dann befürworten, wenn sie von den Massen kontrolliert werden könnte.104 Dies sei aber nicht möglich. Im Gegensatz zu den Maoisten geht er davon aus, dass die Übernahme des Staatsapparats durch ein diktatorisches Proletariat der Kontrolle der Norm durch die Plebs diametral entgegenwirken würde – womit er bereits Anfang der 1970er Jahre die Gegenwart Chinas durchaus präzise vorwegnimmt. Diese Spannung und seine Kritik an einer Instanz, die im Namen der Plebs sprechen könnte, wird er in späteren Interviews – Zum geschlossenen Strafvollzug (1973 für die Zeitschrift La Prison) und zwei Jahre danach im Gespräch über das Gefängnis (1975 im Magazine littéraire) – weiter zuspitzen und auf die damalige Situation in den französischen Strafvollzugsanstalten beziehen. Nach wie vor geht es ihm um die nicht proletarisierte Plebs im Sinne eines relativen Außen, dessen Transformation durch wichtige Verschiebungen innerhalb der Macht- und Wissensgefüge im 18. Jahrhundert er nun, während er an Überwachen und Strafen arbeitet, das ebenfalls 1975 erscheint, analysiert. Im 18. Jahrhundert wird der Straftäter zum »Feind der gesamten Gesellschaft«105 . Die Strafpraxis wandelt sich dahingehend, dass dann eine zunehmende »Überwachung der gesamten plebejischen Bevölkerung«106 einsetzt, und zwar durch eine neue Regierungstechnik, die er in seinem Buch zum Thema Panoptismus nennen wird. Hinsichtlich seines vorangegangenen Gesprächs mit den Maoisten stellt Foucault klar, dass die durch das damals entstehende Strafsystem zementierte Differenz zwischen dem Proletariat und einer unterhalb und jenseits dessen situierten »Randbevölkerung«107 durch das Bedürfnis motiviert wurde, den bürgerlichen Wohlstand gegenüber denjenigen abzusichern, in deren Händen er eigentlich lag, weil sie ihn produzierten: »Jeder Arbeiter ist ein möglicher Räuber. Und jede Schöpfung von Mehrwert war zugleich eine Gelegenheit oder zumindest eine Möglichkeit, von diesen Vermögenswerten etwas abzuzweigen.«108 Indem das Bürgertum vermittels eines Überwachungssystems die Plebs in zwei Segmente unterteilt und von denen, die arbeiten, jene abspaltet, mit denen sich das Strafsystem zu befassen hat, sichert es seine eigene überlegene Position gegenüber beiden. Sowohl die Fabrik als auch das Gefängnis sind in ihren Anfängen durch ihre die Plebs internierende Funktion gekennzeichnet. Dies macht Foucault, ebenso wie 1974 während 102 103 104 105

Ebd., S. 440. Ebd., S. 455. Vgl. ebd., S. 456. Ders., Zum geschlossenen Strafvollzug, in: ders., »Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 2 (1970–1975)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002, S. 544. 106 Ebd. 107 Ebd., S. 545. 108 Ebd.

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seiner Vortragsreihe über Die Wahrheit und die juristischen Formen an der Katholischen Universität in Rio de Janeiro109 , am Phänomen der französischen, schweizerischen und englischen ›Fabrik-Klöster‹ im 19. Jahrhundert deutlich. In Frankreich beispielsweise arbeiteten 40.000 Mädchen in diesen, wie er sie nennt, ›Werkstätten‹, und »sie konnten sie ohne Erlaubnis nicht verlassen, sie durften nicht sprechen, sie waren der Überwachung, der Bestrafung unterworfen«110 . Vor diesem Hintergrund wird er die in den 1970er Jahren stattfindende Reform des französischen Gefängnissystems, die ›Straftäter*innen‹ zu ›sozial Benachteiligten‹ und ›Strafe‹ zur ›Behandlung‹ macht, in ein anderes Licht stellen. Foucault zufolge lässt sich während der 1970er Jahre beobachten, dass medizinische, schulische und strafrechtliche Techniken immer stärker dazu tendieren, miteinander zu verschmelzen.111 Im Erscheinungsjahr von Überwachen und Strafen (1975) bekräftigt er im Gespräch über das Gefängnis (1975) seine Feststellung, es finde ein Übergang vom Bestrafen zur Überwachen statt, und spricht von einer »synaptische[n] Herrschaftsform der Macht und ihrer Ausübung im sozialen Körper«112 , die schon um 1800 nicht mehr oberhalb der Plebs lokalisierbar wäre, sondern in sie eindringe, weshalb er der marxistischen Schule vorwirft, diese Entwicklung sowie das Strafsystem insgesamt fälschlicherweise in Begriffen des Überbaus zu denken.113 Diese Beobachtung wird er zwei weitere Jahre später, in Die Geburt der Sozialmedizin, dem zweiten 1977 an der staatlichen Universität von Rio de Janeiro gehaltenen Vortrag zum Thema, im Hinblick auf die Medikalisierung der bürgerlichen Gesellschaft machen, welche »die Führung, das Verhalten und den menschlichen Körper ab dem 18. Jahrhundert in ein immer dichteres und bedeutenderes Netz«114 einfügt. Die Medikalisierung ganzer Bevölkerungen unter biopolitischen Vorzeichen fand Foucault zufolge während des Aufkommens gouvernementaler Regierungsformen ab dem 18. Jahrhundert statt, um die öffentliche Gesundheit zu gewährleisten und die schnell anwachsenden Anteile der ländlichen Plebs in den Städten als Arbeitskraft nutzen und dort im Vorhinein mögliche Gefahren durch Krankheiten und Seuchen abwehren zu können. Jedoch kam es in diesem Zusammenhang zur Parzellierung der Städte in Bezirke für ärmere und reichere Bevölkerungsschichten. Am Beispiel der Choleraepidemie von 1832, die in Paris beginnt und sich dann in ganz Europa ausbreitet, macht Foucault die Angst vor Ansteckungen der Bourgeoisie vonseiten »der proletarischen oder plebejischen Bevölkerung«115 deutlich. Obwohl die Plebs in Foucaults Vortrag in Brasilien nur eine periphere Rolle spielt, wird deutlich, dass auch das moderne Gesundheitswesen dazu beiträgt, einen Teil der Plebs in einen in vielerlei Hinsicht immunen Gesellschaftskörper, dessen genetisch-kritische Analyse im Hinblick auf die europäische Figur des Individuums Feuerbach auf subjekti-

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Vgl. hierzu ders., Die Wahrheit und die juristischen Formen, S. 752ff. Ders., Zum geschlossenen Strafvollzug, S. 548. Vgl. ebd., S. 552. Ders., Gespräch über das Gefängnis, in: ders., »Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 2 (1970–1975)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002, S. 915. Vgl. ebd., S. 929. Ders., Die Geburt der Sozialmedizin, in: ders., »Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 3 (1976–1979)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003, S. 273. Ebd., S. 294.

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vitätstheoretischer Ebene ein Jahrhundert vor Foucault leistet, zu integrieren und einen anderen Teil aus sich auszustoßen. Aus einer anderen Perspektive argumentiert Foucault in dem im selben Jahr in der Zeitschrift Les Cahiers du chemin erschienenen Aufsatz über Das Leben der infamen Menschen (1977). Darin beschreibt er seine vorangegangenen Untersuchungen zu den Bittschriften des Volkes an den König (sowie dessen darauf erfolgende lettres de cachet) zwischen 1660 und 1760, die er als Zeichen für einen Übergang von der souveränen in disziplinäre und biopolitische Ordnungen während des 17. und 18. Jahrhunderts liest, weil sich in ihnen »eine Diskursivierung des Alltäglichen, ein Durchgang durch das unendlich kleine Universum der Unregelmäßigkeiten«116 manifestiert, durch die »jeder für sich, zu seinen eigenen Zwecken und gegen die anderen, die ungeheure Größe der absoluten Macht nutzen konnte […]«117 . Angeklagt werden in den Bittschriften die »unendlich kleinen Leben«118 derjenigen, die gegen das Gesetz verstoßen haben und deshalb auf Bitten von Familienmitgliedern, Freunden, Nachbarn oder anderen Zeug*innen ihrer Taten der Rechtsprechung unterzogen werden sollen, die Infamen, die einfach vergessen und von der Geschichte übergangen worden wären, hätten sie nicht in einer Anklageschrift Erwähnung gefunden. Foucault ist nicht allzu weit von Spivaks dekonstruktiv geprägten Ausführungen zur Subalternen entfernt, wenn er schreibt: »Damit etwas von ihnen bis zu uns gelangt, musste freilich zumindest einen Augenblick lang ein Lichtbündel kommen und sie erhellen. Ein Licht von anderswoher. Das, was sie der Nacht entreißt, in der sie hätten bleiben können und vielleicht auch für immer bleiben müssen, ist die Begegnung mit der Macht: Ohne diesen Zusammenstoß wäre mit Sicherheit kein Wort mehr da, um an ihren flüchtigen Lebensverlauf zu erinnern […].«119 Diejenigen, deren historische Spuren nur in fast verschütteten Dokumenten erhalten wurden, und das auch nur, weil es aus jeweils besonderen Gründen zu einer Konfrontation zwischen ihnen und den Wirkungsweisen der Macht kam, die Infamen und Infimen, stehen im Gegensatz zu denen, die Geschichte gemacht und Macht ausgeübt haben. Als wortwörtlich Unberühmten kommt den Angeklagten der lettres de cachet kein Ruhm zu. Im selben Text legt Foucault auch einen Teil seiner Methode offen: Ihn fesseln, wie er sagt, Dokumente, welche die ansonsten unsichtbare Existenz der Ausgestoßenen offenbaren, nicht allein deshalb, weil sich mit ihrer Hilfe aus den Aussagen einzelner Körper 116 117 118 119

Ders., Das Leben der infamen Menschen, in: ders., »Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 3 (1976–1979)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003, S. 321. Ebd., S. 323. Ebd., S. 311. Ebd., S. 315. Insofern ist Spivaks Polemik durchaus auch in einem dekonstruktiven Sinne ungerecht, wenn sie schreibt: »Foucault bezieht sich auf keinerlei Version (ob früh oder spät, proto- oder post-) des Imperialismus. Seine Themen sind von großem Nutzen für Intellektuelle, die mit dem Verfall des Westens beschäftigt sind. Die Verführungskraft, die sie auf diese ausüben – und das, was uns zugleich bange werden lässt –, liegt darin beschlossen, dass sie es der komplizenhaften Verstrickung des Forschersubjekts (männlicher oder weiblicher BerufswissenschaftlerInnen) erlauben, sich selbst zu verschleiern, indem es sich in Transparenz hüllt.« Spivak, Can the Subaltern Speak?, S. 72f.

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allgemeine Macht- und Wissenskonstellationen ableiten lassen, in die sie eingespannt sind. Seine Analyse zielt nicht nur auf Diskursfragmente ab, »die die Bruchstücke einer Wirklichkeit mitführen, von der sie ein Teil sind«120 , sondern mehr noch auf die Perspektiven und Selbstrepräsentationen derer, für die in der Regel andere gesprochen haben. Hierauf hätte Spivak in Can the Subaltern Speak? (1988) eingehen können. Im Gespräch mit Rancière, das Foucault parallel zum Beginn seiner Vorlesungen über Die Geschichte der Gouvernementalität (1977–79) am Collège de France führt, kommt es schließlich zu einer entscheidenden Neudefinition der Plebs und zu einer weiteren Akzentverschiebung. Dort heißt es: »›Die‹ Plebs existiert zweifellos nicht, aber es gibt ›etwas‹ Plebejisches, es gibt Plebejisches in den Körpern und in den Seelen, es ist in den Individuen, im Proletariat, im Bürgertum, aber mit verschiedenen Erweiterungen, Formen, Energien und Ursprünglichkeiten.«121 Weil Foucault der Konflikt zwischen Subjektivitäten als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln mehr interessiert als deren Öffnung füreinander, unterscheidet sich seine eher bittere historische Analyse der zeitgleichen Assimilation eines Teils der Plebs in die bürgerliche Gesellschaft und der Abdrängung eines anderen Teils vom Zentrum in die Peripherie in ihrer Methode von Feuerbachs Emphase des menschlichen Gattungswesens. Allerdings korrespondiert sie zugleich mit der Problematik, die der Denker des deutschen Vormärz am Verhältnis zwischen Ich und Du festmacht, da es Foucault um Querverbindungen zwischen unterschiedlichen marginalisierten Gruppen geht. Diesbezüglich nimmt Wynter den französischen Denker vor Spivak in Schutz, wenn sie in einem 2000 in dem karibischen Magazin Small Axe abgedruckten Gespräch zu David Scott meint: »Gayatri Spivak made the point in her essay […] that Foucault and other European theorists know nothing about the broader narratives of imperialism, of the experience of imperialism. Yet this is the very point Foucault made himself when he called for an alliance politics.«122 Denkt Foucault die Plebs bis 1977 entlang eines Willens zur Macht und in ihrer Abgrenzung sowohl zum Bürgertum als auch zum Proletariat, so fokussiert er sich Ende der 1970er Jahre explizit auf ihren Abfall von der Macht und eine ihr inhärente, zentrifugale Fluchtbewegung und findet »etwas Plebejisches«123 sogar innerhalb der Bourgeoisie. Trotzdem bleibt der Mensch als Plebs bei ihm Abfall. Im Gegensatz zu seinen Überlegungen der vorangegangenen Jahre denkt Foucault die Plebs im Rahmen ihrer letzten Erwähnung in den Dits et Ecrits am Ende als eine abstrakte Größe, ohne sie näher konkretisieren zu können. Wie bereits in Nietzsche, die Genealogie, die Historie (1971) legt er Ende der 1970er Jahre erneut Wert darauf, aus ihr kein historisches Subjekt machen zu wollen und sie vielmehr im Sinne »einer beständigen und ständig stummen Zielscheibe der Dispositive der Macht«124 zu verstehen. Man dürfe sie gerade nicht »als den beständigen

120 Foucault, Das Leben der infamen Menschen, S. 314. 121 Ders. und Jacques Rancière, Mächte und Strategien, in: ders., »Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 3 (1976–1979)«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003, S. 542. 122 Wynter und Scott, The Re-Enchantment of Humanism, S. 187. 123 Foucault und Rancière, Mächte und Strategien, S. 542. 124 Ebd., S. 541.

6. Spivak, Derrida, Foucaults europäischer Mensch und der Kolonialismus

Boden der Geschichte begreifen, als das Endziel jeder Unterwerfung, den niemals verloschenen Herd aller Revolutionen«125 , weil sie keine soziologische Wirklichkeit besitze. Obwohl er an dieser Stelle die Opfer des Kolonialismus leider nicht thematisiert, sagt Foucault zu Rancière: »Es gibt jedoch immer etwas im Gesellschaftskörper, in den Klassen, in den Gruppen und in den Individuen selbst, das in gewissem Sinne den Machtverhältnissen entgeht; etwas, das nicht der mehr oder weniger formbare Rohstoff, sondern eine zentrifugale Bewegung, eine gegenläufige, befreite Energie ist.«126 Die Plebs wäre demnach die Grenze des im Verlauf der kolonialen Moderne etablierten Weltsystems, welche aktuell zugleich auf die Sinnlichkeit des Menschen, einen Planeten der Slums und die ebenso ökologische wie politische Krise des postkolonialen Anthropozäns verweist. Die Plebs wären dann potenziell alle Menschen, jedoch auf völlig unterschiedliche Weise, je nachdem, ob sie den globalen Norden oder den globalen Süden unseres Planeten bewohnen.

6.2 Derridas Enden des Menschen Im Oktober 1968, zwei Jahre nach Erscheinen von Foucaults Die Ordnung der Dinge (1966), hält Derrida auf einem internationalen Kolloquium über Philosophie und Anthropologie in New York einen Vortrag unter dem Titel The Ends of Man, in dem er damals aktuelle Entwicklungen in der französischen Philosophie skizziert. Er legt Wert darauf, die Entstehung des Vortragstextes »sehr genau«127 auf den April 1968 zu datieren, also die Wochen »der Eröffnung der Vorgespräche für einen Frieden in Vietnam und des Mordes an Martin Luther King«128 . Mit Foucault stimmt er darin überein, dass der existenzialistische Humanismus Sartres zur Zeit der weltweiten Studentenproteste zunehmend von einer Generation abgelöst würde, deren Denken nicht länger von der »Einheit der menschlichen Wirklichkeit«129 ausgehe, sondern ein bestimmtes Bild des Menschen, das Derrida an dieser Stelle mit einer »Onto-theo-teleologie«130 in Zusammenhang bringt, infrage stelle und auf seine ihm inhärenten Grenzen hin befrage. Der überarbeitete Vortrag ist in Randgänge der Philosophie (1972) enthalten, der berühmten Sammlung früher Schlüsseltexte zur Dekonstruktion, die von einem später entstandenen und Tympanon (1972) betitelten Essay eingeleitet wird. In Tympanon (1972) laufen zwei Textspalten parallel nebeneinander her, wobei der Haupttext links doppelt so breit ist wie die Marginalien rechts von ihm. Links entwickelt Derrida Gedanken zu den Rändern der Philosophie und deren »Herrschaft über die Grenze«131 und fragt, wie ein Anderes zu denken sei, das nicht nur ein eigenes Anderes oder das Andere eines Eigenen wäre. Rechts davon platziert er einen am Ende mit dem 125 126 127

Ebd., S. 542. Ebd. Jacques Derrida, Fines Hominis, in: ders., »Randgänge der Philosophie«, Wien: Passagen, 1988, S. 137. 128 Ebd. 129 Ebd., S. 138. 130 Ebd., S. 144. 131 Jacques Derrida, Tympanon, in: ders., »Randgänge der Philosophie«, Wien: Passagen, 1988, S. 13.

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Namen Michel Leiris signierten prosaischen Text, dessen Quelle er nicht benennt. Es handelt sich bei ihm um einen Auszug aus dem ›Persephone‹-Kapitel des Romans Streichungen (1948) von Leiris, dem ersten Band des vierbändigen autobiografischen Zyklus Die Spielregel (1948–76).132 Derridas Tympanon (1972) vollzieht auf formaler Ebene, was es inhaltlich problematisiert: die Unmöglichkeit, einen Text in sich abzuschließen, und die Verwobenheit von Texten miteinander, deren exorbitante différance sich nirgendwo verankern lässt. Was Leiris in den Marginalien in poetischen Worten entfaltet, die zugleich mehr und weniger als Prosa sind, realisiert Derrida im Dialog mit der Philosophiegeschichte der europäischen Moderne: »Das An-der-Grenze-sein: diese Worte bilden noch keinen Satz und noch weniger einen Diskurs. Aber vorausgesetzt, daß man richtig damit umgeht, liegt hier bereit, woraus sich beinahe alle Sätze dieses Buches hervorbringen lassen«133 , schreibt er zu Beginn und argumentiert später nicht nur metaphorisch für das Trommelfell als eine fremdbezügliche »Membran, die sich den Stößen darbietet«134 , die sie von außen erreichen. In allen in den Randgängen der Philosophie (1972) versammelten Texten wird es Derrida darum gehen, die selbstbezügliche Logik, die ihm zufolge der westlichen Philosophie als ihr Logozentrismus zugrunde liegt und in der vorliegenden Arbeit als weiße Subjektform markiert wurde, von innen heraus zu dekonstruieren. Während Derrida ein dezentriertes Textverständnis zu entwickeln versucht, wonach der Name Mensch eine logozentrische Umschließung darstellt, von der die différance eingekreist wird und deren Ränder er öffnen möchte, sucht Feuerbach fast ein Jahrhundert vor ihm nach sinnlichen Verhältnissen, die das Individuum aus sich herausführen. Dabei teilen Derrida und Feuerbach, trotz aller methodischer Unterschiede, ihre Ablehnung einer Idee des Seins als sich eigene und selbst präsente Instanz. In Referenz auf Hegels Weltgeist und dessen Phänomenologie moniert Derrida im Tympanon (1972), das er vier Jahre nach The Ends of Man als Vorwort zum Buch verfasst: »Mit diesen auf der Ebene des Begriffs erhobenen Ansprüchen wird man nie über ihn hinaus vorstoßen – der Vorstoß ist sein Objekt. Anstatt jene (wieder) andere Umfassung zu bestimmen, sie anzuerkennen, sich ihrer zu bedienen, sie gänzlich zutage zu 132

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Vgl. Michel Leiris, Die Spielregel 1. Streichungen, München: Matthes & Seitz, 1982, S. 97–176. In seinem Nachwort würdigt Maurice Blanchot das vierbändige und über mehrere Jahrzehnte hinweg entstandene Werk Die Spielregel (1948–76) von Leiris als genreübergreifende Form der Autobiografie, die nicht länger um ein persönliches Leben herum zentriert sei, sondern sich mithilfe von Stilmitteln des Romans rankenhaft verzweige. In ihm gehe es um Folgendes: »Etwas wie eine reine Kraft, eine Schneeschmelze, eine trunkene und oft unter dem Deckmantel der Trunkenheit erreichte Bruchstelle, an der das sprechende Wesen einzig noch die unzusammenhängende Behauptung seiner selbst zu sagen findet, ein Ich, Ich, Ich, das nicht eitel noch überheblich, sondern zerrüttet, wenig glücklich, atemlos und doch durch die Kraft seiner Schwäche anziehend ist.« Maurice Blanchot, Kampf mit dem Engel, in: Michel Leiris, »Die Spielregel 1. Streichungen«, München: Matthes & Seitz, 1982, S. 392. In der Tat wählt Derrida als Marginalie für sein Tympanon (1972) genau jenen Teil des ›Persephone‹-Kapitels aus den Streichungen (1948), in dem Leiris von »Rankennamen« über »zerbrechliche Membranen« auf eine »Höhlenwelt« zwischen Ohr- und Mundraum zu sprechen kommt, die Innen und Außen miteinander verbindet. Vgl. Derrida, Tympanon, S. 15ff. Ebd. Ebd., S. 25.

6. Spivak, Derrida, Foucaults europäischer Mensch und der Kolonialismus

bringen, sie auszuformen, sie darzustellen, statt sie mit einem Wort zu produzieren […], würde es sich – aber einer ihr völlig unbekannten, radikal neuen Bewegung gemäß – um ein Anderes handeln, das nicht mehr ihr Anderes wäre. […] Unter welchen Bedingungen könnte man demnach für ein Philosophem im allgemeinen eine Grenze bezeichnen, eine Randzone, die es sich nicht ad infinitum wiederaneignen, als die seine konzipieren kann, indem es im voraus den Prozeß seiner Entäußerung (wieder, immer wieder Hegel) hervorbringt und in sich zurücknimmt, indem es von sich aus zu seiner Umkehrung schreitet? […] Denn so wird das Sein verstanden: sein Eigenes. Unentwegt gewährleistet es die aufhebende Bewegung der Wiederaneignung. […] Wenn das Sein wirklich ein Prozeß der Wiederaneignung ist, kann die ›Seinsfrage‹ eines neuen Typs nicht perkutiert werden, ohne sie an der absolut koextensiven Frage des Eigenen zu messen. Diese läßt sich aber wieder nicht vom idealisierenden Wert des Sehr-nahen trennen, welchem seine beruhigende Macht einzig aus der Struktur des Sich-RedenHörens zukommt.«135 Im Tympanon (1972) weist Derrida nicht nur den Logo- als Phonozentrismus zurück, sondern auch die Vorstellung der Philosophie als System, das verschiedene Bereiche hierarchisch umfasst, indem es aus »regionalen Ontologien«136 eine einzige »Fundamentalontologie«137 macht. Wie Feuerbach kritisiert Derrida implizit, was hier weiße Subjektform genannt wird, da er sich, wenn auch auf gänzlich anderen Wegen, mit seinem Konzept der différance gegen Selbst- und für Fremdbezüge einsetzt. Obwohl er diese anders als Feuerbach nicht entlang sinnlicher Verhältnisse zwischen mehr als nur einer Subjektivität denkt, sondern an dieser Stelle für die »Teilung des Eigenen«138 in Timbre, Stil und Signatur plädiert, geht es ihm doch, wenn er von Randzonen und Grenzlinien spricht, darum, »daß jenseits des philosophischen Textes nicht ein weißer Fleck, eine unberührte, leere Randzone, sondern ein anderer Text beginnt, ein Gewebe von Kraftdifferenzen ohne jedes aktuelle Bezugszentrum […]«139 . Obwohl Derridas Methode der Dekonstruktion eine textuelle ist, versteht er hierunter nicht nur gesprochenen oder geschriebenen Text. Derridas Schriftbegriff meint Differenz schlechthin und berührt deshalb auch Sinnliches als primäre Alterität im Sinne Feuerbachs, obwohl er das nicht immer explizit macht.140 Vor diesem Hintergrund geht es hier um die Frage, inwiefern Derridas 1968 in seinem Vortrag The Ends of Man formulierte Kritik am Humanismus zwar die Kritik an der Einzäunung des Menschen innerhalb eines allzu gewissen Wir darstellt, er damit aber nicht Menschen im Plural verabschiedet. Am Ende zögert er, mit Nietzsche die Nachtwache zu verlassen und dem Ruf des Übermenschen zu folgen. Während Foucault die Selbstbezüglichkeit der empirisch-transzendentalen Dublette wie ein Gesicht im Sand verschwinden lassen will, möchte Derrida den Menschen als Nähe zu sich und als Name

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Ebd., S. 17ff. Ebd., S. 21. Ebd. Ebd., S. 21. Ebd., S. 23. Was aber an anderer Stelle durchaus geschieht. Vgl. ders., Die Wahrheit in der Malerei, Wien: Passagen, 1992.

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des Zentrums von Texten entgrenzen und an seinen Rändern ausfransen lassen. So bezieht sich auch Wynter in The Ceremony Found (2015) auf Derridas Frage nach dem ›Aber wer, wir?‹ ökumenisch verstandener Menschen im Plural. »This over-representation of our Western-bourgeois, ethno-class referent We as being isomorphic with that of the ›we‹ of the ecumenically human is also made possible only by the further fact that, as Derrida points out, in our academic/intellectual work ›the history of the concept of ›man‹ itself is rarely if ever placed under examination.«141 Während Feuerbach, wenn er im 19. Jahrhundert versucht, den Menschen »aus dem Morast, worein er versunken war, herauszuziehen«142 , Sein aufseiten zweiter anstatt erster Personen, in der Sinnlichkeit des Menschen sowie im Hinblick auf dessen Abhängigkeit von anderem und anderen verortet und betont, dass es nicht sprachlich gefasst werden könne, bevor es empfunden würde, betont Derrida im 20. Jahrhundert das Problem einer Metaphysik, die ihm zufolge von Anfang an mit dem Humanismus verbunden gewesen sei und Sein primär als Nähe des Menschen zu sich selbst verstanden habe. In drei Abschnitten setzt er sich erstens mit Sartre, zweitens mit (dessen Lesart von) Hegel, Husserl und Heidegger und drittens mit Nietzsche auseinander, um am Ende seines Vortrags auf den Unterschied zwischen ›höherem Menschen‹ und ›Übermensch‹ zu sprechen zu kommen und einzugestehen, sich zwischen diesen beiden Figuren nicht entscheiden zu können. An Sartres Das Sein und das Nichts (1943) kritisiert Derrida eine simplifizierende Adaption von Heideggers Daseins-Begriff innerhalb des Existenzialismus und dessen Übersetzung durch Henry Corbin als »menschliche Wirklichkeit«143 . Einerseits sei es ihm gelungen, sich vom »intellektualistischen oder spiritualistischen Humanismus«144 zu distanzieren, der das intellektuelle Milieu der Vorkriegszeit in Frankreich beherrscht habe, also eine gewisse »Einheit des Anthropos«145 zurückzuweisen; andererseits reproduziere Sartre durch seine Konzeption menschlicher Wirklichkeit zuallererst als Entwurf menschlicher Existenz aber auch ebendiese Einheit: »Welche Brüche mit den klassischen Anthropologien […] auch immer markiert werden mögen, so wird doch die metaphysische Vertrautheit mit dem so natürlichen Bezug des Wir des Philosophen auf das ›Wir Menschen‹, auf das Wir im Horizont der Menschheit, nicht unterbrochen.«146 Weil sich der Mensch bei Sartre entwerfe, wiederhole er eine bestimmte Konzeption des Seins als Bezug durch sich auf sich selbst. Derrida scheint auf Feuerbach anzuspielen, wenn er seine Kritik am Existenzialismus formuliert und beschreibt, inwiefern Sartres Entwurf menschlicher Existenz religiös bleibe, denn worum es Sartre letztlich gehe, sei »die metaphysische Einheit von Mensch

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Wynter, The Ceremony Found, S. 216. Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, S. 247. Derrida, Fines Hominis, S. 138. Ebd. Ebd. Ebd., S. 139.

6. Spivak, Derrida, Foucaults europäischer Mensch und der Kolonialismus

und Gott, der Bezug des Menschen auf Gott, der Entwurf, wie Gott zu werden als konstituierender Entwurf der menschlichen Wirklichkeit«147 . Wenn Derrida seine Probleme mit dem »Lesen oder Nicht-Lesen von Heidegger«148 in der französischen Nachkriegsphilosophie äußert, lässt sich an dieser Stelle fragen, inwiefern er selbst Feuerbach gelesen hat, da seine beiläufige Referenz ebenso wie diejenigen Foucaults leider nur ein Klischee der Problemlage wiedergibt, mit der Feuerbach befasst war und die mit seiner eigenen Fragestellung nicht inkompatibel ist. Feuerbach spielt jedoch für die aus dem Strukturalismus heraus erwachsende Denkrichtung, die sich in den 1960er Jahren gegen Sartre in Position bringt, keine Rolle. Entgegen einer »anthropologistischen«149 Lektüre Hegels, Husserls und Heideggers geht es Derrida wie Foucault um eine Abkehr von ›Humanismen‹ jeglicher Art.150 Von Sartre gelangt Derrida zunächst zu Hegel und dessen Phänomenologie des Geistes (1807), die erst im Nachkriegsfrankreich intensiv rezipiert wurde, wobei es in ihr allerdings nicht um etwas gehe, »was man einfach den Menschen nennen könnte«151 , sondern – hier unterscheiden sich Derrida und Foucault – »[a]ls Wissenschaft von der Erfahrung des Bewußtseins, als Wissenschaft von den Strukturen der Phänomenalität des Geistes, der sich auf sich bezieht, unterscheidet sie sich streng von der Anthropologie«152 . Dasselbe trifft laut Derrida für die existenzialistische Lektüre Husserls und Heideggers zu. Während Husserls transzendentale Phänomenologie nichts mit einem »innerweltlichen, ›Mensch‹ genannten Seienden«153 zu tun habe, erinnere »Heidegger in seinem Brief über den Humanismus diejenigen, die es noch nicht wissen konnten, die nicht einmal die allerersten Paragraphen von Sein und Zeit berücksichtigen konnten, daran, daß Anthropologie und Humanismus nicht das Milieu seines Denkens und der Horizont seiner Fragen waren«154 .

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Ebd. Ebd., S. 138. Ebd., S. 139. Wobei Schmidts gegen die vom Strukturalismus herkommenden Schulen gerichtete Polemik der Sache auch nicht gerecht wird. Vgl. ders., Geschichte und Struktur, 1971. Derrida, Fines Hominis, S. 140. Ebd. Ebd., S. 141. Ebd. Wobei Heidegger in seinem Brief an Jean Beaufret an entscheidender Stelle schreibt: »Der Satz: ›Der Mensch existiert‹ antwortet nicht auf die Frage, ob der Mensch wirklich sei oder nicht, sondern antwortet auf die Frage nach dem ›Wesen‹ des Menschen. Diese Frage pflegen wir gleich ungemäß zu stellen, ob wir fragen, was der Mensch sei, oder ob wir fragen, wer der Mensch sei. Denn im Wer? oder Was? halten wir schon nach einem Personhaften oder nach einem Gegenstand Ausschau. Allein das Personhafte verfehlt und verbaut zugleich das Wesende der seinsgeschichtlichen Ek-sistenz nicht weniger als das Gegenständliche.« Ders., Über den Humanismus, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 1975, S. 16. Dem fügt er an späterer Stelle hinzu: »Der Mensch ist nie zunächst diesseits der Welt Mensch als ein ›Subjekt‹, sei dies als ›Ich‹ oder als ›Wir‹ gemeint. Er ist auch nie erst und nur Subjekt, das sich zwar immer zugleich auch auf Objekte bezieht, sodaß sein Wesen in der Subjekt-Objekt-Beziehung läge. Vielmehr ist der Mensch zuvor in seinem Wesen ek-sistent in der Offenheit des Seins, welches Offene erst das ›Zwischen‹ lichtet, innerhalb dessen eine ›Beziehung‹ vom Subjekt zum Objekt ›sein‹ kann.« Ebd., S. 35f.

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Durchaus in selbstbewussten Gesten ersetzt Derrida den existenzialistischen Humanismus durch die Dekonstruktion. Diesbezüglich spricht er sich im Hauptteil seines Vortrags The Ends of Man (1968) gegen eine Amalgamierung der Texte Hegels, Husserls und Heideggers mit einer »humanistischen Metaphysik«155 aus, wie sie seiner Ansicht nach von Sartre vollzogen worden sei. Seine vorangestellte Frage lautet, was die jeweilige ›Aufhebung‹ des Menschen in deren Denken sei: »Aufheben (relever) in dem Sinne, in dem es verschieben, erheben, ersetzen und voranbringen in ein und derselben Bewegung meint.«156 Während Feuerbachs Anthropologie Mitte des 19. Jahrhunderts die Verstrickung mehrerer Subjektivitäten hervorhebt und sein Humanismus darin besteht zu unterstreichen, dass es ein Fehler sei, sich den Menschen als in sich abgeschlossenes und selbstbezügliches Individuum vorzustellen, geht es Derrida, parallel zu Foucault, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts darum, sich von Sartre abzusetzen. Seine sich als Gegenlektüren zu denen Sartres verstehenden Lektüren Hegels, Husserls und Heideggers bringen ihn dazu, den Begriff des Menschen an einer Selbstpräsenz festzumachen. Ob er damit Sartre gerecht wird, kann hier nicht beantwortet werden. Mit Feuerbach jedoch teilt Derrida ebenso wie Foucault seine Infragestellung einer Subjektivität, die von Dussel solipsistisch genannt wurde.157 Bereits an Hegel macht er die von ihm geschilderte Problemlage deutlich. Denn indem Hegel das Bewusstsein von Sein ins Zentrum seiner Philosophie stellt, versteht er unter Wahrheit »die Präsenz oder die Präsentation des Wesens als Gewesenheit«158 . Obwohl es bei Hegel um den Geist und dessen Aufhebung des Menschen gehe, schwinge bei ihm neben »Onto-theo-teleologie«159 auch der Mensch mit, wie er der europäischen Metaphysik zugrunde liege und von der Philosophie der Nachkriegszeit in den Vordergrund gerückt würde: »Das Bewußtsein ist die Wahrheit des Menschen, insofern der Mensch darin in seinem Vergangensein, seinem Gewesensein erscheint, in seiner dahingegangenen und bewahrten, festgehaltenen und erinnerten, aufgehobenen Vergangenheit.«160 Demnach vollzieht die Phänomenologie des Geistes (1807) laut Derrida – seine Lesart Hegels ist verschieden von der Foucaults in Die Ordnung der Dinge (1966) – die Beschreibung von Strukturen der Aufhebung des Menschen als erstens das »Ende der Endlichkeit des Menschen«161 , zweitens die »Einheit des Endlichen und Unendlichen«162 und drittens »das Endliche als Übersteigen seiner selbst«163 . Indem Hegel jedoch Bewusstsein als »unendliche Beziehung auf sich«164 fasst, schreibt er dem Menschen ein bestimmtes Telos ein, das Derrida wie Foucault und Löwith eschatologisch versteht. Der englische Titel

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Derrida, Fines Hominis, S. 142. Ebd., S. 144. Vgl. Dussel, Der Gegendiskurs der Moderne. Derrida, Fines Hominis, S. 143. Ebd., S. 144. Ebd., S. 143f. Ebd., S. 144. Ebd. Ebd. Ebd.

6. Spivak, Derrida, Foucaults europäischer Mensch und der Kolonialismus

seines Vortrags The Ends of Man (1968) tritt in seiner vollen Ambiguität sowohl hinsichtlich des Zwecks als auch des Endes des Menschen hervor, wenn er feststellt: »Das Denken des Endes des Menschen ist also immer schon in der Metaphysik, im Denken der Wahrheit des Menschen, vorgeschrieben. Was heute schwierig zu denken ist, ist ein Ende des Menschen, das nicht durch eine Dialektik der Wahrheit und der Negativität organisiert wäre, das nicht eine Teleologie in der ersten Person Plural wäre. Das Wir, das in der Phänomenologie des Geistes das natürliche und das philosophische Bewußtsein untereinander artikuliert, sichert dem feststehenden und zentralen Seienden, für das jene zirkulare Aneignung sich produziert, die Nähe zu sich.«165 Demnach wäre das zweckhaft bestimmte Ziel des Menschen zugleich sein Ende. Derridas Skepsis gegenüber Präsenzmetaphysiken jeglicher Couleur entspringt der Vorstellung der Menschheit als bestimmtem Wir, das in Hegels Entfaltung des Weltgeistes zugleich einem gemeinsamen Ziel (Teleologie) und seiner Erlösung (Eschatologie) zugewiesen würde. Die ›humanistische‹ Vorstellung vom Menschen, die Derrida am Existenzialismus moniert, zeige sich, obwohl es in ihr nicht um den Menschen gehe, schon in Hegels Phänomenologie des Geistes (1807), weil sich der Geist hier, trotz aller Entäußerungen, als in sich zentriertes Wesen präsent mache. Somit ist der Name des Menschen zwischen zwei Enden aufgespannt: seiner Aufhebung in einer Teleologie und seiner Erlösung wie auch seinem Ende durch ebendiese. »Das Ende des Menschen (als faktische, anthropologische Grenze) tut sich dem Denken kund seit dem Ende des Menschen (als bestimmte Eröffnung oder Unendlichkeit eines Telos). Der Mensch ist das, was einen Bezug auf sein Ende hat, im grundlegend äquivoken Sinn des Wortes. Seit jeher. […] Er hat nirgends anders als in dieser eschatoteleologischen Situation einen Sinn.«166 Derridas Vortrag The Ends of Man (1968) zielt in seiner pejorativen Positionierung gegen den Humanismus darauf, mit einem bestimmten Wir eine ›eschatoteleologische‹ Konstellation des Menschen zu dekonstruieren. Dabei wendet er sich, wenn er vom Menschen spricht, gegen eine selbstbezügliche Logik, die in der vorliegenden Arbeit mit weißen europäischen Männern in Zusammenhang gebracht wurde, die Wynter als Monohumanismus kritisiert und deren Bedürfnis nach Selbstpräsenz und Nähe allein zu sich er ablehnt, wenn er von einem umgrenzten und eingezäunten Wir spricht, das immer »auf sich zurückweisen«167 müsse. Ähnlich wie mit Hegel verfährt Derrida mit Heidegger, den er ebenso wie diesen zunächst vom Existenzialismus wegrückt, indem er darauf hinweist, dass Heideggers Dasein keiner anthropologischen Realität entspreche, um ihn dann mit eschatoteleologischen und Spuren von Präsenzmetaphysik in seinem eigenen Schreiben zu konfrontieren. Heidegger verquickt ihm zufolge »die ›Menschlichkeit‹ des Menschen‹«168 und die 165 166 167 168

Ebd. Ebd., S. 145. Ebd., S. 146. Ebd.

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»Wahrheit des Seins«169 miteinander und kreist so wie Hegel implizit um ein bereits abgeschlossenes Wir. Heideggers Problem sei das einer Magnetisierung. Die sein Denken motivierende ›Eigentlichkeit‹ des Menschen drehe sich um ein Bedürfnis nach »Nähe zu sich und Nähe zum Sein«170 , sodass sich nach Über den Humanismus (1947) bei ihm noch »gegen den metaphysischen Humanismus und Anthropologismus eine andere Insistenz des Menschen konstituiert, die das, was sie zerstört, auf jenen Wegen ablöst, aufhebt und vertritt […]«171 . Derridas Skepsis gegenüber Heideggers Seinsbegriff ist seinem Problem mit Hegels Geist verwandt. Sie richtet sich gegen das Nähebedürfnis des Seins. Derrida interessiert sich in diesem Zusammenhang für die Frage, wer es ist, der bei Heidegger nach dem Sein fragt und kommt zu dem Ergebnis, dass dessen Philosophie »vom Prinzip der Prinzipien der Phänomenologie befehligt«172 wird, nämlich »vom Prinzip der Präsenz und der Präsenz in der Selbstpräsenz wie sie sich dem Seienden und im Seienden, das wir sind, manifestiert«173 . Anhand der selbstbezüglichen Logik, die den Standpunkt der Befragung des Seins und das Sein aufeinander bezieht, bringt Derrida seine Zweifel an dem deutschen Vorläufer sowohl des Existenzialismus als auch der Dekonstruktion auf den Punkt: »Die Nähe des Fragenden zu sich selbst autorisiert die Identität des Fragenden und des Befragten. Wir, die wir uns selbst nah sind, wir befragen uns über den Sinn von Sein.«174 Laut Derrida praktiziert Heideggers Stil deshalb »ein beständiges Ans-LichtBringen, etwas, was dem Bewußtsein zumindest ähnelt ohne Bruch, ohne Verschiebung, ohne Ortsveränderung«175 . An diesem Punkt stehen sich Derridas Gedanken und Feuerbachs aus anderer Perspektive formulierte Kritik des Selbstbewusstseins über die Ferne in Raum und Zeit hinweg besonders nahe. Sowohl Derrida als auch Feuerbach wollen Sein auf der anderen Seite des Selbstbewusstseins verorten: Derrida, indem er auf einer unüberbrückbaren différance besteht, Feuerbach, indem er Menschen nicht als in sich ruhende Individuen, sondern in ihrer Verstrickung versteht. Obwohl Heideggers Daseinsverständnis keine ›menschliche Wirklichkeit‹ meint, verlässt er aufgrund der sein gesamtes Werk durchziehenden Motivik des »Wert[es] der Nähe«176 und der »Präsenz im allgemeinen«177 laut Derrida dennoch nicht das Terrain der humanistischen Tradition. Das Verständnis von Humanismus, das Derrida seinen Überlegungen zugrunde legt, tangiert jedoch nicht den Humanismus Feuerbachs, dem es wie ihm um fremd- anstatt um selbstbezügliche Verhältnisse und gerade nicht um »unsere Nähe zu uns selbst, zu jenem Seienden, das wir je sind«178 , geht. Derrida problematisiert Heideggers ontisch-ontologische Emphase des Seins sowie dessen exklusives Wir und nicht Feuerbachs Konstellation aus Ich und Du, wenn er schreibt: »Wie jene 169 170 171 172 173 174 175 176 177 178

Ebd. Ebd. Ebd., S. 146f. Ebd., S. 148. Ebd. Ebd. Ebd., S. 149. Ebd., S. 150. Ebd. Ebd.

6. Spivak, Derrida, Foucaults europäischer Mensch und der Kolonialismus

gemeinsame Eigentlichkeit des Menschen und des Seins, wie sie in Heideggers Diskurs sich denkt, nicht ontisch ist, so bezieht sie auch nicht zwei ›Seiende‹ aufeinander, sondern, in der Sprache, den Sinn von Sein und den Sinn des Menschen.«179 Nachdem er noch einmal unterstrichen hat, dass der Mensch als Sein seit jeher »sein eigenes Ende, will sagen das Ende seines Eigenen«180 ist, wird Derrida zum Abschluss seines Vortrags The Ends of Man (1968) betonen, dass es der Generation, die heute allzu leichtfertig unter das Label ›Poststrukturalismus‹ subsummiert wird, weder um die Herstellung der Philosophie als System noch um die vollständige Verabschiedung von Sinn gehe. Keines der beiden Enden des Menschen stehe in ihr auf dem Spiel. Worum es jedoch ginge, sei die Erschütterung der Metaphysik des Menschen und seiner Nähe zu sich, die »nur von einem Außen her kommen«181 kann, »sich im gewalttätigen Bezug des Ganzen des Okzidents auf sein Anderes«182 abzeichnet und sprachliche ebenso wie ethnologische, ökonomische, politische und militärische Bezüge umfasst.183 Im Inneren des logozentrischen Systems, das Derrida 1968 an den Stationen Hegel, Husserl und Heidegger festmacht und das in der vorliegenden Arbeit als weiße Subjektform präsentiert wurde, der Feuerbach Subjektivierungsweisen zwischen mehr als nur einem Menschen entgegenhält, bleibt nur eine Möglichkeit, nämlich »die Dekonstruktion zu versuchen, ohne den Standort zu wechseln, durch die Wiederholung des Impliziten in den grundlegenden Begriffen und in der ursprünglichen Problematik, durch die Verwendung der Instrumente und Steine, die sich im Haus, das heißt auch in der Sprache, vorfinden, gegen eben dies Gebäude«184 . Weil Derrida sich in seinem Vortrag dazu entscheidet, die Frage nach dem Menschen zwischen zwei Enden aufgespannt zu halten und sie weder durch Teleologie noch durch Eschatologie zu beantworten, plädiert er zum Schluss mit Nietzsche für eine Pluralität des Stils.185 Er weist dann auf den Unterschied zwischen Nietzsches höherem Menschen und dessen Übermenschen hin und bringt beide mit der von ihm skizzierten Parallele von Teleologie und Eschatologie als den zwei Aufhebungen des Menschen in Verbindung.186 Während der höhere Mensch am Ende von Nietzsches Also sprach Zarathus-

Derrida, Fines Hominis, S. 154. Ebd. Ebd., S. 155. Ebd. Vgl. Ebd. Ebd. Audre Lorde würde das wahrscheinlich anders sehen: »Denn mit dem Handwerkszeug des Herren läßt sich niemals sein Haus abreißen. Sie mögen uns für kurze Zeit erlauben, ihn in seinem eigenen Spiel zu schlagen, aber sie werden uns nie erlauben, einen echten Wandel zu vollziehen.« Dies., Du kannst nicht das Haus des Herren mit dem Handwerkszeug des Herren abreißen, in: Dagmar Schultz (Hg.), Macht und Sinnlichkeit. Ausgewählte Texte, Berlin: Orlanda Frauenverlag, 1983, S. 199. 185 Vgl. Derrida, Fines Hominis, S. 156. 186 Nietzsche schreibt im Kapitel ›Vom höheren Menschen‹ in seinem Also sprach Zarathustra (1883): »Die Sorglichsten fragen heute: ›wie bleibt der Mensch erhalten?‹ Zarathustra aber fragt als der Einzige und Erste: ›wie wird der Mensch überwunden?‹ Der Übermensch liegt mir am Herzen, der ist mein Erstes und Einziges, – und nicht der Mensch: nicht der Nächste, nicht der Ärmste, nicht der Leidenste, nicht der Beste – Oh meine Brüder, was ich lieben kann am Menschen, das ist, dass er 179 180 181 182 183 184

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tra (1883) vom Übermenschen abgelöst wird, der eine Wiederholung einleitete, die nicht länger eine metaphysische Wiederholung des Humanismus sein und in ›aktiver Vergesslichkeit‹ sowie einem ›grausamen Fest‹ bestehen würde, weil keiner wie Nietzsche zum aktiven Vergessen der Frage nach dem Sein gemahnt habe, erinnert Derrida seine Zuhörer*innen an den Zeitpunkt zwischen den beiden Nachtwachen in Nietzsches Text. Er insistiert auf dem Moment, an dem weder der höhere Mensch noch der Übermensch die Oberhand gewinnt, in dem das Ende des Menschen weder in seiner Unterordnung unter einen bestimmten Zweck und auf ein bestimmtes Ziel hin noch in seiner Erlösung dadurch besteht: »Vielleicht sind wir zwischen den beiden Nachtwachen, die zugleich die beiden fines hominis sind. Aber wer, wir?«187 , beschließt Derrida seinen Vortrag. Offen bleibt am Ende, inwiefern es einen Menschen geben könnte, der sich selbst nicht nah wäre. Dieser Mensch, dessen Grenzen ebenso wenig wie die différance feststünde, schwebt Feuerbach im 19. Jahrhundert, jenseits seiner beiden Enden in Teleologie und Eschatologie, sinnlich vor. Exorbitant und in Gestalt mehr als nur eines einzigen Menschen. Sich auf ein Du hin dezentrierend, anstatt sich in einer Ich-Instanz zu verankern.

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ein Übergang ist und ein Untergang.« Ders., Also sprach Zarathustra I-IV, München: dtv, 1999, S. 357. Später lässt der Übermensch als Ziel und Zweck das Ende der höheren Menschen erahnen, wenn er nach Abbruch seiner Nachtwache ausruft: »Wohlan! Sie schlafen noch, diese höheren Menschen, während ich wach bin: das sind nicht mehr meine rechten Gefährten! Nicht auf sie warte ich hier in meinen Bergen.« Ebd., S. 405. Die Frage, ob Nietzsches Übermensch sich inner- oder außerhalb der in dieser Arbeit problematisierten weißen Subjektform befindet und inwiefern er an die Provinz Europas gebunden bleibt, kann hier nicht beantwortet werden. Derrida, Fines Hominis, S. 157. In einem Lévinas gewidmeten Aufsatz von 1964 fragt Derrida: »Welches ist also die Begegnung des schlechthin Andern? Weder Repräsentation, noch Begrenzung, noch begriffliche Beziehung auf das Selbst. Das Ich und der Andere lassen sich durch keinen Relationsbegriff überdachen oder totalisieren.« Ders., Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Levinas’, in: ders., »Die Schrift und die Differenz«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1972, S. 145.

Sechste Szene des Menschen Anta Helena Reckes Mittelreich (2017)

Die wegweisende Inszenierung von Mittelreich, welche die afrodeutsche Regisseurin Anta Helena Recke 2017 an den Münchner Kammerspielen produziert hat, indem sie die durchweg weiße Besetzung der Vorlage durch Schwarze Schauspieler*innen ersetzte, ist das minutiös nachgestellte Reenactment eines Stücks von Anna-Sophie Mahler aus dem Jahre 2015, das wiederum auf den gleichnamigen Roman von Josef Bierbichler von 2011 rekurriert.1 An ›poststrukturalistischer‹ Theorie geschult, beschreibt Bhabha koloniale Mimikry in ambivalenter Weise als ›Metonymie von Präsenz‹, die hier als Selbstpräsenz der weißen Subjektform verstanden werden soll. Bhabha zufolge versuchen Kolonisatoren, sich eine Alterität anzueignen, die sie selbst zuallererst den Kolonisierten zuschreiben. Die zwangsläufig scheiternde Aneignung geanderter Menschen führt dazu, dass die scheinbar mit sich identische Position, von der aus Kolonisatoren Alterität zum Teil eines Ganzen machen wollen, für das sie sich selbst halten, weil sie Universalität für sich allein beanspruchen, ihrerseits metonymisiert wird. So entpuppt sich Selbstpräsenz als Phantasma einer Identität, die an ihren Rändern ausfranst, während sie sich vor einem Hintergrund abzuheben und von Mitmenschen abzugrenzen versucht. Bhabha zufolge wirft koloniale Mimikry als »das Begehren nach einem reformierten, erkennbaren Anderen als dem Subjekt einer Differenz, das fast, aber doch nicht ganz dasselbe ist«2 , das Problem auf, dass im kolonialen Diskurs Kolonisierte den Kolonisatoren nicht vollends angeglichen werden können, sondern vielmehr die Kolonisatoren selbst, indem sie den Versuch unternehmen, »autorisierte Versionen von Andersheit«3 zu produzieren, zuallererst »Figuren einer Verdoppelung« und »Teil-Objekte einer Metonymie

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Auszüge aus dieser Detailstudie erscheinen demnächst in modifizierter Form auf https://w ww.corpusweb.net/-obscene-dramaturgie-als-praxen-des-un-sichtbarmachens.html, Zugriff am 26.5.2023. Der Text ging aus einem Beitrag zur Tagung [OBSCENE] – Dramaturgie als Praxen des (Un)Sichtbarmachens hervor, die im September 2019 von der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) veranstaltet wurde. Bhabha, Von Mimikry und Menschen, S. 126. Ebd., S. 131.

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des kolonialen Begehrens«4 hervorbringen. Derart destabilisieren sie die ›Natürlichkeit‹ ihrer eigenen Subjektivität und entfernen sie von jedem irgendwo verortbaren Zentrum. Beinahe dasselbe, aber nicht ganz: Indem Kolonisatoren anderes und andere sich angleichen wollen, erzeugen sie eine Differenz, die auch ihre eigene Selbstpräsenz als äußerst prekäre und immer nur partielle offenbart. So entfremdet sich der koloniale Diskurs in sich, während er permanent Fremde herbeiphantasiert. Recke wiederum verfremdet im Sinne des epischen Theaters die weiße Subjektform, indem sie sich diese in affirmativer Weise aneignet und dabei ebenfalls mit einer Differenz spielt: fast dasselbe, aber nicht weiß. Während Bhabha koloniale Mimikry aus der Perspektive weißer Diskurse über People of Color als die Ambivalenz beschreibt, anglisiert zu sein, ohne Engländer werden zu können, besteht Reckes in Mittelreich vollzogene umgekehrte kulturelle Appropriation der Erzählung Bierbichlers darin, ihre Schauspieler*innen wie Chamäleons durchaus weiß und allzu ›deutsch‹ werden zu lassen, dabei jedoch weiße Subjektivität aus Schwarzer Perspektive zu problematisieren. Indem Recke die Theateradaption Mahlers von Bierbichlers Roman, in dem es in vielerlei Hinsicht um ›Deutsch-‹ als Weißsein geht, detailgenau reenactet, rückt sie mit und quer zu Bhabha Mimikry in die Nähe der Posse. Ihr Reenactment folgt, indem es weiße Selbstpräsenz »in Gestalt ihrer ›Andersheit‹, in Form dessen, was sie verleugnet«5 , nachahmt, durchaus der Logik von Bhabhas Ausführungen zu christlichen Missionaren zur Zeit der OstindienKompanie, aber in umgekehrter Richtung. Ganz in seinem Sinne handelt es von einem »Blick der Überwachung«6 , der »als der de-platzierende Blick der Disziplinierten wiederkehrt, in dem der Beobachter zum Beobachteten wird und die ›partielle‹ Repräsentation den gesamten Begriff der Identität neu artikuliert und der Essenz entfremdet«7 . Während Bhabha jedoch in französischer Manier davon ausgeht, dass das »Machtphänomen«8 , aus dem koloniale Mimikry resultiert, »nicht dingfest zu machen ist, weil es keine Essenz, kein ›es-selbst‹ verbirgt«9 , wirkt Reckes Mittelreich (2017), als wäre die Kolonialität der Macht durchaus verortbar, nämlich in der Struktur der bürgerlichen Kernfamilie, die sich von Europa aus in die weite Welt hinausbegeben hat. Der Schauspieler, Schriftsteller und Regisseur Bierbichler wiederum hat 2018 unter dem Titel Zwei Herren im Anzug eine filmische Fassung seines Romans realisiert, bei der er Regie führte und in der er die Hauptrolle des Seewirts übernahm, um den sich das Geschehen dreht. Auch der Film handelt, obgleich auf anderer Ebene als die Theaterinszenierung Reckes, im Sinne Bhabhas vom »phobischen Mythos der undifferenzierten Ganzheit des weißen Körpers«10 , von den »Zwillingsfiguren von Narzißmus und Paranoia«11 , einem »Kreislauf der Wiederkehr des Verdrängten«12 und den »Effekte[n] einer

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Ebd. Ebd, S. 134. Ebd., S. 131. Ebd. Ebd., S. 133. Ebd. Ebd., S. 136. Ebd. Ebd., S. 135.

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Verleugnung, die die Unterschiede des Anderen in Abrede stellt […]«13 . Bereits im Roman tragen Väter und Söhne Anzüge, wenn sie sich in Gesellschaft begeben. Bierbichlers Mittelreich (2011) ist eine tragikomische bayrische Familiensaga, die sich über den Zeitraum von 1914 bis 1984 erstreckt, weit über Bayern hinausreicht und eine geradezu ethnografische Studie über den europäischen Menschen darstellt, in der es deshalb auf allgemeinerer Ebene um die Gewaltgeschichte der weißen Subjektform im langen und für heutige Debatten über das sogenannte Anthropozän so folgenreichen 20. Jahrhundert geht.14 Die Kolonialität der Mentalität, aus der diese Subjektform und dieser Mensch entspringen, fasst eine der Romanfiguren zusammen, wenn sie laienhaft philosophiert: »Fressen und gefressen werden! Wer wagt es, darüber zu richten? Leben und leben lassen! Wer ist dumm genug, daran zu glauben? Wer leben will, muss töten. Wer es nicht tut, geht ein.«15 Zum Abschluss soll hier eine intermediale Analyse von Mittelreich unternommen werden, die zwar die Inszenierung Reckes in den Fokus nimmt, dabei aber auch Bezüge in erster Linie zum Roman sowie zur Inszenierung Mahlers und zum Film enthält. Dies geschieht, um eine Problematik zu verdeutlichen, die zwar in verschiedenen Medien jeweils anders zur Darstellung kommt, sich jedoch an der in der vorliegenden Arbeit behandelten Konstellation postkolonialer und anthropozäner Fragestellungen festmachen lässt. Im Roman wird über mehrere Generationen hinweg, vom Ersten über den Zweiten Weltkrieg bis hin zur Zeit um und nach 1968, die Geschichte einer bayrischen Familie erzählt, die zwischen den Kriegen vom Bauernstand zur Mittelklasse aufsteigt und den landwirtschaftlichen Betrieb um ein Gasthaus erweitert, in das bald unterschiedliche Menschen, zunächst während des Krieges innerhalb Deutschlands Geflüchtete und später auch Menschen aus anderen Ländern, einkehren. Nahe des Grundbesitzes der Familie des Seewirts am See in Seedorf, der in den 1960ern eingezäunt wird, um kiffende Hippies am Betreten des Grundstücks zu hindern, befindet sich zu diesem Zeitpunkt die in rassistischer Manier so genannte »N*wiese«16 , »gleich außerhalb des Dorfes, da wo die Amerikaner lagern, und die seitdem Die N*wiese heißt, weil unter den acht amerikanischen Besatzungssoldaten einer ein hautechter N* ist, und ein N* hat man hier noch nie gesehen […]«17 . Die Familie des Seewirts versteht sich als durch und durch ›deutsche‹ Familie, die zu Beginn des Dritten Reiches durch Anbringung eines entsprechenden Hinweisschildes Juden den Zutritt zum Grundstück verwehrt, deren Lebensziel die Anhäufung materiellen Wohlstands und deren Gemütsverfassung eine verlogen ›christliche‹ ist. Im Roman gelangt Pankraz, der Sohn des alten

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Ebd. Die erste Einstellung der Verfilmung Zwei Herren im Anzug (2018) zeigt zwei aus dem vor dem Familienhaus gelegenen See ragende Hüte und der letzte Shot zwei ins Wasser watende und darin verschwindende weiße Männer. Josef Bierbichler, Mittelreich, Berlin: Suhrkamp, 2016, S. 426. Ebd., S. 193. Ebd., S. 193f. Wobei die Geschichte Schwarzer Menschen in Deutschland sowie Schwarzer Deutscher weit vor das Ende des Zweiten Weltkriegs hinausreicht. Vgl. hierzu exemplarisch Katharina Oguntoye, Schwarze Wurzeln: Afro-deutsche Familiengeschichten von 1884 bis 1950, Berlin: Orlanda Frauenverlag, 2020.

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Seewirts und Vater von Semi, erst kurz vor seinem Tod zu der Einsicht, im Leben etwas falsch gemacht zu haben. »Was aber ist dann Glaube und Religion?, fragte er sich. Da überflutete ihn eine Welle grellen Lichts, heller als alles, was ihn bisher geblendet hatte, und drang in seine Augen ein wie durch ein Brennglas, in seine Brust wie Röntgenstrahlen, drang in sein Denken und sein Fühlen ein wie nie zuvor in sein Leben …, und es überkam ihn eine Gewissheit, was Glaube ist und Religion und für ihn nie wieder sein wird: Verdrängung und Feigheit. Was für ein Unsinn, geboren zu sein, dachte er, nur ein ewiges Leben könnte dem Leben Sinn geben. Das meinten die Stifter mit dem Ewigen Leben. Die Verwalter von Glauben und Religion haben daraus einen sentimentalen Kitsch vom Überirdischen gebraut. Was für eine Gnade, das noch erkennen zu dürfen. WAS FÜR EIN UNENDLICHES GLÜCK!«18 Der Großvater der Familie erwirbt zwecks der Erlangung von Reichtum Immobilien in der Nachbarschaft. Unter ihnen befindet sich das Haus der Familie Schwarz, »das der Seewirt schon im Jahre 1911 gekauft hatte, um noch mehr Platz für die immer zahlreicher aus der Stadt herausdrängenden Sommerfrischler zu schaffen […]«19 . Sowohl die periphere Erwähnung der Familie Schwarz, über die im Roman nicht mehr zu erfahren ist und deren Haus zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom Seewirt angeeignet wurde, als auch die rassistisch betitelte Wiese nahe des Familiengrundstücks am See in der Nachkriegszeit markieren jedoch Spuren in der Textvorlage Bierbichlers, an die Recke mit ihrem Reenactment der Bühnenadaption Mahlers anknüpft, um die auch Deutschland betreffende Problematik einer Entmenschlichung Schwarzer durch weiße Menschen in Szene zu setzen.20 Nach außen hin steigt die Kernfamilie des Seewirts vom Bauern- zum Bürgertum auf, intern wird sie durchgehend patriarchal dominiert. Ihr Haus am See, über dem an prominenter Stelle des Romans ein bedrohlicher Schneesturm aufzieht und eine Eberesche auf dessen Dach stürzen lässt, bis Pankraz, zu diesem Zeitpunkt der neue Hausvater, »als Beweis für den Primat der Kunst über die Natur«21 dem Sturm durch das Singen einer Wagner-Arie Einhalt gebietet, ist Ort scheinbaren Friedens und realer Gewalt. In diesem Zusammenhang stellt es eine Schwelle dar, an der Kultur vermeintlich über Natur siegt, dabei allerdings in sich eine Grausamkeit enthält, welche die von Schneestür-

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Bierbichler, Mittelreich, S. 513. Ebd., S. 41. »Ein Dorf im Spiegel der Generationen, denkwürdige Gestalten, Erinnerungsfragmente, ein Familienepos, alles und jeder bis in die Gegenwart hinein geformt durch die Kriegswirren des vergangenen Jahrhunderts«, ist auf der Homepage der Münchner Kammerspiele über Mahlers Romanadaption zu lesen: https://web.archive.org/web/20190925150718/https://www.muenchner-kammerspi ele.de/inszenierung/mittelreich, Zugriff am 26.5.2023. Dem soll hier hinzugefügt werden, dass es in Mahlers Inszenierung implizit ebenfalls um die Einhegung menschlicher Subjektivität durch die weiße Subjektform geht, deren Historie länger zurückreicht als ins 20. Jahrhundert, die europäische Kolonialgeschichte umfasst und durch Reckes umgekehrt kulturelle Appropriation als solche explizit markiert wird. Bierbichler, Mittelreich, S. 228.

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men über Seen noch übertrifft.22 Während im Roman die Schilderung der Totenmesse für Pankraz – »die vom Kirchenchor mit dem langen Brahmsrequiem ausgestaltet und auf mehr als eine Stunde gedehnt worden war«23 – am Ende der Erzählung steht und gleichzeitig einen Bogen zu deren Anfang spannt, während Kampfjets am Himmel die Schallmauer durchbrechen, findet sie in Mahlers und Reckes Theaterversionen schon zu Beginn statt.24 Dort erklingen dann die Instrumentalstimmen des Denn alles Fleisch es ist wie Gras betitelten II. Satzes von Ein deutsches Requiem (1861–68) von Johannes Brahms aus dem vor der Bühne positionierten Kammerorchester, während die Schauspieler*innen live auf der Bühne zu singen scheinen. »Denn alles Fleisch es ist wie Gras und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blumen. Das Gras ist verdorret und die Blume abgefallen.«25 Nicht gesungen wird der darauffolgende Vers, der in der Partitur von Brahms lautet: »Aber des Herren Wort bleibet in Ewigkeit.«26 Die ersten Verse aus dem II. Satz des Brahmsrequiems fassen in der Theateradaption des Romans durch Mahler sowie in deren Reenactment durch Recke schon zu Beginn die Problematik zusammen, um die sich die Generationen übergreifende Geschichte der Familie dreht. Sie spielen jedoch sowohl im Roman als auch im Film keine Rolle. Die gekappten sinnlichen Verhältnisse zwischen Menschen korrespondieren hier auf einer anderen Skala mit ihrem Verhältnis zu Natur. Vor diesem Hintergrund ist auch der etymologische Ursprung des Namens von Pankraz relevant, denn er bezieht sich auf den römischen Märtyrer der frühen christlichen Kirche Pankratius und bedeutet ›Der alles Beherrschende‹. Die Familie ist über Väter und Söhne – den großväterlichen Seewirt und seinen Sohn Pankraz, den Vater von Semi, der schließlich aus der Kernfamilie ausbricht – autoritär und hierarchisch strukturiert, um Männerfiguren herum angeordnet und erwirtschaftet ihr Vermögen zugleich durch Land- und Gastwirtschaft.

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Vgl. hierzu Philippe Descola, Jenseits von Natur und Kultur, Berlin: Suhrkamp, 2013. Bierbichler, Mittelreich, S. 516. Die Verfilmung Zwei Herren im Anzug (2018) wiederum setzt nach dem Tod von Theres, der Frau von Pankraz und Mutter von Semi, ein und wird von einem wie ein roter Faden wirkenden längeren Gespräch zwischen Vater und Sohn im Wirtshaus beim Bier durchzogen. Die Partitur von Brahms ist an biblische Motive angelehnt. Vgl. Johannes Brahms, Ein deutsches Requiem. Fassung für Kammerorchester von Ingo Schulz, https://www.emmaus.de/ma/noten/Brahms_R equiem/Brahms_Requiem_Kammer_Score.pdf, Zugriff am 26.5.2023. Brahms war eng mit Feuerbachs Bruder, dem Maler Anselm Feuerbach, befreundet und widmete nach dessen Tod der Mutter der beiden die Vertonung eines Gedichts von Schiller, Nänie (Opus 82), die in ihrer Struktur an Ein deutsches Requiem angelehnt ist. Brahms, Ein deutsches Requiem.

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Abb. 74 & 75: Josef Bierbichlers Zwei Herren im Anzug, Film still, 2018 (eine Produktion von X-Filme Creative Pool)

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Sowohl der alte Seewirt als auch Pankraz lassen ihren Kindern eine streng christliche Erziehung angedeihen. Obwohl sich Pankraz nicht für einen Nazi hält, war er während des Dritten Reiches an der Vergasung jüdischer Kinder in einem Kühlwagen beteiligt und hegt offensichtlich bis zu seinem Hinscheiden antisemitische Ansichten.27 Erst kurz vor seinem Tod erinnert er sich daran, dass er als Helfershelfer an einem Genozid beteiligt war.28 Dennoch wählt er nach 1945 CSU, »die Partei der Land- und Grundstücksbesitzer und des freien Unternehmertums«29 . Als jedoch gegen Ende des Zweiten Weltkrieges ausgehungerte ehemalige Häftlinge von Konzentrationslagern im Nachbarhof eintreffen und dort verschüttete Milch vom Boden auflecken, heißt es im Roman: »Er hatte schon von KZs gehört, wo zwar auch ein paar Juden, vor allem aber doch Gesindel und Verbrecher weggesperrt sein sollen. Und Kriegsgefangene.«30 Der Großvater der Familie hat zwei Söhne – den älteren Toni und den jüngeren Pankraz – sowie zwei ältere Töchter, Philomena und Hertha. Philomena leitet die in einem Nebengebäude der Wirtschaft untergebrachte Filiale der Reichspost und wurde ebenso wie ihre Geschwister in einem Klosterinternat nach den Regeln des Katechismus erzogen. Nachdem der alte Seewirt 1943 stirbt, übernimmt temporär Philomena die Familienführung, bevor Pankraz aus dem Krieg zurückkehrt, die Tochter der benachbarten Bauernfamilie namens Theres heiratet und zum neuen Patriarchen wird. Sein älterer Bruder Toni erleidet bereits im Ersten Weltkrieg einen Kopfschuss, der zunächst zu einer psychischen Erkrankung führt und dem er später erliegen wird. Pankraz, den Bierbichler auch im Film Zwei Herren im Anzug (2018) in den Mittelpunkt des Geschehens stellt, will eigentlich Sänger werden und ist zunächst nicht am väterlichen Erbe interessiert, das er dann mehr oder weniger gegen seinen Willen trotzdem antritt, um so zum nächsten Seewirt zu werden und die Familientradition fortzuführen. Später wird sich sein eigener Sohn Semi um 1968 der undogmatischen sozialistischen Student*innenbewegung anschließen, weswegen es zum endgültigen Bruch zwischen den Generationen kommt: »Nichts mehr von dem schien zusammenzupassen, was einst auseinander hervorgegangen und ein Volk gewesen war.«31 Aber schon Jahrzehnte zuvor gibt es einen anderen Konflikt zwischen Vätern und Söhnen. Der alte Seewirt, der zu Beginn des Jahrhunderts das Haus der Familie Schwarz erworben hat, ist alles andere als begeistert von den Plänen seines Sohnes Pankraz. »Dein Bruder ist geisteskrank, der fällt aus. Ich sage dir aber gleich, entweder du machst es ganz oder gar nicht. Ich meine damit, dass du mit dem

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Vgl. exemplarisch Bierbichler, Mittelreich, S. 508ff. »Ein SS-Mann öffnete die zweiflügelige Hecktür des Küchenwagens, und die Kinder – es werden etwa dreißig gewesen sein, dachte, um eine korrekte Erinnerung bemüht, der Seewirt, bestimmt waren es nur dreißig, mehr hätten im engen Küchenwagen gar nicht Platz gehabt – bestiegen, sorgsam und vorsichtig ihre nackten Fußsohlen auf die spitz gezackten Gitterroststufen setzend, die dreistufige Eisentreppe und traten dann, stumm, wie sie den Weg gekommen waren, ins Eisengrab hinein. Ohne Laut. Nur Blicke. Das sah der Seewirt nicht zum ersten Mal. Nur bei Kindern – es ist anders als bei Kälbern, dachte er – hatte er so etwas noch nicht gesehen. Da hab ich dann doch immer wieder Glück gehabt, dachte er, der junge Seewirt, damals, und fühlte weiter nichts. Er war Soldat.« Ebd., S. 509f. Ebd., S. 450. Ebd., S. 109. Ebd., S. 349.

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Singen aufhören musst. Wenn aber nicht, dann bekommst du vom Erbe gar nichts, nicht einmal ein Bargeld«32 , ermahnt er den jugendlichen Pankraz. Ebenfalls wichtiger Bestandteil von Bierbichlers Narrativ sind die binnendeutsche sowie innereuropäische Migration nach dem Zweiten Weltkrieg: »Die Itaker und Katzelmacher, wie sie gern geheißen wurden, hatten ziemlich zugenommen in der letzten Zeit, auch auf dem Land heraußen. […] Und nicht nur auf dem Arbeitsmarkt und in den Straßen wirkten sie bedrohlich, diese Gastarbeiter […].«33 Immer wieder gibt es im Roman Stellen, die einen deutschen (Nachkriegs-)Rassismus thematisieren, der unmittelbaren europäischen Nachbarn sogar dann noch entgegengebracht wird, wenn sie einer westdeutschen Staatsräson zufolge als sogenannte ›Gastarbeiter*innen‹ die Lücken im deutschen Wirtschaftswunder füllen sollen, die von den im Krieg an allen möglichen Fronten gefallenen heimischen Männern hinterlassen wurden. So wundert sich Pankraz dann auch über den von ihm am Hof angestellten Viktor Hanusch aus Kattowitz, denn er »machte, was früher die Frauen gemacht hatten und in den Städten schon die Italiener und Griechen machten und nun bald die Türken machen würden, und wer weiß was noch für unbekannte Nationalitäten, denen man vor 15 Jahren höchstens mal im Krieg begegnet war, aber nicht im Alltag und vor allem nicht im eigenen Land«34 . Wenn Pankraz, dessen Gesangskarriere ihm durch das väterliche Erbe verbaut wurde, der jedoch an entscheidender Stelle einen das Haus der Familie vom See her bedrohenden Schneesturm mit einer Wagner-Arie niedersingt, im Roman kurz vor seinem Tod sein Leben rekapituliert, gelangt er zu einer traurigen Einsicht: »Ich bin meiner Zeit und meinem Stand nicht voraus. Aber ich bin darin gefangen.«35 Der Versuch der Väter, über Generationen hinweg eine nur scheinbar idyllische Lebensform an ihre Kinder weiterzugeben, ist gescheitert. Was bleibt, ist die viel zu späte Einsicht, dass sein Leben, wie das seiner Vorfahren, ein falsches Leben war, und dass sein Sohn Semi, der sich um 1968 von ihm abwendet, vielleicht eine richtige Entscheidung getroffen hat. Anstatt daraus allerdings die Lehre zu ziehen, die eigene selbstbezügliche Subjektivität zu überdenken, in die er bis zu seinem Ableben eingeschlossen ist, kündigt der Vater dem Sohn das Erbe auf und bricht mit seiner Familie, der er unterstellt, vom Christentum abgefallen zu sein. Seiner Frau wird er später sagen: »Und deshalb, weil du unsere heilige Ehe gebrochen hast und weil die Kinder die Gebote nicht mehr achten, fühle ich mich nicht mehr 32 33 34

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Ebd., S. 98. Ebd., S. 415. Ebd., S. 340. Der Zuzug sogenannter ›Gastarbeiter*innen‹ vor allem aus südeuropäischen Staaten, aber auch aus der Türkei, verdeckt innerdeutsche Spannungen und Identitätskrisen. Er hilft dabei, beispielsweise aus Schlesien und dem Sudetengebiet – ehemaligen Teilen des Deutschen Reiches im Osten, die nach 1945 nicht zur Bundesrepublik gehören – nach Westen Geflüchtete besser in das Phantasma einer ›deutschen‹ Identität zu integrieren: »Weißte, ich glaube, so richtig angekommen bei der Bevölkerung waren die meisten von uns Flüchtlingen erst, als die Gastarbeiter sind gekommen, die Türken. Anfangs die Italiener und ein paar Griechen, danach ein paar Jugoslawen. Aber dann kamen da schon die Türken. Da waren dann die Flüchtlinge nicht mehr so schlecht angesehen, die wurden dann unauffälliger, möchte ich mal sagen«, lässt Bierbichler Hanusch im Roman sagen. Ebd., S. 520f. Zur Problematik der ›Gastarbeiter*innen‹ vgl. auch International Women* Space (Hg.), ›Als ich nach Deutschland kam‹ – Gespräche über Vertragsarbeit, Gastarbeit, Flucht, Rassismus und feministische Kämpfe, Münster: Unrast, 2019. Bierbichler, Mittelreich, S. 463.

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an euch gebunden und kündige Ehe und Vaterschaft auf. Ich kündige meine Ehe und meine väterliche Verantwortung gegenüber meinen Kindern auf.«36 Daraufhin wird Semi seine eigene Mutter ermorden, sodass von der Seewirtsfamilie am Ende nur noch ein Trümmerhaufen bleibt: »Heut, Mutter, heut komm ich zurück! – da, schließlich, gab sie nach. Er lag auf ihr, eindringlich, nicht eingedrungen […] und küsste ihren Mund so lang, bis ihr Atem versiegt war.«37 Nach außen hin wirkt die europäische Kernfamilie, deren Saga Bierbichler am Exempel ihrer bayrischen Variante wie in einer ethnografischen Studie ausbuchstabiert und deren Geschichte Mahler und Recke mit immer wieder verfremdeten Stilmitteln des Kammerspiels in der Tradition Strindbergs als ödipales Drama inszenieren, wie eine Ansammlung von Menschen, die sich über den Bauernstand und über ›rohe‹ Natur erhoben hat.38 Letztlich ist sie jedoch der Ort zahlreicher Konflikte von Menschen untereinander und von einer Gewalt gegen sich und andere gekennzeichnet, die sie im Verlauf der Handlung immer mehr einholt und etwa im Mord an dem Pater kulminiert, dem früher die Erziehung der Kinder oblag und der sich sexuell an Semi vergangen hatte. Obwohl Bierbichler es offenlässt, wer den Geistlichen letztlich umgebracht hat, deutet doch vieles auf ein Mitglied der Familie hin, da Pankraz auf seinem landwirtschaftlichen Betrieb eine Metzgerei unterhält und, wie an mehreren Stellen des Romans ausführlich geschildert, auch Semi etwas vom Schlachterhandwerk versteht. Die Beschreibung des Tatorts, an dem der Pater Ezechiel später gefunden wird, ähnelt jedenfalls auf verblüffende Weise zuvor im Seehof vollzogenen Tierschlachtungen. »Am nächsten Morgen, als man ihn zuerst vermisst und dann nach langem, unbeantwortet gebliebenen Klopfen an der Zellentür die Türe aufgebrochen hatte, fand man den Körper des Pater Ezechiel im ganzen Zimmer verteilt. Manche Stücke waren so kleingehackt wie Kesselfleisch. Andere waren als Ganzes vom Rumpf getrennt. Der Kopf stand, gestützt auf die Kinnbacken, augenlos auf dem Nachtkästchen, im Mund den abgeschnittenen Penis, zusammengeschrumpft zum körperlichen Hautfetzen. Über das Haar, wie eine Perücke, waren die Därme drapiert. Der Bauch des Paters war geöffnet und hohl wie ein Grab. Auf dem Boden des rücklings daliegenden Hohlkörpers, zwischen den Rippen, angelehnt an einen Klumpen Herz, fläzte wie eine auf Beute lauernde Kröte der Hodensack. In der rechten Schulter steckte das Messer. Es stank fürchterlich.«39 Trotzdem ist es Pankraz während der Erziehungsphase seiner Kinder zuvor wichtig, dass sie »eine klösterliche Erziehungs- und Bildungsanstalt«40 besuchen, um dort den Katechismus und den »Dienst an Gott«41 zu erlernen. Dass zumindest sein jüngerer

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Ebd., S. 466. Ebd., S. 491. Interessantersweise zeigt sich Szondi zufolge insbesondere am Genre des Kammerspiels die sich Ende des 19. Jahrhunderts zuspitzende Formkrise des modernen Dramas. Vgl. ders., Theorie des modernen Dramas. Bierbichler, Mittelreich, S. 442. Ebd., S. 297. Ebd.

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Sohn Semi dabei von seinem Lehrer sexuell missbraucht wird, wird innerhalb der Kernfamilie, die so sehr auf ihre inneren wie äußeren Fassaden bedacht ist, ebenso wenig thematisiert wie viele andere Dinge, die verdrängt und nicht durchgearbeitet werden.42 So stellt sich etwa heraus – dies ist eine Facette der Erzählung Bierbichlers, die in der Verfilmung keinerlei Rolle spielt –, dass das Fräulein von Zwittau, der streckenweise die Aufsicht über Semi und seine Geschwister anvertraut war, intersexuell ist. Niemand in der Familie will das jedoch akzeptieren oder auch nur darüber sprechen, bis sie irgendwann tot in einem Wald nahe von Seedorf aufgefunden wird.43 Von ihr ist nur als einem »Irrtum der Natur«44 die Rede. Indem Recke nun Mahlers Inszenierung von Bierbichlers Romanvorlage ausschließlich mit Schwarzen Schauspieler*innen minutiös reenactet und hierfür auch dasselbe Bühnenbild und dieselben Kostüme verwendet, schafft sie aus einer Perspektive, die quer zu Bhabhas Ausführungen über koloniale Mimikry verläuft, eine mimetische Differenz, die in mehrerlei Hinsicht bedeutsam ist. Bierbichlers Roman ist 2011 erschienen, also vier Jahre vor der von deutschen Massenmedien ausgerufenen sogenannten ›Flüchtlingskrise‹, die sich vor allem um Menschen drehte, die 2015 vor dem Bürgerkrieg in Syrien geflüchtet waren. Mahlers Theateradaption ist in genau diesem Jahr entstanden, Reckes Reinszenierung derselben hingegen zwei Jahre später, zu einer Zeit, als der öffentliche Diskurs schon vollends gekippt war und nicht nur die AfD, sondern rechte Parteien und Strömungen insgesamt einen Aufschwung erlebten. Während es in denjenigen Teilen von Mittelreich, die unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges spielen, vor allem Sudentendeutsche und Menschen aus Schlesien sind, welche die heimatliche Idylle in Seedorf stören, und sich später binneneuropäische ›Gastarbeiter*innen‹ zu ihnen gesellen, werden in heutigen Nachrichten Migrationsbewegungen in globalem Maßstab zum Thema gemacht. Bereits jetzt und zukünftig noch viel mehr wird es hier auch um ›Klimaflüchtlinge‹ gehen, also um Menschen, welche die immer schneller anwachsenden unbewohnbaren Teile unseres Planeten verlassen, um an anderen Orten die für ihr Überleben notwendigen Bedingungen zu finden. Migrationsbewegungen sind jedoch seit Jahrhunderten mit einem Prozess verbunden, der in der vorliegenden Arbeit unter Gesichtspunkten eines postkolonialen Anthropozäns beschrieben wurde. Vor allem im Kontext des transatlantischen Sklavenhandels haben über Jahrhunderte hinweg Menschen, in diesem Fall unfreiwillig, ihre Heimat verlassen und wurden über tausende Kilometer hinweg verschifft, um sie auf Plantagen auszubeuten. Die Menschen, die derart migriert sind, waren Schwarze Menschen, deren Familiengeschichten heute aufs Engste sowohl mit den Amerikas als auch mit Europa verwoben sind.45 42

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»Erst als der Pater ihm eines Tages, beim Hochheben an die Reckstange, wie aus Versehen, die Turnhose abstreifte und dabei Semis Erektion sichtbar machte, war dieses Gefühl der Befreiung vorbei. Der Ezechiel nahm Semis Erektion in seine Hand, so lang, bis sie erloschen war. Danach zog er Semis Hose wieder darüber. Ich werde das niemand erzählen, was dir da gerade passiert ist, sagte der Ezechiel danach mit strenger Gutmütigkeit. Es ist für dich am besten, dass du auch niemand davon erzählst.« Ebd., S. 301. Vgl. ebd., S. 317. Ebd., S. 320. Vgl. hierzu exemplarich Gilroy, The Black Atlantic sowie Shohat und Stam, Race in Translation.

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Abb. 76 & 77: Josef Bierbichlers Zwei Herren im Anzug, Film still, 2018 (eine Produktion von X-Filme Creative Pool)

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Schwarze Menschen lebten in Deutschland schon lange bevor Schwarze US-amerikanische Besatzungssoldaten nach 1945 ins Land kamen, wie im Roman Bierbichlers geschildert und in der Verfilmung am Rande thematisiert, wenn Pankraz sich mit einem Schwarzen GI unterhält. Anton Wilhelm Amo, der in Halle und Jena im 18. Jahrhundert akademisch tätig war, sowie W.E.B. du Bois, der von 1892–94 in Berlin und Heidelberg studierte und lebte, sind nur zwei von zahlreichen Beispielen.46 Dennoch besteht das Phantasma einer deutschen (und in jüngster Zeit auch europäischen) Identität und weißen Selbstpräsenz im Sinne Bhabhas nach wie vor darin, entlang einer color line zu entscheiden, wer zu dieser imaginären Gemeinschaft gehört und wer nicht, und so ein entsprechendes Wir einzuzäunen.47 Bierbichlers Familiensaga skaliert auf einer Mikroebene, worum es im europäischen Maßstab auf einer Makroebene geht: die gewaltsame Einhegung des menschlichen Gattungswesens durch die weiße Subjektform und deren Brutalität, die sich sowohl nach außen hin als auch in ihrem Inneren hinter Zivilität verbirgt. Reckes kulturelle Appropriation unter umgekehrten Vorzeichen wiederum konfrontiert dieses phantasmatische Wir qua verfremdendem ›Whitefacing‹ mit dem, was von ihm ausgeklammert wird. Vor diesem Hintergrund soll im Rahmen der letzten Detailstudie dieser Arbeit gezeigt werden, dass Reckes Inszenierung von sehr viel mehr als nur ›Identitätspolitik‹ handelt. Was nämlich in Reckes Mittelreich (2017) ebenso problematisiert wird wie die Frage nach gesellschaftlichen Ein- und Ausschlüssen, ist, mit Wynter gesprochen, ein bestimmtes, in Europa geborenes, Genre des Menschen, welches durch seine solipsistische Subjektivität ebendiese Ein- und Ausschlussmechanismen zuallererst bedingt. Indem Recke Schwarze Schauspieler*innen die Saga der Familie am See, über dem sich in der Bühnenfassung des Romans genau zur Mitte hin, vor der Pause, ein gewaltiger Schneesturm zusammenbraut und den Einbruch einer gewaltsam verdrängten Natur ankündigt, wie in einer traurigen Posse verkörpern lässt, verfremdet sie eine selbstbezügliche Subjektivität, die in der vorliegenden Arbeit weiße Subjektform genannt wurde. Sie tut dies nicht nur mit Bhabha, sondern auch mit Brecht. In dieser Hinsicht geht sie sowohl über Bierbichlers Roman und dessen Verfilmung Zwei Herren im Anzug (2018) als auch über die von Mahler gelieferte Inszenierungsvorlage von 2015 weit hinaus. Reckes Reenactment der Inszenierung von Mahler an den Münchner Kammerspielen, an der Recke selbst als Regieassistentin beteiligt war, wurde sehr kontrovers aufgenommen. Exemplarisch für die Fehlrezensionen ist wohl ein Artikel von Eva-Elisabeth

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Seit August 2019 erinnert eine Gedenktafel in der Oranienstraße in Berlin-Kreuzberg daran, dass mit du Bois hier einmal ein Vordenker der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gewohnt hat. »In der Weimarer Republik wurden 400 afrodeutsche Kinder zwangssterilisiert, angespornt von der Hetze des in München ansässigen Vereins ›Notbund gegen die Schwarze Schmach‹. Später, in den 50er Jahren, wurden die knapp 5.000 afrodeutschen Kinder als ›soziales Problem‹ verstanden, welches man durch Adoption nach Dänemark oder die USA zu lösen suchte«, heißt es allerdings im Programmheft zu Reckes Mittelreich. Vgl. https://www.muenchner-kammerspiele. de/inszenierung/mittelreich-recke, Zugriff am 26.8.2019. Vgl. hierzu auch die Dokumentarfilme Hoffnung im Herz (1997) von Maria Binder und Audre Lorde. Die Berliner Jahre 1984-1992 (2012) von Dagmar Schultz, in denen die allzu früh verstorbene May Ayim eine zentrale Rolle spielt. Vgl. hierzu auch Étienne Balibar, Die Nation-Form: Geschichte und Ideologie, in: ders. und Immanuel Wallerstein, »Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten«, Hamburg: Argument, 1990.

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Fischer im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom 13. Oktober 2017, dessen Überschrift den Inhalt bereits vorwegnimmt: Schwarz allein reicht nicht. Anta Helena Reckes »Mittelreich« an den Kammerspielen. Darin heißt es, bereits Mahlers Theateradaption von Bierbichlers Romanvorlage sei »blutleer«48 gewesen und Recke würde ihr nichts hinzufügen. Die Autorin beschreibt Bierbichlers Text als »100 Jahre umfassende[s] Bauern-Geschichts- und Geschichtentableau«49 und im Gegensatz zu seinen beiden Theaterversionen als »lebenssatt«50 . Recke wirft sie vor, die Hautfarbe der von ihr eingesetzten Darsteller*innen sei für das Bühnengeschehen irrelevant: »Denn eine ähnliche Familiensaga um Schuld, Verdrängung, Missbrauch, Flüchtlingsproblematik und Erbstreitigkeiten wäre, vom oberbayerischen Lokalkolorit, das von Mahler und folglich auch von Recke in ihrer 1:1-Einstudierung sorgfältig wegretuschiert wurde, einmal abgesehen, wohl überall vorstellbar.«51 Überall vorstellbar ist eine solche Geschichte jedoch nur unter der Bedingung, dass das europäische Genre des Menschen und dessen bürgerliche Subjektivität heute überall repliziert sind, da sich das Menschenbild weißer Männer und dessen starke Ich-Instanz globalisiert haben. Hierauf jedoch geht Fischer nicht ein. Fischer verkennt völlig, worauf Azadeh Sharifi in einem sehr viel klügeren Beitrag zu Reckes Inszenierung hinweist. Obwohl auch Sharifi nicht auf die im bhabhaschen wie brechtschen Sinne Differenzen schaffenden Aspekte von Reckes verfremdendem ›Whitefacing‹, das die in der Romanvorlage angelegte ethnografischen Studie des europäischen Gemüts konsequent weiterführt, eingeht, stellt ihre Rezension doch zumindest eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Arbeit als »abweichende Wiederholung«52 und – in den Worten des Dramaturgen Julian Warner – »Schwarz-Kopie«53 der Vorlage dar. Unter anderem in einer Replik auf Fischer und die größtenteils auf unterem Niveau bewegenden Diskussionsbeiträge in den Feuilletons deutscher Tageszeitungen schreibt Sharifi im Missy Magazin vom Oktober 2017, das Anliegen von Reckes Reenactment der Inszenierung Mahlers bestehe darin, sich »in die weiße und heteronormative (Kunst-/ Theater-/Nations-)Geschichte einzuschreiben und eine Sichtbarkeit von exkludierten und marginalisierten Körpern und Subjekten herzustellen«54 . Diese Beobachtung ist richtig. In der hier noch weiter durchzuführenden Detailstudie des Reenactments von Recke soll jedoch dafür plädiert werden, dass es in ihrer Version von Mittelreich um mehr als nur den Kampf um Anerkennung und um Fragen der Sichtbarkeit und Reprä-

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Eva-Elisabeth Fischer, Schwarz allein reicht nicht. Anta Helena Reckes »Mittelreich« an den Kammerspielen, 13.10.2017, https://www.sueddeutsche.de/kultur/schauspiel-nach-sepp-bierbichler-schwa rz-allein-reicht-nicht-1.3707139, Zugriff am 26.5.2023. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. hierzu das Symposium Abweichende Wiederholung zu Anta Helena Reckes Mittelreich an den Münchner Kammerspielen vom 22.10.2017: https://web.archive.org/web/20190925155804/h ttps://www.muenchner-kammerspiele.de/inszenierung/abweichende-wiederholung, Zugriff am 26.5.2023. Vgl. Azadeh Sharifi, Anta Helena Reckes »Mittelreich«, https://missy-magazine.de/blog/2017/10/24/ anta-helena-reckes-mittelreich/, Zugriff am 26.5.2023. Ebd.

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sentation von Afrodeutschen innerhalb einer weißen Dominanzkultur und hegemonial umkämpfter weißer Institutionen geht.55 Mit Wynters Überlegungen zum Monohumanismus und Feuerbachs Konzeption des menschlichen Gattungswesens im Sinne vielfältiger sinnlicher Verhältnisse zwischen mehr als nur einem Menschen soll im Folgenden argumentiert werden, dass Recke, indem sie die durchweg weiße Besetzung von Mahlers Theateradaption des Romans durch Schwarze Schauspieler*innen ersetzt, eine Kritik an der »monohumanist conception of the human – Man-as-homo oeconomicus – as well as of its rhetorical overrepresenting of that member-class conception of being human (as if it is the class of classes of being human itself)«56 unternimmt, die bei Bierbichler angelegt ist und sich auch in Mahlers vorangegangener Inszenierung bereits abzeichnet. Recke geht jedoch darüber hinaus: Dadurch, dass sie die um die europäische Kernfamilie, bürgerliche Gesellschaftsverhältnisse und deren verschleierte Gewaltsamkeit kreisende Erzählung Bierbichlers von Schwarzen Darsteller*innen verkörpern lässt, macht sie explizit, was zuvor implizit geblieben ist, nämlich eine Subjektivität, die von Bierbichler und Mahler nicht weiter markiert wird, aber dazu führt, dass der Seewirt irgendwann schreien wird: »Ich hasse dieses Haus.«57 Bei Recke geht es nicht nur um die Kriegswirren des 20. Jahrhunderts. Hier schwingt innerhalb dieses Narrativs zusätzlich koloniale Geschichte mit. So verweist Recke anhand der Seewirtsfamilie auf ein Gewaltverhältnis, das Europa mit dem Rest der Welt verbindet. Wenn Pankraz während des tobenden Schneesturms draußen ruft, er wolle aus sich heraus, dann steht das Familienhaus bei Recke auch für eine Form menschlicher Subjektivität, die sich laut Feuerbach über den Monotheismus des Christentums, das cartesianische ego cogito, ergo sum und den Weltgeist Hegels geistesgeschichtlich herausgebildet und den gesamten Planeten bedeckt und in eine Plantage verwandelt hat, die zur Extraktion bereitsteht. Kammer 1, Münchner Kammerspiele, 31. März 2017: Die Bühne zeigt einen holzvertäfelten Raum, der eine gewisse Spießigkeit ausstrahlt und an ein kleinbürgerlich eingerichtetes Gasthaus erinnert. Links ist eine Tür zu sehen, rechts ein Fenster, durch das scheinbar Tageslicht fällt. Parallel zum Bühnenrand stehen sechs einfache, in einer Reihe aufgestellte Holzstühle in helleren und dunkleren Tönen. Das Bühnenbild, das Recke zum Einsatz bringt, stammt ebenso wie die Kostüme aus der Produktion Mahlers. Die Bühne ist in warmes Grundlicht getaucht, das aus vier halbrunden Deckenlampen strömt. Auch die Decke über der Bühne ist holzverkleidet. Es gibt keine sichtbaren Scheinwerfer. Nachdem das Publikum Platz genommen hat, betreten von links fünf Männer und eine Frau den Raum und setzen sich auf die Stühle.

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Vgl. hierzu auch Elisa Liepsch und Julian Warner, Allianzen. Kritische Praxis an weißen Institutionen, Bielefeld: transcript, 2018. Wynter und McKittrick, Unparalleled Catastrophe for Our Species?, S. 21. Die hier durchgeführte Detailstudie bezieht sich auf eine Videoaufnahme des Stücks, die dem Autor freundlicherweise von den Münchner Kammerspielen zur Verfügung gestellt wurde. Alle im Folgenden wiedergegebenen direkten Zitate aus der Inszenierung Reckes wurden nicht mit dem Roman abgeglichen, sondern sind der Aufnahme entnommen. Dadurch kann es zu leichten Abweichungen im Text kommen.

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Abb. 78: Anna-Sophie Mahlers Mittelreich (Münchner Kammerspiele, 2015). Von links nach rechts im Bild sitzen Damian Rebgetz, Stefan Merki, Jochen Noch, Steven Scharf, Annette Paulmann und Thomas Hauser.

Abb. 79: Anta Helena Reckes Mittelreich (Münchner Kammerspiele, 2017). Von links nach rechts im Bild sitzen Yosemeh Adjei, Ernest Allan Hausmann, Victor Asamoah, Moses Leo, Isabelle Redfern und Jerry Hoffmann.

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Es handelt sich bei ihnen um Yosemeh Adjei, Victor Asamoah, Ernest Allan Hausmann, Jerry Hoffmann, Moses Leo und Isabelle Redfern, die in Reckes Stück unterschiedliche Rollenfiguren verkörpern und Texte aus dem Roman in Form von Botenberichten vortragen werden.58 Ihre jeweiligen Körperhaltungen gleichen bis ins kleinste Detail – in ihren Handhaltungen ebenso wie in den Beinstellungen – denen der Schauspieler*innen in Mahlers Inszenierung. Dieses Prinzip der Anverwandlung an ein vermeintliches Original, ohne ihm etwas hinzuzufügen, und die gerade deshalb entstehende mimetische Differenz werden sich bis zum Ende des Stücks fortsetzen. Der Auftritt der Darsteller*innen ist formal gestaltet. Vor der Bühne, für die Zuschauer*innen nur halb sichtbar, hat ein Kammerorchester Platz genommen. Die Schwarze Dirigentin steht mittig und beginnt, die ebenfalls Schwarzen Musiker*innen beim Spielen des I. Satzes von Ein deutsches Requiem (1861–68) von Brahms anzuleiten, der in der Verfilmung Zwei Herren im Anzug (2018) an prominenter Stelle in der Dorfkapelle von einem Kirchenchor gesungen wird, den der Pfarrer dort motiviert, das Gesungene zu wiederholen, um derart die ihm anvertraute Gemeinde im Sinne Foucaults pastoral zu subjektivieren. Zunächst sind nur Mollakkorde von einem Flügel zu hören, dann singen die Figuren auf der Bühne in Dur. Zu hören sind die ersten vier Verse. Der Text stammt wie in allen sieben Sätzen der Partitur aus der Bibel, genauer aus Matthäus 5 und 4 sowie aus dem Psalm 126, 5.6. »Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden. Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.«59 Die Verse werden mehrere Male wiederholt und in einer kanonartigen Struktur ineinander verschachtelt. Dabei schwankt die Melodie zwischen Dur und Moll und beschleunigt sich kurz bei »Werden mit Freuden ernten«, um danach wieder verlangsamt zu werden und zum ersten Vers zurückzuspringen: »Selig sind, die da Leid tragen […]«. Bald fällt auf, dass nicht live auf der Bühne gesungen wird, sondern die Stimmen eingespielt sind. Dies wird nicht nur deshalb offensichtlich, weil mehrere Frauenstimmen zu hören sind, Redfern jedoch die einzige Frau auf der Bühne ist, sondern ebenfalls aufgrund der Voluminösität des Chores insgesamt im Vergleich zur Anwesenheit von nur sechs Körpern im Raum. Nachdem die Musik verklungen ist, beginnt die dritte Person von rechts (der Bildende Künstler, Musiker und Schauspieler Moses Leo, der uns bereits aus Kilombas Illusions-Trilogie bekannt ist), einen Text aus Bierbichlers Roman zu sprechen. In seinem Botenbericht geht es um das Begräbnis von Pankraz und darum, dass dessen Beerdigung zu einer »großen Leich« geworden sei und die anwesenden Besuchermassen die Kirche 58

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In dieser Hinsicht wäre näher zu untersuchen, inwiefern Mahlers und Reckes Inszenierungen der von Andrzej Wirth an prominenter Stelle aufgestellten ›postdramatischen‹ These widersprechen, zeitgenössisches Theater hätte sich vom Dialog zwischen Personen zum textflächigen Diskurs entwickelt. Diese Diagnose trifft auf Mittelreich so nicht zu. Vgl. Andrzej Wirth, Vom Dialog zum Diskurs. Versuch einer Synthese der nachbrechtschen Theaterkonzepte, Theater heute 1, 1980, S. 16ff. Vgl. Brahms, Ein deutsches Requiem. Fassung für Kammerorchester von Ingo Schulz.

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bis auf den letzten Platz gefüllt hätten. Menschentrauben hätten sogar noch vor der Tür gestanden und sich bis ans Friedhofstor gedrängt. Der Pfarrer habe in seiner Rede die Unverbrüchlichkeit des Glaubens des Verstorbenen gepriesen und darauf hingewiesen, dass er »bis zu seinem letzten Atemzug« an Gott festgehalten habe. Der Bürgermeister wiederum habe das uneingeschränkte Bekenntnis von Pankraz zu »Gemeinde und Gemeinschaft« hervorgehoben, das in einer achtjährigen Amtsausübung als Gemeinderat seinen Höhepunkt gefunden habe. Der CSU-Politiker und Vorsitzende des Veteranenverbandes Stichel habe betont, dass der Seewirt sich gegen den Pflichtwehrdienst für die bäuerliche Nachkommenschaft und den Krieg ausgesprochen habe: »Nein, ein Militarist warst du nie, lieber Pankraz.« Leo beginnt zu brüllen, wenn er im Anschluss darauf hinweist, dass Pankraz dennoch nie dem Antimilitarismus »unserer städtischen Jugend« aufgesessen sei. Dann, so setzt er seinen Bericht fort, seien ein Vertreter des Kirchenrats, der Vorstand des Hotel- und Gaststättenverbandes, der Vorstand des Zweckverbandes der Milchviehhalter genauso wie die Leiterin des Kirchenchores zum Zug gekommen. Nun deutet Leo auf die Schwarze Dirigentin vor der Bühne – ein anti-illusionistischer Verfremdungseffekt, den Mahler bereits vor Recke einsetzt, um auf eine weiße Dirigentin zeigen zu lassen. Bis hierhin haben die auf der Stuhlreihe sitzenden Männer zustimmend genickt oder angenehm berührt das Gesicht verzogen. Nur die einzige Frau im Raum, die von Redfern dargestellt wird, wirkt seltsam entrückt. Alle, die dem Seewirt ihr letztes Geleit gaben, hätten ihre Reden mit den Worten »Ruhe in Frieden« beendet, die nun auf der Bühne im Chor gesprochen werden. Wieder setzt Musik vom Flügel ein. Der II. Satz des Brahmsrequiems wird gespielt. Nachdem sich ein etwas älterer Schauspieler mit grauen Haaren, Hausmann, der zweite von links, von seinem Stuhl erhoben und mit vor der Brust verschränkten Handflächen rücklings vor die Reihe hingelegt hat, stellt sich ein jüngerer Schauspieler mit blondiertem Haar von ganz rechts, Hoffmann, der sich in dieser Szene bald als Semi, der Sohn von Pankraz, herausstellen wird, andächtig vor den Leichnam, auf den er nun herabblickt. Alle bewegen ihre Lippen synchron zu demjenigen Teil der Partitur von Brahms, der auf 1. Petrus 1, 24 der Bibel rekurriert und in dem es um das Fleisch der Welt, verdorrtes Gras, verwelkte Blumen und um die Sterblichkeit des Menschen geht. Jeder singt, auch der Tote. Mahler und Recke eröffnen ihre Theateradaptionen von Bierbichlers Roman mit einer Schlüsselszene, die dort zu Beginn nur angerissen, aber erst am Ende auserzählt wird und in der die zeitlich vor- und zurückspringende Handlung kulminiert, beschreiten also im Vergleich zur literarischen Vorlage einen umgekehrten narrativen Weg. Dass Mahler sich für Ein deutsches Requiem (1861–68) als Klammer entschieden hat, fügt dem Text etwas hinzu, das es auch in der Verfilmung Zwei Herren im Anzug (2018) nicht gibt. Mahlers und Reckes Musiktheater kombiniert von Anfang an naturalistische Elemente des Kammerspiels nach Strindberg mit wohlüberlegt eingesetzten Verfremdungseffekten in der Tradition Brechts. Dabei bewegt es sich zwischen unterschiedlichen Genres, die sich gegenseitig erhellen und kommentieren. Während des schmetternden Flügelsolos zwischen den Versen des II. Satzes des Brahmsrequiems erheben sich weitere Personen von ihren Stühlen und gruppieren sich trauernd um den Leichnam von Pankraz. Die Szene erinnert an ein Opferritual, in dessen Rahmen sich eine Gemeinschaft um den toten Körper in ihrer Mitte herum konstituiert.

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Gegen Ende dieses musikalischen Parts der Inszenierung nehmen zunächst alle Kontakt zu dem am Kopfende des Leichnams stehenden Semi auf, der an dieser Stelle von Hoffmann verkörpert wird, und bekunden ihm ihr Beileid. Adjei und Asamoah verlassen mit ihren Stühlen den Raum. Danach verbleiben drei Personen sowie der Gestorbene auf der Bühne. Der Tote stimmt ein Gesangssolo an, das er zunächst ohne instrumentale Begleitung vorträgt und in dessen Rahmen er die ersten Verse des III. Satzes des BrahmsRequiems singt, die aus dem Psalm 39, 5–8 der Bibel stammen. Bald wird er von Flügel und Pauke begleitet, bis schließlich die Lebenden einzelne Gesangsparts übernehmen und ein schmetternder Chor zugespielt wird, der in Mahlers Inszenierung noch am seitlichen Bühnenrand live anwesend war. »Herr, lehre doch mich, daß ein Ende mit mir haben muß. und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muß. Siehe, meine Tage sind einer Hand breit vor Dir, und mein Leben ist wie nichts vor Dir.«60 Indem das Requiem an dieser Stelle zwischen mehreren Körpern aufgeteilt wird, kündigt sich bereits an, was im weiteren Verlauf der Inszenierungen Mahlers und Reckes noch weiter entfaltet wird und bereits bei Bierbichler angelegt ist, nämlich das Ineinander verschiedener Zeiten und dramatis personae, das theatrale Problem der Verkörperung und die mit sich identische Wiederholung und Reproduktion einer bestimmten Subjektivität über mehrere Generationen hinweg. Mit Feuerbach ließe sich sagen, dass hier sinnliche Verhältnisse zwischen mehreren Menschen im Kontrast zu deren Abkappung in der Figur des Individuums ins Spiel kommen. Noch während die Brahmsmelodien gesungen werden, streift Hausmann, der Schauspieler, der momentan Pankraz verkörpert, Hoffmann, dem Schauspieler, der gerade Semi inkorporiert, seine Anzugsjacke über, als wolle er damit ein Erbe weitergeben und eine Subjektform bewahren, welche die Familie des Seewirts in ihren stahlharten Panzer hüllt. In der folgenden Szene beginnt Redfern, noch immer auf ihrem Stuhl sitzend, zu sprechen und adressiert jetzt Hoffmann als Pankraz in noch jungen Jahren. Sie spricht den Text der ehemaligen Kammersängerin Krauss aus Bierbichlers Roman und versucht, Pankraz zu überreden, eine Gesangskarriere zu erwägen, da sie ihn für talentiert hält. Zwar folgt der Dialog zwischen Krauss und Pankraz Kriterien naturalistischen Theaters, er wird jedoch sofort wieder durch Leo verfremdend von einem Botenbericht unterbrochen, in dem er erzählt, dass Krauss zwischen den beiden Weltkriegen im ehemaligen Haus »des Schwarz« untergebracht worden sei. Eine gewisse sexuelle Attraktion zwischen Krauss und Pankraz ist offensichtlich. So gesteht sie ihm etwa, während sie ihn länger berührt, davon begeistert zu sein, wie er mit seinen grobschlächtigen Händen und »nacktem Oberkörper« auf der Wiese das Heu sortiere: »Sie haben ja wunderbare Muskeln.« Auch er berührt ihre Handfläche und folgt den 60

Vgl. ebd.

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Linien darin. Während Leo mit seinem Botenbericht fortfährt, haken sich Krauss und Pankraz unter und schlendern entzückt vom rechten zum linken Bühnenrand. »Wenn Sie wirklich Sänger werden wollen, dann erfordert das nicht nur Ihren ganzen Mann, sondern auch Ihre ganze Zeit«, ermahnt sie ihn. Die anderen Männer sind auf ihre Stühle zurückgekehrt und starren entgeistert ins Publikum. Krauss bietet an, sich sogar um ein Stipendium bemühen zu können. Immerhin gebe es für Talente vom Land immer eine erhöhte Aufmerksamkeit. Da zu diesem Zeitpunkt der Handlung Toni, der ältere Bruder von Pankraz, noch nicht durch einen Kopfschuss verletzt und geistig beeinträchtigt wurde, erwidert er Krauss auf die Frage, ob er sich von Haus und Hof lösen könne, dass er sich als jüngerer Bruder sowieso »was anderes suchen« müsse. Nun arrangiert Krauss seinen Körper in zärtlich disziplinarischem Drill. Das Verhältnis der beiden ist von sexuellem Begehren ebenso wie von ihrem Wunsch gekennzeichnet, seinen Körper und seine Stimme zu formen, ihn in den Tonleitern zu unterrichten und ihm beizubringen, wie er sozial distinkter auftreten kann. Sie beginnt, eine Reihe von Gesangsübungen mit ihm durchzuführen. Zunächst geht es um Tonhöhen, dann um Entspannungsübungen für die Gesichtsmuskulatur. Immer wieder spielt Krauss am Anzug von Pankraz herum, bis sie ihm schließlich die Anzugsjacke – die ihm zuvor als Semi von Hausmann in der Rolle des Pankraz übergestreift wurde – auszieht, damit er seine Stimme freier entfalten könne. Während die ehemalige Kammersängerin ihm die Tonlagen vorlegt, zeigt sie gestisch, welchen Fokus er auf einzelne Körperteile richten soll, um bestimmte Töne zu produzieren. Dann stimmt er ein Volkslied über einen lustigen Finken und die schöne Welt an, das er mehr schlecht als recht singt. Während der Flügel zu spielen fortfährt, erzählt Leo als in die Szene eingebetteter Kommentator die Geschichte vom Kopfschuss Tonis im Ersten Weltkrieg. Darauf folgt eine dialogische Szene, in welcher der alte Seewirt seinem jüngeren Sohn aufträgt, von nun an Sorge um Haus und Hof zu übernehmen, weshalb er seiner Gesangskarriere abschwören müsse. Jetzt schlüpft Redfern, die eben noch Krauss gespielt hat, in die Rolle der Botin und fährt fort, die Familiensaga zu erzählen. Die Männer nehmen neben ihr auf den Stühlen Platz und hören ihr andächtig zu. Der Krieg habe das bevölkerungspolitische Gleichgewicht zwischen Männern und Frauen durcheinandergebracht. Hoffmann, der eben noch Pankraz war, nimmt den Faden der Erzählung auf und berichtet, wie Pankraz während des Zweiten Weltkrieges zuerst nach Frankreich und dann nach Russland abkommandiert wurde. Im Folgenden changiert der Prosatext des Romans über den Krieg und die Ankunft zahlreicher vor dem Krieg Geflüchteter im Seehaus, unter anderem des Fräuleins von Zwittau, zwischen mehreren Körpern hin und her.

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Abb. 80 & 81: Anta Helena Reckes Mittelreich (Münchner Kammerspiele, 2017)

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Schließlich betritt ein aus rund einem Dutzend Sänger*innen bestehender Chor durch die Tür links die Bühne und stellt sich im Bühnenhintergrund auf.61 Er schaut ins Publikum. Die auf der Bühne anwesenden Schauspieler*innen wechseln kontinuierlich zwischen dem Sprechen von Prosatext aus Bierbichlers Roman in Form von Botenberichten und unterschiedlichen Rollenfiguren, in die sie abwechselnd schlüpfen. So verwandelt sich Erzähltext beispielsweise an der Stelle in einen Rollendialog zwischen Semi und seiner Mutter Theres, als Leo und Redfern am Fenster Platz genommen haben, sie stehend und sehnsuchtsvoll nach draußen ins Licht schauend, er sitzend. »Mutter. Warum weiß ich nicht, was der Wehrmachtssoldat in Russland und Frankreich tat, der mein Vater war?«, fragt er sie. Es folgt beredtes Schweigen, während dem sie noch angestrengter als zuvor mit den Gedanken in die Ferne zu schweifen scheint. Im Anschluss tritt Adjei, der später das Fräulein von Zwittau als Dragqueen darstellen wird, aus dem Hintergrund des Chores hervor und schiebt dabei in dessen Mitte die vorderen Körper beiseite, um sich Platz zu verschaffen. Nachdem er sich vor dem Chor positioniert hat, beginnt er denjenigen Prosatext aus dem Roman zu sprechen, in dem es um die Vergewaltigung Zwittaus durch russische Soldaten gegen Ende des Zweiten Weltkrieges geht. Als er spricht, schaut der Chor weiterhin geradeaus ins Publikum, während sich Redfern und Leo, die vorher den schleppenden Dialog zwischen Mutter und Sohn geführt haben, ihm zuwenden, der deshalb fast die Qualitäten einer Rollenfigur annimmt, obwohl sein Botenbericht gleichzeitig eine Distanz zum Geschehen schafft. Er schildert, wie Zwittau damals von einem betrunkenen russischen Soldaten aus ihrem Zimmer getragen und dann zwischen weiteren Soldaten herumgeworfen worden wäre, bis sie schließlich auf einem Tisch fixiert und ihr dort mit einem Bajonett die Kleidung aufgeschlitzt worden sei. Während Adjei den Text aufsagt, nimmt er nach und nach die Körperhaltung der Vergewaltiger ein, pirscht erst, geht dann stolz und erigiert und beugt sich schließlich etwas nach unten. Obwohl er keinen Rollentext spricht, evoziert er über seine Gestik und Mimik dennoch szenisch, was er verbal schildert. Im Roman wird beschrieben, wie die russischen Soldaten, als sie in Zwittau eindringen wollen, erschrocken feststellen, dass sie eine »Zipfelpritsche«62 hat. Dieses Detail bleibt im Stück jedoch unerwähnt. Dann wird Adjei von Hausmann, der zu Beginn des Stücks Pankraz auf dessen Beerdigung darstellte, unterbrochen. Er betritt von links die Bühne und berichtet als Bote, wie es dazu gekommen sei, dass Pankraz erst nach Kriegsende heimgekehrt sei. Es gebe von seiner Seite keine Erinnerungen an die Monate davor. Er wünsche sich, nicht länger dazu befragt zu werden. Wieder setzt Musik ein, der Anfang des IV. Satzes von Ein deutsches Requiem (1861–68), der sich auf den Psalm 84, 2.3.5 der Bibel bezieht.

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»Die ›Orchestra‹ als Ort des Chors ist verbunden mit der Erde und ihren Landesgöttern, mit denen der Chor dann auch zunächst Kontakt aufnimmt, während die ›Skene‹ der Protagonisten bereits der Ort der politischen Stellvertretung und Verhandlung ist«, heißt es in Jörn Etzold, »Flucht«, Hamburg: textem, 2018 bezüglich Kirschs Überlegungen zum Chor im antiken Theater Griechenlands. Ebd., S. 26. Bierbichler, Mittelreich, S. 183.

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»Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Herr Zebaoth!«63 Der Gesang wird aus dem Off zugespielt. Der Chor steht weiterhin stumm und regungslos und blickt ins Publikum. Während Leo und Adjei, der eben noch von der Vergewaltigung des Fräuleins von Zwittau berichtet hat, vor dem Fenster rechts stehen, rennt Redfern, nun wohl in der Rolle von Philomena, der Schwester des Seewirts, die während seiner Abwesenheit die Familiengeschäfte übernommen hat, vielleicht aber auch in der Rolle von Theres, der Tochter des benachbarten Bauern, der er vor seinem Auszug in den Krieg versprochen hat, sie nach seiner Rückkehr zu heiraten, auf ihn zu und umarmt ihn. Auch an diesem Punkt werden wieder verschiedene Zeiten wie auch die Ebenen von Botenbericht und dramatis personae ineinandergeblendet, die sich in der Verfilmung allein im Wechsel zwischen Farb- und Schwarzweiß-Sequenzen manifestieren. In den lieblich klingenden Gesang hinein schreit Hausmann, der eben noch von Heimkehr und Verdrängung berichtet hat und nun in die Rollenfigur des Pankraz schlüpft: »Jetzt wird hier aber mal gearbeitet! Und wer nicht arbeitet, wird umgesiedelt!« Er klatscht laut und auffordernd in die Hände. Schnell tritt der Chor von der Bühne ab, fast, als wolle er dem Befehl des Seewirts entkommen, und Pankraz öffnet den bisher verschlossenen hinteren Teil des Raums, indem er eine Lamellenwand beiseiteschiebt. Vom Chor bleibt nur ein hochgewachsener Herr zurück, der Schauspieler Victor Asamoah, der nun vor zwei Frauen steht, die im Hintergrund, mit dem Rücken zum Publikum, an einem Tisch sitzen. Im Gegensatz zum bisher sichtbaren, gut erhaltenen und geradezu aufpoliert wirkenden vorderen Bühnenbereich wirkt der hintere wie eine Ruine. Der Putz ist von den Wänden abgesplittert. Alte Farbe bedeckt nur hier und dort noch die Holzpaneele. Von den vier halbrunden Deckenleuchten verbreiten nur zwei in einer Diagonale Licht. Ansonsten sind beide Räume jedoch fast identisch. Als wäre der hintere ein verzerrtes Spiegelbild des vorderen Teils, weist auch er ein Fenster rechts auf, das allerdings zerbrochen ist. Links befindet sich eine Tür. Während sich die Semiotik dieser Szene in Mahlers Inszenierung darauf beschränkt, die Ambivalenzen innerhalb der Familienstruktur des Seewirts zu konnotieren, und an Krieg und die Verdrängung von Gewalt erinnert, ist sie bei Recke noch komplexer. Hier korrespondiert die nun vollzogene Spiegelung zweier Räume ineinander zusätzlich mit der Ebene der Besetzung des Stücks und der damit zusammenhängenden mimetischen Differenz zwischen dem Schwarzem Reenactment und dessen weißer inszenatorischer Vorlage.

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Vgl. Brahms, Ein deutsches Requiem. Fassung für Kammerorchester von Ingo Schulz.

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Abb. 82: Anna-Sophie Mahlers Mittelreich (Münchner Kammerspiele, 2015)

Abb. 83: Anta Helena Reckes Mittelreich (Münchner Kammerspiele, 2017)

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Obwohl sich die Semantik der Szenerie nicht darauf reduzieren lässt, stellt der hintere Raum im Vergleich zum vorderen bei Recke zusätzlich eine »Schwarze Kritik an der deutschen Geschichte«64 dar, wie es im Programmheft zur Inszenierung insgesamt heißt. Während es bei Bierbichler sowie in der Theateradaption seines Romans durch Mahler um verdrängte Kriegstraumata und nur scheinbar vergangenes Nazitum geht, spielt bei Recke zusätzlich die Verdrängung der Kolonialgeschichte Europas, die im 20. Jahrhundert mit zwei Weltkriegen zusammenhing, mit in das szenische Arrangement hinein und eröffnet neue Lesbarkeiten auch des Romans. Indem hier Schwarze Körper eine durch und durch weiße Subjektivität als tragikomische Posse darstellen, entsteht eine Differenz, die eine rassistische Problematik bloßlegt und die darin eingeschriebene Verdrängung zum Thema macht: die Entmenschlichung und Ausbeutung Schwarzer durch weiße Menschen. Als ob es sich beim Verhältnis zwischen Kernfamilie und kolonialer Gewalt um ein verzerrtes Spiegelverhältnis handelt, lässt der nun sichtbare Familientisch mit den beiden dem Publikum ihre Rücken zuwendenden Frauen geradezu an die Szenerie aus einer Plantage denken.65 Redfern, die eben noch als Rollenfigur Pankraz in ihren Armen gehalten hat, berichtet nun, wie dieser, nachdem er im Lazarett genesen sei, nach Hause zurückgekehrt sei, um dort im Herbst 1945 Theres, die Tochter der benachbarten Bauernfamilie, zu heiraten und die Geschäfte zu übernehmen. Seine beiden Schwestern Philomena und Hertha seien dann, so sei es üblich, Angestellte des Familienunternehmens geworden. Zwittau, gegen Ende des Krieges noch Geflüchtete, die im Seehof Unterschlupf fand, sei zu diesem Zeitpunkt in die Familie aufgenommen worden. Nach und nach nehmen mehrere Personen am Tisch im Hintergrund Platz. Die beiden mit dem Rücken zum Publikum sitzenden Frauen tragen die gleiche schlichte Kleidung. Sie scheinen die Schwestern von Pankraz darzustellen. Ihre Gesichter sind nicht zu sehen. Leo, der nach wie vor in der vorderen Bühnenhälfte rechts vor dem Fenster steht und die Szene hinten von dort aus beobachtet, sagt, dass zu dieser Zeit pure körperliche Arbeitskraft gefragt gewesen sei. Am Tisch sitzt jetzt neben den Schwestern von Pankraz auch das Fräulein von Zwittau. Die beiden Männer, Pankraz und Viktor Hanusch, trinken stehend Bier aus großen Gläsern, was wie ein Zeichen aufgezwungener Zuneigung zwischen ihnen wirkt, bevor sich Pankraz zur Tischgesellschaft begibt, während Hanusch stehen bleibt. Die Unterhaltung dreht sich um Arbeit. Auf die Frage hin, ob Hanusch seine Tätigkeit »beim Jäger« gefalle, antwortet er zunächst mit tiefer Stimme: »Na ja.« Dann meint er, es ginge nicht darum, ob einem eine Arbeit gefalle, sondern dass man welche habe, da man ja irgendwie »über die Runden kommen« müsse. Pankraz erwidert, dass es einen großen Unterschied mache, ob man Kartoffeln anbaue oder sie zubereite. Er selbst arbeite zwar lieber auf dem Feld als in der Küche, könne sich das aber leider nicht aussuchen: »Ich bin Bauer und Wirt.« Alle schauen starr vor sich hin, während sie sprechen. Weder gibt es Blickkontakte zwischen einzelnen Personen noch sonst irgendwelche Anzeichen dafür, dass sich hier

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Programmheft zu Reckes Mittelreich. Bezüglich der Ikonografie dieser Szene vgl. manche Fotografien in Aas und Rosenke, Kolonialgeschichte im Familienalbum, 1992.

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Mitmenschen begegnen. »Der Besitz ist mein Los«, ruft Pankraz. Diese Tischszene offenbart, inwiefern die von Feuerbach über verschiedene Etappen seines Denkens hinweg kritisierte Figur des Individuums, welche die weiße Subjektform fortwährend reproduziert, anderes und andere ausklammert, indem sie Fremd- zugunsten von Selbstbezügen vernachlässigt. Wenn Pankraz an einer Stelle meint, Besitz sei nur dann ein Privileg, wenn man ihn ausquetsche – im Roman heißt es dazu noch »wie einen Sklaven«66 , eine Formulierung, die in der Bühnenfassung weggelassen wurde –, erlangt die von Reckes abweichender Wiederholung der Inszenierung Mahlers geschaffene mimetische Differenz eine besondere Brisanz. Indem in ihrer Version des Stücks Schwarze Schauspieler*innen eine weiße Mentalität verkörpern, die sich aus genau einem solchen Verständnis von Besitz und Privileg heraus den gesamten Planeten untertan gemacht und überall ihr Genre des Menschseins und Subjektivität als Plantage repliziert hat, werden an dieser Stelle wieder koloniale Kontexte aufgerufen. Damit wird eine Gewaltgeschichte evoziert, in deren Verlauf weiße europäische Männer, von denen Pankraz nur ein bayrisches Exemplar ist, ihre Existenzweise in andere Länder getragen und die ganze Menschheit in eine heute viele color lines umfassende Subjektivität eingeschlossen haben. Um diese Subjektivität, die für die Klimakrise verantwortlich ist, geht es in Mittelreich schon an prominenter Stelle in Bierbichlers Roman, wenn der Seewirt mit Wagners Der fliegende Holländer (1843) einen Schneesturm bezwingt. In Zwei Herren im Anzug (2018) schwingt sie beispielsweise mit, wenn er sich dort in jungen Jahren als Parsifal imaginiert. Pankraz hat den Raum verlassen, um neues Bier zu holen, da beginnt Hanusch zu erzählen, wie es ihm im Krieg ergangen sei. Sobald er sagt »Im Februar 45 kam der Russe«, treten die beiden Schwestern von Pankraz ab. Hanusch und Theres bleiben kurz allein zurück, bis Pankraz mit zwei vollen Biergläsern zurückkehrt. Überall seien Geflüchtete aus dem Osten gewesen, die aus den von russischen Truppen bereits eingenommenen Gebieten entkommen seien. Da die Städte aufgrund der Bombardements der Alliierten alle »hinüber« gewesen seien, habe sich Hanusch, selbst Geflüchteter, Arbeit auf dem Land suchen müssen und sei so »beim Jäger« gelandet. Pankraz bietet ihm an, auch für die Seewirtsfamilie arbeiten zu können, worauf er später eingehen wird. »Einen Buben haben wir!«, heißt es plötzlich. Redfern, die zuvor die Ehefrau von Pankraz verkörpert hat, wechselt in einen weiteren Botenbericht: »Und da war ihnen klar, dass nun die alte Zeit vorbei war.« Sie erzählt von der Geburt Semis, bevor sie wieder in die Rolle von Theres schlüpft. Lange habe sich das Paar einen »Buben« gewünscht, um Haus und Hof an die nächste Generation vererben zu können. Sie sei sehr froh gewesen, mit dem Seewirt verheiratet zu sein. Leo, der sich bis dahin am Fenster im vorderen Bühnenbereich aufgehalten hat, positioniert seinen Stuhl in der Bühnenmitte und setzt sich, mit dem Rücken zum Publikum, darauf, um ihr zuzuhören. Dann steht er auf und eröffnet als Semi einen Dialog mit seiner Mutter, die sich kurz vom Tisch erhebt und ihm zugewandt wieder hinsetzt. Er betritt die verfallene hintere Bühnenhälfte und nimmt dort am Familientisch Platz. Er erinnere sich noch gut daran, wie sie ihm erzählt habe, vor seiner Geburt einmal von den Schwestern des Seewirts aus der Küche geworfen worden zu sein. »Du hast hier nichts verloren, du bist von den Bauern, du gehörst in den Stall«, hätten sie ihr damals gesagt. »Ich weiß nicht, ob du mich damals schon in deinem 66

Bierbichler, Mittelreich, S. 124.

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Herzen getragen hast«, fährt er fort. Er wisse aber, dass das keineswegs ein einmaliger »Ausrutscher« der Schwestern gewesen, sondern öfter vorgekommen sei. Theres sei aufgrund ihres gesellschaftlichen Standes lange nicht von der Familie akzeptiert worden. Seine Geburt sei eine schwere Geburt gewesen. Die Leute hätten sich Sorgen gemacht, dass Mutter und Sohn sie nicht überleben würden. Schließlich sei er »mit der Zange« aus ihrem Bauch geholt worden. Als er sie im Gesicht berührt, weicht sie zurück. »Manchmal denke ich, du hättest mich ob der dich umgebenden widrigen Umstände am liebsten bei dir im Bauch behalten«, meint Semi. Die Tür öffnet sich. Pankraz kommt mit einem »Musikkombischrank« der Nachkriegsjahre herein, den er »am besten Platz« neben dem Fenster positioniert. Erneut werden unterschiedliche Zeiten ineinander geblendet, als er stolz verkündet, er hätte dieses »neueste Modell« bei Lindberg in der »Hauptstadt« (der bayrischen Landeshauptstadt München) gekauft: »Mit Radio, also Volksempfänger, wie man früher sagte.« Während Pankraz stolz erklärt, dass das Gerät einen Plattenspieler mit zwei Geschwindigkeiten habe – »die 78 für die Schellack und die 33 für die Modernen, die ganz Modernen« –, trinkt Semi genervt das noch auf dem Tisch stehende Bier aus. »Ja, wenn du meinst, dann wird das schon richtig sein«, erwidert Theres. »Von hier aus hat er die beste Wirkung, auch klanglich, hier kommt er hin«, verkündet er. Als seine Frau begeistert feststellt, dass er auch zwei Schallplatten gekauft hat, weist er sie darauf hin, dass es sich bei ihnen um Aufnahmen von Wagner-Werken handele, »den Tristan und den Holländer«. In diesem Moment erhebt sich Leo von seinem Stuhl am Tisch, schaut sich den Musikkombischrank kurz aus der Nähe an und tritt dann verfremdend aus der illusionistischen Szene heraus, indem er sich als Kommentator des Gesprächs zwischen Semis Eltern direkt an die Zuschauer*innen wendet: »Das war nicht nur so dahingesagt. Beide sangen sie im Kirchenchor, kannten sich also richtig gut aus mit Musik.« Semis Mutter will nun eine der beiden Schallplatten in das Gerät einlegen, doch Pankraz kommt ihr zuvor und legt die andere auf den Teller. »Vom Herzen möge es zu Herzen gehen«, liest er stolz vom Plattencover ab. Es ertönt der Anfang von Wagners Tristan und Isolde (1865). Die Familie versammelt sich andächtig um das neu angeschaffte Gerät und lauscht den Klängen. Hoffmann, der sich während der letzten Szenen im Off aufgehalten hat, betritt erneut die Bühne und verkündet, dass heute der 27. Februar 1954 sei, der Tag des Sturms, »der Tag, an dem der Seewirt mit einer Wagner-Arie den tollwütigen Sturm bezwungen haben soll«. Der vorige Chor betritt als karnevalesk verkleidete Menge den Raum, und es heißt, dass heute Feuerwehrball beim Seewirt sei. Seit sich neu Hinzugekommene unter die Einheimischen gemischt hätten, sei es zu neuen Bräuchen gekommen. Das Unwetter habe jetzt ein solches Ausmaß angenommen, dass sich niemand mehr nach draußen wage. Dem Seewirt sei das alles nicht geheuer. An einen solch gewaltigen Sturm könne er sich nicht erinnern. Unten am See habe es einen Baum entwurzelt, der nun die Straße versperre. Gewaltige Böen würden sich im Wipfel der großen Eberesche sammeln, die sich dadurch gefährlich über die Straße neige und auf das Haus herunterstürzen würde, wenn ihr das Wurzelwerk bräche: »Er fürchtet, dass wenn der Sturm nicht aufhört und so weiter haust, dass dann auch die andere Eberesche nicht mehr lange standhält und aufs Hausdach fällt.« Während die Menge ausgelassen Bier aus großen Gläsern trinkt und feiert, starrt der Seewirt aus dem Fenster. »Um Gottes Willen, was willst du machen?«,

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schreit ihn seine Frau an – Redfern befindet sich kurz wieder in einer Rollenfigur –, und ein anderer ruft: »Er weiß es nicht.« Dann, eine der Verkleideten küsst Pankraz gerade auf den Mund, geht plötzlich das Licht aus. Während in der Verfilmung des Romans an dieser Stelle kurz die Tür zu einem Raum im Dachgeschoss geöffnet wird, in dem zwar noch Bett und Möbel stehen, der ansonsten jedoch vollständig verwüstet und seiner schrägen Rückwand entkleidet wurde, ist in der Theateradaption Mahlers und Reckes im Dunkeln ein heftiger Sturm zu hören. Im Rahmen eines Dialogs zwischen Pankraz und Theres, der vollständig im Finsteren stattfindet, erfährt das Publikum, dass eine Eberesche aufs Hausdach gefallen sein und die Stromleitung gekappt haben muss. »Das ganze schwere Hausdach ist von dem verfluchten Sturm aus der Verankerung gerissen.« Pankraz befürchtet, dass wenn es nun auch noch zu regnen begänne, Wasser bis ins Parterre hinuntersickern könne. »Dagegen sind wir nicht versichert.« Nachdem langsam ein dämmriges Bühnenlicht hochgedimmt wurde, die Eheleute sich überworfen haben und sie ihn daran erinnert hat, dass er jetzt an die Kinder denken müsse, kommentiert Leo von vorne die Szene und schildert, wie sich Pankraz 1954 dann doch noch nach draußen gewagt und wie er dort mit Wagnerklängen dem Sturm getrotzt habe. Am Ende seiner Schilderung steigt er auf einen Stuhl und ahmt dort gestisch die tosenden Schneewinde über Seedorf nach: »Ewige Vernichtung, nimm mich auf«, ruft er pathetisch und possenhaft zugleich ins Publikum. Nach einer Pause findet der zweite Teil des Reenactments von Mittelreich wieder in der vorderen Bühnenhälfte statt, der die durch Verdrängung reingewaschene Version des Familienhauses zeigt, wobei die Lammelenwand zur im Hintergrund gespiegelten Ruine weiterhin geöffnet ist. Der Raum hat erneut etwas von einem mehrere Zeiten ineinander blendenden tableau vivant. Der Familientisch steht nun im vorderen Bühnenbereich links. An ihm sitzen Hausmann als Pankraz und Redfern als dessen Frau Theres. Adjei steht, nun in ein Kleid und eine Federboa gehüllt, als Fräulein von Zwittau daneben. Asamoah hält sich, noch immer wie während des Feuerwehrballs mit indigenem Kopfschmuck, neben dem Musikkombischrank am Fenster rechts auf und sieht hinaus. Leo und Hoffmann sitzen daneben auf Stühlen und schauen ins Publikum. Auch Hoffmann trägt nach wie vor das karnevaleske Kostüm der vorigen Szene, das ihn als Muskelmann präsentiert. Nachdem es draußen hell geworden ist und Licht durch das Fenster dringt, sagt er, dass die Tage schön seien und die Familie deshalb ein »Picknick« mit Zwittau machen wolle. »Sobald die Sonne wieder scheint«, erwidert Adjei mit weiblicher Stimme. »Ich bin jetzt 17 Jahre alt geworden«, meint Hoffmann als Semi in jungen Jahren und adressiert Leo auf dem Stuhl neben sich. Er habe gerade eine Klasse im Gymnasium wiederholt und fühle sich seitdem gefestigt. Der Druck, den er aus Angst davor gespürt habe, vom Klosterinternat verwiesen zu werden, wenn er das Schuljahr wieder nicht bestehe, sei jetzt weg. Auch seine Ängste seien verschwunden. Er habe keine Albträume mehr. »Das Gefühl, dass andauernd jemand hinter mir steht und mich anstarrt, ist verschwunden.« Nie hätte er denkend lernen können, sondern immer alles auswendig lernen müssen, »um nicht ganz zu versagen«. Leo beginnt, ebenfalls als Semi zu sprechen, und schaut dabei weiterhin in Richtung der Zuschauer*innen. »Ich habe so ein Gefühl, als könnte ich seit einiger Zeit über mich selbst verfügen. Oder soll ich sagen, über mich selbst bestimmen?« Erneut ergreift Hoffmann als Semi das Wort und weist darauf hin, dass er mit dem Turnen aufgehört habe. Dafür spiele er in der Schultheatergruppe. Im

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weiteren inneren Monolog von Semi, der sich im Zwiegespräch zwischen zwei Körpern manifestiert, während die anderen zu einem Bild erstarrt sind, geht es darum, dass der Sohn des Seewirts sich nicht wohl fühlt in seiner Familie und der Gesellschaft von Seedorf, dessen Bewohner*innen immer »die gleichen Sachen« machen würden. Adjei setzt sich als Fräulein von Zwittau in Bewegung, geht auf Leo zu, legt ihm eine Hand auf die Schulter und spricht: »Komm, ich zeige dir jetzt was.« Er geleitet ihn zum Bühnenrand und berichtet als Bote, wie Zwittau einmal einem Mädchen begegnet sei, das gerade auf seinem Schulweg war, und sich mit ihm auf eine Bank gesetzt habe. Der Text ist durch die geöffnete vierte Wand hindurch ans Publikum gerichtet. Die Unterhaltung habe sich um die Schule und die Freund*innen des Mädchens gedreht. Dann seien die beiden nach Seedorf zurückgekehrt. Im Hintergrund hat Asamoah seinen indigenen Kopfschmuck abgelegt, während Hausmann und Redfern weiterhin wie angewurzelt am Tisch sitzen und Hoffmann sich vom Stuhl erhebt und das Muskelmannkostüm abstreift. Ihr Nachhauseweg habe Zwittau und das Mädchen »durch einen dichten, teilweise nahezu undurchdringlichen Wald« geführt. Als dieser zur Hälfte durchquert worden sei, sei Zwittau plötzlich auf einer »uneinsehbaren Lichtung« stehen geblieben, habe das Mädchen bei der Hand genommen und »durchs dichte Unterholz« auf eine am Waldboden »auf moosigem Grund« ausgebreitete »wollene Decke« gedeutet. »Komm, ich zeige dir jetzt was«, habe sie gesagt. Die Dame habe das Kind gebeten, keine Furcht zu haben und sich ihrer Kleider entledigt. »Dann forderte sie das Kind, das erschreckt zugesehen hatte, auf, seinerseits das Gleiche zu tun.« Als es sich geweigert habe, sei es in einen »eisernen Griff« genommen und es seien ihm »sämtliche Kleider« vom Leib gezerrt worden. Es sei dann auf der Decke fixiert worden. Zwittau habe lange sein Geschlechtsteil betrachtet, ohne es zu berühren, während das Mädchen nicht zu atmen gewagt habe. Schließlich habe die alte Dame zwischen ihre Beine gedeutet und gesagt »Schau, so sieht das bei mir aus.« Flügelmusik setzt ein. Adjei fährt fort, als Bote und Zwittau zugleich zu erklären, dass die Dame dem Mädchen damals ihr intersexuelles Geschlecht gezeigt habe. Dies sei jedoch nicht geschehen, um es zu penetrieren – so wie es gegen Ende des Zweiten Weltkrieges russische Soldaten bei ihr versucht hatten –, sondern allein, um mit jemandem das Geheimnis ihrer ambivalenten Identität teilen zu können. Zwar habe das Kind ihren »Pickel« anfassen sollen, zu mehr sei es jedoch nicht gekommen. Das Mädchen sei erschrocken davongelaufen und die Dame habe ihr hinterhergerufen: »Ich danke dir sehr, liebes Kind, du hast mich befreit.« Aus der bisher im Hintergrund zu hörenden Flügelmusik heraus entwickeln sich nun die ersten Verse des V. Satzes von Ein deutsches Requiem (1861–68) über Traurigkeit, die in hoher Stimmlage von Adjei vorgetragen werden und Johannes 16, 22 der Bibel entnommen sind. »Ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen.«67

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Vgl. Brahms, Ein deutsches Requiem.

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Bald setzt auch Leo zum Gesang an und bringt das Motiv tröstender Mütter ins Spiel, welches den V. Satz des Brahmsrequiems fortsetzt und auf Jesaja 66, 13 rekurriert. »Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.«68 Die aus ihrer bildhaften Starre erwachte Redfern links am Tisch sagt darauf als Theres: »Das sind einfach ganz andere Menschen, diese Flüchtlinge.« Sie würden nicht in diese Gegend passen. »Juden und Sozis gibt es auch, also warum sollte es sowas nicht geben?«, erwidert Hausmann als Pankraz. Es wird klar, dass es sich hierbei um einen Dialog des Ehepaares nach dem Tod von Zwittau handelt. Hoffmann hat schweigend und zerknirscht als Semi am Tisch Platz genommen. Sein Muskelmannkostüm hält er gleich einer zusammengeknüllten Wärmedecke in den Armen und assoziiert dadurch ein bestimmtes Bild Geflüchteter. Nun wendet sich das Gespräch dem Hermaphroditen zu. Als binnendeutsch Geflüchtete aus Preußen habe er »fast vier Jahre lang« auf die Kinder aufgepasst. Jetzt sorgt sich Theres jedoch um deren Wohlbefinden. Immerhin sei das Fräulein »nicht normal«. »Warum hat er sich denn nicht operieren lassen, der Fräulein Zwittau, wenn er schon so etwas hat?«, fragt sie ihren Mann. »Was ist denn Ihre Meinung zu diesem Thema?«, will Pankraz vom weiterhin am Fenster rechts stehenden Asamoah wissen, der erneut in die Rolle des Herrn Hanusch schlüpft. Breitbeinig und mit hinter dem Rücken verschränkten Armen meint er, Zwittau sei eine feine Dame mit guten Manieren gewesen. Allerdings sei das, was das Mädchen im Wald habe anfassen müssen, »weder von einem Mann noch von einer Frau« gewesen: »Das war irgendwas dazwischen.« Daraufhin teilt er mit, dass er sich wieder an die Arbeit machen müsse. Leo, der nach wie vor auf einem Stuhl vorne rechts sitzt, wendet seinen Blick Hoffmann zu. Dieser spricht als Semi neben seinen Eltern am Tisch und erklärt, dass er sich zu Hause nicht wohlfühle. Besser ginge es ihm mit seinen Tanten, womit wohl auch Zwittau gemeint ist, die »eine Art Heimatgefühl« in ihm auslösten. Semi erhebt sich von seinem Stuhl, geht auf Leo zu und gesteht ihm, dass er froh sei, in das »Knabeninternat« des Klosters, wo er seine Schulbildung erhalte, zurückkehren zu können, obwohl ihm dort »die machtvolle Geborgenheit« des Gesprächs mit den Tanten fehle. Wieder wird ein innerer Monolog, diesmal der Semis, den ähnliche Probleme wie seinen Vater während junger Jahre plagen, zwischen zwei Körpern aufgeteilt, wenn Leo zu sprechen beginnt und zugibt, dass er im Kloster vollends vom Lernen vereinnahmt sei, das ihn »sanft macht«. Das »Spiel mit den Figuren« schütze ihn davor, zu »morden«. Plötzlich brüllt Leo, offensichtlich nun wieder in einer anderen Rolle, wahrscheinlich als Pankraz, Hoffmann an und befielt ihm, Wasser zu holen. Eine stakkatohafte Flügelmusik setzt ein, wenn Hoffmann sich als Semi in den gespiegelten hinteren Teil der Bühne begibt, um dort eine Tierschlachtung vorzubereiten. Am Tisch links sitzt Hausmann als Pankraz und rahmt so die folgende Szene. Er ist allein. »Wasser wird immer viel gebraucht beim Sauschlachten«, ruft Leo laut, während Hoffmann einen Eimer hereinholt, sich daneben positioniert und bis auf Unterhose und Hemd entkleidet.

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Abb. 84: Anna-Sophie Mahlers Mittelreich (Münchner Kammerspiele, 2015)

Abb. 85: Anta Helena Reckes Mittelreich (Münchner Kammerspiele, 2017)

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»Hitze ist das Grundelement bei der Transformation von Lebewesen zu Fleisch«, erklärt er. »Und ich packe das Werkzeug aus und breite es feierlich, säuberlich auf dem Schlachttisch aus, so wie ich es immer tue. Ein Messer neben das andere, Beil an Beil und Wetzstein zu Wetzstein«, schildert er. An den Anfang der Reihe jedoch würde er den Bolzenschussapparat legen. Die Flügelmusik wird treibender, übertönt von einer schrillen Sopranstimme. Leo geht langsamen Schrittes vom vorderen in den hinteren Bühnenteil. Hausmann dreht sich als Pankraz am Tisch herum und betrachtet die Szene. Jetzt reibt sich Hoffmann mit weißem Pulver ein, das sich im Eimer befindet, und gibt einen Botenbericht zu Protokoll, der davon handelt, wie »eine Sau«, deren Schlachtung angestanden habe, auf dem Betonboden ausgerutscht sei: »Mit leicht angewinkelten Vorderläufen kam sie plötzlich zum Liegen, während sie die hinteren weit gespreizt von sich streckte.« Hoffmann und Leo sprechen im Wechsel die Sentenz aus Bierbichlers Roman, die besagt, dass töten müsse, wer leben wolle. Als Semi meint Leo, er wolle endlich mal wieder ein Schwein eigenhändig erschlagen, anstatt den »Schussapparat« zu verwenden. Er hebt Hoffmann über seine Schultern und trägt ihn zur Bühnenrampe, wo er ihn abstellt. Nicht nur den Tod eines geschlachteten Tieres darstellend, sondern auch die einverleibende Ausverleibung einzelner Menschen durch das Familiensystem des Seewirts, das auf die in der vorliegenden Arbeit problematisierten und von der weißen Subjektform bedingten gesellschaftlichen Verhältnisse verweist, verlässt Hoffmann durch das Kammerorchester hindurch den Raum. Leo kehrt in den hinteren Bühnenteil zurück, wo er sich, ohne sich zu entkleiden, wie zum Gebet auf einer Kirchenbank niederkniet und ebenfalls mit weißem Pulver einreibt. Wie schon zu Beginn des Stücks die Beerdigung von Pankraz, handelt auch diese Szene von Menschenopfern. Die Tür hinten links öffnet sich. Redfern tritt herein. Als Theres fragt sie ihren Sohn Semi, was er da mache, worauf dieser antwortet, dass er sich selbst immer wieder auf dem Boden des Schlachthauses sehe. Über ihm stünde dann der Pater, dessen Sperma auf ihn herabregne. »Was bildest du dir ein? Das sind ganz böse Gedanken, die du da hast«, antwortet ihm seine Mutter nur: »Und jetzt betest du ein Vaterunser!« Nachdem Theres den hinteren Bühnenbereich verlassen hat, bleibt Semi dort allein zurück und weint. Vorne am Tisch sitzt nach wie vor Pankraz, zu dem sie sich nun gesellt. Vater, Mutter und Sohn befinden sich ab diesem Moment in zwei voneinander getrennten und dennoch ineinander gespiegelten Räumen. Pankraz kramt ein altes Foto hervor und erzählt, dass es von seinem alten Kriegskameraden Kranz stamme und eine Szene auf dem Oktoberfest in München zeige. Er habe damals etwas auf dessen Rückseite geschrieben, das er seine Frau jetzt vorzutragen bittet. Laut liest sie seine Notiz darüber, dass er alles richtig gemacht habe und mehr vom Leben nicht zu erwarten sei: »Was jetzt noch kommt an Glück ist Überfluss, den Gott mir schenkt.« Theres meint darauf: »Das ist ein schönes Bild. Das sind auch schöne Worte.« Pankraz weint ebenfalls und gesteht, dass er sich getäuscht habe: »Vom Glück keine Spur mehr.« Darauf erstarrt das Ehepaar erneut zum Bild. Im Hintergrund beginnt Leo als Semi einen Monolog. Er habe geträumt, wie an seinem Bett ein fröhlicher Pater stünde und auf ihn herablächele. Als der Pater ihn zum ersten Mal an der Hüfte gefasst und zu den Ringen emporgehoben habe, habe er nur die unendliche Weite des Turnsaals, die »Schwerelosigkeit der Luft« und die »Abwesenheit der Bodenhaftung« gespürt, nicht jedoch die Berührung durch den Geistlichen. »Ich weiß gar nicht, wovon du redest«, wen-

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det Theres sich ihm von der vorderen Bühnenhälfte aus zu. Sie könne ihm nicht folgen und verstehe ihn nicht. »Vielleicht bin ich auch nur zu müde. Ich gehe jetzt ins Bett«, fügt sie dem hinzu und will den vorderen Raum durch die Tür links verlassen. »Nein, du bleibst!«, herrscht Pankraz sie an und bittet sie, zu verweilen, da er ihr etwas mitteilen müsse. Sie gehorcht und setzt sich wieder an den Tisch zu ihm, drängt ihn dann aber, als er schweigt, endlich mit der Sprache herauszurücken, da sie erschöpft sei und am nächsten Tag früh aufstehen wolle. Pankraz meint, dass er in letzter Zeit viel nachgedacht habe. Er sei menschlich enttäuscht worden. Das habe ihn ins Grübeln gezwungen. Er sei zu dem Entschluss gekommen, dass sie nicht die Frau sei, die er sich eigentlich gewünscht habe. Während Theres, die wieder zur Tür zurückgekehrt ist, dort erstarrt, beginnt im Hintergrund erneut Semi zu sprechen und schiebt seinen Monolog über die sexuellen Übergriffe des Paters im Klosterinternat in das Gespräch der Eltern hinein. »Auch war ich anfangs froh, beinahe froh, um des Paters Nähe«, gibt er zu und erklärt, dass der Geistliche ihm die eigene Mutter ersetzt habe. Jede Nacht sei er mit sehnsuchtsvollen Gedanken an sie eingeschlafen. »Stundenlang weinte ich ins Kissen, bis der erste Traum mich holte.« Pankraz gesteht seiner Ehefrau Theres vorne am Tisch, dass er immer gedacht habe, sie sei die Frau seines Lebens, die ihn verstehe und seine Bedürfnisse befriedigen könne. Er habe sich jedoch furchtbar getäuscht. »An den Kindern, an deinen Kindern seh ich das!«, schreit er sie im Rahmen eines an familiäre Dramen im Format des Kammerspiels angelehnten Rollendialogs an und erhebt sich dann von seinem Stuhl, um die Szene zu verlassen und ins Publikum zu schauen. »Du solltest froh sein, dass die Kinder so selbstbewusst und selbstständig geworden sind«, erwidert sie im Hintergrund. Leo erhebt sich in der verfallenen Version des Hauses vom Eimer am Boden und wendet sich an Ort und Stelle verbleibend als Semi seinen Eltern zu. Die Nähe des Paters habe ihm die Mutter nicht ersetzen können. Sie habe jedoch »den heftig begehrten Trost durch Berührung« für ihn bereitgehalten, spricht er einen inneren Monolog aus Bierbichlers Roman und adressiert dabei sich selbst in der zweiten Person. Dann wechselt er in die erste Person: »Drum ertrug ich anfangs nicht ungern des Paters Nähe, wenn der mir die Geräte wies.« Allmählich habe er sich an den »moderartig muffeligen Schweißgeruch des Mönchsgewandes und den zwiebeligen Pfefferminzgeruch aus des Paters Mund« gewöhnt. Wie in Zeitlupe überschreitet er die Schwelle zwischen den beiden gespiegelten Bühnenhälften und nähert sich dem Tisch vorne links, während Pankraz, der noch immer die Zuschauer*innen fixiert, verkündet, seine Ehe und die »väterliche Verantwortung« gegenüber den Kindern aufkündigen zu wollen. Auf der Schwelle friert Semi ein. »Ihr habt mein Vertrauen nicht mehr verdient«, unterstreicht Pankraz den gefällten Beschluss. Erschrocken blickt Theres zu ihm auf. Er habe sich die Entscheidung nicht leicht gemacht und lange nachgedacht, bis er »dahin gekommen« sei. Er habe darüber reflektiert, warum er über so viel Besitz verfüge. Er sei jetzt fast 70, seit fast 30 Jahren mit Theres verheiratet und »hier der Herr im Haus, wie man so sagt«. Er selbst habe in so kurzer Zeit nie diesen Reichtum anhäufen können, also müsse etwas »nicht beachtet oder geachtet« worden sein. »Ich weiß, dass ich durch Erbschaft zu diesem Reichtum gekommen bin«, fügt er dem hinzu. »Ist es denn gerecht, wenn andere arm sind, weil sie nichts geerbt haben und ich reich bin, weil ich etwas geerbt habe?«, will er wissen. Es sei zwar nicht

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gerecht, aber »ein Recht«. Solche Fragen quälten ihn, seit er sehen müsse, dass die eigenen Kinder nicht mehr am Erbe interessiert seien. Er werde deshalb seinen Besitz der Kirche und dem Kloster zurückgeben, »von dem unsere Vorfahren ihn einst erhalten haben«, unterstreicht er seine Pläne, zögert kurz wie in sich zerrissen und geht dann durch die Tür vorne links ab. Semi erwacht aus seiner Starre auf der Schwelle und betritt die vordere Bühnenhälfte. Er klopft sich das weiße Pulver von Händen und Hose ab. Allerdings ist sein Gesicht noch immer teilweise damit bedeckt. Leos Schilderungen nehmen eine besonders brutale Note an, wenn er sich zu Redfern an den Tisch setzt und ihr als Semi erzählt, dass sein Gefühl der Befreiung in dem Moment vorbeigewesen sei, als der Pater des Klosterinternats ihm die Hose abgestreift und so seine Erektion sichtbar gemacht habe. »Der Pater nahm meine Erektion in die Hand, so lang, bis sie erloschen war«, erzählt er seiner Mutter, die zu weinen beginnt und ihr Gesicht von ihm abwendet. Als Theres ihm mitfühlend über die Wange streicheln will, schlägt er ihren Arm beiseite. Sie erhebt sich und will den Raum ebenfalls verlassen, bricht dann jedoch auf halbem Weg im Schock zusammen. Er rückt einen Stuhl herbei, hilft ihr vom Boden auf, setzt sie darauf und schiebt sie zum Tisch zurück an den Platz, an dem er zuvor selbst gesessen hat. Nachdem er sich den Ärmel seines Pullovers über die Hand gestreift hat, wischt er ihr damit in einer zugleich abwehrenden Geste die Tränen aus dem Gesicht. Sie zittert heftig. Dann droht er – »heute, heute Mutter, komm ich zurück« –, küsst sie gewaltsam auf den Mund, hebt sie samt des Stuhls nach oben und stellt sie bühnenmittig in Richtung des Publikums ab. Eine traurige Flügelmusik setzt ein und Asamoah betritt den Raum. Während Redfern, die nun die ans Altersbett gefesselte Theres kurz vor ihrem Tod darstellt, immer heftiger zu zittern beginnt und ihr Speichel aus dem Mund rinnt, richtet sich Asamoah als Hanusch an die Zuschauer*innen und erklärt, dass er immer gedacht habe, vor ihr sterben zu müssen. »Nun sieht es aber nicht mehr so aus«, erklärt er. »Sie ist gelähmt, ein Krüppel.« Wünschen tue er ihr das nicht, da sie ihn, seit er seine Arbeit beim Jäger aufgekündigt habe und für die Familie des Seewirts arbeite, immer gut behandelt habe. Semi hat am Tisch links Platz genommen. Hanusch wischt Theres den Speichel vom Mund. »Es sieht nicht gut aus für sie«, stellt er fest. Nachdem Semi gefragt hat, worauf er hinauswolle, schreit er ihn an, er wolle nur sagen, dass »ich so ein Pflegefall nicht werden möchte«. Semis Mutter sei in ihrer Familie gut aufgehoben, er jedoch unter fremden Leuten, »da zeigt man sich nicht gerne so intim«. Ans Publikum gerichtet meint Hanusch, dass es einen manchmal vor den eigenen Körperausscheidungen grause. Die Vorstellung, darin andere Leute involviert zu haben, die sich vor ihm ekelten, sei für ihn unerträglich: »Wenn du mal begonnen hast, an so etwas zu denken, kannst du nicht mehr arglos alt werden.« Weiterhin ist Musik vom Flügel zu hören, als Asamoah sich mit dem Rücken zum Publikum neben der zitternden Redfern positioniert. Redfern singt nun, versierter als die Schauspielerin in Mahlers Version des Stücks, im voll klingenden Sopran ab dem dritten Vers den VI. Satz des Brahmsrequiems, der seine Quelle in 1 Korinther 15 der Bibel hat. »Siehe, ich sage Euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden;

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und dasselbige plötzlich in einem Augenblick, zu der Zeit der letzten Posaune. Denn es wird die Posaune schallen und die Toten werden auferstehen unverweslich; und wir werden verwandelt werden.«69 Während ein eingespieltes Stimmenmeer die Verse aufgreift und Hanusch sich zu Theres hinabbeugt und sie tröstend berührt, betreten durch die Tür links Hausmann und der Chor die verfallene Bühnenhälfte, um sich erneut in zwei Reihen horizontal vor deren Rückwand aufzustellen. Während die Schauspieler*innen bei Mahler weiße Masken anhaben, tragen bei Recke alle schwarze Masken, die jedoch ebenso verzerrte Gesichter mit weit aufgerissenen Augen zeigen und an das Gemälde Der Schrei (1893) des norwegischen Malers Edvard Munch erinnern. Lippensynchron bewegen sie ihre Münder zum akustisch vernehmbaren Chor. »Weißt du eigentlich, dass Semi jetzt Freunde bei den Kommunisten hat? Hast du das gewusst? Die treiben ihre Unzucht jetzt auf meinem Grund«, ruft Pankraz in die Brahmsmusik hinein und unterbricht damit das Gesangssolo von Redfern. Er will wissen, ob Demokratie »jetzt etwa« heiße, dass sein »Grund« nun allen gehöre. Während die Melodie der Instrumentalstimmen, verstärkt von Paukenschlägen, in schmetternde Dimensionen hinein entgleitet, positioniert sich Hausmann wie ein Dirigent vor der aufgereihten Menge erschrockener Grimassen im Hintergrund und steigt mit Tenor-Stimme in den Gesang Redferns ein. Hanusch hat das vordere Fenster geöffnet und schaut nachdenklich nach draußen ins Licht. Während der Chor durch die hintere Tür links den Raum verlässt, nimmt Pankraz wieder am Tischende Platz und gefriert zum Bild. Semi verbleibt vorne und wendet dem Publikum seinen Rücken zu, als würde auch er als Zuschauer die Szene beobachten. Dann schließt er die Tür vorne links, setzt sich neben seinen Vater an den Tisch und wischt sich Reste des weißen Pulvers aus dem Gesicht. Am Tisch sitzend sagt Pankraz jetzt, dass ihm »diese Augen« irgendwie bekannt vorkämen und er sie »irgendwo« schon einmal gesehen hätte, »bloß nicht so hasserfüllt«. Sein Kriegskamerad Kranz und er seien im Verpflegungstroß der deutschen Wehrmacht mit einem Küchenwagen unterwegs in die Normandie gewesen. An einem »schon frühlingshaften Tag im April des Jahres 1944« in einer zerschossenen Ortschaft angekommen, seien sie von einer Gruppe SS-Männer angehalten und gebeten worden, den »containerähnlichen« Küchenwagen vollständig leerzuräumen. »Wir taten, wie uns befohlen.« Zwei Wehrmachtssoldaten hätten dann einen Schlauch am Auspuff des Fahrzeugs befestigt und dessen Innenraum abgedichtet. Nach etwa einer Stunde sei dann, von stampfenden SS-Stiefeln begleitet, eine barfüßige und kahl geschorene Schar Kinder, »die Gesichter klar«, zum Wagen geleitet worden. Ein solches »unverbrauchtes, unbrauchbares Wissen«, das sie in ihren Gesichtern gehabt hätten, habe er noch nie zuvor gesehen, habe er sich damals gedacht. Semi hat sich von seinem Stuhl erhoben, geht zum Musikkombischrank am vorderen Fenster und schiebt ihn zum hinteren Fenster, in die Ruine des Hauses, während Pankraz seine Erzählung fortsetzt. Er habe die Kinder, »bestimmt waren es nicht mehr als 30, mehr hätten in dem engen Küchenwagen ja gar keinen Platz 69

Vgl. Brahms, Ein deutsches Requiem.

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gehabt«, durch dessen doppelflügelige Hintertür in das Innere des Wagens geleitet. Hanusch schaut weiterhin regungslos aus dem Fenster. Semi bewegt die Stühle, bis auf den, auf dem sein Vater sitzt, ebenfalls von der vorderen Bühnenhälfte in die gespiegelte dahinter, wo er sie wie in einem Gasthof nach Feierabend übereinanderstapelt. »Ich war neben der dreistufigen Eisentreppe gestanden«, gesteht Pankraz jetzt. Semi schiebt den Tisch, auf dem eben noch die ineinandergefalteten Hände seines Vaters lagen, beiseite und stellt ihn hochkant neben die Stühle hinten. »Wir hatten aufpassen müssen, dass nicht noch ein Kind im letzten Moment die Flucht wagen würde. Der Offizier der SS hatte es so befohlen«, gibt Pankraz zu. Von der Schwelle zwischen den gespiegelten Räumen aus adressiert Semi darauf seinen Vater und will wissen, ob er sich noch an den Moment erinnern könne, als er einmal zurück ins Klosterinternat gebracht worden sei und dann gefleht habe: »Bitte, bitte, Vater, nimm mich wieder mit. Ich werde auch zu Hause fromm.« Pankraz lacht kurz und bejaht. Semi wirft ihm vor, nie habe er »über einen so unsinnigen Satz auch nur eine Sekunde länger nachgedacht« und weist darauf hin, dass in einem einzigen Blick Zuversicht und Verzweiflung der ganzen Menschheit ausgedrückt seien. So etwas könne für ihn jedoch allein in einem Kunstlied – bei Mahler oder Wagner – auftauchen, in Wirklichkeit könne er damit nichts anfangen. »Nun aber ist alles wieder da«, droht er ihm. »Und du begreifst endlich, dass Kunst Leben ist. Und Leben Geschichte. Und Geschichte Menschheitsgeschichte«, fügt er dem hinzu. Er hilft seinem eingefrorenen Vater vom Stuhl auf und stellt diesen zu den anderen Möbeln vor der Bühnenrückwand. »Was aber ist Glaube und Religion?«, fragt der allein zurückgelassene Hausmann. Leo beginnt denjenigen Part aus Bierbichlers Roman zu sprechen, der von der tiefen Sinnkrise des Seewirts kurz vor dessen Ableben handelt, bevor Hausmann in den inneren Monolog einsteigt und ihn fortsetzt. Darauf will er durch die Tür vorne links von der Bühne abtreten, wird jedoch von Leo zum vorderen Bühnenrand geleitet, wo er wie zuvor Hoffmann als Opfer des Seewirt-Systems abtritt. Sein derart dargestellter Tod ist nicht nur ein individueller Tod, sondern verweist in Reckes Reenactment zugleich, mit Feuerbach gesprochen, auf eine Subjektivität, die sich nicht als Beziehungsweise versteht und auf die gewaltsame Kappung sinnlicher Verhältnisse im Prozess der ebenso kolonialen wie bürgerlichen Vergesellschaftung des gesamten Planeten. Im Anschluss wird Leo im Rahmen eines Botenberichts zur Anfangsszene des Stücks zurückkehren und weitere Details der Beerdigung des Seewirts schildern, bevor es schließlich um die Bestattung von dessen Frau geht. Asamoah, mit dem zusammen er allein im Raum verbleibt, wendet sich endlich vom Fenster ab und ihm zu. Weiterhin in der Rolle von Viktor Hanusch weist er darauf hin, dass er als Angestellter der Familie immer respektvoll behandelt worden sei und ihn nie jemand geduzt habe. Da ihn niemand »Viktor« genannt habe, habe auch er immer Respekt vor den Leuten gehabt. »Das war nicht nur Höflichkeit. Da war ein gewisser Anstand da, der einem ein Gefühl gemacht hat, ein gutes.« Bei der Beerdigung von Semis Mutter Theres habe ihn Pankraz nach vorne in den Kreis der Familie geholt, »die haben das alle gesehen, die Leute«, deshalb sei er Pankraz zutiefst dankbar.

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Abb. 86: Anta Helena Reckes Mittelreich (Münchner Kammerspiele, 2017)

Abb. 87: Josef Bierbichlers Zwei Herren im Anzug, Film still, 2018 (eine Produktion von X-Filme Creative Pool)

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Die Geflüchteten am Ende des Zweiten Weltkrieges seien nicht überall gut angesehen gewesen. Ein bayrischer Minister habe einmal gesagt, »Engerling und Flüchtling sind Bayerns grösste Schädlinge.« Nachdem er darauf hingewiesen hat, dass ihm das Angst gemacht und ihn an »die Juden« erinnert habe, tritt auch er vorne durch das Kammerorchester hindurch von der Bühne ab und stirbt. Leo bleibt allein zurück. Nachdem er als Semi erklärt hat, dass ihm Hanuschs Geschichte »am Arsch vorbei« ginge und er vielmehr mit seiner Mutter beschäftigt sei – »ihr Leichnam liegt oben in meinem Hirn, den kann ich nicht allein lassen, drin im Grab« –, spricht er direkt zum Publikum. Er sei bei Hanuschs Tod auf den Taubenschlag hinaufgeklettert und habe ihm von dort aus beim Sterben zugesehen, weil er so am besten habe denken können. »Soweit ich mich erinnere, hat er nach seiner Rede aufgehört zu essen und war am fünften Tage tot. Der Suppenkasper. Wie ein Hund, der nichts mehr frisst, weil sein Herrchen tot ist.« Langsam dimmt das Bühnenlicht herunter. Die Erde sei keine Heimat. Im Taubenschlag jedoch lasse es sich gut warten. Er verharrt kurz, betritt dann wieder die hintere Bühnenhälfte, schließt das Kabel des Musikkombischranks der Seewirtsfamilie an die Steckdose an, nimmt mehrere sich darin befindliche Schallplatten aus ihren Hüllen, wirft sie achtlos beiseite und legt schließlich eine ein. Wenn erneut die Melodie des I. Satzes von Ein deutsches Requiem (1861–68) ertönt, schließt sich der Kreis zum Anfang des Stücks. Allerdings geschieht dies nur für einen kurzen Moment, denn sofort tritt Semi auf das Gerät ein, worauf der Ton aussetzt und sämtliche Lichter verlöschen. Das Stück sowohl Mahlers als auch Reckes ist an diesem Punkt zu Ende. Die Zuschauer*innen applaudieren. Was von Mahler und Recke nicht in ihre Inszenierungen aufgenommen wird, ist der Text des VII., abschließenden Satzes des Brahmsrequiems, der sich auf die Johannesoffenbarung 14, 13 bezieht und lautet: »Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben, von nun an. Ja, der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit; denn ihre Werke folgen ihnen nach.«70 In Reckes Version von Mittelreich manifestiert sich die weiße Subjektform nicht nur, wie in den Vorlagen, als aggressive Bezüglichkeit einzelner Menschen als Individuen ausschließlich auf sich selbst, sondern zusätzlich als eine Form von Subjektivität, die sich über Jahrhunderte kolonialer Geschichte hinweg die ganze Welt angeeignet und den Planeten in einen Globus verwandelt hat. Nachdem im Roman der Schneesturm das Dach des Hauses der Familie durch eine herabstürzende Eberesche zum Einsturz gebracht und bevor er eine Wagner-Arie angestimmt hat, fühlt sich Pankraz dort »übergroß in seinem Leid – und in dem Raum, der ihn umschlossen hält und der er selbst ist«71 . Indem Recke die tragikomische Handlung von Mittelreich (2011), das ein Abgesang auf europäische Bürgerlichkeit ist, wie sie sich auch, aber nicht nur, in der bayrischen Pro-

70 71

Vgl. ebd. Bierbichler, Mittelreich, S. 226.

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vinz am Starnberger See bei München manifestiert, von Schwarzen Schauspieler*innen verkörpern lässt, metonymisiert sie im Sinne Bhabhas die Selbstpräsenz der weißen Subjektform und markiert im Rahmen einer kulturellen Appropriation unter umgekehrten Vorzeichen die Geschichte des postkolonialen Anthropozäns als Ausbreitung eines bestimmten Genres des Menschen, das sich in seiner Partikularität für universal hält. Aus der Subjektivität als Plantage, die zu ökologischen wie politischen Krisen führt und die Recke einem verfremdenden ›Whitefacing‹ unterzieht, resultiert auch die aktuelle Gefahr einer planetarischen Klimakatastrophe. Reckes Mittelreich (2017) zeigt mehr als die anderen medialen Adaptionen und die Romanvorlage, inwiefern die Ausbeutung von Natur durch Menschen aufs Innigste mit der Ausbeutung von Menschen durch Menschen zusammenhängt. Im Roman Bierbichlers stellt der Seewirt irgendwann fest, »ein Besitz ist zwar ein Privileg, aber ein Privileg ist nur dann eines, wenn man es ausgequetscht wie einen Sklaven und hegt und zärtelt wie eine Braut. Sonst wird das Privileg nur zu einem Klotz am Bein.«72 Die bayrische Familiensaga, die Bierbichler schildert, dreht sich durchgehend um bürgerliche Besitzverhältnisse und die Replikation einer Subjektivität und einer Weise des Menschseins, die unter postkolonialen Gesichtspunkten betrachtet viel mit dem sogenannten Anthropozän zu tun haben. An zentraler Stelle des Romans, während über dem See, an den Seedorf grenzt, im Jahr 1954 ein heftiger Schneesturm tobt, geht es Pankraz durch den Kopf: »Im Sturm beginnt das Eis zu brechen. Wenn die ersten Platten sich von der zusammengewachsenen Fläche gelöst und über- und ineinandergeschoben haben werden und eine eisfreie Wasserfläche entstanden sein wird, wird der Orkan das Eis im See vor sich her treiben und am Ufer zu gewaltigen Eisbergen aufschieben. Kein Steg, keine Bootshütte, keine Uferbefestigung wird dem standhalten. Das weiß der Seewirt.«73 Was Pankraz auf einer kleineren Skala an seinen Sohn Semi vererben will, ist nicht nur sein Besitz an Grund und Boden nahe eines Sees, aus dem heraus eine unheimliche Eiszeit die Familie heimzusuchen droht, sondern vor allem weiße Subjektivität als Gewaltverhältnis, das innerhalb Europas im 20. Jahrhundert mit dem Ausbruch zweier Weltkriege und dem von Hannah Arendt treffend geschilderten Zusammenhang von Moderne, Kolonialismus, Antisemitismus und Massenmigration einhergeht.74 Bierbichlers Roman beschreibt diese Subjektivität und dieses Gewaltverhältnis in einer Sprache, die zugleich roh und feinfühlig ist. Reckes Reenactment wiederum erzeugt mit theatralen Mitteln eine mimetische Differenz, indem es Schwarze Schauspieler*innen ein Szenario durchspielen lässt, das zugleich an die Kolonisierung Schwarzer durch weiße Menschen und die weltweite Installation eines allzu europäischen Genres des Menschseins erinnert. Die Wiederholungsstruktur des Theaters ist in ihren performativen Aspekten insofern mit dem Problem der weißen Subjektform verbunden, als dass Aufführungen von 72 73 74

Ebd., S. 124. Ebd., S. 206. Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus. Imperialismus. Totale Herrschaft, München: Piper, 1991. Auf Arendts überaus problematische Analyse des burischen Kolonialismus in Südafrika kann hier nicht eingegangen werden.

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Texten eine Wiederholung implizieren, die zwar abweicht, jedoch auch mit bestimmten Vorlagen zusammenhängt. Theater positioniert Körper. Es schafft aber auch Räume, in denen Körper durch sinnliche Anschauung in einen Abstand zum Text treten. Indem es in diesem besten Sinne Theater ist, bringt Mittelreich, dessen Autorschaft zwischen Bierbichler, Mahler und Recke zerstreut ist, dasjenige ins Spiel, was Feuerbach das menschliche Gattungswesen nennt: den Bezug besonders positionierter Subjektivitäten aufeinander und ihren Abfall vom Allgemeinen. In Verfluchtes Fleisch (2001) schreibt Bierbichler: »Das Theaterspielen ist die einzige Wiedergabe des Denkens und Fühlens, in der das Material gleich bleibt und nicht wirklich abstrahiert werden kann. Der Mensch ist das Material und bleibt das Besondere. Es ist unmöglich, ihn auf das Allgemeine ausschließlich zu reduzieren. Wenn ein Mensch sich selbst zum Material macht, ist das Allgemeine ein Teil des Besonderen. Nie umgekehrt. Deshalb ist das militärische Ritual ja auch die feindliche Gegenbewegung zum theatralischen, denn das Militärische amputiert den Menschen vom Allgemeinen, indem es versucht, das Besondere zu eliminieren. Ich denke, dass Theater immer wieder entsteht als Verteidigung […] gegen die Übergriffe des Allgemeinen auf das Besondere. So ist das Entstehen des Theatralischen ein Reflex gegen die Gesellschaft, gegen die Vorherrschaft des Allgemeinen.«75 Während Wynter das subjektivitätstheoretische Problem, das der aktuellen Klimakrise, dem sechsten Artensterben und dem zunehmenden Unbewohnbarwerden weiter Teile 75

Josef Bierbichler, Verfluchtes Fleisch, Frankfurt a.M.: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2004, S. 164f. Dieser autobiografisch eingefärbte Roman handelt von der ›Totalität des ICH‹, ›übersteigertem Selbstbewusstsein‹ und dem Wunsch, ›sich selbst aufzuessen‹. Er enthält bereits eine Reihe von Motiven, die in Mittelreich (2011) wiederkehren werden. So beginnt die Geschichte von Kaspar, aus dessen Perspektive Bierbichler hier seinen Abgesang auf Kleinbürgerlichkeit formuliert, mit einem ›Unwetter über dem See‹ und der ›brüllenden Natur‹, die Kaspar ›aus dem Häuschen‹ bringt. Vgl. ebd., S. 5. Verfluchtes Fleisch handelt von der Phantasie eines zerstückelten und im Eis aufgelösten Körpers und davon, von Mutterfiguren abgeschnitten zu sein. Vgl. ebd., S. 95. Im Roman sind Väter in Kriegslazaretten verschollen, während ehemalige KZ-Häftlinge auftauchen, um einen Bauernhof zu plündern. Vgl. ebd., S. 98. Kaspar bezeichnet sich als »mittelreich«. Ebd., S. 145. Außerdem gibt es einen Schwarzen amerikanischen GI namens ›Ätschi‹, nach dem ein Abschnitt am See in rassistischer Weise »N*wiese« benannt wird. Ebd., S. 248. Kaspar denkt, dass »Rassismus gescheiterte Individualität« ist. Ebd., S. 259. Er möchte dem »Wiederholungszwang« des Theaters entkommen. Ebd., S. 256. Es entsteht der Eindruck, Bierbichler hätte Feuerbach gelesen, wenn er schreibt: »Der Mensch schafft sich einen Gott aus seinem Ebenbild, um sich von einem Gott nach dessen Ebenbild erschaffen lassen zu können.« Ebd., S. 35f. Im Gegensatz zu Feuerbach ist Bierbichler jedoch weniger optimistisch: »Aber das einzige, was uns voneinander unterscheidet, ist eine ungeheure Fremdheit aller anderen, die es uns ermöglicht, einander auszukommen. Eine rein subjektive Erfahrung und Fähigkeit, ein Instinkt, der verhindert, dass wir als Fleischknäuel durchs All driften, als eine Masse von sechs Milliarden Körpern, die in Dauerkopulation ineinander verknotet sind, wo Geburt und Tod sich ineinander schieben wie Eis und Geröll in der Entstehungszeit der Erde, wo das Fleisch der gesamten Menschheit Wiege Leben Grab zugleich wäre und auf einer Sternenbahn durchs Universum triebe.« Ebd., S. 115. Am Ende wird sich Kaspar selbst zerstückeln, mit einer Handkreissäge die ›Gehirnschale‹ vom Kopf entfernen und in einem Akt von ›Dendrophilie‹ mit der Natur vereinen, von der er sich bis dahin verstoßen glaubte. Vgl. S. 273ff. »Da übergebe ich mich endlich an ICH«, schießt es ihm vor seinem Tod durch den Kopf. Ebd., S. 269.

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unseres Planeten sowie den Massenmigrationen der Gegenwart und Zukunft zugrunde liegt, an den durch das Menschenbild weißer europäischer Männer exportierten »globally economically Westernized middle classes«76 festmacht, demonstriert Bierbichler in seinem ebenso idiosynkratischen Schreibstil, inwiefern diese Mittelklasse nicht wirklich mittelreich ist, sondern materiell durchaus reich, in Bezug auf ihre Subjektivität jedoch eher arm. Im Roman wünscht sich der Seewirt: »Aber wer ist schon so reich, dass er damit gemeint sein könnte. Ich nicht. Ich gehöre bestenfalls zu den Mittelreichen. Aber das Erbe, der Besitz, sollte so gut wie möglich als Ganzes durchs Nadelöhr gehen: in die Hände der nächsten Generation heißt das.«77 An der unheimlichen Schwelle zwischen Kultur und Natur unterhält die in Seedorf wohnende Familie des Seewirts weder von Liebe geprägte Beziehungen nach außen, noch gelingt es ihr, innerhalb der Kernfamilie, die sich immer offensichtlicher als Gefängnis offenbart, liebevolle Verhältnisse zwischen mehr als nur einem Menschen zu leben. Von Natur im Sinne einer Umwelt ist sie vollends abgekappt. Während zur chronologischen Mitte des Romans hin im Haus eine Eiszeit eingekehrt ist, bricht es aus dem Seewirt heraus: »Verfluchtes Erbe, schreit er, verfluchter Zwang, ich will der Knecht nicht sein von diesem alten Krempel, den ihr verfluchten Ahnen hier gebündelt habt, mehr als hunderte von Jahren lang. Ich hasse dieses Haus und diesen ganzen Heimatkram. Ich will heraus, heraus aus allem, was ich muss.«78 Vor diesem Hintergrund ist Sharifis These, in Reckes Mittelreich (2017) gehe es darum, »die Geschichte Deutschlands aus einer Schwarzen Perspektive«79 zu erzählen, um eine weitere Facette zu ergänzen. Auch Nikolaus Müller-Schöll soll hier zugestimmt werden, wenn er Reckes Reenactment in ähnlicher Weise wie Sharifi, aber mit Foucault, als 76 77

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Wynter und McKittrick, Unparalleled Catastrophe for Our Species?, S. 19. Bierbichler, Mittelreich, S. 229. »Als mich der Krieg während unsres Sommeraufenthalts am Starnbergersee in meinem 18. Lebensjahr überraschte, war ich ein Schüler der vorletzten Klasse des Münchner Realgymnasiums. Im Oktober 1914 meldete ich mich freiwillig zum Heer. Nach knapp drei Monaten war ich als Infanterist ausgebildet und kurz vor Weihnachten kam ich mit einem Ersatzbataillon an die französische Front, wo wir bei Peronne die Schützengräben bezogen. – Der Drang zur Emanzipation von der bürgerlichen Enge der Schule und des Zuhause, ein inneres Zerwürfnis mit mir selbst nach dem Bruch meiner ersten Freundschaft, der Reiz des ›gefährlichen Lebens‹, für das uns Nietzsche begeistert hatte, die Lust sich ins Abenteuer zu stürzen und sich zu erproben, und nicht zuletzt die Erleichterung des eigenen, durch Schopenhauer bewusst gewordenen Daseins in der Teilnahme an einem es umfassenden Allgemeinen – solche und ähnliche Motive bestimmten mich, den Krieg als eine Chance des Lebens und Sterbens willkommen zu heissen«, notiert Löwith in einem biografischen Bericht. Ders., Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, Stuttgart und Weimar: J.B. Metzler, 2007, S. 3. Dort bemerkt er über seine spätere Beschäftigung mit Feuerbachs Schriften zwischen den Kriegen: »Die personenhafte Mitwelt von Ich und Du, worin jeder – als Sohn seiner Eltern, als Mann seiner Frau, als Freund seiner Freunde, als Schüler seiner Lehrer und als Lehrer von Schülern – verhältnismäßig durch den anderen bestimmt ist, diese uns auch als ›In-dividuen‹ konstituierende Mitwelt, schien mir damals unsere maßgebliche Welt zu sein, weil sie uns unmittelbar und alltäglich angeht.« Ebd., S. 184. Bierbichler, Mittelreich, S. 225. Sharifi, Anta Helena Reckes »Mittelreich«.

Sechste Szene des Menschen

»kritischen Akt der Entunterwerfung«80 liest und die rassistische Situation in der Theaterausbildung und an Spielstätten in Deutschland fokussiert, die People of Color systematisch ausschließen. Nichtsdestotrotz erzählt Recke nach Ansicht des Autors dieser Schrift nicht nur die Geschichte Deutschlands aus Schwarzer Perspektive. Genauso wenig schreibt sie nur Schwarze Körper in weiße Institutionen ein. Vielmehr kritisiert sie mit Bierbichler und über ihn hinausgehend die Gewaltgeschichte der weißen Subjektform und damit der Entmenschlichung und Ausbeutung von Menschen und einer Natur, die sich bald zurückholen könnte, was vor allem weiße europäische Männer Jahrhunderte lang extrahiert und eingehegt haben. Reckes kulturelle Appropriation unter umgekehrten Vorzeichen der Textvorlage Bierbichlers stellt Bhabhas koloniale Mimikry vom Kopf auf die Füße. »Aus einem solchen kolonialen Aufeinandertreffen zwischen der weißen Präsenz und ihrem schwarzen Widerschein […] ergibt sich die Frage der Ambivalenz der Mimikry als Problematik der kolonialen Subjektbildung«81 , schreibt Bhabha. Bei Recke jedoch ist nicht klar, auf welcher Seite einer Trennlinie Präsenz und Widerschein verortet sind, obwohl sich hier Schwarze Schauspieler*innen weißer Subjektivität bis ins Detail anverwandeln. »Was ich immer suchte, war ein andrer Mensch. Ich habe ihn auch immer irgendwo gefunden. Er war immer anstrengend und immer einer zu viel«82 , meint Bierbichler in Verfluchtes Fleisch (2001). Während in der Verfilmung von Mittelreich von 2018 am Ende zwei Herren in Anzügen und mit Hüten auf dem Kopf langsam in den See hineinwaten und von ihm verschluckt werden, bleibt nach Reckes Schwarzem Reenactment der weißen Inszenierungsvorlage Mahlers das mulmige Gefühl, dass es bei der Seewirtsfamilie vor allem um eine Form von Subjektivität geht, die diese und andere Miseren zu verantworten hat. »Tatsächlich ist es doch so, dass in einer Nation, in der eine narzisstische Kultur vorherrschend ist und nur Ich, Ich und nochmals Ich alles ist, was zählt, Gier alltäglich ist«83 , schrieb bell hooks vor rund 20 Jahren in Die Bedeutung von Klasse (2000) über diese selbstbestimmte Subjektivität, deren Herkünfte hier mit Feuerbach in der Provinz von Europa lokalisiert wurden und auf die Recke das Rampenlicht richtet, indem sie Mahlers Stück neu besetzt.  

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Nikolaus Müller-Schöll, Polizeiliche und politische Dramaturgie, in: Jan Deck und Sandra Umathum (Hg.), »Postdramaturgien«, Berlin: Neofelis, 2019, S. 229. Vgl. hierzu auch Anta Helena Recke, Oh baby, it’s a white world, Theater heute, Oktober 2017. Bhabha, Von Mimikry und Menschen, S. 133. Bierbichler, Verfluchtes Fleisch, S. 216. bell hooks, Die Bedeutung von Klasse, Münster: Unrast, 2020, S. 75. Zur vertieften Kritik an dieser Mentalität ist nach Fertigstellung der vorliegenden Arbeit eine brillante Studie erschienen: vgl. Henrike Kohpeiß, Bürgerliche Kälte, Affekt und koloniale Subjektivität, Frankfurt a.M. und New York: Campus, 2023.

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»Zugegeben, wenn du nicht in der Schußlinie liebst und lebst, vergißt du manchmal leichter, daß der Krieg gegen die Entmenschlichung immer weitergeht.«

– Audre Lorde (1991)

Ausblick: Die Sinnlichkeit des Menschen

»Die zeitlich-räumliche Gegenwart der Handlung wird nicht bloß auf andere Gegenwarten relativiert, vielmehr an sich relativ«1 , bemerkt Szondi zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bezüglich der Formkrise des Theaters seiner Zeit über Arthur Millers Tod eines Handlungsreisenden (1949). Die Einreichung der vorliegenden Habilitationsschrift an der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum im März 2022 fiel mit einer Situation zusammen, die auf andere Weise in eine solche planetarische Gegenwart verstrickt ist und die sogenannte Gegenwartskunst in noch dringlicherer Weise dazu auffordert, die Handlung von Individuen durch die Anschauung von Verhältnissen zu relativieren. Während Szondi im Nachkriegsdeutschland die Vermischung dramatischer mit epischen Formen und die zunehmende Verwandlung von Handlungen in Situationen seit dem Stilwandel des modernen Theaters des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts beschreibt, macht die aktuelle Lage die Problematik des Menschen als Beziehungsweise in einer Intensität explizit, die von den meisten so wohl nicht vorhergesehen werden konnte. Covid-19 hat auf großen ebenso wie auf kleinen Skalen einen globalen Zusammenhang offengelegt, dessen Errichtung mit der Entmenschlichung von Menschen und der Ausbeutung von Natur einhergegangen ist. Das Virus scheint durch die Übertragung ihm vorangegangener Erreger von Fledermäusen auf Gürteltiere ganz im Sinne Haraways ›sympoietisch‹ entstanden zu sein, indem es auf einem Markt der chinesischen Großstadt Wuhan mutierte und dann an Menschen weitergegeben wurde.2 Danach breitete es sich rasch aus, bis die weltweite Zirkulation von Menschen und Waren kurzzeitig gedrosselt werden und die Maschinenarmada internationaler Fluggesellschaften temporär am Boden bleiben musste. Eine Situation kann wohl nur schwer deutlicher machen, dass Natur zwar nicht von uns abhängt, aber gesellschaftliche Verhältnisse in Umwelten eingelassen sind, die ihre Voraussetzung bilden. Wahrscheinlich wird die seit Jahrhunderten von weißen Männern exportierte Logik der Plantage durch

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Szondi, Theorie des modernen Dramas, S. 158. Vgl. hierzu exemplarisch Evidence for SARS-CoV-2 related coronaviruses circulating in bats and pangolins in Southeast Asia, 9.2.2021, https://www.nature.com/articles/s41467-021-21240-1, Zugriff am 26.5.2023.

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

ihre weltweite Expansion das Leben von Wildtieren zukünftig noch tiefer in menschliche Gesellschaften verstricken. Aufgrund der globalen Infrastruktur, die im Verlauf der kolonialen Moderne den gesamten Planeten bedeckt und zu dem von Wallerstein in seinen historischen Stationen treffend beschriebenen Weltsystem3 geführt hat, konnte sich zu Beginn des Jahres 2020 innerhalb weniger Wochen eine fast acht Milliarden Menschen betreffende Pandemie etablieren. Mit der Klimakrise hatte Covid-19 zumindest für rund zwei Jahre gemeinsam, dem Gesetz exponentiellen Wachstums und steil ansteigender Kurven zu folgen und uns dabei auf völlig unterschiedliche Weise zu tangieren.4 Es wäre jedoch zu einfach, davon auszugehen, die jeweils spezifische Gefährdung von Menschenleben sei lokal eingrenzbar, etwa auf einen globalen Süden im Gegensatz zu einem globalen Norden oder ehemalige oder noch immer so genannte ›Entwicklungsländer‹ im Gegensatz zu den ehemals so genannten Industrienationen. Diese Beobachtung ist zwar tendenziell richtig, schiebt aber neu aufflammende Konfrontationen zwischen den ehemaligen Blockstaaten und die innereuropäische Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts in die Peripherie. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine verweist auf die Gewaltsamkeit eines historisch vonseiten Europas dominierten Lebensnetzes, das wir uns nun unter anderem mit Covid-19 teilen, auch zwischen den Großmächten des Weltsystems und innerhalb sich als wohlhabend definierender Nationen. Vielleicht hielten deshalb bereits im Frühjahr 2020 manche weiße Frauen auf Demonstrationen in Kalifornien Schilder hoch, auf denen sie Masken zum Schutz anderer mit einem Maulkorb verglichen, der nur für ›Sklav*innen‹ und ›Hunde‹ geeignet sei.5 Konkreter noch als die sich auf größeren Skalen ankündigende Klimakatastrophe legte Covid-19 kolonialgeschichtliche Wunden, die aktuelle ökologische und politische Krise als Krise menschlicher Beziehungsweisen und die Figur des ›freien‹, extraktiven Individuums als ins Stocken geratenen Motor der relativen Gegenwart des postkolonialen Anthropozäns offen. Wer heute noch davon ausgeht, ohne Rücksicht auf andere nur für sich selbst atmen zu können, verkennt Stoffwechselprozesse und versteht das Virus nicht als Rückwirkung derjenigen Wirkmächte, die in den letzten Jahrhunderten aus ihren lokalen Kontexten oder – im Fall der Wildtiere – Habitaten gerissen und in die Logik der globalen Plantage eingehegt wurden, auf die Atmungsfähigkeit des Menschen. Überall jedoch waren seit 2020 People of Color wegen oftmals prekärer Beschäftigungsverhältnisse in ›systemrelevanten‹ Berufen, Arbeitslosigkeit, schlechter Ernährung oder Unterernährung eher der Gefahr ausgesetzt, an Covid-19 zu erkranken, als der weiße Autor dieses Textes, der bis 2022 viele Monate größtenteils im ›Home Office‹ und als Teilnehmer von Videoschaltungen am Bildschirm verbrachte, während er dazwischen mit FFP2-Maske

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Vgl. Wallerstein, Das moderne Weltsystem I-IV. Bezüglich der in dieser Hinsicht wichtigen Korrelationen von Race und Class vgl. Françoise Vergès, Racial Capitalocene, in: Gaye Theresa Johnson und Alex Lubin, »Futures of Black Radicalism«, London und New York: Verso, 2017. Vgl. hierzu Kym Kemp, At the Courthouse Friday, A Group Protested Against Stay-at-Home Orders, Redheaded Blackbelt, 16.5.2020, https://kymkemp.com/2020/05/16/at-the-courthouse-friday-agroup-protested-against-stay-at-home-orders/, Zugriff am 26.5.2023. Bezüglich der Resonanzen dieser individualistischen Geste mit kolonialer Gewalt vgl. Kilomba, No Mask.

Ausblick: Die Sinnlichkeit des Menschen

vorsichtig Kulturinstitutionen und Supermärke betrat, um sich mit Kunst und Vitaminen einzudecken. Insofern gibt es kein ›Wir‹, obwohl ›wir‹ im Verlauf dieses Textes und insbesondere in den Szenen des Menschen hin und wieder adressiert wurden. Wäre die vorliegende Arbeit vor Covid-19 verfasst worden, hätte sie wahrscheinlich eine andere Form angenommen. Nichtsdestotrotz hätten hier auch dann Stimmen aus unterschiedlichen Zeiten und von verschiedenen Orten aus gesprochen, indem sie ein in der dritten Person auftretender Autor versammelt, ohne sie repräsentieren zu können. Deshalb musste diese Schrift aus einer spezifisch situierten Perspektive verfasst werden. Obwohl ihr Autor versucht, sich einem nicht fixierbaren ›Wir‹ und anderen Perspektiven anzunähern, kann er – hieran erinnert das tagespolitische Geschehen – die seine nicht einfach abstreifen, vor allem nicht in der Form des vorliegenden Buches, dem eine weiße Erfahrungsweise eingeschrieben ist. Weitere Ereignisse, die mit diesem Buch verstrickt sind, sind die Ermordung des Schwarzen US-Amerikaners George Floyd am 25. Mai 2020 in Minneapolis und dessen gesellschaftspolitische Folgen in den Wochen und Monaten danach. Während die erste Pandemie des 21. Jahrhunderts um sich griff und uns Latour zufolge kommende Katastrophen nur erahnen ließ6 , starb ein weiteres von vielen Malen ein Schwarzer US-Bürger, diesmal, nachdem sich ein weißer Polizist aus rassistischen Motiven fast acht Minuten lang auf seinen Hals gekniet hatte. »I can’t breathe!«, lauteten Floyds letzte Worte. Kurz nach Beginn der Pandemie resonierte der Aufschrei Floyds auf unheimliche Weise mit der Einhegung sinnlicher Verhältnisse im Verlauf der europäischen Moderne ebenso wie mit den Tragödien an den Hightech-Beatmungsgeräten (sofern diese verfügbar waren) der Intensivstationen in den Krankenhäusern überall auf der Welt, zu denen Mbembe bereits vor dem kaltblütigen Mord in Minneapolis einen treffenden Debattenbeitrag verfasst hatte.7 Wenn wir die letzten Worte Floyds durch das Prisma von Feuerbachs Emphase zweiter gegenüber ersten Personen und entlang der Überlegungen Löwiths zu verselbstständigten gesellschaftlichen Verhältnissen lesen, kann uns die gegenwärtige Situation viel über den Zusammenhang zwischen der Erdgeschichte dieses Planeten und unserer in eine Plantage verwandelten Subjektivität lehren. Floyds letzte Worte klingen verzweifelter als der in der Nachkriegszeit des letzten Jahrhunderts von Fanon formulierte Wunsch: »Dabei wollte ich ganz einfach ein Mensch unter anderen Menschen sein. […] Ich wollte Mensch sein, nur Mensch.«8 Während sich in der aktuellen Klimakrise, mit Chakrabarty gesprochen, auf zoozentrischer Ebene Kräfteverhältnisse und planetarische Konstellationen verschieben, eskalieren in einer kürzlich noch unvorstellbaren Weise auf homozentrischen Skalen schon 6

7 8

Vgl. Bruno Latour, This is a global catastrophe that has come from within, https://www.theguardi an.com/world/2020/jun/06/bruno-latour-coronavirus-gaia-hypothesis-climate-crisis, Zugriff am 26.5.2023. Vgl. Achille Mbembe, Das allgemeine Recht aufs Atmen, 1.6.2020, https://rotary.de/gesellschaft/das -allgemeine-recht-aufs-atmen-a-16010.html, Zugriff am 26.5.2023. Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, S. 96. Dem fügt Mbembe hinzu: »Dieses Postulat einer grundsätzlichen Gleichartigkeit, einer ursprünglichen, menschlichen Staatsbürgerschaft, ist in Fanons Augen der Schlüssel zum Projekt der Welterschließung und zum Projekt menschlicher Autonomie, das die Entkolonisierung darstellt.« Ders., Ausgang aus der langen Nacht, S. 88.

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länger schwelende nationalstaatliche Konflikte, nicht nur jenseits der östlichen Außengrenzen der Europäischen Union. Vor allem Covid-19 aber hat erreicht, was Crutzens Visualisierungen des exponentiellen Anstiegs von CO2 in der Erdatmosphäre bereits Jahrzehnte vor der Publikation seines folgenreichen Artikels in Nature im Jahr 2002 nicht vermocht hatten: das epochale Gefühl einer uns gemeinsamen Situation zu provozieren, an der wir jedoch sehr ungleich teilhaben.9 Während weltweit Statuen mit Roß und Reiter gestürzt wurden, traf das Virus diejenigen unter den Infizierten am härtesten, zu deren Ehren nie Denkmäler errichtet worden waren. Wenn der Kolonisierung des gesamten Planeten durch weiße europäische Männer und der Klimakrise, die, so lässt sich nach den Um- und Abwegen der vorigen Kapitel mit einem ins postkoloniale Anthropozän versetzten Feuerbach konstatieren, von Anfang an eine Krise menschlicher Subjektivität – beziehungsweise genauer die europäische Ich-Instanz als Krise – war, die Anderung durch Entmenschlichung von Mitmenschen vorausgegangen ist, dann manifestierte Covid-19, was seit den Aufbrüchen europäischer Schiffsflotten im 15. Jahrhundert latent war. Die Auswirkungen von Selbstisolation auf die Produktion von Subjektivität können die Privilegierten aller Länder, die sich zwischen 2020 und 2022 als talking heads auf Bildschirmen versammelten, vielleicht besonders gut nachvollziehen, wenn sie die folgenden Zeilen in Lowenhaupt Tsings Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus (2015) lesen: »Die Dinge werden zu Gegenständen, die für sich alleine stehen, Gebrauchs- oder Tauschobjekte; sie weisen keine Beziehungen mehr zu den persönlichen Netzwerken auf, in denen sie hergestellt werden und zur Anwendung kommen.«10 Warum also heute wieder Feuerbach? Die vorliegende Arbeit hat den Versuch unternommen, Feuerbachs um den deutschen Vormärz herum situiertes Schreiben und seine nur wenige Jahrzehnte vor der Kongokonferenz der europäischen Kolonialmächte in Berlin formulierte Kritik am Christentum, am Leitsatz ego cogito, ergo sum von Descartes und an Hegels Weltgeist mit einer Gegenwart in Bezug zu setzen, in der sich die Krise der Nationalstaaten und des bürgerlichen Individuums zwischenzeitlich rapide verschärft hat. Während Feuerbach Mitte des 19. Jahrhunderts in der Provinz von Europa für eine fremdbezügliche Auffassung des Menschen als sich sinnlich äußerlichem Teilwesen plädiert, von dem er fordert, sich ›föderal‹ auf anderes und andere hin zu dezentrieren, anstatt es sich in einem selbstbezüglichen Innenraum gemütlich einzurichten, vertiefen sich gerade weiter die Gräben, die sich im Verlauf der kolonialen Moderne aufgetan haben. Während Feuerbach Hegels Universalismus des Geistes einen Pluriversalismus der Sinnlichkeit und dessen Subjekt die Verstrickung mehrerer Subjektivitäten ineinander entgegenhält, sind heute konkrete Begegnungen zwischen mehr als nur einem Menschen nötiger denn je. Danach verlangt eine Situation, in der wir nicht mehr umhinkönnen,

9 10

Zu diesem Verweis auf Karl Jaspers vgl. Chakrabarty, The Human Condition in the Anthropocene. Lowenhaupt Tsing, Der Pilz am Ende der Welt, S. 172.

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uns in einer gleichzeitigen und wechselwirksamen Praxis sowohl mit nicht-menschlichen als auch menschlichen Wesen befindlich zu verstehen.11 Nicht nur Dussel, Quijano und Mignolo wollen Europa dezentrieren. Wie Sarr und Savoy, wenn sie in ihrem Restitutionsbericht für Frankreich von einer ›relationalen Ethik‹ sprechen, fordert auch Mark Terkessidis in Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute (2019) »Multiperspektivität zu einer universalen Perspektive«12 zu machen. Von Feuerbach können wir dabei lernen, dass die ökologische und politische Misere, die das postkolonialen Anthropozän darstellt, wenn wir darunter die Epoche nicht vieler Menschen, sondern des einen, einzigen und einsamen Menschen verstehen, auf eine selbstbestimmte Auffassung von Subjektivität zurückführbar ist, die hier historisch kontextualisiert und weiß markiert wurde.13 Die sechs in diesem Zusammenhang konstellierten Szenen des Menschen hingegen verweisen in ethischer und ästhetischer Hinsicht auf einen Pluriversalismus der Sinnlichkeit, demzufolge sich unsere Situation auf keine ›globale‹ Draufsicht reduzieren lässt, sondern aus ebenso vielen Perspektiven wie Menschen besteht, die verschieden positioniert sind und andere Erfahrungen machen. Die in dieser Arbeit präsentierten Szenen des Menschen tragen auf jeweils eigene Weise zur dringenden Produktion von Multiperspektivität bei, indem sie Handlung durch Anschauung relativieren. Sie skalieren Erdgeschichte auf die Ebene einer Subjektivität herunter, die nur von Menschen auf besondere Weise geteilt werden kann, obwohl auch Tiere, Pflanzen und die anorganische Materie in sie verstrickt sind. Mit Feuerbach und Löwith lässt sich diesbezüglich von einer Anthropologie der zweiten Person sprechen. Mit Wynter ließe sich sagen, die Autor*innen der hier ausführlich nacherzählten Werke arbeiten auf jeweils spezifische Weise an einem ökumenischen Menschen, der nicht auf einem bestimmten Subjekt, sondern auf den Subjektivierungsweisen mehrerer Menschen beruht. Sie produzieren so eine Subjektivität, die auf den Monohumanismus folgen könnte – nicht mehr, aber auch nicht weniger –, wenn sich Menschen im Plural dezentrieren würden. Die karibische Literaturwissenschaftlerin betont, dass sich die Ökumene aus vielen Genres des Menschen zusammensetzt und über ›Man(2)‹ hinausgeht.

11

12 13

Ana Vujanović und Bojana Cvejić machen in ihrem jüngst erschienenen neuen Buch bezüglich ähnlicher Fragestellungen u.a. mit Balibar ›Transindividualität‹ stark, wenn sie über andere Subjektivierungsweisen nachdenken: vgl. dies., Toward a Transindividual Self. A Study in Social Dramaturgy, Oslo: National Academy of the Arts, Brüssel: Sarma und Zagreb: Multimedijalni institute, 2022. Mark Terkessidis, Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute, Hamburg: Hoffmann und Campe, 2019, S. 201. »Die Kolonisierung der Neuen Welt wird damit zu dem geschichtlichen Ereignis, das die moderne Aufteilung in zwei ontologisch getrennte Zonen in Gang setzt, indem die Bewältigung des mit dem leeren Raum entstandenen Problems des Naturzustandes in die Instituierung einer ausschließlichen Menschenwelt führt«, schreibt Scholz vor Covid-19 über Latours Bezüge zu Carl Schmitt. Scholz, Die Menge der Menschen, S. 126. Bezüglich Alternativen zu dieser ›Aufteilung in zwei ontologisch getrennte Zonen‹ vgl. exemplarisch Donna Haraway, Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, in: Feminist Studies, Vol. 14, No. 3 (Autumn, 1988) und auf dem Feld einer postkolonial informierten Medienwissenschaft Ulrike Bergermann und Nanna Heidenreich (Hg.), »total. Universalismus und Partikularismus in post_kolonialer Medientheorie«, Bielefeld: transcript, 2015.

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»And this new kind of community would be one, therefore, that secures the ›ends‹ no longer of biocentric (neo)Liberalmonohumanist ethno-class Man(2), nor indeed that of the religio-secular counter-ends of the contemporary westernized imperialist and/or fundamentalist forms of the three Abrahamic monotheisms, but instead superseding them all, inter alia, by that of the We-the-ecumenically-Human.«14 In dieser Hinsicht vergleichbar mit Wynters Ökumene und Fanons Ausführungen zur Soziogenese setzt Feuerbachs ›Föderation‹ von Teilwesen Begegnungen voraus, die hinsichtlich der hier geschilderten Szenen des Menschen in den letzten rund zehn Jahren in Theatern, Kinos und Museen stattgefunden haben. Das Theater und andere Künste als Räume der sinnlichen Anschauung, Begegnung und Subjektivierung von Menschen und Orte, an denen ich mich dir gegenüber öffne, befanden sich zwischen 2020 und 2022 allerdings ebenfalls in einer prekären Lage. Wäre es 2020 nicht zur raschen Ausbreitung einer Pandemie gekommen, hätten sich allein in Berlin, wo diese Arbeit neben Bochum und dem Rheinland zwischen 2018 und 2022 entstanden ist, mehrere Veranstaltungsformate mit der Verschränkung anthropozäner und postkolonialer Fragestellungen befasst. Um nur drei von vielen Beispielen zu nennen: Die Reihe Burning Futures, die von Maximilian Haas und Margarita Tsomou am HAU kuratiert wurde, fand, während diese Zeilen verfasst wurden, nicht wie es seit der ersten Ausgabe im November 2019 angedacht worden war im großen Saal des HAU1 statt, sondern wurde als Online-Podcast durchgeführt.15 Das von Sigrid Gareis initiierte und vom Hauptstadtkulturfonds geförderte Projekt Twists: Dance and Decoloniality wurde zwischen Netzpräsenz und den Zusammenkünften kleinerer Gruppen in den Uferstudios aufgespannt, seit es komplizierter geworden war, sich außerhalb des Bildschirms zu versammeln.16 Die dreiteilige Serie Colonastics (2020) der afrodeutschen Choreografin Joana Tischkau, die im Rahmen des vom Goethe Institut veranstalteten Latitude-Festivals entstand, mündete pandemiebedingt in bisher drei Videoclips, die auf dem Vimeo-Kanal der Künstlerin abrufbar sind.17 Die Zukunft der Kulturinstitutionen als Orte der Begegnung ist gerade ungewisser als das erneute Erstarken nationalstaatlicher Grenzen und zwischenstaatlicher Konflikte. In ihrem Beitrag zu dem von Ulrike Bergermann und Nanna Heidenreich herausgegebenen Sammelband total. Universalismus und Partikularismus in post_kolonialer Medientheorie (2015) schreibt die in Johannesburg aufgewachsene weiße Bildende Künstlerin Candice Breitz: »Grenzen sind mehr als nur geographische Markierungen: Sie sind Punkte, an denen einander feindlich gesinnte Gruppen aufeinander treffen, um die Weltsichten des jeweils Anderen anzugreifen, um einander zu bekämpfen und um damit etwas zu verteidigen, von dem sie glauben, es unterscheide sie vom Anderen und mache sie besser als den Anderen: eine bestimmte Religion, Sprache oder Ethnizität, politische Anschauungen oder einen territorialen Anspruch. In dieser Hinsicht ist die physische Grenze – 14 15 16 17

Wynter, The Ceremony Found, S. 193f. Vgl. Burning Futures, https://www.hebbel-am-ufer.de/burning-futures/, Zugriff am 26.5.2023. Vgl. Twists: Dance and Decoloniality, https://www.tanzfabrik-berlin.de/en/twists-dance-and-deco loniality, Zugriff am 20.1.2022. Vgl. Colonastics von Joana Tischkau, https://vimeo.com/user15206775, Zugriff am 26.5.2023.

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egal, ob ein Fluss, eine Mauer oder ein Zaun – im Wesentlichen Ausdruck eines Unterschieds.«18 Im Gegensatz zu gegenwärtigen ökologischen und politischen Konjunkturen, die eher auf eine Vervielfältigung solcher Fronten auf globalen wie lokalen Skalen und auf eine weiter fortschreitende Errichtung von Mauern hindeuten, würde es bei der Dekolonisation der weißen Subjektform, zu der Feuerbachs Öffnung der Ich-Instanz auf Figuren des Du hin einen wichtigen Beitrag zu leisten vermag, darum gehen, atmen zu lernen, sich also als Lebewesen zu verstehen, das nicht unabhängig und allein für sich sein kann. »Auch wenn seine Hinterlassenschaften nicht immer so simpel sind, gründete der Kolonialismus niemals auf Geben, sondern immer auf der Eroberung von Land und Rohstoffen, auf der gewaltsamen Ausbeutung von Arbeitskraft, dem Aufzwingen fremder Gesetze, der Unterwerfung von Völkern und der Vernichtung und Marginalisierung sämtlicher kulturellen Traditionen, die der kolonialen Herrschaft abträglich sein könnten. Und so funktioniert er immer noch«19 , schreibt Hall in seiner posthum erschienenen Autobiografie Vertrauter Fremder. Ein Leben zwischen zwei Inseln (2017). Unter solchen historischen Vorzeichen sind Theater, Kinos und Museen, wenn wir uns über verschiedene Grenzen hinweg in ihnen versammeln, die richtigen Orte, um uns anderen Subjektivitäten gegenüber zu öffnen und verselbstständigte gesellschaftliche Verhältnisse zwischen Personen mit etwas zu konfrontieren, das nicht in ihnen aufgeht – der Sinnlichkeit des Menschen. Homo homini Deus est: Multiperspektivität, das hat Feuerbach im 19. Jahrhundert richtig erkannt und Dussel, im Anschluss an ihn, mit Blick auf die Spätfolgen des Jahres 1492 im 20. Jahrhundert hervorgehoben, ist der einzige Ausweg aus der weiterhin dominierenden Subjektivität. Sonst könnte, wenn die Vergiftung unserer Atmosphäre weiter voranschreitet, aus der Klimakrise bald eine Klimakatastrophe werden. Die Infektionskrankheit Covid-19 wäre dann nur ein Vorschein dessen gewesen, was auf ein Ich ohne Du wartet, wenn es keinen bewohnbaren Planeten mehr gibt. Zumindest für Menschen.

18 19

Candice Breitz, Rainbow Series, in: Ulrike Bergermann und Nanna Heidenreich (Hg.), »total. Universalismus und Partikularismus in post_kolonialer Medientheorie«, Bielefeld: transcript, 2015, S. 241. Stuart Hall, Vertrauter Fremder. Ein Leben zwischen zwei Inseln, Hamburg: Argument, 2020, S. 36.

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Cover des Magazins Nature, 519, no. 7542, 12. März 2015 (Titelbild von Alberto Seveso) Abb. 2, 4–6, 8, 10–11, 13–18: Sun & Sea auf der Biennale Arte, Venedig, 2019 (Foto von Andrej Vasilenko, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerinnen) Abb. 3: Sun & Sea im Teatro Argentina, Rom, 2021 (Foto von Neon Realism, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerinnen) Abb. 7, 9, 12: Sun & Sea im Vilnius Taxi Park, 2021 (Foto von Evgenia Levin, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerinnen) Abb. 19: Grada Kilomba, Illusions Vol. I, Narcissus and Echo, Performance auf der 32. Biennale in São Paulo, 2016 (Foto von Leo Eloy, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin) Abb. 20: Grada Kilomba, A World of Illusions, Installationsansicht, 4. Berliner Herbstsalon, Maxim Gorki Theater/Palais am Festungsgraben, Berlin, 2019 (Foto von Egbert Trogemann, VG Bild-Kunst Bonn, mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin) Abb. 21–30: Grada Kilomba, Illusions Vol. I, Narcissus and Echo, Video still, 2017 (mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin) Abb. 31–36: Monira Al Qadiris Behind the Sun, Video still, 2013 (mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin) Abb. 37–41, 45–48, 51–52, 55: Daniel Kötters und Jochen Beckers Chinafrika.mobile, Still aus der Videodokumentation der Performance, 2017 (mit freundlicher Genehmigung der Künstler) Abb. 42–44, 49–50, 53–54, 56–58: Still aus dem Dokumentarfilm Chinafrika.mobile von Daniel Kötter, 2017 (mit freundlicher Genehmigung des Künstlers) Abb. 59–73 : Abou Bakar Sidibés Les Sauteurs. Those Who Jump, Film still, 2016 (mit freundlicher Genehmigung der Künstler) Abb. 74–77, 87: Josef Bierbichlers Zwei Herren im Anzug, Film still, 2018 (eine Produktion von X-Filme Creative Pool) Abb. 78, 82, 84: Anna-Sophie Mahlers Mittelreich (Münchner Kammerspiele, 2015) Abb. 79–81, 83, 85–86: Anta Helena Reckes Mittelreich (Münchner Kammerspiele, 2017)

Danksagungen

Obwohl der vorliegende Text von einem Autor verfasst wurde, der bis hierhin in der dritten Person Singular aufgetreten ist, möchte ich mich bei allen bedanken, ohne die diese Arbeit nicht hätte realisiert werden können. Zunächst danke ich in alphabetischer Reihenfolge den Kommissionsmitgliedern im Habilitationsverfahren an der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum, Prof. Dr. Anette Pankratz, Prof. Dr. Gerald Siegmund, Prof. Dr. Henriette Gunkel, Prof. Dr. Jörn Etzold, Prof. Dr. Kai van Eikels und Prof. Dr. Sven Lindholm, sowie dem Kommissionsvorsitzenden Prof. Dr. Oliver Fahle, die im Sommer und Herbst 2022 mit der Lektüre meiner Schrift und dem Verfassen entsprechender Gutachten befasst waren. Mein aufrichtiger Dank geht ebenfalls an die im Rahmen der Detailstudien besprochenen Künstler*innen, die mir nicht nur Abbildungen und sonstige Materialien zur Verfügung stellten, sondern auch zu manch weiterer Auskunft über ihre Arbeit bereit waren. Besonders bedanken möchte ich mich vor allem bei folgenden Kolleg*innen und Freund*innen: Afsun Moshiry und Daniel Kötter (für filmische Perspektiven), Alia Hamdan (für ihr wiederholtes Erinnern an Deleuze und das Frühjahr 2022), Aljoscha Zinflou und Eleonora Zdebiak (für schöne Zeiten in Köln und Warschau), Andreas Goosses (fürs Zuhören und die richtigen Worte), Anne-Sophie Rink und Josephine Sahner (für unsere Klimabotschaften), Ayşe Demir und Canan Durlanık (für ihren Glauben an Kartoffeln), Azadeh Sharifi (dafür, der deutschsprachigen Theaterwissenschaft neue Perspektiven eröffnet zu haben), Begüm Erciyas (für Silent Raves in schwierigen Zeiten), Björn Deigner (fürs gemeinsame Kochen und Reden), Christoph Wirth (für beidseitige Offenheit nicht nur am Telefon), Despina Apostolou (fürs wie immer humorvolle Updaten), Elena Vogman (für manche Initiative), Elisa Liepsch und Julian Warner (für die kuratorische Erschließung von Neuland), Elise von Bernstorff, Gerko Egert, Julia Bee und Maximilian Haas (für die nicht nur akademische Freundschaft), meinen Eltern (fürs Vertrauen), Emilia Zenzile Roig (für die Vision einer besseren Welt), Evelyn Annuß und Martina Ruhsam (für aufbauende Worte), Friedrich Balke (für Gespräche nicht nur über Mimesis), Gabriel Apata (für unsere Korrespondenz über Mbembe), Gal Kirn (für manches Co-Working mit Abendessen als Ausklang während der Pandemie), Grada Kilomba (für die vielen Inspirationen bei der Lektüre ihrer akademischen Texte), Jens Heitjohann und Joana Tischkau (für Literaturtipps), Jörn Etzold (für kritische Lektüren), Juli Reinartz

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Stefan Hölscher: Von der Sinnlichkeit des Menschen

(für das ein oder andere Feedback), Kai van Eikels (für Dialoge auf Augenhöhe), Kirsten Maar (für den Support an der Freien Universität Berlin), den kuratorischen Teams des Heizhauses in den Uferstudios und von gesellschaften in der Vierten Welt am Kotti (für Streits und Versöhnungen und manches dazwischen), Lanca (für alles und die gemeinsame Zigarette), Leon Gabriel und Julia Schade (für eure Gastfreundschaft in Bochum, tolle Abende und unseren Kontakt auf Distanz), Luísa Saraiva (für so vieles), Maren Butte (für die Unterstützung an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf), Mariama Diagne (für Gespräche in wichtigen Momenten), Marietta Kesting (für die nette Nachbarschaft und das Nachfragen), Marisa Ekstein (dafür, zusammen wohnen und leben zu dürfen), Mila Pavićević (für neue Dramaturgien), Nafiseh Fathollahzadeh (für manche Vermittlung), Nicolas Siepen (fürs offene Ohr), Özge Acar (für Ausflüge in Berlin und Kiel und die ›good vibes‹), Omar (fürs leckere Mittagessen), Patrice Haynes (für Gedanken nicht nur zu Feuerbach, dem Brexit und Liverpool), Rachel Aumiller (für erfrischende Blicke auf Hegel), Sapir Huberman (für den Austausch über unsichtbar gemachte Perspektiven überall auf der Welt), Sebastian Kirsch (für Spekulationen über Zeiten nach der Academia), Shohreh Shakoory (für die Suche nach einem anderen ›Universalismus‹), Sigrid Gareis (just thanks), Steve Corcoran (fürs Übersetzen und manches Coaching in schwierigen Situationen), Yegor Kovalchuk (für gemütliche Abende in Odendorf und den Garten), Zahra Ali Baba (für unsere flüchtigen Begegnungen seit 2009), Zahra Rashid (fürs gemeinsame Performen) und vielen weiteren Menschen mehr. Mein Dank geht außerdem an das gesamte Team des Instituts für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum für die gute Zusammenarbeit während der Entstehungszeit dieses Textes zwischen 2018 und 2022 und an das ebenso liebe Team des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg (TBB) für die zugleich angenehme und produktive Arbeitsatmosphäre seit August 2022. Ebenso wären die Kapitel der hiermit zu Papier gebrachten Arbeit nicht ohne den kontinuierlichen Austausch mit Studierenden der Ruhr-Universität Bochum, der Freien Universität Berlin und der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf zwischen 2018 und 2022 entstanden. Meine Lehre war auch während dieser Jahre stark mit meiner Forschung verschränkt. Dieses Buch trägt nur einen Autornamen, sollte jedoch viele weitere Namen tragen – in erster Linie die der zahlreichen Studierenden, die mir wieder und wieder gezeigt haben, dass ich eigentlich nur wenig weiß und noch weniger verstehe, was mit diesem Wissen anzufangen ist. Für mehr als nur ein Korrektorat im Frühjahr und Sommer 2023 danke ich ganz herzlich Petra Schäfter aus der textetage – Bürogemeinschaft von Medienschaffenden in Kreuzberg 36. Gewidmet ist dieses Buch Hakimeh Wakily (für unsere Begegnung, für unsere Subjektivität, für unsere verzweigten Wege und ausgedehnte Spaziergänge nicht nur auf Alonnisos).