Ludwig Feuerbach. Wege der Forschung [1 ed.] 3534066758

Der vorliegende Band hat die Aufgabe, die verschiedenen Perspektiven sichtbar zu machen, unter denen man sich zur Zeit m

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German Pages 540 Year 1976

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Table of contents :
Erich Thics

Karl Barth

Karl Löwith

Ernst Bloch

Rudolf Lorenz

John Glasse

Hans-Martin Barth

Hans-Martin Saß

Oswald Bayer

Alfred Kosing

Otto Finger

Nathan Rotenstreich

Henri Arvon

Alfred Schmidt

Günter Rohrmoser
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Ludwig Feuerbach. Wege der Forschung [1 ed.]
 3534066758

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LUDWIG FEUERBACH

.

L U D W IG F E U E R B A C H

WEGE D ER F O R S C H U N G B A N D C D X X X V III

1976 W ISSENSCHAFTLICHE

BUCHGESELLSCHAFT

DARMSTADT

LUDWIG FEUERBACH Hcrausgcgcbcn von ERICH THIES

1976 WISSENSCHAFTLICHE

BUCHGESELLSCHAFT

DARMSTADT

USr

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Ludwig Feuerbach / hrsg. von Erich Thies. — 1. Aufl. (Wege der Forschung; Bd. 438) ISBN 3-534-06675-8 NE: Thies, Erich [Hrsg.]

© Bestellnummer 6675

© 1976 by Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Satz: Maschinensatz Gutowski, Weiterstadt Druck und Einband: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Printed in Germany Schrift: Linotype Garamond, 9/11

ISBN 3-534-06675-8

INHALT

Vorwort. Von Erich T h i c s ............................................................... VII Ludwig Feuerbach (1927). Von Karl B a r t h ...........................

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L. Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutshen Philosophie (1928). Von Karl L ö w ith ................................ 33 Keim und Grundlinie. Zu den Elf Thesen von Marx über Feuerbach (1953). Von Ernst B loch ............................................ 62 Zum Ursprung der Religionstheorie Ludwig Feuerbachs (1957). Von Rudolf Loren z........................................................... 111 Vermittlung und Unmittelbarkeit bei Hegel, Marx und Feuerbach (1966). Von Karl L ö w ith ........................................... 135 Barth zu Feuerbach (1968). Von John G l a s s e ......................165 Glaube als Projektion. Zur Auseinandersetzung mit Ludwig Feuerbach (1970). Von Hans-Martin B a r t h ......................202 Argumentationsfiguren in der Kritik an Ludwig Feuerbachs Religions- und Metaphysikkritik (1970). Von Hans-Martin S a ß .................................................................................................230 Gegen Gott für den Menschen. Zu Fcucrbachs Lutherrezep­ tion (1972). Von Oswald B a y e r .................................................260 Ludwig Feuerbachs materialistische Erkenntnistheorie (1972). Von Alfred K o s i n g .....................................................................310

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Inhalt

Von der anthropologisch-materialistischen Religionskritik zur historisch-materialistischen Ideologieanalyse (1972). Von Otto F i n g e r ......................................................................342 Anthropologie und Sinnlichkeit (1972). Von Nathan Rotenstreich........................................................................................... 384 Feuerbach und die Theologie (1972). Von Henri Arvon .

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Feuerbachs Stellung in der Geschichte des Materialismus (1973). Von Alfred S c h m id t ..................................................... 405 Philosophie und Wirklichkeit. Die Hegelkritik Ludwig Feuer­ bachs (1974). Von Erich T h ies..................................................... 431 Warum sollen wir uns für Feuerbach interessierenf (1974). Von Günter Rohrm oser................................................................ 483 Nam enregister..................................................................................... 515 Biographisches über die Verfasser der B e it r ä g e .......................... 523

VORW ORT Der vorliegende Band hat die Aufgabe, die verschiedenen Per­ spektiven sichtbar zu machen, unter denen man sich zur Zeit mit Fcucrbach befaßt. Er verfolgt dabei ein doppeltes Interesse: Einmal sollen die aktuellen Interprctationsabsichten in ihrer jüngsten histo­ rischen Entwicklung hervortreten, zum anderen die philosophische und theologische Diskussion über Feuerbach „gesammelt“ vorge­ stellt werden, um Anhaltspunkte für die Frage nach der Aktualität seines Denkens zu geben. In der Diskussion der letzten Jahre ist deutlich geworden, daß das gängige Feucrbach-Bild zu korrigieren ist. Ein Bild, das vor allem geprägt wurde von Apologeten wie Wilhelm Bolin und Friedrich Jodl, von orthodoxen Theologen und Marxisten-Leninisten sowie Vertretern einer systematischen Philosophie, die an Fcucrbach nur den Makel begrifflicher Inkonsistenz festhieltcn. Die anläßlich von Feuerbachs 100. Todestage (am 12. September 1972) veranstalteten Kolloquien (im „Zentrum für interdisziplinäre For­ schung“ der Universität Bielefeld), die hierzu publizierten Sonder­ hefte (der »Revue internationale de Philosophic< und der »Deutschen Zeitschrift für Philosophie«) haben ein lebhaftes Echo gefunden und die Forderung nach einer neuen Lektüre Feuerbachs (Alfred Schmidt) laut werden lassen.1 Sie geben Anlaß, eine kritische Bilanz der Feuerbach-Rezcption zu ziehen, wozu vorliegender Band auch beitragen will. Die abgedruckten Beiträge setzen an der Stelle ein, an der Ende der zwanziger Jahre die „dialektische Theologie“ Karl Barths und die „dialogische Philosophie“ Karl Löwiths ein neues Interesse an Feuerbach weckten. Damit waren zwei Problcmkreise Feuerbach1 Die Beiträge dieses Bielefelder Kolloquiums sollen von Hans-Martin Saß (Bochum) bekanntgemacht werden. »Revue internationale de Philo­ sophie«, Sonderheft Feuerbach, 26® annlc, N ° 101, 1972, Fase. 3; »Deutsche Zeitschrift für Philosophie«, 9, 20. Jg., 1972.

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Vorwort

sehen Philosophierens angesprochen, die auch in den folgenden Aufsätzen immer wieder, wenn auch in wechselnden Kontexten, aufgegriffen werden. Darüber hinaus wurden in den letzten Jah ­ ren verfaßte Beiträge aufgenommen, die Feuerbachs philosophiegeschichtliche Einordnung und systematische Bedeutung neu disku­ tieren. Da die mehr an spezifischen inhaltlichen Problemkomplexen orientierten Beiträge von den mehr historisch-systematischen Bei­ trägen nicht klar zu trennen sind, wurden sie in der Reihenfolge ihres Ersdieinens abgedruckt. Gerade in den letzten Jahren sind zahlreiche, die Diskussion fundierende und weiterführende Publikationen über Feuerbach er­ schienen, so daß die Auswahl eher eine Frage des Verzichts war.2 Als Prinzipien der Auswahl galten: 1. Dem Wesen der Reihe >Wege der Forschung< entsprechend waren die forschungsgeschichtlich wichtigen Anstöße wiederzu­ geben. So hat Karl Barth Feuerbachs Apotheose des Menschen als kritische Frage an die Theologie gestellt und damit Feuerbach für das theologische Bewußtsein unserer Zeit aktualisiert. Die Ausein­ andersetzung mit Barths Interpretation Feuerbachs ist von dem amerikanischen Religionsphilosophen John Glasse aufgenommen und systematisch diskutiert worden. Darüber hinaus muß auf die Veröffentlichung der katholischen Theologen Johann Baptist Metz und Marcel Xhaufflaire hingewiesen werden, in denen über das Konzept einer „kritischen Theologie als Kritik der Theologie“ die Verbindung von Theologie und Anthropologie herzustellen ver­ sucht wird.3 2 Dem vorliegenden Band ist nicht, wie sonst zum Teil üblich, eine Bibliographie beigefügt. Es konnte darauf verzichtet werden, weil voll­ ständige bibliographische Hinweise von Hans-Martin Saß und Uwe Schott gegeben wurden: Ludwig Feuerbach, Sämtliche Werke. Hg. von W. Bolin und F. Jodl, Band 11, Jugendschriften. Hg. von H.-M. Saß mit Zeittafel und Bibliographie (Stuttgart-Bad Cannstatt 1972), S. 341-373; Uwe Schott, Die Jugendentwicklung Ludwig Feuerbachs bis zum Fakultätswcchsel 1825. Ein Beitrag zur Genese der Fcuerbachschcn Religionskritik. Mit einem bibliographischen Anhang zur Feucrbach-Literatur, Göttingen 1973, S. 234-245. 3 Marcel Xhaufflaire, Feuerbach und die Theologie der Säkularisation, München 1972.

Vorwort

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Einen weiteren Anstoß hat Karl Löwiths Feucrbach-Rezcption im Rahmen einer dialogischen Philosophie gegeben. Von hier aus sind Anregungen für eine Diskussion über das Verhältnis von Natur und Geschichte ausgegangen, die u. a. auf die Beiträge von Nathan Rotcnstreich (Israel), Alfred Schmidt, Günter Rohrmoser sowie den Beitrag des Herausgebers eingewirkt haben. Wegen des begrenzten Umfangs dieses Bandes konnte der für den angespro­ chenen Zusammenhang wichtige Aufsatz von Ivan Dubsky über »Ludwig Fcucrbach in der Buberschen Sicht< nicht abgedruckt wer­ den.4 2. Es sollte in angemessener Breite die Vielfalt der „Wege der neueren Feuerbach-Forschung“ hervortreten. Die abgedruckten Bei­ träge von Ernst Bloch, Karl Löwith (1966), der DDR-Philosophen Alfred Kosing und Otto Finger befassen sich vor allem mit der Stellung Feuerbachs zwischen Hegel und Marx und analysieren systematische Probleme dieser Mittlerfunktion. Hierbei kommen kontroverse Ergebnisse zutage, die Feuerbachs Zwischenstcllung in ein neues Licht rücken und angemessen diskutieren lassen. Die Bei­ träge der Theologen Rudolf Lorenz, Hans-Martin Barth, Oswald Bayer sowie des französischen Philosophen Henri Arvon entwickeln verschiedene Perspektiven der Feuerbachschen Religionstheoric und Theologiekritik. Der Beitrag von Hans-Martin Saß geht auf die zeitgenössische und neuere Kritik der Feuerbachschen Kritik ein und entdeckt Gemeinsamkeiten der Argumentationsstrategien. Der Beitrag des Herausgebers versucht vor allem, die immanente Logik der Entwicklung des Feuerbachschen Denkens sowie die entschei­ denden Aporien seiner Konzeption einer Neuen Philosophie zu verdeutlichen. 3. Die internationale Diskussion war zu berücksichtigen. Vor allem in den Vereinigten Staaten, Frankreich und Italien hat sidi das Interesse an Feuerbach merklich verstärkt. Auch hier mußte auf viele Beiträge verzichtet werden, die das Bild der FeuerbachForschung abgerundet hätten. 4. Es sollten kontroverse Positionen in der aktuellen Befassung mit Feuerbach deutlich werden. So stellt sich die Frage, ob Feuer4 Erschienen in: Studi in memoria di Carlo Ascheri, „Differenze“ , 9, Jg. 1970.

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Vorwort

bach mehr als Mittler zwischen Hegel und Marx, theozentrischer und dialektischer Theologie ist. Wird die Mittler-Rolle, die man Feuerbach zuschreibt, der Absicht und tatsächlichen Bedeutung sei­ ner Philosophie gerecht (Löwith, 1966)? Kommt Feuerbach über­ haupt noch eine aktuelle Bedeutung zu (Alfred Schmidt, Günter Rohrmoser)? Mit Löwith hat Herbert Marcuse Feuerbachs Wende zur Natur gegen die spekulative Metaphysik und den historischen Materialismus gestellt. Hieran schließt Alfred Schmidt seine Feuerbach-Interpretation an, die auf ein lebhaftes, auch kritisches Inter­ esse gestoßen ist. Lassen sich mit Hilfe Feuerbachs emanzipatorische Aspekte der Marxschen Philosophie betonen, die im MarxismusLeninismus nach Auffassung von Marcuse und Schmidt verloren­ gegangen sind? Der vorliegende Band möge hier einige Anregungen für ein breiteres Publikum geben. Kenner der Publikationen über Feuerbach werden eine Reihe von wichtigen Autoren vermissen; Umfang und Zweck des Bandes haben deutliche Grenzen gesetzt. Hier bittet der Herausgeber um Nachsicht. Den Autoren der Beiträge sei für ihre Zustimmung zum Wiederabdruck gedankt, Günter Rohrmoser für seinen Original­ beitrag. Erich Thies

Zwilchen den Zeiten. 5 (1927), S. 11-40.

LUDW IG FEUERBACH Fragment aus einer im Sommersemester 1926 zu Münster i. W. gehaltenen Vorlesung über „Geschichte der protestantischen Theo­ logie seit Schleiermacher“ 1 Mit einem polemischen Nachwort Von K arl B arth Man könnte sich fragen, was Ludwig Feuerbach in einer Ge­ schichte der Theologie zu schaffen hat, er der Philosoph, der auch in den Annalen der Philosophie nicht einmal als Idealist wenigstens, sondern in der von der Theologie scheinbar entferntesten Ecke der Sensualisten, Positivisten oder gar Materialisten aufgeführt wird, er der mit einem Eifer wie wenige seines Zeichens seiner Lebtage geradezu Anti-Theologie getrieben hat. Ich würde zunächst auf dreierlei hinweisen: 1. Es gibt unter den Philosophen der Neuzeit vielleicht keinen, der sich - sei es auch in sehr unglücklicher Liebe so intensiv und ausschließlich gerade mit dem Problem der Theo­ logie beschäftigt hat, wie Feuerbach. Er selbst hat einmal klipp und klar gesagt: „Alle meine Schriften haben streng genommen, nur einen Zweck, einen Willen, ein Thema. Dieses Thema ist eben die Religion und Theologie und was damit zusammenhängt“ (R.3). 2. Er hat sich in seinen Schriften, jedenfalls was Bibel-, Kirchen­ väter- und besonders auch Lutherlektüre betrifft, über eine theo­ logische Sachkenntnis ausgewiesen, die ihn wiederum vor der Mehr­ zahl der neueren Philosophen auszeichnet. 3. Keiner von ihnen hat 1 Ein Fragment blieb leider auch diese ganze Vorlesung. Dem hier ab­ gedruckten Stück gingen in ähnlicher Darstellung voran: Schleicrmachcr, Wegscheider, De Wette, Marheineke, Tholuck, Gottfr. Menken. Ihm folg­ ten: Strauß, Alex. Schweizer, J. A. Dorner, Jul. Müller, Rothe, Hofmann, Beck, Vilmar, Kohlbrügge, J. Chr. Blumhardt.

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zu seiner Zeit so aktuell in die theologische Lage eingegriffen, so wenig daneben, so genau zur Sache geredet wie er. Und dann würde ich fortfahren: Feuerbachs, des Antitheologen Haltung war insofern theologischer als die vieler Theologen, als er, in strengstem Anschluß an das überlieferte theologische Material und mit einer tausend Wiederholungen nicht scheuenden Zähigkeit nicht Vieles, sondern Eines sagen wollte, nicht sagen wollte, sondern in einer Art prophetischer Begeisterung sagen zu müssen meinte: eine philo­ sophisch nicht besser als die Theologie selbst begründete - man darf vielleicht geradezu sagen: eine nur theologisch zu begründende Antithese zu aller Theologie. Feuerbachs Lehre war wesentlich ein Aufruf, ein Appell, eine Verkündigung, bei deren zu seiner Zeit sehr inopportunen Vertretung er, wenn nicht seine Haut zu Markte getragen, so doch seine akademische „Karriere“ sofort und end­ gültig geopfert hat. Bringt ihn diese Haltung und dieses Schicksal menschlich uns nahe, so bedeutet schließlich inhaltlich seine Anti­ theologie eine so wichtige Möglichkeit innerhalb der Problematik der neueren Theologie, eine Möglichkeit, die alle ihre anderen Mög­ lichkeiten so scharf beleuchtet, daß uns theologisch etwas Entschei­ dendes entgehen würde, wenn wir ihn, weil er äußerlich nicht zur Zunft gehörte und weil er ihr so viel Tort angetan hat, hier nicht mitreden lassen wollten. Wer weiß, ob nicht zu sagen ist, daß er zur Zunft der neuprotestantischen Theologie innerlich und sachlich so legitim gehörte wie nur einer. Ludwig Feuerbach (Oheim des Malers Anselm F.) ist geboren 1804 (er ist Altersgenosse von J. T. Beck) zu Landshut, studierte unter Daub in Heidelberg und seit 1824 unter Hegel in Berlin, wurde 1828 Privatdozent der Philosophie in Erlangen, zog sich aber bald ins Privatgelehrtentum zurück. Seit 1860 lebte er auf dem Rechenberg bei Nürnberg. Er starb 1872. Unter seinen Schriften interessieren uns hier die folgenden: >Das Wesen des Christentums« 1841 (Krit. Ausgabe von K. Quenzel in Reklams Universalbiblio­ thek - zitiert als C.); >Philosophie der Zukunft« 1843 (Herausg. und erläutert von H. Ehrenberg in »Frommanns philosophische Taschenbücher« Stuttgart 1922 - zitiert als P.); >Das Wesen der Religion« 1851 (30 in Heidelberg 1848 gehaltene Vorlesungen; Volksausgabe Leipzig, Alfred Kröner Verlag - zitiert als R.).

Ludwig Feuerbach

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Was Feuerbach wollte, das hat er am Schluß jener Heidelberger Vorlesungen (bei denen u. a. Gottfried Keller zu seinen Füßen saß 2) dahin zusammengefaßt: seine Aufgabe sei gewesen, seine Zuhörer „aus Gottesfreunden zu Menschenfreunden, aus Gläubigen zu Denkern, aus Betern zu Arbeitern, aus Kandidaten des Jenseits zu Studenten des Diesseits, aus Christen, welche ihrem eigenen Be­ kenntnis zufolge, halb Tier halb Engel sind, zu Menschen, zu ganzen Menschen zu machen“ . (R. 170.) An früherer Stelle hatte er zu diesen Verbesserungen noch hinzugefügt: „aus Theologen zu Anthropologen . . . aus religiösen und politischen Kammerdienern der himmlischen und irdischen Monarchie und Aristokratie zu freien selbstbewußten Bürgern der Erde“ (R. 14). Aufrufen will Feuerbach (die etwas demagogische Aufmachung gehört zur Sache und darf einen Leser, der verstehen will, nicht stören!), aufrufen zur Umkehr von der Lüge zur Wahrheit, d. h. aber von den reli­ giösen Subjekten zu den allein sinnvollen und wirklichen religiösen Prädikaten: von Gott zur Welt und zum Menschen, vom Glauben zur Liebe, vom Himmel zur Erde, von Christus zu uns selbst, von den wesenlosen Gespenstern des Supranaturalismus zum wirklichen Leben. „Ich setze in der Tat und Wahrheit an die Stelle des un­ fruchtbaren T a u f wassers die Wohltat des w i r k l i c h e n Was­ sers“ (C. 45). Das Wasser ist nämlich „das Ebenbild des Selbst­ bewußtseins, das Ebenbild des menschlichen Auges . . . der natürliche Spiegel des Menschen. Im Wasser entledigt sich ungcschcui der Mensch aller mystischen Umhüllungen; dem Wasser vertraut er sich in seiner wahren, seiner nackten Gestalt an; im Wasser ver2 Man wird in diesem Zusammenhang z. B. das Kapitel »Der gefrorene Christ< aus dem 4. Band des »Grünen Heinrich« nicht ohne Gewinn nadilesen. Feuerbach heißt dort (schließlich auch namentlich erwähnt) „der Philosoph, der nur diese Fragen in seiner klassisch monotonen, aber lei­ denschaftlichen Sprache, dem allgemeinen Verständnisse zugänglich, um und um wendete und gleich einem Zaubcrvogel, der in einsamem Busche sitzt, den Gott aus der Brust von Tausenden hinwegsang“ - „der große Gottesfreund, wenn man ironischer oder auch ernsthaftcrweisc denjenigen so nennen darf, der sich ein Leben lang von seinem geliebten Gegenstand nicht trennen konnte“ . Auch »Das verlorene Lachen« im 2. Band der •Leute von Seldwyla« ist nur von Feuerbach aus ganz verständlich.

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schwinden alle 'supranaturalistischen Illusionen. So erlosch auch einst in dem Wasser der jonischen Naturphilosophie die Fackel der heidnischen Astrotheologie“ (C. 29, 395 f.). „Pneumatische Wasser­ heilkunde“ nennt Feuerbach darum scherzend seine Lehre (C. 28).* Was meint er damit? Übelste freigeisterische voltaircanische Auf­ klärung scheint hier das Wort zu führen. Aber nein: daß die Reli­ gion „Unsinn, Nichts, pure Illusion“ sei nach seiner Lehre, das stellt Feuerbach feierlich und mit Recht in Abrede (C. 42). Er meint es nicht so. So ist das heilsame Wasser vielleicht eine kritische Selbstbesinnung der Vernunft in der Weise Kants? Oder die Ein­ sicht in die Identität des Unendlichen und Endlichen im reinen Begriff nach Hegel? Nein, auch das nicht. Weit hinaus geschritten über Hegel wie über Kant, gehört Feuerbach zu jenen Schülern des Berliner Meisters, die das theologische Residuum in seiner Lehre gewittert und - auch noch abgestreift haben. (Die Lehre Schellings vollends ist ihm „die Philosophie des bösen Gewissens“ . . . „der lächerlichsten Eitelkeit“ . . . „diese theosophische Posse des philo­ sophischen Cagliostro des 19. Jahrhunderts“ (C. 50 f.). Feuerbach sieht die kantische und die hegel’sche Philosophie tatsächlich in derselben Verdammnis mit der Theologie: hat sie das vom Men­ schen abgesonderte göttliche Wesen im Denken, in der Vernunft aufgehoben, so hat sie es doch eben nur in der Vernunft aufge­ hoben, gleichzeitig aber um so schärfer von der Sinnlichkeit, von der Welt, vom Menschen abgesondert (P. 43). Ihm, dem Menschen, will Feuerbach nun endlich zu seinem Recht verhelfen. Darum beginnt seine Philosophie mit dem Satze: „Ich bin ein wirkliches, ein sinnliches Wesen; ja der Leib in seiner Totalität ist mein Ich, mein Wesen selber.“ Sie will „offenherzig sinnliche Philosophie“ sein (P. 72). Denn „nur wo die Sinnlichkeit anfängt, hört aller Zweifel und Streit auf. Das Geheimnis des unmittelbaren Wissens3

3 Man vergleidic dazu an der eben erwähnten Stelle bei Gottfried Keller den Bericht über die Gewohnheiten des Herrn Peter Gilgar: „Trotz der kühlen Jahreszeit stürzte er sidi badend in Teiche und Mühlbäche, so daß man in der Nähe oder Ferne unvermerkt seine nackte Gestalt auf- und untcrtaudien sah. Mit blauem Gesicht und nassen Haaren stellte er sidi dann als neu- und wiedergeboren vor ..

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ist die Sinnlichkeit“ (P. 73). „Die neue Philosophie hat daher zu ihrem Erkenntnisprinzip, zu ihrem Subjekt, nicht das Ich, nicht den absoluten d. h. abstrakten Geist, kurz nicht die Vernunft für sich allein („Ich hasse d e n Idealismus, welcher den Menschen aus der Natur hcrausreißt“ [R. 21]; „Ich bin himmelweit unterschieden v o n d e n Philosophen, welche sich die Augen aus dem Kopf reißen, um desto besser denken zu können“ [C. 36]), sondern das wirkliche und ganze Wesen des Menschen“ (P .85). „Der Mens c h denkt, nicht das Ich, nicht die Vernunft. Das M e n s c h l i c h e ist das Wahre und Wirkliche; denn das Menschliche nur ist das Vernünftige; der Mensch ist das Maß der Vernunft“ (P. 86). „Hier­ aus ergibt sich folgender kategorischer Imperativ: Wolle nicht Philosoph sein im Unterschied vom Menschen; sei nichts weiter als ein denkender Mensch; denke nicht als Denker, d. h. in einer aus der Totalität des wirklichen Menschenwesens herausgerissenen und für sich realisierten Fakultät; denke als lebendiges wirkliches We­ sen, als welches du den belebenden und erfrischenden Wogen des Weltmeeres ausgesetzt bist; denke in d e r E x i s t e n z , in der Welt als ein Mitglied derselben, nicht im Vakuum der Abstraktion, als eine vereinzelte Monade, als ein absoluter Monarch, als ein teilnahmsloser, außerweltlicher Gott - dann kannst du darauf rech­ nen, daß deine Gedanken Einheiten sind von Sein und Denken“ (P. 86 f.). „Die Wahrheit ist nur die Totalität des menschlichen Lebens und Wesens“ (P. 91). „Der M e n s c h , nämlich das W e s e n des Menschen, ist das ens realissimum, nicht das Ich Kants und Fichtes, nicht die absolute Identität Schellings, nicht der ab­ solute Geist Hegels“ (C. 38). Dieses Wesen des Menschen nun „ist nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten - eine Einheit, die sich aber nur auf die Rea­ lität des Unterschieds von I c h u n d D u stützt.“ „Mensch mit Mensch - die Einheit von Ich und Du - i s t G o t t . “ „Die wahre Dialektik ist kein Monolog des einsamen Denkers mit sich selbst, sic ist ein Dialog zwischen Ich und Du“ (P. 41) - zwischen „Du und Ich“ ist Feuerbachs Meinung. Das zeigt das Folgende: „Ein Objekt, ein wirkliches Objekt wird mir nur da gegeben, wo mir ein auf mich wirkendes Wesen gegeben wird, wo meine Selbst­ tätigkeit - wenn ich vom Standpunkt des Denkers ausgehe - an der

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Tätigkeit eines andern Wesens ihre Grenze - Widerstand findet. Der Begriff des Objekts ist ursprünglich gar nichts anderes, als der Begriff eines andern Ich - so faßt der Mensch in der Kindheit alle Dinge als freitätige willkürliche Wesen auf - dabei ist der Begriff des Objekts überhaupt v e r m i t t e l t durch den Begriff des Du, des gegenständlichen Ich“ (P. 68). Es ist „der erste Stein des An­ stoßes, an dem sich der Stolz der Ichheit bricht“ , aber gerade als solcher „das Band zwischen mir und der Welt“ . „Ich versöhne, ich befreunde mich mit der Welt nur durch den andern Menschen.“ „Ein ganz für sich allein existierender Mensch würde sich selbstlos und unterschiedslos in dem Ozean der Natur verlieren; er würde weder sich als Menschen, noch die Natur als Natur erfassen.“ „Das Bewußtsein der Welt ist für das Ich vermittelt durch das Bewußt­ sein des Du. So ist der Mensch der Gott des Menschen. Daß er ist, verdankt er der Natur, daß er Mensch ist, dem Menschen“ (C. 155 f.). Wobei zu bemerken ist, daß gerade der Mensch dem Men­ schen Smnesobjckt ist (P. 76). Nur als sinnliches Wesen bin ich ich (für mich) und zugleich du (für den anderen) (P. 69), umfaßt dodi Sinnlichkeit Äußerliches und Innerliches, Geist und Fleisch, Ding und Ich (P. 76). So sind Wahrheit, Wirklichkeit, Sinnlichkeit Menschlichkeit identisch (P. 68). Und es ist das Sein, d. h. das Sein als Gegenstand des Seins (das wirkliche, nicht nur gedachte Sein!) ein Geheimnis der Anschauung, der Empfindung, der Liehe (P. 69). Der wesentliche Gegenstand des Kopfes kann kein anderer sein als der wesentliche Gegenstand des Herzens (P. 90), wobei übrigens dem Magen sein Mitspracherccht auch in hohen und höchsten Din­ gen durchaus nicht streitig gemacht sein soll (P. 89), so daß Feuer­ bach, wenn es sein mußte, vorstoßen konnte zu dem zum geflügel­ ten Wort gewordenen Paradoxon: „Der Mensch ist was er ißt“, ein Wort, das doch nur dann so brutal verstanden werden kann, wie cs gewöhnlich geschieht, wenn man übersieht (worauf alles an­ kommt): daß Feuerbach eben vom menschlichen Magen und vom menschlichen Essen geredet hat. Wir konnten uns diesen Blick auf Feuerbachs Philosophie nicht ersparen, wenn wir die „Wasserheilkunde“ , mit Hilfe derer nach ihm die Theologie zu kurieren ist, verstehen wollen. Feuerbachs Absicht ist - das wird in der theologischen Berichterstattung über

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ihn oft unterschlagen 4 —so positiv wie die nur irgendeines Theo­ logen. Er ist kein bloßer Skeptiker und Neinsager. - das ist aller­ dings die Seite, die er den Theologen zugekchrt hat, aber nicht einmal den Theologen nur diese! -, er sagt begeistert und pathetisch Ja ! „Ich verneine nur, um zu bejahen, ich verneine das phan­ tastische Scheinwesen der Theologie und Religion, um das wirk­ liche Wesen des Menschen zu bejahen“ (R. 14). „Allerdings ist meine Schrift verneinend, aber wohlgcmerkt nur gegen das un­ menschliche, nicht gegen das menschliche Wesen der Religion“ (C. 40).5 Feuerbach trägt eine bestimmte Heilslchrc vor, in der er auch das wohlverstandene Interesse der Theologie zu Ehren zu bringen meint. Ich lege Gewicht darauf, weil m. E. Feuerbach nur von hier aus allenfalls auch kritisch gewürdigt werden kann. Man darf also in seinem Programm: Verwandlung und Auflösung der Theologie in Anthropologie nicht nur das hören, daß es mit der Theologie ein Ende haben und daß sie davon müsse - sondern auch das andere, daß Fcucrbach immerhin sie, die Theologie, in Anthro­ pologie verwandeln und überführen will. „Indem ich die Theologie zur Anthropologie erniedrige, e r h e b e ich vielmehr die Anthro­ pologie zur Theologie, gleichwie das Christentum, indem cs Gott zum Menschen erniedrigte, den Menschen zu Gott machte“ (C. 43). Um die „ V e r w i r k l i c h u n g und V e r m e n s c h l i c h u n g Gottes“, aber immerhin Gottes geht cs ihm (P. 14) - Die Vernei­ nung Gottes als eines abstrakten, von der Natur und vom Men­ schen unterschiedenen Wesens „ist nur eine Folge von der E r ­ k e n n t n i s d e s W e s e n s G o t t e s , von der Erkenntnis, daß dieses Wesen nichts anderes ausdrückt, als einerseits das Wesen der Natur, andrerseits das Wesen des Menschen“ (R. 14). Sehr klar tritt dieser Feuerbach’sche Weg vom Ja zum Nein hervor in der Disposition des Werkes über das »Wesen des Christentums«, in des­ sen erstem Teil ganz unpolemisch der wahre Sinn der Theologie * Vgl. z. B. W. Eiert, Der Kampf um das Christentum 1921, S. 171 f. * „Es handelt sich nicht um Atheismus und Freigeisterei, Zweifelsucht und Weltschmerz und welche Spitznamen man alle erfunden hat für kränkliche Dinge. Es handelt sidi um das Recht, ruhig zu bleiben im Gemüt“ versichert der repräsentative Feuerbachiancr auch bei Gottfried Keller.

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nachgewiesen wird in der Identität aller Prädikate des göttlichen und des menschlichen Subjekts und folglich auch dieser Subjekte selbst, während der zweite Teil zum Angriff übergeht und die Unterscheidung theologischer und anthropologischer Prädikate, also den falschen Sinn der Theologie in Nichts, in Unsinn auflöst (C. 48 f.). Das Pathos und die Kraft der Feuerbach’schen Negation ist in der Feuerbach’schen Position begründet. Wer ihn angreifen wollte, der müßte seine Heilslehre, seine positive Lehre vom Wesen des Menschen als dem Wesen Gottes angreifen. Ist er dort etwa unangreifbar, dann kann alle Kritik seiner Negationen, seiner AntiTheologie nur auf ein Behaupten und Beteuern hinauslaufen. Am Anfang der dritten Heidelberger Vorlesung hat Feuerbach selbst seine Lehre dahin zusammengefaßt: „Die Theologie ist Anthropologie, d. h. in dem Gegenstände der Religion, den wir griechisch Theos, deutsch Gott nennen, spricht sich nichts aus als das Wesen des Menschen" (R. 10). Man mißversteht aber Feuer­ bach, wenn man in diesem „nicht als“ eine Abschätzung sieht: Das Wesen des Menschen ist ja gerade das, was er gegen die Theologie und gegen die idealistische Philosophie feierlich und begeistert be­ jaht. Identifiziert er Gott mit dem Wesen des Menschen, so erweist er ihm damit die höchste Ehre, die er überhaupt zu vergeben hat, so ist das nun eben Ludwig Feuerbachs wunderliches Magnificat auf den lieben Gott. Der Mensch will leben. Er ist aber in seiner Existenz abhängig, beschränkt, bedroht. So hat er Bedürfnisse, Wünsche und, etwas höher hinauf, wohl auch Ideale. Er liebt und fürditet. Er begehrt und verneint und verabscheut. Er kennt Werte und Unwerte. Er sucht nach Mitteln, jene zu besitzen und diese loszuwerden. So ist sein Leben ein Kämpfen und Ringen. Man bemerke: Feuerbach tadelt das alles nicht etwa, er denkt nicht darar., es gering zu schätzen, er sagt Ja dazu, er lobt cs. Er lobt es auch, daß der Mensch den Grund, das Woher, die Notwendig­ keit, das Recht dieses seines Ringens hypostasiert, vergöttert, ver­ absolutiert und eben damit in der verschiedensten Weise religiös wird. „Gott ist für den Menschen das Kollektanecnbuch seiner höchsten Empfindungen und Gedanken, das Stammbuch, worein er die Namen der ihm teuersten, heiligsten Wesen einträgt“ (C. 132). Feuerbach ehrt jene Empfindungen und Wesen, aber er möchte es

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eingesehen und anerkannt wissen, daß im Buche nur steht, was zuerst in des Menschen Herz gestanden hat. Er will nur das ehr­ liche Eingeständnis, daß es sich darum: um den Menschen handelt bei dem angeblichen Geheimnis der Religion, daß der Mensch träumt, wenn er wähnt, ein Zweites, Anderes, ihm selbst Gcgcnübcrstchendcs sei jener Grund, jenes Woher, jene Notwendigkeit, jenes Recht, sei die Quelle, aus der seine Wünsche und Ideale fließen, sei das Meer der Erfüllung, dem sie zueilen, statt zu er­ kennen, daß sein eigenes Wesen: sein Lebcnwollen und -sollen als Mensch es ist, das er als homo religiosus mit Recht absolut, gleich Gott setzt. Aber hören wir nun Feuerbach selbst in einigen charak­ teristischen Anwendungen diese Grundeinsicht. Also: wer oder was ist eigentlich „G ott“ . Wir hörten schon die ganz kurze Formel: „Mensch und Mensch, die Einheit von Ich und Du, ist Gott“ (P. 91). Umfassender definiert Feuerbach ein andermal: „Gott als der Inbegriff aller Realitäten oder Vollkommenheiten ist nichts anderes als der zum Nutzen des beschränkten Individuums kompendiarisch zusammengefaßte Inbegriff der unter die Menschen verteilten, im Laufe der Weltgeschichte sich realisierenden Eigen­ schaften der Gattung“ (P. 28, vgl. C. 242 f., 407). Was hat es für einen Sinn, via negativa, wie dies nicht anders möglich ist, vom Wesen (essentia) Gottes zu reden? „Das göttliche Wesen ist das durch den Tod der Abstraktion verklärte menschliche Wesen. In der Religion befreit sich der Mensch von den Schranken des Lebens; hier läßt er fallen, was ihn drückt, hemmt, widerlich affiziert; Gott ist das von aller Wirklichkeit befreite Selbstgefühl des Menschen; frei, glücklich, selig fühlt sich der Mensch nur in seiner Religion, weil er hier nur seinem Genius lebt, seinen Sonntag feiert“ (C. 173 f.). In der Persönlichkeit Gottes feiert der Mensch selbstver­ ständlich die Übernatürlichkeit, Unsterblichkeit, Unabhängigkeit und Unbeschränktheit seiner eigenen Persönlichkeit (C. 175). Got­ tes Existenz? Das Interesse, daß Gott ist, ist eins mit dem Interesse, daß ich bin, ewig bin ( = meiner ewigen Seligkeit gewiß bin). Gott ist meine verborgene, meine gewisse Existenz: er ist die Subjek­ tivität der Subjekte, die Persönlichkeit der Personen (C. 268). Was bedeutet die Aseität, die absolute Voraussetzungslosigkeit Gottes? Was anderes als die Aufgabe des menschlichen Denkens, im Akt

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der Abstraktion von aller Gegenständlichkeit einen absoluten An­ fang zu setzen? (P. 30). Was bedeutet Gottes Einheit} Die Einheit und Universalität, die absolute Allgemeingülrigkcit des Verstandes­ mäßigen, von der der menschliche Verstand weiß, der selbst nichts anderes ist als eben das Bewußtsein der absoluten Einheit (C. 103). Wie steht es mit Gottes Unendlichkeit? Unendlich ist offenbar das menschliche Vermögen als solches, als Vermögen der Gattung (C. 63). Also ist die Unendlichkeit Gottes identisch mit der Unend­ lichkeit der menschlichen Gattung im Gegensatz zu der Endlichkeit des menschlichen Individuums (C. 61). So fällt der Unterschied zwischen dem urbildlichen unmittelbaren Wissen Gottes und dem abbildlichen mittelbaren Wissen des Menschen zusammen mit dem, was die Philosophie kennt als den Unterschied zwischen dem aprio­ rischen oder spekulativen und dem aposteriorischen oder empiri­ schen Wissen, die doch beide offenbar ein Wissen des Menschen sind (P. 26). Gott als moralisch vollkommenes Wesen ist die realisierte Idee, das personifizierte Gesetz der Moralität, das als absolutes Wesen gesetzte moralische Wesen (C. 110). „Gott ist die L i e b e , die unsere Wünsche, unsere Gemütsbedürfnisse befriedigt - er ist selbst der verwirklichte Wunsch des Herzens, der zur Gewißheit seiner Erfüllung, seiner Gültigkeit, zur zweifellosen Gewißheit, vor der kein Widerspruch des Verstandes, kein Einwand der Erfahrung der Außenwelt besteht, gesteigerter Wunsch . . . Gott ist das sich gegenständliche Wesen des Gemüts, das schrankenlose, reine Ge­ müt . . . „Gott ist ein unaussprechliches Seufzen im Grund der Seelen gelegen“ - dieser Ausspruch (Sebastian Francks) ist der merkwürdigste, tiefste, wahrste Ausspruch der christlichen Mystik“ (C. 202 f.) Was heißt Menschwerdung Gottes? Eine Träne des göttlichen Mitleids, eine Erscheinung eines menschlich fühlenden, darum wesentlich menschlichen Wesens, die Erscheinung des Gott­ gewordenen Menschen (C. 115), das von der Theologie verweigerte Sclbstgcständnis der Religion, daß Gott ein durchaus menschliches Wesen ist (C. 123). Christust „Das Bewußtsein der Gattung. Alle sollen wir eins in Christus sein. Christus ist das Bewußtsein unserer Einheit. Wer also den Menschen um des Menschen willen liebt, wer sich zur Liebe der Gattung erhebt, zur universalen, dem Wesen der Gattung entsprechenden Liebe, der ist Christ, der ist Christus

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selbst“ (C. 388). Das Wunder? „Die Zaubermacht der Phantasie, die ohne Widerspruch alle Wünsche des Herzens erfüllt“ (C. 219). Die Auferstehung Christi? „Das befriedigte Verlangen des Men­ schen nach unmittelbarer Gewißheit von seiner pcrsönlidicn Fort­ dauer nadi dem Tode“ (C. 220). Das Wort Gottes? Es ist die Gött­ lichkeit des Wortes. Enthält dodi auch das Wort des Mensdien, das Wesen des Mensdien sein mitgcteiltcs Selbst, wenn cs wenigstens ein wahres Wort ist (C. 153). Die Taufe? Ein vernünftiges ehr­ würdiges Institut, wenn in ihr die moralische und physisdic Heil­ kraft des Wassers, der Natur überhaupt, versinnlicht und gefeiert wird (C. 392). Das Abendmahl? Der höchste Sclbstgcnuß der menschlichen Subjektivität. „Auch der Protestant verwandelt hier, zwar nidit mit dem Worte, aber der Wahrheit nach, Gott in ein äußerliches Ding, in dem er ihn sich als ein Objekt des sinnlichen Genusses unterwirft“ (C. 354). Der heilige Geist? Er ist „die Re­ präsentation des religiösen Gemütes vor sich selbst, die Repräsen­ tation des religiösen Affekts, der religiösen Begeisterung oder die Personifikation der Religion in der Religion. Der heilige Geist ist daher die seufzende Kreatur, die Sehnsucht der Kreatur nach Gott (C. 132). Usw.ü Es ist immer dieselbe Regel, um nicht zu sagen Schablone, nach der alle diese Deutungen vollzogen werden: „Nicht die Eigenschaft der G o t t h e i t , sondern die Göttlichkeit oder Gottheit der Eigenschaft ist das erste wahre göttliche Wesen“ . Ein Atheist wäre nur der, dem diese Eigenschaften nichts wären. Die Eigenschaften hängen aber nicht am Begriff Gottes, sondern um­ gekehrt dieser an jenen, Gott als Subjekt ist das Bestimmte, die Prädikate. Die Qualitäten das Bestimmende. So gehört denn in Wahrheit ihnen, niclst jenem Subjekt, der Rang des ersten Wesens, der Rang der Gottheit (C. 79 f.). „In dem unendlichen Wesen ist mir nur als Subjekt, als Wesen Gegenstand, was ein Prädikat, eine Eigenschaft von mir selbst ist“ (C. 401). Diese befreiende Er­ kenntnis - befreiend, weil sic dem Mensdien .klar und einfach in die nächste Nähe rückt, was er unter tausend Widersprüchen und Gewaltsamkeiten in der Ferne suditc -, sie will Feuerbach aus­ sprechen und in möglichst Vielen erwecken. Nachdem sic sich, wie er nicht müde wird, zu betonen, durch den tatsächlichen Verlauf der Religions-, Kirchen- und Thcologicgcschichte längst als evident

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erwiesen hat. „Nicht ich, die Religion betet den Menschen an, ob­ gleich sic oder vielmehr die Theologie es leugnet; nicht meine Wenigkeit nur, die Religion selbst sagt: Gott ist Mensch, der Mensch Gott; nicht ich, die Religion selbst verleugnet und verneint d e n Gott, der n i c h t Mensch, sondern nur ein ens rationis ist, indem sie Gott Mensch werden läßt und nun erst diesen menschlich gestalteten, menschlich fühlenden und gesinnten Gott zum Gegen­ stände ihrer Anbetung und Verehrung macht“ (C. 39). „D i c T h e o l o g i e ist l ä n g s t zur A n t h r o p o l o g i e g e ­ w o r d e n “ (C. 38), nachdem gerade der Protestantismus, vor allem Luther, sein Interesse von dem, was Gott an sich selber ist, mit Nachdruck auf das gerichtet hat, was Gott für den Mcnscljen ist (P. 14). Ihr Entwicklungsgang verläuft unaufhaltsam so, daß der Mensch immer mehr Gott ab-, immer mehr sich selbst zwspricht. Es ist ein offenes und länger nicht mehr zu verschweigendes Ge­ heimnis, daß das Christentum in seiner theologischen Form „längst nicht nur aus der Vernunft, sondern auch aus dem Leben der Mensdiheit verschwunden, daß es nichts weiter mehr ist, als eine fixe Idee, welche mit unsern Feuer- und Lebensvcrsichcrungsanstalten, unsern Eisenbahnen und Dampfwagen, unsern Pinakotheken und Glyptotheken, unsern Kriegs- und Gewerbeschulen, unsern Theatern und Naturalienkabinetten in schreiendstem Widerspruch steht“ (C. 50). Also: „Der Mcnsdi ist der Anfang der Religion, der Mcnsdi der Mittelpunkt der Religion, der Mensch das Ende der Religion“ (C. 282). Wir haben gehört. Zwei Eindrücke streiten offenbar in dem, der hier verständig gehört hat, um den Vorrang. Der eine: daß wir etwas ganz außerordentlich, fast übelriechend, Triviales gehört haben. Der andere: daß diese Trivialität eine Frage bedeutet, die an die Theologie, von der Feuerbadi umgeben war, nun wirklich geriditet werden konnte. Lassen wir den ersten Eindrude zunädist auf sich beruhen. Wir haben als gemeinsamen methodischen Ansatz der Sdileiermacher’sdicn und nadi-sdilcicrmachcr’sdien Theologie das Problem festgestellt: ob und inwiefern sidi Religion, Offenbarung, Gottesver­ hältnis als ein Prädikat des Menschen verständlich madicn lasse? So wollte es die Zwangslage der apologetisdien Ecke, in die man

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sich durch den Aufstieg einer selbstherrlichen und sclbstgcnugsamcn Humanität vom Pietismus über die Aufklärung zur Romantik im­ mer widerstandsloser hatte drängen lassen. Aber was bedeutet die Festlegung auf jenes Problem anderes, als eben das, worauf jener Aufstieg der Humanität auch ohne den klugen Rat der Theologen ohnehin hinauswolltc: auf die Apotheose des Menschen? Das ist die Feucrbach’schc Frage an die neuere Theologie. Keinen von den hier Besprochenen, an den sich diese Frage (und zwar an lebens­ wichtigster Stelle!) nicht and) richtete. Denken wir noch einmal an Schleiermacher: an seine Lehre von der Religion als einer solchen Bestimmtheit des Sclbstbcwußtscins des Menschen, kraft derer er sich schlechthin abhängig fühle, in der Weise, daß das Woher? dieses Gefühls, nämlich Gott, in diesem Gefühl „mitgesetzt“ sei „auf eine ursprüngliche Weise“ . Was heißt das ? 0 An seine nicht genug zu beachtende Lehre von den drei „dogmatischen Formen“ , von denen die zweite und dritte, die Aussagen über Gott und Welt, allenfalls auch fehlen, bzw. auf die Aussagen der ersten Form, die Aussagen des frommen Bewußtseins über - sich selbst reduziert werden könnten. Was heißt das? An seine offenkundig vom eigenen Erleben des menschlichen Subjekts aus rückwärts projizierte Chri­ stologie und Vcrsöhnungslchrc. Was heißt das, wenn man in der Lage ist, die Sache ebenso gut, nein, besser, auch so herum kon­ struieren zu können? Ich nenne nur diese drei Punkte. Der dritte geht sofort auch die Versöhnungsichre des nur scheinbar so unmo­ dernen Biblizistcn Gottfried Menken an! Denken wir weiter an die unverfrorene Zuversicht des (von der Zeitgenossenschaft übri­ gens viel mehr als Schlciermachcr gelesenen) Wegscheider, der Gott gerade nur noch den Nagel sein ließ, an den das in sich komplette Gewand der humana ratio zu guter Letzt aufzuhängen ist. Denken wir an De Wette, der ja mit seinem Stichwort „Kritische Anthro­ pologie“ , mit seiner Korrelation zwischen christlichem Glauben und kantisdien Vernunftideen Feuerbach geradeswegs in die Arme zu ® Heißt das etwas Besseres, als was die erste Auflage der Glaubens­ lehre deutlicher dahin erklärt hatte: „daß in den frommen Erregungen Gott nur auf eine innerliche Weise als die hervorbringende Kraft selbst gegeben ist“ § 9, 4 ( = zweite Aufl. § 4, 4).

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laufen scheint. Aber auch an Tholuck mit seiner Proklamation des „Herzens“ als der Stelle der göttlichen Weisheit im Menschen. Aber auch an Marheineke, der um das, was „Offenbarung“ etwa bedeuten möchte, besser Bescheid wußte als Schleiermacher (und alle seine Leute bis auf diesen Tag) und der doch mit dem Zauber­ schlüssel des „Begriffs“ dem Menschen das Instrument in die Hand drückte, mit dem er nach seiner Darstellung auch des sich offen­ barenden Gottes schließlich restlos mächtig wird. Was heißt das alles? Zweifellos, das alles war nicht so trivial gemeint, wie es von Feuerbach als Sinn der ganzen theologischen Bemühung heraus­ gestellt wurde. Aber kann man leugnen, daß das Feuerbach’sche Fazit der Schnittpunkt ist, in dem alle jene Linien unaufhaltsam und aufs genaueste zusammenzutreffen scheinen? Feuerbach selbst wie ein nicht einmal sehr listiger, sondern nur ein bißchen hell­ äugiger Spion, der das esoterische Geheimnis dieser ganzen Priester­ schaft urbi et orbi ausplaudert? „Die Theologie ist längst zur Anthropologie geworden.“ Nehmen wir an, daß dieser Satz eine böswillige, konsequenzenmacherische Verleumdung Schleicrmachers und seiner Generation gewesen sei. Wie kommt es aber nur, muß man trotzdem fragen, daß sie diesem Verdacht so schutzlos preis­ gegeben waren?, daß sie wie blind gewesen zu sein scheinen gegen die offenkundig vorliegende Möglichkeit, ihre Linien in der Rich­ tung des trivialen Feuerbach’schen Schnittpunktes auszuziehen und unfähig, sich wirksam gegen diese Konsequenz zu wehren? Warum haben sie nicht an entscheidender Stelle so geredet, daß die Feuer­ bach’sche Frage sie gar nichts anging? daß die Verleumdung nicht einmal als solche möglich wurde? Und wenn die Augen jener Generation in dieser Hinsicht irgendwie gehalten waren - wird (das ist die Frage, mit der wir von Feuerbach aus weitergehen) von der Generation ihrer Schüler, der Fortsetzer ihres Werkes, von einem Alex. Schweizer, Rief). Rothe, ]. Ch. K. v. Hojmann usf. dasselbe gelten? Oder wird das Theologengcschlccht, in dessen Mitte dieser Spion lebte, die drohende Gefahr wenigstens gleichzeitig auch merken und darum Zeit finden, darüber nachzudenken, wie man etwa Theologie treiben müßte, um jenem schnöden Verdacht nicht ausgesetzt zu sein? Und wenn Feuerbach und seine Frage seinen eigenen Zeitgenossen verborgen oder eindruckslos geblieben

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sein sollte - wie das ja Vorkommen kann —was wird die folgende Generation tun, deren führender oder doch bezeichnendster Mann Albrccht Ritschl heißen wird? „Gott ist wesentlich nur ein Gegen­ stand der Religion, nicht der Philosophie, des Gemüts, nicht der Vernunft, der Herzensnot, nicht der Gedankenfreiheit, kurz, ein Gegenstand, ein Wesen, welches nicht das Wesen des theoretischen, sondern des praktischen Standpunkts ausdrückt*4 (C. 284), auf die­ ser Linie wird sich die Ritschl’schc Theologie doch nicht etwa betreffen lassen? Im Jahre 1900 aber, rund 100 Jahre nach Schleiermachcrs Reden wird ein zweites Mal ein Buch unter dem Titel »Das Wesen des Christentums« erscheinen und sehr viel mehr von sich reden machen als jenes erste. Wird es seinem Verfasser nicht etwas unheimlich sein bei der Wahl gerade dieses Titels? Böse Zungen werden behaupten,7 er möchte das Feuerbach'schc Werk dieses Namens vielleicht gar nicht gekannt haben. Aber das ist doch nicht möglich. Er muß es nicht nur ganz, ganz anders meinen als Feuer­ bach, er muß sich auch mit der durch Feuerbach aufgeworfenen, immerhin ernsthaften Frage - ob dieThcologen der Neuzeit eigent­ lich bewußt die Apotheose des Menschen im Schilde führenf grundsätzlich auscinandcrgesctzt und sich und seine Zeitgenossen von dem bewußten Verdacht gereinigt haben. Wird die Theologie nunmehr, 60 Jahre nach jenem Buch dafür gesorgt haben, daß sie den Rücken nach dieser Seite frei und ein gutes Gewissen hat? Drei Gründe sind es, wenn ich recht sehe, die die Feuerbach’schc Frage, einerlei ob sic von der Theologie des Jahrhunderts gehört und verarbeitet wurde oder nicht, gewichtig und dringlich machte. 1. Sic beleuchtet jedenfalls doch nicht nur die neuere, durch Schleiermachcr repräsentierte Theologie und auch von der älteren nicht etwa nur die Mystik, wenn man auch sagen muß, daß der Schatten des Feuerbach’schen Verdachtes offenbar im Quadrat der Tiefe der mystischen Komponente aller Theologie wachsen muß.8 Es ist für uns protestantische Theologen eine besonders nachdenk­ liche Sache, daß Feuerbach sich mit Vorliebe und doch nicht ohne 7 Overbeck, Christentum und Kultur S. 210 f. 8 Vgl. bei Gottfr. Keller a. a. O. die Stelle über Angelus Silcsius »Che­ rubinischen Wandersmann«.

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allen Schein von Recht auf Luther berufen konnte. Zwei Dinge scheinen ihm bei Luther vor allem Eindrude gemacht zu haben. Einmal Luthers eigentümliches Reden vom Glauben als einer fast selbständig auftretenden und wirkenden göttlichen Hypostase. Was vermag und tut der Glaube nicht alles! Er rechtfertigt nicht nur, er tröstet nicht nur, er wirkt nicht nur - er allein - Liebe und gute Werke, er überwindet auch Sünde und Tod, er macht selig. Er und Gott gehören „zu häufe“ , er macht (als Trauen des Herzens!) beide Gott und Abgott, er kann gelegentlich ein „Schöpfer der Gottheit“ heißen, wenn auch nur „in uns“ . Interpretations- und sicherungs­ bedürftig ist diese überschwengliche Anschauung auf alle Fälle. Ungebrochen dürfte man Luther nach Feuerbach diese Dinge nicht mehr nachreden. Wichtiger ist der zweite Punkt: die Lehre von der Menschwerdung und was damit zusammenhängt. Wenn Feuer­ bach diese christliche Lehre bündig wiedergegeben hat mit der For­ mel: „Gott wird Mensch, der Mensch wird G ott“, so ist diese gewiß brutale Deutung immerhin nicht einfach unmöglich und sinnlos - unter Voraussetzung der spezifisch lutherischen Christo­ logie und Abendmahlslehre. Die genialische Überbetonung, mit der Luther selbst die Gottheit nicht im Himmel, sondern auf Erden, in dem Menschen, dem Menschen, dem Menschen Jesus zu suchen lehrte und mit der ihm das Brot des Abendmahls der verherrlichte Leib des Erhöhten durchaus sein mußte, verfestigt in der lutherisch­ orthodoxen Lehre von der Idiomenkommunikation mit ihrem genus majestaticum ®, wonach eben wirklich der Mensdjheit Jesu als solcher und in abstracto die Prädikate der göttlichen Herrlich­ keit angehören, die Begeisterung, mit der man hier über das refor­ mierte Finitum non capax infiniti jubelnd hinwegschritt (und schreitet!) - das alles bedeutet offenbar die Möglichkeit einer Um­ kehrung von oben und unten, Himmel und Erde, Gott und Mensch, eine Möglichkeit, die eschatologische Grenze zu vergessen, in deren Fruchtbarmachung sich Hegel seinem ausdrücklichen Bekenntnis9 9

Communicatio majestatis, ßcXxUooig, jigogOfixt]

jieyuXi], vjiEQVMjitocng

(lETUÖoaic, 663;aVom Primat des Willens im SelbstbewußtseinTathandlung< selber, sic zeigte zwar an wichtigen nationalpolitischen Punkten Kraft und Linie, doch zuletzt wurde sic allemal Äther. Sic diente am Ende nur dazu, die Welt des Nicht-Ich durch Bearbeitung weniger zu bessern als gänzlich aufzuheben. Sozusagen bewiesen wurde durch diese au fond weltfcindlichc „Praxis** nur der ohnehin ausgemachte subjektive Ausgangspunkt des Fichtcschcn Ich-Idcalismus, nidit aber eine objektive Wahrheit, die sidi mit und an der Welt erst herausbildet. Am nädisten kommt nodi Hegel der Ahnung eines Praxiskritcriums, und zwar bezeichnenderweise auf Grund der Arbeitsbeziehung in seiner Phänomenologie. Weiter geschieht in Hegels Psychologie ein Übergang vom „theoretischen Geist** (Ansdiauung, Vorstellung, Denken) zur Antithese „praktisdicr Geist“ (Gefühl, Triebwille, Glückseligkeit), woraus dann, synthetisch, der

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„freie Geist“ resultieren sollte. Also proklamierte sich diese Syn­ these als der sich wissende Wille, als Wille, der sich denkt und weiß, der schließlich, im „vernünftigen Staat“ will, was er weiß, was er will. Ebenso findet sich schon in der Hegelsdien Logik eine Überordnung der „praktischen Idee“ über die „Idee des betrach­ teten Erkcnncns“ , sofern dieser „nicht nur die Würde des Allge­ meinen, sondern auch des schlechthin Wirklichen“ zukomme (Hegels Logik II, Meiner, S. 478). „Alles das“ , notiert Lenin, „im Kapitel ,Die Idee des Erkennens* . . . , was unzweifelhaft bedeutet, daß bei Hegel die Praxis als Kettenglied in der Analyse des Prozesses der Erkenntnis steht . . . Marx knüpft folglich unmittelbar an Hegel an, wenn er das Kriterium der Praxis in die Erkenntnistheorie ein­ führt; siehe die Thesen über Feuerbach“ (Aus dem philosophischen Nadilaß, Dietz, 1949, S. 133). Indes Hegel führt am Ende seiner Logik, genau so wie am Ende seiner Phänomenologie und des aus­ geführten Systems, die Welt (den Gegenstand, das Objekt, die Substanz) doch fast so ins Subjekt zurück wie Fichte; wonach am Ende doch nicht die Praxis, sondern „Er-innerung“ die Wahrheit krönt, „Wissenschaft des erscheinenden Wissens“ und sonst nichts. Audi kommt nach Hegels berühmtem Satz, am Schluß der Vorrede zu seiner >ReditsphilosophiePragmatismWcscn des Christentums« gewidmet hat.14* Müller kritisiert die Methode Feuerbachs bei der Zeichnung des Christentums. Feuerbach trage willkürlich und unterschiedslos aus Bibel und Kirdicngcschichte die Anschauungen zusammen, die er dem Christentum zuschreibc.15 So gelange er zu einem unzutreffenden Bilde des Christentums. Insbesondere bemüht sich Müller um die Widerlegung der Anklage Feuerbachs, daß der christliche Glaube das Verhältnis des Men­ schen zur Welt zur Bedeutungslosigkeit und Nichtigkeit hcrabsetze.18 Weiterhin wendet Müller gegen Feuerbach ein, daß er dem Begriff der Sclbstoffenbarung Gottes, auf den sich das Christentum 11 Buri, S. 46. »2 Buri, S. 89. 13 Buri, S. 90. u J. Müller, Thcol. Stud. u. Krit. 15, 1842, S. 171-269. Fcucrbadi hat darauf gereizt erwidert: Beleuchtung einer thcol. Rezension vom Wesen des Christentums, Sämtl. Werke, Bd. 1, S. 200-247. i* Müller, S. 200 ff. Müller, S. 218.

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gründet, nicht gerecht werde.17 Sehr deutlich hat er auch die posi­ tivistischen Konsequenzen des Standpunktes Feuerbachs gesehen.18* Über diese im Laufe eines Jahrhunderts mannigfach variierten Ein­ wände gegen Feuerbach hinaus hat die Monographie von Gregor Nüdling lö, die sich auf die umfangreiche Arbeit von Rawidowicz beziehen konnte, einige neue Gesichtspunkte beigebracht. Auch Nüdling tadelt die Methode Feuerbachs sowohl in der Bestimmung dessen, was als Wesen der christlichen Religion zu gelten h a t20, als auch vor allem in der Entwicklung von Feuerbachs eigenen An­ schauungen. Feuerbach nenne seine Methode der Religionskritik empirisch und objektiv, verschweige aber ihr apriorisches und stark subjektives Moment. Er verspreche eine psychologische Analyse, gebe aber in Wirklichkeit eine spekulative Wesens- und Wert­ bestimmung der Religion.21 Die ganze Religionsanalyse Feuerbachs beruhe auf einer persönlichen Entscheidung gegen die Theologie, die man logisch nicht weiter zergliedern könne.22 Nüdling macht sich E. v. Hartmanns Einwand gegen die logische Berechtigung der Methode Feuerbachs zu eigen: „Wenn die Götter Wunschwesen sind, so folgt daraus für ihre Existenz oder Nichtexistenz gar nichts.“ 23 Wichtiger ist, daß Nüdling versucht, den Ursprüngen der Rcligionsthcoric Feuerbachs nachzugehen. Er sicht eine Wurzel in der Hegelkritik Feuerbachs. Bei der kritischen Analyse der idea­ listischen Spekulation enthüllt sich für Feuerbach der Mensch als Träger der Vernunft, die Hegel als das Absolute über den Men­ schen gesetzt hatte. Als einzige Realität, die aller weiteren Zer­ setzung standhält, bleibt der Mensch zurück.24 Von hier aus gelangt Feuerbach zur Illusionstheoric hinsichtlich Gottes und zum Sinn17 Müller, S. 208. >8 Müller, S. 267-269. i» Gregor Nüdling, Ludwig Fcucrbachs Rcligionsphilosophie, Pader­ born 1936. 20 Nüdling, S. 34. 21 Nüdling, S. 156. 22 Nüdling, S. 159. 23 Nüdling, S. 156 f. nadt E. v. Hartmann, Geschichte der Metaphysik, 2. Teil, Leipzig 1906, S. 444. 24 Nüdling, S. 65.

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liehen, Leibhaftigen als der wahren Wirklichkeit. Das Sein wird nicht mehr im Denken zugänglich, sondern in der sinnlichen Erfah­ rung, im unmittelbaren Erleben.15 Die Stellungnahme Feuerbachs gegen den Geist als den Zentralbcgriff des deutschen Idealismus ist der Durchbruch des Überdrusses am Geist, der auch heute noch nicht überwunden ist. Die andere Wurzel seiner Religionskritik ist nach Nüdling die Feuerbachschc Geschichtsauffassung.20 Fcuerbach übernimmt den Hegelsdien Gang der Geschichte als Selbst­ verwirklichung des Geistes. Er setze nur statt des Geistes den Menschen ein.252627 Am Ende der Weltgcsdiichte steht statt des Gottes ( = Geistes), der sich vollendet hat, der Mensch, der zu sich ge­ kommen ist.28 In der Tat wird die Theologie nur dann Feuerbach entgegen­ treten können, wenn sie einerseits sich selbst vom Anthropologismus freihält und andererseits den Qucllpunkt der Anschauungen Feuerbachs zu erkennen trachtet, um von da aus Fragwürdigkeiten seiner Resultate aufzudecken. Gegenüber der These Nüdlings von der Gcschichtstheoric Fcucrbachs als Ursprung seiner Religions­ kritik muß cingcwcndct werden, daß diese Umdcutung der Hegclschen Geschichtsauffassung die Wandlung Feuerbachs schon voraus­ setzt und nicht begründet. 2. Für eine kritische Betrachtung der Fcucrbachschcn Gedanken­ welt geht man zunächst am besten vom »Wesen des Christentums«29 aus, weil hier die Darstellung die eigenen Anschauungen nicht einfach und monumental hinsetzt wie in den »Vorlesungen über das Wesen der Religion«30, sondern eine spekulative Begründung gibt, so daß die Hintergründe des Denkens sichtbarer werden. Im »Wesen des Christentums« untersucht Feuerbach nicht das moderne Scheinchristentum, sondern, wie er sich ausdrückt, das 25 Nüdling, S. 50. 26 Nüdling, S. 114. 27 Nüdling, S. 97-98. 2« Nüdling, S. 112. 2# Ich benutze die Erstausgabe Leipzig 1841, bei Otto Wigand. 30 Gehalten in Heidelberg im Revolutionsjahr Dez. 1848 bis März 1849. Gottfried Keller hörte hier Feuerbach, zuerst als sein Gegner, dann von ihm überwunden und überzeugt.

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klassische Christentum der alten Zeit, als es noch nicht den Kom­ promiß mit der Welt geschlossen hatte, als die Braut Christi noch nicht „in die Dornenkrone ihres himmlischen Bräutigams die Rosen und Myrthen der heidnischen Venus einflocht“ , als sie zwar arm war an irdischen Schätzen, doch im Genuß der Geheimnisse einer übernatürlichen Liebe ihr Glück fand.31 Der Philosoph versucht nun, die christlichen Glaubenswahrheiten durch Interpretation von innen her aufzulösen. Dabei entdeckt er als Geheimnis der christ­ lichen Religion: homo homini deus est. Der Mensch ist der Gott des Menschen. Religion ist die Selbstentfremdung des Menschen, der sein eignes Wesen aus sich herausstellt und als etwas außer sich Existierendes, als Gott anbetet. Religion ist die Beziehung des Menschen zu seinem eigenen Wesen. Sie glaubt im Grunde ihres Herzens an nichts anderes, als an die Wahrheit und Gottheit des menschlichen Wesens. Feuerbachs Buch zerfällt in zwei Teile. Der erste will zeigen, daß die Theologie in Wahrheit nichts anderes sei als Anthropolo­ gie, d. h. Gott ist nichts anderes als das Spiegelbild des Menschen, welches der Mensch aus sich hinausprojiziert und hypostasiert. Das Wissen der Theologie von Gott ist nur ein Wissen des Menschen von sich selbst. Gott und Mensch sind nicht zwei, sondern im Grunde eins, nämlich der in sich zerrissene und entzweite Mensch. Der 2. Teil besteht in einer Darlegung der Widersprüche, in welche sidi die Theologie verwickelt. Die entscheidenden Gedanken finden sich in der Einleitung, die wir darum etwas näher betrachten müssen. Die beiden Hauptteile bringen nur die Anwendung der hier entwickelten Prinzipien auf die einzelnen christlichen Dogmen. Feuerbach beginnt sein Werk mit dem Satz: „Die Religion be­ ruht auf dem wesentlichen Unterschied des Menschen vom Tiere die Tiere haben keine Religion.“ Bereits diese Fassung des von H egel32 übernommenen Gedankens ist charakteristisch: nicht die Religion begründet den Unterschied des Menschen vom Tier, son­ dern umgekehrt, der Unterschied des Menschen vom Tier begründet die Religion. 31 Wesen des Christentums (WChr), S. VII. 32 Rawidowicz, S. 90.

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Welches ist nun der wesentliche Unterschied zwischen Mensch und Tier? Er liegt darin, daß der Mensch Bewußtsein hat. Feuer­ bach gibt eine Analyse des Bewußtseins, die lebhaft an Soren Kierkegaard erinnert. Er bestimmt das Bewußtsein als das Ver­ halten des Menschen zu sich selbst. Dabei verhält sich der Mensch nicht zu sich als Individuum. Er verhält sich zu seiner Gattung, zur Menschheit überhaupt. Indem ich mich zur Menschheit als Gattung verhalte, indem mir denkend die Menschheit zum Gegen­ stand wird, habe ich Bewußtsein.38 Den zweiten Gedankenschritt macht Feuerbach mit einer Defi­ nition des Begriffs der Religion. Religion ist das Bewußtsein des Unendlichen. Das Bewußtsein des Unendlichen ist aber nicht das Bewußtsein von einem Unendlichen außer mir. Das Bewußtsein des Unendlichen ist nichts anderes als die Unendlichkeit des Bewußt­ seins.3334 Hier müssen wir einen Augenblick innehalten, denn hier fällt schon die Entscheidung, auf den ersten Seiten der Einleitung in das Wesen des Christentums. Folgt man Feuerbach erst ein Stück, so gibt es kein Entrinnen mehr. Wer seine Prämissen annimmt, fällt ihm zum Opfer. Feuerbach sagt: Das Bewußtsein des Unendlichen (d. i. die Reli­ gion) ist nur die Unendlichkeit des Bewußtseins. Das bedeutet: Der Mensch ist in sich gefangen. Er kann nicht über sich selbst hinaus. Er braucht es auch nicht, denn der Mensch trägt in sich die Unendlichkeit. Das Motiv, welches die Denkentscheidung Feuer­ bachs leitet, ist die Überzeugung von der Unendlichkeit und Ab­ solutheit des Menschlichen. Der Mensch ist das ens realissimum, das Fundament der Gewißheit, von dem Feuerbach ausgeht. Im Bewußtsein des Unendlichen ist dem Menschen die Unendlichkeit des eigenen Wesens Gegenstand. Indem der Mensch sich zu sich selbst verhält, verhält er sich zu einem Unendlichen - zum Unend­ lichen der Menschheit. Feuerbach macht sich nun daran, die Unendlichkeit des mensch­ lichen Wesens nachzuweisen. Dabei entdeckt er die Unauslotbarkeit 33 WChr., S. 2. 34 WChr., S. 2-3.

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der menschlichen Seele, die unendliche, absolute Tiefe des Dies­ seitigen — Gedanken, die uns von Maeterlinck und Rilke her ver­ traut sind, die aber Feuerbach lange zuvor gedacht hat. Im Menschen ist etwas über dem Menschen, der Mensch ist über sich selber hinaus - das ist ein Zeichen seiner Unendlichkeit. Zu einem vollkommenen Menschen gehört die K raft des Denkens, die K raft des Willens, die K raft des Herzens; Vernunft, Wille, Liebe sind im Menschen über ihm. „Wer hätte nicht die Macht der Liebe erfahren oder wenigstens von ihr gehört? Wer ist stärker? die Liebe oder der individuelle Mensch? Wenn die Liebe den Menschen bewegt, selbst mit Freuden für den Geliebten in den Tod zu gehen, ist diese den Tod überwindende K raft seine eigne individuelle K raft oder nicht vielmehr die K raft der Liebe? Und wer, der je wahrhaft gedacht, hätte nicht die Macht des Denkens, die freilich stille, geräuschlose Macht des Denkens erfahren? Wenn du in tiefes Nachdenken versinkest, Dich und was um Dich vergessend, beherr­ schest Du die Vernunft oder wirst Du nicht von ihr beherrscht und verschlungen?.“ 35 Die Unendlichkeit, die der liebende, wollende, erkennende Mensch außer sich wähnt, ist nichts als die Unendlichkeit seines eignen Innern, die unendlichen Pfade, welche er, zu sich selbst gewendet, in das Geheimnis der Menschheit hineingeht. „Denkst du das Un­ endliche, sagt Feuerbach, so denkst und bestätigst du die Unend­ lichkeit des Denkvermögens, fühlst du das Unendliche, so fühlst und bestätigst du die Unendlichkeit des Gefühlsvermögens.“ 30 Im 2. Kapitel der Einleitung untersucht Feuerbach das Wesen der Religion im allgemeinen. Religion ist die Selbstanbetung des Menschen. Er stattet Gott mit den Schätzen seines eigenen Innern aus. Religion ist Wunscherfüllung. Die in der Einleitung hcrausgearbeiteten Grundgedanken wendet Feuerbach in eintönig erregter Sprache, wie Gottfried Keller im >Grünen Heinrich« sagt, auf alle religiösen Phänomene an. Die Liebe Gottes zum Menschen ist die vergötterte Selbstliebe des Men­ schen. Wenn der Mensch die Persönlichkeit Gottes feiert, so feiert 35 WChr., S. 5. 3« WChr., S. 12.

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er nur die Übernatürlichkeit, Unsterblichkeit, Unabhängigkeit und Unbeschränktheit seiner eignen Persönlichkeit. Der Gedanke an das Jenseits ist nur der Wunsdi nach einem Diesseits, das von seinen Schranken und Übeln befreit ist. 3. Um die Frage zu lösen, wie Feuerbach zu seiner Entscheidung gekommen ist, welche die Wirklichkeit von der Seite Gottes auf die Seite des Menschen verlegt, soll nun ein Blick auf das Anfangs­ stadium seines Denkens geworfen werden. Hier bietet sich außer der Dissertation 37 die in der Feuerbachforschung etwas am Rande stehende Schrift an: Gedanken über Tod und Unsterblichkeit aus den Papieren eines Denkers, nebst einem Anhang thcologischsatyrischer Xcnien, herausgegeben von einem seiner Freunde, Nürnberg 1830, bei Johann Adam Stein.3839Rawidowicz 30 hat auf den Unterschied zwischen der anonymen Erstausgabe von 1830 und der in Fcucrbachs Sämtlichen Werken 40 abgedruckten Fassung hingewiesen. Fcucrbach hat die spätere Ausgabe nicht nur stark gekürzt und gestrafft, vor allem, um die Hcgelsche Färbung der Erörterungen zu verwischen. Er hat auch ganze Abschnitte um­ gestellt 4142 und Zusätze gemacht.43 Wir betrachten an Hand der Erstausgabe den Gottesbegriff des frühen Feuerbach, sodann einige Anschauungen, welche den späteren Feuerbach anzukündigen scheinen und endlich das Verhältnis des Menschen zu Gott, wie es sich dem jungen Philosophen darstcllt. a) In einem streng spekulativen Gedankengang entwickelt der junge Feuerbach seinen Gottesbegriff. Gott ist das Unbcsdiränkte und Unendliche.43 Dabei dürfen, genau wie bei Hegel, Endlidies 37 De rationc una, univcrsali, infinita, Erlangen 1828. 38 Im Folgenden zitiert als „Gedanken“ . Vgl. zu dieser Schrift Rawi­ dowicz, S. 20-33, und Franco Lombardi, Ludovico Feuerbach, Florenz 1935, S. 42-70. 39 Rawidowicz, S. 21. 40 Bd. 3, Leipzig 1847, S. 1-90. S. 13-19 Werke entspricht S. 133-140 Erstausgabe. 42 Eine kritische Ausgabe dieser äußerst selten gewordenen Schrift wäre sehr zu wünschen. Neu ist in der 2. Fassung auch die Einteilung in 6 Abschnitte mit den Überschriften. ■»3 Gedanken, S. 32.

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und Unendliches nicht nebeneinanderstehend gedacht werden. Denn dadurch, daß es ein Endliches neben sich hätte, würde das Unend­ liche begrenzt, also endlich. Das ist der Sache nach das, was H egel44 die schlechte Unendlichkeit nennt, obwohl dieser Begriff in der Schrift Feuerbachs fehlt. Das Unendliche verneint vielmehr das Endliche, muß es in sich aufheben, um wahrhaft Unendliches zu sein. So ist das Unendliche die Nichtigkeit, der Untergang, der Tod des Endlichen. In Gott ist der Tod.45 Der zeitliche, sinnliche Tod ist nur die Erscheinungsform des ewigen, übersinnlichen Todes, der Gott selbst ist.46 Gott ist der unbestimmt unendliche Grund des Todes.47 Dieser Gottesbegriff trägt pantheistische Züge. Gott ist nicht bloß Fürsichsein, nicht bloß Person.48 Er ist Person zugleich und alle Wesen. Indem Gott von sich selbst weiß, unterscheidet er sich von sich, und dies von seiner Persönlichkeit unterschiedene und doch wieder zur Einheit zusammengefaßte Wesen ist die Natur. Die Natur ist, hegelisch ausgedrückt, das Anderssein Gottes. Gott ist selbst Natur. Feuerbach verteidigt den Pantheismus schon in seiner Dissertation und auch in den >GedankcnC. Gottes Allmacht en den Wünschen des Menschen«; >D. Inkarnation ist die Versinnlich menschlichen Wunschvorstellungen von Gott«; >E. Luthers Gott halb Christus*«; »F. Glaube ist Selbstliebe«. Es folgen »Feuerbac sichtspunktc und das Luthermaterial« (224-229) und eine - met wie sachlich nicht überzeugende - »Konfrontation mit Luther« (22

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in der Luther für Feuerbach liegt bzw. - um gleich den entschei­ denden Punkt hervorzuheben - aus der er herausfällt.

Diese Perspektive läßt sich am klarsten aus dem Duktus der »Grund­ sätze« erkennen: Seinem von Hegel übernommenen Geschichtsbegriff entsprechend will Feuerbach nicht appellieren oder postulieren, sondern analysieren, um lediglich das Fazit aus der schon geschehenen Menschheits- und Geistesgesdiichte zu ziehen (vgl. den u. zitierten und Anm. 73 nachgewiesenen Text). Demgemäß nimmt er seine früheren philosophie­ geschichtlichen Arbeiten auf, um seine Hcgclkritik zugleich als Ausein­ andersetzung mit der ganzen Geschichte der neuzeitlichen Philosophie - vor allem in ihrem rationalistischen Strang - zu führen. Die Dar­ stellung, die sich von den 5$ 19 f und 1-5 aus erschließt, faßt sich äußerst knapp im $ 1 zusammen. Er enthält kein Programm, sondern ein Fazit. Dieses ergibt sich positiv aus der Geschichte des Protestantismus und seiner Christologie, die als .religiöse Anthropologie“ die .praktische Weise“ der .Verwandlung und Auflösung der Theologie in die Anthro­ pologie“ darstellt ($ 2). Per negationem folgt es aus der Geschichte der neuzeitlichen Metaphysik, insofern diese sich nicht des fortschrittlichen, sondern des rückständigen Moments der Reformation, nämlich der Ascität Gottes und damit des eigentlich Theologischen ($ 3) annahm, das sie freilich in das Wesen der Vernunft auflöste. Daran ist zwar die Auf­ lösung als notwendig zu begrüßen. (Es ist .eine innere, eine heilige Notwendigkeit, daß das von der Vernunft unterschiedene Wesen der Vernunft endlich mit der Vernunft identifiziert, das göttliche Wesen also als das Wesen der Vernunft erkannt, verwirklicht und vergegen­ wärtigt werde. Auf dieser Notwendigkeit beruht die hohe gesdsichtliche Bedeutung der spekulativen Philosophie.“ [$ 6]) Scharf zu kritisieren ist iber, daß diese .Verarbeitung und Auflösung“ als rationale und .theo­ retische“ erfolgte (§ 4) und eben darin, in ihrer Abstraktion vom sinnlichkonkreten Menschen, immer noch theologisch blieb (§ 5; vgl. weiter bes. 5 21), während der Protestantismus in seiner Christologie schon längst die Philosophie der Zukunft, die Anthropologie verwirklichte und damit die Theologie praktisch negierte. Feuerbach beansprucht Luther also als Anwalt seiner eigenen \nthropologie im Streit gegen die vom sinnlichen Menschen das Denken abstrahierende neuzeitliche Metaphysik.30 Hegel hat für 30 Im Sinne seiner These, .daß der Gott an sich eigentlich nichts ist, tls Gott als metaphysisches Wesen, d. i. als reines, affektloscs Gedanken-

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Feuerbach diese Metaphysik nicht nur überwunden, sondern auch vollendet, mithin aber nur widerspruchsvoll überwunden.51 Zwar will er, was Feuerbach nachdrücklich betont und anerkennt, die Wahrheit des Konkreten und Wirklichen begreifen: als das, was als das Andere und Widerständige außerhalb des Denkens ist. Doch: „Er negiert das Denken, nämlich das abstrakte Denken, aber selbst wieder im abstrakten Denken, so daß die Negation der Ab­ straktion selbst wieder eine Abstraktion ist.“ 52 Womit dann Marx, bei aller Kritik an Feuerbach und trotz anderer Intention, mit ihm übereinstimmt, wenn er gegen Hegels Prinzip der Aneignung geltend macht, daß diese das „Andere“, den Gegenstand, zwar in Gedanken aufhebt, in Wirklichkeit aber gerade bestehen läß t55, d. h. - und nur hier liegt das Gemeinsame der Hegelkritik beider in Wirklichkeit gar nicht erreicht, weil nicht von ihm ausgeht. Mit seinem Einwand hat Feuerbach in der Tat einen entschei­ denden Mangel der Philosophie Hegels erkannt: daß nämlich die Materie, das Nicht-Denken, das Andere des Denkens, bei ihm wesen“ (56 f.), sagt Feuerbach von Luther: Er „war ein Feind der Meta­ physik, ein Feind der Abstraktion, ein Feind der Affcktlosigkeit —,Gott hasset und verachtet, sagt Luther Th. III. S. 266, die harte Apathie'.“ (57. Feuerbach zitiert hier, wie immer in der Lutherschrift, nach der Leipziger Lutherausgabe [1729-40]; vgl. seine Anmerkung S. 2.) 81 Hegel überwindet die neuzeitliche Verobjektivierung und Isolie­ rung Gottes, in der dieser dem Menschen ein feststehendes Gegenüber war. Aber er vollendet die Geschichte der neuzeitlichen Metaphysik da­ durch, daß er bei jener Überwindung im Raum des Denkens ansetzt und aufhört und so (trotz des Willens, die Wahrheit „des Konkreten oder Wirklichen“ anzuerkennen: »Grundsätze«, § 30; s. o.) aus ihm nicht wirk­ lich herauskommt. Vgl. Feuerbachs grundlegende Arbeit »Zur Kritik der Hcgclschcn Philosophie« (1839; Kleine Schriften [s. o. Anm. 3], 78-123), die die »Grundsätze« in ausführlichen Erörterungen vorbereitet. 52 »Grundsätze«, § 30. Vgl. den parallelen Schlußsatz dieses Paragra­ phen: „Hegel ist ein sich im Denken überbietender Denker - er will das Ding selbst ergreifen, aber im Gedanken des Dings, außer dem Denken sein, aber im Denken selbst - daher die Schwierigkeit, den ,konkreten* Begriff zu fassen.“ 55 Nationalökonomie und Philosophie, 1844 (Frühschriften, hg. v. S. Landshut, 1953, 279). Vgl. Bayer, a, a. O. (s. Anm. 23) 459. 463.

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eben nur im Denken Geltung erlangt.54 Dies besagt für die Sprache, daß sic in ihrer sinnlich-lautlichen Konkretion und Situationsbezogenheit allein als das Andere des Denkens in Frage kommt. Das Anderssein des Wortes gegenüber dem Denken wird von Hegel eben im Denken erfaßt - so, daß das Denken in seiner Äußerung: im Wort als seinem Anderssein bei sich selber ist.55 Im Blidc auf eben das Sprach- und Wortverständnis muß man bestreiten, daß Hegel sich zu Recht auf die Reformation berufen hat. Feuerbach steht an diesem entscheidenden Punkt viel näher bei Luther als Hegel. Ja , er entdeckte - sieht man einmal von Hamann 55 und vielleicht noch Herder ab - Luthers im Rationalis­ mus der Orthodoxie und der Aufklärung sowie in der Innerlichkeit des Pietismus vergessenes Verständnis des Wortes gleichsam neu uzw. sah sich in ihm bestätigt.

2. Das äußere Wort a) Hegel beginnt und endet im Denken.57 Feuerbach dagegen ivill von dem „sinnlich gegebenen D u“ 58 ausgehen, von der „ Rea1ität des Unterschieds von Ich und D u“ .5*

54 Vgl. die »Grundsätze«, § 21 (den Mittelteil: Kleine Schriften [s. o. Anm. 3], 175). 35 Vgl. W. Marx, Absolute Reflexion und Sprache (in: Natur und 5cschiditc. Karl Löwith zum 70. Geb., 1967, 237-256), sowie die wei:ere, dort Anm. 1 genannte Lit. zum Thema „Hegel und die Sprache“. 88 Vgl. Bornkamm, a. a. O. (s. Anm. 9) 21-24, und die ebd. angeführte Lit., bes. E. Metzke, J. G. Hamanns Stellung in der Philosophie des 18. Jh.s (SGK 10, 3), (1934) *1967, 243-252 (über »Sprache und Wort«). 57 Nicht nur die Hcgclsche »Logik«, sondern auch die »Phänomenolo;ie< beginne „mit einem unvermittelten Widerspruch, einem absoluten 3ruch mit dem sinnlichen Bewußtsein; denn sic beginnt . . . nicht mit dem \ndersscin des Gedankens, sondern mit dem Gedanken von dem Anders­ ein des Gedankens, worin natürlich der Gedanke schon im voraus des iieges über seinen Gegenpart gewiß ist“ : Zur Kritik der Hegelschen Phiosophie, a. a. O. (s. Anm. 31) 107. Vgl. die »Grundsätze«, § 28. 38 »Grundsätze«, § 41. 3® Ebd. § 59.

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„N ur durch Mitteilung, nur aus der Konversation des Menschen mit dem Menschen entspringen die Ideen. Nicht allein, nur selb­ ander kommt man zu Begriffen, zur Vernunft überhaupt. Zwei Menschen gehören zur Erzeugung des Menschen - des geistigen so gut wie des physischen: die Gemeinschaft des Menschen mit dem Menschen ist das erste Prinzip und Kriterium der Wahrheit und Allgemeinheit. Die Gewißheit selbst von dem Dasein anderer Dinge außer mir ist für mich vermittelt durch die Gewißheit von dem Dasein eines anderen Menschen außer mir. [Dies und das Folgende richtet sich deutlich gegen Descarres.] Was ich allein sehe, daran zweifle ich; was der andere auch sieht, das erst ist gewiß.“ 40 Im Sinne dieser den Kern von Feuerbachs eigener Position dar­ stellenden Anthropologie41 heißt es nun in der Lutherschrift: „Was ich selbst nur von mir sage und denke, ist - möglicher Weise wenig­ stens - Einbildung; was aber auch der Andere von mir sagt, ist Wahrheit.“ „Sagen sagt sehr viel; Sagen macht aus Nichts Etwas. Die Schöpfung aus Nichts ist nicht umsonst die Allmacht des Worts. Noch mehr als Kleider machen Worte Leute.“ Viele sind „so lange Nichts, bis ihnen eine Stimme von Außen zuruft, daß sie Etwas sind“ (70). Feuerbach fragt: „Woher aber diese Macht des von einem andern Menschen ausgesprochnen Wortes . . . ? “ und antwortet: Daher, „daß es das Wort eines außer mir existierenden, andern, gegen­ ständlichen Wesens ist“ (71). Er besteht also gegen die Idealisten wie Luther gegen die Schwärmer - auf dem äußeren Wort als dem Ausschlaggebenden und führt dazu sogar, als eigenes Argument (ohne es als Zitat zu kennzeichnen), Röm 10, 17 an: „Der Glaube kommt aus dem Gehör; der Glaube stützt sich auf das Wort.“ (70) Sieht man zum Vergleich auf das Sprachverständnis unter sich so verschiedener Geister wie K a n t42, H egel43 und selbst Schleier-4 4« Ebd. § 41. 41 Zu ihr als ganzer: K. Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, (1928) *1969. 42 Kant spricht sich gegen „eine bestimmte empirisch erteilte Zusage“ und entsprechend gegen einen „empirischen Glauben“ aus (Der Streit der Fakultäten; Werke, hg. v. W. Weiscfjedel, IX, 314). „Eine unmittelbare göttliche Offenbarung, in dem tröstenden Ausspruch: ,dir sind deine

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macher44, dann läßt sich ermessen, zu welch neuer Auffassung Feuerbach gelangt ist. Über seine Nähe zu Luther an diesem ent­ scheidenden Punkt kann man zunächst nidit genug staunen. b) Freilich darf man dabei nicht den Unterschied übersehen. Es wird nach Feuerbach dem Menschen nämlich nur das gesagt, was er „selbst im Stillen von sich denkt, aber für sich selbst sich nicht getraut, zu sagen“ (69 f.). Vom äußeren Wort gilt, daß es „das­ selbe sagt, was ich mir selbst sage oder wenigstens sagen kann“ (71). Der Andere bestätigt nur, was ich selbst denke (70). Er dient der Vergewisserung meiner selbst, so daß man bezweifeln muß, ob er für Fcucrbach wirklidi, wie cs den programmatischen Sätzen seiner „neuen Philosophie“ , seiner Anthropologie, entspräche, der Aus­ gangspunkt ist und die Priorität behält, ob also der von Feuerbach so sehr betonte Unterschied von Ich und Du in seiner Realität tatsächlich gewahrt bleibt, oder ob der Andere nidit doch nur als Mittel zur Vergewisserung meiner selbst gebraucht wird: als Mittel zur Selbstfindung, das im Gebrauch aufgezehrt wird und als das Andere verschwindet - so, daß ich dem Andern nicht ant-wortc, sondern mittels seiner nur mir selber entspreche. Dann aber müßte man gegen Feuerbach selbst den nämlichen Vorwurf erheben, den er gegen Hegel vorgebracht hatte. Sünden vergeben', wäre eine übersinnliche Erfahrung, welche unmöglich ist.“ (Ebd.) Es gilt vielmehr das verbum internum: „Der Zuruf geschieht an den Menschen durch seine eigene Vernunft, sofern sic das übersinn­ liche Prinzip des moralischen Lebens in sich selbst hat.“ (Ebd. 313) Den eigenen Zuruf selbst zu vernehmen, gelingt dem, dessen „Kräfte nur schlafen, aber darum nicht erloschen sind“. Sein sich selbst Vernehmen ist ein „Tun, welches keines äußeren Einflusses bedarf“ (ebd. 313 f.). « S.o. II, 1. ** Für Schleiermachcr ist das Wort zwar notwendiger, aber gleichwohl sekundärer Ausdruck primären inneren religiösen Lebens: „Aussage . . . über ein unmittelbares Existcntialvcrhältnis“ : Erstes Sendschreiben an Lücke (Sämtl. Werke, 1835 ff., 1/2, 586). Vgl. Der christliche Glaube, § 15. Nach dem Schlußsatz der Erläuterung dieses Paragraphen „haben die Glaubenssätze aller Form ihren letzten Grund so ausschließlich in den Erregungen des frommen Selbstbewußtseins, daß, wo diese nicht sind, auch jene nicht entstehen können“.

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• 3. Das Vater-Kind-Verhältnis Es stellt sich die Frage, ob der aufgewiesene Widerspruch zwi­ schen der Betonung der Eigenständigkeit des Du auf der einen Seite und dessen möglicher Auflösung zum Mittel der Selbstfindung auf der andern Seite ungeklärt stehen bleibt. Beide Seiten ver­ mitteln sich jedoch, wenn man den Faktor der Zeit beachtet. Er ist impliziert im Vater-Kind-Verhältnis, mit dem Feuerbach sehr eindrücklich argumentiert. Der Vater ist der exemplarische Träger des äußeren Wortes. „Der Vater ist, sagt, was das Kind sein soll, sein kann, sein wird. Der Vater ist der natürliche Wahrsager des Kindes; er ist die an ihm bereits erfüllte Verheißung der dem Kinde bevorstehenden und in der Hoffnung und Vorstellung bereits vorschwebenden Zukunft.“ (72) Der Unterschied zwischen Du und Ich, zwischen Vater und Kind, besteht darin: Im „Vater ist als Gegenstand vor­ handen, was im Kinde als Anlage, dort Sein, was hier Ziel des Werdens, dort ein Gegenwärtiges, was hier ein Zukünftiges, dort Wirklichkeit, was hier Wunsch und Streben“ (72). Der Vater dient dem Kind dazu und das Kind gebraucht den Vater dazu, Distanz von sich zu gewinnen, um in dieser Distanz und durch sie die eigenen Möglichkeiten wahrzunehmen. Die D iffe­ renz zwischen beiden besteht nur, um überwunden zu werden. Sic ist das notwendige Mittel für den Menschen, seinen eigenen Mög­ lichkeiten zu begegnen, ihrer innezuwerden und sie zu verwirk­ lichen - das notwendige Mittel für den Menschen, mit sich selbst identisch zu werden.

4. Die Not des Menschen und Gottes Notwendigkeit Das Vater-Kind-Verhältnis ist kein zufälliges Beispiel zur Ver­ anschaulichung des Gottesglaubens, sondern unverzichtbar für das analogische Reden des Glaubens von Gott.45 Feuerbach greift die 45 Vgl. aber die dieser Behauptung widersprechenden Argumente W. Pannenbergs: Wie kann heute glaubwürdig von Gott geredet wer-

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Analogie auf und entnimmt ihr das Recht, von der sozialen Ent­ wicklungsgeschichte des Menschen in onfogcnetischcm Sinn aus eine ihr streng entsprechende Entwicklungsgeschichte des Menschen in p/?>/ogenctischcm Sinn als Religionsgeschichte anzunchmcn46 hierin das wichtigste gcschichtsphilosophischc Motiv der Aufklärung weiterführend und das Grundmuster der Frcudschen Rcligionskritik vorwegnehmend. Wie das Kind den Vater, so braucht die Menschheit in ihrer Entwicklungsgeschichte Gott, um erwachsen, um mündig zu werden. Der Mensch hat Gott durchaus nötig: zur Verwirklichung seiner eigenen Möglichkeiten, dazu, um zu sich selbst zu kommen. Und er gebraucht ihn als Mittel zu dieser Sclbstfindung. „Gott ist der Gegenstand des Menschen, der ihm sein eignes Wesen vorhält, der dem Menschen nur zuruft, was er selbst ist, zwar nicht den Sinnen, dem Leibe, der Wirklichkeit, aber seinen Wünschen, seinem Verlangen nach“ (73), d. h. der Möglich­ keit nach. Gott ist der Inbegriff dessen, was wir der Möglichkeit nach schon immer, der Wirklichkeit nach aber noch nicht sind. In diesem Sinne ist Gott der Inbegriff menschlicher Wünsche und Sehnsüchte. In der Zusage ihrer Erfüllung, die dem Menschen als Gott selber entgegentritt, gewinnt der Mensch Klarheit und Gewiß­ heit über seine eigenen unerfüllten Wünsche. „Was ist also Gott? - die Seligkeit des Menschen als erfülltes, wirkliches, d. i. gegenständliches Wesen. Gott ist die Zusage, die Verheißung und zwar die bereits bestätigte, nicht mehr bezweifel­ bare Verheißung Deiner Seligkeit.“ (73; bei Fcucrbach teilweise hervorgehoben.) Als - freilich nur vorstellungsmäßige - Realisierung 47 dessen, was wir noch nicht sind, aber werden und werden sollen, ist in der den? (Dt. Ev. Kirchentag Stuttgart 1969. Dokumente, hg. im Auftrag des Präsidiums des Dt. Ev. Kirchentags, 1970, 144-157), 153. 4® Auf sich darauf beziehende Stellen in Feuerbachs Werk außerhalb der Lutherschrift hat Sdnieider hingewiesen und sie behutsam, doch der Sache nach deutlich auf die entsprechenden Argumente der Rcligionskritik Freuds bezogen: a. a. O. (s. Anm. 12) 45 Anm. 27; 63 Anm. 162; 223 Anm. 69; 251-255. Vgl. auch 209 f. 47 An diesem Punkt herrscht bei Fcucrbach eine erhebliche Unklarheit: Einerseits besteht die Realisierung unserer Wünsche ( = Gott) nur in der

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Feuerbachschen Anthropologie des Noch-Nicht „G ott“ als das Noch-Nicht des Menschen ontologisch gleichursprünglich dem Schon-Jetzt des Menschen. Genauer gesagt: dem Schon-Jetzt onto­ logisch nachgeordnet.48 Wie nach Aristoteles die Möglichkeit ihre Modalität im Noch-Nicht-Sein hat und insofern in ihrem Begriff vom Sein als dem schon Verwirklichten her gewonnen ist, so grün­ det für Feuerbach das Sein Gottes als Noch-Nicht-Sein des Men­ schen im schon verwirklichten, aber eben noch entwicklungsbedürf­ tigen, noch mangelhaften Schon-Jetzt-Sein des Menschen49; gründet die Notwendigkeit Gottes in der Anlage des Menschen, der noch Mangelwesen ist, in seiner Bedürftigkeit und Abhängigkeit.50 In der Not des Menschen gründet Gottes Notwendigkeit.

Vorstellung. Was aber nur in der Vorstellung besteht, ist nicht realisiert, nicht sinnlich gegeben, d. h. aber: weder klar noch gewiß. Andererseits aber wird von der Vorstellung gesagt, sie sei „ausgesprochen, zugesagt, verwirklicht“ (73; m. m.) - freilich nur illusorisch. Aber ist sie dann wirklich „zugesagt“? Zur Zusage, zum äußeren Wort, gehört doch die (sinnliche!) Gewißheit! 48 „Der ,Grund' Gottes liegt außer Gott, liegt im Menschen: Gott setzt den Menschen voraus . . . Ein Gott ohne Mensch ist ein Gott ohne Not, aber ohne Not ist ohne Grund“ (58). 40 Anders als in diesem aristotelischen Begriff der Bewegung als der Sclbstvcrwirklichung der Welt läßt sich der Zusammenhang der bei Feuerbach zu beobachtenden zwei verschiedenen Argumentationsreihen, nämlich der einer via negationis (1-14. 66-68: „Gott“ ist der Inbegriff dessen, was die Menschheit nicht ist, was sie in ihrem Mangel ist) und der einer via eminentiae („Gott“ ist der Inbegriff dessen, was die Mensch­ heit in ihrer Fülle ist: s. z. B. § 12 der »Grundsätze«), wohl kaum ver­ stehen. Die Ambivalenz der beiden Wege äußert sich existential in der Unterscheidung von Glaube und Liebe im Sinne Feuerbachs: s. u. II, 8. 50 „Jedem Mangel im Menschen steht eine Vollkommenheit in Got gegenüber: Gott ist und hat gerade das, was der Mensch nicht ist und hat. Was man Gott beilegt, wird dem Menschen abgesprochen, und um­ gekehrt, was man dem Menschen gibt, entzieht man Gott . . . Die Nidjtigkeit des Mensdsen ist die Voraussetzung der Wesenhaftigkeit Gottes; Gott bejahen heißt: den Menschen verneinen, Gott verehren: den Men­ schen verachten, Gott loben: den Menschen schmähen.“ (2) Der von 1-14 reichende Abschnitt und mit ihm das corpus der Schrift hatten so be­ gonnen: „Gott und Mensch sind G egen sätze(1)

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„N ur in dem Munde der Not, des Elends, des Mangels hat das Wort: Gott Gewicht, Em st und Sinn." (7) „Die Göttlichkeit, die Preis- und Anbetungswürdigkeit Gottes beruht eben nur darauf, daß Er das hat, was wir nicht haben; denn was man selbst hat, schätzt und preist man nicht . . . Selig preist nur der Gefangene den Freien, der Kranke den Gesunden. Seligkeit existiert nur in der Phantasie, nicht in der Wirklichkeit, nur in der Vorstellung vom Besitz, nicht im Besitze selbst“ - nur „als Gegenstand der Vorstellung, nur in der Entfernung, der Trennung“ (6). „Was also Gott ist, das kann unmöglich der Mensch sein, wenn nicht Gott ein bloßer Luxusartikel sein soll. Diese Unmöglichkeit, diese Notwendigkeit, daß jede Bejahung in Gott eine Verneinung im Menschen voraussetzt, ist die Grundlage, worauf Luther sein Gebäude aufgeführt“ hat (7; vgl. 58).61 Im Sinne der aus der idealistischen Prämisse von Fcucrbachs Rcligionskritik, der Identitätsprämisse, notwendig folgenden bzw. in ihr schon inkludierten - prinzipiellen Umkehrbarkeit des Gott-Mcnsch-Verhältnisscs setzt die Bejahung in Gott, wie Feucrbach bei Luther bestätigt findet, die Verneinung im Menschen vor­ aus. Und umgekehrt folgt aus der Bejahung in Gott die Vernei­ nung des Menschen, insofern der Mensch über das, was er nicht hat, über seine Wünsche also, erst mittels des ihre Erfüllung zuVgl. aus dem Zusatz 2 zu den »Vorlesungen über das Wesen der Reli­ gion«, einem Fragment einer geplanten selbständigen Schrift, die später (1857) als »Theogonic« veröffentlicht wurde: „Was ist aber das Bedürf­ nis anders, als der pathologische Ausdruck der Abhängigkeit? Bemerken muß ich bei dieser Gelegenheit, daß der Anfang im »Wesen des Glaubens [im Sinne Luthers]«, desgleichen im »Wesen des Christentums« vom Ge­ gensatz des Menschlichen und Göttlichen und der Anfang im »Wesen der Religion« vom Abhängigkeitsgefühl auf Eines hinausläuft, nur daß jener Gegensatz mehr der Reflexion, der Besinnung über das Abhängigkeits­ gefühl seine Existenz verdankt.“ (Bolin/Jodl VIII, 367) Trifft cs zu, daß der ursprüngliche Schluß der Lutherschrift das Abhängigkeitsgefühl zum Thema hatte (s. o. Anm. 28), dann liegen, im Sinne dieser späte­ ren Stelle, Anfang und (ursprünglicher) Schluß der Lutherschrift inein­ ander. 51 S. o. Anm. 50.

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sagenden Gottes Gewißheit erlangt 52, weil erst diese Zusage sie ausspricht, weil erst die Bejahung die Verneinung erkennen läßt. Ist Gott also für den Menschen - noch! - notwendig? Ja , aber eben für den Menschen! Es kommt jedoch alles darauf an, jene zugesagte und so dem Menschen vorgestellte Realisierung seiner Wünsche nicht in der Zusage und Vorstellung zu belassen, sie nicht als gegeben zu nehmen, sondern als aufgegeben, so daß die Reali­ sierung als bloß vorgestellte und darin illusionäre verschwindet und zur sinnlich wirklichen, zur wirklich sinnlichen wird.

5. Das rcformatorische „pro me“ oder: Die Aneignung Gottes In der menschheitsgeschichtlichen Bewegung, in der die Differenz zwischen vorgestellter menschlicher Möglichkeit und unmittelbar gegenwärtiger Wirklichkeit verschwindet, geschieht die „Verwand­ lung und Auflösung der Theologie in die Anthropologie“ , ereignet sich die Aneignung Gottes. In ihr besteht nach Feuerbach das „Wesen des Glaubens im Sinne Luthers“ . Es ist die Bedingung der Möglichkeit solcher Aneignung, daß Gott und Mensch vorgängig aufeinander angelegt und via negationis aufeinander bezogen sind: „Gott ist, was Du nicljt b ist. . . Und Er ist, was Du nicht bist, eben deswegen, weil Du es nicht bist.“ (14) 53 Denn weil Gott „hat, was Dir fehlt, gehört“ er „zu Dir selbst“ (14), ist „wesentlich ein Gegenstand für Dich“ (14). Feuerbach stützt sich dafür nachdrücklich auf das berühmte rcformatorische „pro me“ bzw. sieht sich in ihm zu seinem Vor­ gehen voll legitimiert. Er nimmt damit Luthers Theologie in dem Bezug auf, der auch Hegel wichtig war.54 „Nicht daß Christus Christus, daß er Dir Christus, nicht daß er gestorben, daß er ge­ litten, daß er Dir gestorben, Dir gelitten - das ist die H aupt­ s a c h e ,(16) Das Ziel des Christusgeschehens wird zu dessen Grund, der Adressat dessen Ätiologie: eine Umkehrung, die für Feuerbach deshalb möglich ist, weil er von einer von vornherein gegebenen 52 S. o. Anm. 47. 53 Vgl. als Interpretation o. II, 4. 54 S. o. I (zu Anm. 23).

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Identität beider im Sclbstbcwußtscin des Menschen ausgeht. So heißt cs, ganz im Gegensatz zur Grundthese seiner Anthropologie: „Nicht also außer uns, nicht im Gegenstände, sondern in uns liegt der Zweck und Sinn des Glaubensgcgenstandcs.“ (1 6 )5556 Aufgrund seitenlanger Lutherzitate behauptet Feuerbach in immer neuen Wendungen allein das eine: „Gott ist ein Wort, des­ sen Sinn nur der Mensch ist.“ (18) Ja, seine ganze Schrift faßt sich zusammen in dem Satz: „Das Wesen des Glaubens im Sinne Luthers besteht . . . in dem Glauben an Gott als ein sich wesentlich auf den Menschen beziehendes Wesen.“ (18) Damit ist für Feuerbach erwiesen, daß Luther - praktisch! - die Theologie in die Anthropologie verwandelt und aufgelöst hat. So heißt es im Blick auf das „pro me“ : „Luther erst hat das Geheim­ nis des christlichen Glaubens ausgeplaudert.“ (17 f.) Und entspre­ chend der Zuordnung des „pro nobis“ und „in nobis“ bei Luther folgert Feuerbach aus dem ersten das zweite bzw. sicht in diesem jenes begründet: „In Uns liegt der Schlüssel zu den Glaubcnsmystcricn, in Uns ist das Rätsel des christlichen Glaubens aufge­ löst.“ (18) Hier zeigt sich wiederum die Mitte von Feuerbachs anthropolo­ gischer, d. h. „auf den Menschen gegründeter“ (29 Anm.) Anschau­ ung, wie sic im Grundsatz seiner »Grundsätze« formuliert ist. „Glauben heißt nichts andres als das: Es ist ein Gott, ein Christus in das: Ich bin ein Gott, ein Christ verwandeln.“ (68) Es ist deutlich, daß es Feuerbach darauf ankommt, seine anthro­ pologische Grundthese von der Realität des Unterschieds von Ich und Du nicht, wie es dann im theologischen Pcrsonalismus dieses Jahrhunderts geschah, auf das Gott-Mensch-Verhältnis zu über­ tragen.50 In diesem Verhältnis soll das Du in seiner Widerständig55 Dieser Satz widerspricht, da er sich nicht auf „Gott“, sondern auf das Christusgcschchcn bezieht, z. B. dem Abschnitt 33 f., in dem bei der Darstellung der Christologie gerade Fcucrbadis anthropologische Grundthcsc von der Eigenständigkeit des Du zur Geltung kommt. Vgl. zu die­ sem Widerspruch bzw. Antagonismus II, 2 und II, 8 (S. 298 f.). 56 Denn: „Der sinnliche Gegenstand ist außer dem Menschen da, der religiöse in ihm . . . " (Das Wesen des Christentums, 2. Kap.; Bolin/Jodl VI, 15)

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keit gerade nicht stehengelassen und anerkannt, sondern vielmehr angeeignet, in das Ich zurückgenommen werden. Das Du Gottes ist nur Mittel zum Zweck der Selbstwerdung bzw. wird als solches „gedeutet“ 57:.„D er Gegenstand des Glaubens ist nur Veranlassung, Mittel, Bild, Zeichen, Fabel - die Lehre, der Sinn, der Zweck, die Sache bin Ich selbst.“ (69) Daß Feuerbach, im Gefolge Hegels, auf der Aneignung besteht, ist ja nicht ohne Anhalt am reformatorischen Glaubensverständnis selbst. Es dürfte deshalb nicht leicht sein, die Lutherrezeption Feuerbachs an diesem entscheidenden Punkt zu kritisieren und die sachliche Verschiebung exakt festzustellen. Jedenfalls ist der Theo­ logie durch Feuerbach scharf die Frage gestellt: Weshalb, wie, worin bleibt „G ott“ ein Gegenüber, wenn er doch im Glauben angeeignet w ird ?58 6. Christus als äußeres Wort

Wenn wir als den Kernsatz von Feuerbachs Lutherschrift gehört haben, daß das „Wesen des Glaubens im Sinne Luthers . . . in dem Glauben an Gott als ein sich wesentlich auf den Menschen bezie­ hendes Wesen“ besteht (18; s. o. 11,5), dann ist, mit Feuerbach selbst, zu fragen: „Aber was gibt uns denn nun die Gewißheit, die untrügliche, unumstößliche Gewißheit, daß Gott wirklich ein Wesen für uns . . . ist?“ (30) Seine Antwort: „Die Erscheinung Gottes als Menschen in Christo, die keineswegs eine vorübergegangne Erscheinung ist, denn heute noch ist in Christo Gott Mensel). In Christo hat sich Gott geoffenbart, d. h. gezeigt, bewie­ sen als ein menschliches Wesen. In der Menschheit Christi ist die Menscldichkeit Gottes außer allen Zweifel gesetzt.“ (30) So redet nicht Karl Barth, sondern Ludwig Feuerbach! 59

57 Vgl. o. Anm. 21. 58 „Glauben heißt Essen, aber im Essen hebe ich den Gegenstand auf, verwandle ich seine Eigenschaften in Eigenschaften von mir.“ (69) 69 Barths eigentümliche Nähe zu Feuerbach in Widerspruch und An­ knüpfung wird, wiewohl nicht thematisiert, deutlich gegenwärtig ir £. Jüngels Vortrag >... keine Mcnschenlosigkcit Gottes . . . Zur Theologii Karl Barths zwischen Theismus und Atheismus« (EvTh 31,1971,376-390)

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Die christologischen Abschnitte seiner Lutherschrift bilden nicht nur äußerlich-formal, ihrer Stellung und ihrem Umfang nach 60, deren Mitte, sondern auch dem Gewicht ihrer Sache nach. Sic sind eine glänzende Veranschaulichung von Feuerbachs Sicht des „We­ sens des Christentums“ und zugleich eine positive Darstellung seiner eigenen Anthropologie. Daß er seine Position so gut an Luthers Theologie zu bewähren vermochte, besagt, daß er sic an dieser nicht zufällig illustriert. Vielmehr besteht hier, in der Chri­ stologie, ein fester innerer - an diesem Punkt zwar nicht histori­ scher, wohl aber sachlicher - Zusammenhang, der genau dem entspricht, was oben (II, 2) zur Gemeinsamkeit Luthers und Fcucrbachs im Punkt des äußeren Wortes ausgeführt wurde. Luthers in der Auslegung des ersten Gebotes gewonnene natür­ liche Theologie bzw. Rcligionsphänomenologic 01 rechnet im Sinne von Röm 1, 18 ff. mit einem von jedem Menschen gelebten Gottes­ verhältnis, das faktisch und praktisch aber immer verfehlt ist. Die Vernunft - nicht primär die theoretische, sondern die praktische Vernunft - greift immer schon nach Gott, aber immer daneben, so daß Luther (zu Jona 1,5: „D a fürchteten sich die Leute und schrien ein jeder zu seinem G ott“ ) pointiert formulieren kann, „daß diese Leute im Schiffe alle von Gott w i s s e n „aber keinen gewissen G ott“ haben.62 Gottes gewiß zu machen, ist das Amt Christi. An diesem entscheidenden Punkt hat Feuerbach Luthers Theo­ logie ausgezeichnet zur Geltung gebracht.63 Es gibt wenige Luthcr29-39. 39-49. 70 f. 73 und 49-57 (zugleich Auseinandersetzung mit der Rede vom „Gott an sich“). 61 Vgl. bcs. die Auslegung des ersten Gebots im Großen Katechismus (BSLK 560-572). ®2 Auslegung des Propheten Jona (1526): WA 19, 208, 21 f. Vgl. als Ausführung dieses zusammenfassenden Satzes: cbd. 206, 31-207, 13 (zi­ tiert bei G. Eheling, Existenz zwischen Gott und Gott. Ein Beitrag zur Frage nach der Existenz Gottes [ZThK 62, 1965, 86-113 = Wort und Glaube II, 1969, 257-286], 109 f. bzw. 282 f.) und weiter die von Feuer­ bach in den »Vorlesungen über das Wesen der Religion« (Bolin/Jodl VIII, 76) angeführten parallelen Lutherstellen. 82 Vgl. das Bekenntnis Zinzendorfs, in dem Feuerbach Luther, zu Recht, vertreten findet, „,daß ich den Gott, der sich mir außer Jesu Christo 60

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Interpretationen, die den Sachverhalt so präzis herausgearbeitet und den springenden Punkt so scharf erfaßt haben. Feuerbach sieht in Luthers Reden von der gewißmachenden Funktion Christi den Ausdruck seiner eigenen Ich-Du-Anthropologie, sieht darin den Ansatz beim „sinnlichen gegebenen D u“ 64 und bei der allein durch dieses Du vermittelten Gewißheit bestätigt. Er faßt den Unterschied zwischen Zweifel und Gewißheit in den bei allem Zusammenhang 65 bestehenden Gegensatz von Meinung bzw. Gedanke und Wort.66 offenbart und nicht durch Jesum, entweder für eine Chimäre oder für den leidigen Teufel halten müsse*“ (Apologetische Schlußschrift, zitiert in Fcucrbachs Artikel über »Zinzcndorf und die Herrnhuter« [s. o. Anm. 13]; Bolinljodl X, 81. Vgl. die Lutherschrift S. 56). Nicht mehr im Sinne Luthers, vielleicht aber angesichts des Atheismus sachgemäß und so eine zeitgemäße Lutherinterpretation, ist das parallele Wort Zinzcndorfs, daß ich „»entweder ein Atheist sein, oder an Jesum glauben müsse*“ (bei Feuerbach, ebd., gesperrt) - für Feuerbach „die gelungene, wahre, konse­ quente Anwendung . .., Auslegung und Ausführung“ von Luthers Mei­ nung (ebd.). Vgl. u. Anm. 83. 64 Grundsätze«, § 41. S. o. II, 2. 65 „Aber gleichwohl ist zwischen dem Worte und Gedanken kein Un­ terschied dem Wesen, sondern nur dem Zustande nach - kein andrer Unterschied, als der in der Natur zwischen dem gasförmigen oder flüs­ sigen und dem festen Zustand stattfindet.“ (40) 66 „Gas kann nicht zugleich fester Körper, Gedachtes nicht zugleich Gesagtes sein; denn ist cs Gesagtes, so ist cs nicht mehr Gedachtes, und ist cs Gedachtes, so ist cs noch nicht Gesagtes; Eines schließt das Andere aus.“ (40) Vgl. die eindrückliche Charakterisierung des Unterschieds von Mei­ nung und Wort 39 f.: „Der Meinung ist das Wort immer zu enge, wie cucrm Gott der Mensch; die Meinung will sich nicht beim Wort nehmen lassen; sic hat immer noch etwas im Rückhalt, was sie nicht gesagt haben will; sic dünkt sich unendlich mehr, als das Wort und will sich daher nicht durch dasselbe beschränken lassen. Diese Meinung kommt aber nur daher, daß, was ich meine oder denke, noch in meiner Macht steht, was ich aber ausspreche, außer dem Bereich meiner Macht ist, daß die Mei­ nung oder der Gedanke, weil abhängig von mir, veränderlich, das Wort aber, weil bereits unabhängig von mir, unveränderlich ist. Deswegen

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„Alle Menschen, sagt mehrmals Luther, denken sich unter Gott ein gutes, wohltätiges Wesen, denn wie sollten sie sonst Gott um Hilfe in ihren Nöten anrufen? Weil jedoch dieses gute Wesen für sie nur ein Gedanke von ihnen ist, so geraten sic in Zweifel, ob Gott auch wirklich gut ist, und durch diesen Zweifel in Abgötterei. Aber die Christen haben nicht ihre Meinung, sic haben das Wort Gottes selbst für sich, denn ihnen hat sich Gott selbst in Christo als ein gutes Wesen geoffenbart. Was heißt das? Nichts andres als: was für die andern Menschen, die Heiden, ein gemeintes, nur gedacfjtes und eben deswegen bczwcifelbares Wesen, das ist für die Christen ein sinnlicJscs und eben deswegen gewisses Wesen.“ (31) Kurz: Es ist das, „was in Gott noch ungewiß ist, weil bloße Mei­ nung, in Christo unbezweifelbar gewiß . . . ; denn das Wort ist die Gewißheit des Gedankens. Der bloße Gedanke ist unstet, flatter­ haft; kaum ist er da, so ist er schon wieder weg; aber der ins Wort gefaßte Gedanke ist gebannt - das Wort ist beständig, fest, gewiß. Aber Christus ist ja das Wort Gottes, d. h. eben, wie es ausgedrückt wurde, der sichtbare, sinnliche und eben deswegen unbczweifelbarc, gewisse G ott.“ (41 f.) Feuerbachs Darstellung der Luthcrschcn Christologie im Sinne seiner Idi-Du-Anthropologic liegt faktisch ganz in Schlcicrmadicrs Perspektive der Religion, insofern nämlich für Feuerbach der Bezug zu Christus weder im Wissen noch im Tun liegt, sondern im „Lei­ den“, d. h. in der „Anschauung“ , die „kein Produkt der mensch­ lichen Vernunft“ und kein Produkt der menschlichen „Werktätig­ keit“ ist, sondern ein Empfangen, in dem ich von einem „selb­ ständigen Wesen“ abhängig bin, das „nicht durch mich, sondern durch sich selbst mir gegeben wird“ : „Der Grundsatz des Christentums: Gott hat sich den Menschen geoffenbart, d. h. ist Mensch geworden . . . hat . . . keinen andern Sinn als den: Gott ist im Christentum aus einem Gedankenwesen ein sinnlicfjes Wesen geworden. Ein sinnliches Wesen kommt nicht

erschrickt der Mensch vor seinem eigenen Worte, wie vor einer fremden Macht, wie vor der Macht der unabänderlichen Notwendigkeit, und zieht sich scheu hinter das Bollwerk seiner unaussprechlichen Meinung zurück.“

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aus meinem Kopfe; es kommt von Außen an mich; es wird mii gegeben; die Sinne haben es mir geoffenbart. Es ist kein Produki der menschlichen Vernunft, wie der Gott der Philosophen, abei auch kein Produkt der menschlichen Hände, wie der Jupiter de! Phidias; es ist ein selbständiges Wesen, das folglich nicht durch midi, sondern durch sich selbst mir gegeben wird. Ich* sehe nur, wa: sich sehen läßt. Das sinnliche Wesen ist ein sich hingebendes Wesen dem sinnlichen Wesen gegenüber bin ich nur leidend; es ist keir Gegenstand der Werktätigkeit, sondern nur ein Gegenstand dei Anschauung. Was ich sehe, ist kein Verdienst von mir, ist eir Geschenk, ein Glück für midi. Die Offenbarung gibt, was ni< einem Menschen in den K opf gekommen wäre; aber nur die Sinnt geben dem Menschen, was alle seine Erwartungen und Vorstellun gen übersteigt, worauf er nie von selbst gekommen wäre. Kurz Alles, was von der Offenbarung Gottes ausgesagt wird, das gil nur von der Sinnlichkeit: das Wesen der Offenbarung ist da Wesen der Sinnlicljkeit im Unterschiede von der menschlidiei Selbsttätigkeit, sie sei nun eine moralische oder künstlerische ode philosophische oder religiöse, gottesdienstliche, wie die der Judei und Papisten.“ (33 f.) Wir befinden uns hier, im Blick auf Feuerbachs Darstellung de Luthersdien Christologie, wieder an genau demselben Punkt, voi dem wir beim Gang durch seine Schrift ausgegangen waren: den Gegensatz von Denken und Sinnlichkeit, von Denken und Won So ist der Ring geschlossen: Feuerbach hat seine antihegelisch Position an der Luthers bewährt. Er findet in dieser nur einei Widerspruch - denselben, den er in den »Grundsätzen« (§ 3) si formuliert hatte: „Der Protestantismus negierte jedoch den Got an sich oder Gott als Gott - denn Gott an sich ist erst eigentliche Gott - nur praktisch; theoretisch ließ er ihn bestehen.“7

7. Gegen den „Gott an sich“

Wendet sich Feuerbach für den Menschen gegen Gott, dan wendet er sich gegen den „G ott an sich“ , der nach der in Feuci bachs Negation vorausgesetzten Position „erst eigentlicher Gott

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ist.®7 Indem „Gott Mensch wird, hört er eben auf, das zu sein, was er in cuern Gedanken ist: Gott, d. h. unsichtbares, unfaßliches, unbegrenztes, unmenschliches, ungegenständliches Wesen“ (40). Feuerbach geht von der festen Überzeugung aus, daß der Gott, der sich ins Wort bindet und so erniedrigt, der alle Sdimach und Not des menschlichen Lebens auf sich nimmt6768*, kurz: daß der Gott, der sich entäußert hat ®9, nicht mehr Gott ist. Ein „gekreuzigter G ott“ ist ein „lächerlicher Widerspruch“ (40 f.). Diesen Widerspruch findet er bei Luther. Einerseits nämlich ist im Christentum, besonders bei Luther, Gott als menschlicher Gott „zum ganzen, alleinigen, wahren G ott“ geworden (51). Anderer­ seits aber „ist zugleich der unmenschliche Gott noch eine selbstän­ dige Macht, eine Person, die daher notwendig auch sich selbst geltend machen will . . . Wie sollte es also zu einem wahren, gründ­ lichen Frieden kommen, so lange nicht das über- oder, was eins ist, unmenschliche Wesen ganz und gar beseitigt wird?“ (51) Daß „hinter dem menschlichen Gott der unmenschliche noch sein Wesen oder vielmehr Unwesen forttreibt, das ist eben ein Wider­ spruch; denn mit der Menschwerdung Gottes ist ja an sich das 67 Mit dem Begriff des als „Gott an sich“ abgclchntcn „eigentlichen Gottes" scheint Feuerbach stark am Neuplatonismus orientiert zu sein, der ihm offenbar als Inbegriff von „Theologie“ gilt. Vgl. die »Grund­ sätze«, § 29, und die Adjektiva des oben anschließenden Satzes. 68 Der „sich zum Wort erniedrigende, herablassende Gedanke nimmt alle Schmach und Not des menschlichen Lebens auf sich“ (41). 60 S. weiter ebd.: „ ... der ausgesprochene Gott; denn sich ausspre­ chen heißt sich verraten, sich veräußern, sich preisgeben." Dabei ist die Kontinuität nicht übersehen: „Und doch ist in Christo nichts andres aus­ gesprochen, als was in Gott gedacht ist, nur mit dem Unterschiede, daß, was in Gott noch ungewiß ist, weil bloße Meinung, in Christo unbezweifelbar gewiß ist; denn das Wort ist die Gewißheit des Gedankens [vgl. dagegen Hegels Sprachverständnis!].“ (Ebd.; vgl. schon o. S. 287) Feuerbach kann so interpretieren, weil für ihn der Gedanke „Gott“ ja schon von vornherein den Menschen meint und „Christus“ für ihn, in der Nachfolge von D. Fr. Strauß, „der allgemeine Mensch“ ist, „versinn­ licht als ein wirklicher Mensch“ (Merkwürdige Äußerungen Luthers nebst Glossen; 1844 [s. o. Anm. 12]: Bolin/Jodl VII, 383).

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unmenschliche Wesen aufgehoben, - so gut, so notwendig aul gehoben, als das Gas aufgehoben ist, wenn es ein fester Körpc geworden — und an seine Stelle ein neues, anderes Wesen, d< menschliche Gott, das menschliche Wesen getreten.“ (50) Hier ist von Feuerbach präzis formuliert, was er unter der Vei Wandlung der Theologie in Anthropologie versteht. Er läßt de Grundsatz der alten Trinitätslehre, daß Gott sich in seiner Mensd werdung nicht wandelte, fallen, um statt dessen eine mythe logische Gottesmetamorphose anzunehrhen: die Verwandlung Go tes in den Menschen. Feuerbach kann sich die Annahme einer solchen Metamorpho: deshalb leisten, weil diese ja kein sinnlich-realer Vorgang, sonder lediglich eine intellektuelle Dechiffrierung, genauer: die „Deutung einer „psychischen Pathologie“ 7071 zum Zwecke der „Therapie“ ist - als solche für Feuerbach freilich „eine neue, autonomische T: der Menschheit“ .72 Sie ist das Zurück-Vcrwandeln, die Reduktioi die Zurückführung eines Ausdrucks auf dessen Inhalt. Wenn d< Mensch sich selbst ausdrückt, sich, unter dem „Ausdruck“ : Got sich selbst gegenübertritt, dann läßt sich dieser Ausdruck auch wii der in seinen Inhalt zurückverwandeln. Ja, er hat sich schon zurüd verwandelt. Denn: „Die Theologie ist längst zur Anthropolog geworden. So hat die Geschichte realisiert, zu einem Gegcnstanc des Bewußtseins gemacht, was an sid j - hierin ist die Methoc Hegels vollkommen richtig historisch begründet - das Wesen d Theologie war.“ 73 Sein Reduktionsverfahren sieht Feuerbach im christlichen Dogn von der Menschwerdung Gottes, speziell in der Lehre von d communicatio idiomatum, bestätigt (51 f . ) 74 und stellt es phil

70 S. o. Anm. 21. 71 Vgl. die Bemerkung im Vorwort zur 1. Aufl. des »Wesens ...«, d; „zw.it der Inhalt dieser Schrift ein pathologischer oder psychologisch! aber doch ihr Zweck zugleich ein therapeutischer oder praktisdjer is (Rcclam-Ausgabe, 11). 72 Vgl. Anm. 75. 73 Vorwort zur 1. Auflage des »Wesens. . Rcclam-Ausgabe, 10. 74 Vgl. bcs.: „Alle Eigenschaften Gottes gehen daher auf Christ über und zwar als Menschen - ein Übergang, der eben deswegen die E:

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sophisch in einer ontologischen bzw. logisch-sprachlogischen Argu­ mentation summarisch so dar: „Die christliche Religion hat den Namen des Menschen mit dem Namen Gottes in den einen Namen des Gottmenschen verbunden - den Namen des Menschen also zu einem Attribut des höchsten Wesen erhoben. Die neue Philosophie hat der Wahrheit gemäß dieses Attribut zur Substanz, das Prädikat zum Subjekt gemacht - die neue Philosophie ist die realisierte Idee - die Wahrheit des Christentums. Aber weil sie das Wesen des Christentums in sich hat, gibt sie den Namen des Christentums auf. Das Christentum hat die Wahrheit nur im Widerspruch) mit der Wahrheit ausgesprochen.“ 75 Feuerbach beseitigt diesen im Christentum und besonders bei Luther wahrgenommenen Widerspruch so, daß er den deus absconditus 7‘ , den Gott an sich, der tö tet77, den Gott gegen un s7ft, so definitiv durch den deus revelatus, den Gott für uns, durch den - weil auf uns bezogenen - wesentlich menschlichen Gott, erledigt sein läßt, daß von diesem jener nun nicht definitiv cingcschlosscn, sondern gerade definitiv ausgeschlossen und ab-gelöst ist.79 Entstenz eines von Christo untcrschicdnen Gottes aufhebt oder doch über­ flüssig macht . . ( 5 1 ) . 74 Vgl. noch den anschließenden Satz: „Die widerspruchslose, reine, unverfälschte Wahrheit ist eine neue Wahrheit - eine neue, autonomische Tat der Menschheit.“ Wirkungsvoll enden damit die »Vorläufigen The­ sen zur Reform der Philosophie» (1842): Kleine Schriften (s. o. Anm. 3), 144. Zu der ontologischen bzw. logisch-sprachlogischen Argumentation dieses Summariums, in der Hegels Begriff des „spekulativen Satzes“ zerstört ist, s. u. Anm. 82. 78 Vgl. 49-57 („der abgesonderte* .bloße* Gott": 50). 77 Vgl. bes. Luthers Schrift De servo arbitrio: „Deus absconditus in maicstate ncque dcplorat neque tollit mortem, sed operatur vitam, mor­ tem et omnia in Omnibus. Neque enim tum verbo suo definivit sese, sed liberum sese reservavit super omnia.“ (WA 18, 685, 21-24 = BoA 3, 177, 36-39) 7» 49-57 der Sache nach passim, begrifflich meist: der „unmenschliche“ Gott. 79 Vgl. bes. 50, wo cs vom „Gott an sich“ heißt, daß „an seine Stelle ein neues, anderes Wesen, der menschliche Gott, das menschliche Wesen getreten“ ist.

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sprechend hat der Mensch seine „Existenz“ nicht mehr „zwischen Gott und G ott“ 80; „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ (Mk 9, 24) erscheint absurd. So ist es nur konsequent, wenn Feuerbach das, was er als ekla tanten Widerspruch bei Luther feststellt81, (in den Grundsätzen«) empört als den „unseligen Widerspruch der neuern Zeit“ bei Hegel kritisiert, der „die Negation Gottes, den Atheismus zu einer objek­ tiven Bestimmung Gottes“ mache. Denn „sowenig der aus dem Unglauben wiederhergestellte Glaube ein wahrer, weil stets mit seinem Gegensatz behafteter Glaube ist, sowenig ist der aus seiner Negation sich wiederherstellende Gott ein wahrer, vielmehr ein sich selbst widersprechender, ein atheistischer G ott.“ 82 Von diesem Widerspruch sagt Feuerbach in der Lutherschrift, daß er „innerhalb des Glaubens, innerhalb des Christentums unauf­ löslich“ sei (51).83 Und weil Hegel ihn teilt, befindet er sich für

80 Mit dem Titel und Thema des Aufsatzes von Ebcling (s. o. Anm. 62). 81 Vgl. bes. 49-52. 82- »Grundsätze«, § 21. Hegels Dialektik wollte den Mensch geworde­ nen und gekreuzigten Gott durch seine Menschwerdung und seinen Tod hindurch gerade aufgehoben, erhalten sehen. Feuerbach zerstört diese Dialektik, indem er sie mit ihrer zweiten Phase enden läßt. D. h. er be­ wegt sich zunächst noch im „spekulativen Satz“ (s. bei Hegel vor allem: Vorrede zur »Phänomenologie des Geistes«, hg. v. J. Hoffmeister [Philos. Bibi. 114], 61952, 48-54; vgl. ebd. 22 f.), bricht jedoch mit dem Rück­ stoß vom Prädikat auf das Subjekt und mit dessen Verschlungen- und Negiertwerden durch das Prädikat ab. 83 Es entspricht jedoch Feuerbachs Theorie der in der Geschichte d Christentums immer mehr zunehmenden Auflösung der Theologie in An­ thropologie, wenn er bei Zinzcndorf, dem „Lutherus Luthcranissimus“ des 18. Jahrhunderts (Botin/Jodl X, 69), diesen Widerspruch zugunsten des dcus rcvelatus aufgehoben sieht (ebd. 70 f.): „Die Gleichheit und Einheit des göttlichen und menschlichen Wesens ist das Wesen, der Mit­ telpunkt, das Eins und Alles Luthers wie Zinzendorfs; aber Luther hat die Konsequenzen, die Früchte, die sich aus diesem Menschwerden Got­ tes, das gleich ist dem Gottwerden des Menschen, aus diesem Leiden Gottes zum Wohle der Menschheit ergeben, nicht so sich zu Gemüte ge­ zogen, nicht so ausgebeutet, nicht in so sinnenfälliger und darum den streng Gläubigen anstößiger Weise realisiert, wie Zinzendorf. Luther war

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Feuerbach innerhalb des Christentums - wenigstens so, daß seine Philosophie eine Theologie ist. Umgekehrt gilt deshalb auch vom ganzen Christentum, was Feuerbach (wieder in den »Grundsätzen«) im Blick auf Hegel sagt: „Der Widersprud) der neuern Philosophie, insbesondere des Pantheismus, daß er die Negation der Theologie auf dem Standpunkte der Theologie, oder die Negation der Theo­ logie ist, welche seihst wieder Theologie, dieser Widerspruch cfjarakterisiert insbesondere die Hegelsdse Philosophie.“ 84 Das Christentum ist demnach 85 „die Negation der Theologie auf dem Standpunkte der Theologie“ . Wir müssen jetzt darauf verzichten, das Problem des Unter­ schieds des „Gottes an sich“ und „Gottes für mich“ , des Unter­ schieds von dcus absconditus und deus rcvelatus weiter zu erörtern. Feuerbach selbst dringt in cs ein mit dem erstaunlichen Satz: „Das, worin die Gültigkeit und selbst Möglichkeit dieses Unterschieds aufgehoben ist, Das gerade, das allein ist Gott.“ (55) Doch ist dieser Satz im Sinne Feuerbachs sofort verständlich. Denn der an sich für mich seiende Gott ist eben - um in der identifizierenden Formel zu reden, die Feuerbachs Theologiekritik kennzeichnet nichts anderes als der an und für sich seiende Mensch: als abso­ lutes Wesen (63), als Gattungswesen.

im Schrecken des alten, mcnschfcindlichcn Gottes aufgewachsen, lernte diesen erst nach und nach mit Hilfe des mcnschgcwordcncn überwinden; Zinzendorf lebte von Kindheit an im vertraulichsten Umgang mit Gott . . . " Ebd. 80 f.: „In der Tat: der Herrnhutianismus ist das im Blute Christi, im Blute des Menschen konzentrierte, aber auch aufgelöste und zersetzte Christentum. Zinzendorf ist den Orthodoxen seiner Zeit gegenüber ein Freigeist, aber religiöser Freigeist; ja er ist ein christlidjer Atheist.“ Vgl. o. Anm. 63. 84 »Grundsätze«, § 21 (Erster Satz). 85 Damit ist der Anfang des § 21 mit dessen Schluß verbunden.

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8. Die Unterscheidung von Glaube und Liebe im Sinne Luthers bzw. (in der Rezeption Feuerbachs): das Ich als absolutes und als relatives Wesen Sich gegen Gott für den Menschen einzusetzen, heißt für Feuer­ bach, das Subjekt „G ott“ durch das der menschlichen Gattung abzulösen: also durch ein unanschauliches und unzugängliches abstractum. Was ist damit gewonnen? Feuerbach bekämpfte im Gottesbegriff doch gerade die Abstraktion und wollte die Kon­ kretion! Einerseits sucht Feuerbach den Menschen als Gattung konkret so wahrzunehmen, daß er sie in jeweils individuellen Dualitäten, in der Einheit von konkretem Ich und konkretem Du repräsentiert sieht: „ Einsamkeit ist Endlidjkeit und Besdnänktheit, Gemein­ schaftlichkeit ist Freiheit und Unendlichkeit. Der Mensch für sidj ist Mensch (im gewöhnlichen Sinn); Mensch mit Mensch - die Ein­ heit von Ich und Du - ist Gott.u 86 Indem er die Gattung aber andererseits - die Figur der Synekdoche nicht gebrauchend - be­ denkt als den „Zum Nutzen des beschränkten Individuums kompendiarisch zusammengefaßte[n] Inbegriff der unter die Menschen verteilten, im Laufe der Weltgeschichte sich realisierenden Eigen­ schaften“ 87, müßte er eigentlich die zunächst ganz unklar bleibende konkrete Vermittlung der einzelnen zwischenmenschlichen Duali­ täten mit dem abstractum der mensdilichen Gattung, die Vermitt­ lung von A//fmenschIidikeit und Ge*Why did Feuerbach conccrn himsclf with Luther?« (Revue internationale de Philosophie 26, Bruxelles 1972, 364-385), die sich mit Feuerbachs Lutherrczcption freilich nicht ihrer inneren, inhaltlichen Gestalt nach befaßt, sondern ausschließ­ lich danach fragt, welche äußeren Umstände Feuerbach zu seiner eingehenden Beschäftigung mit Luther brachten. Glasse erläutert Feuerbachs Absicht, seinen protestantischen Kritikern - Julius Müller etwa - mit Hilfe Luthers wirksam zu begegnen. Besonderes Gewicht mißt er der staatlichen Zensur bei, die Feuerbachs Schriften drohte. “ Faccd by that thrcat, Feuerbach appealed over the heads of Contemporary authoritics to the authority of a figure who was once the paradigmatic Protestant and a German hcro. This appeal put his assailants in an awkward position. If they rcjcctcd or suppressed his Interpretation of Christianity, which embodied his new philosophy and its political intention, they would have to reject or suppress with it a major culture hcro of their own. For in thesc two books [»Das Wesen des Christentums« in 2. Auflage und »Das Wesen des Glaubens im Sinne Luthers«] Feuerbach identified his position with Martin Luther himsclf.“ (S. 383) Weiter ist darauf hinzuweisen, daß die oben (Anm. 27) formu­ lierte Aufgabe, „das Verhältnis Feuerbachs zu Schleiermachcr historisch und, vor allem, systematisch genau zu untersuchen“ , nun bereits angepackt ist in dem Buch von Uwe Schott »Die Jugend­ entwicklung Ludwig Feuerbachs bis zum Fakultätswechscl 1825. Ein Beitrag zur Genese der Fcuerbachschen Rcligionskritik. Mit einem bibliographisdien Anhang zur Fcucrbach-Litcratur« (Studien zur Theologie und Gcistcsgcschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Bd. 10), Göttingen 1974. 2. Der oben abgedruckte Aufsatz ist inzwischen als wesentliches Moment in meine Schrift »Was ist das: Theologie? Eine Skizze« (Stuttgart 1973) eingegangen, besonders in das erste Kapitel (»Theo­ logie als Religionssoziologic und Religionspsychologic?*), in dem das Problem, was heute Theologie sei, zu formulieren versucht

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wird. Mit Feuerbach wird dabei Hegel kritisiert. Doch bedeutet dieser Anschluß an Feuerbachs Hcgelkritik keineswegs, dafür zu sprechen, Theologie unter Voraussetzung der Anerkennung der Feuerbachschen Religionskritik zu treiben, wie dies Hans-Martin Barth (»Glaube als Projektion. Zur Auseinandersetzung mit Lud­ wig Feuerbach«, NZSTh 12, 1970, 363-382; in diesem Bande wiederabgedruckt) zu befürworten scheint. Vielmehr wird auch Feuerbach kritisiert: im Sinne der den oben abgedruckten Aufsatz abschließenden Thesen zur sinnlichen Erfahrung der Widerständigkeit Gottes im Wort. Dieses Wort wird im zweiten Kapitel von »Was ist das: Theologie?« im Bezug zur Sprachanalyse als „performatives“ Wort bedacht, in dem die Theologie ihre Sache zu sehen hat. Auf diese Weise läßt sich die Sache der Theologie als eine Mitte beschreiben, die sich im kritischen Bezug einerseits zu den Gedanken der Ontologie der spekulativen Religionsphilosophie Hegels hält und andererseits zu den Motiven, die Feuerbach durch die analytische Methode seiner „psychischen Pathologie“ als das Wesen des Christentums zu ermitteln meint (vgl. das Vorwort zur 1. Auflage des »Wesens des Christentums«: s. o. „Gegen Gott für den Menschen . . . “ , Anm. 21). Die Sache der Theologie hält sich in kritischem Bezug zu beidem, ohne damit - als genau bestimmte und sprachanalytisch erklärbare Sprachhandlung - ein „mystisches Pragma“ zu sein, wie Feuerbach (ebd.) unterstellt. Feuerbach muß so urteilen, weil für ihn „die wesentliche Differenz der Religion von der Philosophie“ durch das Bild begründet wird und nicht, wie es für das Christentum zuträfe, durch das Wort. So formuliert er als Selbstverständnis der Religion: „Das Bild ist als Bild Sache“ (ebd.; „als Bild“ bei Feuerbach hervorgehoben), während die Theo­ logie, die ihre Sadie in bestimmten Sprachhandlungen sieht, fest­ stellen muß: Das Wort ist als Wort Sache (Diese These gilt un­ beschadet der Notwendigkeit ihrer weiteren Präzisierung im Sinne des Incinanderspielens von Bild, Wort und Sache, wie es exem­ plarisch in Jesu Gleichnissen der Gottesherrschaft geschieht). Was dieses in Auseinandersetzung mit Feuerbach formulierte Verständnis, das der Theologie von ihrer Sache aus zukommt, konkret besagt, zeigt am Herrenmahl als dem Urmodell dieser Sache meine 1971 gehaltene Bonner Antrittsvorlesung »Tod G ot­

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tes und Herrenmahl«, die inzwischen veröffentlicht wurde (in: ZThK 70, 1973, 346-363). In'ihr (S. 360-363) sind zugleich zwei mir besonders wichtig erscheinende kritisch-polemische Bezüge herausgestcllt, die vom Herrenmahl aus zu einem nachdiristlichcn atheistischen Humanismus vor allem Feuerbachscher Prägung ge­ setzt sind.

Deutsche Zeitschrift für Philosophie. 20 (1972), S. 1090-1109.

LUDW IG FEU ER BA C H S M A TE R IA LIST ISC H E E R K E N N T N IS T H E O R IE Von A lfred K o sin g

I

Die Philosophie Ludwig Feuerbachs nimmt in der Entwicklungs­ geschichte der materialistischen Erkenntnistheorie eine besondere Stellung ein, die noch detaillierter zu erforschen ist. Seine materia­ listische Erkenntnistheorie kann weder mit der des mechanischen Materialismus - wie es oft geschieht - noch mit der des modernen Materialismus von Marx und Engels identifiziert werden, wie von Plechanow teilweise, von Deborin fast uneingeschränkt behauptet worden ist. Wodurch ist diese besondere Stellung charakterisiert? Feuerbach bildet, nach den Worten von Friedrich Engels, „in man­ cher Beziehung ein Mittelglied zwischen der Hegelschen Philosophie und unserer A uffassung. . . " 1 Aus einer Reihe von Gründen gilt dies in ganz besonderem Maße für die erkenntnistheoretischen Anschauungen Feuerbachs, die zu einer wesentlichen theoretischen Quelle der marxistisch-leninistischen Erkenntnistheorie geworden sind. Die materialistische Erkenntnistheorie Ludwig Fcucrbachs beruht auf einer Form der materialistischen Weltanschauung, welche die mechanistische Beschränktheit des früheren Materialis­ mus weitgehend überwunden hatte, jedoch noch nicht zu einer qualitativ höheren Form des Materialismus Vordringen konnte, nämlich auf dem anthropologischen Materialismus, der den Men­ schen mit Einschluß der N atur zu seinem Gegenstand machte. Diese Blickrichtung des Feuerbachschen Materialismus war wesentlich be-

1 F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen de schen Philosophie. In: K. Marx/F. Engels, Werke. Bd. 21. Berlin 1962 S. 263.

Feuertuchs materialistische Erkenntnistheorie

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stimmt durch das Interesse an der Kritik der Religion und des Idea­ lismus überhaupt. Die kritische; Analyse des religiösen Bewußtseins führte Feuerbach zu der Einsicht, daß das Geheimnis der Religion und Theologie die Anthropologie ist, anders ausgedrückt, daß das religiöse Bewußtsein der Menschen lediglich eine verkehrte, phan­ tastische Widerspiegelung des Menschen, des menschlichen Wesens, bildet. War dieses Resultat nicht zu erreichen ohne tiefgründige crkcnntnistheoretischc Untersuchungen, ohne die erkenntnistheoretischcn Wurzeln der Religion und des Idealismus aufzudecken, so führte es andererseits unmittelbar an die Fragestellungen des historischen Materialismus heran. Marx und Engels bemerkten hierzu: „Indem Feuerbach die religiöse Welt als die Illusion der bei ihm selbst nur noch als Phrase vorkommenden Welt aufzeigte, ergab sich von selbst auch für die deutsche Theorie die von ihm nicht beantwortete Frage: Wie kam es, daß die Menschen sich diese Illusionen in den Kopf setzten? Diese Frage bahnte selbst für die deutschen Theoretiker den Weg zur materialistischen, nicht voraussctzungsloscn, sondern die wirklichen materiellen Voraussetzungen als solche empirisch beobachtenden und darum erst wirklich kriti­ schen Anschauung der Welt.“ * Zwar gelang es Ludwig Feuerbach nicht, das gesellschaftliche Leben und die Geschichte materialistisch zu erklären; über gewisse Ansätze und Keime kam er nicht hinaus. Aber auch diese beschei­ denen Ansätze wirkten sich auf seine crkcnntnisthcoretischcn Auf­ fassungen aus, zumal diese nicht nur auf einer gründlichen Kenntnis der Geschichte der Erkenntnistheorie beruhten, sondern auch durch die kritische Analyse der Hegelschcn Philosophie vermittelt waren. So vermochte Feuerbach in einem bestimmten Sinne das Fazit der ganzen vormarxschcn materialistischen Erkenntnistheorie zu ziehen und Voraussetzungen für den Übergang zu einer qualitativ höhe­ ren Stufe der materialistischen Erkenntnistheorie, der marxistischen Erkenntnistheorie, zu schaffen. Gerade hieraus erklärt sich die hohe Wertschätzung, die Marx, Engels und Lenin - trotz aller Kritik besonders der Feuerbachschen Erkenntnistheorie entgegenbrachten.2 2 K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie. In: K. Marx/F. Engels, Werke. Bd. 3. Berlin 1962. S. 217.

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Der Umstand, daß Ludwig Feuerbach seine Erkenntnistheorie nicht in systematischer Form dargestellt hat, wurde von manchen bürgerlichen Philosophichistorikern zum Anlaß genommen, in Ab­ rede zu stelle^ daß er überhaupt erkenntnistheoretische Unter­ suchungen angestellt habe. So behauptet H arald Höffding in seiner »Geschichte der neueren Philosophie< direkt: „Er läßt sich nirgends auf erkenntnistheoretische Untersuchungen ein, und sogar wo er als Erzrealist auftritt, behält sein Gedankengang etwas Dogmati­ sches und Mystisches.“ 8 Die Feindschaft der bürgerlichen Philosophicgeschichtsschreibung gegenüber dem Materialimus hat eine objektive Erforschung und geschichtliche Würdigung der Philo­ sophie Feuerbachs weitgehend verhindert, und sie versperrt auch den Weg zum Verständnis seiner Erkenntnistheorie. Freilich hat Feuerbach keine erkenntnistheoretischen Erörterungen im Stil des nach 1860 aufkommenden Neukantianismus angestellt, und wenn er nach dieser Elle gemessen wird, dann kann man vergeblich nach seiner Erkenntnistheorie suchen. Tatsächlich aber hatte Feuerbach seit Beginn seiner philosophichistorischcn Forschungen sogar eine Vorliebe für erkenntnistheoretische Probleme, und seine Werke sind durchsetzt von erkenntnistheoretischen Fragestellungen und Erörterungen. Das unterscheidet ja seinen Atheismus und seine Religionskritik grundlegend von der des französischen Materialis­ mus, daß sie auf einer Analyse der erkenntnistheoretischen Wurzeln der Religion und des Idealismus beruhen. Im Zusammenhang mit der Aufgabe, die Feuerbach sich gestellt hatte - nämlich der kriti­ schen Auflösung der Religion und Theologie in Anthropologie -, entwickelte er, jeweils seiner Thematik untergeordnet, wesentliche Probleme der materialistischen Erkenntnistheorie. Man darf sich durch die sporadische Behandlung und die oft aphoristische D ar­ stellung nicht irritieren lassen: In ihrer Gesamtheit ergeben seine Auffassungen eine umfassende und geschlossene konsequent mate­ rialistische Erkenntnistheorie - konsequent natürlich in den Gren­ zen, die der vormarxistische Materialismus an der Schwelle des historischen Materialismus erreichen konnte. Feuerbach sagte in den3

3 H. Höffding, Geschichte der neueren Philosophie. Leipzig 192 Bd. II. S. 281.

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► Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie«, „Die neue Philosophie hat sich bereits als Rcligionsphilosophic ebenso negativ als positiv ausgesprochen. Man darf nur die Konklusionen ihrer Analyse zu Prämissen machen, um in ihnen die Prinzipien einer positiven Philosophie zu erkennen.“ 4 An anderer Stelle bemerkte er: „Übrigens dürfen nur die Grundsätze dieser Schrift (gemeint ist »Das Wesen des Christentums« - A. K.) auf die übrigen Teile der Philosophie angewandt werden, um eine Reformation der ge­ samten Philosophie zu bewerkstelligen.“ 5 Feuerbach war sich sehr wohl bewußt, daß er nicht nur eine philosophische Rcligionskritik entwickelte, sondern an die Stelle der herrschenden spekulativ-idea­ listischen eine neue materialistische Philosophie und Erkenntnis­ theorie setzte. II Die crkcnntnistheoretisdicn Anschauungen Ludwig Feuerbachs zeichnen sich dadurch aus, daß ihnen ein klares Bewußtsein des unversöhnlichen Gegensatzes von Materialismus und Idealismus zugrunde liegt. In dieser Hinsicht überragte Feuerbach alle seine materialistischen Vorgänger, was nidn zuletzt auf seine Studien zur Geschichte der neueren Philosophie zurückzuführen ist. Er er­ kannte, daß die philosophischen Auseinandersetzungen in der Geschichte des theoretischen Denkens letzten Endes um eine prin­ zipielle Frage geführt wurden, wenngleich diese dem Wesen nach gleiche Frage auch verschiedene Erscheinungsformen annimmt: um die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Geist, Sein und Denken oder Welt und Gott. In den »Vorlesungen über das Wesen der Religion« sagte Feuerbach: „Die Frage, ob ein Gott die Welt geschaffen, die Frage nach dem Verhältnis überhaupt Gottes zur Welt, ist die Frage nach dem Verhältnis des Geistes zur Sinnlich­ keit, des Allgemeinen oder Abstrakten zum Wirklichen, der Gat4 L. Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie. In: L. Feuerbach, Gesammelte Werke. Hrsg, von W. Schuffcnhaucr. Ber­ lin 1965-1972. Bd.9. S. 260. Ä L. Feuerbach, Zur Beurteilung der Schrift »Das Wesen des Christen­ tums«. In: L. Feuerbach, Gesammelte Werke. Bd.9. S. 239.

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tung zu den Individuen; jene kann daher nicht ohne diese gelöst werden; denn Gott ist ja nichts anderes als der Inbegriff der Gattungsbegriffe . . . Ich bemerke daher, daß diese Frage zu den wichtigsten und zugleich schwierigsten Fragen der menschlichen Erkenntnis und Philosophie gehört, wie schon daraus erhellt, daß die ganze Geschichte der Philosophie sich eigentlich nur um diese Frage dreht, daß der Streit der Stoiker und Epikuräer, der Platoniker und Aristoteliker, der Skeptiker und Dogmatiker in der alten Philosophie, der Nominalisten und Realisten in dem Mittelalter, der Idealisten und Realisten oder Empiristen in neuerer Zeit nur auf diese Frage hinausläuft.“ 6 Bereits der französische Materialismus hatte im Rahmen seiner theoretischen Möglichkeiten die Frage nach der Ursprünglichkeit der N atur oder des Geistes bewußt als Kriterium für die Einteilung der philosophischen Richtungen benutzt - dies gilt vor allem für Holbach und Diderot - und eine eindeutige materialistische Ant­ wort auf diese Frage gegeben.7 Aber Feuerbach gelangte in seinem Verständnis dieser Problematik wesentlich weiter als der frühere Materialismus. Er bestimmte das Verhältnis von N atur und Geist, von Sein und Denken als wesentlichen Bestandteil des Gegen­ standes der Philosophie und die Frage nach ihrem Verhältnis als die Frage, um die sich die ganze Geschichte der Philosophie dreht, d. h. dem Wesen der Sache nach als die Grundfrage der Philo­ sophie, wenn er sie auch noch nicht explizite als solche formuliert. Die exakte Formulierung der Grundfrage der Philosophie wurde später von Friedrich Engels gegeben, aber es ist offensichtlich, daß er hierbei auf die entsprechenden Ausführungen Ludwig Feuerbachs zurückging und an sie unmittelbar anknüpfte.8 6 L. Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion. In: L. Feucrbach, Gesammelte Werke. Bd. 6. S. 136. 7 Vgl. hierzu A. Kosing, Die marxistisch-leninistische Weltanschauung und die Grundfrage der Philosophie. In: DZfPh. Heft 8/1969. S. 909 bis 915. 8 Bei Friedrich Engels lautet die entsprechende Formulierung: „Die große Grundfrage aller, speziell neueren Philosophie ist die nach dem Verhältnis von Denken und Sein . . . Die Frage nach dem Verhältnis des Denkens zum Sein, des Geistes zur Natur, die höchste Frage der gesamten

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Feuerbach stellt die Sinnlichkeit dem Geist gegenüber, doch das darf nicht mißverstanden werden, denn er versteht unter Sinnlich­ keit primär die materielle Wirklicfjkcit, die außerhalb und un­ abhängig von den menschlichen Sinnen und dem Verstand existiert und dem Menschen in seinen Sinnen gegeben ist. Der Begriff der Sinnlichkeit dient bei Feuerbach dazu, die Materie von der Posi­ tion seines anthropologischen Materialismus theoretisch zu fassen, und zwar in der Weise, daß die qualitativ mannigfaltige materielle Welt einschließlich des Menschen darin widcrgespiegelt wird, ohne - wie beim mechanistischen Materialismus - quantitativ auf mecha­ nische Bewegung materieller Teilchen reduziert zu werden. „Sinn­ lichkeit ist bei mir nichts anderes als die wahre, nicht gedachte und gemachte, sondern existierende Einheit des Materiellen und Gei­ stigen, ist daher bei mir ebensoviel wie Wirklichkeit.“ 0 Außer dem sinnlichen Sein gibt es für Feuerbach kein Sein. „Haben wir denn“ Philosophie hat also, nicht minder als alle Religion, ihre Wurzel in den bornierten und unwissenden Vorstellungen des Wildheitszustands. Aber in ihrer vollen Schärfe konnte sic erst gestellt werden, ihre ganze Bedeutung konnte sie erst erlangen, als die europäische Menschheit aus dem langen Winterschlaf des christlichen Mittelalters erwachte. Die Frage nach der Stellung des Denkens zum Sein, die übrigens auch in der Scholastik des Mittelalters ihre große Rolle gespielt, die Frage: Was ist das Ursprüng­ liche, der Geist oder die Natur? - diese Frage spitzte sich, der Kirche gegenüber, dahin zu: Hat Gott die Welt erschaffen, oder ist die Welt von Ewigkeit da? Je nachdem diese Frage so oder so beantwortet wurde, spalteten sich die Philosophen in zwei große Lager. Diejenigen, die die Ursprünglichkeit des Geistes gegenüber der Natur behaupteten, also in letzter Instanz eine Wcltschöpfung irgendeiner Art annahmen ..., bilde­ ten das Lager des Idealismus. Die andern, die die Natur als das Ursprüng­ liche ansahen, gehören zu den verschiedenen Schulen des Materialismus". (F. Engels, Ludwig Fcucrbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. In: K. Marx/F. Engels, Werke. Bd. 21. S. 274 f.) Man ersieht aus dem Vergleich der Formulierungen, wie Engels-unmittelbar an Feucrbach anknüpft, aber von der Warte des dialektischen und historischen Materialismus eine höhere Qualität der theoretischen Fragestellung er­ reicht. 9 L. Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion. In: L. Feuer­ bach, Gesammelte Werke. Bd. 6. S. 19.

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- so fragt er - „ein anderes Merkmal, ein anderes Kriterium einer Existenz außer uns, einer vom Denken unabhängigen Existenz, als die Sinnlichkeit?“ 10 In den »Grundsätzen der Philosophie der Zu­ kunft bestimmt Feuerbach das Wirkliche als das Sinnliche und umgekehrt: „Das Wirkliche in seiner Wirklichkeit oder als Wirk­ liches ist das Wirkliche als Objekt des Sinnes, ist das Sinnliche. Wahrheit, Wirklichkeit, Sinnlichkeit sind identisch.“ 11 Die materialistische Beantwortung der Grundfrage der Philo­ sophie schließt notwendig die Bestimmung dessen ein, was für das Ursprüngliche genommen wird, und in diesem Sinne ist für Feuer­ bach die Sinnlichkeit, die materielle, außerhalb und unabhängig vom Denken existierende Natur in ihrer qualitativen Verschieden­ heit einschließlich des Menschen das Primäre. Diese Wirklichkeit ist dem Menschen in den Sinnen gegeben, und der Mensch als Teil der Natur ist ebenso ein sinnliches Wesen, nicht nur mit Sinnen ver­ sehen, sondern selbst Objekt der Sinne. Man wird kaum fehlgehen, wenn man den Begriff der Sinnlichkeit bei Feuerbach als den anthropologischen Materiebegriff bezeichnet, als Versuch, die M a­ terie von der Position des anthropologischen Materialismus her zu definieren. Darin ist eine bedeutende erkenntnistheoretische Lei­ stung zu sehen; denn auf diese Weise gelang es Feuerbach, trotz seines Mangels an Dialektik, die mechanistische, alle qualitative Verschiedenheit nivellierende Einseitigkeit und Starrheit des M a­ teriebegriffs der französischen Materialisten zu durchbrechen. Das ermöglichte es ihm auch, seine Auffassung der Natur in einem gewissen Grade mit dem Entwicklungsgedanken zu verbinden, wenn ihm auch - nach Engels Worten - „die historische N aturauf­ fassung . . . unzugänglich blieb“ .12 In seiner Formulierung der wichtigsten und schwierigsten Frage aller Philosophie stellte Feuerbach das Denken, den Geist, das Allgemeine, Abstrakte, die Gattung, dem Sein, der Natur, dem Wirklichen, den Individuen gegenüber. Es ist nicht zufällig, daß 10 Ebenda, S. 132. 11 L. Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft. In: L. Feuer­ bach, Gesammelte Werke. Bd. 9. S. 316. 12 F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deut­ schen Philosophie. In: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 21. S. 280.

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er hierfür diese Begriffsreihen benutzt. Hierin wird sichtbar, daß er die Grundfrage der Philosophie vor allem crkcnntnisthcorctisch faßt, und das hängt eng mit seiner Aufdeckung und Kritik der crkcnntnisthcoretischcn Wurzeln der Religion und des Idealismus zusammen. Gerade in dieser Hinsicht erzielte Fcucrbadi einen be­ deutenden Fortschritt und ging weit über die Auffassungen des französisdien Materialismus hinaus. Wie die früheren Materialisten betrachtete er den Geist, das Denken als Naturprodukt, als eine natürliche Funktion des menschlichen Gehirns, die vom leiblichen Körper und den Sinnen abhängig ist. Man darf nicht vergessen, „daß der Mensch nur vermittelst eines sinnlich existierenden Kopfes denkt, die Vernunft an dem Kopf, dem Hirn, dem Sammelpunkt der Sinne einen bleibenden Grund und Boden hat.“ 13 Dodi war Feuerbach weit von der vulgärmatcrialistischcn Auffassung ent­ fernt, materielle Hirntätigkeit und Denken seien identisch. In einer Polemik mit einem religiös-idealistischen Mediziner, der die ab­ surde Behauptung vertrat, daß die Verstorbenen ohne Gehirn den­ ken, und dies damit begründete, daß Denken und Hirnfunktion verschieden seien, da wir kein Bewußtsein vom anatomisch-physio­ logischen Zustand des Gehirns haben, bemerkte Feuerbach nicht gerade fein, aber treffend: „Hieraus folgt, daß die Verstorbenen auch ohne Nieren, Harnleiter und Urinblasc pissen können, daß auch das Pissen eine von der Funktion dieser Organe verschiedene Tätigkeit ist, denn wir haben im Pissen kein Bewußtsein vom anatomisch-physiologischen Dasein, geschweige Zustand der Nieren, Harnleiter und Urinblasc. Allerdings ist das Denken als solches unterschieden vom Hirnakt als solchem, aber um die Differenz und zugleich Identität dieser Akte zu erkennen, diese Difhkultät zu lösen, dazu gehört kein .hirnloser' K opf.“ 14 Beim Nachweis der untrennbaren Einheit des Denkens mit seiner materiellen Grund­ lage stützte sich Feuerbach auf die Resultate der Physiologie, doch ging er in seinen philosophischen Schlußfolgerungen dem Wesen 13 L. Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion. In: L. Fcucrbach, Gesammelte Werke. Bd. 6. S. 100. h L. Feuerbach, Zur Charakteristik des modernen Afterchristentums. Herr Dr. Nepomuk von Ringseis oder Hippokrates in der Pfaffcnkuttc. In: L. Feuerbach, Gesammelte Werke. Bd. 9. S. 136-137 (Fußnote).

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nach nicht über die Auffassungen der französischen Materialisten hinaus. Engels bemerkte hierzu, daß in Feuerbachs Philosophie in dieser Beziehung „nichts Neues gesagt wird als das, was die Mate­ rialisten über die Einheit von Körper und Seele gesagt haben, nur nicht so mechanisch, dafür etwas überschwenglicher“ .15 Feuerbach gelangte zur materialistischen Beantwortung der Grundfrage der Philosophie durch die Kritik des Idealismus, ins­ besondere der Hegelschen Philosophie. Von entscheidender Bedeu­ tung war, daß er die Quelle der theoretischen Verkehrung der wirklichen Welt im Erkenntnisprozeß aufdeckte. Er stellte dem Idealismus nicht einfach den Materialismus entgegen, sondern gab eine materialistische Analyse des Zustandekommens idealistischer Auffassungen. Im Zusammenhang mit seiner Formulierung der Grundfrage der Philosophie begründete er, weshalb dies die schwierigste Frage ist, nämlich „nicht nur deswegen, weil die Philosophen, namentlich die neuesten, durch den willkürlichsten Gebrauch der Worte eine unendliche Konfusion in diese Materie gebracht haben, sondern auch, weil die N atur der Sprache, die Natur des Denkens selbst, welches sich ja gar nicht von der Sprache abtrennen läßt, uns gefangennimmt und vexiert, indem jedes Wort ein allgemeines, daher vielen schon die Sprache allein, weil sich das Einzelne nicht einmal aussprechen lasse, ein Beweis von der Nich­ tigkeit des Einzelnen und Sinnlichen ist.“ 16 Feuerbach arbeitet bei der Untersuchung der erkenntnistheoreti­ schen Wurzeln des Idealismus zwei wesentliche Aspekte heraus, die in die Schatzkammer des Materialismus überhaupt cingegangen sind: Erstens zeigte er, daß der Erkenntnisprozeß vermöge seiner Natur zur Verselbständigung der durch Abstraktion und Verall­ gemeinerung gewonnenen Begriffe führen kann, die dann als das Wesen den zufälligen individuellen Gegenständen vorausgesetzt werden; und zweitens zeigte er, daß auch der Denkprozeß selbst, das Denken, welches real nur im K opf der Individuen sich voll­ zieht, von seiner natürlichen Grundlage abgetrennt, zu einem selb­ 16 F. Engels, Fcuerbadi. In: K. Marx/F. Engels, Werke. Bd. 3. S. 541. 16 L. Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion. In: L. Feuerbadi, Gesammelte Werke. Bd. 6. S. 136.

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ständigen geistigen Wesen hyppstasiert, verabsolutiert und schließlieh zum eigentlichen Schöpfer der materiellen Welt erklärt werden kann. Diese Lehre, die ihre höchste Ausprägung in der Hcgelschcn Philosophie fand - Hegel daduc in der Tat, daß der Materialismus als Philosophie unmöglich sei, weil die Philosophie das Allgemeine zum Gegenstand habe, dieses aber seiner Natur nadi geistig, weil Gedanke, sei 17 - , „ist eine Verkehrtheit, in der die Ordnung der Natur umgekehrt wird. Wie kommt aber der Mensch auf diese Verkehrtheit? . . . Der Mensch zieht aus der Natur, aus der Wirk­ lichkeit vermittelst der Fähigkeit der Abstraktion das Ähnliche, Gleiche, Gemeinschaftliche heraus, sondert es ab von den Dingen, die sich gleichen oder gleichen Wesens sind, und macht cs nun im Untersdsiedc von denselben als ein selbständiges Wesen zu ihrem Wesen.“ 18*20Auf diese Weise setzt er die Gattungsbegriffe den Indi­ viduen, das Abstrakte dem Konkreten, allgemeiner: die Begriffe den Gegenständen voraus, statt die Begriffe von den Gegenständen abzulciten. So macht der Mensch das Subjektive zum Objektiven, „d. h., das, was für ihn das erste ist, auch zu dem an sich oder der Natur nach ersten . . . so macht er überhaupt das Allgemeine, d. h. das Abstrakte, zum Grundwesen des Wirklichen, folglich auch das Wesen mit allgemeinen Begriffen, das denkende, geistige Wesen, zu dem ersten Wesen“ .’® Der Theismus wie der Idealismus beruht nach Feuerbach darauf, „daß er das Allgemeine nicht aus den Individuen, sondern umge­ kehrt diese aus jenem entspringen läßt. Das Allgemeine als solches, der Gattungsbegriff, existiert aber im Denken und für das Denken; daher kommt es also, daß der Mensch auf den Gedanken und Glauben kommt, die Welt sei aus den Ideen, aus den Gedanken eines geistigen Wesens entsprungen.“ *° Dies nannte Feuerbach den „philosophischen Grund“ für die verkehrte Auffassung. Er hat den erkenntnismäßigen Vorgang, der zu dieser idealistischen Ver­ 17 Siehe W. I. Lenin, Philosophische Hefte. In: W. I. Lenin, Werke. Bd. 38. Berlin 1964,‘S. 265. 18 L. Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion. In: L. Feuer­ bach, Gesammelte Werke. Bd. 6. S. 133. »® Ebd.,S. 135. 20 Ebd., S. 141.

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kehrung führt, immer wieder und an zahlreichen Beispielen gezeigt und nachgewiesen, daß die Welt im Idealismus auf dem K opf steht, weil zum (sprachlichen) Subjekt gemacht wird, was in Wirklichkeit nur Prädikat ist. Er enthüllte das Geheimnis dieser spekulativen Konstruktion nicht nur in bezug auf die Denkresultate, die Be­ griffe, sondern auch in bezug auf den Denkprozeß als Ganzes, welcher vom Hegelschen Idealismus als Geist verselbständigt wird. Schon im »Wesen des Christentums< schrieb Feuerbach: „Der u n ­ endliche Geist', im Unterschied vom endlichen, ist daher nichts anderes als die von den Schranken der Individualität und Leiblich­ keit ... abgesonderte Intelligenz - die Intelligenz für sich selbst gesetzt oder gedacht.“ 21 Der Geist ist nichts anderes als die ver­ selbständigte und als ein Wesen personifizierte geistige Tätigkeit der Menschen.22 Ludwig Feuerbach gelangte daher zu dem Schluß, daß man die Hegelsche Philosophie, weil sie überall das Prädikat zum Subjekt macht, materialistisch umkehren müsse, um zu einer richtigen Auf­ fassung des Verhältnisses von Denken und Sein zu kommen: „Die Methode der reformatorischen Kritiker der spekulativen Philo­ sophie überhaupt unterscheidet sich nicht von der bereits in der Religionsphilosophic angewandten. Wir dürfen nur immer das Prädikat zum Subjekt und so als Subjekt zum Objekt und Prinzip machen - also die spekulative Philosophie nur umkehren, so haben wir die unverhüllte, die pure, blanke Wahrheit.“ 23 Ist bei Hegel „der Gedanke das Subjekt, das Sein das Prädikat“ , so kehrt Feuer­ bach dieses Verhältnis um und stellt nun fest: „Das wahre Ver­ hältnis vom Denken zum Sein ist nur dieses: Das Sein ist Subjekt, das Denken Prädikat, aber ein solches Prädikat, welches das Wesen seines Subjekts enthält. Das Denken ist aus dem Sein, aber das Sein nicht aus dem Denken.“ 24 Feuerbach verwirft die Identität von Denken und Sein, die genau betrachtet nur die Einheit des 21 L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums. Berlin 1956. Bd. I. S. 84. 22 L. Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion. In: L. Feuer­ bach, Gesammelte Werke. Bd. 6. S. 174. 23 L. Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie. In: L. Feuerbach, Gesammelte Werke. Bd. 9. S. 244. 24 Ebd., S.258.

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Denkens mit sich selbst ist; denn das materielle Sein ist ja in der spekulativen Philosophie nur eine andere Ersdicinungsform des Denkens, eine Entäußerung des Geistes. Nachdem er nachgewiesen hatte, wie diese nur illusorische Einheit zustande kommt, und sic kritisch analysiert hatte, entwickelte er seine materialistische Auf­ fassung von der Einheit des Denkens und Seins, des menschlichen Denkens und der sinnlichen Wirklichkeit. Wie löste Feuerbach diese grundlegende Frage der Erkenntnistheorie?

III Die Frage nach dem Verhältnis des menschlichen Denkens zur materiellen Welt ist - von einer anderen Seite her betraduct zugleich die Frage nach der Erkennbarkeit der Welt und dem Erkenntnisvermögen des Menschen. Für Ludwig Feuerbachs Er­ kenntnistheorie ist charakteristisch, daß er diese schwierigen Pro­ bleme konsequent materialistisch löst und dabei die materialistische Erkenntnistheorie wesentlich entwickelt und bereichert. Es versteht sich von selbst, daß für ihn sinnvoll von einer Einheit von Denken und Sein nur gesprochen werden kann, „wenn der Mensch als der Grund, das Subjekt dieser Einheit gefaßt wird. Nur ein reales Wesen erkennt reale Dinge', nur wo das Denken nicht Subjekt für sid) selbst, sondern Prädikat eines wirklichen Wesens ist, nur da ist auch der Gedanke nicht vom Sein getrennt.“ 25 Der Mcnsdi als ein natürliches Wesen hat Sein und Wesen mit allen anderen Dingen der N atur gemein, aber er hat auch ein unterschiedenes Wesen, nämlich die Vernunft, die Fähigkeit des Denkens, vermittels der er die Wirklichkeit in Begriffen, in Gedanken erfassen und abbildcn kann. Auf die These des Idealismus von der Existenz des Gedach­ ten antwortet Feuerbach klar: „Allerdings ,ist das Gedaditc', aber nicht als Gedachtes; Gedachtes ist und bleibt Gedachtes, Seiendes Seiendes; du kannst nicht eins ins andere pfuschen. .Also ist ein ewiger Widerspruch zwischen Sein und Denken?' Allerdings im25 25 L. Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft. In: L. Feuer­ bach, Gesammelte Werke. Bd. 9. S. 333-334.

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Kopfe; aber in der Wirklichkeit ist er längst gelöst, freilich nur auf die der Wirklichkeit, nicht deinen Schulbegriffen entsprechende Weise, und zwar gelöst durch nicht weniger als fünf Sinne.“ 26 Damit hat Feuerbach zwar gegen den Idealismus recht, doch vom Standpunkt des konsequenten Materialismus ist das nur die halbe Wahrheit; denn der Widerspruch zwischen dem Denken und der materiellen Welt wird nicht in erster Linie durch die Sinne, durch die sinnliche Anschauung, sondern durch die gesellschaftliche Praxis der Menschen gelöst, wobei die Sinne als unmittelbare Verbindung des Denkens mit der Außenwelt eine wichtige Rolle spielen. Hier zeigt sich eine Grenze des anthropologischen Materialismus Feuer­ bachs, der zwar die menschliche Tätigkeit in die Erkenntnistheorie einbezieht, aber weder ihren gesellschaftlichen Charakter noch ihre materielle N atur versteht, sondern sie überwiegend auf die sinn­ liche Anschauung beschränkt. Die Frage, ob die Welt erkennbar ist, wird von Ludwig Feuer­ bach von den weltanschaulichen Prämissen seines Materialismus her ohne Einschränkung und Vorbehalt positiv beantwortet. Das ver­ dient besonders hervorgehoben zu werden, waren doch selbst die konsequentesten Materialisten vor ihm nicht ganz frei von gewissen Elementen des Agnostizismus. Feuerbachs Grundauffassung kommt in dem Satz zum Ausdruck: „Die N atur versteckt sich nicht; sie dringt sich mit aller Gewalt und sozusagen Unverschämtheit dem Menschen auf.“ 27 Da es in der N atur kein „Wunderregiment“ gibt, sondern ein republikanisches, da also in der N atur keine Götter herrschen, die machen können, was ihnen beliebt, „sondern nur natürliche Kräfte, natürliche Gesetze, natürliche Elemente und Wesen“ , ist sie voll begreiflich und erklärlich. In der N atur geht es ausschließlich natürlich zu, und wenn die Menschen irgendwelche Naturprozessc nicht begreifen, dann nicht, weil diese etwa über­ natürlich wären, sondern weil die Begriffe, in denen sie die Natur abbilden, beschränkt sind, ihr nicht entsprechen. „D as Übernatür­ liche existiert nur in der Phantasie oder ist nur die Natur, welche 26 L. Fcuerbadi, Vorlesungen über das Wesen der Religion. (Zusätze und Anmerkungen) In: L. Fcuerbadi, Gesammelte Werke. Bd. 6. S. 363. 27 Ebd., S. 145.

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über die beschränkten Begriffe, die sich der Mensch von ihr ge­ macht, hinausgeht.“ *8 Für Feuerbach gibt cs keine prinzipielle Grenze der Erkennbarkeit der Welt, keine Grenze, die in der Beschaffenheit der Welt selbst liegt. Die Natur zerfällt nicht in einen erkennbaren und einen nicht erkennbaren Teil. Diese wich­ tige crkenntnisthcoretischc These begründet Feuerbach völlig richtig durch den Hinweis auf die Einheit der Natur. „Die Physiker und Physiologen können heute noch eine Menge Erscheinungen der organischen und unorganischen Natur nicht erklären. Aber folgt daraus, daß diese nicht ebensogut ihre physikalischen und physio­ logischen Gründe haben als andere Erscheinungen, die wir erklären können? Ist ein Teil der Natur physisch, der andere hyperphysisch, ist sie nicht eine Einheit, nicht durch und durch, nicht überall N atur?“ *• Diese Einheit der materiellen Welt verbürgt nach Feuerbach auch die Zuverlässigkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens, der Sinneserfassung und des Denkens. Der Mensch geht als Natur­ wesen aus der N atur hervor, seine Sinne und sein Gehirn sind ebenso Naturprodukte wie sein Denken; cs ist also nur natürlich, daß der Mensch imstande ist, die ihn umgebende Natur zu erken­ nen. „Wie sollte das Denken“ , so fragt Feuerbach, „als Tätigkeit eines wirklichen Wesens nicht die wirklichen Dinge und Wesen erfassen? Nur wenn man das Denken vom Menschen absondert, für sich selbst fixiert, entstehen die peinlichen, unfruchtbaren und für diesen Standpunkt unauflöslichen Fragen, wie das Denken zum Sein, zum Objekt komme.“ 30 Aber wie steht cs mit der Zuverlässigkeit der menschlichen Sin­ nesorgane und ihrer Leistungen? Sind sic nicht - schon ihrer Zahl nach - beschränkt und grenzen das menschliche Erkenntnisver­ mögen auf das Spektrum des durch sie Wahrnehmbaren ein? Diese Auffassung wurde bekanntlich von den meisten Vertretern des materialistischen Empirismus geteilt, wodurch natürlich ein Element des Agnostizismus in ihre Anschauungen kam. John Locke zum Bci28 Ebd., S. 173. 2» Ebd. 30 L. Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft. In: L. Fcuerbach, Gesammelte Werke. Bd. 9. S. 334.

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spiel war der Meinung, daß es niemandem möglich sei, sich andere Eigenschaften an Körpern vorzustellen als Töne, Geschmack, Gerüche, sichtbare und tastbare Qualitäten, also die durch unsere Sinne bestimmten Qualitäten, gleichgültig, welche weiteren Eigen­ schaften diese Körper auch haben. „Und wären die Menschen“ , so schrieb er, „nur mit vier Sinnen erschaffen worden, so hätten die Eigenschaften, die den Gegenstand des fünften Sinnes bilden, unserer Erkenntnis, unseren Vorstellungen und Begriffen ebenso fern gelegen, wie jetzt möglicherweise die, welche zu einem sech­ sten, siebenten oder achten Sinne gehören . . . " 31 Eine ganz ent­ gegengesetzte Position bezog Ludwig Feuerbach und beantwortete damit die Frage, ob der Mensch mehr erkennen könnte, wenn er mehr Sinnesorgane hätte, im Prinzip richtig. Er schrieb: „Daher haben wir auch keinen Grund zu der Einbildung, daß, wenn der Mensch mehr Sinne oder Organe hätte, er auch mehr Eigenschaften oder Dinge der Natur erkennen würde. Es ist nicht mehr in der Außenwelt, in der unorganischen Natur als in der organischen. Der Mensch hat gerade soviel Sinne, als eben notwendig ist, um die Welt in ihrer Totalität, ihrer Ganzheit zu fassen.“ 32 Auf dem Boden seiner anthropologischen Weltanschauung konnte Feuerbach jedoch keine hinreichende Begründung für diese im Prinzip richtige erkenntnistheoretische These geben. Er glaubte, daß es weitere menschliche Sinnesorgane geben müßte, wenn außer den bekannten Eigenschaften noch andere, für das Leben wichtige Qualitäten existierten. Der Hinweis auf die Einheit von anorganischer und organischer Natur bedeutete zwar einen wichtigen Fortschritt gegenüber dem mechanischen Materialismus, der materielle Welt und menschliche Sinnesorganisation beziehungslos nebcneinanderstellte, er reicht aber nicht aus, um diese wichtige These zu begründen. Richtig ist, daß die Sinnesorgane in ihrer Struktur und Funktion durch Anpas­ sung an die Qualitäten der materiellen N atur entstanden und geprägt sind, die von entscheidender Bedeutung für die Entwick-

31 J. Locke, Über den menschlidien Verstand. Leipzig o. J. (Reclam). Bd. I. S. 122 (II, 2, 3). 32 L. Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion. In: L. Fcuerbach, Gesammelte Werke. Bd. 6. S. 145.

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lung der Lebewesen, einschließlich des Menschen, sind. Aber daraus folgt nicht umgekehrt, daß es keine anderen Qualitäten der mate­ riellen Welt gibt, weil die Natur keine entsprechenden Sinnes­ organe hervorgebracht hat. Tatsädilich sind unserer Erkenntnis inzwischen viele Prozesse und Eigenschaften der Welt zugänglich geworden, für deren Wahrnehmung wir keine Sinnesorgane be­ sitzen. Wir kennen radioaktive Strahlung, magnetische Felder, Gravitationskräfte, soziale Beziehungen und andere Qualitäten der materiellen Welt, die wir unmittelbar nicht wahmchmen können, da wir hierfür keine speziellen Rezeptoren haben. Vom Stand­ punkt der anthropologisch-erkcnntnistheoretischen Auffassung Fcuerbadis ist das unerklärlich. Erst von der Position des dialek­ tischen und historischen Materialismus, der den Zusammenhang der menschlichen Sinncstätigkeit mit der gesellschaftlichen Praxis klärt, wird verständlich, weshalb die begrenzte Zahl der Sinnes­ organe keine prinzipielle Schranke für die menschliche Erkenntnis bedeutet. Das Sinnessystem des Menschen ist zur Erkenntnis der materiellen Welt in ihrer Totalität völlig ausreichend, weil cs dank seiner Verbindung mit der praktischen Arbeitstätigkeit, mit der gesamten gesellschaftlichen Praxis und mit dem theoretischen Den­ ken einen universellen Charakter gewinnt. Die menschlichen Sin­ nesorgane bieten trotz ihrer Begrenztheit eine hinreichend breite und differenzierte Basis, um mit Hilfe von Geräten, die die Gesell­ schaft produziert, in wachsendem Maße und potentiell unbegrenzt nicht wahrnehmbare Eigenschaften für den Menschen wahrnehmbar zu machen und zu erklären. Obwohl cs bei Feuerbach Ansätze gibt, die in diese Richtung zielen - so akzentuierte er besonders die Universalität der menschlichen Sinne im Unterschied zu den tierischen -, blieb ihm der Durchbruch zur gesellschaftlichen Auf­ fassung des menschlichen Erkenntnisvermögens verschlossen, weil er nicht über den abstrakten Menschen und das Verhältnis von Ich und Du hinauskam. Das schmälert nicht seine Leistung bei der Entwicklung einer materialistischen Auffassung von der Erkenn­ barkeit der Welt und vom Erkenntnisvermögen des Menschen, die zum ersten Mal in der Geschichte der materialistischen Erkenntnis­ theorie frei ist von jeglichem Agnostizismus, von jeglichem Zweifel an der K raft des Erkennens.

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Das menschliche Erkenntnisvermögen realisiert sich vermittels der Erkenntnistätigkeit der Individuen, jedoch ist es seiner N atur nach gesellschaftlich und historisch bestimmt. In der Erkenntnis dieses wesentlichen Aspektes hat sich Feuerbach bereits weitgehend der dialektisch- und historisch-materialistischen Auffassung ange­ nähert. Schon im »Wesen des Christentums< schrieb er: „Einzeln ist die menschliche K raft eine beschränkte, vereinigt eine unendliche Kraft. Beschränkt ist das Wissen des Einzelnen, aber unbeschränkt die Vernunft, unbeschränkt die Wissenschaft, denn sie ist ein gemein­ schaftlicher Akt der Menschheit, und zwar nicht nur deswegen, weil unzählig viele an dem Bau der Wissenschaft mitarbeiten, sondern auch in dem innerlichen Sinne, daß das wissenschaftliche Genie einer bestimmten Zeit die Gedankenkräfte der vorangegangenen Genies in sich vereint . . . Witz, Scharfsinn, Phantasie, Gefühl, . . . Vernunft - alle diese sogenannten Seelenkräfte sind Kräfte der Menschheit, nicht des Menschen als eines Einzelwesens, sind Kultur­ produkte, Produkte der menschlichen Gesellschaft.“ 33 Den gleichen Gedanken hat er später auch in anderen Werken ausgeführt, dabei vor allem auf die historische Entwicklung des Wissens und die damit einhergehende Veränderung der Grenzen der Erkenntnis hingewiesen.34 Aber solche Ansätze des historischen Materialismus sind vereinzelt, bestimmen nicht die Gesamtheit seiner erkenntnis­ theoretischen Auffassungen und gehen zum Teil mit direkt idea­ listischen Erklärungen der geschichtlichen Entwicklung des Erkennens einher, wenn diese aus dem Erkenntnis- und Wissenstrieb des Menschen abgeleitet wird. IV Zu den wichtigsten crkcnntnisthcorctischen Leistungen Ludwig Feuerbachs gehört seine weitere Entwicklung der materialistischen Abbildtheorie. Bekanntlich war einer der grundlegenden Mängel der vormarxschen materialistischen Erkenntnistheorie die undia33 L. Feucrbadi, Das Wesen des Christentums. Bd. I. S. 148. 34 Vgl. z. B. L. Fcucrbach, Die Unsterblichkeitsfrage vom Standpunkt der Anthropologie. In: L. Feuerbach, Gesammelte Werke. Bd. 10. S. 268 ff.

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Icktischc Auffassung des Erkenntnisprozesses. Lenin sagte, daß das Hauptübcl des metaphysischen Materialismus in der Erkenntnis­ theorie „in der Unfähigkeit besteht, die Dialektik auf die Bilder­ theorie, auf den Prozeß und die Entwicklung der Erkenntnis anzuwenden“ .34 Das trat besonders kraß in der Erkenntnistheorie des englischen Materialismus in Erscheinung, der den menschlichen Verstand als eine tabula rasa betrachtete, die - wie das Wadis die Eindrücke des Siegels aufnimmt - völlig passiv die Eindrücke der äußeren Objekte empfängt. Auch der französische Materialismus konnte diese völlig undialcktischc, passiv-kontemplative Auffas­ sung des Erkenntnisprozesses nicht überwinden, er setzte in dieser Hinsicht die Linie des englischen materialistischen Empirismus fort. Diese Auffassung des Erkcnnens, wonach das materielle Objekt lediglich auf das rein passive Subjekt einwirkt, erschien Feucrbadi als ein „geistloser Empirismus und Materialismus,“ Deshalb ver­ suchte er ernsthaft, darüber hinauszugehen und eine materia­ listische Auffassung des Erkcnnens zu entwickeln, die sowohl der Aktivität des erkennenden Subjekts als auch der Kompliziertheit des Erkenntnisprozesses gerecht wird. In diesem Bestreben, das auch rein quantitativ einen bedeutenden Platz in seinem Sdiaffen cinnimmt, hob er die materialistische Abbildtheorie auf eine höhere Stufe und kam zu Lösungen, die in mancher Hinsicht bis didit an die Erkenntnistheorie des dialektisdicn Materialismus heranführen. Wir wollen dies nur an zwei Problemen, die hierfür typisdi sind, näher untersuchen: an dem Verhältnis von Objekt und Subjekt im Erkenntnisprozeß und an dem Verhältnis von Sinneserfahrung und Verstand. Feuerbach ging aus von der gemeinsamen Grundlinie allen Materialismus in der Erkenntnistheorie: die Erkenntnis richtet sich auf Gegenstände, die unabhängig und außerhalb des Erkcnnens, des Bewußtseins existieren und vermittels der Sinne und des Den­ kens der Menschen erfaßt, wahrgenommen, gedacht, bestimmt, angccignct, kurz - abgcbildct werden. Im AVescn des Christen­ tums« verkündete er dieses Prinzip des Materialismus in den Wor-35 35 W. I. Lenin, Philosophische Hefte. In: W. I. Lenin, Werke. Bd. 38. S. 344.

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ten: „Ich bin himmelweit unterschieden von den Philosophen, welche sich die Augen aus dem Kopfe reißen, um desto besser denken zu können; ich brauche zum Denken die Sinne, vor allem die Augen, gründe mein Gedanken auf Materialien, die wir uns stets nur vermittelst der Sinnentätigkeit aneignen können, erzeuge nicht den Gegenstand aus den Gedanken, sondern umgekehrt, den Gedanken aus dem Gegenstände, aber Gegenstand ist nur, was außer dem Kopfe existiert.“ 36 Diese materialistische Grundlinie führte er konsequent durch und verwarf daher alle spekulativ­ idealistische und subjektivistische Verfälschung der materiellen Wirklichkeit. „Die Dinge und Wesen so zu denken, so zu erkennen, wie sie sind - dies ist das höchste Gesetz, die höchste Aufgabe der Philosophie.“ 37 Dementsprechend betrachtete Feuerbach die zu er­ kennenden materiellen Gegenstände als das Original, die Gedan­ ken, welche die Gegenstände abbilden, als K opie; und nach mate­ rialistischer Auffassung „folgt die Kopie auf das Original, das Bild auf die Sache, der Gedanke auf den Gegenstand.“ 39 In einer Polemik mit Rudolf Haym erläuterte Feuerbach den früher (im »Wesen der ReIigionGcdankcn über Tod und Unsterblich­ keit« gewidmet ist, schreibt er: „Jetzt gilt es vor Allem, den alten Zwiespalt zwischen Diesseits und Jenseits aufzuheben, damit die Menschheit mit ganzer Seele, mit ganzem Herzen auf sich selbst, auf ihre Welt und Gegenwart sich concentrirc; denn nur diese ungcthciltc Conccntration auf die wirklidie Welt wird neues Leben, wird wieder grosse Menschen, grosse Gesinnungen und Thaten zeugen.“ 9 Ein Konzilstcxt scheint mit der Aussage zu demselben Schluß zu gelangen, die Hoffnung auf das Jenseits finde wenn nicht ihre Erfüllung, so doch ihre wahren Dimensionen in den Aktivitäten für das Diesseits. „Zwar werden wir gemahnt, daß es dem Menschen nichts nützt, wenn er die ganze Welt gewinnt, sich selbst jedoch ins Verderben bringt; dennoch darf die Erwartung der neuen Erde die Sorge für die Gestaltung dieser Erde nicht ab­ schwächen, auf der uns der wachsende Leib der neuen Mcnschcn7 L. Feuerbach, Sämtliche Werke, X 2, S. 136 f. » Gaudium et spes, Nr. 14 § 1 (Das Zweite Vatikanische Konzil, III, Frciburg-Basel-Wien 1968, S. 323). 9 L. Feuerbach, Kleinere Schriften, III, S. 159.

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familie eine umrißhafte Vorstellung von der künftigen Welt geben kann . . . “ ,0 Vor allem hinsichtlich Tod und Unsterblichkeit besteht eine breite Übereinstimmung zwischen Feuerbach und der modernen Theologie. Diese Konvergenz überrascht um so mehr, als es gerade die 1830 veröffentlichten »Gedanken über Tod und Unsterblichkeit« waren, die ihm als Atheisten die Universität verschlossen haben. Offensichtlich geht daraus eine totale Umkehr der christlichen Lehre hervor. Die Unsterblichkeit wird auf die Ebene einer dem Menschen schädlichen Illusion niedergeholt, da sie, indem sie ihn an ein persönliches Weiterlebcn glauben läßt, ihn auf sich selbst zentriert beläßt, mit wenig Neigung, sich dem gemeinsamen Be­ mühen der Menschheit anzuschließen. Der Tod hingegen, wenn er im geringsten ernst genommen wird, bringt den Menschen dazu, sich die Unsterblichkeit sichern zu wollen dadurch, daß er für den Fortschritt der gesamten Menschheit wirkt. „N ur wenn der Mensch wieder erkennt, daß es nicht blos einen Scheintod, sondern einen wirklichen, wahrhaften Tod giebt, der vollständig das Leben des Individuums schliesst, wird er den Muth fassen, ein neues Leben wieder zu beginnen, und das dringende Bedürfniss empfinden, ab­ solut Wahrhaftes und Wesenhaftes, wirklich Unendliches, zum Vorwurf und Inhalt seiner gesammten Geistesthätigkeit zu machen. Nur wenn er die Wahrheit des Todes anerkennt, den Tod nicht mehr verleugnet, wird er wahrer Religiosität, wahrer Selbstver­ leugnung fähig werden.“ 11 Der „wirkliche, wahrhafte Tod“ , von dem Feuerbach spricht, scheint mit der Trennung von Seele und Leib unverträglich zu sein, die der Tod vom christlichen Standpunkt aus impliziert. Obwohl Karl Rahner an dieser Trennung von Leib und Seele festhält, da sie eine Glaubcnswahrheit ist, spart er sie in seiner Schrift »Zur Theologie des Todes« 12 aus seiner theologischen Reflexion aus; denn sic beschreibt nach ihm zwar den Tod, aber „sie schweigt sich völlig aus über die Eigenart des Todes, insofern er ein Vorkommnisio io Gaudium et spes, Nr. 39 § 2 (S. 395). •1 L. Feuerbach, Sämtliche Werke, I, S. 27. i* K. Rahner, Zur Theologie des Todes (Freiburg-Basel-Wien *1958).

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Feuerbach und die Theologie

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gerade des Menschen . . . ist“ .13 Mit der Aussage, es „stirbt der Menscf)Mtl* verdeutlicht der Verfasser seine Absicht, dem Tod eine Rolle bei der besonderen Bestimmung des Menschen zuzuweisen. Der Mensch ist weder ein frustrierter Schritt zum nächsten Tag, noch ein vorläufiges Zeichen, bei dem plötzlich das wahre Leben ausbricht, sondern ein Wesen, dessen Bestimmung der Tod ist, da dieser ihn für immer bestimmt und unwiderruflich vollendet. „D. h.u, erläutert Rahner näher, „für ihn als Ganzes, also auch für seine ,Seele', geschieht beim Tode etwas Wesentliches: die End­ gültigkeit seiner freien personalen Auszeugung.“ 13 Dadurch, daß der Tod, der den Menschen als ganzen trifft, ein Leben endgültig beschließt, in dem sich Zeit und Ewigkeit gegen­ seitig durchdringen, ergibt sich, daß unsere irdische Existenz, weit davon entfernt, gegenüber dem ewigen Leben abgewertet zu wer­ den, durch die entscheidende Rolle, die ihr beim Zugang zu diesem neuen Leben zugcfallen ist, auf das sich ewiges und zeitliches Leben gerade gründen, neue Tiefe und neue Kraft erwirbt. Das Leben, das wir führen, bestimmt den Wert und den Sinn, den es end­ gültig beim Tod bekommen wird, der Tod ist die Bestätigung und die Erkenntnis des Lebens selbst. So scheint wieder einmal, trotz des Ausgangs von verschiedenen Prämissen, die moderne Theologie Feuerbach gefunden zu haben, der seinerseits die Menschen dazu aufgefordert hatte, sich die Unsterblichkeit durch die Annahme der Idee eines wahrhaften Todes zu erwerben. So verlockend die Annäherungen und Parallelen zwischen Fcucrbach und der modernen Theologie auch sein mögen, so könnte man ihnen doch vorwerfen, daß sie in gewisser Weise nicht viel besagen. Kommt die moderne Theologie nicht vor allem von der frühen Philosophie Heideggers her, zu der die pcrsonalistische Anthro­ pologie wurde? Mehr noch, macht es nicht irgendwie verlegen, als durch und durch christlichen Denker einen Mann darzustcllcn, den Jean Guitton in seinem letzten Buch >Ce que je crois« (1971) ge­ nannt hat „den beachtlichsten, den schärfsten unserer Gegner: 13 Zur Theologie des Todes, S. 19. n Ebd. ‘5 Ebd.

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Henri Arvon: Feuerbach und die Theologie

Feuerbach, diesen schwarzen Propheten“ ? Nun befreit uns Feucrbach selbst von jedem Skrupel; er hat in der Tat diese Wende an­ gekündigt, die aus einem geschmähten Atheisten einen christlichen Denker machen sollte. Seine Erläuterung zu den »Gedanken über Tod und Unsterblichkeit< enthält folgende Zeilen von wahrhaft prophetischem Klang: . . kurz, während sonst die Christen die Armen, die Verfolgten, die Leidenden waren, sind es jetzt die Nichtchristen. Welch sonderbarer Wechsel! Die namentlichen oder theoretischen Christen und Gottesgläubigen überhaupt sind die praktischen, factischen Heiden, und die namentlichen, theoretischen Heiden sind die praktischen, die wirklichen Christen. Doch freut Euch, Ihr Leidenden! der politische Triumph des Christenthums ist sein moralischer Untergang. Die jetzt in ihrer und Anderer Mei­ nung die Freunde und Beschützer des Christenthums sind, wird man einst als seine wahren Feinde, und die jetzt für die Feinde des Christenthums gelten, als seine wahren Freunde erkennen.“ 1610

10 L. Fcucrbach, Kleinere Schriften, III, S. 287 f.

Alfred Schmidt, Emanxipitoriidie Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachi anthropologiuher Materialiimui. (Reihe Hanier 109.) München: Verlag Carl Hanier 1973. S. 127-154.

FEUERBACH S STELLUNG IN DER G E SC H IC H T E DES M ATERIALISM US Von

A lfr e d S c h m id t

Die im Titel dieses Abschnitts enthaltene Frage ist schwieriger als cs zunächst scheint. Dadurch daß Fcucrbachs Denken aus dem Zcrfallsprozcß der Hcgclschen Philosophie (und Schule) hervorgeht und eingestandenermaßen, sei’s auch negativ, auf sie bezogen bleibt, mangelt es ihm, was freilich gerade seine Stärke ausmadit, an ab­ gerundeter Systematik. Das wiederum ließ, wie wir sahen, schon zu Lebzeiten Fcucrbachs verschiedene, teilweise wenig passende Bezcidinungcn seiner Philosophie zu. Daran änderte sich auch spä­ ter nidus. So nennt ihn Lange, der neukantianische Historiker des Materialismus, einen Idealisten, weil er die Anthropologie, wie cs in den Grundsätzen« von 1843 heißt, zur „Univcrsalwissensdiaft“ erhebt. „In dieser einseitigen Hervorhebung des Mcnsdien“ , be­ hauptet Lange, „liegt ein Zug, der aus der Hcgel’schcn Philosophie stammt, und der Feuerbach von den eigentlichen Materialisten trennt. Es ist eben doch wieder die Philosophie des Geistes, die uns in der Form einer Philosophie der Sinnlichkeit hier begegnet. Der ädite Materialist wird stets geneigt sein, seinen Blick auf das grosse Ganze der äusseren Natur zu richten und den Menschen als eine Welle im Ocean ewiger Stoffbewegung zu betrachten.. . . Er . . . ge­ fällt sich eher darin, den Menschen zu viel, als zu wenig in die Reihe der übrigen Wesen zurücktrctcn zu lassen. . . . Die ErscJjcinung wird [von Hegel, A .S.] definirt, als der mit dem Wesen erfüllte Sdiein, und die Wirklichkeit ist da, wo die Erscheinung ganze und adäquate Manifestation des Wesens ist. Der Aberglaube, dass es dergleichen geben könne wie .ganze und adäquate Manifestation des Wesens' in der Erscheinung, ist auch auf Feuerbach übergegangen.“ 1 * Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus, Band II, 8. Auf!., Leipzig 1908, S. 74; 75; Hervorhebungen von Lange). - Man be-

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Umgekehrt (und das ist die marxistisch noch heute übliche An­ sicht) bezeichnet Lukäcs Feuerbach als letzten großen Vertreter des mechanischen Materialismus.2 Die Unzulänglichkeit dieser einander schroff entgegengesetzten Interpretationen liegt auf der Hand. Darin, daß sie möglich waren, steckt jedoch ein philosophisches Problem. Weshalb mußte, mit Lukdcs zu reden, „der bedeutendste Überwinder Hegels vor Marx, der Materialist Ludwig Feuerbach, seine eigene Weltanschauung zuweilen in den Dunst einer ,neuen Religion* hüllen“ ? 3 Handelt es sich hier um idealistische Eierschalen, Überbleibsel abgelebter Vergangenheit, ein Rückzugsgefecht der Theologie? So unbestreit­ bar die relative Wahrheit solcher Interpretationen ist - die Sache selbst erledigt sich damit nicht. Was die Marxisten zumeist als religiös-ethische „Überlagerungen“ des Feuerbachschen Materialis­ mus bezeichnen, bedarf näherer Analyse; an ihnen wird deut­ lich, wie unangemessen es ist, Feuerbach umstandslos in die Traditionen naturwissenschaftlich-mechanistischen Denkens einzu­ reihen. Die diesem selbst noch verhaftete These, Feuerbachs Lehre sei mechanischer Materialismus plus religiöse „Reste“ , verdeckt ihren philosophiegcschichtlichen Ort mehr als daß sie ihn er­ hellt. Um das merkwürdige Schwanken Feuerbachs zu klären, scheint es geboten, kurz auf sein Verhältnis zum Pantheismus einzugehen. Feuerbach nennt ihn den allein konsequenten Theismus; denn er weiß, daß die „materiellen Dinge nur aus Gott abgeleitet werden“ können, „wenn Gott selbst als ein materialistisches Wesen bestimmt

achte, daß Lange hier nicht von den - unbestreitbar - idealistischen Momenten der Feuerbachschen Religions- und Moralphilosophie spricht, sondern von den Grundlagen Fcucrbachs überhaupt. Cf. auch G. W. Plechanows entschiedene Kritik der Langeschen Fcucrbach-Interprctation in der Studie Die ästhetische Theorie N. G. Tschernyschcwskis (in: Kunst und Literatur, Berlin 1955, S. 459-467). 2 Cf. Georg Lukäcs, Der russische Realismus in der Weltliteratur, Ber­ lin 1953, S. 99. 3 Georg Lukäcs, Heinrich Heine als nationaler Dichter, in: Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts, Berlin 1953, S. 116.

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wird“ .45* Gott läßt sich nur in dem Maße realisieren, wie man „die Göttlichkeit, d. i. Wahrheit und Wesenhaftigkeit . . . des Wirk­ lichen“ 5 voraussetzt. „Die Vergötterung des Wirklicfscn, des mate­ riell Existierenden - der Materialismus, Empirismus, Realismus, Humanismus -, die Negation der Theologie ist aber das Wesen der neuern Zeit. Der Pantheismus ist daher . . . das zum göttlichen Wesen, zu einem religionsphilosophiscfjen Prinzip erhobene Wesen der neuern Zeit. . . . Der Pantheismus ist der . . . theologische Materialismus, die Negation der Theologie, aber selbst auf dem Standpunkte der Theologie" Und weiter sagt Feuerbach, bezogen wiederum auf die moderne Ära: „Wo der Sinn nicht fehlt, da fehlen auch nicht die Sinne, die Organe. . . . So verlor denn auch die Menschheit in neuerer Zeit nur deswegen die Organe für die übersinnliche Welt und ihre Geheimnisse, weil sic mit dem Glauben an sic auch den Sinn für sic verlor, weil ihre wesentliche Tendenz eine antichristliche, antithcologische, d. h. eine anthropologische, realistische, materialistische Tendenz war. Spinoza traf daher mit seinem paradoxen Satz: Gott ist ein ausgedehntes . . . Wesen, den Nagel auf den Kopf. Er fand den . . . philosophischen Ausdruck für die materialistische Tendenz der neuern Zeit; er legitimierte, sanktionierte sie. Gott selbst ist Materialist.“ 7

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4 Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, in: Gesam­ melte Werke, Band 9, Berlin 1970, S. 285 (Hervorhebung von Feuerbadi). 5 Ibid. (Hervorhebungen von Feuerbach). * Ibid. (Hervorhebungen von Feuerbach). 7 Ibid., S. 286 f.; cf. hierzu auch S. 287 ff. und S. 244 f. - Ähnlich schildert Engels’ Feucrbachstudic die Rolle des Pantheismus in der neu­ zeitlichen Philosophie: „Die Philosophen wurden . . . in dieser langen Periode von Dcscartes bis Hegel und von Hobbes bis Feuerbach keines­ wegs, wie sic glaubten, allein durch die Kraft des reinen Gedankens vorangetrieben. Im Gegenteil. Was sic in Wahrheit vorantricb, das war namentlich der gewaltige . . . Fortschritt der Naturwissenschaft und der Industrie. Bei den Materialisten zeigte sich dies schon auf der Oberfläche, aber auch die idealistischen Systeme erfüllten sich mehr und mehr mir materialistischem Inhalt und suchten den Gegensatz von Geist und Ma­ terie panthcistisch zu versöhnen; so daß schließlich das Hcgelsche System nur einen nach Methode und Inhalt idealistisch auf den Kopf gestellten Materialismus repräsentiert“ (Engels, Ludwig Feuerbach und der Aus-

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So gesehen, ist Pantheismus eine „mittlere“ Position zwischen der alten Theologie und einem - rein naturwissenschaftlich begrün­ deten - Materialismus. Eine problematische Einheit, die cs jedoch gestattet, Natur rückhaltlos anzuerkennen, ohne ihren qualitativen Reichtum aufzuopfern.8 Daher konnte Marx, als er Feuerbach zur Zusammenarbeit veranlassen wollte, anspielcnd auf die „dyna­ mische“ Naturphilosophie Schellings, behaupten, Feuerbach habe diesen „aufrichtigen Jugendgedanken“ verwirklicht; dieser sei bei ihm „zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zu männlichem Ernst ge­ worden“ .9 Freilich darf dieses spekulative Moment nicht darüber hinweg­ täuschen, daß Feuerbach sich zunächst an die unmittelbare For­ schungspraxis der Naturwissenschaften hält. „ Die Philosophie“ , fordert er, „muß sich wieder mit der Naturwissenschaft, die Natur­ wissenschaft mit der Philosophie verbinden. Diese auf . . . innere Notwendigkeit gegründete Verbindung wird . . . fruchtbarer sein als die bisherige Mesalliance zwischen der Philosophie und Theo­ gang dtr klassischen deutschen Philosophie. In: Marx/Engels: Werke, Band 21, Berlin 1962, S. 277). 8 Ähnlich verhält cs sich, wie Lukdcs gezeigt hat, mit der geistig­ politischen Entwicklung Heines. Dessen (pantheisicrender) Sensualismus „versucht . . . sowohl den mechanischen Charakter des alten Materialis­ mus zu überwinden als auch die idealistisch reaktionären Tendenzen der Hcgelschen Philosophie“ (in: Heinrich Heine als nationaler Dichter, 1. c., S. 117). 9 Marx an Fcucrbach, Brief vom 3. 10. 1843, in: Feuerbach, Briefwech­ sel, herausgegeben von Werner Schuffcnhauer, Leipzig 1963, S. 180. Anders äußert sich Engels, von vornherein „naturwissenschaftlicher“ orientiert als Marx, in einem 1845/46 entstandenen Fragment (das frei­ lich im Zusammenhang mit den Marxschen Thesen verstanden werden muß): „Feuerbachs ganze Philosophie läuft heraus auf 1. Naturphiloso­ phie - passives Anbeten, verzücktes Niederknien vor der Herrlichkeit und Allgewalt der Natur - 2. Anthropologie . . . , worin nichts Neues gesagt wird als das, was die Materialisten über die Einheit von Körper und Seele gesagt haben, nur nicht so mechanisch, dafür etwas über­ schwenglicher. . . . " - Daß diese Charakteristik dem (sicher fragwürdigen) „Naturkultus“ Feuerbachs nicht ganz gerecht wird, ist klar. In: Marx/ Engels, Werke, Band 3, Berlin 1962, S. 541.

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logie.“ 10* Wenn Feuerbach betont, das Christentum sei durch die gesamte Lebenspraxis verneint, nicht bloß theoretisch, so denkt er vor allem an die gesellschaftliche Rolle der Naturwissenschaften u , deren „Krone*4 er in der „Anthropologie*4 erblickt, dem ausgeplauderten „Geheimnis der Theologie44.12 - Andererseits gibt cs Äuße­ rungen Feuerbachs, die einige Vorsicht verraten angesichts der (um 1850 verbreiteten) vulgärmatcrialistischcn Versuche, biologisdics Sein restlos auf dicmischcs, gar mcdianischcs zu „reduzieren“ . So schreibt er nadi der Lektüre des Molesdiottschcn Buches über physiologische Chemie der Nahrungsmittel: „Ich glaube . . . in der Tat, daß zwisdien dem Standpunkt des Arztes, der den Organis­ mus als solchen, als lebendiges Wesen vor sich hat, und dem Stand­ punkt des organischen Chemikers zur Zeit noch eine notwendige und ungelöste Differenz besteht und solange bestehen wird, als nicht der Organismus vollständig in die Chemie oder diese in jenem aufgelöst, kurz, der Organismus vollständig erklärt ist. Was ist denn die Nerventätigkeit, und wie verhält sic sich zu dem S to ff­ wechsel4, der das Leben ausmacht? Darauf finde ich keine Antwort in Molcschott.“ 13 Offenbar hat Fcucrbach - überblicht man sein Werk heute - die spezifisch wissenschaftliche Basis seiner Philosophie überschätzt. Das wird verständlich, wenn man bedenkt, daß die Methoden und Ergebnisse naturwissenschaftlichen Fortschritts, anders als heute, im vorigen Jahrhundert noch keineswegs „weltanschaulich“ neu­ tralisiert und deshalb von unmittelbar politischem Gewicht waren.14 io Feuerbach, Vorläufige Thesen, in: Gesammelte Werke, Band 9, 1. c., S. 262 (Hervorhebungen von Fcucrbach). u Cf. etwa Grundsätze, 1. c., S. 285 f. i* Cf. Fcucrbachs Brief an Georg Hcrwcgh vom 25.11. 1845, in: Briefwechsel, 1. c., S. 209. ,3 Fcucrbach an F. Wilhelm Heidenreich, Brief vom 24.6. 1852, ibid., S. 272; cf. auch S. 271. h Cf. hierzu Feuerbachs Aufsatz Die Naturwissenschaft und die Revo­ lution, eine Rezension des Moleschottschen Buches Lehre der Nahrungs­ mittel, in der cs heißt »Der Naturforscher sicht, wie die Natur in einem ewigen Fortsdiritt begriffen ist, wie sic nie mehr auf eine einmal übersdirittene Stufe zurückfällt, . . . wie in der Natur immer das Alte ab-

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Daß der Materialismus Feuerbachs nicht primär einzelwissen­ schaftlich begründet ist, zeigt sich an seiner vom sinnlich-existierenden Menschen ausgehenden Theorie der „Naturreligion“ . In ihr stellt sich, wenngleich in scheinhaft-ideologischer Form, die „Wahr­ heit der Sinnlichkeit“ 15 dar. „So hängen“ , fügt Feuerbach dem hinzu, „die .Grundsätze der Philosophie* . . . mit dem .Wesen der Religion* zusammen“ .16 In den naturreligiösen Vorstellungen drückt sich, freilich unbewußt, das Faktum aus, daß die Natur „ein erstes, ursprüngliches, unableitbares Wesen sei“ .17 Erfahren wird sie zunächst existentiell, als imponierende Macht, nicht wis­ senschaftlich. Das spiegelt sich in der Naturreligion. Wenn Feuer­ bach sie positiv beurteilt, so geht es ihm nicht darum, die christ­ lichen Glaubensartikel durch den (oft kleinbürgerlich-spießigen) stirbt, und zwar nur dazu, um den DUnger für eine bessere Zukunft ab­ zugeben; wie töricht . . . kommen ihm dagegen die reaktionären Thaumaturgen vor, welche sich einbilden, inhaltsvolle Jahre aus der Geschichte streichen, die Menschen auf einen verlassenen Standpunkt zurückversetzen . . . zu können! Der Naturforscher sicht, wie es in der Natur nichts Iso­ liertes . . . gibt, wie alles . . . in ihr in einem notwendigen und großartigen Zusammenhang steht, wie die Naturwesen sich zwar in verschiedene Klas­ sen abteilen, aber nur nach begründeten Unterschieden, und wie selbst diese wieder zuletzt in die Einheit des Ganzen sich auflösen; er gewöhnt sich . . . unwillkürlich daran, . . . auch in der Politik den großartigen Maßstab der Natur anzulegen“ (in: Gesammelte Werke, Band 10, Berlin 1971, S. 348 f.). - Nach den Ereignissen der Pariser Commune wurde der Darwinismus im deutschen Reichstag erörtert. Fcucrbach, Marx und Engels sowie die —mechanisch beschränkten —Materialisten wurden noch ideali­ stisch oder theologisch bekämpft. Später tendiert das offiziell-bürgerliche Denken dazu, die Problematik: Idealismus-Materialismus als veraltet ab­ zutun; „dritte Wege“ werden erfunden, die freilich allemal auf verkappte Idealismen hinauslaufen. Der soziale Auftrag der positivistischen Schulen besteht darin, Theorien des (ökonomisch unerläßlichen) technisch-natur­ wissenschaftlichen Fortschritts zu entwickeln, die „metaphysische“ Konse­ quenzen - gemeint ist der Materialismus - unterbinden. is Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, Gesammelte Werke, Band 6, Berlin 1967, S. 102. 16 Ibid. 17 Ibid.

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Glauben an die Natur zu ersetzen. „Die Natur“ , erklärt Feuerbach, „ist mir keineswegs deswegen ein Ursprüngliches, weil die Naturrcligion sic als solches ansieht und verehrt, sondern vielmehr dar­ aus, weil sie ein Ursprüngliches, Unmittelbares ist, folgere ich, daß sie audi dem ursprünglichen, unmittelbaren, folglich der Natur verwandten Sinn der Völker als solches erscheinen mußte. Oder anders: Die Tatsache, daß die Menschen die Natur als Gott ver­ ehrten, ist . . . keineswegs . . . der Beweis für die Wahrheit des dieser Tatsache zugrunde liegenden Sinnes; aber ich finde in ihr die Bestätigung des Eindruckes, den die Natur auf mich als sinn­ liches Wesen macht; ich finde in ihr die Bestätigung der Gründe, die midi als intellektuelles, als philosophisches Kulturwesen be­ stimmen, der Natur, wenn auch nicht dieselbe Bedeutung, die ihr die Naturrcligion gibt - denn ich vergöttere nichts, folglidi audi nicht die Natur -, doch eine analoge, ähnliche, nur durdi die Naturwissenschaften und Philosophie veränderte Bedeutung zu geben. Ich sympathisiere allerdings mit den religiösen Verehrern der Natur; ich bin ein leidenschaftlicher Bewunderer . . . derselben; ich begreife . . . aus meinen unmittelbaren Anschauungen und Ein­ drücken von der Natur, daß die alten Völker, daß noch heutige Völker sie als Gott verehren können.“ 18 Hieraus ergibt sich Feuerbachs Definition der Natur, die insofern die Marxsche Lehre vorwegnimmt, als sic Natur nicht nur im Sinn eines crkcnntnisthcoretischen Realismus bestimmt, als „bewußtscinsunabhängigc“ Wirklichkeit, sondern, umfassender, als den von jeder menschlichen Praxis unabhängigen - Boden der Praxis: „Ich verstehe unter Natur den Inbegriff aller sinnlichen Kräfte und Wesen, welche der Mensch als nicht menschliche von sich unter­ scheidet . . . Oder das Wort praktisch erfaßt: Natur ist alles, was dem Menschen . . . sinnlich als Grund und Gegenstand seines Lebens sich erweist. . . . Natur . . . ist alles, was nicht . . . von menschlichen Händen und Gedanken herrührt.“ 19 Dabei betont Feuerbach (audi hierin den dialektischen Materialismus vorwegnehmend), wie wich­ tig es ist, Natur (oder Materie) nicht als einheitlich-ontologisches 18 Ibid., S. 103 (Hervorhebungen von Feuerbach); cf. dazu auch S. 104. Ibid., S. 104; 105.

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Substrat zu interpretieren: „Die . . . Materie der Welt“ dürfen wir „nicht als etwas Gleichförmiges, Unterschiedsloses denken; eine solche Materie ist nur eine menschliche Abstraktion, eine Schimäre; das Wesen der Natur, . . . der Materie ist ursprünglich schon ein in sich unterschiedenes Wesen; denn nur ein bestimmtes, unter­ schiedenes, individuelles Wesen ist ein wirkliches Wesen.“ 20 Die „Einheit der Welt“ 21 besteht in ihrer Materialität, aber diese liegt real nur in besonderen Formen vor: „N atur ist Licht, ist Elek­ trizität, ist Magnetismus, ist Luft, ist Wasser, ist Feuer, ist Erde, ist Tier, ist Pflanze, ist Mensch, soweit er ein unwillkürlich und unbewußt wirkendes Wesen . . . Oder, wenn wir auf die Anatomie der Natur eingehen, Natur ist . . . der Inbegriff der Wesen und Dinge, deren Erscheinungen, Äußerungen oder Wirkungen, worin sich . . . ihr Dasein und Wesen offenbart . . . , nicht in Gedanken . . . , sondern in astronomischen oder kosmischen, mechanischen, chemi­ schen, physischen, physiologischen oder organischen Kräften . . . ihren Grund haben.“ 22 - Bestimmungen, die sich dadurch emp­ fehlen, daß sie (bei allem durchgehaltenen Materialismus) Form­ unterschiede innerhalb des naturalen Seins anerkennen und damit die Mechanistik relativieren; sie verbleiben - was von der Literatur kaum beachtet wird - im Horizont Hegels und der romantischen Naturphilosophie. Gewiß neigt, wie Lukics unterstreicht, jeder Pantheismus dazu, das dem Jenseits polemisch entgegengesetzte Diesseits „selbst reli­ giös zu verhimmeln“ .23 Und schon der frühe Engels nennt ihn „die letzte Vorstufe zur freien, menschlichen Anschauungsweise“ .24 Was nun Feuerbach betrifft, so hat er, das wurde klar, zur Kritik des Ibid., S. 147. 21 Ibid., S. 143. 22 Ibid., S. 104; 105. - Cf. zu Feuerbachs Natur- und Materiebegriff auch den Aufsatz Die wesentlichen Entwicklungsetappen der Kategorie „Materie“ von I. W. Nikolajew, in: Philosophie und Gesellschaft, heraus­ gegeben von Werner Pfoh und Hans Schulze, Berlin 1958, S. 205-222, insbesondere S. 213 f. 23 Lukäcs, Heinrich Heine als nationaler Dichter, 1. c., S. 116. 24 Die Lage Englands. Thomas Carlyles ‘Past und Present’, in: Marx/ Engels, Werke, Band 1, Berlin 1957, S. 547. 20

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Pantheismus Wesentliches b eiste u e rt. Gleichwohl gilt cs, die auch ihm nodi (nicht ganz zu Unrecht) vorgeworfenen pantheistisdien „Spuren“ philosophicgcsdiichtlich zu begreifen, anstatt sic zu leug­ nen. - Fcuerbadi ist weder spekulativer Idealist noch Materialist, sofern man, mit Schopenhauer, unter Materialismus jenes Denken versteht, das „alles Qualitative auf ein bloß Quantitatives zurück­ zuführen“ 2526 sucht und, grob naturalistisch gewendet, auf „eine absolute Physik“ 28 hinausläuft. Von diesem „caput mortuum der Natur, daraus sidi ehrlicherweise nidits machen läßt“ 27, wendet Feuerbachs Materialismus sich ab. Wohl rechnen die Marx-Engclsschen Schriften von 1845/46 auch ihn noch zum bürgerlich be­ schränkten Denken, näher zur „deutschen Ideologie“. Aber sie konzedieren, daß Feuerbach „den großen Vorzug vor den .reinen' Materialisten hat, daß er cinsieht, wie auch der Mensdi .sinnlicher Gegenstand* ist“ 28; sein Durchbruch zum Anthropologischen ge­ stattet cs ihnen, Materialität neu: praktisch-geschichtlich zu fassen. Derart geht bereits Feuerbach über die ins Mctaphysisdie er­ hobenen naturwissenschaftlidicn Aussagen hinaus, die der west­ europäischen Bürgcrklasse vor 1789 bei ihrem Emanzipations­ kampf gegen Theologie, Feudalität und Absolutismus dienten. Das Universum, daran ist kurz zu erinnern, stellt sich dem quantifi­ zierenden Materialismus des siebzehnten und achtzehnten Jahr­ hunderts als kausal-mechanisch bewegte, mathematisch bestimmte Materie dar. „Die Welt“ , sagt sein klassischer Vertreter Hobbcs im »Leviathan«, „ist körperlich; sie hat die Ausdehnung der Größe, nämlich der Länge, Breite und Tiefe. Jeder Teil eines Körpers ist Körper und hat die gleichen Ausdehnungen; infolgedessen ist jeder Teil des Universums Körper, und was nicht Körper ist, ist kein Teil des Universums. Aber da das Universum alles ist, so ist alles, was kein Teil desselben ist, nichts und kann nirgends sein.“ 29 Im 25 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Zweiter Band, in: Sämtliche Werke, Band 3, Wiesbaden 1949, S. 357. 26 Ibid., S. 361; cf. dazu auch S. 195 f. 27 Ibid., S. 360. 28 Die deutsche Ideologie, in: Marx/Engels, Werke, Band 3, I. c., S. 44. 29 Zitiert nach Paul Thiry d’ Holbach, System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt, Berlin 1960, S. 381.

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ersten Buch seiner »Philosophischen Elemente< definiert Hobbes den Körper (oder das materielle Ding) folgendermaßen: „Körper ist alles, was unabhängig von unserm Denken mit irgendeinem Teil des Raumes zusammenfällt oder sich mit ihm zusammen aus­ dehnt.“ 30 Alle Erkenntnis gründet letztlich in „Phantasmen der Sinne und Einbildung“ 31, wobei Qualitäten wie Farbe, Ton, Ge­ schmack oder Wärme sekundär sind; sie bilden nicht die objektive Struktur der Dinge ab - lediglich deren Weise, unsere Sinneswerk­ zeuge zu affizieren. Marx und Engels (das wird, außer von Bloch, in der Literatur wenig beachtet) knüpfen nicht an den physikalischen Materialis­ mus an, sondern gehen - vermittels Feuerbach - auf die N atur­ philosophie Bacons zurück.31* Dieser ist zwar der „wahre Stamm­ vater . . . aller modernen experimentierenden Wissenschaft“ .32 Aber die »Heilige Familie« betont, daß sein Materialismus gegenüber dem rein scientistischen des siebzehnten Jahrhunderts, obgleich „auf . . . naive Weise“, noch „Keime einer allseitigen Entwicklung“ 33 ent­ hält. Wie Giordano Bruno und verwandte Denker der Renaissance vertritt Bacon einen schöpferischen Materiebegriff, der qualitativ verschiedene Formen anerkennt. „Die Materie“ , interpretiert ihn Marx, „lacht in poetisch-sinnlichem Glanze den ganzen Menschen an“ ; unter ihren Eigenschaften „ist die Bewegung die erste und vorzüglichste, nicht nur als mechanisdje und mathcmatisdje Bewe­ gung, sondern mehr noch als Trieb, Lebensgeist, Spannkraft, als Qual - um den Ausdruck Jakob Böhmes zu gebrauchen — der Materie. Die primitiven Formen der letzteren sind lebendige, indi­ vidualisierende, ihr inhärente, die spezifischen Unterschiede produ­

30 Hobbes, Lehre vom Körper, deutsch von Max Frischeisen-Köhler, Leipzig 1949, S. 85. 31 Ibid. 3U Cf. dazu den instruktiven (offenbar von Feuerbadis philosophiegeschichtlichen Arbeiten beeinflußten) Abriß des englisch-französischen Materialismus in der Heiligen Familie, in: Marx/Engcls, Werke, Band 2, Berlin 1959, S. 131-141. 32 Ibid., S. 135 (Hervorhebungen von Marx). 33 Ibid.

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zierende Wesenskräfte.“ 54 Und anderswo verspottet Marx die Junghegelianer, welche die Materie - im starren Gegensatz zum Geist - „als endlich, roh, brutal, tot und unorganisch . . . hinstel­ len“ .« Demgegenüber - daran läßt Marx keinen Zweifel - wird die materialistische Philosophie bei dem weit systematischeren Hobbcs „einseitig“ und „menschenfeindlich“ : „Die Sinnlichkeit verliert ihre Blume und wird zur abstrakten Sinnlichkeit des Geometers. Die physische Bewegung wird der medjanischen oder mathematischen geopfert . . . Um den mcnschenfeindlicfjen, fleischlosen Geist auf seinem eignen Gebiet überwinden zu können, muß der Materia­ lismus selbst sein Fleisch abtöten und zum Asketen werden. Er tritt auf als ein Verstandeswesen, aber er entwickelt auch die rücksichts­ lose Konsequenz des Verstandes.“ 34*36 Daß sich Marx und Engels - seinerzeit entschieden auf Fcuerbachschem Boden - mit dieser Form des Materialismus nicht begnügen konnten, leuchtet ein; sie bedurften eines weniger „abgeleiteten“ Begriffs der spezifisch menschlichen wie mundanen Wirklidikeit. Worauf ihre Lehre abzielt: die Emanzipation leibhaftiger Indi­ viduen, die Universalität ihrer Produktivkräfte wird substratlos, wenn die Welt zur „mehr oder minder . . . ihrer sinnlichen Form entkleideten Körperwelt“ 37 verblaßt und trocken versichert wird, auch der Mensch unterliege ihren Gesetzen. Kein Wunder, daß die Begründer der sozialistischen Theorie diesem - abstrakten - Matc34 Ibid. (Hervorhebungen von Marx). 33 Ibid., S. 99. 36 Ibid., S. 136 (Hervorhebungen von Marx). - Es sei daran erinnert, daß noch der späte Engels an dieser Marxschcn Kritik des mechanischen Materialismus festgchalten hat. So heißt cs in der Dialektik der Natur: „Alle Bewegung schließt mechanische Bewegung, Ortsveränderung größ­ ter oder kleinster Teile der Materie in sich, und erste Aufgabe, aber auch nur erste, der Wissenschaft ist, diese zu erkennen. Aber diese mechanische Bewegung erschöpft die Bewegung überhaupt nicht. Bewegung ist nicht bloß Ortsveränderung, sic ist auf den übcrmcchanischcn Gebieten auch Qualitätsveränderung“ (Marx/Engels, Werke, Band 20, Berlin 1968, S. 517; Hervorhebungen von Engels). « Ibid., S. 136.

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rialismus den französischen des achtzehnten Jahrhunderts vor­ ziehen, soweit er, wie der des Helvetius, am gesellschaftlich-öko­ nomischen Leben orientiert ist.38 Sie haben denn auch - wiederum in der »Heiligen Familie< - auf den „notwendigen Zusammenhang“ der materialistischen Moralphilosophie mit den sozialistischen Zielen hingewiesen: „Wenn der Mensch aus der Sinnenwelt . . . alle Kenntnis . . . sich bildet, so kommt es also darauf an, die empirische Welt so einzurichten, daß er das wahrhaft Menschliche in ihr er­ fährt . . . Wenn das wohlverstandene Interesse das Prinzip aller Moral ist, so kommt es darauf an, daß das Privatinteresse . . . mit dem menschlichen Interesse zusammenfällt. Wenn der Mensch un­ frei im materialistischen Sinne, d. h. frei ist, nicht durch die negative Kraft, dies und jenes zu meiden, sondern durch die positive Macht, seine wahre Individualität geltend zu machen, so muß man . . . jedem den sozialen Raum für seine wesentliche Lebensäußerung geben. Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so muß man die Umstände menschlich bilden. Wenn der Mensch von Natur gesellschaftlich ist, so entwickelt er seine wahre Natur erst in der Gesellschaft, und man muß die Macht seiner N atur nicht an der Macht des einzelnen Individuums, sondern an der Macht der Gesellschaft messen.“ 39 So kennzeichnen die Autoren den wesentlichen Gehalt des fran­ zösischen Materialismus, soweit er nicht in die Naturwissenschaft einmündet, sondern (über Fourier, Dezamy, Gay, Owen und an­ dere) zur „Lehre des realen Humanismus“ und „logische Basis des

38 „Die Franzosen“ , schreibt Marx in der Heiligen Familie (ibid., S. 137), „begaben den englischen Materialismus mit Esprit, mit Fleisch und Blut, mit Beredsamkeit . . . Sie zivilisieren ihn.“ - Den sozial gewendeten Materialismus des Helvetius charakterisiert er folgendermaßen: „Die sinnlichen Eigenschaften und die Selbstliebe, der Genuß und das wohlverstandne persönliche Interesse sind die Grundlage aller Moral. Die natürliche Gleichheit der menschlichen Intelligenz, die Einheit zwischen dem Fortschritt der Vernunft und dem der Industrie, die natürliche Güte des Menschen, die Allmacht der Erziehung sind Hauptmomente seines Systems“ (ibid.). 39 Ibid., S. 138.

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Kommunismus" 40 wird. Freilich ist, wie gesagt, zu bedenken, daß Marx und Engels dieses Urteil aussprechen, als sic dabei sind, Hegel und seine linken Schüler mit Fcucrbachschen Mitteln zu bekämpfen. Feuerbach aber stellte für sie „auf theoretischem Ge­ biete . . . den mit dem Humanismus zusammenfallenden Materia­ lismus" dar, wie „der französische und englische Sozialismus ... auf praktischem".41

40 Ibid., S. 139 (Hervorhebungen von Marx). - Cf. hierzu auch die Studie von Roger Garaudy Die französischen Quellen des wissenschaft­ lichen Sozialismus, Berlin 1954. 41 Ibid., S. 132 (Hervorhebungen von Marx). - Wie bewußt sich der junge Marx des - sachlichen - Zusammenhangs der sensualistischen Philo­ sophie Feuerbachs mit den utopisch-sozialistischen Lehren der Franzosen war, geht aus seinem Brief an Feuerbach vom 11. 8. 1844 hervor, worin cs heißt: „Es ist eine merkwürdige Erscheinung, wie . . . die Irreligio­ sität des sich als Menschen empfindenden Menschen . . . in das französi­ sche Proletariat herabgestiegen ist. Sie müßten einer der Versammlungen der französischen ouvriers beigewohnt haben, um an die jungfräuliche Frische, an den Adel, der unter diesen abgearbeiteten Menschen hervor­ bricht, glauben zu können. . . . Jedenfalls . . . bereitet die Geschichte un­ ter diesen ,Barbaren* unserer zivilisierten Gesellschaft das praktische Ele­ ment zur Emanzipation des Menschen vor. Der Gegensatz des französi­ schen Charakters gegen uns Deutsche ist mir nie so . . . schlagend gegen­ übergetreten als in einer fourieristischen Schrift, die mit folgenden Sätzen beginnt: «l’homme est tout entier dans scs passions.» «Avcz-vous jamais rencontrc un homme qui pensat pour penser, qui se ressouvint pour se ressouvenir qui imaginat pour imaginer} qui voulait pour vouloir) ccla donc est-il jamais arrivl Ä vous meme? . . . non Ividemment non!» Das Hauptmobil der Natur, wie der Gesellschaft ist daher die magische, die leidenschaftliche (die nicht reflektierende) attraction und «tout ctre, homme, plante, animal ou globc a refu unc somme des forces en rapport avcc sa mission dans l’ordre universel». . . . Sehn alle diese Sätze nicht aus, als wenn der Franzose absichtlich seine passions dem actus purus des deutschen Denkens entgegengesetzt hätte?" (Feuerbach, Briefwechsel, I. c., S. 184 und 185; Hervorhebungen bei Marx). - Marx spielt hier wohl auf folgende Stelle der Vorläufigen Thesen an: „Nur . . . wo sich . . . mit dem Denken die Anschauung, mit dem scholastischen Phlegma der deutschen Metaphysik das antischolastischc, sanguinische Prinzip des fran-

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Dieses Exkurses in die Frühgeschichte der Marxschen Theorie bedurfte es, um nochmals zu belegen, welche - neuen - Momente der sensualistischen Philosophie Feuerbachs den Übergang zur öko­ nomisch-dialektischen Betrachtungsweise erlaubten. Feuerbach ver­ trat so wenig einen „mechanischen*1 Materialismus, daß Marx und Engels sich seiner Argumente gegen dessen wirkliche Wortführer bedienen könnten.42 Indem Feuerbach methodisch beim Menschen als eines ebenso sinnlich-bedürftigen wie leidenschaftlich-tätigen Wesens ansetzt, läßt er - intensive - Naturqualitäten gelten, die der „physikalistische“ Flügel des älteren Materialismus mißachtet hatte (und die selbst fortgeschrittenen Geistern wie Diderot Schwie­ rigkeiten bereiteten). Es bleibt Feuerbachs Verdienst, daß er, der Sache nach, auf die frühbürgerlich-renaissancehaften Züge eines noch offenen Materialismus, selbst auf Jakob Böhmes Naturphilo­ sophie rekurriert43 und so eine Theorie qualitativ gestuften mate­ riellen Seins ermöglicht.

zösischen Sensualismus und Materialismus vereinigt, nur da ist Leben und Wahrheit“ (1. c., S. 254 f.; Hervorhebungen von Feuerbach). 42 Freilich bedarf die spezifisch menschliche Wirklichkeit, zu der na­ mentlich Feuerbach Marx und Engels den Zugang eröffnet hat, einer inhaltlich-ökonomischen Analyse; falsch wäre es (wie die „wahren Sozia­ listen“) anzunchmen, „man brauche Feuerbach nur praktisch zu machen, ihn aufs soziale Leben anzuwenden, um die vollständige Kritik der be­ stehenden Gesellschaft zu geben“ (Deutsche Ideologie, 1. c., S. 479). 48 Cf. dazu Feuerbachs (freilich noch in linkshegelianischem Geist ver­ faßte) Geschichte der neuern Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedikt Spinoza, in: Gesammelte Werke, Band 2, Berlin 1969; cf. zum Baconschen Materialismus S. 57 ff., wo Feuerbach - was seine spatere Posi­ tion mitcharakterisiert - unterstreicht, daß Bacon „dazu . . . berufen (war), das Studium der Physik, insofern sie Physik, nicht bloß »angewandte Mathematik' ist, zu erwecken; sein Geist war . . . ein auf . . . die Qualität der Dinge gerichteter, die Dinge in ihrem spezifischen, qualitativen Sein und Leben zu erfassen bestrebter Geist. Der ihn beherrschende . . . Be­ griff ist der der Qualität; daher er auch die Erfahrung so hervorhebt . . . Denn die Qualität . . . ist nur Gegenstand der sinnlichen Empfindung . . . , sie wird nur mittelbar . . . Gegenstand des Denkens. . . . Darum steht . . . B. in dieser Beziehung einzig . . . da. Denn der den Hobbes und Cartesius und andere Naturforscher . . . beherrschende Begriff ist der der Quanti-

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Wenn wir jetzt die Frage nach dem „Pantheismus“ Feuerbachs noch einmal aufrollcn, so deshalb, weil ihr hinsichtlich der geschicht­ lichen Stellung des Fcuerbachschen Philosophicrcns Schlüsselcharak­ ter zukommt. Wir sahen, wie positiv Feuerbach Spinozas Einfluß auf das kritische Bewußtsein der Neuzeit cinschätzt. In den »Grund­ sätzen« nennt er ihn den „Moses der modernen Freigeister und Materialisten“ .44 Und schon früher, als er noch über seinen philo­ sophiehistorischen Arbeiten sitzt, schreibt er: „So entgegengesetzt auch der praktische, die Spekulation verschmähende Realismus in den Systemen des sog. Sensualismus und Materialismus der Eng­ länder und Franzosen dem Geiste des ganzen Spinoza ist, so haben sie doch ihren letzten Grund in jener Anschauung von der Materie, die Spinoza als Metaphysiker in dem berüchtigten Satze aussprach: Die Materie ist ein Attribut Gottes.“ 45 Spinozas substanzhaftes

tat, ihnen ist die Natur nur von Seite ihrer mathematischen Bestimmbar­ keit Gegenstand. B. dagegen hebt . . . die Form der Qualität hervor, . . . Natur ist ihm nur unter dieser Form Gegenstand, sic ist . . . die pri­ mitive Form der Natur. Daher er auch sagt, daß selbst die erste Ma­ terie mit der Bewegung und Qualität in Verbindung gedacht werden müsse. . . . Darum sagt er von sich selber, daß er die passioncs oder appetitus materiae besonders zu erforschen suche" (Hervorhebungen von Feuerbach). Zu Böhme cf. S. 174 ff. - Aus den angeführten Stellen der Heiligen Familie geht zweifelsfrei hervor, daß den Autoren Feuerbachs Studie bekannt war. 44 Grundsätze, 1. c., S. 287. 45 Zitiert nach: Karl Grün, Ludwig Feuerbach in seinem Briefwechsel und Nachlaß, Band I, Leipzig/Heidelbcrg 1874, S. 324 f. (Hervorhebung von Feuerbach). —Feuerbach folgt hier offenbar der Konstruktion in He­ gels Geschichte der Philosophie, daß sich im französischen Materialismus „die spinozistische Substanz . . . vollbringt“ (Sämtliche Werke, Band 19, Glodcner, Stuttgart 1959, S. 509). Bei anderen Junghcgclianern wird dar­ aus die „französische Schule des Spinoza" (Heilige Familie, 1. c., S. 139). Marx und Engels legen demgegenüber dar, daß der französische Mate­ rialismus zwei Richtungen aufweist, deren eine auf Descartes, deren an­ dere auf Locke zurückgeht. Mündet jene in den mechanischen Materialis­ mus und die französische Naturwissenschaft ein, so wird diese zur unmittelbaren Quelle sozialistischer Lehren (cf. ibid., S. 132; 138 f.).

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Einheitsprinzip deus sive natura konnte derart zur Alternative aut deus aut natura werden.46 Feuerbach (das stützt unsere These vom nicht-mechanischen Charakter seiner Philosophie) wendet sich dagegen, den spezi­ fisch deutschen Materialismus von Holbach oder Lamettrie abzu­ leiten.47 Statt dessen hat er, wie Feuerbach - ideengeschichtlich nachzuweisen sucht, „einen religiösen Ursprung; er beginnt mit der Reformation; er ist eine Frucht der Liebe Gottes zum Menschen, deren Bild oder vielmehr Wesen die Reformatoren nicht in einer unbestimmten, phantastischen Liebe, sondern in der innigsten Liebe des Menschen . . . fanden. . . . Erst im Protestantismus wurde das, was im Katholicismus nur ein theologisches Bild oder Sacrament war, anthropologische, d. h. wirkliche, lebendige Wahrheit. ,Gott ist die Liebe*; aber er liebt nur, wenn er liebt mit demselben Her­ zen, mit derselben Innigkeit und Wahrhaftigkeit, womit der Mensch den Menschen . . . liebt. . . . Diese . . . Vermenschlichung und Verwirklichung der göttlichen Liebe . . . ist die That der Refor­ mation . . . Die Liebe, welche keine bloße geistliche . . . Phrase . . . ist . . . die . . . menschliche Liebe ist wesentlich pathologische, d. h. . . . von den materiellen, wirklichen Leiden der Menschheit ergriffene Liebe. . . . Die wirkliche . . . Liebe weiss nichts von einer von der Anatomie und Physiologie getrennten Psychologie. Und diese Liebe, dieser Gott, dem nicht nur unser Seelenheil, sondern auch unser leibliches Wohl und Leben am Herzen liegt, der nicht in der priesterlichen Hostie, sondern in unserem natürlichen Leibe gegenwärtig ist, der nicht nur einst sich incarnierte, sondern jetzt noch mit unserem Fleisch und Blut sich vereinigt, . . . im Hirne das Licht der Erkenntnis, im Herzen die Glut der Affecte, wenigstens der guten, . . . anzündet - dieser Gott ist der Vater des Materialis­ mus. Der deutsche Materialismus ist also . . . ein echter Deutscher, 46 Cf. zu Fcucrbachs Spinoza-Interpretation G. W. Plechanow, Grundproblcme des Marxismus, Berlin 1958, S. 21 ff.; ferner S. Rawidowicz, Ludwig Feuerbachs Philosophie. Ursprung und Schicksal, 2. Aufl., Berlin 1964, S..179-181. 47 Cf. Fcucrbach, Sämtliche Werke, neu herausgegeben von Wilhelm Bolin und Friedrich Jodl, Band X (Schriften zur Ethik und nachgelassene Aphorismen), Stuttgart 1911, S. 155.

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der bereits im Zeitalter der Reformation das Licht der Welt er­ blickte . . 48 Mit Reckt wi rd in der Literatur über Feuerbach immer wieder betont, daß dessen Religionskritik Gott als absolutes Subjekt streicht, nicht aber die göttlichen Prädikate; sic erweisen sich Feuer­ bach als solche der - im Rang erhöhten - menschlichen und außer­ menschlichen Natur. Indem Spinoza Gott mit der Natur identi­ fiziert und diese zum Ursprung des Menschen erklärt, nimmt er den naturalistischen Anthropologismus vorweg. Was Feuerbach jedoch an Spinoza auszusetzen hat, ist die allzu abstrakte Weise, in der das göttlich-natürliche Attribut der „extensio“ bei ihm auftritt; die - zugleich anerkannte - Materialität verflüchtigt sich, der „amor dei" wird zum „amor intcllectualis“. Damit geht notwendig einher, daß der spinozistischcn Substanz jeder subjektiv-intensive, entwicklungsgeschichtliche Faktor fehlt; sic „bleibt“ , wie bereits Hegel (und nach ihm der Feuerbachianer Marx) notiert, „in der Starrheit, Versteinerung, ohne Böhme'sches Quellen“ .49 Feuerbach (das wird selten beachtet) sieht „die Natur in einem ewigen Fortschritt begriffen“ 40; sie „kann nicht alles beliebig zu jeder Zeit . . . ; ihre Hervorbringungen . . . sind an Bedingungen geknüpft. . . . Der Charakter der Erde ist gegenwärtig der der Stabilität; die Zeit der Revolutionen ist vorüber; sie hat aus­ getobt. . . . Aber wie der Mensch nur in ungewöhnlichen Zeiten ungewöhnliche Kräfte entwickelt, . . . so entfaltete auch die Erde nur in den Zeiten ihrer geologischen Revolutionen, . . . wo alle ihre Kräfte und Stoffe in der höchsten Gärung, Wallung und Spannung begriffen waren, ihre zoologische Zeugungskraft. Wir kennen die Natur nur in ihrem gegenwärtigen Status quo; wie können wir also schließen, daß, was jetzt nicht von der Natur geschieht, . . . über­ haupt nicht, auch . . . unter ganz andern . . . Verhältnissen, nicht geschehen könne?“ 41 Die Natur durchläuft eine Reihe von Stufen, « Ibid., S. 155 f.; 157. 49 Hegel, Geschichte der Philosophie, 1. c., S. 377. so Feuerbach, Die Naturwissenschaft und die Revolution, in: Gesam­ melte Werke, Band 10, 1. c., S. 348. 5* Feuerbach, Das Wesen der Religion, l. c., S. 21; cf. auch S. 19.

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auf denen nacheinander - erst später gleichzeitig - „mechanische, physische, chemische, vegetabilische, animalische Kräfte und Trieb­ federn“ 52 wirksam werden. Feuerbach leugnet also - im Gegensatz zu Hegel - nicht, daß die Natur sich zeitlich entfaltet, wirkliche Geschichte hat. Nur des­ halb läßt sich ihm zufolge die schwierige Frage, wie Geist aus Natur abzuleiten sei, angemessen beantworten. Geht man von bei­ den als fixen Entitäten aus, macht man sich „von der Natur eine zu despektierliche, . . . vom Geiste eine zu hohe, vornehme Vor­ stellung“ 53, so ist damit bereits die Unlösbarkeit des Problems gesetzt. Wer behauptet, der Geist entspringe nicht der Natur, er­ klärt ihn insgeheim zu einem außer- und überweltlichen Wesen. „In der T at“ , bestätigt Feuerbach ironisch, „ist . . . der Geist, wie ihn die Theisten fassen, nicht aus der Natur erklärbar; denn dieser Geist ist ein sehr spätes Produkt, und zwar . . . der menschlichen Phantasie und Abstraktion, und daher so wenig ableitbar von der Natur, als ein Leutnant, ein Professor, ein Regierungsrat unmittel­ bar aus der Natur erklärbar ist, wenn es gleich der Mensch ist.“ 54 - Es gilt, die vermittelnden Glieder aufzuspüren. Trotz gelegentlicher Anklänge an Lamarck oder Darwin ist die Naturkonzeption Feuerbachs nicht mit dem gängigen Evolutio­ nismus des späteren neunzehnten Jahrhunderts zu verwechseln. „Feuerbach“ , unterstreicht auch Rawidowicz, „kennt weder die konsequente Mechanistik noch die Atomistik, die Natur bildet für ihn eine organische Einheit.“ 55 Freilich zieht er hieraus den falschen Schluß, dieser „Naturalismus“ sei „in keiner Weise materialistischer Prägung“ .3234*36 Ihm (wie den meisten bürgerlichen Interpreten) wider­ strebt schon der Gedanke eines nicht ausschließlich quantifizieren­ 32 Ibid., S. 15; cf. über die Einheit von anorganischer und organischer Natur auch Gesammelte Werke, Band 6, 1. c., S. 145. 33 Feuerbach, Gesammelte Werke, Band 6, 1. c., S. 173. 34 Ibid., S. 174 (eigene Hervorhebung). 53 S. Rawidowicz, Ludwig Feuerbachs Philosophie, 1. c., S. 177; cf. auch S. 219, wo Rawidowicz den Satz aus Feuerbachs Nachlaß zitiert: „Aber es gibt für uns nur ein organisches Leben, organisches Wirken, organisches Denken“ ; cf. dazu ferner S. 222. 36 Ibid., S. 177.

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den Materialismus. Wenn Feuerbach den »extrem mechanistischen Materialismus" ebenso verneint wie den „spiritualistischen Idealis­ mus“ 57, so hält er nicht, wie Rawidowicz nahelegt, die Differenz der philosophischen Grundrichtungen für unerheblich, sondern möchte sie - auf anthropologischer Basis - neu bestimmen. Diese doppelte Frontstellung Feuerbachs, die besonders deutlich hervortritt in seiner Rezeption des Spinozismus, dessen mechani­ stische Züge er nicht weniger kritisiert als die theologischen, ist von hohem Interesse. Zeigt sie doch, daß Feuerbachs Philosophie das Endglied einer deutschen Denktradition des „pantheistischen“ Materialismus bildet, die von Tschimhaus über Stosch, Lau und Edelmann zu Lessing, Herder und Goethe führt.58 „Was Goethe erst unmittelbar . . . aussprechen konnte“ , sagt der junge Engels, anspielend auf Feuerbach, „das ist in der neuesten deutschen Philo­ sophie entwickelt und begründet“ .69 Sowenig man sich an Feuer­ bachs - einigermaßen apokryphe - Erwägungen über den „genea­ logischen Zusammenhang des Materialismus mit dem Protestantis­ mus“ 60 wird halten können - mit Recht geht er von der Natur-87 87 Ibid., S.218. 58 Cf. zu dieser Tradition folgende marxistische Studien: Paul Rilla, Lessing und sein Zeitalter, Berlin 1960, vor allem S. 365-401; ferner Herbert Lindner, Das Problem des Spinozismus im Schaffen Goethes und Herders, Weimar 1960; schließlich A. W. Gulyga, Der deutsche Materia­ lismus am Ausgang des 18. Jahrhunderts, Berlin 1966, Kapitel II und V. Wichtige Materialien enthält auch der Sammelband Aufklärung. Erläu­ terungen zur deutschen Literatur, Berlin 1971, cf. besonders S. 30-34; 64-70. « Die Lage Englands. Thomas Carlyles 'Past und Present’, in: Marx/ Engels, Werke, Band 1, 1. c., S. 547. 80 Cf. Band X der Bolin-Jodlschcn Ausgabe, 1. c., wo Feuerbach Paul Luther, den Sohn des Reformators, der Arzt wurde, zum Begründer des spezifisch deutschen Materialismus erklärt (S. 157). Dabei betont er, „dass der Materialismus der Lutherischen Arzte noch völlig im . . . Dienste des kirchlichen Glaubens stand, dass sein letzter Zweck ein religiöser - die Erkenntnis Gottes . . . war. Aber ebenso versteht es sich . . . , dass, sowie die Naturwissenschaft . . . selbständig wurde und sich vervollkommnete, auch dieser halbe, . . . mit seinem Gegensatz verbundene Materialismus ganzer . . . Materialismus wurde“ (S. 158).

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Spekulation der Renaissance aus. Nicht umsonst verstanden die Zeitgenossen den bahnbrechenden Arzt Paracelsus als „Luther der Medizin“ . Das neue (auch zu seinem Vorteil noch mit mystischgotischen“ Elementen behaftete) Naturbild war qualitativ ge­ gliedert und eben deshalb einer Vermittlung mit menschlicher Aktivität fähig. So zielt die Sehnsucht Fausts wie des jungen Goethe Lukäcs zufolge auf „eine Philosophie der N atur“ ab, „die zu einem vollständigen Mitleben mit der Bewegtheit der Natur führt, eine Philosophie, die über das bloß Kontemplative, TotObjektive, aus der Unverbundenheit der Naturerkenntnis mit der menschlichen Praxis hinausführt“ .61 - Noch Feuerbach ist dieses Desiderat geläufig. Er betrachtet die Natur als einheitliches Ganzes, ja - wie wir sahen - als produktives Subjekt. Was „Gott der Welt oder Natur überhaupt“ genannt wird, ist „nur der Ein- und Aus­ druck von der Gottheit der N atur“ .62 Mit ihr verbindet sich menschliches Tun, das die natürlichen Eigenschaften etwa des Salzes in Form von „ökonomischen, medizinischen und technologischen Wirkungen“ 63 darstellt. Feuerbachs Werk beschließt einen der ideologiegeschichtlich be­ deutsamsten Vorgänge des achtzehnten Jahrhunderts: die „SpinozaDebatte“ in der deutschen Aufklärung. An ihr nahmen die besten Köpfe jener Zeit teil. Neben der Leibniz-Wolffschen Schulmeta­ physik und idealistischer Popularphilosophie entwickelten sich materialistische Gedanken auf dem Hintergrund einer (erst verheim­ lichten, später offenen) Rezeption des - als atheistisch verrufenen Spinozismus, der so zur maßgeblichen Quelle und Richtung deut­ scher Materialisten wurde.64 Darin reflektierten sich, wie Marx in ähnlichem Zusammenhang dargetan hat, die Widersprüche einer Produktionsweise, „die sich aus der feudalen Gesellschaft heraus­ arbeitet . . . , ihre eigentümliche Form aber noch nicht gefunden 61 Lukdcs, Faust-Studien, in: Goethe und seine Zeit, Berlin 1953, S. 179. 62 Feuerbach, Das Wesen der Religion, 1. c., S. 10. 63 Ibid., S. 9. 64 Die Einzelheiten dieser Debatte sind hier nicht zu erörtern; cf. zu ihrem philosophiegeschichtlichen Kontext A. W. Gulyga, Der deutsche Materialismus am Ausgang des 18. Jahrhunderts, 1. c., S. 28 ff. und 45 ff.

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hat“ .*4 Das Überkommene wird in die Sprache des Neuen über­ setzt; die bürgerliche Philosophie entfaltet sich zunächst selbst noch „in der religiösen Form des Bewußtseins“, womit sie freilich „einer­ seits die Religion als solche vernichtet, andrerseits positiv (sich) . . . nur noch in dieser idealisierten, in Gedanken aufgelösten religiösen Sphäre bewegt“ .6* Derart verkörpert Spinozas All-Eins-Lehre eine restlos in Philosophie überführte Wcltfrömmigkeit - weit entfernt von orthodoxer Religiosität. Sie verdrängt die transzendente Gottes­ vorstellung durch die Idee unverbrüchlicher Gesetzmäßigkeit des Naturlaufs; ihm kann auch der Mensch nicht entrinnen. Damit sind die - fortgeschrittensten - deutschen Aufklärer einverstanden. Was sic von Spinoza trennt, worin sie seine Lehre modifizieren, ist bedingt durch die gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit.64*67 Die deutsche Bürgerklasse war, verglichen mit der französischen oder englischen, im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert politisch­ ökonomisch noch außerordentlich schwach.68 Das erklärt das be64 Marx, Theorien über den Mehrwert, Teil 1, Berlin 1956, S. 18. 68 Ibid. 87 Herbert Lindncrs Buch Das Problem des Spinozismus im Schaffen Goethes und Herders, 1. c., verfolgt die Frage nach Einheit und Diffe­ renz Spinozas und der deutschen Spinozisten in sorgfältigen Analysen; cf. S. 78-95. - Die Arbeit trägt Wesentliches bei zur Kritik der in der offiziellen Literatur verbreiteten These, Goethe sei kein Spinozist, son­ dern „ncuplatonischer Mystiker“ gewesen. 68 Cf. dazu die wichtige Analyse von Marx und Engels in der Deut­ schen Ideologie (1. c., S. 176 f.): „Der Zustand Deutschlands am Ende des vorigen Jahrhunderts spiegelt sidt vollständig ab in Kants ,Critik der practischen Vernunft*. Während die französische Bourgeoisie sich durch die kolossalste Revolution, die die Geschichte kennt, zur Herr­ schaft aufschwang und den europäischen Kontinent eroberte, während die bereits politisch emanzipierte englische Bourgeoisie die Industrie re­ volutionierte und sich Indien politisch und die ganze andere Welt kom­ merziell unterwarf, brachten es die ohnmächtigen deutschen Bürger nur zum ‘guten Willen’, selbst wenn er ohne alles Resultat bleibt, und setzen die Verwirklichung dieses guten Willens, die Harmonie zwischen ihm und den Bedürfnissen und Trieben der Individuen, ins Jenseits. Dieser gute Wille Kants entspricht vollständig der Ohnmacht, Gedrücktheit und

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harrliche, wenn auch nicht unumstrittene Vorherrschen idealistischer Philosophie während der Aufklärungsperiode. Rezipiert wird der Materialismus in theologisch verhüllter Form, nicht in der des Holbachschen »Systems der Natur«.69 Daneben werden die prä­ romantischen Ideen Rousseaus, des Gegners der „philosophes“ , begeistert aufgenommen (insbesondere seine „naturalistische“ Re­ volte). Erst kurz vor Ausbruch der Französischen Revolution ver­ stärken sich die materialistischen Tendenzen im deutschen Denken,70 das freilich den Spinozismus charakteristisch abwandelt. Dessen Substanz ist starr und unwandelbar; bei Goethe und Herder, um die wichtigsten Autoren zu nennen, ist sie lebendig und von un­ begrenzter Produktivität; „die mathematisch-logische Notwendig­ keit des göttlichen Seins“ verwandelt sich in eine „dynamische Kausalität der göttlichen K raft“ .71 Goethes und Herders Weltbild Misere der deutschen Bürger, deren kleinliche Interessen nie fähig waren, sich zu gemeinschaftlichen, nationalen Interessen einer Klasse zu entwikkeln, und die deshalb fortwährend von den Bourgeois aller andern N a­ tionen exploiticrt wurden. Diesen kleinlichen Lokalinteressen entsprach einerseits die wirkliche lokale und provinzielle Borniertheit, andrerseits die kosmopolitische Aufgeblähtheit der deutschen Bürger“ (Hervorhebun­ gen von Marx und Engels; cf. auch S. 178). 69 Erinnert sei daran, wie sich Goethe in Dichtung und Wahrheit zu Holbachs berühmtem Werk, der Bibel des mechanischen Materialismus, äußert: „Es kam uns so grau, so cimmerisch, so totenhaft vor, daß wir . . . davor wie vor einem Gespenste schauderten. . . . System der Natur ward angekündigt, und wir hofften also wirklich etwas von der Natur, unserer Abgöttin, zu erfahren. . . . Allein wie hohl und leer ward uns in dieser tristen atheistischen Halbnacht zu Mute . . . Eine Materie sollte sein . . . , von Ewigkeit . . . her bewegt, und sollte . . . die unendlichen Phänomene des Daseins hervorbringen. Dies alles wären wir sogar zu­ frieden gewesen, wenn der Verfasser wirklich aus seiner bewegten Mate­ rie die Welt vor unseren Augen aufgebaut hätte. Aber . . . indem er einige allgemeine Begriffe hingcpfahlt, verläßt er sie sogleich, um das­ jenige, was . . . als höhere Natur in der Natur erscheint, zur materiellen, schweren, zwar bewegten aber doch richtungs- und gestaltlosen Natur zu verwandeln“ (Werke, Hamburger Ausgabe, Band 9, S. 490; 491). 70 Cf. hierzu Lindncr, 1. c., S. 34. 71 Schneege, Goethes Spinozismus (1911), zitiert bei Lindner, l.c., S. 82.

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geht über bloßen Formwcchscl hinaus; es vertritt „den Gedanken der Entwicklung vom Niederen zum Höheren“ .7172* Lindncrs Studie weist nach, daß sich darin neue, biologische Einsichten abzeichnen: „Hatte zu Spinozas Zeiten die klassische Mechanik . . . das unend­ liche All der bewegten Körper als ein einheitliches Ganzes sehen gelehrt, das sich nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten bewegt, dem Blick der Menschen gewaltige Räume erschlossen, vor denen sic selbst und die Dinge dieser Erde nur als kleinste Teilchen des unendlichen Zusammenhangs erscheinen mußten, so werden noch in seiner Zeit die Grundlagen der Biologie geschaffen, die in ihrer weiteren Vervollkommnung dem Menschen genauso ein großes Reich allmählich vermittelt, wo sich vor seinem Auge alles in . . . lebende Organismen auflöst.“ 72 - „Je mehr wir die Materie kennen lernen“ , schreibt Herder, „desto mehrere derselben entdecken wir in ihr, so daß der leere Begriff einer todten Ausdehnung . . . völlig verschwindet.“ 7475Damit erübrigt sich Spinozas Abfolge: SubstanzAttribut-Modus. An ihre Stelle tritt der Gedanke, „daß sich die Gottheit in unendlichen Kräften auf unendliche Weise offenbare"1*. Leibniz, dessen Spuren sich im Angeführten unschwer erkennen lassen, wird für den deutschen Spinozismus deshalb wichtig, weil er die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse verarbeitet (insbeson­ dere die Einsicht, daß die Natur eine durch Übergänge verbundene Stufenfolge bildet). Seine »Monadologie« korrigiert Spinoza inso­ fern, als sie die „tätige Seite“ (Marx) der idealistischen Spekulation von Kant bis Hegel - wenngleich nur keimhaft - vorwegnimmt. Die unentwegt aus sich „Vorstellungen“, die das ganze Universum gemäß ihrer Individualität ausmachen, produzierende, ja in diesem Produzieren bestehende Monade „kann als der zum Leben und zur Selbständigkeit“ - zur eigenen Substantialität - „erwachte Modus angesehen werden“ .76 In ideologischer Form drückt sich darin aus, daß die Welt immer mehr als Produkt nicht einer außerweltlichen 71 Lindner, 1. c., S. 80. 73 Lindner, 1. c., S. 87; cf. auch die Anführung aus K. Biedermann, Deutschland im achtzehnten Jahrhundert, S. 87 f. 74 Zitiert bei Lindner, S. 88. 75 Ibid., S. 92 (Hervorhebungen von Herder). 78 Lindner, 1. c., S. 90.

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Gottheit, sondern geschichtlicher Arbeit der menschlichen Gattung auffaßbar wird. - Unmittelbar freilich sollte „Tätigkeit“ als Wesensmerkmal der Substanz der Naturkonzeption eines „um­ geformten Spinozismus“ 77 zugute kommen. Ohne deshalb zu Leibnizianern zu werden, ohne ihre materialistischen Grundlagen aufzuopfern, eignen sich Lessing, Herder und Goethe die von Leibniz entwickelten, über die mechanistischen Züge Spinozas hin­ ausreichenden Motive an. „Die N atur“ , sagt Lindner, „konnte jetzt in ständiger Bewegung und Entwicklung gesehen werden. Das Naturgeschehen bekam einen Prozeß-Charakter.“ 78 Damit aber geht (und das ist die folgenreichste Modifikation des Spinozismus) ein qualitativ neuer Begriff des Menschen einher. Erwies sich die ewige Substanz des Spinoza, mit Marx zu reden, als „metaphysisch travestierte Natur in der Trennung vom Men­ schen“ 79, spielte dieser in seinem System die rein periphere, kon­ templative Rolle eines endlichen Modus, so rückt er bei Goethe und Herder (wie insgesamt in der Literatur des Sturm und Drang) als titanenhaft tätig-erkennendes, die Welt umgestaltendes Wesen ins Zentrum.80 Allerdings ist zu beachten, daß schon in Spinoza selbst „Übergänge“ zu der Einsicht „angelegt“ sind, „daß das 77 Cf. ibid., S. 89. 7« Ibid., S. 93. - Lindner belegt, daß Herder und Goethe unbeschadet dessen, daß sie Leibniz’ „schöpferisches Prinzip“ übernehmen, seinen Idea­ lismus scharf kritisieren. Natur bleibt für sic „allerhöchste Realität“ (cf. S. 90 f.). Cf. zu Lcssings Verhältnis zu Spinoza und Leibniz Paul Rilla, Lcssing und sein Zeitalter, 1. c., S. 365 ff. - In der nachkantischen Pe­ riode vermochte der Spinozismus eine idealistische Entwicklung zwar nicht zu verhindern, aber bestimmte sie nachhaltig als Ausgangspunkt, Durchgangsstufe oder zu bekämpfende Richtung. Schellings „spekulative Physik“ und Hegels Anstrengung in der Phänomenologie des Geistes, „das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subjekt aufzu­ fassen“ (Sämtliche Werke, Glöckner, Band 2, Stuttgart 1932, S. 22; Her­ vorhebungen von Hegel), sind sachlich nicht anders motiviert als die Aufnahme des Lcibnizschen Moments der „Tätigkeit“ in den Spinozismus durch die Aufklärer. Nur führen sie zu weit idealistischeren Konsequen­ zen. Die heilige Familie, I. c., S. 147 (Hervorhebungen von Marx). 80 Cf. Lindner, 1. c., S. 93; 80.

Fcucrbachs Stellung in der Geschichte des Materialismus

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göttliche Wesen in Wahrheit das menschliche Wesen ist“.81 Die Identifikation von Gott und Welt enthält potentiell die von Gott und Mensch. Nichts anderes lehrt Feuerbachs „Humanismus“ , der offen als der „seines theologischen Anhängsels entledigte Spinozismus“ 82 auftritt. Dabei offenbart sich dessen materialistischer Inhalt. Nur: Feuerbach übernimmt ihn nicht in seiner mechanistisch beschränkten Form. Das war hier in extenso zu belegen. So kennt Feuerbach - unausgesprochen dialektisch denkend - eine „Einheit der Welt“ als „Harmonie der Ursachen und Wirkungen“ M; die Natur „hat keinen Anfang und kein Ende. Alles in ihr steht in Wechselwir­ kung; alles ist relativ, alles zugleich Wirkung und Ursache; alles in ihr ist allseitig und gegenseitig“ .84 Wir sahen ferner, daß Fcucrbach, fortgeschrittener als die meisten französischen Materialisten, im Menschen keinen bloßen Spczialfall physischer Natur erblickt, sondern - umgekehrt - diese (unbeschadet ihres genetischen Primats vor dem Menschen) im Medium der anthropologischen Wirklichkeit interpretiert. Daß dieser Ansatz dem Naturbegriff selbst nicht äußerlich bleibt, bedarf keiner Frage. Auch darauf wurde hier ein­ gegangen. Feuerbachs Materialismus trägt nicht nur Spuren roman­ tischer Naturspekulation 85 (die ihrerseits - man denke an Schcl8> Ibid., S .9 4 f. 82 G. W. Plechanow, Grundproblcme des Marxismus, I. c., S. 23. 83 Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, 1. c., S. 143. 84 Ibid., S. 115. 83 Cf. dazu Rawidowicz, 1. c., S. 178 (wo auch auf die Verwandtschaft Feuerbachs mit Herder und Goethe verwiesen wird). - Engels zählte im vorigen Jahrhundert zu den wenigen, die zur objektiven Kenntnisnahme der spekulativen Naturauffassung bereit waren: „Es ist viel leichter, mit dem gedankenlosen Vulgus ä la Karl Vogt über die alte Naturphiloso­ phie herzufallen, als ihre geschichtliche Bedeutung zu würdigen. Sic ent­ hält viel Unsinn und Phantasterei, aber nicht mehr als die gleichzeitigen unphilosophischen Theorien der empirischen Naturforscher, und daß sic auch viel Sinn und Verstand enthält, fängt man seit der Verbreitung der Entwicklungstheorie an einzusehen. . . . Die Naturphilosophen verhalten sich zur bewußt-dialektischen Naturwissenschaft wie die Utopisten zum modernen Kommunismus“ (Anti-Dühring, in: Marx/Engcls, Werke, Band 20, Berlin 1968, S. 11; 12).

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Alfred Schmidt: Geschichte des Materialismus

lings Bruno-Rezeption - auf Motive der Renaissance zurückgreift). Eher noch knüpft er, zumindest der Sache nach, an die deutsche Debatte um Spinoza an, den auch er, auf Leibniz rekurrierend, „dynamisiert“ .88 Solange aus gesellschaftlichen Gründen ein histo­ risch-dialektischer Materialismus noch nicht möglich ist, gestatten es „pantheisierende“ , Natur und Mensch erhöhende Lehren, gleichzeitig Idealismus und Mechanizismus zu bekämpfen. - Ihr fortgeschrittenster Vertreter in Deutschland ist Feuerbach. Sein M a­ terialismus bleibt im Bürgertum Episode, weil dieses dem Proletariat gegenübersteht, noch ehe es sich politisch als Klasse konstituiert hat.80*

80 Daß sich Feuerbach, noch als Junghegclianer, intensiv mit Leibniz beschäftigt hat, wirkt in seinen späteren Schriften fort. Lenins Konspekt zu den Heidelberger Vorlesungen hebt denn auch hervor, daß Feuerbach (cf. 1. c., S. 73) „Energie“ und „Tätigkeit“ gleichsetzt. „Im Begriff Ener­ gie“ , sagt er, „steckt in der Tat ein subjektives Moment, das z. B. im Begriff Bewegung nicht vorhanden ist“ (Werke, Band 38, Berlin 1964, S. 43 f.).

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OriginilbcitriR 1974.

PH ILO SO PH IE U N D W IR K LIC H K EIT D IE H E G E LK R IT IK LUDW IG FEUERBACHS Von

E r ic h T h ie s

I. Die Verwirklidjung der Vernunft - das Programm des HegelBriefes Die Wirklichkeit des Vernünftigen und die vernunftlose Wirk­ lichkeit Überwindung des Christentums //. Die Verwirklidjung der Philosophie. Unmittelbarkeit und Ver­ mittlung in der Neuen Philosophie Die Notwendigkeit einer Neuen Philosophie Der systematische Ansatz der Hcgelkritik Feuerbachs Ausgang von der Nichtphilosophie In einer Reihe von scharfsinnigen Untersuchungen über Feuer­ bach sind in den letzten Jahren Perspektiven entwickelt worden, die die Diskussion des Feuerbachschen Ansatzes bei der Natur des Menschen wieder fruchtbar gemacht haben. Vielleidit hat sich jetzt auch in der Feuerbach-Diskussion die Maßstäbc setzende philo­ logische Gründlichkeit der Hegelinterpretation ausgewirkt: Es wurde die Aufgabe sichtbar, das Feuerbach-Bild zu korrigieren, das bisher vor allem geprägt wurde von kurzsichtigen Apologeten, orthodoxen Theologen und Marxisten und den Verfechtern einer systematischen Philosophie, die an Feuerbach nur den Makel be­ grifflicher Inkonsistenz festzuhalten wußten. Die Forderung nach einer neuen Lektüre Feuerbachs 1 leuchtet ein angesichts der viel* 1 Alfred Schmidt in seiner Einleitung zu Ludwig Feuerbach, Anthro­ pologischer Materialismus, 2 Bände, hrsg. von Alfred Schmidt, Frankfurt/Wien (1967). Der vorliegende Aufsatz ist aus meinem Beitrag für das FeuerbachSonderheft der Revue internationale de Philosophie, Bruxelles, 26e

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faltigen, nun deutlicher hervortretenden und stringenter gefaßten Perspektiven, unter denen man sich zurzeit mit Feuerbachs Denken befaßt. In einem berühmt gewordenen Aufsatz hat Karl Barth Feuer­ bachs Apotheose des Menschen als Frage an die neuere Theologie gestellt und damit Feuerbach für das theologische Bewußtsein unserer Zeit aktualisiert.2 Weiter sind Johann Baptist Metz und eine Gruppe junger katholischer Theologen zu nennen, die, von Fragen einer säkularisierten Theologie ausgehend, mit Fcucrbach und Marx das Konzept einer „kritischen Theologie als Kritik der Theologie“ entwickeln.3 Die dialogische Philosophie Martin Bubers und Karl Löwiths Analysen über »Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen< sowie seine »Kritik der geschichtlichen Existenz« berufen sich auf Feuerbachs Thesen zur Anthropologie.4 Mit LÖwith hat neuerdings Herbert Marcuse Feuerbachs Wende zur Natur gegen die spekulative Metaphysik und den historischen Materialismus ausgespielt.5 Daran anschließend versteht Alfred Schmidt Feuerbachs anthropologischen Materialismus als Korrektiv eines immer technokratischer werdenden Marxismus und entwickelt Ann£c, n° 101, Fase. 3 (1972), S. 272 ff., hervorgegangen. Edition der „Erlanger Vorlesungen“ (s. Anm. 9) und Aufsatz sind von der Philoso­ phisch-historischen Fakultät der Universität Heidelberg als Dissertation angenommen worden. 8 Karl Barth, Ludwig Feuerbach. Mit einem polemischen Nachwort, Zwischen den Zeiten V, 1927, 5. Jg., H. 1. Vgl. John Glassc, Barth zu Feuerbach, Evangelische Theologie, 1968, Jg. 28. (Beide hier abgedr.) 3 Marcel Xhaufflairc, Feuerbach und die Theologie der Säkularisa­ tion, München 1972. Vgl. meine Rezension in der Theologischen Zeit­ schrift, 1972, Jg. 28, H. 4. 4 Martin Buber, Das Problem des Menschen, in: Werke, l.Band, Münchcn/Hcidclbcrg 1962. Vgl. Ivan Dubsky, Ludwig Feuerbach in der Buberschen Sicht, Studi in memoria di Carlo Ascheri, Diffcrenzc, 1970, 9. Karl Löwith, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, Mün­ chen 1928; ders., Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Logos, Band XV II, Tübingen 1928. (In diesem Bande abgedr.) 5 Herbert Marcuse in einem Vortrag auf dem Hegel-Kongreß, Stutt­ gart 1971.

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die Idee einer emanzipatorischen Sinnlichkeit, einer mit der Natur versöhnten Sinnlichkeit, als notwendige Voraussetzung neuer Gescllsdiaft und neuer Freiheit.® Weiter ist Fcucrbadis Auflösung der Metaphysik und Theologie in Anthropologie für Ernst Bloch ein Anstoß gewesen, den humanistischen Kern der Marx’sdien Lehre konsequent auszuformulieren.7 In der Vor- und Frühgeschichte des Marxismus nimmt sein Denken einen breiten Raum ein, ein­ mal in der Diskussion systematischer Probleme und philosophichistorisdicr Zusammenhänge zwischen Hegel, Feuerbach und Marx, zum anderen in den Darstellungen der Entwicklung des jungen Marx zum Theoretiker des wissenschaftlichen Sozialismus.® Durdi die auf ein hohes Niveau getriebene Hegclintcrprctation und die Diskussion um die Kritische Theorie der sogenannten Frankfurter Sdiule ist ein zunehmendes Interesse an den systematisdien An­ sätzen der frühen Hegelinterprctation und -kritik zu vcrzcidinen, deren Zeugnisse noch bei weitem nicht ausreichend erschlossen sind.9 Obwohl die Hegelexcgese das formale Niveau der Auseinander­ setzung mit Fcucrbadi bereits beeinflußt zu haben scheint, fehlt in der Fcucrbach-Litcratur noch weitgehend die differenzierende ® Alfred Schmidt, Emanzipatorisdic Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologisdicr Materialismus (München 1973). 7 Ernst Bloch, Keim und Grundlinie. Zu den Elf Thesen von Marx über Feuerbach, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin 1953, Jg. 1, (hier abgedr.), in überarbeiteter Form eingegangen in: Das Prinzip H off­ nung, 3 Bände, (Frankfurt/M. 1967), I, S. 288 ff. # Vgl. die differenzierten Interpretationen von Klaus E. Bodemühl, Leiblichkeit und Gesellschaft. Studien zur Rcligionskritik und Anthro­ pologie im Frühwerk von L. Feuerbach und K. Marx, Göttingen 1965; und W. Schuffenhaucr, Fcucrbadi und der junge Marx. Zur Entstehungs­ geschichte der marxistischen Wcltansdiauung, Berlin 1965. » Dazu gehören Fcucrbadis von Carlo Aschcri (f) und dem Verf. be­ arbeiteten »Erlanger Vorlesungen« (1829-1836) - Einführung in die Logik und Metaphysik, Logik und Metaphysik, Geschichte der neuern Philo­ sophie -, die als »Schriften aus dem Nachlaß«, hrsg. und cingclcitct von Erich Thics, ab 1974 bei der Wiss. Buchgcscllschaft Darmstadt erscheinen werden, und David Friedrich Strauß’ »Tübinger Vorlesungen« (1832) über »Logik und Metaphysik« sowie weiteres, bislang nur in Archiven zugäng­ liches Material.

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Rüdesicht auf die spezifische Weise der Feuerbachschen Hegelrezep­ tion und -interpretation, die doch die Kritik der spekulativen Philosophie (ab 1839), die Kritik des Christentums (1841) sowie die 1842/1843 verfaßten Entwürfe einer Neuen Philosophie oder Philosophie der Zukunft entscheidend bestimmt.101 Die Ursache dieses Mangels liegt nicht nur in der Befangenheit der Inter­ preten, sondern auch in der schlechten Editionslage: Es steht bis­ her keine vollständige kritische Ausgabe der Publikationen und nachgelassenen Schriften Feuerbachs zur Verfügung.11 Um die Eigenständigkeit Feuerbachs zu betonen, haben die Nachlaßedi­ toren einen großen Teil gerade des Materials unberücksichtigt gelassen, das Aufschluß über Feuerbachs Verhältnis zur Philosophie Hegels geben kann. Die Konsequenzen dieses Mangels für die Resultate der Feuerbach-Interpretation sind so vielfältig wie diese selber und sinnvoll diskutierbar erst, wenn die bislang unedierten Texte einem breiteren Publikum zugänglich sind. Es kann deshalb im folgenden nicht darum gehen, den Zusammenhang von Feuerbachs Hegelrezeption mit der Hegelinterpretation und -kritik und deren Relevanz für die später von ihm vertretenen Positionen in Form einer vollständigen Entwicklungsgeschichte darzustellen und die aktuellen Interpretationen dabei jeweils zu ergänzen oder zu korrigieren, sondern es soll die Entfaltung eines Grundmotivs 10 »Kritik der Hegelschen Philosophie« (1839), »Das Wesen des Chri­ stentums« (1841), »Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie« (1842), »Grundsätze der Philosophie der Zukunft« (1843) in Ludwig Feuerbach’s sämmtlichc Werke, Leipzig 1846 ff. (zitiert: S W) sowie die nachgelassene Schrift »Notwendigkeit einer Veränderung« (1842/43) in: Ludwig Feuer­ bach, Kleine Schriften, hrsg. von Karl Löwith, Frankfurt/M. (1966), (zitiert: Kl. Sehr.). 11 Im Akademie-Verlag (Berlin) erscheinen seit einigen Jahren die von Werner Schuffenhaucr historisch-kritisch edierten »Gesammelten Werke« Fcucrbachs (zitiert: GW). Die bislang weitgehend unbeachteten Erstauflagcn der Schriften Feuerbachs stellt auch die vom Verf. hrsg. TheorieWerkausgabc Ludwig Feuerbachs wieder zur Verfügung, die ab 1975 beim Suhrkamp Verlag (Frankfurt/M.) erscheint. Zum Nachlaß Fcuerbachs vgl. meine Einleitung zu Ludwig Feuerbach, Schriften aus dem Nachlaß, Darmstadt 1974.

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des Fcucrbachschcn Philosophierens schrittweise nachgczeichnct werden. Der Gedanke der Verwirklichung der Vernunft und die ihm zugrunde liegende Bestimmung des Verhältnisses von Wirklichkeit und Begriff, von Sein und Denken, wird von Fcucrbach im An­ schluß an Hegel entwickelt. Die genetische Untersuchung dieses Gedankens kann die Folgerichtigkeit, mit der Fcucrbach ihn ent­ faltet, und die spezifische und unerwartet konsistente Struktur seines Hegelianismus verdeutlichen, die der Feucrbadi-Literatur bisher entgangen ist. Man kann zeigen, daß sich Feuerbachs Denken bis in die vierziger Jahre hinein in ständiger Beziehung auf dieses ihm von Hegel vorgegebene Problem vollzieht. Programmatisch formuliert Feuerbach den Verwirklichungsgedanken zunächst in einem Brief an Hegel (vom 22. November 1828), und seine Ab­ handlung »Über die Vernunft« (1828), die »Gedanken über Tod und Unsterblichkeit« (1830) sowie die »Erlanger Vorlesungen« (1829 bis 1836) lassen sich als Versuch deuten, dieses Programm zu er­ füllen.1* Zentral wird der Verwirklichungsgedanke dann in der »Neuen Philosophie« (1842/43) als Verwirklichung von Philosophie überhaupt. Der Verwirklichungsgedanke und dessen kritisches Potential soll anhand der genannten Texte in zweifacher Hinsicht diskutiert wer­ den: Wie stellt sich für Fcucrbach im Hegel-Brief und in der Neuen Philosophie das Problem einer Philosophie nach Hegel und mit welchen methodischen Mitteln versucht Fcucrbach cs zu lösen? Einige Bemerkungen sollen vorausgeschickt werden, um die ange­ schnittenen Fragenkreise deutlicher zu machen. Philosophie nach Hegel: In beiden Formen des Vcrwirklichungsgedankens - im Hegel-Brief und in der Neuen Philosophie - wird123 12 Der Brief an Hegel wird zitiert nach Ludwig Feuerbach, Briefwech­ sel, hrsg. von Werner Schuffcnhaucr, Leipzig (1963) (zitiert: Bw. Reel.). Bei der Abhandlung »Uber die Vernunft« handelt cs sich um Feuerbachs Habilitationssdirift »De ratione, una, univcrsali, infinita«. Die »Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, nebst einem Anhang theologisch-satyrischcr Xenicn« werden zitiert nach Ludwig Feuerbach, Sämtliche Werke, 13 Bände, hrsg. von W. Bolin und F.Jodl, Stuttgart 1903 ff., Ergänzungs­ bände, hrsg. von H. M. Saß, ebd. 1962 ff. (zitiert: SW B/J).

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der Zusammenhang zwischen dem systematischen Problem der Ver­ weltlichung der Idee oder Verwirklichung der Philosophie und dem historischen einer Philosophie nach Hegel thematisiert und, wie vorläufig behauptet wird, trotz aller Rede von Feuerbachs „Bruch“ mit der Spekulation ausschließlich mit Hilfe der von Hegel zur Verfügung gestellten kategorialen Mittel zu lösen versucht. Weiter sieht Feuerbach beide Modelle von Verwirklichung als Problem einer philosophischen Aufklärung: Im Hegel-Brief sieht Feuerbach die philosophische Idee oder das Vernünftige verwirklicht, wenn der in theologische Vorstellungen verstrickte und auf seine Sub­ jektivität fixierte Mensch den spekulativen Gedanken begreift, wodurch die spekulative Philosophie zur Sache der Menschheit und ihre Erkenntnisse als die Welt bestimmende Anschauungen prak­ tisch werden. Erreichbar ist dieses Ziel jedoch nur, meint Feuerbach, wenn sich die philosophische Reflexion endlich kritisch und un­ mittelbar, das heißt unbelastet von systematischen Intentionen, auf die Vorurteile und Verkehrtheiten ihrer Zeit einläßt. Die Neue Philosophie dagegen versteht sich als die historisch notwendige Verwirklichung von Philosophie überhaupt, indem sic die speku­ lativ-systematische Philosophie Hegels, in der sich für Feuerbach das Wesen traditioneller Philosophie vollendet und erschöpft hat, „widerspruchslos negiert“ und an ihre Stelle die Universalwissenschaft Anthropologie setzt, deren Gegenstand allein das „wirkliche und ganze Wesen des Menschen“ ist; an die Stelle des Philosophen tritt der mit seinem Wesen einige Mensch. Die die Wirklidjkeit des Menschen umfassend thematisierende Anthropologie hat nach Feuerbach die Aufgabe, „den Menschen als absolutes Wesen zu fassen und zu konstruieren, d. h. die den Menschen konstituieren­ den Formen als absolute Formen, als Existenzialformen des abso­ luten Wesens zu fassen“ (Kl. Sehr., S. 231). Sie erfüllt damit ein Bedürfnis der Zeit, in der das Christentum, das den Menschen nur als ein mit sich entzweites Wesen auffaßt, im Fühlen und Denken des Menschen wie in den realen Wissenschaften, in der unmittel­ baren Praxis des menschlichen Lebens wie in der Theorie, „tat­ sächlich“ bereits negiert ist (cbd., S. 164). Ist dieses geleistet, schreibt Feuerbach, sind die Menschen also über ihr wahres Wesen aufgeklärt, so ist der Bruch zwischen Leben

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und Philosophie, Praxis und "Theorie, überwunden, den die speku­ lative Philosophie verschuldete, als sic den konkreten Menschen zu einem abstrakten und angeblich autonomen Sclbstbcwußtscin ent­ fremdete, das Christentum, als es das Wesen des Menschen in einen jenseitigen Gott setzte. Begreife der Mensdi endlich, daß er sein eigenes Wesen in einen jenseitigen Gott projizierte und im „Geist“ des spekulativen Idealismus nur sein Sclbstbcwußtscin hypostasierte, werde er audi imstande sein, diese seine Selbstcntfrcmdung selber aufzuheben und zu einem harmonischen Leben in einer Gcscllsdiaft mit sich einiger Individuen finden. Unmittelbarkeit und Vermittlung: In der Analyse des Verwirklichungsgcdankcns der Neuen Philosophie können die bisher kaum diskutierten formalen Schwierigkeiten einer „Philosophie vom gan­ zen Menschen her“ angesprochen und die Aporie dieses Ansatzes entwickelt werden. Hier liegt das kritische Interesse der Unter­ suchung. Sic geht davon aus, daß jede Philosophie nach Hegel, zumal wenn sic sich aus einer Kritik der Hegclsdien Philosophie heraus formuliert, ganz besonders dazu verpflichtet ist, ihre Ex­ plikationsmittel zu reflektieren. Die für das Scheitern des Fcucrbachschcn Unternehmens verantwortlichen formalen Gründe sollen untersucht werden, weil sie paradigmatisch sind für eine Reihe anderer Versuche, sich dem Bann einer Philosophie der universalen Vermittlung durch den Rekurs auf ein unmittelbares Wissen zu entziehen. Die Analyse des Vcrwirklichungsgcdankcns ist demnach, wie bereits erwähnt, in zweifacher Hinsicht bedeutsam: Einmal hebt sic aus historischem Interesse an Fcucrbadis Entwicklungs­ geschichte einen für Feuerbachs Philosophieren zentralen Gedanken hervor, an dem sich zugleich das Spezifische seines Hegelianismus und die methodischen Schwierigkeiten demonstrieren lassen, die Feuerbach daran hinderten, sein Konzept einer Neuen Philosophie auszuführen; historische Exkurse unterstützen diese Perspektive. Zum anderen können an Fcucrbadis Kritik des Hegclsdien Vermittlungsbcgriffs die fundamentalen Bestimmungen Unmittelbar­ keit und Vermittlung erhellt und kann der Boden bereitet werden, auf dem sich eine Alternative zu Hegels unmittelbarer Voraus­ setzung von Philosophie selber entfalten und Fcucrbadis evidenter Ansatz bei der „Nichtphilosophie“ geltend machen läßt, ohne hin­

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ter das in der Hegelschen Theorie erreichte Niveau an Begriffs­ reflexion zurückzufallen. Man kann zeigen, daß die fast ausschließ­ lich als inkonsistent interpretierte Form, in der Feuerbach seine Gedanken darstellt, der inhaltlichen Absicht und Parteilichkeit dieser Philosophie entspricht, für Feuerbach also eine positive Bedeutung gehabt hat.13 Die Frage des sachlich-philosophischen Gewichts seines Denkens müßte sich dann daran entscheiden, ob es Feuerbach gelingt, sein Zurückgehen hinter das Reflexionsniveau der spekulativ-systematischen Philosophie selber noch zu vermit­ teln d 13 Als einziger Zeitgenosse Feuerbachs hat Richard Haym, Literatur­ historiker und scharfer Kritiker Hegels, die Methodelosigkcit, vielleicht besser: das Anti-Methodische, des Feuerbachschen Denkens positiv aufgenommen. „Seine Philosophie ist nur die zur Gesinnung, zur Religion, zur Wahrheit der subjektiven Empfindung gewordene spekulative Philo­ sophie und Theologie. Eine Religion beweist sich nicht: sie spricht sich aus; was sinnliche Gewißheit ist, das bedient sich der Sprache und der Argumente der Sinnlichkeit, und das Sinnliche demonstriert man nicht; man zeigt es, man stellt es hin. Die Wahrheit der Feuerbachschen Theorie liegt darin, daß sie sich mit ihrem Gegensatz, mit der spekulativen Philo­ sophie deckt, daß sic deren entsprechendes Gegenbild ist . . . Die Sinnlich­ keit, die Empfindung, die Liebe ist der Inhalt und ist zugleich die Form dieser Lehre. Sie will nichts sein, als die sich gegen die Unwahrheit der Abstraktion auflchncndc, die einfache sich selbst ponierende, sich selbst manifestierende Wahrheit des reinen menschlichen Empfindens . . . Sic ist nur eine Denk- und Anschauungsweise . . . , nur eine philosophische Gesin­ nung, nur die Einschärfung eines neuen Gesichtspunkts für die Betrach­ tung der sinnlichen wie der geistigen Welt.“ Aus Hayms hochinteressan­ tem, aber bisher gänzlich unbeachtetem Artikel Philosophie«, in der »All­ gemeinen Encyklopädie der Wissenschaft und Künste . . .«, hrsg. von J. S. Ersch und J. G. Gruber. Dritte Scction, hrsg. von M. H. E. Meier, Leipzig 1848, S. 224 ff. 14 Man kann nicht wie Löwith und mit ihm Schmidt Feuerbachs Methodelosigkeit wie folgt rechtfertigen: Daß „Feuerbach gerade deshalb aus dem Zauberkreis von Hegels System der totalen Vermittlung heraus und ins Freie kam, weil er hinter das Rcflcxionsnivcau seines Lehrers zu­ rückging“ (Karl Löwith, Vermittlung und Unmittelbarkeit bei Hegel, Marx und Feuerbach, in der Revue internationale de Philosophie, 26«* Ann£e, n° 101, Fase. 3 (1972), S. 316 (hier abgedr.); vgl. auch Schmidt, a. a. O.,

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Um Feuerbachs Absicht dcatlich machen zu können, wird im zweiten Teil untersucht, wie Feuerbach die für seine Hcgclkritik und den Entwurf einer Neuen Philosophie zentralen Kategorien Unmittelbarkeit und Vermittlung bestimmt. Denn erst in der Neuen Philosophie versucht Feuerbach konsequent, das Unmittel­ bare der menschlichen Natur als positives und notwendiges Mo­ ment einer Philosophie des Menschen gegen den Hegclschcn Anspruch auf universale Vermittlung durch das philosophisch reflektierende Denken zu erhalten, wobei er zweifellos aus dem Potential an Argumenten schöpft, das Friedrich Heinrich Jacobi gegen den Konstruktionsidealismus bereit gestellt hat.15 Es wäre interessant zu sehen, wie die Unmittelbarkeitsthematik von Jacobi entwickelt wird, dann Schclling prägt und Hegel zum Aufbau einer dialektischen Vermittlungsthcorie motiviert. Der Nachhcgelianismus nimmt mit oder ohne Bewußtsein Jacobis Argumente auf und geht damit auf einen der Ausgangspunkte Hcgelschcr Philosophie zu­ rück, wie sie die >Differcnzschrift< entwickelt. Von Interesse ist hier jedoch vor allem, daß Feuerbach die Wicdcrcntdcckung der Unmittelbarkeit mit dem praktischen Problem der Verwirklichung der Philosophie verbindet und so als erster ein Programm formu­ liert, das jede an Hegel anschließende Philosophie in ähnlicher Weise formulieren muß. Theorie und Praxis: Während anhand des Hegel-Briefes die be­ grifflichen Voraussetzungen des Verwirklichungsgedankens geklärt werden können, ergänzt das Verwirklichungsmodcll der Neuen S. 187). Diese Begründung unterschätzt Feuerbachs an Hegel geschultes Methodenbewußtsein. Feuerbach selber versucht noch, die Unmittelbarkeit der Neuen Philosophie und deren Darstellungsform als Resultat der Hegclschcn Philosophie abzulciten, sein „Zurückgehen“ selber noch zu vermitteln. Ob dieser Versuch gelingt, ob er in dieser Weise überhaupt sinnvoll ist, ist eine andere Frage. 14 In Feuerbachs Hcgelkritik findet sich das wieder, was Fichte als Replik auf Jacobis Rede vom bloß logischen Enthusiasmus den entgegen­ gesetzten, den Enthusiasmus des Lebens genannt hat, der zu einer jedes­ mal nur täuschenden, ins Unendliche hinaus sich verschiebenden Befriedi­ gung führe (F. H. Jacobi, Werke, Leipzig 1816, Band 3, S. 14 f.; J. G. Fichte, Briefwechsel, 2 Bände, Leipzig 1925, II, S. 90).

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Philosophie die an Hegel anknüpfende Theorie-Praxis-Diskussion16 um eine anthropologisch orientierte Variante - „Verwirklichung der Philosophie“ umfaßt bei Feuerbach nicht nur den Bereich E r­ kennen - Handeln, sondern auch den von Gedanke - Sinnlichkeit. Es wird in den Entwürfen einer Neuen Philosophie deutlich, daß Feuerbach sic noch als Hegelschüler in spekulativer Absicht als eine Univcrsalwisscnschaft konstruiert. Feuerbachs Neue Philosophie ist also nicht nur Beschreibung anthropologischer Wirklichkeit, son­ dern als „Philosophie der Zukunft“ Antizipation einer künftigen, „wahren Wirklichkeit“ . Sie soll, Theorie und Praxis unmittelbar vereinigend, den „ganzen Menschen“ und dessen Welt zum Aus­ gangspunkt und Ziel nehmen. Auch wenn sich einsichtig machen lassen sollte, daß dieser philo­ sophische Anthropologismus nur abstrakt und aporetisch konstru­ iert ist, hat Feuerbach offensichtlich das allgemeine Unbehagen seiner Zeit an einer Intellcktualansicht der Welt artikuliert und, wie er selber schreibt, ein „Bedürfnis der Zeit, der Menschheit“ aufgedeckt, das zu befriedigen der spekulative Idealismus Hegels nicht imstande war. So fordert Theodor Mundt, Vertreter des Jun­ gen Deutschland und wie Feuerbach Schüler Hegels, eine Philo­ sophie der Unmittelbarkeit, die zu finden die große Aufgabe seiner Zeit sei.17 Indem Feuerbach - als positives Resultat seiner Kritik ,G Michael Theunissen, Die Verwirklichung der Vernunft. Zur TheoriePraxis-Diskussion im Anschluß an Hegel. Philosophische Rundschau, Bei­ heft 6, Tübingen (1970). Eine aufschlußreiche Darstellung dieser Fragen gibt auch Horst Stuke, Philosophie der Tat, Stuttgart 1963. Dem von M. Theunissen veranstalteten Seminar über „Unmittelbarkeit und Ver­ mittlung“ (Heidelberg, Sommersemester 1972) verdanke ich wichtige Hin­ weise. Die Diskussionsbeiträge zur Kritik Fcucrbachs waren dem Verf. sehr hilfreich. 17 Theodor Mundt, Ästhetik, Berlin 1845, S. 65. Vgl. auch Theobald Ziegler, Die geistigen und sozialen Strömungen Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Neue Aufl., Berlin 1916, S. 181: „Darin berührt sich der Feucrbachschc Anthropologismus mit dem Realismus des jungen Deutsch­ land, das der Sinnlichkeit, dem Fleisch, überhaupt der Realität und Welt­ wirklichkeit wieder zu ihrem Rechte verhelfen und sic gegen alles Aske­ tische schützen wollte; für diese Rehabilitationstendenzen schuf Fcucrbach die philosophische Unterlage.“

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des Christentums - das Moment der „sinnlichen Anschauung“ in den Text der Philosophie cinholt, betreibt er unter vielem Applaus die Rehabilitierung der Sinnlichkeit als „wahre WirklicJ)keita . Da­ mit war, schreibt Friedrich Engels unter dem Eindruck der breiten Wirkung des »Wesen des Christentums«, der „Bann gebrochen“ und die Möglichkeit gegeben, den Menschen in seiner gesellschaftlidicn Wirklichkeit unverstellt von theologischen und philosophisch­ systematischen Interessen zu betrachten.18* In dieser Hinsicht ist vor allem für die Neue Philosophie die theologische Dimension der „Verwirklichung der Idee“ bedeutsam, die Michael Theunissen in seiner Auslegung der Hegclsdicn Philo­ sophie des absoluten Geistes aufzeigt.10 - Feuerbach nimmt den Begriff der Verwirklichung in seiner ganzen Schärfe: Verwirklichen heißt sinnlich erfahrbar machen. Der Inkarnation Gottes in Chri­ stus entspricht die Verwirklichung der Idee oder des Gedankens im Bereich der Sinnlichkeit. Die Spekulation, so Feuerbach, verfälscht die ursprüngliche Wahrheit der Offenbarung - „Und das Wort ward Fleisdi und wohnctc unter uns und wir sahen seine Herrlich­ keit“ (GW 9, S. 322) -, indem sic sie intcllcktualistisch nur im Zwielicht der Reflexion erfaßt und darstcllt und die Sinnlidikcit des Verhältnisses Gott-Mensch zu einer Formbcstimmtheit ver­ flüchtigt; diese nicht theoretisierte und unmittelbar thcoretisicrbarc personale Beziehung macht aber gerade das Wesen des Verhält­ nisses Gott-Mensch aus.20 Dagegen nimmt die Neue Philosophie Christus als idealisierte Menschenliebe ernst, die in der mensch­ lichen Gemeinschaft praktisch) zu verwirklichen ist. „Gott ist nur das Ideal, die Idee, die der Mensch realisieren soll und will,“ (Kl. Sehr., S. 228 f.) Die Neue Philosophie tritt folglich an die Stelle, die die Religion im Leben des Menschen einnahm, indem sie das in sich aufnimmt, was das Wesen der Religion ausmacht - sinnliche Anschauung, unmittelbare Praxis, Liebe. Haben die Menschen erst 18 Marx/Engcls, Werke, Berlin 1957 ff., Band 21, S. 272. 10 Michael Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist als theo­ logisch-politischer Traktat, Berlin 1970. 20 Vgl. vom gleichen Verf., Die Dialektik der Offenbarung. Zur Aus­ einandersetzung Schcllings und Kierkegaards mit der Rcligionsphilosophic Hegels, im Philosophischen Jahrbuch LX X II, 1 (1964), S. 156.

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erkannt, daß sie wesentlich sinnliche Wesen sind, finden sie nach Feuerbachs Überzeugung nicht nur zu sich selbst zurück, sondern auch zu einem harmonischen und glücklichen gesellschaftlichen Leben, wie es die christliche Religion mit der Gemeinde antizipiert. Politik ist insofern, schreibt Feuerbach, nur realisierte Religion und ihr Prinzip: Der „Glaube an den Menschen als die höchste und letzte Bestimmung des Menschen und ein diesem Glauben gemäßes Leben für den Menschen, mit dem Menschen“ (Kl. Sehr., S. 231). Kritische Vorüberlegungen: Feuerbachs Wende zur N atur - und das heißt für ihn zunächst zur Natur des Menschen - haben Karl Löwith und neuerdings auch wieder Herbert Marcuse gegen die spekulative Metaphysik und den historischen Materialismus aus­ gespielt.*1 Marcuse vermißt das Glück der Sinnlichkeit im Bild der sozialistischen Gesellschaft, das nur die Härte der Ratio zeige, und verweist unter Berufung auf Feuerbach auf die Sinnlichkeit als Vehikel revolutionären Bewußtseins und revolutionärer Praxis. Die Sprengkraft dieser Sinnlichkeit meint Marcuse wiederzufinden in der gegenwärtigen Opposition der Jugend gegen eine Gesell­ schaft, die diese Sinnlichkeit unterdrückt und als unwesentlich negiert. An Löwith und Marcuse anschließend, beschreibt Alfred Schmidt in seiner Studie über Feuerbachs „anthropologischen Ma­ terialismus“ mit Feuerbach die Idee einer emanzipatoriseben Sinnliclskcit als unmittelbare Praxis. Schmidt beruft sich auf Feuerbachs Begriff einer mit wahrer Spekulation zusammenfallcnden „univer­ salen Empirie“ 2122: „So impliziert Feuerbachs Rede .universelle1 21 Karl Löwith, Vermittlung und Unmittelbarkeit, a. a. O., Herbert Marcuse in einem Vortrag auf dem Hegel-Kongreß, Stuttgart 1971. 22 Die Bedingungen der Möglichkeit einer solchen universalen Empirie untersucht auch Schmidt nicht weiter. R. Haym hat bereits einige kritische Argumente beigebracht: „Wenn nach Feuerbach ,dic wahre Spekulation oder Philosophie* nichts ist, als die .wahre und universale Empirie*, oder wie cs ein anderes Mal heißt, ,absoluter Sensualismus': so erscheint in solchen Bezeichnungen nur ein von der Genialität zwar zu überwinden­ der, von der nüchternen Wissenschaft dagegen nicht zu legalisierender Widerspruch. Es kann dies Bündnis der Empirie mit der Philosophie zur Regeneration der letzteren führen: aber weder die Empirie noch die Philosophie finden als solche ihre Rechnung dabei . . .**, a. a. O., S. 227 ff.

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Sinnlichkeit sei ,Geistigkeit* nicht nur, daß diese auf jener beruht, sondern auch umgekehrt, daß sich die - universell gewordenen Sinnesorgane von partikulären Bedürfnissen befreien, in ihrer un­ mittelbaren Praxis: Aneignung von Welt sich gcisf/’g-thcorctisch verhalten. Darin besteht die immanente Utopie cmanzipatorischcr Sinnlichkeit.“ 23 Vorsichtig bemerkt Schmidt weiter, daß deren Begriff eher ein Künftiges vorwegnehme, als daß er „bereits Ge­ gebenes“ beschreibe. Das Recht, sich an dieser Stelle auf Feuerbach zu berufen, bleibt unbestritten. Freilich wäre zu prüfen, ob Löwiths von der Unmittelbarkeit der Natur und der sinnlichen Welterfah­ rung des Menschen ausgehende Argumentation gegen die Dialektik des erkennenden Wissens, wie sie Hegel in der „sinnlichen Gewiß­ heit“ der >Phänomenologie des Geistes« aufzeigt, über ein pures Insistieren auf ontischcr Sinnhaftigkeit hinauskommt.24 Ebenso fragt sich, ob die von Marcusc und Schmidt hervorgehobene emanzipatorischc Seite einer unmittelbaren Praxis, wenn emanzipatorischcs Handeln vernünftiges Handeln sein soll, nicht eher auf in :3 Schmidt, a. a. O., S. 222 f. 14 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl., Tü­ bingen 1965, S. 326: „Das Pochen auf die Unmittelbarkeit - sei cs die der leiblichen Natur, sei es die des Ansprüche stellenden Du, sei es die der undurchdringlichen Tatsächlidikcit des geschichtlichen Zufalls oder die der Realität der Produktionsverhältnisse - hat sich immer schon wider­ legt, sofern es selber kein unmittelbares Verhalten, sondern ein reflek­ tierendes Tun ist.“ Die Philosophie der Unmittelbarkeit leugnet, daß sic selber Reflexion ist; „die Berufung auf die Natur und Natürlichkeit“ , schreibt Gadamer mit Blick auf Löwith, ist „weder Natur noch natürlich" (cbd., S. 473). Löwiths Replik beruft sich auf die Priorität der Natur, welche ihren Grund in sich selber hat. „Das reflektierende Bewußtsein ist kein eigenständiges und grundlegendes Sein und die Reflexion beginnt nicht damit, daß man sich in den Kopf setzt, reflektieren zu wollen, son­ dern durch Rückkehr von der Welt der Dinge zu uns selbst.“ (Löwith, a. a. O., S. 318; vgl. auch die interessante Berufung auf Schctling) Wie Feuerbach zieht Löwith keine Konsequenzen aus der Tatsache, daß sich allein in dieser „Rückkehr von der Welt der Dinge zu uns selbst“ als vermittelnde Reflexion die Möglichkeit eröffnet, sich über das zu ver­ ständigen, was die „Unmittelbarkeit der Natur“ und diese „Rückkehr“ selber ist.

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diese Praxis eingegangenes reflexives Wissen verweist und damit nur den Hcgel'schen Satz bewahrheitet, „daß es nichts gibt, nichts im Himmel oder in der Natur oder im Geiste oder wo es sei, was nicht ebenso die Unmittelbarkeit enthält als die Vermitt­ lung, so daß sich diese beiden Bestimmungen als ungetrennt und untrennbar und jener Gegensatz sich als ein Nichtiges zeigt“ .25 Sinnliche Welterfahrung als unmittelbare Praxis ist eben nicht nur durch „Lebenswelt“ vermittelt. Sofern sie Erfahrung und Wissen ist, ist sie vermittelte und vermittelnde Reflexion und nur als solche Bedingung der Möglichkeit emanzipatorischen Handelns. Um die Neue Philosophie und das sich an ihr entzündende aktuelle philosophische Interesse näher charakterisieren zu können, ist es notwendig, auf Feuerbachs hegelkritischen Ansatz zurückzu­ gehen und dessen kategoriale Mittel zu prüfen. Feuerbachs Argu­ mentation gegen den Hegelschen Begriff von Vermittlung liegt eine von Feuerbach nicht immer explizit gemachte Bestimmung des Verhältnisses von Unmittelbarkeit und Vermittlung zugrunde. Für Feuerbach stellt sich, und das ist entscheidend für die Form seines Philosophierens, das Problem der Darstellung einer nicljt schon wesenslogisch vermittelten Unmittelbarkeit von Wirklichkeit. Die­ ses Problem bestimmt Feuerbachs Kritik der Hegelschen Philo­ sophie, welche, selber Kritik jeglichen Evidenzdenkens, wesentlich systematische Reflexion ( = Vermittlung) von dialektischen Ver­ weisungszusammenhängen war und darin die einzige Möglichkeit sah, „Unmittelbarkeit“ überhaupt zu thematisieren. Der bloß logi­ schen Vermittlung will Feuerbach andere, „natürliche“ Vermittlungswciscn entgegensetzen. Man kann nun gegen Feuerbach behaupten, daß das sich nur im Gegenzug zu einer solchen Philo­ sophie explizierende Denken, das von jeglicher Vermittlungsbewe­ gung abstrahiert, um die Individualität von Wirklidskeit, die individuelle Natur des Menschen und der Dinge, zu bewahren, gleichwohl aber mit dem Anspruch einer universalen Wissenschaft auftritt, notwendig in Schwierigkeiten gerät, wenn es seinen Gegen­ stand intersubjektiv ausweisen soll. Scharf formuliert: Die Neue Philosophie führt in einen irrationalen Objektivismus oder Subjekti25 Hegel, Wissenschaft der Logik, hrsg. von Georg Lasson, Hamburg (1963), S. 52.

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visrnus, was in diesem Fall dasselbe ist, und kann nicht halten, was sic verspricht, nämlich Wesen zu erkennen, und muß unreflektiert lassen, was sie als Wissenschaft sein muß, nämlich dargcstcUtcs Erkennen.26 Das Erkenntnisprinzip der Neuen Philosophie soll nicht das in sich reflektierte Ich, der „absolute, d. i. abstrakte, Geist“ sein, „kurz, niefjt die Vernunft in abstracto, sondern das wirkliche und ganze Wesen des A/ensdjen“ (GW 9, S. 333), Feuerbachs von die­ sem Prinzip ausgehende „Metaphysik der Sinne“ bleibt jedodi eine vorkritiseije Metaphysik, deren Pathos nicht über die Armut an differenzierten Erkenntnissen über die Wirklidikcit des Menschen hinwegtäuschen kann, womit sich die Verwirklichung der Philo­ sophie als Schein entlarvt. Feuerbach stellt sich mit der Neuen Philosophie die Aufgabe, lebendige Subjektivität in ihrer wirküdicn Einzelheit als natur- und sozialgcschichtlich bestimmtes Sub­ jekt festzuhalten und zugleich als Gattungswesen oder „allgemeiner Mensch“ sich philosophisch-vernünftig entfalten zu lassen, indem der Mensdi, sein Wesen begreifend, sich die Möglichkeit emanzipatorisdicn Denkens und Handelns gibt. Dieser Versuch scheitert, weil in der Neuen Philosophie subjektives Denken und Fühlen, empirisches Subjekt und das allgemeine Vermögen zur Vernunft nicht oder nur äußerlich in ihrem Zusammenhang reflektiert wer­ den, weil - gegen alle Absicht und deshalb unbedacht - auch hier Denken bei sich selber ist und dieses reflektieren muß, wenn die Explikation des subjektiven Denkens und Fühlens nicht nur auf­ klärerisch-populär, sondern in ihren Einsichten audi verbindlich, also im weitesten Sinne „Wissenschaft“ sein will. Da Theorie die von Feuerbach gemeinten Phänomene des menschlichen Lebens nie unmittelbar geben kann und immer mehr sein muß als sic, nämlidi Sprechen über sic, Darstellung, kann philosophische Reflexion (auch in emanzipatorischer Absicht) sich allenfalls der ihr vorgeordneten20 20 Heinridi Rickert hat auf die Problematik eines solchen Ansatzes hingewiesen und eine Reihe scharfsinniger Argumente gegen den philo­ sophischen „Intuitionismus" geliefert. Rickert nimmt insofern, allerdings in einem anderen Kontext, die Diskussion wieder auf, die mit der Kon­ troverse Hegel— Jacobi begann und von Feucrbadi fortgesetzt wurde. Rickert, Die Methode der Philosophie und das Unmittelbare. Eine Pro­ blemstellung. In: Unmittelbarkeit und Sinndeutung, Tübingen 1939.

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Bedingungen versichern, indem sie sie als Theorie auffaßt und sich so im Zusammenhang mit dem, was sie nidit ist, auslegt. Die Strukturen ihrer Selbstauslegung gehorchen dann allerdings ande­ ren Gesetzen - der Logizität der Sprache oder des Begriffs - als die unmittelbaren Zustände und Äußerungen menschlichen Lebens, womit noch nicht ausgemacht ist, ob sich diese Selbstauslegung überzeugend zu einer konkreten Totalität im Sinne Hegels ent­ falten kann. Die Differenz von Phänomen und Theorie, von „Leben“ und „Philosophie“ , die Schwierigkeit, die natur- und sozial geschichtliche Vermitteltheit des Menschen und seine theo­ retische und praktische Vermittlungstätigkeit, die ihn zur Kon­ struktion einer seine unmittelbare Lebenswelt überschreitenden Wirklichkeit befähigt, als einen (notwendigerweise theoretischen) Zusammenhang zu entfalten, versucht Feuerbach vergeblich zu überwinden: Unmittelbare Sinnlichkeit, sinnliche Anschauung und begriffliches Erkennen, Reflexion, stehen unbegriffen nebeneinander, und der Zusammenhang, den die „kritifch-genetische Methode“ als Methode einer universalen Wissenschaft Anthropologie herstellen soll, bleibt Postulat. Auch wenn Feuerbachs „Philosophie vom ganzen Menschen her“ und deren Rede „für den ganzen Menschen“ den Anspruch, mit dem sie auftritt, nicht erfüllt, kann sie für sich geltend machen, als erste aus der Tradition der klassischen deutschen Philosophie heraus gegen diese mit dem Gedanken der Verweltlichung der Idee und Verwirklichung der Philosophie und der diesem Gedanken entspringenden Kritik des Hegelschen Vermittlungsbegriffs auf die Notwendigkeit der Vermittlung von Philosophie mit derem Gegen­ teil, „Nichtphilosophie“, aufmerksam gemacht und einen program­ matisch formulierten Lösungsversuch angeboten zu haben.

/. Die Verwirklidjung der Vernunft -

das Programm des

Hegel-Briefes Ende des Jahres 1828 schickt Feuerbach seine Habilitationsschrift ► Über die Vernunft« an Hegel, Schelling und den Opponenten bei seiner Disputation, Harleß. Der am 22. November verfaßte Begleit-

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brief an Hegel enthält das spekulativ entwickelte Programm der Verwirklichung der Vernunft: Feuerbach formuliert in ihm die Notwendigkeit, über die systematische Form der Hegelschcn Philo­ sophie hinauszugehen und das in ihr erkannte Vernünftige in einer der neuen Zeit angemessenen, neuen Gestalt der Philosophie zu vcrwirklidicn. „Spekulativ“ kann man dieses Programm zunächst deshalb nennen, weil Feuerbach seine Forderung nach „Verwirk­ lichung und Verweltlichung der Idee“ , nach „Ensarkosis oder Inkarnation des reinen Logos“ mit Mitteln des spekulativen Ver­ nunftbegriffs legitimiert und als Konsequenz der Philosophie Hegels begreift. Damit macht Feuerbach - wohl als erster - ein Thema zum Mittelpunkt seiner philosophischen Absicht, das seitdem die Hegcldiskussion in immer stärkerem Maße beschäftigt hat: Das Problem der Verwirklichung der in der Philosophie erlangten Versöhnung von Gedanke und Wirklichkeit. Es gilt, in diesem Gedanken die Einsicht Hegels in die Einheit von Begriff und Wirklichkeit zu bewahren, und jede Lösung wird sich daran messen müssen, ob cs ihr gelingt, die methodische Struktur jener absoluten Vermittlung aufzunchmen und Alternativen methodisch zu reflektieren. Um cs vorweg zu sagen, Fcucrbachs Lösung - und nicht nur seine - erfüllt diese Bedingung nicht, denn in ihr verschwindet diese Einheit zugunsten einer zusammcnhangsloscn und aphoristischen Unmittel­ barkeitsphilosophie, die von Fcucrbach nicht einmal als Alternative ausformuliert wird. Aber man kann zeigen, daß und wie sich ein entscheidendes Stadium seines Denkens in der Auseinandersetzung mit diesem Gedanken vollzieht und damit ein Thema exponiert, das in der Hegelkritik einen zentralen Platz behält. Im folgenden sind die für die Vcrwirklichungsproblematik grundlegenden Argu­ mente des Hegel-Briefes wiedergegeben. Die Philosophie hat mit Hegel, schreibt Feuerbach, die Arbeit an ihrer historischen Vollendung und Verwirklichung bis zu einem Punkt getrieben, an dem sie endlich „das Ganze selbst“ (Gott, Geist und Natur) als Ganzes faßt und in der Form des Ganzen als systematische Explikation des Begriffs - darstcllt. Damit ist deren eine Seite, die in der Entwicklung der Begriffe in der Form der Allgemeinheit, in ihrer „abgezognen Reinheit und abgcschloß-

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nem Insichsein“ -bestand, vollendet und die Zeit gekommen, ein „Reich zu stiften, das Reich der Idee, des sich in allem Dasein schauenden und seiner selbst bewußten Gedankens“ .27 In dieser zweiten Schöpfung, dem Beginn einer neuen Geschichte, in der Zeit und Gedanke nicht mehr auseinanderfallen, wird philosophische Vernunft praktisch als allgemeine Anschauungsform der Dinge. Zwei Momente sind mit Feuerbach auseinanderzuhaltcn: Die Verweltlichung der Idee in der Philosophie, in der sie sich in ihrer systematischen Gestalt vollendet hat, und die Wirklichkeit der Idee in der Vernünftigkeit des menschlichen Bewußtseins. Erstes ist durch das Auftreten des absoluten Geistes als philosophische Wis­ senschaft markiert. Diese Wissenschaft ist jedoch nur Gegenstand einer philosophischen „Schule“ und nicht der „Menschheit“ . In der Philosophie realisiert sich zwar Vernunft, aber es zeigt sich zugleich der Vorwurf, der in der Differenz von Schule und Mcnsdihcit steckt: Der philosophischen Existenz der Idee steht eine begrifflose Wirklichkeit gegenüber, der sie ihre Vernünftigkeit erst noch einzu­ bilden hat. Der philosophische Geist muß jetzt, nachdem er seine Form erfüllt hat, seine frei gewordene K raft in die Kritik und Aufhebung dieser unwahren, aber die Welt bestimmenden An­ schauungen setzen; das heißt für Feuerbach: in die Kritik der end­ lichen Subjektivität. Aus der historischen Vollendung der Philosophie in Hegel ergibt sich die Notwendigkeit einer neuen Art des Pbilosophicrcns: Es gilt in der neuen Epoche nicht mehr, allgemeine Begriffe in ihrer konkreten Totalität zu entwickeln, das leistete Hegel und seine „Schule“, sondern die geltenden „weltgeschichtlichen Anschauungs­ weisen von Zeit, Tod, Diesseits, Jenseits, Ich, Individuum, Person und der außer der Endlichkeit im Absoluten und als absolut angcsdiautcn Person, nämlich Gott usw., in welchen der Grund der bisherigen Geschichte und auch die Quelle des Systems der christ­ lichen sowohl orthodoxen als rationalistisdien Vorstellungen ent­ halten ist, wahrhaft zu vernichten, in den Grund der Wahrheit zu bohren und in ihre Stelle als unmittelbar gegenwärtige wcltbestim27 Vgl. Fcucrbachs in gleiche Richtung gehende Bemerkung in den .Todesgedanken«, SW B/J X I, S. 88 ff.

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mende Anschauung die Erkenntnisse cinrücken zu lassen, die sich in der neuern Philosophie als ein Reich des Ansich und Jenseits, in der Form der nackten Wahrheit und Allgemeinheit cingcwickelt finden“ (Bw. Reel., S. 58), Im Sich-Einlasscn auf das unphilosophischc Bewußtsein und dessen Vorstellungen wird das Ver­ nünftige wirksam und zur „allgemeinen, weltgcschiditlidien, offen­ baren Ansdiauung“ . Erst darin, schreibt Feuerbach, ist die Gefahr gebannt, in einem besseren literarischen Treiben und Schreiben innerhalb der Schranken der Schule zu verbleiben.2829 Die Kritik des Subjektivismus hat für Feuerbach zwei Perspek­ tiven: Die eine ist die Bildung des natürlichen und theologischen Bewußtseins zum philosophischen Bewußtsein oder die Entwick­ lung des seine Bestimmungen abstrakt festhaltcndcn Verstandes zum vernünftigen Denken. Diesen Zweck soll der von ihm in der Abhandlung »Über die Vernunft* und den »Erlanger Vorlesungen* - akademisch - geführte Nachweis erfüllen, daß das Denken die Dimension ist, in der alles Sein aufgehoben, der „allgemeine wahre Raum“ ist, in dem allein alle Dinge und Subjekte wirklich sind. Das denkende Subjekt kommt zum Bewußtsein seiner selbst und so zum Begriff der in seinem Denken wirklichen allgemeinen Ver­ nunft.2® Neben dieser allgemeinen Absicht gilt es aber vor allem, und das ist die Aufgabe der »Gedanken über Tod und Unsterblich­ keit«, das Christentum als die populärste Gestalt endlichen Bewußt­ seins zu widerlegen. In der christlichen Ära, schreibt Feuerbach, hat „das Ich, das Selbst . . . die Welt beherrscht . . . und sidi als den einzigen Geist, der ist, erfaßt“ . Das Christentum ist deshalb nichts anderes als die „Religion des reinen Selbst“ , in ihm ist nur die Person, nicht auch die Natur, die Welt, der Geist erlöst. 28 Vgl. die Einführung in die »Erlanger Vorlesungen«, a. a. O., S. X X V ff. 29 Die Intention dieser Schrift beschreibt Feuerbach von einem spä­ teren Standpunkt aus: Das nachgelassene Manuskript ist veröffentlicht unter dem Titel »Feuerbachs Verhältnis zu Hegel« (1840) in: Karl Grün, Ludwig Feuerbach in seinem Briefwechsel und Nachlaß sowie in seiner philosophischen Charaktcrcntwiddung, Leipzig und Heidelberg 1974, I, S. 387 (zit.: BwN). Vgl. die Einführung in die „Erlanger Vorlesungen“ , a. a. O., S. X X V ff.

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Zusammengefaßt enthält Feuerbachs Argumentation folgende Schritte: 1. Hegels Philosophie hat das Vernünftige der Wirklich­ keit in der Form des Begriffs als Wissenschaft des absoluten Geistes dargestellt und damit die systematisch-spekulative Philosophie beschlossen. 2. Das Vernünftige ist zwar darin verwirklicht, aber erst partiell wirklich im Bereich der Philosophie. Es bleibt der Gegensatz von philosophischem und wirklichem Menschengeist, von „Schule“ und „Menschheit“ . 3. Dieser Gegensatz fordert seine Aufhebung; das Vernünftige muß alle Wirklichkeit umgreifen und darf kein Anderes außer sich bestehen lassen. 4. Die Philosophie muß also noch ihr Anderes, ihr „nichtphilosophisches Gegenteil“ , den wirklichen Menschengeist und dessen Welt zur Vernunft brin­ gen, um vollständig wirklich zu sein.

Die Wirklichkeit des Vernünftigen und die vernunftlose Wirklichkeit Dem Programm des Hegel-Briefes liegt der zentrale Gedanke Hegels zugrunde, die Philosophie seiner Zeit habe Gedanke und Wirklichkeit versöhnt, weil alles, was ist, begriffen, und alles Be­ greifen wirklich geworden ist. Es ist aber in Hegels Namen zugleich über ihn hinaus, denn es geht davon aus, daß die Philosophie, die ihr Prinzip in dieser Weise historisch erfüllt hat, eine neue Gestalt annehmen muß. War die von ihr in der Wissenschaft des absoluten Geistes dargcstcllte Versöhnung erst partiell, weil sie auf ihre eigene Sphäre, die ideelle Welt des philosophischen Geistes, be­ schränkt bleibt, ist der Endzweck der Philosophie in ihrer neuen Gestalt die Versöhnung der philosophischen Idee mit der Wirk­ lichkeit des konkreten menschlichen Geistes. Da nach Hegels Anspruch die Idee der Philosophie in der Philo­ sophie der Zeit zu ihrem Selbstbewußtsein gekommen ist, ist eine „neue Epoche in der Welt entsprungen“ .30 Feuerbach nimmt diesen Gedanken auf in der Forderung, es gelte nun, ein Reich zu stiften, Hegel, Geschichte der Philosophie, in: Sämtliche Werke, hrsg. von H. Glöckner, Stuttgart 1965, X IX , S. 689. 30

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das Reich des sich in allem Dasein schauenden und seiner selbst bewußten Gedankens. Der theologische Ursprung des Versöhnungs­ gedankens ist ihm dabei bewußt gewesen. Er erscheint nicht nur in den Formulierungen: „Inkarnation des reinen Logos“, „zweite Schöpfung“, „Erlösung der Vernunft“ , sondern Feuerbach betont ausdrücklich: „Der Stifter dieses Reiches wird freilich keinen Namen haben, kein Individuum oder jenes einzige Individuum, das ist, der Weltgcist sein“ (Bw. Rech, S. 56). War das Reich Gottes dem Menschengeist offenbar geworden in der Wirklichkeit Christi, ist das Reich der Idee erst in der philosophischen Erkennt­ nis wirklich und dem Menschengeist noch nicht offenbar wie das Gottesreich. Bevor nun geklärt wird, wie in Feuerbachs Verwirklichungsmodcll der vernünftige Gedanke zu seiner vollständigen Wirklichkeit kommen soll, stellt sich die Frage, in welcher Weise die Wirklichkeit der Idee in der Philosophie mit der „bestehenden Wirklichkeit“ im Gedanken der Verweltlichung der Idee vereint ist. In ihm ist ein doppelter Begriff von Wirklidskeit impliziert: Die sich in der philosophischen Wissenschaft wissende Vernunft ist die allein wahre und alle Wirklichkeit, denn alles Sein ist in ihr begriffen. Außerhalb der Wissenschaft besteht aber noch eine „andere“ Wirklichkeit, in der die Vernunft noch nicht zu sich selbst gekommen ist, weil diese ihrem Begriff noch gleichgültig gegen­ übersteht. Dementsprechend muß auch „verwirklichen“ in zwei Hinsichten gebraucht werden. Einerseits verwirklicht sich die Ver­ nunft - „vollbringt“ oder „erlöst sich“ weil sie alles, was ist, in Erkennen aufgelöst hat, andererseits muß sie sich erst verwirk­ lichen, denn die bestehende Wirklichkeit ist noch nicht vernünftig. Hiervon ausgehend, kann Feuerbach dann behaupten, die be­ stehende Wirklichkeit fordere ihre Versöhnung mit dem Begriff, weil erst dann aller Gegensatz aufgehoben und die Alleinherrschaft der Idee realisiert ist. Die neue Gestalt der Philosophie ist mit Hegels eigenen Mitteln legitimierbar, wobei die doppelte Bedeutung von Wirklichkeit zugrunde liegt. Da sich die Entwicklung des philosophischen Gei­ stes in seiner systematischen Gestalt vollendet hat und ihm nichts mehr zu begreifen übrig bleibt, muß er den unphilosophischen

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Geist seiner Zeit als den einzigen ihm verbleibenden Gegenstand zu seinem Inhalt machen, wenn er nicht verschwinden oder sich genügsam der weiteren Durchführung des Systems in dessen Teile widmen will. Neben der Wahrheit des philosophischen Denkens besteht noch, wie Feuerbach sagt, ein „Anderes mit dem Schein oder dem Recht und Anspruch, eine zweite Wahrheit“ zu sein. Der Anstoß also, die von Hegel postulierte Einheit von Begriff und Wirklichkeit mit dem Gegensatz dieser Einheit zu einer bestehen­ den Wirklichkeit im Gedanken der Verwirklichung der Philosophie zu verbinden, muß von dieser Wirklichkeit selber ausgehen; sie ist für Feuerbach der Vorwurf an das philosophische Denken. Die Interpretationen, die Hegel zu seinem berühmt gewordenen Satz - „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirkliclj ist, das ist vernünftig“ - abgibt, weisen ebenfalls auf die Doppelheit von Wirklichkeit, von der Feuerbach ausgeht.31 In der Einleitung der »Enzyklopädie« und seiner Vorlesung über Rechtsphilosophie (1831) bezeichnet Hegel ausdrücklich die in dieser Wirklichkeit nicht aufgehende vernunftlose Wirklichkeit, um den Interpreta­ tionen entgegenzutreten, die diesen Satz als bedingungslose Recht­ fertigung der bestehenden Wirklichkeit aufgefaßt haben.32 In der von David Friedrich Strauß angefertigten Nachschrift der letzten Vorlesungsstunde Hegels heißt es: „Was wirklich ist, ist vernünftig. Aber nicht alles ist wirklich was existirt, das Schlechte ist ein in sich selbst Gebrochenes und Nichtiges. Was die Freyheit ist, ist zu faßen, eben damit befreyt sich der theoretische Geist. Was der Geist nicht begreift, das steht ihm gegenüber, ist ein Anderes für ihn. H at er es begriffen, dann hat er die Substanz des Dings und ist in ihm bey sich selbst . . . Mit diesem theoretischen Intereße ver­ knüpft sich das praktische, daß eben der Begriff heutigestags der Standpunkt der Zeit ist.“ Hegel bezieht sich überraschend offen auf die politische Gegenwart: Die Gesetze sollen sich „durch den Begriff legitimiren“ ; der geschichtliche Grund des Gesetzes sei die eine Seite der Betrachtung, „ob es aber auch an sich recht ist, ist 31 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. von J. H off­ meister, Hamburg (1955), S. 14. 32 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, hrsg. von F. Nicolin und O. Pöggeler, Hamburg (1959), S. 38 f.

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die andre Frage. Diese Frage hat sich heutigestags aufs Hödistc gesteigert . . . Manches ist nur äußerlich, nicht mehr innerlich an­ erkannt. Das Recht soll aus der Vernunft geschöpft werden. Gegen diesen Gedanken hilft kein Privileg mehr, alle besonderen Rechte . . . werden Begriffe des Rechts.“ 33 Der Heidelberger Theologe H. E. G. Paulus hat in einer Rezen­ sion der »Rechtsphilosophie« die vcrnunftlose Wirklichkeit hinsicht­ lich ihrer subjektiven Beschaffenheit treffend charakterisiert: „Allein cs kann die Wirklichkeit auch in ihrer Relativität siel) selbst als ein Absolutes aufstellen wollen, oder die Wirklichkeit kann sid) glcidjsam überheben, um sich ohne die Idee, ohne das Unendliche selbstständig zu behaupten. In diesem Betracht ist sic ohne Vernunft, oder unvernünftig. So ist Sünde, Laster, Despotie, Thorheit überhaupt eine unvernünftige Würklidikeit, d. h. eine sich überholende Endlichkeit, also ein Ideenleeres, entweder ein blosses abstraktes Verstandesseyn, oder gar ein alleiniges Seyn in der sinnlichen Anschauung.“ 34 Eben diese Eitelkeit des Bewußt­ seins, die sich gegen die Dialektik des Wissens sträubt und gegen alle Vernunft in ihrem Fürsichsein beharrt, hatte Hegel in der »Phänomenologie« sich selbst überlassen.35 Feuerbachs Unternehmen entspringt dem Motiv, auch die Eitelkeit des subjektiven Bewußt33 Strauß’ bisher unvcröffcntliditc Nachschrift wurde dem Verf. vom Deutschen Litcraturarchiv, Schillcr-Nationalmuscum (Marbach/Ncckar), freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Vgl. Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831, hrsg. von K.-H. Ilting, 1. Band, (Stutt­ gart 1973), S. 117 ff. 34 Paulus’ Rezension ist abgedruckt in den Heidelberger Jahrbüchern, Jg. 1821, S. 398. 35 Dort schreibt Hegel: „Das Bewußtsein leidet also diese Gewalt, sich die beschränkte Befriedigung zu verderben, von ihm selbst. Bei dem Gefühle dieser Gewalt mag die Angst vor der Wahrheit wohl zurück­ treten und sich dasjenige, dessen Verlust droht, zu erhalten streben. Sic kann aber keine Ruhe finden, es sei, daß sic in gedankenloser Trägheit stehen bleiben will; der Gedanke verkümmert die Gedankenlosigkeit, und seine Unruhe stört die Trägheit; oder daß sic als Empfindsamkeit sich befestigt, welche alles in seiner Art gut zu finden versichert; diese Versicherung leidet eben so Gewalt von der Vernunft, welche gerade darum etwas nicht gut findet, insofern es eine Art ist. Oder die Furcht

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scins noch zu destruieren. Diesen subjektivitätskritischen Ansatz hält Feuerbach durch: Auch die Neue Philosophie ist an keiner Stelle unmittelbare Kritik der politischen Zustände, sondern Ideo­ logiekritik.36 Die Doppelheit der Wirklichkeit - von vernünftiger und ver­ nunftloser Wirklichkeit - ist nicht nur als Ursprung, sondern bleibt auch für den Verwirklichungsgedanken bestimmend. Denn um die bestehende Wirklichkeit zur Vernunft bringen zu können, muß ich um die Wirklichkeit der Vernunft im Begriff, in der Wissenschaft wissen. Das philosophische Denken, das nach Feuerbach die Auf­ gabe hat, die Idee in der bestehenden Wirklichkeit erst zu reali­ sieren, ist insofern an die schon verwirklichte philosophische Idee gebunden. - Dieser Zusammenhang ist im Hegel-Brief nicht reflek­ tiert und erscheint nur in Feuerbachs Forderung, die „Erkenntnisse“ der Spekulation an die Stelle der bisherigen weltbestimmenden Anschauungen zu setzen. Allein diese Bindung erlaubt es Feuerbach aber, die endliche Subjektivität und deren Vorstellungen „unmittel­ bar“ , das heißt nicht im Kontext des Systems, zu kritisieren. Die philosophische Reflexion verliert damit den esoterischen Charakter, den sie als Wissenschaft gehabt hat, und gewinnt die Möglichkeit, der Wahrheit mag sich vor sich und andern hinter dem Scheine verbergen, als ob gerade der heiße Eifer für die Wahrheit selbst es ihr so schwer, ja unmöglich mache, eine andere Wahrheit zu finden als die einzige der Eitelkeit, immer noch gescheiter zu sein als jede Gedanken, welche man aus sich selbst oder von andern hat; diese Eitelkeit, welche sich jede Wahrheit zu vereiteln, daraus in sich zurückzukehren versteht und an diesem eignen Verstände sich weidet, der alle Gedanken immer aufzu­ lösen und statt des Inhalts nur das trockne Ich zu finden weiß, ist eine Befriedigung, welche sich selbst überlassen werden muß; denn sie flieht das Allgemeine und sucht nur das Fürsichsein.“ Hegel, Phänomenologie des Geistes, hrsg. von J. Hoffmeister, Hamburg (1955), S. 69 f. 30 Auf Ruges Drangen, sich endlich auch politisch zu äußern, schreibt Feuerbach am 10. März 1843: „O wie gewaltig irren Sie sich, wenn Sie den Philosophen von Bruckberg einen .Egoisten* in der Praxis nennen!. . . Übrigens bleibe ich dabei: die Theologie ist für Deutschland das einzige praktische und erfolgreiche Vehikel der Politik, wenigstens zunächst“ (SW B/J X III, S. 120).

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als Aufklärung und Kritik unmittelbar den nichtphilosophischen Geist der Zeit anzugreifen. Um die Situation verstehen zu können, in der Feuerbach 1828 sein Programm formuliert,muß man sich vergegenwärtigen, daß die Philo­ sophie Hegels keineswegs das philosophische Leben beherrschte und die rückschrittlichen Tendenzen der Zeit eher die Ohnmacht als die Überzeugungskraft des spekulativen Denkens dokumentierten. Als Feuerbach 1828 den Brief an Hegel schreibt, war gerade ein Jahr zuvor die zweite Auflage der »Enzyklopädie der philosophi­ schen Wissenschaften im Grundrisse« erschienen, in der Hegel sein philosophisches System „zum Gebrauche seiner Vorlesungen“ voll entfaltet hatte. Gleichwohl war die spekulative Wahrheit nur „Besitztum eines Pricstcrstandes“ 87 und weit davon entfernt, auch nur das geistige Leben der Universitäten zu bestimmen. Aus den Rezensionen von Hegels Werken und Berichten von Gegnern und Anhängern Hegels über die Philosophie an den Universitäten geht hervor, daß die Hegelsche Philosophie zu der Zeit eigentlich nur ein „Berolinismus“ war und das breite Geistesleben eher von Kan­ tianern, von Jacobi, Herbart, Scheliing und deren Schülern geprägt wurde. Es ist deshalb bezeichnend, daß Hegel und seine Schüler um diese Zeit beginnen, sich mit anderen philosophischen Richtun­ gen, zum Teil wirklich periphärischcn Erscheinungen3738, ausein­ anderzusetzen und mit der „Societät für wissenschaftliche Kritik“ eine Hegclschulc konstituieren, die sich mit den »Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik« ein Organ schafft. Am 28. Oktober 1808 konnte Hegel angesichts der Folgen der Französischen Revolution noch an Niethammer schreiben: „Die theoretische Arbeit, überzeuge ich mich täglich mehr, bringt mehr zustande in der Welt als die praktische; ist erst das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus.“ 39 Diesen Optimismus scheinen Hegels 37 Vgl. Hegel, Die absolute Religion, hrsg. von Georg Lasson, Ham­ burg (1966), S. 231. 38 Gemeint sind Hegels Rezensionen von Hülsmann, Schubarth und Carganico, abgedruckt in: Berliner Schriften, hrsg. von J. Hoffmeister, Hamburg (1956), S. 330 ff. ” Briefe von und an Hegel, hrsg. von J. Hoffmeister, Hamburg (1961), I, S. 253.

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Schüler und Hegel selber Ende der zwanziger Jahre nicht mehr geteilt zu haben. Die Schüler Hegels suchen nach neuen Formen der philosophischen Darstellung, in der Überzeugung, daß es der in ein abstraktes System gefaßten Philosophie letztlich nicht möglich ist, die Wahrheit ihres Denkens im wirklichen Menschengeist gel­ tend zu machen. Zur gleichen Zeit, in der Feuerbach sein Programm verfaßt, arbeitet Carl Friedrich Göschei, ein Anhänger Hegels, an einer Schrift, deren inhaltliche Absicht und Darstellungsform Feuerbachs Vorstellungen zum Teil entsprechen. Interessant ist Göscheis Schrift vor allem des­ halb, weil Hegel sich in einer Rezension zu dem Versuch geäußert hat, die systematische Form der Philosophie zu überwinden. Der Adressat von Göscheis »Aphorismen über Nichtwissen und abso­ lutes Wissen im Verhältnis zur christlichen Glaubenserkenntnis< (Berlin 1829) 40 ist der Christ, „der für sich an seinem einfachen, lebendigen Glauben genug hat und in dem vorstellenden Elemente der absoluten Wahrheit gewiß“ ist. Göschei geht wie Feuerbach davon aus, daß sich das spekulative Denken in ein unmittelbares Verhältnis zu dem Be­ wußtsein setzen muß, das nicht über seine subjektive Gewißheit hinaus­ kommt, weil es nicht weiß, was es „in Wahrheit“ weiß. Das System, so referiert Hegel Göscheis Schrift, hat sich dadurch als System zu bekunden, daß es aus sich heraustritt, diese seine letzte Abstraktion überwindet und sich als Liebe bekundet, indem „es gerade demjenigen Momente, welches sich ihm entgegensetzt, seinerseits sich nicht wider­ setze, sondern sich in dasselbe versetze“.41 Dementsprechend verzichtet Göschei darauf, seinen Gegenstand in die „förmlichere Methode der systematischen Wissenschaft und in abstraktere Ausführlichkeit“ zu fassen. Hegel billigt in seiner Rezension das Verfahren, mithilfe der Vorstellung das natürliche Bewußtsein der Wahrheit des Denkens näher zu bringen und damit die in der Philosophie verwirklichte Versöhnung von Begriff und Wirklichkeit auch nach außen hin zu verwirklichen. Göschcl fordere, schreibt Hegel, daß die wissenschaftliche Darstellung von der Vorstellung zum Begriff und vom Begriff zur Vorstellung herüberzugehen habe. Die Sprache der Vorstellung sei allerdings eine andere als die des Begriffs, und „der Mensch erkennt die Sache nicht bloß zunächst an dem Namen der Vorstellung, sondern in diesem 4° Hegels Rezension ist abgedruckt in den Berliner Schriften, a. a. O., S. 295 ff. 41 Ebd., S. 321.

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Namen ist er als lebendig erst bei ihr zu Hause, und die Wissenschaft hat nicht bloß in jene abstrakten Räume . . . ihre Figurationen cinzuschrcibcn, sondern deren Menschwerdung, und zwar einer jeden un­ mittelbar für sich selbst, die Existenz, die sie im wirklichen Geiste erhalten - und diese ist die Vorstellung, - nachzuweisen und zu ver­ zeichnen“.42 Hegel entschuldigt die „Unvollkommenheit seiner Arbei­ ten nach dieser Seite“ mit dem Hinweis auf den Vorrang der Aufgabe, den Begriff und dessen Entwicklung in aller Strenge fcstzuhalten. Erst dann sei es möglich, der Vorstellung unter der Herrschaft des Begriffs mehr Spielraum zu lassen. „Wenn in Rücksicht der angeführten Ge­ bundenheit an die Gedankenform diese in einer logischen Ausarbeitung überwiegend sein wird“, schreibt Hegel, müsse „es um so willkom­ mener sein, . . . die spekulativen Begriffe zur Anerkennung ihrer Über­ einstimmung mit der religiösen Vorstellung herausgearbeitet und die Worte und Zeichen der einen in die Sprache der andern übersetzt zu finden.“ Jene Verglcichungsweise habe es auch mit sich gebracht, „die sogenannten Einwürfc, welche von seiten des nichtwissenden Denkens wie von seiten des Glaubens her gemeinschaftlich mit demselben ein­ seitigen Verstände gemacht werden, auf deren eigenem Felde erörtern zu können“ .43 Da die logische Ausarbeitung, die Arbeit des Begriffs, geleistet ist und die Versöhnung von Begriff und Wirklichkeit realisiert ist, kann Hegel schreiben: „Ref. aber begrüßt in dieser Schrift die Morgenröte dieses Friedens, welchen sic von ebenso frommem als kräftigem Denken und Herzen und deren erlangter Versöhnung auch nach außen wirksam einzulcitcn bestimmt ist“ .44

Überwindung des Christentums Nach Feuerbachs Auffassung ist durch die Versöhnung von Be­ griff und Wirklichkeit in der Hcgelschen Philosophie eine neue Epoche eingeleitet, die unter der Forderung steht, die in der Philo­ sophie objektiv gewordene Versöhnung von Begriff und Wirklich­ keit auch subjektiv zu realisieren.45 Das Ziel der neuen Art des 42 Ebd., S. 319. 43 Ebd., S. 321. 44 Ebd., S. 329. 45 Hegel fordert deshalb am Ende seiner Vorlesungen über »Geschichte der Philosophie« seine Hörer auf, „den Geist der Zeit, der in uns natür-

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Philosophierens, von der Feuerbach spricht, muß also sein, die objektive Versöhnung im einzelnen Bewußtsein wirklich werden zu lassen, das spekulativ Erkannte zu „offenbaren“ . Konsequent nimmt Feuerbach mit dem dualistischen Geist des Christentums die Gestalt endlichen Bewußtseins auf, die seine Zeit beherrscht. Sie ist dem Geist dieser Zeit, dem Prinzip der neuen Epoche nicht adäquat, weil in ihrem Prinzip nur ein Einseitiges, das „Selbst“, festgehalten ist. Das Christentum ist „nur der Gegen­ satz der alten Welt. Welche Bedeutung hat z. B. die Natur in dieser Religion? Welche geist- und gedankenlose Stellung hat sie in ihr? Und doch ist eben diese Geist- und Gedankenlosigkeit eine der Grundsäulen derselben. Ja unbegriffen, geheimnisvoll, unaufgenommen in die Einheit des göttlichen Wesens liegt sie da, so daß nur die Person (nicht die Natur, die Welt, der Geist) ihre Erlösung feiert, welche eben ihre Erkenntnis wäre. Die Vernunft ist daher im Christentum wohl noch nicht erlöst“ (Bw. Reel., S. 59) - wohl aber, könnte man ergänzen, wenn der philosophische Geist die Stelle des göttlichen Geistes im Bewußtsein der Menschen einnimmt, Vernunft statt Gott regiert. Im Unterschied zu Hegel geht es Feuerbach also nicht mehr darum, die Idee des Christentums zu entfalten und die Objektivität des Versöhnungsgeschehens als Philosophie begreifend zu rekonstruieren und nur als diese Kon­ struktion selber objektives Moment des Versöhnungsgeschehens zu sein 46, sondern dem Vernünftigen im Menschengeist Wirklichkeit zu verschaffen durch unmittelbares Widerlegen der abstrakten Vor­ stellungen von Ich, Tod usf., die das Leben des Menschen bestimmen. Es fällt auf, daß ein größerer Teil des Hegel-Briefes aus Polemik gegen den Subjektivismus des Christentums besteht. Der Grund lieh ist, zu ergreifen, und aus seiner Natürlichkeit, d. h. Verschlossenheit, Leblosigkeit hervor an den Tag zu ziehen, und - jeder an seinem Orte mit Bewußtsein an den Tag zu bringen“ (a. a. O., S. 691). 46 In einem erst 1846 gedruckten, von Feuerbach mit »Zweifel 1827/28« überschriebenen Fragment fragt Feuerbach, ob die Hegelsche Philosophie mehr sei „als eine Erinnerung der Menschheit an das, was sie war, aber nicht mehr ist“ (SW II, S. 386). Die neue Art des Philosophie­ rens, von der Feuerbach spricht, soll jedenfalls über die bloß erinnernde Philosophie hinausgehen.

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dafür liegt nicht nur darin, daß das Christentum die mächtigste Gestalt endlichen Bewußtseins ist, sondern ist auch entwicklungs­ geschichtlich durch Feuerbachs theologisches Interesse bedingt. Die Kritik des theologischen Subjektivismus hat als konsequent sich entfaltender Gedanken in drei Phasen Feuerbachs Entwicklung bis zum Hegel-Brief bestimmt: 1. Sie hat ihren Ursprung in der religiösen Erfahrung, daß der Mensch der ewigen Wahrheit teilhaftig wird und einen Halt gewinnt, wenn er im Denken an Gott seine eitle Individualität aufgibt. Feucrbach selber überliefert aus seiner Ansbacher Gymnasialzeit (1822) ein entsprechendes Opitz-Zitat: „Wer die Begier weltlicher Sachen ablcgt und an Dasjenige denkt, was nicht sterblich ist, der liegt so feste zu Anker, daß ihn kein Sturm zum Mindesten beweget“ (SW II, S. 380). 2. Seinen Standpunkt .denkender Religiosität“ sieht Feuerbach von dem Heidelberger Dogmatiker Karl Daub entwickelt, bei dem er 1823/1824 theologische Vorlesungen hört. Die von Daub erhobene Forderung nach .Resignation auf das Selbst und die Welt“, um der Seligkeit Gottes teil­ haftig zu werden, muß Feuerbach deshalb einleuchten. Die Notwendig­ keit dieser .Resignation* kann Daub jedoch nur theologisch begründen. 3. Von 1824 bis 1826 studiert Feuerbach in Berlin zunächst Theo­ logie, dann Philosophie. Hegels Vorlesungen werden für ihn zum .Wendepunkt seines ganzen Lebens" und Berlin zum .Bethlehem einer neuen Welt".47 In einem Brief dankt Feuerbach Daub, daß er ihn .in die konkrete Wissenschaft einführte, wo Gott und Mensch wieder zur Vernunft kommen, und worin dieser eine ewige substantielle Form seines Lebens, Wahrheit und Wirklichkeit allein haben kann . . . Ist der erste Anfang aller Philosophie der Untergang der Welt, wie viel mehr des armen kleinen Ich des Einzelnen." Hegels Philosophie zeigt ihm das, was er bei Daub nicht realisiert fand: die wissenschaftliche Form des Denkens. Nur das könne auf wissenschaftliche Gründlichkeit An­ spruch machen, schreibt Feuerbach, .was nach der Notwendigkeit der logischen Formen entwickelt wird, und auf Wahrheit, was als das Resultat seiner selbst wird".48 In Hegels System ist nicht nur die .Person“ , sondern auch „Geist und Natur“ erlöst, weil „erkannt“ . Die Gestalten des endlichen Be­ wußtseins sind widerlegt, weil deren Einseitigkeit aufgezeigt ist. Jetzt 47 Carlo Ascheri, Ein unbekannter Brief von Ludwig Feuerbach an Karl Daub, in: Natur und Geschichte. Festschrift für K. Löwith, Stuttgart (1967), S. 450 ff. 48 Ebd., S. 451.

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gilt es noch, heißt es im Brief an Hegel, das an sich Widerlegte, „wahr­ haft zu vernichten“.

Im Hegel-Brief ist im Endzustand der verwirklichten Idee der Philosophie der religiöse Ursprung der Subjektivitätskritik be­ wahrt. Die Philosophie verwirklicht in ihrem Endzustand das, was das Christentum nicht sein kann, weil es nur die Religion der Person ist. Die „vollkommene und absolute Religion“, schreibt Feuerbach, „kann nur sein das Reich der Wirklichkeit der Idee und der daseienden Vernunft“ (Bw. Reel., S. 58 f.). Kann im Reich Gottes nur der Mensch als Person Erlösung finden, ist im Reich der Wirklichkeit der Idee alles Sein - auch Geist und Natur - erlöst und damit die Versöhnung von Begriff und Wirklichkeit in aller Wirklichkeit wirklich geworden. Feuerbach kann deshalb das Reich der daseienden Vernunft als vollkommene Religion bezeichnen, weil er in der unmittelbaren Gegenwart der Vernunft den praktischen Sinn von Religion reali­ siert sieht. In der Neuen Philosophie führt Feuerbach diesen Ge­ danken nur konsequent weiter, nun allerdings gegen Hegel. Das Vernünftige konkretisiert sich in der Sinnlichkeit des Menschen und den unmittelbaren Beziehungen der Menschen untereinander wie sich Gott in Christus den Menschen offenbart hat - als Liebe. Die alte Philosophie, schreibt Feuerbach in den »Grundsätzen der Philosophie der Zukunft«, hatte die Wahrheit „für sich selbst, die nicht um den Menschen bekümmerte“ Wahrheit zum Ziel. „Die neue Philosophie dagegen, als die Philosophie des Menschen, ist auch wesentlich die Philosophie für den Menschen - sic hat, unbe­ schadet der Würde und Selbständigkeit der Theorie, ja im innigsten Einklang mit derselben, wesentlich eine praktische, und zwar im höchsten Sinne praktische, Tendenz; sie tritt an die Stelle der Religion, sie hat das Wesen der Religion in sich, sie ist in Wahrheit selbst Religion.“ (GW 9, S. 340) Bevor im folgenden Teil untersucht wird, welche Konsequenzen sich aus den Grundbestimmungen des Hegel-Briefes für die Formu­ lierung der Neuen Philosophie ergeben, sollen diese noch einmal zusammengefaßt werden: 1. Die Notwendigkeit, über Hegel hinauszugehen, kann Feuer­ bach zunächst nur so begründen, daß er sagt, es sei evident, daß

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die unvernünftige Wirklichkeit zur Vernunft gebracht werden müsse, Feuerbach verweist auf die das Leben des Menschen beherr­ schenden subjektivistischen Vorstellungen und sicht seine Aufgabe darin, den mit der spekulativen Philosophie aufgetretenen neuen Geist in das allgemeine Bewußtsein zu tragen. In den »Todes­ gedanken« spricht Feuerbach von dem neuen Geist, „der die Menschheit mit seiner Erscheinung beglücken, und aus den jämmer­ lichen Gegensätzen und Widersprüchen, in die sie jetzt aufgelöst ist, erretten wird“ (SW B /J X I, S. 89). 2. Die im Programm des Hegel-Briefes entworfene künftige Philosophie kann nicht mehr systematische Philosophie sein, denn diese hat sich in Hegel vollendet und scheint in dieser Form nicht mäditig zu sein, die Vorstellungen und damit die bestehende Wirk­ lichkeit zu verändern. Die der neuen Epoche adäquate Explikations­ form muß Aufklärung sein, unmittelbare Kritik von Vorstellungen, die der spekulativen Idee entgcgenstchen. Damit stellt sich das Problem der Legitimation einer solchen Aufklärung, die den kategorialen Kontext ihrer Aussagen unreflektiert läßt, weil sic nur als unmittelbare Kritik wirksam werden kann. Da sie sich aus sich selber heraus nicht legitimieren kann, muß sie sich des unmittel­ baren Besitztums der spekulativen Idee gewiß sein.49 Die philo­ sophische Darstellung wird zum Mittel und kann sich nicht mehr 49 Christian Hermann Weiße, der selber die Inkommensurabilität von Begriff und Wirklichkeit gegen Hegel einwendet, dabei aber eine „gene­ tische Dialektik“ als Prinzip der Philosophie zu entfalten versucht, hat mit sicherem Blick die Tendenz des Feuerbachschen Denkens abgeschätzt. Nach der Lektüre der »Kritik der Hcgclschen Philosophie« schreibt er: „Was Feuerbach sonst der gebildeten philosophischen Wissenschaft der neuern Zeit entgegenstellt, darin vermögen wir Nichts zu finden, als jenen rohen philosophischen Naturalismus, der sich, ähnlich wie die Spe­ kulation der ältesten griechischen Denker, auf deren Standpunkt er in der Tat zurückgckchrt ist, der spekulativen Idee als eines unmittelbaren Besitztums bewußt ist, und die Anklänge derselben allenthalben, nament­ lich in der Naturanschauung wiederfindet, aber sich gegen jeden objek­ tiven, methodischen Zusammenhang des Wissens sträubt“ (Zeitschrift für Philosophie und spekulative Theologie, hrsg. von I. H. Fichte, Band 7, Bonn 1841, S. 128).

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als Hervorbringen der Einheit von Begriff und Wirklichkeit ver­ stehen, sondern muß von deren Gegensatz ausgehen. 3. Für Feuerbach ergibt sich daraus die Notwendigkeit, Hegels Vermittlungsbegriff zu problematisieren. Vermittlung kann nicht mehr wie bei Hegel nur Selbstvermittlung des Denkens sein, Pro­ duktion des Wirklichen im Denken, sondern Reproduktion des Wirklichen für Andere.50 4. Mit der Doppelung von theoretischer und bestehender Wirk­ lichkeit gewinnt Feuerbach die Möglichkeit, die Wirklichkeit menschlichen Bewußtseins unter Aspekten zu sehen, die nicht von vorneherein von dem Interesse an philosophischer Systematik be­ stimmt sind. Wirklichkeit überhaupt ist dann nicht mehr nur als das Andere des Gedankens 51 interpretierbar, wodurch die Substanz 50 In den Vorlesungen über »Logik und MetaphysikLogikPhänomcnologie des Geistes« und des Anfangs der »Wissenschaft der Logik« hat Feuerbach versucht, den eigenen Ansatz zu legitimieren. Feuerbachs »Kritik der Hegclschen Philosophie« von 1839 macht mit dem Anfang der »Phänomenologie« und der »Logik« die Stellen des Systems zum Gegenstand, an denen die Methode der systema­ tisch-spekulativen Philosophie am leichtesten greifbar und damit angreifbar zu sein scheint. Vom Problem des Anfangs ist die auf Feuerbach folgende Hegelkritik deshalb immer wieder ausgegan­ gen, wenn sie das System der totalen Reflexion aus den Angeln

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heben wollte. In. der »Kritik der Hegelschen Philosophie« und der Neuen Philosophie verwirft Feuerbach den Anfang der »Logik« und der »Phänomenologie«, weil in ihnen das Sein als unbestimmtes Unmittelbares nicht konkret, sondern als Sein für den Begriff ein­ geführt wird. Da die Neue Philosophie die differenziertere Hegel­ kritik von 1839 voraussetzt, ist es im folgenden notwendig, sich zunächst an der früheren Position zu orientieren. Feuerbachs Kritik geht von dem auf den ersten Blick einleuch­ tenden Einwand aus, Hegels Philosophie beginne mit der „unmittel­ baren Voraussetzung" von Philosophie selber. Alle Forderungen der Neuen Philosophie: Rehabilitation der Sinnlichkeit, Einheit von Denken und Leben usf. ergeben sich aus dem Versuch, den Ausgang von der „Nichtphilosophie“ als Alternative zur unmittel­ baren Voraussetzung von Philosophie selber zu begründen. Zu klären wäre, ob die Hegelkritik, die vom Anfangsproblem der Wisscnsdiaft ausgeht, auch dann noch berechtigt ist, wenn die Argumente gegen die anfängliche Dialektik von Unmittelbarkeit und Vermittlung im Verlaufe dieser Dialektik selber aufgefangen werden können. Die Kritik an der unmittelbaren Voraussetzung des Anfangs dürfte sich dann nicht wie bei Feuerbach auf diesen Anfang selber beschränken, sondern hätte die Stichhaltigkeit rück­ läufiger Begründung zu prüfen: Die Schcin-unmittelbarkeit des logischen Anfangs muß sich in der Wesenslogik legitimieren, in der das dialektische Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermittlung als das von Schein und Wesen thematisch wird. Insofern geht Feuerbachs Kritik des Anfangs der Philosophie von vornchcrein an dem komplizierten Begründungsverfahren der »Logik« vorbei.60 Um Feuerbachs Rüdezug auf das unmittelbare Wissen der Sinnlidikcit zu verstehen, ist es notwendig zu sehen, wie die Unmittel­ barkeit des Anfangs der »Phänomenologie« und der »Logik« be­ stimmt ist. Beide müssen mit der Unmittelbarkeit ihren Anfang nehmen, weil Vermittlung kein Ursprüngliches ist, sondern Substrate vor­ 60 Vgl. dazu die Arbeiten von Dieter Henrich, Anfang und Methode der Logik; Hegels Logik der Reflexion, in: Hegel im Kontext, Frank­ furt/M. (1971).

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aussetzt. Das Unmittelbare - als sinnliche Gewißheit („unmittel­ bares Wissen, Wissen des Unmittelbaren oder Seienden“ in der »Phänomenologie«) und als reines Sein („unbestimmtes Unmittel­ bares“ in der »Logik«) - kann dagegen das Ursprüngliche und An­ fängliche sein, aber nur so, daß es auf seine Negativität hin fest­ gelegt ist und mit dem Setzen des Anfangs als etwas, was an sich selber nie Wirklichkeit gehabt hat oder haben kann, zugleich ver­ schwindet. Es gibt insofern bei Hegel keine „wirkliche“ Unmittel­ barkeit, sondern nur Unmittelbarkeit, die sich als Schein erweist. Die Notwendigkeit der Aufhebung der phänomenologischen Un­ mittelbarkeit ergibt sich daraus, daß das sinnliche Bewußtsein erfährt, daß cs sich, wenn es seinen Gegenstand und sich als ein Unmittelbares zeigt oder ausspricht, widerlegt oder widerspricht, weil es als Beziehung in Wahrheit bereits Reflexion und aus seinem scheinbar unmittelbaren Zustand bereits herausgetreten ist. Das natürliche Bewußtsein meint, in jeder Gestalt seines Wissens, sei es Empfindung, Wahrnehmung oder Erkenntnis, sich dieses Wissens unmittelbar gewiß zu sein, weil cs sich, ohne dieses jedoch aus­ drücklich zu wissen, als Subjektivität unmittelbar seiner selbst gewiß ist. Die »Phänomenologie« soll nun nachweiscn, daß in jedem Wissen Subjekt und Objekt in Wahrheit bereits vermittelt sind, und diese Vermittlung aufzeigen, aber als Reflexion des natürlichen Bewußtseins selber. Von dieser Reflexion zeigt sich dann, daß sic nicht nur ein subjektives Vermögen ist, sondern die Bewegung des Denkens selber, in der der Gegensatz von Subjekt und Objekt auf­ gehoben und als absolute Reflexion dieses Gegensatzes Geist ist. Die Dialektik des anfänglichen sinnlichen Bewußtseins ist dann nichts anderes als „die einfache Geschichte ihrer Bewegung oder ihrer Erfahrung“ .®1 Der Zwang fortzuschrciten, liegt also in der Negativität des sein Wissen reflektierenden Bewußtseins, das im Erkennen der Widersprüchlichkeit seiner Meinungen den Zustand seiner „vermeinten“ Unmittelbarkeit aufhebt.. Ebenso verfährt Hegel in der »Logik«. Das reine Sein ist „das in der Wissenschaft Erste und Unmittelbare, somit die Vorausset­ zung“ . Aber dieses anfängliche Sein ist in seiner unbestimmten01 01 Hegel, Phänomenologie, a. a. O., S. 86.

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Unmittelbarkeit dasselbe wie das reine Nichts, so daß „unmittelbar jedes in seinem Gegenteil verschwindet. Ihre Wahrheit ist also diese Bewegung des unmittelbaren Verschwindens des Einen in dem Anderen: das Werden; eine Bewegung, worin beide unterschieden sind, aber durch einen Unterschied, der sich ebenso unmittelbar aufgelöst hat.“ 62 In der >Phänomenologie< wie der »Logik« wird der Zustand der anfänglichen Unmittelbarkeit aufgehoben durch den Beweis, daß er nur Schein und dem Wesen oder der Wahrheit nach Bewegung ist, in der »Phänomenologie« die Bewegung der Beziehung, in der »Logik« die des Werdens. Diese Bewegung ist die Vermittlungstätigkeit des Denkens, von der Feuerbach sagt, sie könne das „wirkliche Sein“ und die „wirk­ liche sinnliche Gewißheit“ gar nicht widerlegen, weil sie nicht mit ihnen selbst, sondern nur mit dem Gedanken von dem Anderssein des Gedankens beginnt. Die sinnliche Gewißheit wird sich deshalb nicht davon überzeugen lassen, daß sie und ihr Gegenstand ein durch Negation vermitteltes Allgemeines ist, und in ihrer unmittel­ baren Einzelheit beharren. Hegel widerlegt also in der »Phäno­ menologie« nicht das Hier, wie es Gegenstand des sinnlidicn Bewußtseins und uns im Unterschiede vom Denken Gegenstand ist, sondern das „logische Hier, das logische Jetzt. Er widerlegt den Gedanken des Diesscins, die Haccceitas . . . Die ,Phänomenologie* ist nichts anderes als die phänomenologische ,Logik*“ (GW 9, S. 45). Gegen das reine Sein der »Logik« führt Feuerbach dasselbe Argu­ ment an: Das Denken der spekulativen oder absoluten Philosophie bestimmt „im Unterschiede von siel), als der Tätigkeit des Ver­ m ittels, das Sein als das Unmittelbare, nicht Vermittelte". Für das spekulative Denken ist das Sein nichts weiter als dieses. Das Denken setzt sidi das Sein entgegen, aber „innerhalb seiner selbst, und hebt dadurch unmittelbar, ohne Schwierigkeit den Gegensatz desselben gegen sich auf; denn das Sein als Gegensatz des Denkens im Denken ist nichts anderes als selbst ein Gedanke“ (GW 9, S. 303). Deswegen ist Hegel nicht zum Sein als Sein, „zum freien, selbständigen, in sich selber glücklichen Sein“ gekommen (ebd., S. 258). Warum, fragt Feuerbach, soll ich mich im Anfang der 62 Hegel, Logik, a. a. O., S. 67.

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Philosophie „nicht unmittelbar auf das Wirklidie beziehen?“ (cbd., S. 23) Feuerbachs Ausgang von der Nichtphilosophie Der zentrale Einwand Feuerbadis richtet sich gegen den Grund­ gedanken der Hcgelschcn Philosophie, daß Philosophie als Wissensdiaft nichts anderes sein kann als die Explikation der Einheit von Begriff und Wirklidikcit. Eine solche Philosophie beginnt aber, so Feuerbadi, mit einem „unvermittelten Bruch“ mit der sinnlidicn Anschauung, sie trifft der Vorwurf der „unmittelbaren Voraus­ setzung“ der Philosophie selber. „Es gibt freilich einen unvermeid­ lichen Bruch, der in der Natur der Wissenschaft liegt; aber daß er ein unvermittelter ist, ist nicht notwendig. Die Philosophie ver­ mittelt ihn dadurch, daß sic sich aus der Niditphilosophic erzeugt.“ (GW 9, S. 42) „Der Philosoph muß das im Mensdien, was nicht philosophiert, was vielmehr gegen die Philosophie ist, dem abstrak­ ten Denken opponiert, das also, was bei Hegel nur zur Anmerkung herabgesetzt ist, in den Text der Philosophie aufnehmen. Nur so wird die Philosophie zu einer universalen, gegensatzlosen ... Mad)t. Die Philosophie hat daher nicht mit sich, sondern mit ihrer Anti­ these, mit der Niditphilosophic zu beginnen. Dieses vom Denken unterschiedene, unphilosophische, absolut antischolastische Wesen in uns ist das Prinzip des Sensualismus“ (GW 9, S. 254). Feuerbachs Argumentation geht davon aus, daß die Unmittel­ barkeit, mit der Hegel die »Phänomenologie« und die »Logik« be­ ginnen läßt, nicht trifft, was die Gewißheit der sinnlidicn Welt­ erfahrung und das Sein der Natur an sich selber, „cigentlidi“ , ist, weil sie von vornehcrcin unter dem Aspekt ihrer philosophisdien Vermittlung gedadit werden. Wahrheit und Wirklichkeit kommt bei Hegel nur der logisdien Vermittlung zu, die wesentlich Selbstvcrmittlung ist, nicht aber der Unmittelbarkeit selber, in der sich dodi Subjekt und Objekt in ungebrodicncr, natürlidicr Beziehung befinden. Von der „eigentlichen“ Unmittelbarkeit sei deshalb aus­ zugehen, schreibt Feuerbadi, weil nur in ihr das Sein gegeben ist, was jedem Denken vorausliegt: Natur, Lciblidikeit, der andere Mensch. Die immer gemeinte Positivität von Unmittelbarkeit wird

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durch die Negativität der Begriffsform nur verdeckt; unmittelbar wäre also zu umschreiben durch direkt, geradezu, geradehin.M Gegeben ist ein „Gegenstand im wahren Sinne“, heißt es in den >Grundsätzen