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German Pages 347 [350] Year 2018
Von der Revolution zum Neuen Menschen Das politische Imaginäre in Mitteleuropa 1918/19: Philosophie, Humanwissenschaften und Literatur
Herausgegeben von Albert Dikovich und Alexander Wierzock Weimarer Schriften zur republik
Franz Steiner Verlag
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Von der Revolution zum Neuen Menschen Herausgegeben von Albert Dikovich und Alexander Wierzock
weimarer schriften zur republik Herausgegeben von Michael Dreyer und Andreas Braune
Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Ursula Büttner Prof. Dr. Alexander Gallus Prof. Dr. Kathrin Groh Prof. Dr. Christoph Gusy Prof. Dr. Marcus Llanque Prof. Dr. Walter Mühlhausen
Band 5
Von der Revolution zum Neuen Menschen Das politische Imaginäre in Mitteleuropa 1918/19: Philosophie, Humanwissenschaften und Literatur
Herausgegeben von Albert Dikovich und Alexander Wierzock
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: Franz Marc, Versöhnung. Erschienen in: Der Sturm, Jg. 3, September 1912, Nr. 125/126. © bpk / Los Angeles County Museum of Art / Art Resource, NY
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-515-12129-3 (Print) ISBN 978-3-515-12130-9 (E-Book)
INHALT Andreas Braune, Michael Dreyer Vorwort ....................................................................................................................7 Albert Dikovich, Alexander Wierzock Der Neue Mensch, eine mitteleuropäische Passion der Umbruchsjahre 1918/19 ................................................................... 11 KRITERIEN DES NEUEN Alexander Wierzock „Nicht Kartenhäuser oder Luftschlösser, sondern einen Tempel des Geistes und der Gesittung“. Ferdinand Tönniesʼ Verhältnis zu den revolutionären Erneuerungshoffnungen 1918/19 ........................................................................ 39 Karl-Heinz Lembeck Die Menschwerdung des transzendentalen Subjekts. Neukantianische Menschenbilder ........................................................................ 67 Detlef Siegfried Antiautoritär, altruistisch, antinational. Adolf Dethmanns kommunistischer Mensch ..................................................... 83 NEUER STAAT FÜR NEUE MENSCHEN Clemens Reichhold Romantik und Revolution. Zur sittlichen Erneuerung im sozialen „Volksstaat“ bei Walther Rathenau ......................................................................................... 103 Albert Dikovich Paul Natorps Sozialidealismus. Transpolitisches Regieren im Rätestaat ............................................................. 123 Vratislav Doubek Eine Konzeption der Größe in der Kleinheit. Tomáš Garrigue Masaryk und die tschechische Unabhängigkeit ....................... 159
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Inhalt
POLITIKEN DES LEBENS Enikő Darabos Vorstellungen über Sexualethik und -praxis des Neuen Menschen. Experimente und Auseinandersetzungen ............................................................ 177 Katharina Neef Rudolf Goldscheids Menschenökonomie. Biopolitik und soziale Revolution ...................................................................... 201 Christoffer Leber Homo Sapientissimus. Der Neue Mensch im populärwissenschaftlichen Werk Paul Kammerers (1918/19) ................................................................................. 219 POLITIK DURCH LITERATUR Verena Wirtz ‚Rausch und Tollheit‘. Zur Ethik und Ästhetik revolutionärer Politik um 1918 ..................................... 235 Annamária Biró Zwei ungarische Varianten des Aktivismus. Der Aktivismus von Lajos Kassák und der Aktivismus als Komponente in den gesellschaftspolitischen Vorstellungen von Lajos Hatvany .................... 263 Sebastian Schäfer Evolution statt Revolution. Rudolf Olden und der geistige Neubeginn 1918/19 ........................................... 283 KRITISCHE OBSERVATIONEN Christian Marty Keine Spur vom Adel unserer Natur. Max Webers Kritik am „Revolutionskarneval“ .................................................. 303 Michael Gormann-Thelen Eugen Rosenstock-Huessys 9. November 1918. „1918/19 ist wirklich passiert“ ........................................................................... 323 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ............................................................ 345
VORWORT DER REIHENHERAUSGEBER Zur Geschichte des politischen Denkens und der politischen Theorie gehört die Geschichte der politischen Anthropologie. Seit über das Wesen der Politik nachgedacht wird, wird auch die Frage nach der ‚Natur‘ oder dem ‚Wesen‘ des Menschen gestellt. Aus (vermeintlichen) Feststellungen, wie der Mensch ist, werden dabei Schlüsse über Sinn und Zweck des Staates und der Politik gezogen. Spätestens mit der Aufklärung kommt aber eine neue Fragestellung hinzu. Es geht nun nicht mehr allein darum, wie der Mensch ist, sondern auch und vor allem, wie er sein kann. Unter dem Stichwort der ‚Perfektibilität des Menschen‘ entsteht ein wirkmächtiger Topos, in dem die ‚Menschwerdung‘ ein unabgeschlossenes und von der kommenden Geschichte erst noch einzulösendes Versprechen ist. Rousseau schrieb vom Gesellschaftsvertrag, dass dieser den Menschen „dem Naturzustande auf ewig entriß und aus einem ungesitteten und beschränkten Tiere ein einsichtsvolles Wesen, einen Menschen machte“ (Contrat social, 1. Buch, 8. Kap.). Und er ließ keinen Zweifel daran, dass dieser Zustand in seiner Gegenwart kaum irgendwo erreicht war. Schiller argumentierte in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen, dass dieser erst durch ebendiese zur Freiheit und dem eigentlichen Menschsein finden müsse, bevor er zum Bürger eines freiheitlichen Staates tauge. Kant sah den Menschen irgendwo zwischen reinem Natur- und reinem Vernunftwesen angesiedelt, aber mit dem beständigen Auftrag ausgestattet, sich vom Natur- zum Vernunftwesen ‚emporzuarbeiten‘. Für Hegel war sogar die gesamte Geschichte ein solches Hinaufarbeiten des Menschen zur Verwirklichung des Geistes der Freiheit, womit gleichermaßen die Weltgeschichte wie die Menschwerdung an ihr Ende, an die Erfüllung ihres Zweckes gelangen würden. Bei Marx schließlich findet sich die ähnliche Überlegung, dass der Mensch erst im Kommunismus sein volles Gattungswesen ausbilden und erst in diesem ‚Reich der Freiheit‘ im vollen Sinne ‚Mensch‘ sein würde. Für den Topos der Perfektibilität ist charakteristisch, dass der Mensch bzw. die volle Entfaltung dessen, was genuin menschlich oder im Potential des Menschlichen angelegt ist, ein in die Zukunft projiziertes Ideal ist; während der Mensch der jeweiligen Gegenwart als ein ‚Mängelwesen‘ betrachtet wird, um einen Begriff Plessners zu variieren. Der Mensch ist hier nämlich nicht in einem existentiellen Sinne defizitär, sondern weil in ihm das genuin Menschliche noch gar nicht zur vollen Entfaltung gekommen ist. Daraus erwächst früher oder später die Erwartungshaltung: wo bleibt er, dieser echte, wahre Mensch? Was lässt ihn in Erscheinung treten? Diese Erwartungshaltung und Fragestellung steigerten sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in Europa erheblich. Sie standen dabei nicht im Gegensatz zu der zivilisationsmüden Stimmung des Fin de Siècle um 1900, sondern waren durch sie erst provoziert und gesteigert worden. Soweit gesteigert, dass es nun nicht mehr nur um
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Michael Dreyer / Andreas Braune
den wahren oder echten oder ganzen Menschen ging, sondern um den ‚neuen‘, ja sogar um den ‚Übermenschen‘ (Nietzsche). Neu war nun auch, dass oftmals nicht mehr nur nach den Bedingungen der moralischen, sittlichen und politischen Menschwerdung gesucht wurde, sondern auch die physiologische Steigerung und Verbesserung angestrebt wurde: Der neue Mensch und alle seine Nachkommen würden nicht nur frei und vernünftig sein, sondern auch schön, gesund und stark. Ein gänzlich neues Menschengeschlecht wurde imaginiert, das mit der alten, geknechteten, gebeugten und korrumpierten Menschheit nicht mehr viel gemein haben würde. Dieser ‚alte‘, defizitäre Mensch war für die Protagonisten der Neue-MenschImaginationen das Resultat oder Abbild einer alten, einer defizitären Gesellschaft. Es verwundert daher nicht, dass die Suche nach dem ‚neuen Menschen‘ und der Gesellschaft, die ihn hervorbringen würde, noch einmal intensiviert wurde, als die alte Gesellschaft zwischen 1914 und 1918 an den Abgrund geriet und teilweise in ihm unterging. Und es verwundert genauso wenig, dass an die Vorstellungen des neuen Menschen auch immer Vorstellungen einer neuen gesellschaftlichen und politischen Ordnung geknüpft wurden. Der ‚neue Mensch‘ hatte in der europäischen Revolutionsepoche seit circa 1916 Hochkonjunktur und avancierte zu einem ihrer zentralen Topoi. In ihm verdichteten sich Gegenwartsdiagnose und Zukunftserwartungen, er war Anklage und Heilsversprechen zugleich. Dabei ist klar, dass es den neuen Menschen nicht gab, sondern dass die unterschiedlichen politischen Strömungen unterschiedliche Vorstellungen des neuen Menschen imaginierten und an ihre avisierten Gesellschafts- und Politikmodelle knüpften. Es ist ein Verdienst dieses Bandes von Albert Dikovich und Alexander Wierzock, dass sie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Topos des neuen Menschen unter neuen Vorzeichen neu anstoßen. Denn allzu lang wurde der ‚neue Mensch‘ lediglich als Bestandteil einer der beiden totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts betrachtet, in denen er als ‚neuer sozialistischer Mensch‘ oder ‚neuer faschistischer/nationalsozialistischer Mensch‘ als Zielvorgabe zur Legitimation der totalen Umformung der Gesellschaft diente. Zweifelsohne nahm er dort diese Funktion ein. Aber der Topos kann nicht auf diese ideologische Instrumentalisierung reduziert werden. Mit dem Fokus auf die mitteuropäische Revolutionsepoche nach dem Ersten Weltkrieg nehmen die beiden Herausgeber jene kurze Zeitspanne in den Blick, in der die Debatten um den neuen Menschen und die ihm korrespondierenden Gesellschaftsmodelle die größte Intensität und Pluralität besaßen. Gerade in Mitteleuropa, wo mit dem Zusammenbruch der Monarchien in Deutschland und Österreich-Ungarn der Zukunftshorizont und Gestaltungsspielraum besonders offen und groß waren, war der Anreiz zur politischen Imagination besonders stark. Die Beiträge des Bandes zeigen, mit welchem humanistischen Elan, aber auch mit welchem ästhetisierenden Überschwung und welchen ideen- und philosophiegeschichtlichen Altlasten die Möglichkeiten des Neuen um 1918/19 gefeiert wurden, bevor ihnen die Ernüchterung der 1920er und die völlige Desillusionierung im Angesicht des Totalitarismus der 1930er folgen musste. Ein weiterer Verdienst des Bandes ist dabei, den Blick auf den transnationalen Vergleich und Transfer zu lenken. Ein Großteil der Beiträge liefert wichtige Erkenntnisse für die Ideengeschichte der Revoltion von 1918/19 in Deutschland und ihre Folgen für die Weimarer Republik. Die
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Vorwort
exemplarischen Studien zu den Nachfolgestaaten der Donaumonarchie deuten aber zusätzlich dazu an, wie stark die Vorstellung des neuen Menschen als grenzüberschreitendes Phänomen des Modernisierungslaboratoriums der frühen Nachkriegszeit in Mitteleuropa zu betrachten ist. Als Herausgeber der „Weimarer Schriften zur Republik“ freuen wir uns sehr, mit dem Band von Albert Dikovich und Alexander Wierzock den ersten externen Band in der Reihe präsentieren zu können. Er beruht auf einer Tagung, die im Februar 2017 in Wien stattgefunden hat und von Albert Dikovich in Zusammenarbeit mit dem Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie und dem Institut für Wissenschaft und Kunst organisiert wurde. Neben diesem Band zum Topos des Neuen Menschen und dem politischen Imaginären der mitteleuropäischen Revolutionsphase sind in den „Weimarer Schriften zur Republik“ gerade zwei weitere Bände zur Geschichte der Revolution von 1918/19 in Vorbereitung. Erstens wird der Tagungsband zu der Konferenz „Zusammenbruch, Aufbruch, Abbruch – Die Novemberrevolution als Ereignis und Erinnerungsort“ den Stand der geschichts-, politik- und rechtswissenschaftlichen Forschung zur Novemberrevolution zusammenfassen, einige neue Forschungsperspektiven präsentieren und nach dem Ort der Novemberrevolution im deutschen Erinnerungshaushalt fragen. Zweitens wird es einen Band geben, der die Rolle der politischen Linken in der Revolution anhand der USPD genauer in den Blick nehmen wird, einer Partei also, in deren Reihen einige der prominentesten Vertreter der Synthese aus Politik und Ästhetik zu finden sind, die auch in diesem Band diskutiert werden. Nahezu zeitgleich erscheint auch dieser Band, dessen Schwerpunkt in einer ideen- und philosophiegeschichtlichen Betrachtung der Revolution, ihrer eigentümlichen Verquickung von Kunst und Politik und ihrer mitteleuropäischen Vernetzung liegt. Wir freuen uns daher sehr, anlässlich des 100. Jahrestages der Novemberrevolution gleich mit drei Bänden die Startbedingungen der Weimarer Republik im Sinne einer wissenschaftlichen Bestandsaufnahme und Impulsgebung beleuchten zu können und in verschiedenerlei Hinsicht ein geschichts- und erinnerungspolitisches Diskussionsangebot unterbreiten zu können. Wir danken Albert Dikovich und Alexander Wierzock, genauso wie ihren Autorinnen und Autoren, dass sie mit ihrer Herausgebertätigkeit und ihren Beiträgen einen wichtigen Teil dazu beitragen, und wünschen ihrem Band eine breite und interessierte Leserschaft. Michael Dreyer & Andreas Braune
Jena, im Mai 2018
DER NEUE MENSCH, EINE MITTELEUROPÄISCHE PASSION DER UMBRUCHSJAHRE 1918/19 Albert Dikovich / Alexander Wierzock Zwischen Pfingsten und Herbst 1917 trafen auf Burg Lauenstein im Frankenwald nahe der Grenze zum heutigen Thüringen Gertrud Bäumer, Ida und Richard Dehmel, Paul Ernst, Friedrich Meinecke, Berta Lask, Walter von Molo, Werner Sombart, Ferdinand Tönnies, Max Weber und andere bekannte Persönlichkeiten des deutschen Geisteslebens zu Vorträgen und Diskussionen zusammen. Ein „Warenhaus für Weltanschauungen“ – so soll Weber das Verlagsprogramm desjenigen genannt haben, der diese Zusammenkünfte organisiert hatte: der Jenaer Verleger Eugen Diederichs.1 Webers durch den späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss überliefertes Bonmot könnte jedoch genauso gut für die Lauensteiner Tagungen selbst stehen. Denn wenn diese etwas veranschaulichen, dann die Polyphonie von Ideen, die mit der Verlagerung der Diskussion seit 1916 von der Außenpolitik und der Kriegszielfrage hin zur Neuordnungsproblematik im Inneren nach dem Krieg einherging. Die Erwartungen des Veranstalters Diederichs waren hoch: Die anwesenden Tagungsteilnehmer sollten die eine verbindliche Idee eines Neuen Menschen erzeugen helfen, denn ohne Menschenerneuerung keine Neugestaltung des Staates. Nicht eine qua Satzung erzeugte „Gemeinschaft mit Paragraphen“, sondern „eine solche des Lebensgefühls“ sollte entstehen, denn ein „neues intensives Staatsleben kommt nur herauf mit neuen Menschen“ – so hatte Diederichs vor der zweiten Tagung im Herbst 1917 gegenüber Max Weber dieses Ineinandergreifen von Neuem Mensch und Neuem Staat zu erklären versucht.2 Die von Diederichs ersehnte Integrationsformel des Neuen Menschen sollte indes auf der Herbsttagung ebenso wenig Wirklichkeit werden wie danach. Die Diskussionen auf Burg Lauenstein verdeutlichen zwar schlaglichtartig die massive Politisierung der versammelten Gelehrten und Kunstschaffenden, doch insbesondere im Aufeinanderprallen von Max Weber und Max Maurenbrecher auch das erreichte Aus1
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Max Weber zit. n. Theodor Heuss (1937): Zum siebzigsten Geburtstag. Zu den bis 1918 insgesamt drei Tagungen auf Burg Lauenstein siehe Heiler (1998): Der Verleger, S. 91–98. An dieser Stelle sei auch auf eine in Vorbereitung begriffene Publikation hingewiesen, die auf eine Tagung des Deutschen Literaturarchivs Marbach vom Dezember 2017 zurückgeht und in Kürze von Maike Werner (Vanderbilt University) unter dem Titel Die Ideen von 1917. Debatten auf Burg Lauenstein über die Neuordnung Deutschlands in der Reihe „Marbacher Schriften. Neue Folge“ herausgegeben werden wird. Eugen Diederichs an Max Weber, 22.7.1917, in: Diederichs (1967): Selbstzeugnisse, S. 296. Dort auch das folgende Zitat.
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maß der ideologischen Fragmentierung. Diederichs hatte „eine Art Geburtstagsfeier von einem Kinde, das geboren werden sollte“, ersehnt, tatsächlich stehen die Lauensteiner Tagungen aber am Beginn einer großen politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Suchbewegung nach dem Neuen Menschen, die in der Folgezeit in den mitteleuropäischen Staaten betrieben werden sollte. Diese Suche nach dem Neuen Menschen in einen kurzen Überblick zu bündeln und sich dabei nicht allein auf die revolutionären Umbruchjahre 1918/19 zu beschränken, sondern perspektivisch auch vor- und zurückzugreifen, darum soll es im Folgenden gehen. Auf diese Weise soll der Hintergrund skizziert werden, vor dem die einzelnen Autorinnen und Autoren dieses Sammelbandes je eigene Zugänge zum Thema gefunden haben. Diese Bestandsaufnahme ist, wie im Verlauf deutlich werden wird, zugleich mit dem Ziel verbunden, die in den Jahren 1918/19 einen Höhepunkt erreichende Vision einer Menschenerneuerung neu zu akzentuieren, fast schon versunkene Vorstellungen vom Neuen Menschen zu rekonstruieren und so zu einer differenzierten Sicht auf diese problematische Figur anzuregen. 1. DISTANZIERTE RÜCKBLICKE Zunächst ist festzustellen: Die Verheißungsformel vom Neuen Menschen, jener zentrale sozialutopische Topos der politischen, wissenschaftlichen und literarischästhetischen Diskurse zu Ende des Ersten Weltkrieges in Mitteleuropa wirkt von heute aus betrachtet wie ein längst entschwundener Traum, wie eine von der Gegenwart durch eine tiefe Zäsur abgetrennte Vergangenheit. Das „Warenhaus für Weltanschauungen“ existiert einhundert Jahre später so nicht mehr und mit ihm auch nicht mehr die weitreichenden Neuer Mensch-Experimente dieser Zeit. Die Suche nach dem Neuen Menschen gehört spätestens seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer europäischen Satellitenstaaten – so scheint es jedenfalls – zu jenen Hervorbringungen der politischen Vorstellungskräfte der Moderne, die man heute bemüht ist, weit von sich zu weisen.3 Der homo futura kann vielleicht sogar als Inbegriff dessen angesehen werden, was uns heute nur noch als Irrweg und falsche Versprechung der radikalen politischen und sozialen Experimente des 20. Jahrhunderts gilt. Derart hätte es die historische Forschung mit einem der pathologischen Aspekte der Moderne, einer regelrechten „Obsession“ zu tun, die sich um den Preis viel Leidens, Traumata und kalkulierter Massenmorde selbst
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Vgl. dazu Zittelmann (1992): Träume vom neuen Menschen; Küenzlen (1994): Der Neue Mensch; Lepp et al. (1999): Der Neue Mensch; Wedemeyer (1999): Der neue Mensch; Evangelische Akademie Baden (1999): Traum vom Neuen Menschen; Schmitz (2000): Der „neue Mensch“; Maier (2001): Alter Adam, Kroll (2002): Der Neue Mensch; Wedemeyer (2004): Der neue Mensch; Groys / Hagemeister (2005): Die neue Menschheit; Gerstner et al. (2006): Der Neue Mensch; Idler (2007): Die Modernisierung; Tetzner (2013): Der kollektive Gott; Der Neue Mensch. Aus Politik und Zeitgeschichte Jg. 37/38 (2016); Stiegler (2016): Der montierte Mensch.
Der Neue Mensch, eine mitteleuropäische Passion
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herabwirtschaftete und ihre Bannkraft schließlich verlor.4 Die Figur des Neuen Menschen wäre dem Alten, Überlebten zuzuschlagen. Sie soll und darf keine Rolle mehr spielen mit Blick auf die Art und Weise, wie die Zukunft politisch, sozial und kulturell ausgestaltet wird. Vor dem Hintergrund dieser Wahnidee des Neuen Menschen hebt sich dann schließlich ab, was sich nach einem harten Lernprozess – zumindest für einen kleinen Teil der globalen Welt – als human, vernünftig und zukunftsträchtig erwiesen hat: liberale Demokratie, die Achtung der Menschenrechte, der Verfassungsstaat, die Wertschätzung des Öffentlichen, eine solide Zivilgesellschaft, regulierte Marktwirtschaft und die unbedingte Anerkennung gesellschaftspolitischer Kompromisse. Zwei Ereignisse stehen dabei symbolisch für den kläglichen Zusammenbruch einer mit Heilserwartungen überfrachteten Politik: das Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 und der Zusammenbruch der kommunistischen Systeme in Ost- und Mitteleuropa 1989/90.5 Die historische Perspektive auf die Diskurse und Vorstellungen über den Neuen Menschen ist wesentlich geprägt durch die Verfehlungen und die Verbrechen des Faschismus und des Kommunismus. Die Erzeugung eines rundum erneuerten Menschentypus, über den die formenden Kräfte der alten Ordnung ihre Macht verloren haben und der nach Maßgabe der jeweiligen Optimierungsvorstellungen der konkurrierenden Ideologien Gestalt annimmt, war eine zentrale Bestrebung der beiden totalitären Bewegungen. Mithilfe eines alle Lebensbereiche gewaltsam durchdringenden staatlich gesteuerten Disziplinierungs-, Erziehungs- und Bekehrungsunternehmens wollten sie den ,neuen arischen Menschen‘, den italienischen ,superuomo‘ oder den ,neuen sowjetischen Menschen‘ heranzüchten. Doch die Reflexion über die seit Ende des Ersten Weltkriegs ansetzenden Imaginationen der Menschenerneuerung sollte nicht nur von ihren verheerendsten Umsetzungen her erfolgen. Gewiss ist der Neue Mensch als Ziel- und Zweckbestimmung gesellschaftstechnischer Herstellungsphantasien ein integraler Bestandteil der stalinistischen Tyrannei und Hitlerdeutschlands gewesen, doch er geht über diese hinaus. Vielmehr war die Revolution 1918/19 und die darauffolgende Zeit, wie der vorliegende Band durch seine Bestandsaufnahme zu präsentieren versucht, durch eine Vielzahl von Erwartungen, Wünschen und Vorstellungen des Neuen Menschen geprägt, die weit mehr umfassten als ihre kommunistische und faschistische Spielart. Der Neue Mensch ist Inbegriff für eine Politik im Register des Heroischen,6 wie sie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in Mitteleuropa, einem im tiefgehenden Umbruch befindlichen Raum,7 beschworen und in Angriff 4 5 6 7
„Obsessionen des 20. Jahrhunderts“ lautete der Untertitel einer Ausstellung zu Konzeptionen des „Neuen Menschen“, die 1999 im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden gezeigt wurde. Siehe Lepp et al. (1999): Der Neue Mensch. Vgl. Kittsteiner (2004): Out of Control, S. 14. Vgl. ebd. S. 13. Die Herausgeber entschieden sich für die Verwendung des Begriffs Mitteleuropa (und damit gegen die terminologische Alternative Zentraleuropa). Dies hat forschungsgeschichtliche Gründe; nicht erst seit der deutschen Fassung von Francis L. Carstens maßgeblicher Studie
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Albert Dikovich / Alexander Wierzock
genommen wurde. Er steht für die Radikalität des Neubeginns, den man als notwendig erachtete, und für die Monumentalität der Aufgaben, mit denen sich Kriegsverlierer wie Deutschland und neugegründete Staaten wie die Tschechoslowakei konfrontiert sahen. Das Ende des Ersten Weltkriegs, der Untergang der Monarchien, die Revolution und die umfassende Neuordnung der politischen Landkarte in Mittel- und Osteuropa bedeuteten nicht nur einen zwischenzeitlichen Zusammenbruch von Recht und Ordnung und damit materielle Not und Unsicherheit, die Zäsur von 1918/19 war auch ein Kollaps der überlieferten Ordnungsbegriffe und Sinngebungen, der zu Neuorientierung, Aufbruch und Gestaltung der Zukunft herausforderte. Menschenerneuerung hieß insofern, den Menschen auszurüsten für eine neue Wirklichkeit – und zwar in physischer, psychischer und moralischer Hinsicht. Es bedeutete aber auch, den durch den Zusammenbruch der alten Ordnungen und Begriffe sich eröffnenden Horizont des Möglichen zu erfassen und in der Nachkriegssituation mit ihren Rufen nach ‚Führung‘ und neuen ‚Idealen‘ den politischen und intellektuellen Eliten wie auch den Massen ein sinnstiftendes Ziel vor Augen zu stellen. Von Kurt Eisners Forderung nach der „Erneuerung der Seelen“ über die leidenschaftlich begeisterte Agit-Lyrik aus der Zeit der ungarischen Räterepublik wie Lajos Kassáks „Glückstrahlende Begrüßung“, eine Hymne an die Jungarbeiter und ihren „fanatischen Glauben“ an die kommende neue Welt, bis hin zu Georg Kaiser, der sein 1919 auf die Bühne gebrachtes Stück Gas I mit der Frage ausklingen ließ, wo er denn sei, der Neue Mensch – in dutzenden unterschiedlichen Figurationen und Zeitdiagnosen wurde der Akt der Schaffung des Neuen Menschen in Politik, Kunst und Wissenschaft thematisiert, prophezeit, beschworen.8 Es waren solche überspannt wirkenden Erneuerungshoffnungen, die Ernst Troeltsch distanziert vom „Traumland“9 sprechen ließen; ein Ausdruck, den er 1919 auf Deutschland bezog, der allerdings genauso gut auch auf die mitteleuropäischen Nachbarländer anwendbar gewesen wäre. Im Fokus der öffentlichen Diskussion stehend überlagerte sich die Suche nach dem Neuen Menschen mit ideenpolitischen Frontbildungen wie der von Kultur und Zivilisation, von Sozialismus und Kapitalismus sowie der zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. In diesem vom Soziologen Andreas Walther treffend als „Ideenlabyrinth unserer Weltzeit“ bezeichneten Zustand war der Neue Mensch eines der hohen Worte, das auf keine
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Revolution in Mitteleuropa 1918–1919 aus dem Jahr 1973 wurde der transnationale revolutionäre Ereigniszusammenhang auf dem Gebiet der zusammengebrochenen hohenzollerschen und habsburgischen Monarchien als mitteleuropäischer bezeichnet, sondern bereits in einer Pionierarbeit Pál Szendes. ‚Mitteleuropa‘ war der von den Zeitgenossen vornehmlich gebrauchte Begriff, um den geographischen, aber auch politischen und kulturellen Raum zu benennen, der in diesem Band von Interesse ist. Siehe Szende (1920): Krise der mitteleuropäischen Revolution. Kurt Eisner zit. n. Klemperer (2016): Man möchte immer weinen, S. 53; Kassák (1996): Glückstrahlende Begrüßung (zuerst 1919); Kaiser (1922): Gas, S. 117f. Zu Eisners Forderung nach einer inneren Erneuerung, zu einem Gesinnungswandel des Einzelnen und der Gesellschaft siehe auch Grau (2017): Kurt Eisner, S. 469f. Troeltsch (2015): Nach der Entscheidung, S. 131 (zuerst 1919).
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parteipolitische Formel festgelegt war und das man damals weit über die politische Sphäre hinaus vernehmen konnte.10 2. WANDLUNGEN DES NEUEN MENSCHEN Mit Gottfried Küenzlen ist festzuhalten, dass die Vorstellung der diesseitigen Vervollkommnung der Moderne gleichsam eingewurzelt ist. Hiermit ist eine Moderne gemeint, die ihr Selbstbewusstsein aus einer „säkularen Religionsgeschichte“ oder auch „Hoffnungsgeschichte“ bezieht und drei Kristallisationspunkte aufweist: Erstens den Glauben an eine „innerweltliche Geschichte“ als „Fortschritt, der sich unaufhaltsam durchsetzt und die Menschheit zu immer glücklicheren Ufern führt“, zweitens die Politik – insbesondere in Form der Revolution – und drittens die Wissenschaft, allem voran die modernen Natur- und Sozialwissenschaften.11 Die imaginierte Zielvorstellung des Neuen Menschen nahm indes unter unterschiedlichen historisch-sozialen Bedingungen je andere Gestalt an. Ihre Ausformungen sind Ausdruck der Herausforderungen und Entscheidungen, vor denen die Zeitgenossen standen. Im Gegenwartsbewusstsein des frühen 20. Jahrhunderts erhielt die optimistische Vorstellung einer sukzessiven Selbstvervollkommnung des Menschengeschlechts, der aufklärerische Visionäre wie der Marquis de Condorcet ebenso anhingen wie das fortschrittsgläubige Bürgertum des 19. Jahrhunderts, Konkurrenz durch eine säkularisierte Apokalyptik. Diese brach mit der Idee einer politischen Praxis im Sinne gradueller Reformen und knüpfte den Gedanken der Menschenerneuerung an eine Katastrophe, die als notwendige Voraussetzung des Wandels gedacht wurde. Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu beobachtende sozialpsychologische Tendenz, auf tiefgehende Krisenerfahrungen und Verunsicherungen mit Heilserwartungen zu reagieren, entwickelte sich im Zuge des Weltkriegs zur Hochkonjunktur der Imagination, den durchlaufenen Weg durch die Katastrophe in eine utopische Zielrichtung umzulenken, ihn zum Positiven zu wenden. Nach dem Untergang des Alten Menschen sollte die Ankunft des Neuen Menschen erfolgen. Dieses Endzeitbewusstsein war indes schon eine geraume Zeit vor dem Zivilisationsbruch des Ersten Weltkrieges verbreitet. Der von Friedrich Nietzsche angekündigte Übermensch, der auf den „letzte[n] Mensch[en], der Alles klein macht“,12 folgen sollte, hatte eine Welle der Prophetien und Visionen der Menschenerneuerung ausgelöst. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert stand der Neue Mensch als Zentraltopos im Raum der literarischen, kulturkritischen und praktisch-reformatorischen Debatten. Er geisterte durch Romane Karl Mays, wurde vom Heimatschriftsteller Ludwig Ganghofer im schlichten, kraftstrotzenden, von den Anfechtungen der modernen Welt unbeeinträchtigten „Höhenmenschentum“
10 Walther (1919): Neue Wege, S. 17. 11 Küenzlen (2016): Der alte Traum, S. 6f. Zur Geschichte des „Neuen Menschen“ bis zum Ersten Weltkrieg siehe ders. (1994): Der Neue Mensch, S. 41–138. 12 Nietzsche (1968): Also sprach Zarathustra, S. 13.
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erblickt13 und schwebte Lebensreformatoren und Anhängern der Jugendbewegung ebenso vor Augen wie Eugenikern und anarchistischen Siedlungsgründern. Vorstellungsinhalte unterschiedlichster Art wurden mit dem Topos der Menschenerneuerung verbunden. Er wurde individualistisch und kollektivistisch ausgelegt, als Produkt des revolutionären Vorstoßes hin zur kommunistischen Zukunftsgesellschaft oder einer Restaurierung der mythischen Urkräfte von Blut und Boden, zeigte sich als Zielideal der expressionistischen Mahnungen zum Aufbruch oder als ordnungsgefährdende Gewalt des Es, des Körpers, der Sexualität, wie etwa in Frank Wedekinds Lulu, um nur einige Beispiele zu nennen.14 Das Bewusstsein einer tiefgehenden kulturellen und sozialen Krise, das um die Jahrhundertwende weit verbreitet war,15 ging einher mit der Deutung der Gegenwart als einem Gärungsprozess, dessen Folgen schwer abzusehen waren. Vielfach wurde die Aufkündigung des Status quo an sich zum Wert erhoben, unabhängig von der Zielrichtung der Veränderungsvorstellungen. „Geschähe doch einmal etwas. Würden einmal wieder Barrikaden gebaut. […] Oder sei es auch nur, dass man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln“, heißt es bei Georg Heym 1910.16 Das große Fanal der alten Welt sollte vier Jahre später folgen; Heym, der 1912 beim Eislaufen auf der Havel ertrunken war, sollte es indes nicht mehr miterleben. Deutschland sei „von neuem in den Schmelztiegel“ geworfen, so begrüßte der für die zeitgenössischen Kunstströmungen geistig empfängliche Philosoph Georg Simmel in einer im November 1914 gehaltenen Rede den Krieg, den er zum Gipfelpunkt einer bereits in das ausgehende 19. Jahrhundert zurückreichenden Bewegung hin zur Erneuerung der „Einheit Mensch“ erhob.17 Diese Epoche krisenhafter Gegenwartserfahrung sah Simmel seit dem August 1914 an ihr Ende gekommen. Der Krieg, der „ungeheure Intensitätssteigerung“, aber auch „Leiden, Härte und Verzicht“ bringe, erzwinge die „Scheidung zwischen dem, was […] zeugungs- und lebensfähig ist, und dem, was an die Vergangenheit angenagelt und ohne Recht an die Zukunft ist: Menschen und Institutionen, Weltanschauungen und Sittlichkeitsbegriffe.“18 Expressionisten wie Anhänger der Jugendbewegung, linke wie rechte Gesellschaftserneuerer und patriotische Gelehrte aller Art sollten sich derart mit Wort und Tat in den Dienst der kriegführenden Regierungen stellen. Doch anders als erwartet, fanden sie sich auf den Schlachtfeldern nicht im
13 Vgl. Scholdt (1999): Proklamation des neuen Menschen, S. 24. 14 Vgl. ebd. 15 Ernst Troeltsch meinte, ähnlich wie „der Neuhumanismus, die Romantik und der Nationalstaat die Reaktion gegen den Geist und die Kultur der Aufklärung“ gewesen seien, so müsse die „Kulturkritik“ als eine Folge „der Entwicklung des demokratisch-kapitalistisch-imperialistisch-technischen Zeitalters“ betrachtet werden. Siehe Troeltsch (1924): Die Kulturkritik (zuerst 1913). 16 Tagebucheintrag vom 6.7.1910. Georg Heym zit. nach Scholdt (1999): Proklamationen des neuen Menschen, S. 35. 17 Simmel (1999): Deutschlands innere Wandlung, S. 14 u. S. 28 (zuerst 1914). 18 Ebd., S. 19; S. 21.
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erwarteten kollektiven Verjüngungs-, Reinigungs- und Erneuerungsgeschehen wieder, sondern waren einer weit schwereren Geißel als der überlebten, starren, geistlosen Verhältnisse der Vorkriegszeit ausgeliefert: jener der modernen industriellen Kriegsführung. Die Erneuerungserwartungen waren nirgends durch den Krieg eingelöst worden. Es sei kein „Grollen in der Ferne zu vernehmen, noch das Wetterleuchten zu sehen, auch nicht aus der großen feldgrauen Wolke, und nur die Schwüle dauert an“, brachte der Ökonom Edgar Jaffé 1917 – wenig später Finanzminister der kurzlebigen Münchner Räterepublik – im Nachklang der Herbsttagung auf Burg Lauenstein diese Zeitstimmung zum Ausdruck.19 Der Krieg führte zu Verschiebungen der Erneuerungsvorstellungen, die für die Folgezeit prägend waren. Zum einen wurde der Neue Mensch von einer Angelegenheit der beispielgebenden Einzelnen und sich als Elite verstehenden Vereinigungen zu einer kollektiven Angelegenheit, die sich in Visionen für das gesellschaftliche Ganze manifestierte. Nicht mehr die individuelle Selbstvervollkommnung, der Bund Gleichgesinnter sowie Kunst und Kultur, sondern die Sphären von Staatlichkeit und Politik waren jetzt die zentrale Projektionsfläche. Oder anders formuliert: aus einer Angelegenheit der Selbstreform wurde eine der umfassenden Sozialreform. „Der Rahmen auch des individuellen Lebens“ sei „durch das Ganze ausgefüllt“, „zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen besteht kein Jenseits mehr“, schrieb Simmel zu Beginn des Krieges.20 Auch wenn der Neue Mensch bereits an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert ein ubiquitäres Motiv kulturkritischer Diskurse darstellte, so verhalfen ihm erst der Weltkrieg und die Zäsur von 1918/1919 zu seiner zentralen Stellung im politischen Diskurs. Der Neue Mensch kam in der Gegenwart an, so die Analyse des Philosophen Alain Badiou. War der homo novus am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert noch eine Zukunftsvision, stand er also unter dem Vorzeichen des Möglichen, so geriet das Denken über den Neuen Menschen im Verlauf des Krieges unter einen bisher unbekannten Handlungsdruck. Nicht mehr zählten die boßen Möglichkeiten des Realisierbaren, sondern es kam auf die aktivistischen Folgerungen an, die man daraus zog. Tat und Aktion, zuvor bloße Schlagwörter der Lebensreform und des Expressionismus, waren nun nicht mehr nur programmatisch, sondern wörtlich zu nehmen; als Parteinahme und Engagement in den Kämpfen der Gegenwart, wie es von Propheten des Neuen Menschen wie Gustav Landauer, Georg Lukács oder Ernst Toller vorgelebt wurde. Von der Ankündigung wurde jetzt zur Umsetzung geschritten.21 Hatte sich in der zweiten Kriegshälfte die Suche nach Ordnungskonzeptionen auf die innere Politik verlagert,22 konzentrierten sich mit der Niederlage, dem Zer19 20 21 22
o. A. [Jaffé] (1917): Lauenstein, S. 996. Simmel (1999): Deutschlands innere Wandlung, S. 15. Vgl. Badiou (2006): Das Jahrhundert, S. 17. Hier sei nur exemplarisch Naumann (1915): Mitteleuropa genannt. Entsprechend dieser Hinwendung zu Fragen der inneren Ordnung spielt ‚Mitteleuropa‘ als geopolitischer Ordnungsbegriff in vorliegendem Band thematisch keine Rolle. Zur Karriere dieses Ordnungsbegriffs nach dem Ersten Weltkrieg vgl. Elvert (1999): Mitteleuropa.
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fall der monarchischen Staatsgebilde und mit der Erfordernis des staatlichen Neuaufbaus die politischen und sozialen Vorstellungskräfte insbesondere in Mitteleuropa nunmehr grundlegend auf Fragen der innerstaatlichen Organisation. Schon während des Krieges hatte Max Weber gemahnt, dass nicht die „Ideen von 1914“ die entscheidenden seien, sondern die „Ideen von 1917 […], wenn der Friede kommt“23, und der Wiener Philosoph, Pädagoge und Sozialreformer Wilhelm Jerusalem bemerkte in der Endphase des Weltkrieges ganz ähnlich, dass „im Staate und am Staate zu arbeiten […] nach dem Kriege noch weit mehr als früher unsere Aufgabe sein“ würde.24 Angesichts der Herausforderungen der Zeit, auf welche die unterschiedlichen weltanschaulichen und politischen Bewegungen zu antworten hatten, wurde der Neue Mensch durch den Ersten Weltkrieg und die darauf folgenden Revolutionen in Mitteleuropa ein zentrales politisches Kampffeld. Als Fahnenwort beständig in Anspruch genommen, war er Gegenstand eines politischen Deutungs- und Vereinnahmungsstreites, in dem sich die konkurrierenden Ideologien zu übertreffen suchten. 3. KAMPFFELDER Die unterschiedlichsten Positionen finden sich bereits mit Blick auf die Frage, welche Stellung dem Kriegserlebnis im Zusammenhang der Erneuerung zukommen sollte. Nicht nur das fortschrittsgläubige und sekuritätsorientierte Denken der bürgerlichen Väter sollte mit dem Krieg für eine ganze Generation, wie Stefan Zweig rückblickend so treffend formulierte, unwiederbringlich zur „Welt von Gestern“ werden.25 Die eigenen idealistisch-enthusiastischen Vorstellungen von heroischer Opferbereitschaft und selbstloser Vaterlandsliebe26 stellten sich angesichts der Realität in den Schützengräben im Osten und im Westen ebenso als Phantome heraus. Es war gerade der mit dem Fortgang des Krieges eintretende völlige Verlust des Realitätsbezugs der überkommenen „Sittlichkeitsbegriffe“, von denen Simmel spricht, der für Vertreter der Schützengräbengeneration die Suche nach dem Neuen Menschsein einleitete. Die während und nach dem Krieg entstandenen Dramen und Gedichte von Kriegsteilnehmern wie Fritz von Unruh, Ernst Toller oder Georg Trakl, aber auch Ernst Jüngers berühmtes Kriegsbuch In Stahlgewittern zeugen wortmächtig von einem Erfahrungsmodus, in dem die Welt als kalt, feindlich, sinnentleert erscheint. Die Degradierung von Sprache zu sinnlosem Geräusch und Zeichenschrott durch die Dadaisten ist ebenso eine radikale Reaktion auf den Verlust benennbarer Wirklichkeit und erzählbaren Erlebens im Zuge des Kriegserlebnisses. Diese Erfahrung sollte immerhin eine sein, 23 Das Zitat stammt aus Max Webers Rede „An der Schwelle des dritten Kriegsjahres“ von 1916. Zit. n. Mommsen (1990): Geist von 1914, S. 418. 24 Jerusalem (1918): Moralische Richtlinien, S. 45. 25 Zweig (1952): Die Welt von Gestern. 26 Exemplarisch für den heroischen Kriegsdiskurs sei hier lediglich auf Sombart (1915): Händler und Helden hingewiesen.
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die nicht jeder für sich allein machte, sondern die eine ganze Generation verband und als gemeinsamer Erfahrungshorizont immer wieder evoziert wurde – unabhängig davon, in welche weltanschauliche und politische Richtung die eigenen Erneuerungsideen und Handlungsimperative nach dem Krieg weisen sollten. War es der Bankrott des machtgläubigen, durch autoritäre Disziplinierung und Erziehung zugerichteten, national bornierten Menschen, der einem friedlichen, kosmopolitisch-weltoffeneren Ideal Platz machen sollte, oder bedeutete der Krieg, wie Ernst Jünger mit einigen Jahren Verzögerung gegenüber seinen pazifistischen Gegenspielern schrieb, bereits die „große Schule“ der Neuen Menschen, den dauermobilisierten, den „kühneren, den kampfgewohnten, den rücksichtslosen gegen sich selbst und andere?“27 Angesichts des Destruktionspotentials moderner Kriegstechnik und des schon zur Jahrhundertwende verbreiteten Zweifels an der Zivilisation stellte sich zudem die Frage: Sollte der Neue Mensch zu einer Rückkehr zur Natur führen oder in der immer weiter zu perfektionierenden technischen Beherrschung von menschlicher Physis und Psyche gesucht werden? Das Spektrum reichte von einem Lager, das einen Maximalismus der Kräfte und Fähigkeiten anvisierte, das den Menschen quasi am Reißbrett als optimierbare Maschine zu erzeugen versuchte und nicht selten mit jungen Wissensformationen wie der Psychotechnik, der Eugenik und der Soziologie, aber auch dem Sport und der modernen Architektur liebäugelte. Dem gegenüber befand sich eine Gegenpartei, die diesem artifiziellen Übermenschen das Ideal eines sich den Zwängen der aus ihrer Sicht fehlgeleiteten technischen Zivilisation entziehenden, sich seiner urwüchsigen Bedürfnisse besinnenden Menschen à la Rousseau entgegenhielt. Das Substrat des erneuerten Menschen wurde in den Kategorien der sozialen Klasse, der Generationalität oder ethnisch-rassisch bestimmt, wobei die Überschneidungen vielfach waren. Das so zur Entfaltung gebrachte Potential sollte jenes des Proletariats, der Jugend oder der Volksgemeinschaft sein. Die Beantwortung der Frage, nach welchen Methoden der Neue Mensch hervorgebracht werden sollte, war ein weiterer Punkt der Auseinandersetzungen. Es blieb zu klären, wer die Definitionshoheit über den Neuen Menschen besitzen und wer über die Erneuerungsarbeit wachen sollte. Mit der Proklamation der Notwendigkeit der Erneuerung, unabhängig davon, ob sie nun von staatlichen Entscheidungsträgern, Wortführern des revolutionären Arbeiterradikalismus oder aus der differenzierten Intellektuellenszene kam, war zumeist der elitäre Anspruch verbunden, diese auch selbst zu leiten. Dieser Anspruch wurde, das gilt es zu betonen, auch häufig von Seiten der nach einer wissenschaftlich angeleiteten Politik rufenden Wissenschaften erhoben, die damit aber, wie der ungarische Soziologe und Politiker Pál Szende bereits 1922 bemerkte, untereinander in eine Situation der Konkurrenz gerieten.28 Zu der um 1900 bereits populären Sozialfigur des Propheten des Neuen und geistigen Führers gesellten sich in der Folgezeit jene des Ingenieurs, des am kranken Gesellschaftskörper laborierenden Arztes oder auch des Thera27 Jünger (1980): Kampf, S. 73 (zuerst 1922). 28 Vgl. Szende (1922): Wissenschaft und Autorität.
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peuten. Spannungsverhältnisse bestanden auch zwischen der Vorstellung einer Erneuerung durch das gesellschaftstechnische und erzieherische Wirken einer sozialen Bürokratie und den Rufen nach dem exzeptionellen Individuum, dem charismatischen geistigen Führer.29 Ließe sich, um diese Zeitfragen etwas zu bündeln, die Erneuerung mittels eines staatlich-bürokratischen Apparates dirigieren und umsetzen? Mit welchen bestehenden oder erst zu schaffenden institutionellen Mitteln würde sich die geforderte Erneuerung über eine begrenzte Gruppe Überzeugter hinaus als ein die gesamte Gesellschaft transformierendes Projekt realisieren lassen? Bildungspolitik, Arbeitsorganisation und Biopolitik erscheinen in diesem Zusammenhang als die drei Königswege. Eine besondere Rolle spielte die staatsbürgerliche Erziehung, die in den neugegründeten Staaten zu einer Frage von erstrangiger Bedeutung wurde. Im Freistaat Preußen, dem immer noch größten Gliedstaat der neu entstandenen Weimarer Republik, setzte etwa der Bildungspolitiker Carl Heinrich Becker, damals Unterstaatssekretär im Kultusministerium und 1921 sowie von 1925 bis 1929 Kultusminister, nach der Revolution neue Wissenschaften wie die Soziologie, die Pädagogik und die Politikwissenschaft auf die Agenda. Die „Wissenschaft [ist] für uns der Weg vom Individualismus und Partikularismus zum staatsbürgerlichen Charakter“; auf dieses Credo liefen Beckers kontrovers diskutierten Pläne zur „Hochschulreform“ hinaus,30 die von 1919 an zur Errichtung der ersten Lehrstühle für Soziologie an deutschen Universitäten führten.31 Das soziologische Denken bot dabei aus Sicht der Politik einen idealen Anknüpfungspunkt, steht es doch per se der Menschenerneuerung nahe, da hier der Mensch im Gesamtzusammenhang gesellschaftlicher Kräfte als Produkt anderer Menschen analysiert wird und zur Ausgangsbasis sozialgestalterischen Handelns werden kann. So verstanden sollte durch soziologisches Denken eine Gemeinschaftserziehung der Studenten verankert werden. Im Jahr 1928 präzisierte Becker diesen Gedanken noch einmal anlässlich einer Wahlkampfrede für den Ministerpräsidenten Otto Braun und forderte das Ideal eines „neuen deutschen Menschen“. Dieser sollte „[v]öllig unpolitisch, aber ein Gemeinschaftsmensch“ sein, „in dem nicht nur die Jugendbewegung weiterlebt, sondern auch das Kriegserlebnis, in dem die Sehnsucht nach neuer geistiger und seelischer Bindung lebendig ist, in dem eine starke Religiösität pulsiert, der junge Mensch sozialer Gesinnung“.32
29 Eine Diskussion des Verhältnisses zwischen sozialem Bürokratentum und geistigen Führern im Zusammenhang der Revolution liefert der österreichische Soziologe Emil Lederer; vgl. Lederer (1918): Soziologie der Revolution, insbes. S. 33f. 30 Becker (1919): Gedanken zur Hochschulreform, S. 9. 31 Angefangen mit der Ernennung von Franz Oppenheimer an der Universität Frankfurt am Main waren die ersten Lehrstuhlinhaber: Leopold von Wiese und Max Scheler (Köln), Alfred Vierkandt (Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin) sowie Max Weber (München). Dass die Soziologie und eine große Zahl ihrer Fachvertreter den von der Politik formulierten Bildungsauftrag kritisch betrachteten, steht freilich auf einem anderen Blatt. 32 Carl Heinrich Becker zit. n. Müller (1991): Weltpolitische Bildung, S. 389.
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Beckers staatsbürgerliche Menschenerneuerung ist nur ein Beispiel von vielen. Auch der Austromarxismus, bemüht, vom Roten Wien aus durch umfassende Bildungs- und Kulturprogramme das katholisch und konservativ geprägte RestÖsterreich für den Sozialismus zu gewinnen, erstrebte die alten zu Neuen Menschen zu machen, wie Max Adler, Soziologe und Cheftheoretiker der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, seine Gedanken über die sozialistische Erziehung nicht zufällig überschrieben hat.33 Diese Idee, über den Weg der Erziehung eine Umwandlung der Gesellschaft und der Individuen in ihr zu realisieren, war auch die Grundüberzeugung des 1918 zum tschechoslowakischen Präsidenten gewählten Philosophen und Soziologen Thomáš Garrique Masaryk. „Das neue Europa“ war für ihn „wie ein auf dem großen Friedhof des Weltkriegs errichtetes Laboratorium“ – ein Laboratorium, das unbedingt eines erforderte: „die Arbeit aller“, vor allem wenn es um „die Demokratie – die moderne Demokratie“ ging, die „noch in den Anfängen“ steckte.34 Der „neue demokratische Mensch“ war die Grundvoraussetzung für die vollkommene Demokratie und Erziehung. Bildung und Schule sollten dabei helfen, ihn Wirklichkeit werden zu lassen, was Masaryk fast sein ganzes Leben lang über das Verhältnis zwischen Demokratie und Erziehung nachdenken ließ, sodass es naheliegend war, wenn ihn seine Zeitgenossen mit Platon verglichen.35 Teils in einem Spannungsverhältnis zu solchen demokratischen Erziehungsidealen standen um den Aspekt der Arbeitsorganisation kreisende Neuer-MenschVisionen, die aus dem im Krieg intensivierten Zugriff des Staates auf die Gesellschaft und den Einzelnen in ihr hervorgingen. Der Neue Mensch stand in einem weitgehenden Gegensatz zur Idee des Bürgers als Inhaber von Rechten und Subjekt von Partikularinteressen; adressiert mit der bloßen Gattungsbestimmung „Mensch“ wird das Individuum zum Interventionsfeld formender und mobilisierender Regierungstechniken. Die Durchdringung der Gesellschaft durch den Staat, die totale Ausdehnung des Staatlichen auf immer mehr Lebensbereiche von der Wirtschaft bis hin zum Kultur- und Geistesleben36 war ein Kernelement der „Ideen von 1914“, also der mit utopischer Erwartungshaltung wahrgenommenen Veränderungen, die der Krieg mit sich brachte. Die Einfügung des Individuums in diese große staatliche Maschinerie war eine der Bahnen, in der sich das soziale und politische Imaginäre über das Kriegsende hinaus bewegen sollte. So sprach der Soziologe Johann Plenge in seiner Schrift 1789 und 1914. Die symbolischen Jahre 33 Adler (1924): Neue Menschen. 34 Masaryk zit. n. Čapek (2001): Gespräche mit Masaryk, S. 272f. 35 Vgl. Batscha (1994): Philosophie der Demokratie, S. 73f. Das vorangehende Zitat ist der Überschrift des zweiten Kapitels dieser Darstellung über Masaryk entnommen, siehe ebd. S. 23. Zu den Ambivalenzen von Masarkys Demokratiebegriff, besonders mit Blick auf den Parlamentarismus und sein technokratisches Verständnis einer am Wohl der Bevölkerung orientierten Politik, siehe auch Orzoff (2015): Das Personal, S. 445–456. 36 Die „Regulierung“ nicht nur der „Handlungen“, sondern auch der Gedanken im totalen Kriegsstaat war dabei etwas, was hellsichtigere Beobachter mit Besorgnis sahen; vgl. Wiese (1915): Gedanken über Menschlichkeit, S. 29f.
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in der Geschichte des politischen Geistes von einer „Revolution des Aufbaues und des Zusammenschlusses aller staatlichen Kräfte“ und meinte in der Unterordnung aller wirtschaftlichen Organe unter den staatlichen Kriegsaufwand gar die Überwindung des Kapitalismus und die Realisierung des Sozialismus im nationalen Rahmen zu erkennen.37 ‚Organisation‘ wurde zu einem geradezu utopisch aufgeladenen Schlagwort. Die „neue Welt, die entsteht“, so Plenge, werde eine „Welt der Organisation“ sein.38 Für einen Teil der deutschen Kriegstheoretiker stand fest, dass der zukunftsweisende deutsche „Organisationsstaat“, um eine Formulierung Troeltschs aufzugreifen, nach dem Krieg eine modellhafte Vorreiterrolle ausüben und auf das Ausland ausstrahlen werde.39 Die Begriffe ‚Organisation‘ und ‚Sozialismus‘ standen hier für eine gesellschaftliche Formation, in der nicht nur wirtschaftliche und soziale Gegensätze gemäß der Parole „schaffe mit, gliedre Dich ein, lebe im Ganzen“40 minimiert werden, sondern eine umfassende Verwaltung und Planung gesellschaftlicher Ressourcen nach Maßgabe feststehender Ziele an die Stelle konflikthafter politischer Entscheidungsfindung treten sollte. Diese geforderte Arbeitsorganisation war wesentlich Ausdruck einer antipolitischen Präferenz, nach der anstelle des Politikers oder des Regenten dem „sozialen Funktionär“41 die Entscheidungsbefugnis in Fragen der gesellschaftlichen Aufbauarbeit in die Hände gelegt werden sollte. Die Aussicht, auch über den Krieg hinaus eine sozialintegrative, weil depolitisierte Volksgemeinschaft aufrechtzuerhalten, war insbesondere für viele deutsche Intellektuelle 1918 nicht nur erstrebenswert, sondern eine Identitätsfrage des neu aufzubauenden Deutschlands, das geographisch zwischen dem kommunistischen Sowjetrussland und dem kapitalistischen und demokratischen Westen stehend gesehen wurde. Die historisch verhängnisvoll beantwortete Gretchenfrage, die sich manche Advokaten des Neuen Menschen zu stellen hatten, lautete schließlich: ,Soll und darf der Neue Mensch mit Gewaltmitteln hervorgebracht werden?‘ Fraglos ist eine politische Revolution, die zugleich auch Katalysator für eine geistige Erneuerung sein will, ohne Gewaltmittel – und sei es nur der Streik oder massenhafte Gehorsamsverweigerung – undenkbar. „Eine Revolution ist nur möglich“, schreibt
37 Plenge (1916): 1789 und 1914, S. 72; S. 75; S. 79f. Für Plenge war die Kriegswirtschaft die Überwindung des „rein individualistischen Geistes“, der noch dem „verworrenen, an den Anarchismus anklingenden Programm einer demokratischen Vergesellschaftung der Produktionsmittel“ anhafte. Aus dieser Sicht war das kriegführende Deutschland „die erste wirkliche gewordene ‚sozialistische‘ Gesellschaft und ihr Geist […] das erste wirklich tätige, nicht unklar fordernde Auftreten eines sozialistischen Geistes“; ebd., S. 81f. 38 Ebd., S. 76. 39 Vgl. Troeltsch (1966): Deutsche Idee von der Freiheit, S. 53 (zuerst 1916). Vgl. auch Bruendel (2003): Volksgemeinschaft oder Volksstaat; Hoeres (2004): Krieg der Philosophen, S. 385– 403; Mommsen (1990): Geist von 1914. 40 Plenge (1916): 1789 und 1914, S. 87. Diese Devise sollte nach dem Krieg von Oswald Spengler radikalisiert werden. Siehe Spengler (1920): Preussentum und Sozialismus. 41 Plenge (1916): 1789 und 1914, S. 78.
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Emil Lederer 1918, „wenn sich eine Idee ihrer erlösenden Kraft bewußt wird, wenn sie menschliche Kräfte hinzureißen vermag, so daß selbst Mittel der Gewalt zu ihrer Realisierung zur Anwendung gebracht werden.“42 Doch welche Mittel sind legitim, und welche würden zur Selbstkorrumpierung des Unternehmens der Menschenerneuerung führen? Dies ist nach Lederer die Schicksalsfrage jeder Revolution, für die es keine bereitliegenden Antworten gibt, und die erst im Vollzug der Revolution selbst eine Antwort findet.43 Zwei entgegengesetzte extreme Haltungen standen sich hier gegenüber: Pazifismus und Bellizismus. Für die einen war nach den erlittenen Grauen des Krieges das Ziel, die Gewalt für alle Zeiten auszuschalten. Le der des ders, „Der Letzte der Letzten“, sagte man in Frankreich bezeichnenderweise zu einem Soldaten, der am Weltkrieg teilgenommen hatte. Sehr ähnlich nannte Ludwig Rubiner sein 1917 begonnenes und 1919 gedrucktes Drama Die Gewaltlosen, das den Charakter eines Manifests hatte und in dem es der Opfertod der sich der Friedfertigkeit verpflichtenden Protagonisten ist, der in einem namenlosen, von revolutionärem Umbruch und Chaos gezeichneten Land den Bruch mit der verheerenden Spirale der Gewalt bringt.44 Der Neue Mensch ist demnach der Mensch eines befriedeten Zeitalters und damit auch einer befriedeten Politik, einer durch den Weltkrieg hervorgehenden großen ,Wandlung‘, die von expressionistischen Autoren wie Ernst Toller, Rubiner oder Leonhard Frank beschworen wurde. Für die anderen aber war er das Resultat eines weiteren blutigen Krieges, des ,Weltbürgerkrieges‘ der Arbeiterklasse gegen die Kapitalisten, einer gewaltsamen Vernichtung höherer Ordnung, die dem sinnlosen Zerstörungsgeschehen durch Imperialismus und Kapitalismus ein für alle Mal ein Ende setzen würde.45 Nimmt angesichts der gewaltigen Widerstände der Prophet des Neuen Menschen die Gefahr auf sich, in Schönheit zu sterben, oder würde er sich „durchlügen bis zur Wahrheit“, wie es der Philosoph Georg Lukács Ende 1918 schreibt?46 Sollen diejenigen, welche eine Erneuerung anstreben, die repressiven Apparate der alten Ordnung, insbesondere den autoritären Polizeistaat, in Bewegung setzen, im Glauben an die Möglichkeit, damit der Hervorbringung des pazifizierten und solidarischen Menschen näher zu kommen? Die politische Gewalt firmierte unter den legitimatorischen Narrativen und heilsgeschichtlichen wie auch medizinisch-biologischen Metaphern des „Endkampfes“ oder „Purgatoriums“, der „Säuberung“ oder der „Operation“47. Sie konnte die horizontale Gestalt des Bürgerkrieges oder die vertikale des gesell42 Lederer (1918): Soziologie der Revolution, S. 11. 43 „Jede Revolution [ist] eine gefährliche Krise für das Leben der Idee in der Geschichte – in ihr muss sich entscheiden, ob durch Gewalt ein neuer Weltplan realisiert werden kann, ob die Gewalt ein taugliches Mittel ist für die Verwirklichung der sozialen Idee […].“ Ebd., S. 12. 44 Vgl. Rubiner (1919): Die Gewaltlosen. 45 Vgl. Badiou (2006): Das Jahrhundert, S. 43. 46 Lukács (1975): Bolschewismus als moralisches Problem, S. 33. 47 Etwa als Operation am „kranke[n] deutsche[n] Volkskörper“, ein Bild, das im anti-spartakistischen Pressediskurs auftaucht; siehe Germania 9. 1. 1919, zit. n. Jones (2017): Am Anfang war Gewalt, S. 177.
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schaftstechnischen Eingriffes durch eine souveräne höhere Instanz annehmen: des heroischen Barrikadenkampfes oder der Ausmerzung des alten Menschen auf dem Wege eines wie immer gearteten gewaltsamen, indes wissenschaftlich kontrollierten, sachlich-kalt durchgeführten klinischen Eingriffs. Proponenten des Klassenkrieges, der revolutionären Entschlossenheit und des Terrors brauchten dabei nicht lange, um auf Deutungsmuster zurückzugreifen, die eben noch zum ideologischen Arsenal der kriegführenden Staaten gehörten hatten und auf die menschenfeindliche Umwelt der Schlachtfelder und Schützengräben zugeschnitten waren: Heroismus, Opferbereitschaft, unerschütterliche Willenskraft.48 4. AUSGEBLENDETE KONTUREN Die großen revolutionären Bewegungen waren, wie Badiou in seinem Buch über das „Jahrhundert“ schreibt, durch eine Vermischung von Fatalismus und Erneuerungswillen, von Gewaltbereitschaft und Fortschrittsdenken charakterisiert, die das fortschrittsoptimistische und humanistische 19. Jahrhundert nicht kannte. Man war nach dem Ersten Weltkrieg bereit, „einen gewissen Schrecken des Realen hinzunehmen“.49 Der Neue Mensch als politische und sozialtechnische Herstellungsphantasie sei zugleich auch Ausdruck einer „Passion des Realen“ gewesen; eines Leidens zum einen an den Verhältnissen der Wirklichkeit, zum anderen aber Ausdruck des bis zur letzten Konsequenz verfolgten und allzu oft in extreme Gewalt kippenden Versuchs, dieses Realen mächtig zu werden, die Kontrolle über eine aus den Fugen geratene Welt wiederzugewinnen.50 Eben deshalb wirkt die Idee des Neuen Menschen heute wie ein Menetekel, das vor den verheerenden Entwicklungen des 20. Jahrhunderts warnt. Dennoch wäre es übereilt, die Karriere dieser Grundfigur der „säkularen Religionsgeschichte der Moderne“ im Sinne Küenzlens für beendet zu erklären.51 So lässt sich, soweit zu sehen ist, heute ein unscheinbares Wiederauftauchen des Neuen Menschen beobachten. Spätestens nach der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/2009 haben ‚Wirtschaftsdemokratie‘ und Modelle ‚präfigurativer‘ Auswege aus dem globalisierten Kapitalismus wieder an Aufmerksamkeit gewonnen. Die Debatten kreisen, um hier nur überblicksartig einige Themen anklingen zu lassen, um die Frage nach dem ‚guten Leben‘ und dem ‚wahren‘ Wohlstand oder nach den ‚wahren‘ Bedürfnissen, und ebenso gehören hierher die Suche von Lebensmodellen nach dem ,Ende der Arbeit‘ oder für eine ‚Postwachstumsgesellschaft‘. Darüber hinaus beobachten wir die Wiederkehr der expliziten Rede vom Neuen Menschen im Kontext der Debatten um biotechnisches ,Human Enhancement‘ und ‚Trans-‘‚ oder ‚Posthumanismus‘. Dabei ist zu bemerken, dass der Idee des ‚Human
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Vgl. in Bezug auf Georg Lukács eingehend Dikovich (2017): Heroismus und Sorge. Badiou (2006): Jahrhundert, S. 30. Vgl. Ebd., S. 25f. Vgl. Kuenzlen (1994): Der Neue Mensch. Das Zitat ist dem Untertitel der Schrift entnommen.
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Enhancements‘, anders als im Falle der Figurationen des Neuen Menschen zu Anfang des 20. Jahrhunderts, der Schulterschluss zu einer radikalen (revolutionären) gesellschaftlichen Transformation fehlt; man könnte sogar sagen, dass sie letztlich zutiefst unpolitisch ist.52 Die Menschenerneuerung heute zu Beginn des 21. Jahrhunderts erscheint vielmehr als „fiktionales Produkt der gegenwärtigen liberalen Innovations- und Wachstumsgesellschaft“53 und ist fein abgestimmt auf die Anforderungen der individuellen Selbstoptimierung. Der Neue Mensch also nicht mehr als ein „prometheisches politisches Projekt“54 der Veränderung, sondern als ein nicht weniger prometheisches Projekt der technischen Anpassung. Der Faszinationskraft der Visionen des Posthumanismus steht heute das Unbehagen angesichts der Alternativlosigkeit und Selbstverständlichkeit gegenüber, mit der diese oft vorgebracht werden. Auch aus dieser Aktualitätsperspektive heraus erscheint eine Auseinandersetzung mit dem Neuen Menschen als Bestandteil des politischen Imaginären der mitteleuropäischen Gesellschaften nach dem Ersten Weltkrieg als ein lohnendes Unternehmen. Doch nicht nur komparativ auf das immer noch junge 21. Jahrhundert blickend, sondern gerade auch aus historischer Perspektive auf seine vernachlässigten, verdrängten und nicht zur Entfaltung gekommenen Facetten und Potentiale ist die Diskussion um die Menschenformung während und nach Ende des Ersten Weltkriegs ein Gegenstand von hohem Interesse. Entsprechend der eingangs thematisierten Perspektive, auf die sich auch insbesondere die jüngere Forschung zur politischen Kulturgeschichte der Weimarer Republik verstärkt konzentriert,55 sollte eine Annäherung an diese Zeit nicht ausschließlich vom Ende der revolutionären Entwicklungsstränge des 20. Jahrhunderts her erfolgen, vielmehr gilt es sie aus diesem Schatten herauszulösen, natürlich ohne eine Gesamtbilanz aus den Augen zu verlieren. Erst so kann das soziale, kulturelle und politische Erneuerungsdenken in der Umbruchphase 1918/19 einer tiefergehenden Analyse zugeführt werden, wie sie bislang noch aussteht. Noch immer gehören die Ideengeschichte und die politische Kultur der Revolution 1918/19 zu den eher vernachlässigten Bereichen der neuesten Geschichte, wobei insbesondere der Topos des Neuen Menschen im spezifisch mitteleuropäischen Kontext wenig Konturen aufweist bzw. durch das Interesse an geographisch oder historisch anderweitigen Diskursen (Sowjetkommunismus, Nationalsozialismus) als eher nachrangig erachtet wurde. Dabei, dies gilt es zu unterstreichen, musste das Ziel des Wandels hin zum Neuen Menschen nicht unbedingt die sozialistische oder die völkische Idealgemeinschaft darstellen, sondern konnte schlicht und einfach in der Verinnerlichung der neuen kollektiven Identitäten liegen, die in den Republiken in Mitteleuropa 1918 installiert wurden: jene der Demokratie und Volkssouveränität, aber auch die gleich52 53 54 55
Vgl. ebd., S. 18. Vgl. Dickel (2016): Der Neue Mensch, S. 21. Badiou (2006): Jahrhundert, S. 18. Wegweisend für diese Forschungsperspektive ist Graf (2008): Zukunft der Weimarer Republik. Einen guten Überblick zur neueren Weimar-Forschung liefert Hofmeister (2010): Kultur- und Sozialgeschichte.
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berechtigte Partizipation an politischen Entscheidungen von Männern und Frauen. Der Neue Mensch erschien also nicht ausschließlich als eine Figur der utopischen Zukunft, sondern vereinzelt auch als eine Figur der bejahten unvollkommenen Gegenwart; der pragmatischen Anfreundung mit der Wirklichkeit, der Hinnahme der Entfremdung als conditio moderna der menschlichen Existenz, der illusionslose Umgang mit der verlorenen Gemeinschaftlichkeit, aber auch der Erschließung neuer Handlungsräume und neuer politisch-sozialer Rollenbilder. Es ist die Überzeugung der Herausgeber, dass die verbreitete, jüngst in Tim B. Müllers Darstellung über die Lebensversuche moderner Demokratien nach dem Ersten Weltkrieg wiederzufindende These, dass es „den Demokratien niemals um einen neuen Menschen [ging]“,56 in dieser Pauschalität nicht haltbar ist. Im Gegenteil verlangte der Wechsel von der Monarchie zur Republik den Menschen einiges an Lernprozessen ab, sodass es nicht abwegig ist, von einer notwendigen „Wandlung“ des Bürgers der mitteleuropäischen Anciens Régimes hin zum Bürger der neuen Demokratien zu sprechen. Ein besonderes Anliegen dieses Bandes ist es daher, den Motivkomplex des Neuen Menschen als einen in Erinnerung zu rufen, der das Register des Monumentalen, Heroischen oder Geschichtseschatologischen überschritt, und aufzuspüren, wie heterogen die Vorstellungen waren, die um die Menschenerneuerung kreisten.57 Die dem Band zugrundeliegende interdisziplinäre und nationale Perspektiven überschreitende Betrachtungsweise, die in der Forschung zu den mitteleuropäischen Revolutionen von 1918/19 bisher nur wenig etabliert ist,58 soll dazu beitragen, der doch recht „festgefahrenen Revolutionsforschung“ neue Impulse zu geben.59 Der Neue Mensch von 1918/19, dies gilt es zu unterstreichen, ist nicht nur Bündelungspunkt von Diskursen unterschiedlichen weltanschaulichen Hintergrunds, er stellt eine wissenschaftlich-disziplinäre Grenzen und darüber hinaus die Grenzen von Literatur, Wissenschaft und Politik überschreitende Figuration dar. 56 Müller (2014): Nach dem Ersten Weltkrieg, S. 63f. Eine ganz ähnliche Perspektive scheint auch Jan Werner Müllers viel beachteter Darstellung über das demokratische Zeitalter zugrunde zu liegen, mit der er ein Kaleidoskop der unterschiedlichsten Demokratiekonzeptionen in Europa während des 20. Jahrhunderts vorgelegt hat. Im Kapitel über das Europa zwischen den Weltkriegen spielen „Neue Menschen“ zwar eine Rolle im Zusammenhang mit dem Stalinismus, dem Faschismus und dem Austromarxismus, diese Idee aber auch in den Demokratien unter die Lupe zu nehmen, was naheliegend gewesen wäre, bleibt unberücksichtigt. Vgl. Müller (2013): Das demokratische Zeitalter, S. 85–154. 57 Zu dieser Perspektive, die bezogen auf die Weimarer Republik das eher Uneindeutige als zeitspezifisch betont, siehe jüngst Maubach (2018): Weimar. 58 Eine groß angelegte transnationale Studie, die allerdings nicht Schule machte, stellt Carsten (1973): Revolution in Mitteleuropa dar. Transnationale Perspektiven vermisste auch kürzlich Nils Freytag in seinem Literaturbericht über neuere Forschung zur Novemberrevolution; Freytag (2013): Steckengeblieben – Vernachlässigt – Vergessen. 59 Gallus (2010): Einleitung, S. 10. Zur historischen Aufarbeitung der Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichtsforschung allgemein vgl. Niess (2013): Die Revolution von 1918/19. Ein besonders innovativer kulturwissenschaftlich orientierter sowie transnationale Beziehungen aufarbeitender Forschungsbeitrag liegt mit folgendem Sammelband jüngeren Erscheinungsdatums vor: Weinhauer u. a. (2015): Germany 1916–1923.
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Die Jugendbewegung, die Lebensreformbewegung, der libertär-romantische Sozialismus, der Neukantianismus, die Sexualreformbewegung, der literarische Expressionismus, der Dadaismus, die bürgerliche und die sozialistische Frauenbewegung, die Sozialwissenschaft und die Eugenik sind nur einige Beispiele, wo die Idee des Neuen Menschen Widerhall fand. Diese Bewegungen und ihre Diskurse beschränkten sich in Mitteleuropa nicht auf einzelne Gebiete, sondern fanden vielfach eine länderübergreifende Ausbreitung. Die Verfasserinnen und Verfasser dieses Bandes haben auf je eigene Weise einen explorativen Schritt in dieses weite Forschungsfeld unternommen. Welches Spektrum an Zugängen und welche konkreten Beispiele dafür gewählt wurden, soll hier abschließend in nuce ausgebreitet werden. 5. ZUM INHALTLICHEN AUFBAU DES BANDES Die Beiträge des ersten Abschnitts Kriterien des Neuen werfen Schlaglichter auf die unterschiedlichen Konzeptualisierungen der Neuheit des erneuerten Menschen in der zeitgenössischen Philosophie und Wissenschaft. Welche Menschen- und Geschichtsbilder waren für die Propheten, politischen Fürsprecher und Ingenieure der Erneuerung maßgeblich und dienten den Bestrebungen um eine geistige oder moralische Erneuerung als normative Grundlage? Mit der Gegenüberstellung von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ formulierte Ferdinand Tönnies nicht nur ein heuristisches Begriffspaar der sogenannten reinen theoretischen Soziologie, sondern auch den normativen Maßstab, der nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Erfolg seines gleichnamigen Hauptwerkes in die Moralisierungsdiskurse diffundierte und an den gesellschaftlichen Wandlungsprozess angelegt wurde. Gemeinschaftsdenken, sozialer Radikalismus und die Suche nach dem Neuen Menschen standen in einer Wechselwirkung, die jedoch nicht erst von Helmuth Plessner,60 sondern schon vom Stichwortgeber Tönnies selbst mit starken Vorbehalten beobachtet wurde. Wie Tönnies die Aufnahme seines Gemeinschaftsbegriffs als ,Kriterium des Neuen‘ beurteilte und welche politischen Zielvorstellungen er selbst in der Umbruchsphase ab 1918 vertrat, wurde bislang wenig beachtet und wird von Alexander Wierzock in seinem Beitrag ausgeführt. Karl Heinz Lembeck behandelt das Denken der Philosophen Hermann Cohen und Paul Natorp, um einen Einblick in die bisher nur wenig aufgearbeitete Bedeutung des Neuer-Mensch-Motivs im Neukantianismus zu geben. Cohen verschafft in seinem auf den kantischen Rechtsbegriff und die jüdische Theologie zurückgreifenden Geschichtskonzept der auf Verbesserung der Verhältnisse zielenden gesellschaftlichen Praxis einen Nimbus des Eschatologischen und nimmt damit die in unterschiedlichen Variationen formulierte „Philosophie der Tat“ (Hiller) der Revolutionszeit vorweg. Dagegen lag Natorps pädagogischen und politischen Erneuerungsbestrebungen ein aus Kants Transzendentalphilosophie heraus ent-
60 Plessner (2002): Grenzen der Gemeinschaft (zuerst 1924).
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wickeltes Konzept eines vergemeinschafteten Bewusstseins und Willens zugrunde, das Lembeck detailliert rekonstruiert. Anders als bei Natorp und Cohen waren Adolf Dethmanns Visionen der Menschheitserneuerung nicht in einer idealistischen Philosophie, sondern in soziobiologischen bzw. anthropologischen Annahmen über die Natur des Menschen verankert. Für Dethmann, der in sozialwissenschaftlicher Theoriebildung, radikaler Politik und industriellem Management gleichermaßen beheimatet war, ist der Mensch auf Friedfertigkeit hin ausgelegt, aber in der Gegenwart nur durch die diktatorische Herrschaft des Proletariats imstande, jene Bedingungen herzustellen, die dieses Potential zur Entfaltung bringen könnten. Dethmann führten seine Überzeugungen zum Engagement im Rahmen des Linksradikalismus. Kurzzeitig war er einer der führenden Köpfe dieser vor der Stabilisierung der Weimarer Republik einflussreichen politischen Strömung. Detlef Siegfried arbeitet in seinem Beitrag die Grundüberzeugungen und Stationen und Enttäuschungen dieser schillernden Gestalt des Weimarer Linksradikalismus auf. Die Beiträge des zweiten Abschnitts Neuer Staat für Neue Menschen widmen sich Staatsentwürfen, in deren Mittelpunkt die Idee einer moralischen Erneuerung mit staatlich-erzieherischen Mitteln steht, die 1918/19 im politischen Diskurs äußerst präsent war. Inwiefern spielte die Idee der Menschenerneuerung bei den grundlegenden Richtungsentscheidungen zwischen parlamentarischer Demokratie und Rätestaat oder bei der Organisation der internationalen Beziehungen eine Rolle? War der Neue Mensch ein Maßstab für Wert und Leistungskraft der neuen Staatswesen oder wurde umgekehrt die Frage gestellt, welcher Menschentypus den hervorgegangenen Gebilden adäquat wäre? Idealistisch wurde diese Frage von Walther Rathenau und Paul Natorp beantwortet, in deren Entwürfen zur Neuordnung Deutschlands romantisches Gemeinschaftsdenken, hohe Erwartungen an die erzieherische Funktion sachlicher Organisationsarbeit im Rahmen industrieller Selbstverwaltung sowie die Betonung der führenden Funktion einer geistigmoralischen Elite im neuen Staat sich vereinten. Clemens Reichhold verankert Rathenaus Denken in der Tradition der politischen Romantik und arbeitet sein Ideal der staatsbürgerlichen Erziehung heraus, in deren Zentrum die Unterscheidung des dem 19. Jahrhundert zugehörigen „Furchtbürgers“ und des neuen bzw. wiederherzustellenden Typus des „Mutbürgers“ steht, der auf dem Boden der solidarisch organisierten Verhältnisse gedeihen soll. Der bedeutende Vertreter des Neukantianismus Paul Natorp war einer der Philosophen, die nach dem Ersten Weltkrieg eine Allianz von Gelehrtenpolitik und radikaler Arbeiterbewegung für möglich hielten. Der auf den ersten Blick überraschende Gedanke war, den Rätestaat als Vehikel für die Realisierung des alten Traumes von der Philosophenherrschaft zu nutzen. Der alte Streit von Politik und Philosophie wurde ab 1918 erneut ausgetragen. Albert Dikovich analysiert das politik- und parteienkritische Motiv in Paul Natorps Revolutionsdenken und diskutiert die Frage, inwiefern Natorps Rätestaat nicht nur eine neue Form der Regierung darstellte, sondern am Ende auf eine utopische Überwindung von Politik als solcher abzielte.
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In Vratislav Doubeks Beitrag wird schließlich der Fokus von Deutschland auf die neugegründete Tschechoslowakei verschoben. Dass das neue demokratische und nationale Staatswesen ein eigenes Staatsbürgerideal benötigen würde, das sich nicht nur vom zusammengebrochenen Habsburgerreich, sondern auch von den westeuropäischen Großstaaten abgrenzt, war ein in der Umbruchssituation zentraler Gedanke des Philosophen und ersten tschechoslowakischen Staatspräsidenten Tomáš Garrigue Masaryk. In Umkehrung des nietzscheanischen Übermenschen war es nach ihm die der geopolitischen Stellung des neuen mitteleuropäischen Staats entsprechende „Größe in der Kleinheit“, deren Hervorbringung Politik und politische Erziehung besorgen sollten. Thema des dritten Abschnitts Politiken des Lebens sind Diskurse, die den Schauplatz der Erneuerung nicht in die abstrakte Sphäre des ,Geistes‘ legten, sondern als eine verstanden, die sich an der Leiblichkeit des Menschen vollziehen sollte; Biopolitiken der Menschenzucht, der Sexualreform und Neukonzeptionen des Verhältnisses von Mann und Frau im Staatswesen und Gesellschaftsleben. Enikő Darabos geht in ihrem Beitrag der Politisierung der Sexualität im kommunistisch-linksradikalen Kontext nach und legt anhand von Ruth Fischer (alias Elfriede Friedländer), Alexandra Kollontai und Wilhelm Reich dar, welche utopischen Organisationsformen des zwischengeschlechtlichen Lebens hier nach der Auflösung der bürgerlichen Institution der Ehe entworfen und beworben wurden. Im zweiten Teil ihres Beitrages erörtert sie anhand der sowjetrussischen und der ungarischen Jugend, mit welchen Problemen und Grenzen diese in den Umsetzungsversuchen einer solchen neuen Sexualmoral konfrontiert waren und wie der Sexualdiskurs im Zuge der 1920er Jahre zunehmend seine ursprünglich revolutionär-utopische Zielrichtung zugunsten einer technisch-pragmatischen Zugangsweise verlor. Katharina Neef widmet sich demgegenüber dem umtriebigen und höchst produktiven Gelehrten-Politiker Rudolf Goldscheid, einem intellektuellen Wegbereiter der sozialreformatorischen Praxis des Roten Wiens und Entwickler einer wirkungsreichen Konzeption der „Menschenökonomie“, unter der eine biologisch fundierte Sozialwissenschaft und Gesellschaftstechnik zu verstehen ist. Neef zeigt, inwiefern die Behandlung des Arbeiters als „knappes Gut“ und Investitionsmasse bei Goldscheid das Programm einer humanistischen Ethik verfolgt, und macht deutlich, dass dem an strengen Kosten-Nutzen-Kalkülen ausgerichteten Reformdenken Goldscheids das idealistische, auf die Veränderung der Gesinnung gerichtete Moment fehlt, das die übrigen in diesem Band behandelten Autoren und Autorinnen kennzeichnet. Der anschließende Beitrag Christoffer Lebers stellt einen weiteren Vordenker des Roten Wiens vor: den Wiener Biologen und Sozialreformer Paul Kammerer. Anders als Goldscheid, bei dem es letztlich keinen Neuen Menschen gibt, entwarf Kammerer auf der Basis des Lamarckismus einen solchen als Homo sapientissimus, um dem darwinistischen Kampf ums Dasein die auf Kooperation und gegenseitige Hilfe hin angelegten menschlichen Potentiale entgegenzustellen. Kammerer steht für eine Tradition humanistischer Biopolitik, die vom Rassendenken des Nationalsozialismus weit entfernt ist und heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist.
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Der mit Politik durch Literatur überschriebene vierte Abschnitt des Bandes befasst sich mit Literatur als Experimentierfeld für Visionen des Neuen Menschen. Anhand exemplarischer Beispiele wird aufgezeigt, inwiefern 1918/19 Durchlässigkeiten zwischen den Feldern der Literatur und der Politik zum Auftreten des neuen Typus des „Literatenpolitikers“ führten, der als Gegenbild zum „Berufspolitiker“ zugleich als Hoffnungsträger galt und als Inbegriff des politischen „Dilettantismus“ Gegenstand heftiger Kritik und Häme war. Verena Wirtz behandelt die Selbst- und Politikverständnisse von „Literatenpolitikern“ vornehmlich aus dem Kontext der Münchner Räterepublik und dem politischen Expressionismus sowie das Verhältnis, das Ästhetik und Ethik im Zusammenhang von Revolution und „Menschheitswende“ (Paul Kammerer) nach dem Ersten Weltkrieg einnahmen. Wirtz zeigt dabei, dass diese Grenzgänge zwischen Kunst und Politik mehr darstellen als idealistische Träumereien. Anhand einer Analyse von Texten und Äußerungen Ernst Tollers verdeutlicht sie, in welchem Maße der junge Revolutionspolitiker und Dichter sich des prekären Verhältnisses von Ideal und Realität bewusst war und dass ihm keineswegs eine heillose Unterschätzung des Widerstandes der realen Verhältnisse attestiert werden kann. Annamaria Birósʼ Beitrag thematisiert Transferprozesse zwischen den deutschen und den ungarischen Filialen eines der prägendsten intellektuellen Unternehmen der Zeit – des Aktivismus. Dabei legt sie den Fokus auf die literaturpolitischen Strategien, die Lajos Hatvany, der linksliberale Schriftsteller, Kritiker und Mitbegründer der für die literarische Moderne in Ungarn zentralen Zeitschrift Nyugat (Westen), und der Avantgardedichter und Maler Lajos Kassák verfolgten. Während eine von Hatvanys zentralen Leistungen der Aufbau des Kultes um Endre Ady ist, dem hierzulande weitgehend unbekannten ungarischen Nationaldichter, der den bürgerlichen Revolutionären von 1918 als Künder und Mahner der ungarischen Erneuerung galt und noch für die Führer der Räterepublik eine geistige Autorität darstellte, inszenierte sich Kassák zusammen mit seinen Anhängern selbst als Speerspitze des radikalen seelischen Neuanfangs, was zu einem bitteren Konflikt mit der politischen Führungsriege der kurzlebigen ungarischen Räterepublik führte, in der Kassák zunächst das politische Instrument seines Erneuerungsvorhabens gesehen hatte. Der Beitrag Sebastian Schäfers behandelt den Essayisten und Publizisten Rudolf Olden, der im für diesen Band relevanten Zeitraum der Kriegs- und Revolutionszeit mehr oder minder alle entscheidenden Wendungen und Neuorientierungen des intellektuellen Zeitgeistes mitvollzog. Vom Anhänger des Schriftstellerzirkels „Junges Wien“ und eines ichzentrierten Ästhetizismus wandelte sich Olden über die Zwischenstation der patriotischen Kriegsbefürwortung, die den Weltkrieg als Ausgang aus der sozialen und kulturellen Krise begrüßte, hin zum Pazifisten und entschlossenen Republikaner. Neben diesem biographischen Werdegang einer bedeutenden Figur der Weimarer Öffentlichkeit untersucht Schäfer auch Oldens Überlegungen zu einem tiefgreifenden Gesinnungswandel in der deutschen Gesellschaft, die auf deren Befähigung zu einem demokratischen politischen Leben abzielen und in deren Zentrum die Abkehr von einem ,Idealismus‘ steht, der in seiner speziellen deutschen Ausprägung eine verhängnisvolle Nähe zum Militaris-
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mus aufweist und insofern mit der demokratischen Austragung von Konflikten unvereinbar ist. Der fünfte Abschnitt Kritische Observationen leitet zu Stimmen aus der mitteleuropäischen Gelehrtenwelt über, die den revolutionären Erneuerungsdiskursen um 1918/19 skeptisch bis offen ablehnend gegenüberstanden. Zu fragen ist dabei nicht nur nach den Gründen dieser Ablehnung und nach den tiefergehenden kritischwissenschaftlichen Analysen der zeitgenössischen Entwicklungen, sondern auch nach alternativen Idealen und Modellen der Erneuerung, die sie letzteren entgegensetzten. Ein strenger Kritiker des Revolutionsenthusiasmus und der Neuer-MenschProklamationen war Max Weber, wie Christian Marty in seinem Beitrag detailliert aufzeigt. Marty geht dabei den tieferliegenden Gründen der Weberschen Ablehnung von Revolutionspolitikern wie Kurt Eisner nach, der bekanntermaßen als Negativvorlage für Webers Ideal des „Politikers aus Berufung“ herhalten musste. Nach Marty resultiert die Ablehnung Webers aus dessen Persönlichkeitsideal, das im Beitrag detailliert ausgeführt wird und dem die Revolutionäre nicht zu entsprechen vermochten; leidenschaftliche Hingabe und Selbstbegrenzung, die zwei Grundsäulen des Weberschen Ideals, wurden bei den Protagonisten des „Revolutionskarnevals“ vermisst. Dabei war aber gerade für Weber die Frage nach politischen und sozialen Ordnungen immer auch eine Frage danach, welcher Menschentypus durch die jeweilige Ordnung befördert und welcher unterdrückt wird, wobei Weber allen utopischen Hervorbringungsphantasien, wie sie um 1918/19 kursierten, tiefe Skepsis entgegenbrachte. Der Sammelband wird schließlich abgerundet durch einen Beitrag Michael Gormann-Thelens über das Schaffen des Soziologen und Rechtshistorikers Eugen Rosenstock-Huessy, dessen ausführliche Reflexionen zur welthistorischen Bedeutung der Umbrüche – angefangen mit jenem in Russland im Februar und Oktober 1917 – einer eigentlichen Neuerschließung harren, wie auch die historische Figur Rosenstock-Huessys kaum hinreichend entdeckt ist. Rosenstock-Huessy, der für seine eigene Lebensgeschichte aus dem Umbruch im November 1918 radikale Konsequenzen zog und seine universitäre Laufbahn niederlegte, um sich im Betriebsmanagement zu betätigen, sah die Tragik der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Nichtvollzug der geistigen Revolution nach dem Ersten Weltkrieg, wobei, wie Gorman-Thelen herausarbeitet, der Friedensvertrag von Versailles das Schlüsselmoment darstellt. Aus Rosenstock-Huessys Sicht gelang es Deutschland und seiner Politik nicht, im neuen Zeitalter der Menschheitsgesellschaft anzukommen, für das der Völkerbund und die Regelung zwischenstaatlicher Beziehungen auf einer supranationalen Ebene zentrale Elemente darstellen. Stattdessen blieben die Deutschen in alten Mustern verhaftet und stürzten die Welt zwanzig Jahre nach der Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts in eine erneute, das Ausmaß der ersten sogar übersteigende zweite Katastrophe. Es braucht kaum betont zu werden, dass mit der Frage nach dem Diskurs des Neuen Menschen in Mitteleuropa ab 1918 ein weites Feld eröffnet wird, das mit den Beiträgen dieses Bandes nicht annähernd abgedeckt wird. Insbesondere die politische Partizipation von Frauen, für die die unmittelbare Nachkriegszeit in Mitteleuropa mit der Einführung des Frauenwahlrechts in Österreich (1918), der
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Weimarer Republik (1919), Ungarn (1919) und der Tschechoslowakei (1920) und mit dem Auftreten der ersten Parlamentarierinnen einen fundamentalen Einschnitt bedeutet, bleibt mit Blick auf die Thematik des politischen Imaginären nach dem ersten Weltkrieg eine unausgefüllte Lücke in diesem Band.61 Die Bedeutung von außereuropäischen Traditionen im Zusammenhang der Neuer Mensch-Visionen und die generelle Infragestellung des eurozentristischen Weltbildes ist eine weitere. Lohnenswert wäre auch eine Analyse, inwiefern dieses Denken über die Arena der debattierenden Öffentlichkeit hinaus tatsächlich von der Politik aufgenommen und praktisch umgesetzt wurde, was oben ausgehend vom Beispiel der preußischen Wissenschaftspolitik nur angeschnitten wurde. Gerade weil derartige Forschungsdesiderate bleiben, so die Hoffnung der Herausgeber, könnte mit dem vorliegendem Band eine Erkundung der Neuer Mensch-Imaginationen im Zusammenhang des Umbruchs in Mitteleuropa nach dem Ersten Weltkrieg vorliegen, die zu weiteren Studien zu dieser ergiebigen Forschungsthematik anregen wird. Abschließend soll hier Andreas Braune von der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena gedankt werden, der die Herausgeber durch wertvolle inhaltliche Hinweise unterstützte und dessen Initiative das Erscheinen dieses Bandes im Rahmen der Weimarer Schriften zur Republik wesentlich zu verdanken ist. Zu erwähnen ist, dass der Band auf einer im Februar 2017 an der Universität Wien veranstalteten Tagung basiert, die mit Unterstützung des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte und Theorie der Biographie, des Instituts für Wissenschaft und Kunst (IWK), der Fritz Thyssen Stiftung sowie der Österreichischen Forschungsgemeinschaft realisiert wurde. Der vorliegende Band versammelt Überarbeitungen der damals gehaltenen Vorträge erweitert um einige zusätzlich eingeholte Artikel. Unsere Dankbarkeit richtet sich an diese Institutionen sowie an die Universität Konstanz und an die Leitung des Graduiertenkollegs „Das Reale in der Kultur der Moderne“ für die Unterstützung des Projekts. Neben allen Beiträgern, denen an dieser Stelle auch gedankt sei, möchten sich die Herausgeber für Unterstützung und Anregungen persönlich bei Katia H. Backhaus, Wilhelm Hemecker, Thomas Hübel und Andrea Hoffmann bedanken. À la fin muss auch ein großes Lob an Pál Deréky und Petra Vintrová für ihre Übersetzungen aus dem Ungarischen und Tschechischen ausgesprochen werden.
61 Es kann hier immerhin auf eine jüngere Arbeit hingewiesen werden, die diese Fragestellung behandelt: Canning (2015): Gender and the Imaginary. Das Historische Museum Frankfurt widmet überdies vom 30.8.2018 bis zum 20.1.2019 der hundertsten Jährung der Einführung des Frauenwahlrechts eine Ausstellung, in deren Vorfeld eine wissenschaftliche Konferenz veranstaltet wurde (100 Jahre Frauenwahlrecht. Kampf, Kontext, Wirkung; 13.-15.9.2017). Zu erwähnen ist weiters Veronika Helferts demnächst abgeschlossene Dissertationsarbeit (Universität Wien) zur Frauen- und Geschlechtergeschichte der Rätebewegung in Österreich.
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KRITERIEN DES NEUEN
„NICHT KARTENHÄUSER ODER LUFTSCHLÖSSER, SONDERN EINEN TEMPEL DES GEISTES UND DER GESITTUNG“ Ferdinand Tönniesʼ Verhältnis zu den revolutionären Erneuerungshoffnungen 1918/19 Alexander Wierzock
Abb. 1.: Karl Arnold, Aprilwetter. Erschienen im Simplicissimus, 29.04.1919, S. 63. Simplicissimus 1896 bis 1944 (Online-Edition), Klassik Stiftung Weimar/ © VG Bild-Kunst, Bonn
Wie viele seiner Zeitgenossen sah Ferdinand Tönnies, der als prominenter Soziologe, politischer Intellektueller und Zeitdiagnostiker das öffentliche Interesse auf sich zog, unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg eine gewaltige Revolution auf Europa zukommen. Ausgelöst durch den Krieg und vollends bedingt „durch die Auflösungen und Staatsumwälzungen in Rußland, Österreich und dem Deutschen Reiche“ war seiner Einschätzung nach eine neue Epoche angebrochen, in der die
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soziale Frage zur alles entscheidenden werden würde. Es ist „die gesamte Entwicklung der sozialen Frage in einer Weise beschleunigt“, schrieb Tönnies im Rahmen der Neuauflage seines Hauptwerkes Gemeinschaft und Gesellschaft, „als ob eine elektrische Batterie in einen Wagen hineingesetzt worden sei, den bisher ein Maultier im gemächlichen Trott gezogen hat.“1 Tönniesʼ Äußerung aus dem April 1919 fiel in eine Phase sozialer und politischer Desintegration, die ein unübersichtliches Feld konkurrierender programmatischer Entwürfe zur politischen, sozialen und kulturellen Neuordnung entstehen lassen hatte. Diese Arena sollte Ernst Troeltsch wenig später als „Traumland der Waffenstillstandsperiode“ bezeichnen.2 Die Rede vom „Traumland“ bezieht sich auf die Verlierer des Ersten Weltkriegs. Denn während in New York, London und Paris der Siegestaumel mit seinen Paraden, Feuerwerk und Konfettiwolken schon längst vorüber war und zur nüchternen Alltagsarbeit geschritten wurde, hatte der militärische und politische Zusammenbruch bei den Deutschen eine eigentümliche Revolutionseuphorie freigesetzt. Nachdem eine erste Niederlagedepression überwunden war, glich das öffentliche Leben einem „karnevalistischen Hochgefühl“, wie Wolfgang Schivelbuch in seiner Kultur der Niederlage aufgezeigt hat.3 Beispiele für diese Umsturz-Hochstimmung liefern zahllose Zeitdokumente. Es „war eine Gaudi, ein politischer Fasching“, vertraute etwa der Romanist Victor Klemperer seinem Tagebuch an, als er nach der Revolution in München eingetroffen war und sich ihm „das Außerordentliche, das bunt und leidenschaftlich Romantische“ in der Stadt aufdrängte.4 Doch für den Klimaumschwung im öffentlichen Leben war nicht nur das vielgestaltige, freiheitlich Karnevaleske symptomatisch, hinzu trat noch die Sonderstellung der Politik, von der alle Gesellschaftsschichten wie elektrisiert waren. Die Deutschen waren „eine Zeitlang zu Idealisten“ geworden, brachte der vom Chicago Daily Journal nach Berlin geschickte Journalist Ben Hecht die politisch aufgeladene Atmosphäre auf den Punkt. „Jeder heraufdämmernde Tag war wie ein Vorwahlabend zur Präsidentschaft zu Hause. Niemand schien irgendwelchen privaten Geschäften oder Gedanken nachzugehen. Alles war Politik, Revolution, Gegenrevolution“, erinnerte sich der Amerikaner über seine Eindrücke von Deutschland im Jahre 1919.5 Überdies war alles Politische im Fluss begriffen. Der Standpunkt von heute konnte morgen schon ein anderer sein, nur um übermorgen wieder aufgegeben zu werden. Das hatten auch die Karikaturen-Journale erkannt. So zeigt eine mit „Aprilwetter“ überschriebene Darstellung aus dem Simplicissimus eine Straßenszene mit einer dicht gedrängten Massenkundgebung, gestikulierenden Rednern und einem von links 1
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Tönnies (1919): Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 254. Hervorh. im Original. Das vorangehende Zitat nach: Ders. (1919): Die Entwicklung der sozialen Frage, S. 6. Dort auch ein erneuter Hinweis auf den durch den Krieg verursachten Epochenumbruch: „Das Jahr 1914 bedeutet für die soziale Frage eine Epoche; die Ereignisse der jüngsten Monate erhöhen unendlich deren Bedeutung.“ Troeltsch (2015): Spectator-Briefe, S. 131. Schivelbusch (2001): Kultur der Niederlage, S. 22. Klemperer (2016): Man möchte, S. 28 u. 30. Hecht (2006): Revolution im Wasserglas, S. 26. Das vorangehende Zitat auf S. 34.
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nach rechts ziehenden Demonstrationszug. Zu erkennen sind zwei Transparente, auf dem einen steht „Hoch“ auf dem anderen „Nieder“. Vorne im Bild unterhalten sich zwei ältere Herren: „Kaum hat man sich zu einer Überzeugung durchgerungen – schon kommt wieder eine andere.“6 In der Tat schien im vom Hochgefühl des Umsturzes getragenen „Traumland der Waffenstillstandsperiode“ nahezu alles möglich zu sein: eine Rückkehr zu den Grenzen vom 1. August 1914, der Anschluss Deutsch-Österreichs an die Deutsche Republik, ein Bund freier Völker, eine allgemeine Abrüstung in allen Ländern, die Weltrevolution nach sowjetrussischem Muster oder gar der Neue Mensch als Teil einer erneuerten Gemeinschaft. Diese Zeit, in der man „die Zukunft phantastisch, pessimistisch oder heroisch ausmalen konnte“, endete laut Troeltsch am 7. Mai 1919, als der deutschen Delegation in Versailles die Friedensbedingungen präsentiert wurden. Von nun an hieß es, die Augen auf die „realen Sachfolgen des bevorstehenden Friedens“ zu richten.7 Doch Troeltschs Forderung war mehr Anspruch als Wirklichkeit. In der Realität setzte keine idealistische Ernüchterung von heute auf morgen ein. Tatsächlich blieb das politisch Imaginäre auch in der Folgezeit äußerst virulent und ein fester Bestandteil der politischen Kultur Deutschlands, wie ja auch Troeltsch selbst seinen Appell für ein Ende des Traumlandes mit der Forderung nach einer „geistigen Erneuerung von Grund aus“ verknüpft hatte. Hellmuth Plessner sah noch 1924 eine „Vernichtung der gegebenen Wirklichkeit zuliebe der Idee“ drohen, als er unter dem Titel Grenzen der Gemeinschaft den „sozialen Radikalismus“ seiner Zeit analysierte.8 Doch unabhängig davon, wann das Ende der Traumlandphase anzusetzen ist, es gab auch schon 1919 diejenigen – und gerade unter bürgerlichen Intellektuellen waren sie anzutreffen –, die sich gegenüber den aus ihrer Sicht wolkenhohen idealistischen Zukunftshoffnungen bemerkenswert zurückhaltend zeigten und den Horizont der Möglichkeiten ausgesprochen sachlich nüchtern betrachteten. Ferdinand Tönnies steht für einen solchen Typ des bürgerlichen Intellektuellen. Mit Kritik, aber auch mit Ironie begegnete er einer radikal an Idealen orientierten Politik: So etwa, wenn er 1919 in einem Brief an den dänischen Philosophen Harald Høffding die Gegenwart als „dies glorreiche Zeitalter“ ins Lächerliche zieht oder wenn er „die studierende Jugend“ dafür kritisiert, dass sie „jetzt ihren Idealismus zumeist in Schwärmereien verpufft“.9 Tönnies fühlte sich einem „stilleren Idealismus“ verpflichtet und nicht den revolutionären Erneuerungshoffnungen, die 1918/19 ein neues Zeitalter der Menschheit für angebrochen hielten.10 Gleichzeitig wurde Tönnies über sein immer populärer werdendes Begriffspaar Gemeinschaft und Gesellschaft, mit dem er traditionelle gefühlsmäßig-organische von modernen, vertraglich geregelten Sozialverhältnissen unterschied, zu dem
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Simplicissimus, 29.04.1919, S. 63 (siehe Abb. 1). Troeltsch (2015): Spectator-Briefe, S. 131. Dort auch das folgende Zitat. Plessner (2002): Grenzen der Gemeinschaft, S. 17. Ferdinand Tönnies an Harald Høffding, 7.3.1919, in: Tönnies / Höffding (1989): Briefwechsel, S. 134 u. Tönnies (1919): Ausblicke, S. 404. 10 Tönnies (2005): Neue Botschaft, S. 28.
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zentralen Sinnstifter für eine der stark ausgeprägt utopischen Suchbewegungen der Weimarer Republik: dem Ruf nach Gemeinschaft. Dieser Diskurs brachte eine Vielzahl von Ideen hervor, in denen Moral als normative Gemeinschaftsmoral verstanden zu einem wichtigen Agens auf der Suche nach einer sittlichen Erneuerung der Gesellschaft und des einzelnen Individuums in ihr wurde.11 In den lebensreformerischen Bünden, in der Bildungspolitik, bei den politischen Parteien rechts wie links, in der Kunst und der Literatur, bei den Sozialwissenschaften, kurz: in weiten Teilen der Gesellschaft wurde die Idee der Gemeinschaft zu einem Referenzpunkt. In diesem Spielfeld aus Gemeinschaftsentwürfen war Tönnies zentraler Stichwortgeber, Multiplikator und zugleich auch Spielverderber. Denn so sehr er einerseits die Gesellschaft und ihre Teilbereiche sowie den Einzelnen in ihr moralisch umgestalten wollte, so sehr problematisierte er auch die Grenzen und die Ohnmacht einer Remoralisierung im Zeichen der Gemeinschaft. Vor diesem Hintergrund steht im Mittelpunkt des folgenden Beitrags das Ziel, den soziologischen Klassiker Tönnies verstärkt in das Blickfeld der fluiden Umbruchszeit von 1918/19 zu rücken. Ausgehend von seinen kritischen Observationen des politisch Imaginären nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und seiner eigenen Vorstellungen eines fundamentalen inneren Wandels sollen das utopische Denken in dieser Zeit und die aus ihm hervorgehenden politischen Ordnungsentwürfe rekonstruiert werden. Hierdurch wird das vielgestaltige Profil des Sozialwissenschaftlers, der in seiner Rolle als politischer Intellektueller noch nicht hinreichend entdeckt ist, weiter an Schärfe gewinnen und zugleich das Gemeinschaftsdenken der frühen Weimarer Republik, das immer noch ein großes, wenig kartiertes Gelände ist, etwas genauer umrissen werden. Hierfür wird zunächst untersucht werden, wie Tönnies auf die Revolution reagierte und was er von ihr erwartete (1). Alsdann wird in einem nächsten Schritt nach seinem Verhältnis zu den revolutionären Bestrebungen gefragt werden (2), um dann speziell seine Stellung im Gemeinschaftsdiskurs der Zeit herauszuarbeiten (3) und abschließend zu klären, welche Vorstellung einer Erneuerung von Gemeinschaft sich Tönnies machte (4). 1. VERKEHRTE WELT: NORMALITÄTSVERLUST UND BLOCKIERTE ENTWICKLUNGSPFADE Das wilhelminische Kaiserreich, gegen das Tönnies jahrzehntelang gekämpft hatte und welches er durch ein demokratisches System ersetzten wollte, stürzte im November 1918 beinahe von heute auf morgen durch einen spontanen Massenprotest zusammen. Der Ausbruch dieser Revolution traf Vertreter der bürgerlichen Kreise, auch der reformorientierten, zu denen Tönnies gehörte, völlig überraschend. Aus dem ostholsteinischen Eutin mit dem Zug nach Kiel angelangt, geriet der damals 63-jährige Gelehrte am 4. November mitten in die Marinerevolte, die sich, nachdem
11 Vgl. zum Thema der Moralkommunikation zu Beginn des 20. Jahrhunderts die sehr anregende Studie von Schultz (2011): Moral – Kommunikation – Organisation.
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sie zu einem Massenaufstand angewachsen war, wie ein Lauffeuer von der Küste in das Landesinnere ausbreiten und fünf Tage später in der Hauptstadt Berlin zur Ausrufung der Deutschen Republik bzw. zur freien sozialistischen Republik Deutschland führen sollte. Einige Notizen aus Tönniesʼ Taschenkalender lesen sich wie eine Kurzzusammenfassung der Kieler Ereignisse: „4. November. Mittags nach Kiel. Unruhen. […] Abends der Umzug mit roten Fahnen. Matrosen“ und am darauffolgenden Tag: „Kiel in den Händen der Aufständischen. Reden im Soldatenrat. Die roten Fahnen auf Schiffen, Rathaus usw. […] Das Schießen in den Straßen.“12 Was Tönnies in Kiel erlebte, war, was er in Deutschland zuvor für kategorisch ausgeschlossen gehalten hatte: die Macht der Straße und offene Gewalt. Noch im Februar 1918, als im Deutschen Reich und Österreich-Ungarn gerade der Januarbzw. Jännerstreik niedergeschlagen worden war, hielt er es für unmöglich, dass „der Friede […] auf den Straßen in Wien und Berlin geschlossen werde“.13 Die Zeiten seien „für immer dahin“, erklärte er, „wo etwa ein gelingender Putsch auf den Straßen einer Hauptstadt politisch irgendwelche dauernde Bedeutung gehabt hätte. Wir kämpfen unsere politischen Kämpfe mit dem Stimmzettel“ und nicht mit der „Brandfackel der Gesetzlosigkeit, Aufruhr und Mord“.14 Es dauerte nicht lange, bis Tönnies erkennen musste, dass er sich geirrt hatte: Eine Revolution war auch in Deutschland möglich und sie ging nicht von einem Wahlakt aus, sondern sie erfolgte auf den Straßen in Form einer moralischen und politischen Implosion der alten Ordnung. Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter überraschend, dass er der revolutionären Massenbewegung, die zum Sturz der Monarchie geführt hatte, verhalten und ohne Sympathie begegnete. Seine Aufzeichnungen, Briefe und Schriften vom Winter 1918/19 zeigen: Er empfand weder die Erleichterung, die Ernst Troeltsch am 10. November auf einem Spaziergang durch Berlin-Grunewald „auf allen Gesichtern“ der Bürger fand, dass „alles in Ordnung“ sei und die „Gehälter […] weiterbezahlt“ werden,15 noch die nüchterne Anerkennung der nun zu erwartenden Neuerungen Thomas Manns, der zuversichtlich über den ruhigen Verlauf der Umwälzung in München zur selben Zeit seinem Tagebuch anvertraute, die „deutsche Revolution ist eben die deutsche, wenn auch Revolution.“16 Ebenso wenig vermochte Tönnies das revolutionäre Geschehen leicht amüsiert wie Emil Lederer zu nehmen, dem die Errichtung der Arbeiter- und Soldatenräte in Heidelberg und andernorts schon in den Novembertagen keineswegs revolutionär, sondern mehr wie eine „auf ausgefahrenen Geleisen abrollende Bewegung“ vorkam, die ihre „revolutionären Organe“ so installierte, „wie man Bureaus eines neuen Verwaltungskörpers einzurichten pflegt.“17 Und schon gar nicht tat es 12 Notizkalender 1918, SHLB, TN, Cb 54:11.16. Zur besseren Lesebarkeit wurden hier im Original vorhandene Abkürzungen aufgelöst. 13 Tönnies, Weltfriede und Volksfriede. Offener Brief an Herrn Bürgermästere Lindhagen in Stockholm, SHLB, TN, Cb 34:65, Bl. 32f. 14 Ebd., Bl. 33. 15 Troeltsch (2015): Spectator-Briefe, S. 206. 16 Mann (2003): Tagebücher, S. 67. 17 Lederer (1918): Einige Gedanken, S. 9.
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Tönnies seinem Freund Rudolf Goldscheid gleich, der sich im Wiener Arbeiterrat zwischenzeitlich der Neuen Linken anschloss, einer Fraktion, die dafür eintrat, das Rätesystem als dauerhaftes Ordnungsinstrument einzusetzen.18 Anders als Goldscheid, Lederer, Mann oder die von Troeltsch beobachteten Bürger zeigte sich Tönnies von Anfang an zutiefst beunruhigt über den Umsturz. Dabei hatte die Revolution speziell in Kiel ungemein schnell zu geordneten Verhältnissen zurückgefunden, sodass Tönnies schon am 6. November in seinen Taschenkalender „Ruhe eingetreten“ notieren konnte.19 Auch sein Wohnsitz, das beschauliche Eutin, wohin er zwei Tage später wieder zurück war, entpuppte sich alles andere als ein Brennpunkt politischer Kämpfe.20 Doch derart konnten die Zeitgenossen ihre Lage nicht überschauen, Gerüchte und Tatsachen waren kaum auseinander zu halten, die Situation verfahren, undurchsichtig und frei flottierend. Später, im Jahr 1924, wird Tönnies die Sozialdemokratie für ihren „begrenzten Gebrauch“ der Macht im Winter 1918/19 loben, doch in den ersten Tagen nach dem Sturz der Monarchie sah er keineswegs eine „Revolution der Besonnenen“ am Werk.21 Vielmehr war ihm die eigene Gegenwart mit einem Mal zu einer verwandelten Welt geworden. Was einst war, schien keinen Bestand mehr zu haben, an seine Stelle war eine „verkehrte Welt“ getreten.22 Alfred Döblin wird diese Zeitstimmung noch nach Jahren im Roman November 1918 durch die Figur des Oberleutnant Friedrich Becker zum Ausdruck bringen, der schwer verletzt nach Berlin zurückgekehrt, es nicht fassen kann, dass „das Reich, das deutsche Reich, der Rahmen unserer Daseins“ einfach nicht mehr ist. „Der Kaiser in Holland, der Kronprinz, alle Fürsten weg, und eine Meute von Menschen, die keiner kennt, sitzt an ihrem Platz – und wir, wie sollen wir das denken?“23 Wie sehr sich auch Tönnies eine ähnliche Verzweiflung wie Döblins Romanheld bemächtigt hatte, zeigt ein Brief vom März 1919 an seinen Freund Harald Høffding, in dem er sich an das Vorkriegsjahr 1913 erinnerte, als er nach Kopenhagen gereist war, um das 70. Jubiläum des dänischen Philosophen zu begehen: „Sechs Jahre sind vergangen, seit wir Ihren 70sten Geburtstag feierten – welche 6 Jahre! […] Trübsal hat sich doch lähmend und verdüsternd auf meine Seele gelegt. Ich werde mich in meinem Leben nicht völlig davon erholen.“24 Wie rasant sich vorher vorhandene Sinnstrukturen durch die Revolution verkehrten, wird vor allem an der aus den Fugen geratenen politischen Ordnung
18 Vgl. Fritz / Mikl-Horke (2007): Rudolf Goldscheid, S. 70. Siehe zu Goldscheid auch den Beitrag von Katharina Neef in diesem Band. 19 Notizkalender 1918, SHLB, TN, Cb 54:11.16. 20 Vgl. zur lokalen Situation in Eutin: Schütt (1975): Der Arbeiter- und Soldatenrat in Eutin. 21 Käppner (2017): 1918. Das Zitat ist dem Untertitel der Schrift entnommen. Für das vorangehende Zitat siehe Tönnies (1924): Zur Krise, o. S. 22 So der Titel von Martin H. Geyers Gesamtdarstellung über die Inflationszeit in München, siehe ders. (1998): Verkehrte Welt. 23 Döblin (2013): November 1918, S. 273. 24 Ferdinand Tönnies an Harald Høffding, 7.3.1919, in: Tönnies / Höffding (1989): Briefwechsel, S. 134.
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deutlich. Das wird bereits auf kommunaler Ebene greifbar, wofür Eutin ein gutes Beispiel ist. Als Tönnies am 4. November nach Kiel reiste, gehörte die Stadt noch zum Fürstentum Lübeck, einer östlichen Exklave des Großherzogtums Oldenburg. Am 8. November wieder in Eutin eingetroffen war es bereits Teil der Sozialen Republik von Oldenburg und Ostfriesland geworden und nur drei Tage später, nachdem Großherzog Friedrich August den Thronverzicht förmlich ausgesprochen hatte, war der Freistaat Oldenburg ausgerufen.25 Wäre es nicht zur Revolution gekommen, hätte man am 16. November den Geburtstag des Landesherrn gefeiert, ein Hinweis in Tönniesʼ Taschenkalender erinnerte noch daran, doch das war nun „vorbei“, wie Tönnies in Klammern hinter das Datum setzte.26 Zum Inbegriff für die „verkehrte Welt“ wurde aber, was die alten Gewalten ersetzt hatte, oder besser gesagt, was an ihre Seite getreten war: die Arbeiter- und Soldatenräte. Konflikte mit der von ihnen kontrollierten Verwaltung, Zensurmaßnahmen gegen die Presse, Lebensmittel- und Brennstoffkonfiskationen, an denen Räte beteiligt waren, brachten die revolutionären Organe in der bürgerlichen Öffentlichkeit in Misskredit. Vollends zum Feindbild wurden sie aber durch eine tiefsitzende „Chaos-Furcht“, die Revolution könnte am Ende zum Bolschewismus führen, wobei auch die Französische Revolution als Negativbeispiel beschworen wurde.27 Diese Bolschewismusfurcht gegen die zum alltäglichen Straßenbild gehörenden Räte mit ihren roten Armbinden und roten Flaggen war weit verbreitet. Sie ist nicht nur bei Alldeutschen und Konservativen, sondern auch im linksliberalen, ja selbst im sozialdemokratischen Lager anzutreffen. Wo steht dabei Tönnies? Tönnies steht auf eben demselben Standpunkt. In einem Schreiben an den Hamburger Schriftsteller Otto Ernst kritisiert er schon am 15. November den Rat der Volksbeauftragten, die neue provisorische Regierung aus SPD und USPD, die sich fünf Tage zuvor in Berlin gebildet hatte: „Die neuen Minister nennen sich – […] nach russischem Muster – Volksbeauftragte. Welches Volk hat ihnen Auftrag gegeben?!“ Diese ganze „Volksregierung auf Grund von Matrosen und Rekruten-Meutereien“, erklärt Tönnies weiter, sei ihm „zuwider“. Vor allem beunruhigte ihn die um sich greifende Verrohung der Politik und die gesunkene Hemmschwelle zur Gewalt. Aus dieser Perspektive schien es nur noch eine Frage der Zeit, bis Deutschland auf einer Spirale aus Revolution und Gegenrevolution in bürgerkriegsähnliche Zustände wie in Russland abgleiten würde. Sein düsteres Fazit lautete: „Die Erhebung der Maschinengewehre hat ja von vornherein allen künftigen Maschinengewehren Recht gegeben.“28 Die Ablehnung der Novemberrevolution war bei Tönnies neben der Furcht vor chaotischen Zuständen mit einer Fundamentalkritik am Bolschewismus verbunden. Diese Absage schöpfte sich aus gesellschaftstheoretischen Prämissen: So sah Tönnies in der Geschichte eine Entwicklungstendenz zu einer Demokratie mit starken 25 26 27 28
Vgl. Günther (1979): Die Revolution, S. 78–90. Notizkalender 1918, SHLB, TN, Cb 54:11.16. Schumann (2001): Politische Gewalt, S. 48. Ferdinand Tönnies an Otto Ernst, 15.11.1918, StaBi Hamburg, EN, Noe: Br: T3. Hervorh. im Original.
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sozialstaatlichen Elementen angelegt, die keineswegs notwendig eintreten müsse, der er aber, wie nicht eigens betont werden muss, den Vorzug vor anderen Entwicklungsrichtungen gab. Diese von ihm anvisierte soziale Demokratie, für die er den Begriff des „Sozialismus“ verwendete, sollte allerdings auf dem Wege einer friedlichen Aufwärtsentwicklung entstehen. Diese Entwicklungsrichtung hatte Tönnies auch seinem bereits 1887 erschienenen Hauptwerk Gemeinschaft und Gesellschaft unterlegt, indem er ihm den Untertitel „Abhandlung des Kommunismus und des Sozialismus als empirischer Kulturformen“ beigegeben und hierzu ausgeführt hatte, dass die „natürlich und (für uns) vergangene […] Konstitution der Kultur communistisch“ gewesen, wohingegen die „actuelle und werdende socialistisch“ sei.29 Vor diesem Hintergrund lässt sich auch ein Großteil seines Wirkens als politischer Intellektueller als Dauerappell für eine evolutionäre Demokratisierung durch vorsichtige Eingriffe in Gesellschaft und Staat begreifen, daher auch sein Engagement in der bürgerlichen Sozialreform und seine Nähe zur Sozialdemokratie.30 Dementsprechend schrieb er 1913: „Der Geburtsakt eines neuen Zeitalters hat schon begonnen. Gewaltsames Handeln würde ihn eher unterbrechen als fördern.“31 Der Erste Weltkrieg sollte diese Zukunftserwartungen für Tönnies erheblich eintrüben, wenn auch nicht gänzlich zerstören. Wie nachhaltig der Krieg und seine Folgen den Soziologen erschütterten, ist an einer Stelle seines Spätwerkes Der Geist der Neuzeit herauszuhören, die an die Rede vom Ersten Weltkrieg als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan) erinnert: „Für die ruhige Weiterentwicklung der Gesellschaft in den bisherigen Bahnen, die auf leidlich inneren Frieden beruhte, war der Ausbruch des Krieges eine ungeheure Störung.“32 Ein solcher durch den Krieg verursachter Störfaktor, wenn auch nicht der alleinige, war für Tönnies der Aufstieg des Bolschewismus, den er Anfang der 1920er Jahre in durchaus kritischer Absicht „Uebermarxismus“ nennen wird und dem er den „freien oder heterodoxen Marxismus“ gegenüberstellt, zu dem er sich vermutlich selbst gerechnet haben dürfte.33 Doch seine Kritik an den Bolschewiki war wesentlich älter. Schon unmittelbar nach der Oktoberrevolution avancierte er zu einem ihrer entschiedensten Gegner. Deutlich wird das an einem offenen Brief vom Februar 1918 an den ihm bekannten Stockholmer Bürgermeister Carl Lindhagen, einem
29 Tönnies (1963): Gemeinschaft und Gesellschaft, S. XXIV. 30 Betont sei aber, dass Tönnies diese Entwicklungstendenz nicht auf eine repräsentative Demokratie mit parlamentarischer Ausprägung hinauslaufen sah, wie auch seine Vorstellungen eines Sozialstaates durch ihre starken sozialistischen Elemente von heutigen Vorstellungen abweichen. Hieraus erklärte sich auch seine Distanz gegenüber der frühen Weimarer Republik. Siehe hierzu ausführlich: Wierzock (2017): Tönnies und die Weimarer Republik sowie ders. (2014): „Wart-Turm über den Parteien“. 31 Tönnies (1913): Entwicklung der sozialen Frage, S. 157. 32 Tönnies (2016): Geist der Neuzeit, S. 201. 33 Hierunter wollte Tönnies diejenige marxistische Strömung verstanden wissen, die „in der Theorie und in der Praxis den orthodoxen Marxismus“ à la Franz Mehring oder Karl Kautsky „überbieten will“. Siehe Tönnies (2005): Der Marxismus, S. 151. Hervorh. im Original. Zum „heterodoxen Marxismus“ ebd., S. 150. Hervorh. im Original.
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führenden Politiker der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Schwedens, der Lenin und die Bolschewiki in der von ihm herausgegebenen Zeitung Politiken unterstützte.34 Im April 1917 hatte Lindhagen sogar Lenin und seine Entourage auf ihrer Durchreise vom Schweizer Exil nach Russland in Stockholm äußerst medienwirksam einen öffentlichen Empfang bereitet und dabei eine Rede gehalten, bezeichnenderweise zum Thema: „Das Licht aus dem Osten“.35 Tönnies konnte Lindhagens Idealismus gegenüber dem neuen Russland unter bolschewistischer Führung nicht teilen. Die „Morgenröte eines neuen Zeitalters“ mit ihrem „frischen Duft der Jugend“ sei nicht zu verwechseln mit dem „Verwesungsgeruch der aus einem verfaulenden Staatsleichnam wie dem russischen aufsteigt“, brachte er seine Abneigung pathetisch auf den Punkt.36 Was in Russland zu beobachten war, reduzierte sich für ihn, nüchtern bilanziert, auf „eine Diktatur gegen den Willen der großen Mehrheit“. Die Praxis der Bolschewiki unter Lenin widersprach so ziemlich allen Reformvorstellungen von Tönnies, ja mehr noch, sie stellte eine potentielle Bedrohung für diese dar. Umso verständlicher sind seine Reaktionen auf den Ausbruch der Revolution in Deutschland, die ihm anfangs bolschewistisch beeinflusst schien.37 2. TÖNNIESʼ REAKTIONEN AUF DIE DEUTSCHE REVOLUTION „Wie geht es Ihnen sonst? Man hört jetzt so wenig von Ihnen“, erkundigte sich Bernhard Harms, der Direktor des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, im Dezember 1918 bei Tönnies.38 Harmsʼ Eindruck war nicht ganz unbegründet: Tatsächlich hatte die Lebensgestaltung seines Freundes unmittelbar nach dem Sturz der Hohenzollern-Monarchie zunächst etwas von einem Rückzug aus der öffentlichen Arena. Nimmt man nur das Jahr 1918, so hatte Tönnies bis zum Oktober über 30 Schriften verfasst, das meiste darunter Kriegspublizistik, aber auch einige wissenschaftliche Rezensionen, ein Nachruf auf seinen Lehrer Adolph Wagner und die kleine
34 Tönnies und Lindhagen hatten sich im Sommer 1917 in Stockholm kennengelernt. Vgl. Tönnies, Weltfriede und Volksfriede. Offener Brief an Herrn Bürgermästere Lindhagen in Stockholm, SHLB, TN, Cb 54.34:65, Bl. 1. 35 Vgl. zu Lenins Aufenthalt in Stockholm und zur Zusammenkunft mit Lindhagen: Service (2001): Lenin, S. 259 u. Merridale (2017): Lenins Zug, S. 226 u. 228. 36 Tönnies, Weltfriede und Volksfriede. Offener Brief an Herrn Bürgermästere Lindhagen in Stockholm, SHLB, TN, Cb 54.34:65, Bl. 33. Das folgende Zitat auf S. 30. Hervorh. im Original. 37 Zu dieser Einschätzung neigten natürlich auch andere Intellektuelle, so meinte Troeltsch im ersten seiner Spectator-Briefe, dass die „Organisation, die unzweifelhaft hinter“ der Revolution gestanden habe, zwar „noch unbekannt“ sei, zugleich machte er aber neben der USPD auch „die Russen“ verantwortlich, „eine große Rolle gespielt“ zu haben: Troeltsch (2015): Spectator-Briefe, S. 53. 38 Bernhard Harms an Ferdinand Tönnies, 28.12.1918, SHLB, TN, Cb 54.56:61.
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Monographie Menschheit und Volk.39 Diese schriftstellerische Produktivität endete im November 1918 abrupt und Tönnies äußerte sich zur Revolution zunächst nicht publizistisch. Anders als andere erfasste ihn nicht das von Getrud Bäumer diagnostizierte „Fieber der Organisation“, das sich allenthalben in immer neuen Intellektuellenzusammenschlüssen, Proklamationen und Kundgebungen aller Art manifestierte.40 An dem kurzlebigen von Walther Rathenau initiierten Projekt zur Bildung eines Demokratischen Volksbundes vom 18. November beteiligte er sich ebenso wenig wie an dem zwei Tage zuvor von Alfred Weber, Heinrich Herkner, Hugo Preuß und anderen unterzeichneten Aufruf, „aus dem Geist der Erneuerung“ eine „große demokratische Partei“ zu gründen;41 geschweige denn, dass er in irgendeiner Räteeinrichtung wie Max Weber, Hugo Sinzheimer oder Rudolf Goldscheid ein Amt ausgeübt hätte.42 Auch räumlich hielt sich Tönnies abseits und verharrte in der Kleinstadt Eutin, wo sein Alltag aus Besuchen im Bekanntenkreis, Spaziergängen mit der ältesten Tochter und der Arbeit an dem lange liegen gebliebenen Manuskript die Kritik der öffentlichen Meinung bestand.43 Einer aufsteigenden Kurve gleich lässt sich Tönniesʼ öffentliches Engagement im Winter 1918/19 begreifen: Von einem Tiefpunkt im November, in dem Tönnies publizistisch schwieg und stattdessen mit Briefen an politische Entscheidungsträger wie Albert Südekum, Wilhelm Solf, und Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau auf das politische Feld direkt einzuwirken versuchte, über den Dezember, als er angeregt durch Heinrich Cunow, dem Redakteur der Neuen Zeit, und Südekum, der Tönnies mit einer Flugschrift über den Gang der Revolution beauftragte, seine publizistische Tätigkeit wiederaufnahm, bis zum Frühjahr 1919, in dem er auf einmal mit dem Gedanken kokettierte, selbst in die Politik zu gehen.44 „Wäre ich 20 Jahre 39 Vgl. zu diesen Angaben Fechner (1992): Werkverzeichnis, S. 92–97. Siehe ferner Tönnies (2008): Menschheit und Volk u. ders. (1918): Adolph Wagner. 40 Bäumer (1918): Heimatchronik, S. 567 (Notiz zum 17.11.1918). 41 Vgl. o. A. (1918): Aufruf. Die Zitate stammen aus o. A. (1918): Die große Demokratische Partei, o. S. Das von Rathenau initiierte Projekt einer neuen Partei namens „Demokratischer Volksbund“ scheiterte relativ schnell, sodass er sich zunächst von der politischen Bühne zurückzog. Vgl. Hentschel-Fröhlings (2007): Walther Rathenau, S. 47–50. Zu Alfred Webers Rolle bei der Gründung der DDP siehe Demm (1990): Ein Liberaler im Kaiserreich, S. 256– 294. Zu Walther Rathenau siehe auch den Beitrag von Clemens Reichhold in diesem Band. 42 Max Weber fungierte als Vertreter der damals noch bestehenden liberalen Fortschrittlichen Volkspartei im Heidelberger Arbeiterrat, vgl. Brandt / Rürup (1991): Volksbewegung, S. 103. Der Rechtswissenschaftler Hugo Sinzheimer war während der Novemberrevolution in Frankfurt am Main vom lokalen Arbeiterrat zum provisorischen Polizeipräsidenten ernannt worden. Vgl. Lehnert (2015): Von der Liberaldemokratie, S. 23. Zu Goldscheid siehe oben Fn. 18. 43 Vgl. hierzu die November- und Dezembereintragungen in: Notizkalender 1918, SHLB, TN, Cb 54:11.16. 44 Albert Südekum, seit der Revolution mit der Leitung des preußischen Finanzministeriums betraut, beschwor Tönnies Anfang Dezember dabei mitzuhelfen, „die Frage der Konstituante mit ässerster Energie auf der Tagesordnung zu halten“. Eigens hierfür sollte Tönnies eine Broschüre verfassen, in welcher er den „soziologischen Nachweis“ erbringen sollte, dass Deutschland bald zu geordneten Verhältnissen zurückkehren müsse. Siehe Albert Südekum an Ferdinand Tönnies, 5.12.1918, SHLB, TN, Cb 54.56. Die Broschüre erschien Anfang 1919 in der
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jünger“, erwog er in einem Brief an Harald Høffding, „so hätte ich mich nun mit Eifer in die Politik gestürzt, nur um der Tätigkeit willen. Denn die rein theoretische Beschäftigung genügt mir jetzt nicht.“45 Doch es ist genau diese Einflussmöglichkeit als intellektueller Stichwortgeber und sein Urteil als (sozial-)wissenschaftlicher Experte und nicht die Chance aktiver Gestaltung innerhalb des politischen Betriebes, die Tönnies 1918/19 ergreifen und die ihn zu einem von verschiedenen Seiten gefragten Mann machen wird. Dabei fällt auf, dass Tönnies im Unterschied zu Troeltsch, der den Kunstwart und Kulturwart zum Sprachrohr seiner Spectator-Briefe auswählte, und auch anders als Max Weber, der die Frankfurter Zeitung regelmäßig zur Erörterung der zukünftigen Staatsform Deutschlands nutzte und dafür sogar zwischenzeitlich, um dem Redaktionsstab nahe zu sein, nach Frankfurt am Main zog, keine einzelne Zeitung oder Zeitschrift zu seinem bevorzugten Forum kürte.46 Die Artikel, mit denen er sich seit der zweiten Dezemberhälfte wieder Gehör verschaffte, erschienen breit gestreut in diversen Publikationsorgangen, von Leitmedien der politischen Debatte bis hin zur lokalen Tagespresse, was darauf schließen lässt, dass er ein größtmögliches Publikum erreichen wollte. So publizierte Tönnies im Welt-Echo, einer auflagenstarken illustrierten Wochenchronik des Ullsteinverlags, über die Volkskraft, einer mit dem Freidenkermilieu verbundenen Illustrierten, bis hin zur Neuen Zeit, dem wichtigsten Theorie-Organ der Sozialdemokratie.47 Ungeachtet dieser weitgefächerten Publizistik lassen sich die innenpolitischen Ziele von Tönnies gegen Ende des Jahres 1918 auf einen einfachen Nenner bringen: Ein Weitertreiben der Revolution sollte um jeden Preis vermieden und stattdessen soweit wie möglich Kontinuität gewahrt werden. In der Neuen Zeit vom 20. Dezember – in Berlin entschied gerade der Reichsrätekongress, das oberste Gremium aller Arbeiter- und Soldatenräte, über die Zukunft Deutschlands – erklärte Tönnies dementsprechend, der gegenwärtige politische Zustand sei nichts weiter als „ein Augenblicksgebilde“, nur dadurch „gerechtfertigt“, dass er den „zukünftigen Staat vorbereitet“, der, wenn auch seiner Form nach etwas Neues und noch nicht Dagewesenes, „dem vergangenen Staat seinem Inhalt nach sehr ähnlich“ sein werde. Mehr noch, er behauptete, dass dieser in jenem „wirklich fortdauer[n]“ werde.48
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Reihe „Zur Soziologie der politischen und wirtschaftlichen Umwälzung“ in Königsberg. Vgl. Tönnies (2011): Gang der Revolution. Südekum und Tönnies kannten sich persönlich sehr gut, da der Politiker in den 1890er Jahren bei Tönnies studiert hatte. Für nähere Informationen zum Verhältnis der beiden Männer vgl. Bloch (2009): Südekum, S. 35–44. Der neben Südekum bestehende Briefwechsel mit Brockdorff-Rantzau, seit 1919 deutscher Außenminister, und Solf, bis Dezember 1918 Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten erschließt sich über die November- und Dezembereintragungen in: Notizkalender 1918, SHLB, TN, Cb 54:11.16. Ferdinand Tönnies an Harald Høffding, 15.4.1919, in: Tönnies / Höffding (1989): Briefwechsel, S. 137. Für nähere Informationen über Troeltschs Beziehungen zum Kunstwart vgl. Hübinger (2015): Einleitung, S. 6–8. Die Angaben zu Weber nach Mommsen (2004): Max Weber, S. 327. Für einen Gesamtüberblick der 1918/19 publizierten Schriften von Tönnies vgl. Fechner (1992): Werkverzeichnis, S. 96–100. Tönnies (1918): Gegenwarts- und Zukunftsstaat, S. 265.
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Indem er den Staat der Zukunft zum Staat der Vergangenheit deklarierte, stufte er das aus der Revolution entstandene Rätesystem zwangsläufig zu einem bloßen Übergangsgebilde herab, einzig dazu da, um nach getaner Arbeit wieder zu verschwinden. Mit Argumenten wie diesem wollte er auf gemäßigte Linke wirken und sie dem Einfluss revolutionärer Erneuerungshoffnungen entziehen. Ihre Ideen werden „bei einem Teil der Parteigenossen einen gewissen Anstoß erregen“, meinte Heinrich Cunow, der Chefredakteur der Neuen Zeit, der aber insgesamt zufrieden war, hatte er doch Tönnies die Spalten des Blattes gerade deswegen geöffnet, um die „revolutionäre Bewegung in möglichst geordnete Bahnen zu lenken“.49 Ob aber bei der Lage der Dinge der von Tönnies ins Auge gefasste Zukunftsstaat Wirklichkeit werden würde, war in Wahrheit vorab nicht zu sagen, auch nicht, nachdem der Reichsrätekongress deutlich davon Abstand genommen hatte, eine sozialistische Republik auf Grundlage des Rätesystems zu errichten und stattdessen den 19. Januar 1919 als Termin für die Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung bestimmt hatte.50 Vor allem die sogenannten Weihnachtskämpfe von 1918, die zum Austritt der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) aus dem Rat der Volksbeauftragten führen sollten, ließen die Lage noch einmal völlig ungewiss und einen Bürgerkrieg als möglich erscheinen. Auch für Tönnies verhielten sich die Dinge so, wie er mit beträchtlicher Bitterkeit damals konstatierte: „Nun stehen wir ja vor dem Bürgerkriege. Daß er gestern Weihnachtsabend begonnen hat, ist leider offenbar. Das Jahr 1919 wird vielleicht noch das furchtbarste von diesen 6 Jahren.“51 Umso mehr galt es, diejenigen intransigenten Elemente, welche die Revolution weiter vertiefen wollten, verbal zu attackieren. Ähnlich wie Max Weber, der die Revolution einen „Karneval“ nannte und ihre Folgen öffentlich eine „heillose Dilettanten-Schweinerei“ schimpfte, zeigte auch Tönnies nur wenig Zurückhaltung bei seinen Angriffen.52 Er ging mit den Anhängern eines Rätesystems ebenso hart ins Gericht wie mit denjenigen, die zwar keine Räteordnung wollten, dafür aber eine großangelegte Sozialisierung der Wirtschaft anstrebten. Die einen waren ihm „gefährliche Russenschwärmer“, die anderen unverantwortliche Träumer, die wähnten, „man werde es so bequem haben, wie Köln zur Zeit der Heinzelmännchen“.53 Der Hauptfeind war ihm die USPD, die sich 1917 als links-zentristischer Flügel von der SPD abgespalten hatte. Sarkastisch hieß sie bei Tönnies nur der „von aller politischen Einsicht unabhängige Flügel der deutschen sozialdemokratischen Partei“.54 Ob nun Spartakisten, Unabhängige Sozialisten oder Syndikalisten, allen diesen radikalen Tendenzen stand Tönnies diametral gegenüber. Die grundlegende 49 Heinrich Cunow an Ferdinand Tönnies, 7.12.1918, SHLB, TN, Cb 54:56.215 sowie Heinrich Cunow an Ferdinand Tönnies, 28.11.1918, SHLB, TN, Cb 54:56.215. 50 Vgl. Kolb (2002), Die Weimarer Republik, S. 15. 51 Ferdinand Tönnies an Paul Natorp, 25.12.1918, UBM, NN, HS. 831:168. 52 Max Weber zit. n. Radkau (2013): Max Weber, S. 731. 53 Tönnies (2011): Gang der Revolution, S. 122 u. 134 (zuerst 1919). 54 Ders. (2002): Kritik der öffentlichen Meinung, S. 637 (zuerst 1922). Hervorh. im Original.
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Umgestaltung der Gesellschaft, die das erklärte Ziel dieser sozialrevolutionären Bewegungen war, erinnerte Tönnies an die Heilkunst des Doktor Eisenbart, einem Quacksalber des 18. Jahrhunderts, der das Fieber als Gesundungsprozess erkannt hatte und daraus folgerte, dass die Körpertemperatur erhöht werden müsste anstatt gedämpft zu werden.55 Diese Abwehrhaltung gegen allen Radikalismus ging bei Tönnies bis ins Persönliche. Als zum Beispiel einer seiner engsten Schüler, der Ökonom Kurt Albert Gerlach, im Verlauf des Jahres 1919 der USPD beigetreten war und er Tönnies beizubringen versuchte, dass er sich zu diesem Schritt verpflichtet fühlte, erklärte Tönnies, „dies richte eine Wand zwischen uns auf“ und beendete umgehend jeglichen persönlichen Umgang. Erst Monate später, nachdem sein Schüler Marie Tönnies, die Ehefrau des Soziologen, um Vermittlung gebeten hatte, sollte sich die Beziehung wieder normalisieren, ohne allerdings den früheren vertrauten Umgang wieder herzustellen.56 Ganz ähnlich kam auch das Verhältnis zu dem österreichischen Nationalökonomen Otto Neurath, ebenfalls ein Tönnies-Schüler, zum Erliegen. Waren die beiden Männer über Jahre freundschaftlich verbunden gewesen und hatten einander in Eutin und Wien mehrmals besucht, stellte Tönnies jeglichen Umgang mit Neurath ein, nachdem er erfahren hatte, dass sich dieser als Präsident des Zentralwirtschaftsrates an der kurzlebigen Ersten Münchner Räterepublik unter Ernst Toller beteiligt hatte.57 Nach jahrelanger Funkstille versuchte Neurath 1922 den Gesprächsfaden wiederaufzunehmen. Mehr als einmal hätte er sich in der letzten Zeit mit Tönniesʼ Schriften befasst, wodurch ihm ihre letzte Begegnung auf der von Eugen Diederichs organisierten Tagung auf Burg Lauenstein im Herbst 1917 wieder eingefallen sei: „Erinnerungen an Lauenstein tauchten auf, wo sich die halbe Münchner Räterepublik im Vorhinein versammelt hatte […]. Durch Lauenstein, wo ich Sie […] zum letzten Mal gesehen, wurde ich mit Toller bekannt, der mich wieder in München an Kurt Eisner brachte – kurzum die Welt ist ein sonderbares Gebilde.“58 Tönnies hätte hierauf den Kontakt zu Neurath erneuern können, der Weg dazu wäre offen gewesen, doch stattdessen beließ er angesichts der politischen Meinungsverschiedenheit das Verhältnis weiter im zerbrochenen Zustand.59 55 Vgl. Normannus (= Tönnies) (2015): Kritisches und Positives, S. 336 (zuerst 1920). 56 Vgl. Kurt Albert Gerlach an Marie Tönnies, o.D. [Juni 1920?], SHLB, TN, Cb 54.56:297. Dort auch das vorangehende Zitat. Kurt Albert Gerlach zählte einige Jahre zum engsten Kreis um Tönnies. 1912 hatte er bei der zweiten Auflage von Gemeinschaft und Gesellschaft an der Neukonzeption des Werkes mitgeholfen. Vgl. Tönnies (1963): Vorrede zur zweiten Auflage, S. XXXVIII. Für einige Angaben zu Gerlach, der 1922 als erster Direktor des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main auserkoren wurde, sowie zum Verhältnis zwischen Tönnies und Gerlach im Speziellen vgl. Siegfried (2004): Das radikale Milieu, S. 77–101. 57 Zu Otto Neurath und seiner Nähe zu Tönnies vgl. Sandner (2014): Otto Neurath, S. 42–53. Zu Ernst Toller siehe den Beitrag von Verena Wirtz in diesem Band. 58 Otto Neurath an Ferdinand Tönnies, 29.1.1922, SHLB, TN, Cb 54.56: 538–542. 59 Wie einem Vermerk auf Neuraths Brief zu entnehmen ist, antwortete Tönnies erst sechs Monate später am 21.7.1922. Da keine weiteren Briefe von Neurath im Tönnies-Nachlass vorhanden sind, lässt sich annehmen, dass Tönniesʼ Antwort nicht sehr freundlich ausgefallen sein dürfte. Vgl. ebd.
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Dieses energische Auftreten gegen die sozialrevolutionären Erneuerungshoffnungen ihrer Zeit, ob nun privat oder öffentlich, hatte bei Tönnies ähnlich wie bei Max Weber vordergründig mit der Einschätzung zu tun, dass Experimente wie eine umfassende Sozialisierung der Wirtschaft nicht zu paradiesischen Zuständen, sondern jetzt, nachdem Deutschland den Krieg verloren hatte, ein außen- und wirtschaftspolitisches Fiasko heraufbeschwören würden. Auf einer tieferen Ebene, bei den ganz persönlichen Überzeugungen, tat sich allerdings zwischen beiden ein grundlegender Unterschied auf; denn im Gegensatz zu Weber, der die alles erstickende Bürokratie einer sozialistischen Planwirtschaft und die damit einhergehende Negierung der individualistischen Natur des Menschen fürchtete,60 sah Tönnies in der aktuellen Entwicklung vor allem die Gefahr, dass das „sozialistische Experiment“, wie er im März 1919 prognostizierte, an dem „kranken, amputierten Körper der deutschen und österreichischen Volkswirtschaft ebenso wie das noch sinnlosere an dem russischen Leichnam, mit einer furchtbar schweren Niederlage des Weltsozialismus und ungeheurem Triumph des amerikanisch-japanischen Kapitals enden“ würde.61 Tönnies fürchtete also nicht den Sozialismus, ganz im Gegenteil, er zeigte sich besorgt, dass dessen weltpolitische Zukunft auf unabsehbare Zeit verspielt worden sei. Hierin liegt ein grundsätzlicher Unterschied zwischen den beiden bekannten Sozialwissenschaftlern, denn anders als Weber war Tönnies ein Sozialethiker mit weitreichenden gesellschaftspolitischen Ambitionen; nicht von ungefähr hatte Weber ja seinen Kollegen als eine „Tolstoj-Natur“, wenn auch nur der „Anlage nach“, bezeichnet.62 Wenn Weber allerdings 1918/19 Revolutionäre, Pazifisten und Anarchisten den „Weg Tolstois“ folgen sah und ihnen ihre an einem „Alles oder Nichts“ orientierte Gesinnungsethik zur Last legte, für die es entweder nur konsequente Weltflucht oder den Glauben an die Revolution gab, so hätte er sich mit Bezug auf Tönnies mit einer solchen Einschätzung zutiefst getäuscht.63 Vielmehr könnte man, um Webers Gegenüberstellung von Verantwortungs- und Gesinnungsethik kritisch abzuwandeln, von Tönnies als einem gesinnungsethischen Pragmatiker sprechen.64 Wer sein Verhältnis zu den nach dem Ersten Weltkrieg hervorbrechenden Gemeinschaftsidealen und ihren großen Neuordnungsentwürfen durchdekliniert, dem wird das sehr deutlich. 60 Vgl. Radkau, Max Weber, S. 733f. 61 Ferdinand Tönnies an Werner Sombart, 9.3.1919, GSPK, WSN, VI HA Nl Werner Sombart Nr. 9f. 62 Max Weber an Marianne Weber, 8.8.1908, in: Weber (1990): Briefe 1906–1908, S. 626. 63 Für nähere Erläuterungen zu Max Webers Tolstoi-Bild vor allem im Hinblick auf seine Gegenüberstellung von Verantwortungs- und Gesinnungsethik vgl. Edith Hanke (1993): Prophet des Unmodernen, S. 168–208. Das Zitat nach Mommsen (2004): Max Weber, S. 50. Zu Max Webers Menschen- und Persönlichkeitsbild im Hinblick auf die Novemberrevolution siehe den Beitrag von Christian Marty in diesem Band. 64 Gleichzeitig eine Anspielung auf einen bekannten Aufsatz Wolfgang J. Mommsens über Max Weber und Robert Michels, dem er im Untertitel „Gesinnungsethischer Fundamentalismus versus verantwortungsethischen Pragmatismus“ nannte. Siehe Mommsen (1988): Robert Michels und Max Weber.
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3. TÖNNIES UND DAS SPIELFELD DER GEMEINSCHAFTSIDEALE Im Herbst 1919 trat eine kleine Schar von Intellektuellen, darunter bekannte Schriftsteller wie Alfons Paquet und Martin Buber, aber auch Paul Natorp, der führende Kopf des Marburger Neukantianismus, mit einem Aufruf an das Proletariat öffentlich hervor. Dieser in der von Eugen Diederichs herausgegebenen Zeitschrift Die Tat abgedruckte, aber auch während Massenversammlungen der KPD in Frankfurt am Main verlesene Appell stand ganz im Zeichen einer zu errichtenden „lebendigen, schaffenden Tatgemeinschaft“. Ausgehend von der Feststellung, dass die alte Kulturordnung zusammengebrochen sei, wurde eine neue Gemeinschaft beschworen, die, einmal zur Wirklichkeit geworden, eine „edlere Kultur, als Gemeingut aller“ garantieren würde. Der Weg dahin sollte durch ein Bündnis aus Vertretern der Bildungsschicht, für die man zu sprechen vorgab, und Arbeitern, denen man „die Hand zur Kampfgemeinschaft“ reichte, beschritten werden. „Kampfgemeinschaft“ war überhaupt das Stichwort, denn um zu der politischen Neuordnung der Gegenwart zu gelangen, sollte zwangsläufig mit „der alten kapitalistischen Gesellschaftsordnung und mit den Mitteln des bestehenden politischen Betriebes“ gebrochen werden. „Politik im herkömmlichen Sinne, die alten Parteien und ihre Programme“, erklärte der Appel entschieden, „haben ausgespielt.“65 Der Aufruf an das Proletariat steht paradigmatisch für eine seinerzeit quer durch den Intellektuellendiskurs gehende Erneuerungssehnsucht, die insgesamt als ein komplexer Kreuzungspunkt aller möglichen Ismen begriffen werden kann, wobei der Rekurs auf die Gemeinschaft ein ihr charakteristischer Zug war. Unter Berufung auf die Gemeinschaft wurde an den Neuen Menschen, Einheit, Solidarität, Größe der Nation, Organisierung der Arbeit, Gemeinwohl und andere Werte appelliert. Zugleich war er ein Austauschbegriff; so gab es eine auffallende Tendenz, die Tönnies „wenigstens im Deutschen“ beobachtete, den Sozialismusbegriff, „dessen Sinn mit Zwang, Bureaukratie, Schematismus allzu eng verschmolzen ist“, durch „das Wort Gemeinschaft“ zu ersetzen.66 Gerade diese Unbestimmtheit machte den Gemeinschaftsbegriff, meist erweitert um den Zusatz Volk, zu einer zentralen politischen Integrationsformel.67 Nicht selten bezog man sich dabei auf Tönniesʼ Hauptwerk Gemeinschaft und Gesellschaft, welches bereits vor 1914 zwar nicht eine weit ausgebreitete, dafür aber eine intensive Wirkung auf zahlreiche Denker ausgeübt hatte. Nun aber, da Gemeinschaft „eines der magischen Worte der Weimarer Zeit“ wurde, um eine Formulierung Kurt Sontheimers aufzugreifen, wurde das Buch zu einem über das akademische Feld hinaus bekannten wissenschaftlichen Bestseller und Tönnies mit ihm
65 o. A. (1919): Aufruf an das Proletariat, S. 613–615. Hervorh. im Original. Für den Hinweis auf die KPD-Massenversammlungen vgl. Jegelka (1992): Paul Natorp, S. 161. Siehe zu diesem Aufruf auch den Beitrag von Albert Dikovich in diesem Band. 66 Tönnies (2002): Kritik der öffentlichen Meinung, S. 666. Hervorh. im Original. 67 Vgl. Wildt (2009): Die Ungleichheit des Volkes, S. 29–35 und Hardtwig (2013): Volksgemeinschaft im Übergang.
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zum vielleicht einflussreichsten deutschen Sozialwissenschaftler der Weimarer Republik.68 Dass der Erfolg von Tönnies aufs Engste mit der nach dem Krieg sonderbar zugespitzten Suche nach Gemeinschaft verbunden ist, wussten auch schon die Zeitgenossen. Alfred Meusel, ein Schüler von Tönnies, brachte das 1927 gut auf den Punkt: „Die Sehnsucht nach Gemeinschaft, die in unseren Tagen nicht nur in der Jugend mächtig ist, wenngleich aus ihren Reihen vor allem der Ruf nach Neuer Gemeinschaft erschallt, ist eine der Ursachen, die Tönniesʼ Werk […] in den breiten Strom der geistig kulturellen Bestrebungen gerissen hat.“69 Arriviertere Kollegen, wie der in Konkurrenz zu Tönnies stehende Kölner Soziologe Leopold von Wiese, sahen das in der Sache recht ähnlich, wenn auch weniger emphatisch. Die durch den Erfolg seines Hauptwerkes bedingte Stellung von Tönnies innerhalb der Öffentlichkeit erklärte Wiese dadurch, dass aus seinem Hauptwerk entlang der binären Ordnung „Gesellschaft = böse, Gemeinschaft = gut“ eine einfache Lehre zu ziehen sei, die „den Gemütsbedürfnissen und Grundstimmungen vieler Deutscher“ gerade jetzt angesichts der „neu erwachten sozialethischen Hingabe an die Gemeinschaft“ entsprechen würde.70 Tönnies begrüßte durchaus den Gedanken, eine Reintegration der Gesellschaft über eine Stärkung des Gemeinschaftsdenkens zu bewerkstelligen. Nicht von ungefähr sollte er 1922 die vierte und fünfte Auflage von Gemeinschaft und Gesellschaft der „schaffenden deutschen Jugend im Reiche und Österreich“ widmen und zugleich die Hoffnung aussprechen, dass das „sinnvolle Zusammenwirken einer neuen Generation, in Arbeit und Gedanken, das Verständnis für die soziale Baukunst“ befördern möge, „dessen die Volksgemeinschaft so dringend bedarf.“71 Ungeachtet dessen beobachtete er aber schon früh eine Hypertrophie des Gemeinschaftsdenkens, insofern sich solche Gegenentwürfe einer besseren Lebenswelt oft
68 Sontheimer (1962): Antidemokratisches Denken, S. 315. Was den Erfolg von Gemeinschaft und Gesellschaft anbelangt, ist eine Wirkungs- bzw. Rezeptionsgeschichte bis heute nicht geschrieben. Einige Umrisse bei Käsler (1991): Erfolg eines Mißverständnisses? 69 Meusel (1927): Fortschritt und soziale Entwicklung, S. 102. Hervorh. im Original. Für nähere Informationen zum Verhältnis zwischen Meusel und Tönnies vgl. Wierzock (2014): Tragisches Bewusstsein sowie Kessler (2016): Alfred Meusel, S. 22f. 70 Wiese (1926): Soziologie, S. 78f. Das erste Zitat nach: Ders. (1925): Tönniesʼ Einteilung der Soziologie, S. 450. Ganz ähnlich äußerte sich auch der Berliner Soziologe Alfred Vierkandt, um hier noch eines von unzähligen Beispielen anzuführen, der Tönnies und Oswald Spengler aufeinander bezog und eine Beeinflussung des letzteren durch den ersteren nahelegte. „Auch Tönnies hat […] bereits, wie es uns besonders seit Spengler geläufig ist, die antike Kultur neben die moderne gestellt und auf beide (d. h. auf ihre späte Epoche) den Begriff der Zivilisation angewendet. Auch er spricht nicht nur von einem Niedergang, sondern von einem Untergang der modernen Kultur. Freilich stellt er ihn nur als eine Möglichkeit hin. Denn er rechnet auch noch mit der Möglichkeit einer Rettung. […] Wir brauchen kaum ausdrücklich auszusprechen, welche große praktische Bedeutung in dieser Beziehung Tönniesʼ Werk zukommt. Heißt ja doch die große Sehnsucht unserer Zeit Rückkehr zur Gemeinschaft.“ Siehe Vierkandt (1925): Ferdinand Tönniesʼ Werk, S. 301f. Hervorh. im Original. 71 Tönnies (1963): Gemeinschaft und Gesellschaft, S. XLI. Die vierte und fünfte Auflage erschien 1922.
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in radikaler Rhetorik ohne konkrete Ziele und ohne Anknüpfung an gegebene Realitäten verlieren würden. Die „Wiederherstellung der Gemeinschaft ist: Schaffung einer neuen sozialen Grundlage, eines neuen Geistes, neuen Willens, neuer Sittlichkeit – läßt sich so etwas schaffen?“, fragte er 1919 in einem neuen Vorwort zur dritten Auflage von Gemeinschaft und Gesellschaft. „Das Unermeßliche der Aufgabe“, schickte er hinterher, „hat mir immer vor Augen gestanden, wie es heute mir vor Augen steht, da so viele glauben, die Stunde habe geschlagen, das Himmelreich sei nahegekommen“. Solche „chiliastischen Vorstellungen“ seien ebenso vergeblich, warnte er gewohnt plastisch, wie der „Versuch einer Dame“ mittels irgendwelcher „Zaubertränke sich eine neue Jugend anzuschaffen.“72 Die hier geäußerte Kritik an hochfliegenden, aber wenig realitätsnahen Gemeinschaftsentwürfen bekam auch der mit Tönnies eng befreundete Paul Natorp im Zusammenhang mit dem Aufruf an das Proletariat zu hören, bei dessen Ausarbeitung zunächst auch Tönnies mit involviert war. Noch im Frühjahr 1919 war er zusammen mit Thomas Mann, Ernst Troeltsch, Walther Rathenau und anderen auf einer Liste in Erwägung gezogener, möglicherweise aber auch in Aussicht gestellter Unterstützer zu finden.73 Dann allerdings, im Juni des Jahres, wurden sich Tönnies und Natorp über anzustrebende Ziele und anzuwendende Mittel uneins, sodass Tönnies letztlich den Aufruf nicht mitunterzeichnete. Ein zentraler Streitpunkt war, dass Natorp, stark beeinflusst durch die damals auf ihren Höhepunkt zustrebende Rätediskussion, eine Gemeinschaftsbildung durch die Rätebewegung verwirklichen wollte, was Tönnies aber kategorisch ablehnte. „Ich habe mit den Räten und allen Verfassungs-Idealismen nichts im Sinn! Es gilt, politisch praktisch zu verfahren, und anzuerkennen, daß das Proletariat nicht allein in der Welt ist“ und „in Wahrheit […] nur 1/3 des Volkes“ darstellt, hielt er seinem Freund entgegen.74 Als Natorp wenig später in der 1920 erschienenen Schrift Sozial-Idealismus die RäteIdee in Form „einer neuen, rein geistigen Ratsregierung“ in ein umfassendes Konzept des apolitischen Regierens einfließen ließ, war Tönnies irritiert.75 Noch 1924 zeigte er sich über diese Schrift in einem Nachruf auf den in diesem Jahr verstorbenen Freund verstimmt, wenn er sie als eine der „merkwürdigsten Früchte“ der Nachkriegszeit bezeichnete. Tönnies erinnerte daran, dass Natorp in dieser Zeit in der Jugend einige Anhänger gefunden habe, „[ä]ltere Freunde“, womit er sich selbst meinte, mussten sich dagegen „wundern über die neuen Töne seines Geistes.“76
72 Tönnies (1919): Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 253f. u. 256. Hervorh. im Original. 73 Zur Entstehungsgeschichte des Aufrufs, der vor allem ein Produkt des Sommerhalde-Kreises, benannt nach dem Gut Sommerhalde in Ludwigsburg am Bodensee, war, vgl. ausführlich Jegelka (1992), Paul Natorp, S. 158–164. Zu dieser Gruppe gehörten neben Natorp und dem bereits erwähnten Paquet, auch der Schriftsteller Wilhelm Schäfer und der Philosoph Eugen Herrigel. 74 Ferdinand Tönnies an Paul Natorp, 29.6.1919, UBM, NN, HS. 831:171. 75 Natorp (1920): Sozial-Idealismus, S. V. Zu Natorps politischen Neuordnungsplänen vgl. den Beitrag von Dikovich in diesem Band sowie zu den philosophischen Prämissen des Neukantianers den Beitrag von Karl-Heinz Lembeck. 76 Tönnies (1924): Zum Gedächtnis, S. 312.
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Dabei teilte Tönnies die Krisendiagnostik Natorps in wesentlichen Punkten. Wie für den Marburger Neukantianer hatte auch für ihn die deutsche Situation nach Kriegsende nicht nur politisch, sondern auch kulturell eine Zäsur offenbar gemacht. Die „schwere Not der Zeit“ ist „auch eine Seelennot“, heißt es entsprechend in einer Schrift von 1920.77 Ganz ähnlich führte er zwei Jahre später in der Kritik der öffentlichen Meinung aus, dass seit dem Weltkrieg „mit der modernen Kultur die gesamte Weltanschauung in eine schwere Krisis“ geraten sei. Bildlich sprach er von einem „gähnenden Abgrund“, der seit Jahrhunderten angewachsen, sich nun vor den Menschen aufgetan habe.78 Tönnies zeigte sich hier als Kulturkritiker, weshalb er ja auch keineswegs zufällig von seinen Zeitgenossen zusammen mit Oswald Spengler, Werner Sombart, Paul de Lagarde und anderen in eine Reihe gestellt wurde.79 Diese von ihm diagnostizierte Kulturkrise hatte nach Tönnies viele Gesichter: Die besinnungslos utopische Schwärmerei im linken Lager, die wachsende Anzahl an okkulten und pseudoreligiösen Sekten, die nach dem Krieg hervorbrechende Verschwendungs- und eine in allen Schichten zutage tretende Vergnügungssucht.80 Kritische Stimmen wie die von Tönnies waren kein Einzelfall. Vielmehr gehörten Klagen über den abrupten Wandel der kulturellen Mentalität zur Tagesordnung. Als besonders anstößig wurde die moderne Tanzmusik, das heißt Shimmy, Jazz und Foxtrott gesehen.81 Wie Troeltsch und andere stellte auch Tönnies hierzu kritisch fest, dass „eine leidenschaftliche Neigung zum Tanze […] nicht weniger bei den überwundenen als bei den siegreichen Völkern“ ausgebrochen sei.82 Dieser „moralischen Verlausung“, wie er es nannte, begegnete er mit der Forderung nach einer geistigen Umkehr, die aber nicht nur das Denken, sondern auch das Handeln der Menschen verändern sollte. Dafür wollte er aber nicht mit den in der Revolution entstandenen Räten herumexperimentieren. Schon im Juni 1919 hatte er Natorp deshalb gedrängt, es gehe jetzt, angesichts gesteigerter politischer Unsicherheit, vorrangig darum, „nicht Kartenhäuser oder Luftschlösser, sondern einen Tempel des Geistes und der Gesittung“ zu errichten.83Aber was bedeutete das für Tönnies konkret?
77 Ders. (2005): Neue Botschaft, S. 54. 78 Ders. (2002): Kritik der öffentlichen Meinung, S. 655. Dort auch das vorangehende Zitat. 79 Vgl. bspw. Boelitz (1925): Der Aufbau, S. 98 sowie Vierkandt (1925): Ferdinand Tönniesʼ Werk, S. 301f. 80 Vgl. Tönnies (2002): Kritik der öffentlichen Meinung, S. 655. 81 Vgl. Schivelbusch (2001): Kultur der Niederlage, S. 319f. 82 Tönnies (2002): Kritik der öffentlichen Meinung, S. 650. Dort auch das folgende Zitat. Zu kritischen Untertönen gegenüber dem modernen Tanzen bei Ernst Troeltsch, der im Februar 1919 aus der Hauptstadt Berlin berichtete, „vor allem wird, wo irgend möglich, getanzt – ohne Rücksicht auf die Kohlen- und Lichtnot“, siehe Troeltsch (2015): Spectator-Briefe, S. 60. Hervorh. im Original. 83 Ferdinand Tönnies an Paul Natorp, 29.6.1919, UBM, NN, HS. 831:171.
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4. PRAGMATISCH, HUMANISTISCH, SKEPTISCH: TÖNNIES EIGENE GEMEINSCHAFTSKONZEPTION Allen den Erwartungen, die darauf hinausliefen, Tönnies würde den diversen Ideenangeboten aus dem Geist der Gemeinschaft einen großangelegten Gegenentwurf zur Seite stellen, ließ er unerfüllt. Eigene schlüssige Angebote für eine politische, soziale und kulturelle Erneuerung entwickelte er nur sehr zurückhaltend. Es sind, wenn man alles zusammennimmt, nicht sehr viele Stellen, die Aufschluss darüber geben, wie er sich eine Stärkung der Gemeinschaft vorstellte und was er sich davon versprach. Aus diesen Äußerungen, die vor allem aus seiner Publizistik der frühen Weimarer Republik und aus den Vorreden zu Gemeinschaft und Gesellschaft stammen, lassen sich aber drei Punkte klar herauspräparieren: 1) Tönnies unterstellte das Gemeinschaftsdenken konsequent einem stärker praktischen Rahmen, in der Absicht es so auf Dauer zu stellen. 2) Ausgehend von solchen entwicklungsfähigen Prinzipien sollte eine geistige Erneuerung des Einzelnen ausgelöst werden. Sein Ziel war eine Veränderung des persönlichen Innenlebens: auf diese Weise sollte ein Neuer Mensch entstehen, den er sich einem sozialverpflichteten Individualismus folgend dachte. 3) Gleichzeitig dämpfte er übertriebene Erwartungen an eine umfassende Reintegration der Gesellschaft durch Gemeinschaftskonzepte, indem er deutlich machte, dass die Idee der Gemeinschaft in der langwierigen und letztlich unlösbaren Aufgabe einer Versittlichung der Gesellschaft und des Einzelnen in ihr, nicht mehr und nicht weniger, bestehen würde. Wenn Tönnies meinte, dass Gemeinschaftskonzepte, wollten sie mehr als ein bloßer Appell an das Gemeinwohl sein, mit entwicklungsfähigen Prinzipien verbunden sein müssten, dann knüpfte er zunächst an das an, wofür er vor und während des Krieges immer eingetreten war: eine umfassende Sozialreform.84 In einem 1922 in die neueste Auflage von Gemeinschaft und Gesellschaft eingefügten Zusatz heißt es hierzu, dass der „Ruf nach Gemeinschaft“ zwar „lauter und lauter geworden“ sei, dieser aber erst dann eine performative Kraft gewinnen könne, je weniger er aus „bloßen Geist eine messianische Hoffnung kundgibt; denn der Geist als besonderes Wesen ist nur im Gespensterglauben wirklich“.85 Entscheidend war für ihn, Gemeinschaftskonzepte mit praktisch-entwicklungsfähigen Prinzipien wie „der genossenschaftlichen Selbstversorgung“ zu verbinden, erst dadurch hielt er eine Moralisierung der Gesellschaft für effektiv möglich. Neben der Idee der Konsumvereine gehört hierher natürlich auch sein Engagement für die Bodenreform, das Volkshochschulwesen und die Reichsheimstätten, bloß um ein paar Beispiele zu geben. Flankierend hierzu trat für Tönnies der Staat, der von oben her durch die Gesetzgebung und durch vernünftige wirtschafts-, handels- und sozialpolitische Maßnahmen Bestrebungen wie die genossenschaftliche Kooperativbewegung unterstützen sollte. Hierbei ist auch darauf hinzuweisen, dass Tönnies im Rahmen eines imaginierten idealen Wesens des Deutschen nach dem Krieg dazu neigte, die 84 Vgl. Tönnies (2000): Sozialpolitik nach dem Kriege. 85 Ders. (1963): Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 203f. Das folgende Zitat ebd., S. 204.
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Staatsgesinnung als einen der eigentümlichen Vorzüge der deutschen Kultur zu überhöhen und in diesem Zusammenhang unter anderem von einem „gemeinschaftlichen Mitsinn“ des Staatsgedankens in Deutschland zu sprechen.86 Von diesem Ausgangspunkt aus hatte er im Frühjahr 1919, als sich die Hoffnungen auf einen Verständigungsfrieden erheblich getrübt hatten, sogar behauptet, dass es den Deutschen jetzt „bei Strafe des Untergangs“ obliegen würde, „im Widerspruch gegen die Weltgesellschaft“ sich „des Gedankens der Gemeinschaft“ anzunehmen und diesen „durch den gegebenen – modernen – Staat in die gegebene – moderne – Gesellschaft hineinzutragen“, was quasi einer Fortsetzung des Krieges der Geister gleichkam, in der aufgeladenen Atmosphäre des Jahres aber keine Besonderheit darstellte. Tönniesʼ Gemeinschaftskonzept aufgrund solcher Passagen auf die Forderung nach einem „Nationale[n] Staatssozialismus“ zu reduzieren, wäre aber irreführend.87 Tönnies dachte sich eine Rekonstitution der Gemeinschaft dagegen als ein komplexes Zusammenspiel aus wirtschaftlichen, politischen und geistigen Prozessen, das letztlich auch viele dezentrale Elemente enthielt. Auffallend ist, wie sehr er der geistigen Erneuerung des Einzelnen einen besonderen Platz einräumte – sie war Prämisse und Schlusspunkt zugleich. Alles hing miteinander zusammen: Das „Idealbild eines veredelten Menschentums“, so erklärte er 1919 als Antwort auf eine Rundfrage, wie die Volkskraft wieder gehoben werden könne, habe zur „Voraussetzung […] die veredelte menschliche Gemeinschaft“; allerdings sei dies nur in dem Maße möglich, „als der Mensch selber edler und besser“ werde. Und weiter: Ein „neues Geschlecht ist es, dessen wir bedürfen […]. Alle Mittel versagen, wenn die Menschen nicht die Anlagen, die Fähigkeiten, den guten Willen haben, um sich zu heben, um die Höhenluft eines neuen Menschentums zu atmen und zu genießen.“88 Diese also auch bei ihm wortwörtlich vorhandene Zielvision des Neuen Menschen verkörperte sich für Tönnies vor allem in der Tätigkeit der Genossenschaften, die er als einen Schulungsort praktischer Gemeinschaft par excellence ansah: Angefangen beim unmittelbaren Austausch von Arbeitserzeugnissen über den Einkauf von Waren für alle Mitglieder bis hin zur Verteilung nach Grundsätzen der Gerechtigkeit gipfelte die genossenschaftliche Idee für ihn in einem gemeinschaftlichen Füreinanderarbeiten.89 Diesen Gedanken übertrug er auch auf das Verhältnis des Einzelnen zum Staat. Die Angehörigen eines Staates oder einer Gemeinde vor Ort sollten lernen, sich selbst als Träger dieser Institutionen zu begreifen, was heute wohl als Erhöhung der politischen Teilhabe oder active citizenship bezeichnet 86 Ders. (1919): Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 255. Die folgenden Zitate auf S. 256. Hervorh. im Original. 87 Breuer (2006): Von Tönnies zu Weber, S. 278. 88 Tönnies (1919): Die Hebung unserer Volkskraft, S. 2. 89 Vgl. Ders. (1919): Ausblicke, S. 403. In dieser positiven Bewertung des Genossenschaftswesens traf sich Tönnies wiederum mit Paul Natorp, wie ja beide nicht zufällig im Verlauf des Jahres 1919 zusammen mit Franz Staudinger in der Öffentlichkeit für die Genossenschaftsidee eintraten. So zum Beispiel bei einer internationalen Tagung, welche die Abteilung der Liga für Völkerbund im August 1919 in Wetzlar organisiert hatte. Vgl. ebd.
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werden würde. Wenn Tönnies aber, wie während des Krieges geschehen, davon sprach, den Staat als „die Gesamtgenossenschaft“ in das Bewusstsein jedes Einzelnen zu rücken, war damit mehr als das gemeint.90 Vielmehr sollten Volk und Staat – hier zeigt sich Tönnies auch durch die Ideen von 1914 beeinflusst – nach Möglichkeit in eins fallen.91 Seiner Ansicht nach begünstigte die Dialektik des modernen Staates, der sich allmählich, wie er in Anspielung auf Friedrich Engelsʼ Anti-Dühring ausführte, von einer „Regierung über Personen“ zu einer „Verwaltung von Sachen“ verwandelt habe, diesen Prozess; wobei er zugleich einräumte, dass selbst in einer modernen Demokratie immer etwas von dem zurückbleiben werde, was der Staatsrechtlehrer Wilhelm Eduard Albrecht die „privatrechtliche“ Auffassung von Staat und Herrschaft genannt hatte.92 Deswegen begrüßte Tönnies auch das allgemeine Wahlrecht für Männer und Frauen und den Übergang zu einer parlamentarischen Republik als einen wichtigen Schritt auf dem Wege zu einem neuen Staatsund Gemeindebewusstsein, da durch den Wahlakt beide als „Erzeugnisse gemeinschaftlichen Volkswillens“ begriffen werden könnten. Ein Optimum war aber damit für ihn noch nicht erreicht. Im Gegensatz zu Max Weber, Hugo Preuß, Ernst Troeltsch, bloß um einige der Namen zu nennen, die 1918/19 entschieden für die parlamentarische Demokratie eintraten, hielt Tönnies bereits zu diesem Zeitpunkt eine Warnung für geboten: „Wie das innere Staatsleben einer modernen Demokratie zu ethisieren sei, ist ein unendlich schweres Problem, dessen ganze Größe zu erkennen, bisher wenige von denen, die jene Staatsform verherrlichen, sich bemüht haben.“93 Ausgehend von solchen Betrachtungen sollte er bald verstärkt auf einen noch weitergehenden direktdemokratischen Ausbau der Demokratie drängen, worauf hier aber nicht weiter eingegangen werden kann. Es genügt der Hinweis, dass er die Weimarer Republik an die Spitze derjenigen Staaten stellte, welche die Demokratie zur reinsten Ausprägung führen sollten.94 Neben der Wirtschaft und dem Staat eröffnete Tönnies noch eine dritte Ebene, von der eine Versittlichung der Gesellschaft zu Gemeinschaft ausgehen sollte: die des persönlichen Innenlebens des Einzelnen im Wechselverkehr mit seiner Umgebung, das heißt mit seinen Familienangehörigen, Nachbarn und Freunden. Wie hoch Tönnies von dieser zwischenmenschlichen Ebene dachte, zeigt ein um 1919/1920 ent90 Ders. (2000): Sozialpolitik nach dem Kriege, S. 576. Hervorh. im Original. 91 Während des Ersten Weltkrieges erfuhren die Genossenschaften, genauso wie die Gewerkschaften und andere Arbeiterorganisationen, eine Aufwertung als Musterbeispiele sozialer Integration. Vgl. Bruendel (2003): Volksgemeinschaft oder Volksstaat, S. 120f. In diesem Zusammenhang ist allerdings zu beachten, dass Tönnies die Genossenschaften nicht erst im Zuge der Ideen von 1914 für sich entdeckte. Bereits 1912 hatte er in die zweite Auflage von Gemeinschaft und Gesellschaft einen Zusatz eingefügt, in dem er die „Genossenschaft“ als „antipodische Bewegung“ hervorhob und ihr eine „Erneuerung des Familienlebens und anderer Gemeinschaftsformen“ attestiert. Siehe Tönnies (1963): Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 203. 92 Ders. (1918): Gegenwarts- und Zukunftsstaat, S. 268, der Hinweis auf Albrecht vgl. ebd. S. 267. Hervorh. im Original. 93 Ders. (1919): Die Hebung unserer Volkskraft, S. 2. Dort auch das vorangehende Zitat. 94 Vgl. hierzu ausführlicher Wierzock (2017): Die Ambivalenzen eines Republikaners, S. 76–79 u. Schlüter-Knauer (2014): Die kontroverse Demokratie.
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standenes unveröffentlichtes Manuskript im Tönnies-Nachlass, in dem er mit einem Konzept hervortritt, das er einen „stilleren Idealismus“ nennt und in dem er an dem Monismus sehr verwandte Ideen anknüpft. Biografisch gesehen ging er hierbei auf sein Engagement im Rahmen der Ethischen Bewegung zurück, dessen deutscher Ableger – die Deutsche Gesellschaft für Ethische Kultur – 1893 von ihm mitbegründet worden war. Zugleich lässt sich dieser stille Idealismus aber auch als Gegenposition zu Natorps Sozial-Idealismus begreifen, der umgekehrt, um dieses Kompositum zu erläutern, mit einem Idealismus operierte, den er als „das kühne Wagnis radikaler Umkehr“ oder „radikaler Erneuerung“ qualifizierte.95 Der von Tönnies vorgeschlagene stille Idealismus gab sich dagegen anti-radikal und sollte ausgehend vom Kreis der Familie und kleinen Gemeinden wachsen und auf höherer Stufenleiter die Idee einer allgemein-menschlichen Religion befördern helfen: „Das Zusammenleben selber, das tägliche Leben, muß mit einem stilleren Idealismus […] zugleich vertieft und erneuert [werden]. Eine Veredelung aller menschlichen Verhältnisse müßte daraus folgen, von der intimsten, der Ehe und Familie, bis zu den weitesten, allgemeinsten, die der Humanität sich eröffnen.“96 Bezugsunkt dieser Religion sollte nicht etwa das christliche oder irgendein anderes Glaubensbekenntnis sein, sondern vielmehr eine umfassende wissenschaftlich geläuterte Ethik. Diese Ethik würde dann nicht nur der Familie, der Erziehung des Einzelnen und der Pietät vor dem Hergebrachten eine Stütze sein, sondern „die Idee der geistig-sittlichen Wiedergeburt“ von unten her beleben. Bezeichnenderweise blieb dieses mit dem Titel Neue Botschaft überschriebene Manuskript zeitlebens unveröffentlicht, wahrscheinlich rechnete Tönnies damit, dass es ein ungehörter Appell bleiben würde. Dies hinderte ihn aber nicht, die darin entwickelte Idee einer neuen Menschheitsreligion andeutungsweise in seinen Schriften wieder und wieder unterzubringen. So etwa wenn er in der Kritik der öffentlichen Meinung vom „Parekletos, der berufen ist, alle zu stärken und zu fördern“, sprach, oder an anderer Stelle die Forderung erhob, „eine wahrere und weitere Weltanschauung“ auszubilden, die „von der Religion des Sohnes zur Religion des Geistes fortschreiten“ müsse.97 Wie schwer gesellschaftliche Einrichtungen zu verändern waren, darüber gab sich Tönnies als Soziologe keinen Illusionen hin. Bereits 1915 hatte er in einem Aufsatz, in dem er das Verhältnis zwischen „Gemeinschaft und Individuum“ näher analysierte, über den „sittlichen Idealismus“ – nichts Anderes machte ja die Gemeinschaftstheorie der Zeit aus – knapp bemerkt, dass er „einen ungewissen und unter regulären Bedingungen unwahrscheinlichen Faktor“ darstellen würde.98 Die Jahre von 1918 und 1919 gaben ihm persönlich wenig Anlass, an dieser 95 Natorp (1920): Sozial-Idealismus, S. III. 96 Tönnies (2005): Neue Botschaft, S. 28. Hervorh. im Original. Das folgende Zitat ebd., S. 61. Zur Entstehungsgeschichte dieses Manuskripts, das aus Anlass einer Preisaufgabe entstand, die der an der schottischen Universität St. Andrews eingerichtete Walker-Trust im Januar 1919 ausgeschrieben hatte, vgl. ausführlich Zander (2005): Editorischer Bericht, S. 614–628. 97 Tönnies (2002): Kritik der öffentlichen Meinung, S. 667 (Hervorh. im Original) und ders. (1924): Ferdinand Tönnies, S. 239. 98 Ders. (1926): Gemeinschaft und Individuum, S. 208 (zuerst erschienen 1915).
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Einschätzung etwas zu ändern, obgleich nun angesichts der einschneidenden politischen Ereignisse nicht mehr von regulären Bedingungen gesprochen werden konnte. Ausdrücklich warnte er 1920, die Vorstellung einer „Gemeinschaft harmonisch reich entwickelter Persönlichkeiten […] ist eine Erwartung überschwänglicher Art, die wir nicht hegen können, auch wenn wir auf Jahrtausende vorausblicken.“99 Man wird kaum fehlgreifen, wenn man Tönnies daher als einen nüchternen Gemeinschaftsdenker bezeichnet, mag er nun, wie Max Weber meinte, eine TolstoiNatur gewesen sein oder nicht. Sein Handeln beruhte wesentlich auf einer „pessimistischen Handlungsfähigkeit“, um einen Ausdruck des Soziologen Lars Clausen zu gebrauchen.100 Was diese Denkhaltung charakterisierte, war ein Pessimismus für die unmittelbare Gegenwart, der aber angesichts der immanenten Schranken der Realität trotzdem bereit war, an sozialen Idealen festzuhalten, selbst wenn zu erwarten war, dass alles Handeln entlang solcher Maximen auf lange Sicht folgenlos bleiben sollte. Ein längeres Zitat aus dem Jahr 1920 schildert sehr gut, vor welchem Erwartungshorizont, aber eben auch Menschenbild, Tönnies sein Handeln und seine Gemeinschaftskonzeption ausrichtete: [Ein] Ideal […] liegt nicht in den Wolken, sondern auf dieser höchst mangelhaften Erde, mitten unter Menschen, die auch in einer besseren Gesellschaftsordnung mehr oder minder eigennützig, habgierig, genußsüchtig bleiben werden; auch mehr oder weniger rechthaberisch, streitsüchtig, eigensinnig; unter denen es viele erblich Belastete, sonderbare Schwärmer immer geben wird, Narren und Bösewichte. Das Ideal verliert durch die Einsicht, daß aus diesen und vielen anderen Umständen auch im günstigsten Falle mannigfache Widerstände und Reibungen sich ergeben müssen, nicht an Wert; aber Lebensweisheit, die nach einem Ideale strebt, verliert diese Schwierigkeiten niemals aus den Augen. Einfältige achten solcher Schwierigkeiten nicht; sie wähnen, daß ihnen nur obliege, solche und solche Beschlüsse zu fassen, und das Endziel ist erreicht. Sie rechnen nicht mit der Natur der Dinge und nicht mit der Natur der Menschen.101
SCHLUSS: IM ANBLICK DER NATIONALSOZIALISTISCHEN VOLKSGEMEINSCHAFT Das von Tönnies anvisierte Gemeinschaftskonzept, um Anknüpfungspunkte an die Sozialreform bemüht, humanistisch ausgerichtet und machbarkeitsorientiert, spielte in der unübersichtlichen Gemeinschaftsdiskussion der Zeit trotz aller Bezüge auf ihn als Verfasser von Gemeinschaft und Gesellschaft eine nur marginale Rolle, sodass man einmal mehr von einem „Erfolg eines Mißverständnisses“ sprechen könnte.102 Vielmehr avancierte der Gemeinschaftsbegriff, ergänzt um den Zusatz „Volk“, zu einem zentralen politischen Fahnenwort der Weimarer Republik, das links wie rechts in der politischen Kommunikation als Verheißungsformel zur Massenmobilisierung verwendet wurde. So beschwor zum Beispiel die SPD im Görlitzer Parteiprogramm von 1921 eine „Kampfgemeinschaft für Demokratie und 99 100 101 102
Ders. (2005): Neue Botschaft, S. 61. Lars Clausen zit. n. Cornelius Bickel (1990): „Gemeinschaft“ als kritischer Begriff, S. 34. Normannus (= Tönnies) (2015): Kritisches und Positives, S. 341f. Käsler (1991): Erfolg eines Mißverständnisses?
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Sozialismus“ und die Zentrums-Partei schickte Wilhelm Marx, Paul von Hindenburgs Gegenkandidat bei den Präsidentschaftswahlen von 1925, gleich als zukünftigen „Präsidenten der Volksgemeinschaft“ ins Rennen. Seinen tragischen Höhepunkt erlebte der Begriff allerdings erst im Nationalsozialismus. Indem die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) sein Inklusionspotential für ihre nationale Erneuerung okkupierte und ihn radikalantisemitisch umprägte, entfaltete sie, wie Michael Wildt bemerkt hat, die in den Begriff eingelassenen „Antinomien“.103 Wenn auch insgesamt wohl weniger als während der Weimarer Republik, so bezog man sich auch nach 1933 auf Tönnies. Das reichte über den Reichspressechef der NSDAP Otto Diedrichs, der Tönnies schon 1934 in einer Rede vor der Kölner Universität für den Nationalsozialismus vereinnahmt hatte, bis zum Staats- und Völkerrechtler Ernst Wolgast, einem ehemaligen Schüler von Tönnies, der im selben Jahr seinem Handbuch zum Völkerrecht eine besonders bizarre Passage vorangeschaltet hatte: „Künftiger Zeit stehen […] zu ihren Ergebnissen unabhängig voneinander gekommen: Tönnies, der Denker, einer der grössten der letzten mindestens 400 Jahre, und Hitler, der Mann der Tat, der das Rad derselben mindestens 400, wenn nicht der letzten 1000 Jahre Entwicklung herzumwerfen unternimmt.“104 Tönnies, der 1933 im Zuge der Säuberungen der Universitäten aus dem Hochschuldienst entlassen worden war und alle Pensionsansprüche bis auf eine vorläufige Gnadenpension verloren hatte, reagierte auf diese ideologischen Vereinnahmungen selbstkritisch. „Einige sagen“, schrieb er im April 1934 an seinen ältesten Sohn Gerrit, „es sei der Erfolg meiner Theorie von Gemeinschaft und Gesellschaft, der in der N.-Ideologie vorliege, und es ist dafür einiger Grund vorhanden.“105 Vor diesem Hintergrund fragt man sich aus heutiger Sicht, warum Tönnies während des Aufstiegs der Nationalsozialisten, als er sich lautstark für die Republik und die Parteien der Weimarer Koalition einsetzte, nicht eine bewusste Klärung der politischen Implikationen seiner Begrifflichkeiten Gemeinschaft und Gesellschaft auf sich nahm, woran die NSDAP, angesichts der populären Stellung von Tönnies, wahrscheinlich nicht hätte einfach vorbeigehen können. In einer Rezension von Tönniesʼ Werk Fortschritt und soziale Entwicklung hatte der Soziologe Meusel 1927 die Frage an ihn gerichtet, ob der Übergang von Gemeinschaft zu Gesellschaft irreversibel oder ob das gegenwärtige Streben nach Gemeinschaft nicht vielmehr Anzeichen sei, dass ein neues Zeitalter bevorstehe, in dem ein Ausgleich von gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Werten erzielt 103 Wildt (2009): Die Ungleichheit des Volkes, S. 35. Dort auch die vorangehenden Zitate zur SPD und zum Zentrum, siehe ebd. S. 31f. 104 Wolgast (1934): Völkerrecht, S. 8. Otto Diedrichs hatte in seiner Rede ausgeführt, dass „Tönnies für die Wissenschaft klargemacht“ habe, was den „fundamentalen Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft“ ausmacht. Zusammen mit Immanuel Kant, Gottlieb Fichte und Rudolf Eucken figurierte Tönnies damit in einem pseudophilosophischen Potpourri, das Diedrichs als die „philosophischen Grundlagen des Nationalsozialismus“ beschwor. Siehe Dietrich (1935): Die philosophischen Grundlagen, S. 19. 105 Ferdinand Tönnies an Gerrit Tönnies, 20.4.1934, SHLB, TN, Cb 54.51:20.
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werden könne. Meusel wusste, dass Tönnies diese Frage trotz aller Andeutungen nie schwerpunktmäßig zu einem Aufsatz geschweige denn zum Gegenstand einer eigenen Schrift gemacht hatte. Aufgrund dieser Sachlage forderte Meusel klare Antworten: „Um so verdienstvoller wäre es, wenn der Autor, der der sozialen Sehnsucht seiner Zeit zur Klärung verhalf, indem er ihr eine Sprache gab, sich zum Problem der Rekonstituierung der Gemeinschaft äußern würde.“106 Doch Tönnies versagt sich der Aufforderung. Die Kategorien Gemeinschaft und Gesellschaft sollten „Grundbegriffe der Soziologie“ bleiben, so bezeichnenderweise der Untertitel des Buches seit der zweiten Auflage von 1912, alles andere hätte seiner Stellung als Soziologen schaden und ihn unweigerlich dem Vorwurf der Professoren-Prophetie aussetzen müssen. Als 1933 solche Betrachtungen bedeutungslos geworden waren, war es zu einer bewussten politischen Klärung des Gemeinschaftsbegriffs unter Inkaufnahme aller nachteiligen Konsequenzen für die reine Soziologie zu spät geworden. Was Tönnies blieb, war, den Nationalsozialisten fernzubleiben und sich gegenüber jedweden ideologischen Vereinnahmungen taub zu stellen. „Du hast recht darin“, schrieb er dazu 1934 an seinen Sohn, „eine Versöhnung von mir aus [ist] so gut wie unmöglich […]. Was für mich jeden Anschluss unmöglich macht, ist eben der schillernde und als solcher heuchelnde Charakter, dem in jeder Hinsicht das Programm und noch mehr die Handlungsweise dieser Leute von Anfang an angenommen hatte.“107 QUELLEN Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GSPK) – I. HA Rep. 76, Sekt. 9 Tit IV Nr. 22 Bd. 1. – Nl. Werner Sombart (WSN) Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek (SHLB) zu Kiel – Nl. Ferdinand Tönnies (TN) Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg (SUBH) – Nl. Otto Ernst (NOE) Universitätsbibliothek Marburg (UBM) – Nl. Paul Natorp (PNN)
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106 Meusel (1927): Fortschritt und soziale Entwicklung, S. 383. 107 Ferdinand Tönnies an Gerrit Tönnies, 20.4.1934, SHLB, TN, Cb 54.51:20.
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DIE MENSCHWERDUNG DES TRANSZENDENTALEN SUBJEKTS Neukantianische Menschenbilder Karl-Heinz Lembeck Der hier gewählte Titel – zur Menschwerdung des transzendentalen Subjekts – wirkt im Kontext von Untersuchungen zu den revolutionären Erneuerungshoffnungen von 1918/19 auf den ersten Blick vielleicht etwas speziell. Und das in doppelter Hinsicht: erstens in Hinsicht auf die Frage, was man denn mit Bezug auf sozialund politikphilosophische Probleme noch mit scheinbar überlebten Modellen transzendentallogischer Argumentation sollte anfangen können; und zweitens im Hinblick auf die beinahe schöpfungstheologische Konnotation der Rede von der Menschwerdung. Beide Spezialitäten jedoch lassen sich verständlich machen. Die erste zunächst mit einem schlichten Hinweis auf den Umstand, dass die Transzendentalphilosophie in der uns hier besonders interessierenden Epoche der Geistesgeschichte tatsächlich ein wichtiges, wenn nicht sogar dominantes Philosophiemodell darstellt, das ganz erheblichen Einfluss auf die politischen Debatten, namentlich auf solche mit sozialistischer Färbung, genommen hat. Und die zweite vermeintliche Spezialität wird verständlich, wenn man gesteht, dass die Rede vom „neuen Menschen“ offenbar zumindest eine Art ‚Rekreation‘ suggeriert, da das Neue auf der Basis des Alten erbaut zu werden pflegt. Fraglich ist nur, wie und zu welchem Zweck dies geschieht. Bereits mit Blick auf diese Fragen sollte sich also, wer nach Gestalten des „neuen Menschen“ sucht, zuvor darüber vergewissern, wie denn der „alte“ aussah. Und wenn der neue Mensch Gegenstand insbesondere philosophischer Erwägungen werden soll, so müssen sich eben solche Erwägungen der zuvor dominanten Gestalt widmen, in der der Mensch zur Sprache kommt, um die von dort ausgehenden Entwicklungen verständlicher zu machen. Welche philosophischen Motive also sind es, die im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert den Ruf nach einem ‚neuen‘ Menschen zu artikulieren helfen? Ich möchte mich zu dieser Frage hier beispielhaft einer Tradition des Denkens widmen, die prima vista dafür gar nicht geeignet scheint, die zu ihrer Zeit jedoch ebenso einflussreich wie systematisch umstritten war: der Transzendentalphilosophie spezifisch neukantianischer Provenienz. In einer kritischen Würdigung einschlägiger Protagonisten des Marburger Kantianismus – Hermann Cohen und Paul Natorp – kann man Nutzen und Nachteil des transzendentalen Gedankens für die Frage nach dem Menschen erörtern. Beides wird sich die Waage halten, darum sind
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auch keine Revolutionen zu erwarten, wenn es um subtile Versuche geht, eine auf den ersten Blick abstrakt wirkende transzendentalphilosophische Argumentation in dieser Richtung fruchtbar zu machen, ohne dabei in Anthropologismen abzurutschen. Mein Beitrag ist in vier Teile gegliedert. Im ersten Teil stelle ich einige Grundthesen des Neukantianismus vor, die die systematische Basis der weiteren Diskussionen bilden. Diese Voraussetzungen zeitigen im Zusammenhang mit unserer Frage nach der ‚Menschwerdung‘ des Transzendentalen sowohl geschichtstheologische wie sozialpädagogische Konsequenzen. Beide Richtungen bemühen sich in jeweils unterschiedlicher Form ein eigentlich altes Menschenbild zeitgenössisch fruchtbar zu machen. Mit beiden Modellen sollen sich die Teile zwei und drei beschäftigen. Der abschließende vierte und kürzeste Teil soll schließlich die Moral aus den Beobachtungen ziehen und diese unter dem Stichwort des ‚therapeutischen Sinns‘ von Philosophie zur Diskussion stellen. 1. DIE TRANSZENDENTALE FRAGE NACH LOGISCHEM UND ETHISCHEM SUBJEKT Der Neukantianismus, dessen Blütezeit vom Ende der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts bis etwa zum Beginn des Dritten Reiches reicht, fand seinen Namen und sein Selbstverständnis in der Rückbesinnung auf die kritische Methode Kants. Dieser Restaurationsversuch war gewiss auch vielfacher Kritik ausgesetzt, er wurde u. a. als „Kantomanie“1 oder „Autoritätsphilosophie“2 diffamiert. Entsprechend galt der Titel zeitweise sogar als Synonym für dogmatisches und unproduktives Philosophieren – durchaus zu Unrecht, wie man inzwischen wohl sagen darf. Die Transzendentalphilosophie, von der hier die Rede ist, fragt bekanntlich vor allem nach den logischen Bedingungen unserer Weltauffassung, die in Urteilsakten wirksam sind. ‚Transzendental‘ werden diese Bedingungen genannt, weil sie eben als subjektiver Ermöglichungsgrund für die Begegnung mit weltlicher Transzendenz, sprich mit objektiven Weltsachverhalten gelten. Die beabsichtigte Restauration des Kritizismus Kants drückte sich darum auch vor allem in einer Restriktion der Philosophie auf Erkenntnislogik aus. Gleichzeitig wurden die positiven Wissenschaften zur Ausgangsbasis der sogenannten „transzendentalen Methode“ erklärt. Deren Maßgabe bestand nämlich darin, dass man die bekannte Frage Kants nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrungsurteilen vornehmlich auf einen Urteilsbestand anzuwenden habe, der einen besonderen Anspruch auf Objektivität reklamieren durfte: auf das erfahrungswissenschaftliche, namentlich das naturwissenschaftliche Urteil. Die Wissenschaft – als Kulturfaktum rationaler Weltbeschreibung – galt gewissermaßen als die Vernunft im Großen. Erfahrung wird
1 2
Hartmann (1877): Neukantianismus, S. 26f. Wundt (1901): Einleitung, S. 267.
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derart mit wissenschaftlicher Erfahrung identifiziert und Erkenntnistheorie nahezu gleichbedeutend mit Wissenschaftstheorie. Es ist gewiss nicht ohne weiteres klar, wo in einer solchen, offenbar restriktiven Konzeption gleichwohl noch weltanschauliche oder politikphilosophische Motive irgendeine Rolle zu spielen vermögen. Denn immerhin stellt das logische Subjekt, das als vermeintlich „reines“ Subjekt Gegenstand der Analysen ist, eine seltsam artifizielle Größe dar, die sich den kontingenten, d. h. den historischen, sozialen, politischen Bedingungen des Menschseins zu verweigern scheint. Man erkennt hier darum auch den Grund für die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die Wissenschaften: denn das wissenschaftliche Erfahrungssubjekt hat vermeintlich den Vorteil, eben kein Mensch, sondern bloß Inbegriff methodisch disziplinierter Urteilsformen zu sein. Signifikant ist daher auch, dass sich die Transzendentalphilosophie in kantischer Tradition durchweg entschieden gegen psychologistische oder anthropologistische Lesarten ihrer Arbeiten verwahrt hat. Die Marburger Schuldoktrin rekurriert also auf die sogenannte „kopernikanische Wende“ in der idealistischen Philosophie Kants, wonach sich das Wissen der Menschen um die Verhältnisse in ihrer Welt nicht so sehr nach den Bedingungen dieser Welt, sondern umgekehrt diese Welt nach den Bedingungen der Möglichkeit objektiven Wissens um sie richtet. Denn das vermeintliche ‚Wunder‘, dass eine gegebene Wirklichkeit irgendwie im auffassenden Verstand repräsentiert sei, so dass dieser praktisch mit ihr umzugehen vermag, ist nur dann zu entzaubern, wenn man annimmt, dass die Ordnung, die wir in der Welt erkennen, sich als Ordnung eben aus den logischen Regeln unseres Erkennens und keineswegs aus den kontingenten Verhältnissen der Wirklichkeit selbst begründen lässt. Wir können in den Dingen nur erkennen, sagt Kant, was wir zuvor selbst in sie hineingelegt haben. Die Konsequenzen aus dieser Einsicht sind natürlich radikal. Der Erkenntnisgegenstand geht vollständig in den Funktionen des transzendentalen Subjekts auf. Dieses Subjekt aber ist eigentlich lebensuntüchtig, denn in ihm fließt kein Blut, sondern allenfalls „der verdünnte Saft von Denktätigkeit“, wie das bekannte Verdikt Wilhelm Diltheys gegen Kants Auffassung der sogenannten „reinen“ Vernunft lautet.3 Dennoch lassen sich aus der systematischen Philosophie der Neukantianer Konsequenzen ziehen, die sich auf das konkrete Selbstverständnis menschlichen Lebens auswirken mussten. Motive dafür finden sich namentlich dort, wo es um eine Verhältnisbestimmung der logischen zu den ethischen Ambitionen der Transzendentalphilosophie geht. Denn das fragliche Subjekt ist als erkennendes zwar vor allem logisches Subjekt, jedoch als handelndes ist es ebenso ethisches Subjekt, oder genauer: eben ein Mensch! Deshalb ist der Weg der Rekonstruktion eines transzendentalen Instituts mit menschlichem Antlitz ein Weg, der sich vor allem der Frage des systematischen Zusammenhangs zwischen Logik und Ethik zu widmen hat. Wie sieht besagter Zusammenhang nun aus, was eint das theoretische und das praktische Subjekt? Oder eben plakativer: wie lässt sich das transzendentale Subjekt zugleich als Handlungssubjekt, also als Mensch verstehen? Die Neukantianer
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Dilthey (1933): Einleitung, S. XVIII.
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entwerfen zunächst unterschiedliche Argumentationsstrategien dazu, die ich hier allerdings nur sehr verkürzt referieren kann. Die erste Strategie orientiert sich beim Versuch einer Zusammenbindung von Erfahrungslogik und Ethik am Freiheitsbegriff als tertium comparationis. In einem ersten Sinne taucht Freiheit bereits im Gebrauch der theoretischen Vernunft auf, nämlich dort, wo sie in der wissenschaftlichen Beschreibung der Natur als „Verständnishilfe“ benötigt wird, sobald die mechanisch-kausalistische Erklärung an ihre Grenzen stößt. Das ist offenbar in den sogenannten ‚Lebenswissenschaften‘ häufig der Fall. Dann sprechen wir so, ‚als ob‘ die Natur, namentlich die organische Natur, auch einer „Kausalität aus Freiheit“ folgen könne. Und zwar immer dann sprechen wir offenbar so, wenn wir ihr Zweckmäßigkeit unterstellen. Dieser erste Freiheitsbegriff kann freilich nur negativ, nämlich als Abwesenheit von Kausalzwängen verstanden werden. Er hat darum eigentlich noch nichts mit jenem Freiheitsgedanken zu tun, den wir in moralischen Angelegenheiten in Anschlag bringen müssen. Im praktischen Sinne ist nämlich ein positiver Freiheitsbegriff gefordert, der Autonomie des Willens meint und damit die Fähigkeit „zur Selbstgesetzgebung aus Vernunft“, wie es bei Kant heißt. Da diese Äquivokation im Begriff der Freiheit aber zur Verhältnisbestimmung zwischen Erfahrungs- und Handlungslehre offenbar wenig beiträgt, sondern (wohl bis heute!) eher Verwirrung stiftet – jedenfalls solange das Verhältnis beider Freiheitsbegriffe zueinander ungeklärt bleibt –, findet sich noch eine zweite Strategie, die Beziehung von Logik und Ethik begründungstheoretisch herzuleiten. In diesem Falle bildet das tertium comparationis die transzendentale Methode der Philosophie selber, die sich an der Wissenschaft als beispielhafter Form von Vernunftleistung orientiert. Im Falle der theoretischen Vernunft ist damit die mathematische Naturwissenschaft angesprochen, im Falle der praktischen Vernunft – die Rechtswissenschaft. Bei unterschiedlichen Themenfeldern eint beide Wissenschaftstypen der Umstand, dass sie ihre Gegenstände selbst erzeugen, nämlich einerseits nach jenen konstitutiven Regeln der Vernunft, die sich kategorial am augenfälligsten in den Naturgesetzen auswirken, andererseits nach den regulativen Prinzipien eines Sollens, die an der Idee der Menschheit, Zweck an sich selbst zu sein, orientiert sind und gelingendenfalls in den kanonischen Regeln einer Rechtsgemeinschaft zum Ausdruck kommen. Die Regie führt in beiden Fällen die nach Kategorien und Grundsätzen operierende Vernunft. Doch auch diese Strategie hat offensichtlich ihre Schwächen. Denn ähnlich, wie sie die Logik zur Wissenschaftstheorie verkürzt, erklärt sie die Ethik in letzter Konsequenz zu einer Art Rechtsphilosophie. Und damit wird insbesondere der strikt normative Charakter ethischer Regeln auf faktisch geltendes Recht zurückgeführt. In dieser Argumentation ist somit ein rechtspositivistisches Denken wirksam, für das das Kantische Selbstzweckmotiv als begründungsphilosophische Basis kaum hinreicht. Denn das dürfte man wohl nur annehmen, wenn man zugleich der Meinung wäre, dass die vorliegende Sittengeschichte der Menschheit, in ihren Kristallisationsformen Staat und Recht, der praktische Reflex dessen sei, was man vielleicht als Fortschritt einer universalen Vernunftgeschichte bezeichnen könnte. Dann wäre der Positivismus des Rechts eben Ausdruck einer Art teleologischen
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Vorsehung und also normativ legitimiert. Und tatsächlich ist das die Auffassung zumindest Hermann Cohens: da auch die je historischen Formen der Sittlichkeit sich ihm zufolge der erzeugenden, sinnstiftenden Kraft der Vernunft unter der leitenden Maxime der regulativen Idee der Freiheit verdanken, ist Kants Antinomie von Kausalität und Freiheit ihm zufolge als „geschichtliche Antinomie“ zu lesen,4 die – wie wir schon von Hegel wissen – immer wieder und immer mehr in die Richtung der Freiheit und damit in die Richtung der Selbstverantwortung der Vernunft geht. Wenn daher das Faktische am Ende (etwa im positiven Recht) normativ wird, dann – weil es vernünftig ist! So liest Cohen schließlich Hegels Satz von der Vernünftigkeit des Wirklichen, dessen umgekehrte Version er als Gebot formuliert: „Was vernünftig ist [...], soll wirklich werden“.5 Soweit zunächst zur aporetischen Vorgeschichte; es folgen nun aber Konsequenzen daraus, die uns hier näher interessieren könnten. 2. PHILOSOPHEN SIND DIE BESSEREN PROPHETEN – COHENS BEGRÜNDUNGSVERSUCH Die These lautet also: Die Geschichte ist Geschichte der Vernunft, die sich am Maßstab der Idee der Humanität entwickelt. Mit eben dieser Idee ist die transzendentale Seite des Menschen angezeigt. Aber wieso ist das so? Worin liegt der „Ursprung“ der sittlichen Vernunft, der den „Zweckvorzug der Menschheit“, von dem Kant spricht, überhaupt gewährleistet? Anders als Kant, der diesen Gedanken mit dem „Faktum der praktischen Vernunft“ bloß konstatiert, sucht Cohen nach einer Herleitung, die sich philosophisch aber durchaus als problematisch erweist. Denn er sucht die angebliche Begründungs-„Lücke“ im kantischen System mit der Inanspruchnahme einer theologischen Perspektive zu schließen. Darin wird Gott als die oberste „sittliche Gedankenform“ zum Garanten der Ewigkeitsgeltung des Sittengesetzes.6 Um hier aber sogleich ein naheliegendes Missverständnis abzuwehren: Mit dieser neuen Strategie wird die Rolle der Vernunft in der Welt der Menschen keineswegs sabotiert. Denn der Gottesbegriff wird hier weder als metaphysisches noch als Glaubensproblem ins Feld geführt. Gott behält vielmehr als ein „Problem [...] der sittlichen Erkenntnis“7 den Status einer Idee. Genauer: der Schöpfergott des Alten Testaments wird zum Ausdruck jener unendlichen Idee, derer die Vernunft angeblich bedarf, wenn sie dem Gedanken sittlicher Freiheit Realität verschaffen will. Die Freiheitsannahme nämlich verlangt vom Menschen sich unter den endlichen Bedingungen seines Handelns unendlich verantworten zu können. Schon Kant wusste um die Herausforderung dieses Gedankens, der dem Menschen das ungeheure Ziel vollkommener „Heiligkeit“ unterstellt, ihm zugleich jedoch die not4 5 6 7
Cohen (1920): Kants Begründung der Ethik, S. 505. Ders. (1981): Ethik des reinen Willens, S. 331. Ebd., S. 432, vgl. auch S. 439, 446, 450. Ebd., S. 455.
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wendigen Bedingungen dafür verwehrt, dieses Ziel auch erreichen zu können. So muss der Mensch sich solcher Bedingungen im Modus eines ‚als ob‘ vergewissern: Er muss, wo er handelt, so tun, als ob er frei sei (was er unter empirischer Perspektive auch nach Kant eben nicht ist); andernfalls aber könnte der Mensch gar nicht handeln. Er muss, wo er sittlich handelt, so tun, als ob er einer unbedingten Verantwortung genügen könnte (was jedoch, so Kant, schon die irdische Bedingtheit des menschlichen Lebens verhindert); weshalb dann die Idee der Unsterblichkeit der Seele hier fiktiv Abhilfe schafft. Denn was hienieden nicht gelingt, von dem müsste man wenigstens annehmen dürfen, dass es, gewissermaßen in the long run, im Jenseits gelinge. Und schließlich muss der Mensch so tun, als existiere ein Gott, der als Garant für all diese Verhältnisse diene, in welchen die Vernunft unter historischen Bedingungen Überhistorisches leistet. – An dieser Stelle steht dann bei Kant der berühmte Satz, die Philosophie habe das Wissen kritisch aufzuheben, „um zum Glauben Platz zu bekommen“.8 Gott ist also als ein der Vernunft immanentes Prinzip gedacht, weshalb sein Transzendenzanspruch allerdings auch nur von methodischer Bedeutung ist.9 Er ist daher auch nicht personal gedacht; denn wenn er Person wäre und als Person die Sicherung des Guten verbürgte, so würde damit unvermeidlich der Grundbegriff freier sittlicher Selbstbestimmung tangiert.10 Daher bietet es sich für Cohen an, Gottesfrage und Religiosität konsequent in die spätjüdische Vorstellung von der absoluten Namenlosigkeit Jahwes einzubinden und sie zugleich an einen Freiheitsbegriff zu koppeln, der der rationalistischen Tradition der Aufklärung entstammt. Du sollst Dir kein Bild machen, lautet die Aufforderung von der einen Seite – Du sollst wissen, dass theoretische wie sittlich Erkenntnis niemals Abbilder der Wirklichkeit liefern können, sondern ewige Aufgaben bleiben, lehrt die andere. Was gewinnt das Verhältnis von theoretischer und praktischer Vernunft nun also mit Rücksicht auf diese Gottesidee? Dem Anspruch nach recht viel; denn Gott verbürgt nicht nur die Ewigkeit der Sittlichkeit, sondern auch den Bestand der Natur gemäß den logischen Grundlagen der Naturerkenntnis. Genauer gesagt leisten dies die mit der Gottesvorstellung verbundenen Begriffe der Schöpfung und der Vorsehung. Ihre Bedeutung harmonisiert den ursprünglichen Widerstreit von Naturkausalität und sittlicher Freiheit. Denn Schöpfung besagt nicht in erster Linie Schöpfung der Natur, sondern zunächst und vor allem: Schöpfung des Menschen. Und zwar Schöpfung nach dem Bilde Gottes; und eben mit diesem Modell sei, so Cohen, das Zusammenspiel von theoretischer und praktischer Vernunft gemeint, das den Menschen hervorhebt, das ihn „wie Gott“ sein lässt: „wissend um Gutes und Böses“, wie es in der Genesis (Gen. 3,5) heißt. Oder kurz: „Die Schöpfung des Menschen muss die Schöpfung seiner Vernunft bedeuten.“11
8 9 10 11
Kant, KrV, Vorrede, B, XXX. Cohen (1981): Ethik des reinen Willens, S. 465. Ebd., S. 454; vgl. schon ders. (1924): Jüdische Schriften, 136f., S. 157. Cohen (1919): Religion der Vernunft, S. 101.
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In seinen beiden religionsphilosophischen Spätwerken gründet Cohen den „Ursprung“ der sittlichen Vernunft schließlich vollständig in der göttlichen Offenbarung.12 Die Offenbarung stellt die Vernunft des Menschen in ein unbedingtes Verhältnis zum Ewigen.13 Dieses Verhältnis äußert sich in der göttlichen Verheißung einer messianischen Zukunft der Menschheit, die zu erreichen jedoch in die sittliche Verantwortung des Menschen selbst fällt. Das Gottesreich ist messianische Zukunft; sofern es jedoch im sittlichen Handeln auch erstrebt wird, ist es bereits Gegenwart. Das Gottesreich ist daher keine eschatologische Vertröstung, sondern Ausdruck einer sittlichen Wirklichkeit, die sich um der Menschheit willen an Gottes Gesetze gebunden weiß.14 So erscheint bei Cohen der jüdische Messianismus als Legitimation einer an Kant orientierten Moralphilosophie. Das Recht der kritischen Ethik wird durch die Zurückführung ihres Anspruches auf einen unmittelbar göttlichen Ursprung begründet.15 Der prophetische Messianismus fordert nämlich die Realisierung der sittlichen Vernunft ein, die an der Idee der Humanität orientiert ist. Diese Idee aber erwächst ihr aus der Offenbarung des Einen Gottes, nach dessen „Vorbild“ die Einheit der Menschheit das ewige Ziel bildet. Der Messianismus ist deshalb die „Konsequenz des Monotheismus“.16 Doch nicht nur das ideale Ziel, sondern auch der Weg, dieses Ideal in die Wirklichkeit einzubringen, ist vorgezeichnet durch die mosaische Offenbarung der „Satzungen“, „Rechte“ und „Gesetze“ Gottes: „Wir dürfen behaupten,“ so Cohen, „dass die sittlichen, die rechtlichen, die politischen, die sozialen Grundlagen der menschlichen Gesittung in [den] Kapiteln 12 bis 28 des Deuteronomiums niedergelegt sind“,17 sprich in den 10 Geboten! – Demnach liegt bereits in Gottes Gesetzgebung eine Rechtfertigung dafür, dass schließlich, wie wir gesehen haben, die Rechtswissenschaft zum „transzendentalen Faktum“ der Moralphilosophie avancieren kann. Eine fundamentalere Argumentation lässt sich kaum denken. Interessant an dieser Adaption des jüdischen Messianismus ist nun vor allem aber die Selbstverortung der Philosophie im Kontext der Erlösungsgeschichte. Zwar ist die Offenbarung mit ihren überhistorischen Ansprüchen im Kern nicht historisch bedingt. Jedoch hat sie Satzungscharakter für die sittliche Vernunft und verlangt dementsprechend nach permanenter Zustimmung. Die Offenbarung begründet daher als die „Fortsetzung der Schöpfung“ des Menschen eine historische „Kontinuität“ und stiftet so in der Form der „Realisierung der Sittlichkeit auf Erden“ eine Art Erlösungsgeschichte.18 Schöpfung ist historisches Geschehen, die Geschichte der Menschheit gründet unmittelbar in der Vorsehung Gottes, und die Welt des Menschen, das Milieu seines Handelns, wird zur Welt sittlicher Zweckbestimmung. 12 13 14 15 16 17 18
Vgl. ders. (1915): Begriff der Religion sowie ders. (1919): Religion der Vernunft. Vgl. ders. (1919): Religion der Vernunft, S. 83, 96f. Vgl. ebd., S. 360f. Ebd., S. 24: „Der Messianismus [...] bedeutet schlechthin die Herrschaft des Guten auf Erden.“ Ebd., S. 297, vgl. 24, 306, 341f., 380, 463. Ebd., S. 90. Ebd., S. 82, 78, 174.
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Im Leben der sittlichen Vernunft auf Erden äußert sich demnach jene „Tendenz zur Ewigkeit“, in welcher schließlich der eigentliche „Grund und die Gewähr“ des geschichtlichen Geschehens überhaupt liegt. Kurzum: Menschengeschichte ist unendliche Realisierungsgeschichte der Idee der Humanität, weil die Entwicklung der Menschheit und die darin herrschende „Einheit der Sittlichkeit“ mit der „Einzigkeit“ des Schöpfergottes korreliert. Insofern liegt im Monotheismus nach Cohens Überzeugung „der wahrhafte Trost der Geschichte“.19 Diesen Gedanken einer ewigen Realisierungsgeschichte der Humanität erstmals gedacht zu haben ist nun aber nach Cohens Verständnis die besondere Leistung der idealistischen Philosophie. Zwar haben die messianischen Propheten diese Vorstellung einer „Zukunft der Menschengeschichte“ zuerst entwickelt; sie sind deshalb sozusagen „die Idealisten der Geschichte“.20 Dieses Aperçu wird aber erst interessant, wenn man es umkehrt: Die „echten“ Idealisten, die wissenschaftlichen Philosophen also, sind nunmehr ihrerseits die wahren Propheten der Menschheit. Der idealistische Philosoph ist also der bessere Prophet: Er verkündet den neuen Menschen, der ein neuer ist, weil er nunmehr darum weiß, dass die „wissenschaftliche Wahrheit“ Gottes in der Gestalt der unendlichen Idee der Humanität auftritt. Damit wird von jetzt an eine doppelte „Buchführung“, nämlich je in theologischer und philosophischer Sprache, vermeidbar.21 Philosophie wird zum eminenten Ausdruck der Schöpfungsgeschichte des Menschen. Was ein solch großer Gedanke für die Philosophie bedeutet, kann man sich vorstellen; aber was bedeutet er für den Menschen? 3. TRANSZENDENTALES IDEAL DER HUMANITÄT UND SOZIALPÄDAGOGISCHE PRAXIS Es ist nun an Natorp, dem jüngeren Marburger Kollegen Cohens, diese schöpfungstheologische Legitimation des humanistischen Idealismus, der die ‚Logik des Denkens‘ und die ‚Ethik des Willens‘ in einem seinerseits zur Schöpfung humaner Wirklichkeit berufenen neuen Menschen vereinigt sieht, in säkularer Fassung fruchtbar zu machen. Natorp teilt die messianische Pointe des transzendentalphilosophischen Heilsdenkens freilich nicht, obgleich er die Bedeutung des Judentums für die Entwicklung der Geschichte der Menschheit hoch schätzt.22 Cohens Ausführungen stehen ihm jedoch zu sehr im Schatten der Strategie einer Ethisierung der Religion, womit sie der Religion sui generis nicht gerecht werden.23 Jenes Ideal jedoch, das wir als den Zweckvorzug der Menschheit kennen, und für das bei Cohen die geschichtstheologische Begründung geliefert werden soll,
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Ebd., S. 297, 98, 184. Ebd., S. 305f. Cohen (1984): Einleitung, S. 107f. Vgl. Natorp (1920): Hoffnungen und Gefahren, S. 53f. Vgl. ders. (1918): Hermann Cohens philosophische Leistung, S. 35f.
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wird allerdings der Sache nach von Natorp geteilt; ebenso wie die damit verbundene Vorstellung, die Idee einer Einheit des Menschengeschlechts sei vor allem als Aufgabe zu verstehen, an deren Erfüllung nicht zuletzt die Philosophie zu arbeiten habe. Hierin lässt sich Natorp zufolge dann gewiss auch der „überendliche“ Sinn der Religion verorten, jedoch nicht als „abstrakte Spekulation“, sondern als „Sache des Lebens und der Tat“.24 Die Transzendenzreligion wird gegen eine Immanenzreligion ausgetauscht. Deren Praxis erschöpft sich in der unbedingten Befolgung der sittlichen Aufgabe der Selbstgestaltung. Ihr ‚Gott‘ ist somit der Mensch bzw. das, was dieser als sittliches Wesen sein soll. Für derlei ‚religiöse‘ Praxis bedarf es dann aber weniger prophetischer als pädagogischer Expertise. Daher betont Natorp den pädagogischen Sinn der Philosophie, der in der schon besprochenen Konvergenz von Logik und Ethik mitzudenken sei. Oder anders: der transzendentale Charakter des sittlichen Subjekts ist nicht nur als permanente Verpflichtung zu verstehen, Humanität zu leben, sondern zugleich als Aufgabe, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass die Menschen solcher Verpflichtung überhaupt nachkommen können. Denn allein mit Kant zu postulieren: Du kannst, weil Du sollst25 – ist da wenig aussichtsreich. Vielmehr ist die Rigidität der Pflichtethik in eine Form lebbarer Tugendethik zu transferieren. Und eben dafür gilt es nun konkret zu werben. Der Messianismus muss gewissermaßen praktisch werden! Und darum ist die Pädagogik ausdrücklich als „konkrete Philosophie“ zu verstehen.26 Man bemerkt bei Natorp schnell, dass ihm das vermeintlich reine Subjekt Kants immer nur ‚unter praktischen Umständen‘, namentlich in Situationen des Herausgefordertseins, einer Debatte wert ist. Herausgefordert ist es allerdings schon als logisches Subjekt: von der Aufgabe nämlich, sich der Welt erkennend zu vergewissern, um verantwortlich in ihr handeln zu können. Die besagte Verhältnisbestimmung zwischen Logik des Denkens und Ethik des Willens bemüht darum einen Begriff von Normativität, der bereits im konkreten Akt des Bewusstseins maßgebend ist. Denn schon der elementarste Erkenntnisakt weist eine „Richtung“ auf den Gegenstand auf, die als normatives Maß für den Aktvollzug fungiert. Weltgegenstände haben Aufforderungscharakter; sie fordern dem Sinn ihres Begriffs gemäß bestimmt, also verstanden zu werden. Wo aber in dieser ‚Forderung‘ bereits ein „Sollen“ mitgedacht werden muss, da ist auch der Gedanke an das menschliche Wollen und dessen Ausrichtung nach Zwecken nicht mehr weit.27 Wenn sich dann etwa in der naturwissenschaftlichen Beschreibung diese Verhältnisse in der Verwendung der Zweckkategorie spiegeln, so deshalb, weil der Natur der Zweck hier „geliehen“ wird. Und spätestens dort, wo nun insbesondere „durch die Vermittlung der Technik alle Naturkausalität sich der Herrschaft des Zwecks“ fügt, also in der
24 Ders. (2008): Philosophie, S. 123. 25 „Aber der Heiligkeit der Pflicht alles nachsetzen, und sich bewußt werden, daß man es könne, weil unsere eigene Vernunft dieses als ihr Gebot anerkennt, und sagt, daß man es tun solle, das heißt sich gleichsam über die Sinnenwelt selbst gänzlich erheben“ (Kant, KrV A, S. 283). 26 Natorp (1964): Pädagogik und Philosophie, S. 152, 180. 27 Vgl. ders. (2008): Philosophie, S. 81.
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Gegenwart der Jahrhundertwende, „wird nicht etwa das Sollen in den Herrschaftsbereich der Natur, sondern vielmehr die Natur und zwar alle Natur in den Herrschaftsbereich des Sollens hineingezogen“.28 An dieser Stelle ist demnach eine „Logik des Sollens“, ist somit die Ethik herausgefordert, deren regulativer Charakter sich in einer Art ‚Tugendlehre‘ manifestiert. Bereits Natorps Buch zur Sozialpädagogik von 1899 diskutiert diese Verhältnisse ausführlich. Tugend besagt für Natorp „die rechte, ihrem eigenen Gesetz gemäße Beschaffenheit menschlicher Tätigkeit“.29 Menschliches Tun qualifiziert sich als solches generell durch rationale Verantwortlichkeit und hat sich vor dem Richterstuhl vernünftiger Einsicht zu legitimieren. Natorps System der Tugenden geht daher „genau parallel“ dem „Stufengang“ der Erkenntnisfunktionen des ‚lebendigen‘ Bewusstseins gemäß einer der Vernunft eigenen „Tendenz zur Einheit“.30 Das „eigentliche (praktisch gerichtete) ‚Leben‘“ baut auf die drei „Grundfaktoren“ Trieb, Wille und Vernunftwille, denen die Tugenden des Maßes, der sittlichen Tatkraft und der Wahrheit entsprechen.31 Der sittlich indifferente sinnliche Trieb muss durch die Tugend des Maßhaltens gelenkt werden und bildet so den Untergrund auch der sittlichen Tat. Diese ist ihrerseits durch die einsichtige Wahl (nach bedingten Zielsetzungen) ausgezeichnet. Die oberste Tugend der Wahrheit entspricht schließlich der Ausrichtung des Vernunftwillens auf das unbedingte Ziel des Guten. Es ist offensichtlich, dass mit solchen Thesen weniger Kant als Platon, und, wo es um die konkrete Umsetzung des Auftrags zur Menschenbildung geht, auch Pestalozzi ins Spiel kommen. Natorps pädagogischer Bildungsgedanke, der sich „auf der Grundlage der Vernunft“ wähnt,32 scheint es nun mit dem Gegenstand seiner Bemühungen verhältnismäßig leicht zu haben. Und genau hier liegen die Chancen, aber auch die Risiken des Modells: Das Objekt der Erziehung – der „Zögling“, wie es noch heißt – ist seinerseits nämlich eine durch und durch rationale Größe, insofern es das faktische Ergebnis einer ihm eigenen Erfahrungs- und Bildungsgeschichte gemäß den „Gesetzen“ des erkennenden Bewusstseins ist. Man könnte etwas überspitzt, aber bereits mit skeptischem Tenor sagen: was hier der Erziehung bedarf, tritt wie ein individueller „Fall“ von „Bewusstsein“ auf. Darin ist der ursprüngliche Bezug auf das, was das „Leben“ des Bewusstseins ausmacht, vor allem als Erkenntnis-Aufgabe und als Verpflichtung auf ein je geltendes Sollen zu beschreiben. „Erfahrung“ wird dann „als Tun, als Arbeit“ verstanden, worin „das Gesetz des Sollens“ schließlich auch den individuellen Willen lenkt.33 Die mit derlei „Arbeit“ beschäftigten Erziehungsbedürftigen sind somit in erster Linie – Vernunftexemplare; nicht weniger, aber eben auch nicht mehr.
28 29 30 31 32 33
Ebd., S. 83. Ders. (1909): Sozialpädagogik, S. 103. Ders. (2008): Philosophie, S. 84. Vgl. ebd., S. 90f. Ders. (1909): Sozialpädagogik, S. 177. Ders. (2008): Philosophie, S. 81.
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Natorps pädagogische Empfehlungen entsprechen insgesamt diesem Befund: Inhaltliche Erkenntnisvermittlung hat dem logischen Stufenbau der Objektivierungsformen zu folgen. Dessen interne Struktur (z. B. Grundlegung der Mathematik in der Logik, der Physik in der Mathematik usw.) hat, „ideal genommen, den Normalgang der Bildung“ vorzuschreiben.34 Hiervon lassen sich die fachpädagogischen Curricula und sogar die Grundstrukturen der notwendigen Bildungsinstitutionen herleiten. In dieser sachlichen Vorgabe spiegelt sich schließlich das sozialpädagogisch bedeutsame Postulat, dass „der Weg der Bildung für alle derselbe“ sein müsse.35 Die pädagogische Realisierung des Bildungsgedankens im Medium der Erziehung bedeutet daher das „Zurtatwerden der Idee“ des Menschen.36 Dieses Pädagogik-Verständnis gewinnt seine Argumente ausschließlich aus der zugrundeliegenden philosophischen Systematik. Historische, politische oder soziale Beobachtungen dienen lediglich der Illustration.37 Dabei ist dann also von einem ‚Objekt‘ der Erziehung die Rede, das bereits als ‚Subjekt‘ im Rahmen philosophischer Reflexion umstritten ist. Man hat Natorp diesbezüglich eines „rücksichtslosen Rationalismus“ bezichtigt und ihn darin mit Fichte verglichen. 38 Wie wenig ernst z. B. die Rede vom „individuellen“ Lebenszusammenhang zu sein scheint, auf den die Pädagogik einzugehen habe, zeigt etwa eine Grundthese seiner Sozialpädagogik, in welcher er als conditio sine qua non für die Annahme einer strengen Korrelation von Gemeinschaft und Individuum die Forderung nennt, dass zuletzt doch jede geistige Individualität mit jeder anderen müsse „gleichsam zur Deckung gebracht werden“ können.39 Damit wird die Position wiederholt, die das individuelle menschliche Leben als einen ‚Fall‘ von transzendentalem Bewusstsein versteht. Zwar soll das „letzte Individuelle“ keiner Theorie mehr zugänglich sein,40 doch entspricht dieses ‚Letzte‘ hier genau jenem „Unmittelbaren“ des Bewusstseins, das wie ein Korrelat zur Idee vollkommener Objektivierung wirkt. Das ‚Ineffabile‘ dieser Individualität wird dabei jedoch – ganz unromantisch! – als imaginäres Ideal vollkommener Bestimmung gedacht, das allenfalls deshalb uneinholbar ist, weil dieser Bestimmungsprozess ein unendlicher ist. Das vordergründig Irrationale des Individuellen wird rationalisiert, indem es auf die Bedeutung eines methodologischen terminus ad quem verkürzt wird. Das betrifft das individuelle Weltding, das betrifft jedoch ebenso den individuellen Menschen. Und doch, oder gerade deswegen, soll dem individuellen Bildungsgang ein spezifischer Zug zur Sozialität a priori eigen sein. Denn wenn bereits dem theoretischen Bewusstsein im Vollzug des objektivierenden Urteilsakts die Tendenz auf Gesetzlichkeit qua ‚Gültigkeit für jedermann‘ zukommt, dann bewegt sich das praktische Urteil natürlich erst recht im Medium der Gemeinschaft. So vermeidet die 34 35 36 37 38 39 40
Ders. (1964): Pädagogik und Philosophie, S. 171. Ebd., S. 170. Ders. (1919): Idealismus Pestalozzis, S. 40. Vgl. Sieg (1994): Aufstieg und Niedergang, S. 275. Frischeisen-Köhler (1917): Philosophie und Pädagogik, S. 58. Natorp (1909): Sozialpädagogik, S. 87. Ders. (1964): Pädagogik und Philosophie, S. 187.
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transzendentalphilosophische Reflexion von vornherein solipsistische Sackgassen. Natorps Rede von Individualität als Boden jedweder theoretischer wie praktischer Aktivität unterstellt daher eine Art monadologischen Sinn des Subjektivitäts-Begriffs, in welchem die soziale Gemeinschaft über den Begriff der Allgemeingültigkeit immer schon ins Spiel gebracht ist. Folglich ist bereits jeder mögliche Bewusstseinsinhalt eo ipso und „an sich Gemeingut“.41 Der konkrete Zusammenhang zwischen Individual- und Sozialethik wird dann allerdings mit Hilfe einer eigenwilligen Lesart der Platonischen Tugendlehre konstruiert, wonach namentlich die Tugend der Gerechtigkeit die Ausrichtung der individuellen sittlichen Willensrichtung auf die Sittlichkeit der Gemeinschaft besagen soll.42 Derart wird aber eine spezifisch psychologische Charakteristik Platons bei Natorp zur Begründung eines sozialethischen Geltungsanspruchs verwendet und mit einer aufklärerischen Attitüde versehen. Platons Dikaiosyne wird zur ‚Tugend‘ des kategorischen Imperativs. Natürlich führt dieses tugendethische Stufenmodell hier nicht zu einem personenbezogenen Ständemodell. Natorp stellt lediglich eine an der Tugendlehre ausgerichtete Funktionstypik vor, wonach die Grundklassen sozialer Tätigkeiten als wirtschaftliche, regierende und bildende einzuordnen sind, die prinzipiell jedem offen stehen43 und deshalb als Wegmarken eines Bildungssystems gelten, das unter dem Stichwort eines „Sozialismus der Bildung“ firmiert. Für Natorp wird erst dieser Sozialismus der eigentliche Wurzel des Begriffs ‚Erziehung‘ gerecht, wonach „der Mensch den Menschen braucht, um Mensch zu werden“.44 Es ist also der Bildungsauftrag der Philosophie kein geringerer, als für die Utopie eines sozialistischen Gemeinwesens zu werben. Die gegebene politische und gesellschaftliche Lage allerdings bleibt diesem Ideal gegenüber – was Wunder? – notorisch defizitär. Um nun diese Distanz typisch zu benennen, wird Ferdinand Tönnies’ Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft in Anspruch genommen.45 Ist die Gesellschaft namentlich auf Rechtsordnung und technischen Interessenausgleich gegründet, soll in der Gemeinschaft die Gleichheit aller in einem Willensakt anerkannt werden, letztlich gar mit dem Ziel, ein „gemeinsames Ich“ à la Rousseau zu etablieren.46 Klar, dass das sehr konkrete Maßnahmen erfordert, geht es doch um die Ermöglichung von Bildung für alle und somit auch um die „geistige Höherhebung der heute gedrückten Klassen“,47 namentlich der Arbeiterklasse, die zuletzt durch die Aufhebung der Herrschaft des Kapitals über die Arbeit befördert werden soll. Doch selbst dort, wo sich dergleichen entschiedene
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Ders. (1909): Sozialpädagogik, S. 85. Vgl. ders. (2008): Philosophie, S. 90f.; Ders. (1909): Sozialpädagogik, S. 135f. Vgl. ebd., S. 166 f. Ders. (1964): Pädagogik und Philosophie, S. 152. Zu Tönnies und dem Gemeinschaftsdiskurs nach dem Ersten Weltkrieg siehe den Beitrag von Alexander Wierzock in diesem Band. 46 Natorp (1907): Begriff der Sozialpädagogik, S. 604. 47 Ders. (1922): Plato’s Staat, S. 41.
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Formulierungen finden, wird keine Revolution gefordert, sondern eben Bildungsengagement, das hinreichen soll um die Arbeit am Ideal erfolgreich zu gestalten.48 Der ‚neue Mensch‘ – ein Wort, das Natorp selbst meines Wissens nach nicht verwendet – ist also gewissermaßen der alte; nämlich der, der er immer schon war, der notorisch ‚auf dem Marsche‘ ist, um zu sich selbst zu kommen, wobei ihm, dem bekannten sozialistischen Diktum gemäß, „der Weg alles, das Ziel nichts“ ist.49 Die Richtung dieses Marsches allerdings soll ihm mit Hilfe Kants neu gewiesen werden. 4. DER THERAPEUTISCHE SINN DER FRAGE NACH DEM MENSCHEN Es ist vielleicht klar geworden, dass sich auf die Frage, was der Mensch sei, in transzendentalphilosophischer Einstellung nur mit Mühe antworten lässt, will man nicht Gefahr laufen, eine verzerrte Version jenes Bildes zu erzeugen, das wir gewöhnlich von uns selber haben. Und doch lässt sich eben antworten, wenn wir bereit sind, eine wesentliche Voraussetzung zu akzeptieren. Sie lautet: das transzendentale Subjekt tritt allemal als Mensch in der Welt auf, insofern es theoretisch wie praktisch mit dieser Welt einen verantwortbaren Umgang pflegt. Verantwortung ist hier also das entscheidende Stichwort. Verantwortung beweist sich bereits in theoretischer Rechenschaftslegung, erst Recht aber natürlich in praktischer. Also trägt das transzendentale Subjekt als moralisches notwendig menschliches Antlitz und dies aus verschiedenen Gründen und in mehrfacher Hinsicht: – –
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weil Moralität nur in Konfrontation mit Naturkausalität realisiert werden kann und dem Menschen daher sowohl deren Einfluss zuzumuten wie zugleich Freiheit zu supponieren ist; weil Moralität am Maßstab des ‚Selbstzwecks‘ respektive der ‚Würde‘ des Menschen orientiert ist und dergestalt der geschichtliche Prozess der Bildung des Menschen (im doppelten Sinne des Wortes ‚Bildung‘) sich als eine Art permanenter Autopoiese entpuppt, die ihren Grund zuletzt – jedenfalls in der Lesart Cohens – im göttlichen Schöpfungsakt findet, der seinerseits eben als Gestaltungsauftrag an den Menschen zu verstehen ist; weil die Selbstbildung des Menschen mit Rücksicht auf die Freiheitsunterstellung nach Maßgabe des kategorischen Imperativs verläuft und insofern im Individuum die gesamte Menschheit geehrt wird; weil ein solcher gemeinschaftlich orientierter Selbstbildungsprozess nicht nur eines Grundes (sc. der Schöpfung), sondern auch institutionalisierter Formen (sc. des Rechts, des Staates, der Schule etc.) bedarf.
48 Vgl. zu den politischen Konsequenzen dieses Natorp’schen Gedankens den Beitrag von Albert Dikovich in diesem Band. 49 Ders. (2008): Philosophie, S. 33.
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Wir finden hier also, aller ‚Sperrigkeit‘ der klassischen Transzendentalphilosophie zum Trotz, zwar durchaus Argumente, die die Diskussion um die vermeintliche ‚Blutarmut‘ des Subjekts (à la Dilthey) als in mancher Hinsicht gegenstandslos erweisen; wir erkennen allerdings auch eine Motivlage, die die Suche nach dem angeblich neuen Menschen noch immer seltsam bemüht wirken lässt. Zumindest fordert die Zustimmung zu den genannten Argumenten einen Preis oder wenigstens eine ausgeprägte Konzilianzbereitschaft. Ich hatte auf kritische Punkte hingewiesen: etwa auf Cohens Überschätzung der Rolle der Philosophie in schöpfungstheologischer Perspektive. Der jüdische Theologe Franz Rosenzweig will eine „fast erschreckende“ Konsequenz des Cohen’schen Systemdenkens darin erkennen, dass dieser „den letzten Grund alles Idealismus und, da der Idealismus nur das unausgesprochene Geheimnis aller vorhergehenden Philosophie ausspricht, aller Philosophie“ in der „Vernunft selber, als Schöpfung Gottes“ sucht.50 Und auch das Natorp’sche Plädoyer für einen radikalen Sozialidealismus wirkt kaum weniger erschreckend, da darin der Wert des Individuellen allenfalls nominell gewahrt bleibt, es jedoch manchmal so wirkt, als seien Begriffe wie Gemeinschaftswille und gar Gemeinschafts-Ich mit konsequenter Arbeit namentlich an der Institutionalisierung des Bildungssystems nicht nur konsens- sondern sogar realitätsfähig zu machen. Natürlich sind das gewöhnungsbedürftige Ideen; vielleicht sogar Ideen, von denen man meinen könnte, dass sie sich seither doch schon hinreichend blamiert hätten. Andererseits handelt es sich hier um eine Utopie, die jedoch, wie jede Utopie, ironischerweise selbst ihren konkreten Ort hat. Und damit meine ich eben nicht nur den realhistorischen Ort, also die Jahrhundertwende und vor allem die Nachkriegsjahre 1918/19, sondern den Ort innerhalb des Geschehens philosophischer Reflexion. Ich hatte das eben schon mit Blick auf Cohens Messianismus mit gewissem Augenzwinkern als prophetischen Sinn des Philosophierens bezeichnet. Subtrahiert man von diesem Bild den ironischen Gehalt, so bleibt gleichwohl etwa übrig. Etwas, das ich gerne den therapeutischen Sinn des Philosophierens nennen möchte und den wir, wie ich glaube, eben durchaus auch in den hier vorgestellten systematischen Entwürfen wiederfinden können. In der Verhältnisbestimmung von transzendentalem zum menschlichen Subjekt hatten wir nämlich gefunden, dass wir offenbar ein strukturelles von einem genetischen Motiv unterscheiden können. Das strukturelle beschreibt den eben schon betonten Umstand, dass von transzendentalen (logischen wie ethischen) Kapazitäten der Vernunft nur unter der Voraussetzung zu sprechen ist, dass sie auch realisiert werden; will sagen, dass sie sich im menschlichen Leben als wirksam erweisen. Insofern kann von einer ‚Menschwerdung‘ des transzendentalen Subjekts nicht eigentlich gesprochen werden; besagtes Subjekt kommt ja eben nur als Mensch in der Welt vor. Doch genau damit ist auch das zweite, das genetische Motiv angesprochen. Denn jene Kapazitäten der Vernunft erweisen sich als wirksam – und nur so erweisen sie sich überhaupt –, indem sie Ordnung schaffen sowohl in der dinglichen wie in der sozialen Welt. Mit eben solcher Ordnungsleistung aber entwickeln sich
50 Rosenzweig (1937): Einleitung, S. 336.
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auch die ordnungsstiftenden Institute der Vernunft selber weiter, insofern sie zunehmend selbstreferentielle Züge entfalten: Sie erkennen sich in ihren eigenen Leistungen wieder. Das ist der Gedanke, der Kant mit Hegel verbindet, und der später ausdrücklich in die Kulturphilosophie des jüngsten und vielleicht einflussreichsten Neukantianers, Ernst Cassirers, einfließt. Aber er zeigt sich eben schon bei Cohen und Natorp wirksam: Bei ihnen ist es der ‚prophetisch‘ genannte Sinn der Philosophie, dass sie lehrt, natürliche wie soziale Welt als „Aufgaben“, und nicht als manifesten Bestand zu verstehen, damit aber den theoretischen wie praktischen ‚Umgang‘ mit beidem als gestalterisches Handeln zu begreifen. Insofern kann man dann doch von einem Prozess der Menschwerdung sprechen, in welchem besagter Mensch schließlich – mit Goethe zu sprechen – erst zu dem wird, was er ist.51 Und insofern darf man wohl konstatieren, dass der ‚neue Mensch‘ der Neukantianer, sofern man hier überhaupt von einem solchen reden will, der um die Faktoren ‚Selbsterkenntnis‘ und ‚Selbstverwirklichung‘ erweiterte und entwickelte ‚alte‘ ist. Und dass solche Rede weniger eine substantielle Bestimmung meint als einen Prozess. Und dass die Philosophie eine ebenso unverzichtbare wie konkrete ‚Zutat‘ zu diesem Prozess ist. LITERATUR Cohen, Hermann: Der Begriff der Religion im System der Philosophie, Gießen 1915. Ders.: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Berlin 1919. Ders.: Kants Begründung der Ethik, 2. Aufl., Berlin 1920. Ders.: Jüdische Schriften, Bd. 3, Berlin 1924. Ders.: Ethik des reinen Willens. Werke Bd. 7, Hildesheim / New York 1981. Ders.: Einleitung mit kritischem Nachtrag zur Geschichte des Materialismus von Friedrich August Lange (= Werke Bd. 5/2), Berlin / New York 1984. Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Gesammelte Schriften Bd. 1, Leipzig / Berlin 1933. Frischeisen-Köhler, Max: Philosophie und Pädagogik. In: Kant-Studien 22 (1917), 27–80. Hartmann, Eduard v.: Neukantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus, Berlin 1877. Natorp, Paul: Der Streit um den Begriff der Sozialpädagogik. In: Deutsche Schule 11 (1907), 601– 622. Ders.: Sozialpädagogik. Theorie der Willensbildung auf der Grundlage der Gemeinschaft, 3. Aufl., Stuttgart 1909. Ders.: Hermann Cohens philosophische Leistung unter dem Gesichtspunkt des Systems, Berlin 1918. Ders.: Der Idealismus Pestalozzis, Leipzig 1919. Ders.: Hoffnungen und Gefahren unserer Jugendbewegung, Jena 31920. Ders.: Plato’s Staat und die Idee der Sozialpädagogik (1895). In: Ders.: Gesammelte Abhandlungen zur Sozialpädagogik, Stuttgart, 2. Aufl. 1922, 7–42. Ders.: Pädagogik und Philosophie. Drei pädagogische Abhandlungen, Paderborn 1964. Ders.: Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme, 5. Aufl., Göttingen 2008.
51 Ähnliche Gedanken finden sich auch bei Max Weber. Vgl. Christian Martys Beitrag in diesem Band.
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Rosenzweig, Franz: Einleitung zu H. Cohen, Jüdische Schriften (1924). In: Ders.: Kleinere Schriften, Berlin 1937, 299–350. Sieg, Ulrich: Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus, Würzburg 1994. Wundt, Wilhelm: Einleitung in die Philosophie, Leipzig 1901.
ANTIAUTORITÄR, ALTRUISTISCH, ANTINATIONAL Adolf Dethmanns kommunistischer Mensch Detlef Siegfried „In dem Maße, wie die Anarchie der gesellschaftlichen Produktion schwindet, schläft auch die politische Autorität des Staates ein. Die Menschen, endlich Herren ihrer eigenen Art der Vergesellschaftung, werden damit zugleich Herren der Natur, Herren ihrer selbst – frei.“ Friedrich Engels
In den „Krisenjahren der klassischen Moderne“ (Detlev Peukert) war die Revolution nicht nur ein politischer und sozialer Vorgang zur Beendigung des Krieges und zur Umwälzung der Sozialverhältnisse, sondern auch Ausdruck eines Krisenbewusstseins – Teil einer längerandauernden Reaktion auf eine gesellschaftliche Umbruchsituation, die seit der Jahrhundertwende besonders stark verspürt wurde, nicht zuletzt unter Intellektuellen.1 Vielen von ihnen erschien der Erste Weltkrieg als eine Möglichkeit, aus einer vermeintlichen Verfallssituation auszubrechen. Während ein Großteil Halt in der Idee des nationalen Wiederaufstiegs und der völkischen Superiorität suchte, orientierte sich ein anderer Teil der jungen Intelligenz nach links und suchte einen Ausweg aus der allgemeinen Krise im Spannungsfeld zwischen parlamentarischer Demokratie und Kommunismus. Die radikalsten von ihnen bewegten sich im Spektrum zwischen USPD, KPD, KAPD und dem Anarchosyndikalismus. In der Arbeiterschaft sahen sie ein aufstrebendes revolutionäres Subjekt, das den gewünschten Ausbruch tatsächlich auch zustandebringen konnte. Besonders in Norddeutschland, wo sich eine radikale Richtung gegen die als reformistisch empfundene Sozialdemokratie herausgebildet hatte, galt die Arbeiterschaft schon seit langem als „dem Staat entfremdet“.2 In Kiel, der Stadt, von der die Revolution 1918/19 ihren Ausgang nahm, existierte mit dem Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr eine Institution, die sich im weitesten Sinne mit wirtschaftlichen und sozialen Problemen beschäftigte, darunter auch mit den radikalen Strömungen der Arbeiterschaft. Hier bildete sich um den Gründer des Instituts, Bernhard Harms, und den „Nestor“ der Soziologie in 1 2
Bruch et al. (1989): Kultur; Drehsen/Sparn (1996): Weltbildwandel. Gerlach (1913): Theorie, S. 22. Zum norddeutschen Linksradikalismus vgl. Kuckuk (1970): Bremer Linksradikale; Ullrich (1976): Hamburger Arbeiterbewegung.
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Deutschland, Ferdinand Tönnies, ein örtliches Entstehungsmilieu der frühen deutschen Soziologie heraus, in dem man sich nicht nur mit den verschiedenen Richtungen der Arbeiterschaft wissenschaftlich beschäftigte, sondern oftmals auch politisch sympathisierte. Gleichzeitig existierte ein Kreis expressionistischer Künstler, die mit der Idee der Revolution sympathisierten und in krassen Farben Menschheitsutopien entwarfen.3 Aus dem Kieler Milieu zwischen Revolution, Wissenschaft und Kunst ging auch eine kleine Gruppe von radikalen Politikern hervor, die in der 1920 gegründeten Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD) auf Reichsebene eine gewisse Rolle spielte. Die „idealistischste Arbeiterpartei der Weimarer Republik“ stützte sich hier teilweise auf radikale Arbeiter,4 insbesondere in einem wichtigen Rüstungsbetrieb, der Torpedowerkstatt, aber auch auf Intellektuelle, die etwas betrieben, was man als utopische Politik beschreiben könnte. Eigentlich eine contradictio in adjecto, aber doch insofern treffend, als hier versucht wurde, die Utopie einer freien Gesellschaft unmittelbar zu verwirklichen, ohne sich auf jene Kompromisse einzulassen, die Konzeptionen wie „Realpolitik“ oder „Verantwortungsethik“ zugrundelagen. Dies resultierte aus einer Wahrnehmung der Situation des Kriegsendes als tabula rasa, als Möglichkeit, die sozialen und politischen Verhältnisse vollends umzuwälzen. Sie war daher zeitgebunden und sollte schon wenige Jahre später einer Tendenz zum Pragmatismus weichen, die sich auch im Linksradikalismus durchsetzte, wobei die Anziehungskraft der kommunistischen Utopie nach wie vor virulent blieb, nur weniger unvermittelt. Die herausragende Figur des Kieler Linksradikalismus war Adolf Dethmann, ein promovierter Staatswissenschaftler. Er hatte zeitweise beträchtlichen Einfluss auf die Entwicklung des deutschen Rätekommunismus und kam Anfang der 1930er Jahre als Direktor der Junkers-Flugzeugwerke in Dessau an eine einflussreiche Position am Puls der Weimarer Moderne zwischen Politik, Kunst und Technik.5 Dethmann agierte an jener Schnittstelle, wo ein radikaler Idealismus auf die Notwendigkeit der praktischen Gestaltung der Revolution trifft und sich im weiteren Verlauf der Weimarer Republik zwangsläufig von der unmittelbaren Verwirklichung absoluter Menschheitsideale verabschieden muss, ohne unbedingt ganz von ihnen zu lassen. Hans-Harald Müller hat darin eine im holländischen Linkskommunismus mit seinen international führenden Theoretikern Anton Pannekoek und Herman Gorter sowie in der deutschen Jugendbewegung beheimatete „Konzeption einer geistigen Politik“ gesehen, „die unter dem Eindruck des ersten Weltkriegs sozialidealistisch radikalisiert und erst nach der Novemberrevolution auf reale Gegebenheiten bezogen wurde.“6 Mit diesen Gegebenheiten wurde Adolf Dethmann konfrontiert, der in den Novembertagen 1918 der USPD und nach dem Jahreswechsel der Kieler KPD beigetreten war, deren Merkmale der Kieler Sozialdemokrat August Rathmann mit den
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Dazu eingehend Siegfried (2004): Milieu. Müller (1977): Intellektueller Linksradikalismus, S. 47. Die weitere Tätigkeit Dethmanns wird rekonstruiert in Siegfried (2001): Fliegerblick. Müller (1977): Linksradikalismus, S. 58.
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Begriffen „revolutionäre Dogmatik“ und „abstrakter Utopismus“ beschrieb.7 Dieses Amalgam hielt selbst spätere Kommunisten wie den Soziologen Alfred Meusel und den Nationalökonomen Richard Sorge davon ab, sich damals schon dieser Partei anzuschließen.8 Sie blieben zunächst in der USPD und wurden erst später KPDMitglieder. Innerhalb der jungen KPD bezogen die Nordbezirke die radikalsten Positionen. Sie riefen dazu auf, aus den „zu Organen der Gegenrevolution gewordenen Gewerkschaften“ auszutreten und lehnten die Teilnahme an den Parlamentswahlen ab.9 Als die Zentrale der Partei die Ausnutzung der Parlamente als „Tribünen des Klassenkampfes“ forderte und für die Arbeit in den Gewerkschaften plädierte, sah sie sich einer starken Opposition gegenübergestellt, die nun auch die in ihren Augen selbstherrliche „Führerpolitik“ der KPD-Spitze attackierte. Dem zentralistischen Anspruch der Parteiführer, wie er schon aus der alten Sozialdemokratie bekannt war, stellten die linken Kommunisten die antiautoritäre Vorstellung von einer Organisation entgegen, in der die Massen alles, die Führer nichts seien. Hinzu kam die Ablehnung der Nation, die den Horizont politischen Denkens auch bei vielen Kommunisten markierte – nicht zuletzt in der russischen Partei und unter den (ansonsten linken) Hamburger KPD-Führern Heinrich Laufenberg und Fritz Wolffheim. Und schließlich herrschte hier ein Ideal der Selbstlosigkeit vor: Nicht nur die Führer, auch die Massen, jeder Mensch könne zur Selbstlosigkeit erzogen werden, wenn nur die gesellschaftlichen Verhältnisse entsprechend waren. Bei der Herausbildung dieser Kernelemente des deutschen Linkskommunismus spielte Adolf Dethmann eine wichtige Rolle, indem er sie theoretisch begründete und gegen innerparteiliche Widersacher praktisch durchsetzte. 1. ANTIAUTORITÄR Dethmanns Anthropologie war marxistisch geprägt, die Menschen hatten also keine ewig feststehenden Eigenschaften, sondern wandelten sich je nach den historischen Rahmenbedingungen ihrer Existenz. Gegenwärtig dominierten, bedingt durch das Prinzip des Kapitalismus, Egoismus, Neid und Gewalt. Kombiniert mit der Vorstellung, die Geschichte dulde „keine Bocksprünge“, verliefe also nach einem bestimmten Entwicklungsgesetz, war eine bessere Gesellschaft erst vorstellbar, wenn neue Alterskohorten unter günstigeren Bedingungen herangewachsen waren.10 Dethmanns Erwartungshorizont richtete sich also nicht auf die unmittelbare Gegenwart, wohl aber auf eine nicht allzu ferne Zukunft: „Die heutige Generation, die von oben bis unten von militaristischen, imperialistischen und kapitalistischen Ideologien durchseucht und ganz und gar von den Daseinsformen des Militarismus,
7 Vernehmungsprotokoll Dethmann, 23.4. u. 4.5.1933. 8 Rathmann (1983): Arbeiterleben, S. 27. 9 Kommunistische Arbeiter-Zeitung (KAZ) (Hamburg), 14.8.1919. 10 Dethmann (1921): Sowjetregierung, S. 3.
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Imperialismus und Kapitalismus eingefangen ist, wird erst dahinsterben und einer Generation, die nicht belastet mit der ungeheuren Blutschuld des vierjährigen Völkermordens und deshalb der Welt des Kommunismus würdiger ist, Platz machen müssen, ehe man von einer Vollendung des kommunistischen Gemeinwesens reden kann und eine ‚allgemeine Zufriedenheit’ erreicht sein wird.“11 Ein zentrales Merkmal dieser harmonischen Utopie war die Gleichheit der Menschen, die Abwesenheit von Hierarchien, die durch den Aufbau des Rätestaates „von unten auf“ untermauert wurde. Das „Massen- und Führerproblem“, wie Dethmann es bezeichnete, hatte schon die Konflikte innerhalb der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften geprägt, und in der Auseinandersetzung um die Kriegskredite hatte sich die grundsätzliche Opposition gegen die Partei- und Gewerkschaftsführungen erheblich verstärkt. Dieses „taktische Kardinalproblem“ der Arbeiterbewegung werde im Kommunismus, so Dethmann, dadurch „gelöst, dass die Massen als erste und letzte Entscheidungsinstanz in jeder in der Politik auftauchenden Frage betrachtet werden, während die Führer […] lediglich als ausführende Organe des Willens und der Beschlüsse der Massen anzusehen sind.“ So wie die gesamte politische Initiative nicht Führern oblag, sondern „der gesamten Klasse überlassen bleiben“ und „immer von neuem wieder aus den Massen selbst hervorgehen“ sollte.12 Mit der Teilhabe aller an den Staatsgeschäften „verringert sich das Untertanenbewusstsein der proletarischen Klasse und steigert sich auf der anderen Seite ihr Staatsinteresse, hebt sich ihr Kultur- und Bildungsniveau, wächst ihr Organisationstalent und erhöht sich ihr Solidaritätsbewusstsein als herrschende Klasse.“13 Aber auch schon in der Gegenwart sollte die revolutionäre Organisation die „Selbstbewusstseinsentwicklung des deutschen Proletariats“, seinen Willen zur „Eroberung der Macht“ fördern und ihm zum Ausdruck verhelfen.14 Hinter der Ablehnung der Arbeit in den alten Gewerkschaften und Parlamenten stand die Auffassung, die Arbeiterklasse würde durch die Einbindung in bürgerliche Institutionen auch mit bürgerlichem Geist infiziert. Deshalb bestand ein Kernelement ihrer „Selbstbewusstseinsbildung“ darin, in eigenen proletarischen – gewissermaßen reinen, von bürgerlichen Vorstellungen ganz freien – Organisationen den unverfälschten Klassengedanken pflegen und den Klassenkampf praktizieren zu können. Dabei ging man von der Prämisse aus, dass die vermeintlich verbürgerlichten Arbeiterorganisationen grundsätzlich nicht revolutioniert werden könnten, sondern eine wie auch immer geartete Beteiligung an ihnen unweigerlich zu einer Verbürgerlichung des Revolutionärs führen würde.15 Dethmann erläuterte diesen Mechanismus 1921 anhand der Erfahrungen in Deutschland.16 Hier habe man gesehen, wie der größte Teil der überraschend mit dem Kommunismus sympathisierenden Arbeitermassen sehr bald nach dem Abflauen der revolutionären Euphorie wieder in Lethargie
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Spartakus, 20.–26.4.1919. Dethmann (1920): Rätegedanke, S. 16. Ebd., S. 25. Schröder (1920): Vom Werden, S. 16. Hervorh. im Original. Vgl. Reichenbach (1928): Geschichte, S. 135. Dies und das folgende nach Dethmann (o.D.): Kernproblem.
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versunken sei. Der deutsche Arbeiter stehe zwischen zwei Polen, dem kommunistischen und dem bürgerlichen, der sich in der Sozialdemokratie und in einem kleinbürgerlichen Individualanarchismus materialisiere. „Diese beiden Pole ziehen den deutschen Arbeiter fortwährend hin und her; steht er eben mitten zwischen beiden, willens, den ersten Schritt geradeaus auf dem Weg zum Kommunismus zu tun, doch wird sein Vorwärtsdrang sofort wiederum von ihrer Anziehungskraft gelähmt.“ Die letzten Jahre hätten gezeigt, „dass die deutschen Arbeiter in unaufhörlichem Wechsel von einer Partei zur nächsten fluten – eine ewige Bewegung: vorwärts und zurück, zurück und vorwärts“. In dieser Fluktuationsbewegung würde der Arbeiter umso mehr vom bürgerlichen Pol angezogen, wie er in die verbürgerlichten Arbeiterorganisationen integriert sei. „Sie werden nach und nach dem bürgerlichen Einfluss, das dieses Milieu beherrscht, unterworfen, beginnen zu kompromisseln, geraten ins Schlepptau der Bourgeoisie, verraten das Proletariat.“ Insofern sei jeglicher Entrismus, wie er von der KPD-Zentrale vertreten werde, prinzipiell abzulehnen. „In einer solchen Atmosphäre die Proletariermassen so lange Zeit zu belassen, bis die Bürokratensessel von Kommunisten ‚erobert‘ sind, die obendrein selbst noch auf diesem Fluge ihr kommunistisches Gefieder verlieren und sich zu Sozialdemokraten mausern werden, wenn sie nicht vorzeitig abstürzen, [...] das bedeutet, das Klassenbewusstsein des deutschen Proletariats für ewige Zeit den Totengräbern der deutschen Revolution, den Sozialdemokraten (gleichgültig, ob den alten oder neuen) auszuliefern.“ Aus dem undurchdringlichen Geflecht von Integration und Korruption in den bürgerlichen Institutionen und Organisationen gab es aus der Perspektive der Linksradikalen nur einen Ausweg: „Nicht hineingehen bzw. schleunigst aus ihnen verschwinden! Heraus aus allen Zwingburgen des Kapitals [...], die der Klassenbewusstseinsentwicklung des Proletariats Fesseln anlegen!“ Aber auch die Hoffnungen, die man auf Sowjetrussland gesetzt hatte, wurden enttäuscht. Zu dem Eindruck, auch dort bilde sich ein bürgerlicher Staat heraus, trug auch der Kronstädter Aufstand vom März 1921 bei, der daraus resultierte, so Dethmann, dass die Matrosen „sich die ‚Diktatur von oben‘ nicht länger gefallen lassen wollten und größere Machtkompetenzen für sich beanspruchten“.17 Selbstbewusstsein hatte auch das russische Proletariat nötig, um sich gegen eine Dominanz der Partei zu wehren – so eine Essenz des basisdemokratischen Konzepts Dethmanns, das sich gegen jeglichen Autoritarismus richtete. 2. DIE KOMMUNISTISCHE „MENSCHENGEMEINSCHAFT“ KENNT KEINE NATIONALEN UNTERSCHIEDE Dethmann wurde zum ersten Wortführer des Protestes gegen den Hamburger Nationalbolschewismus, den Laufenberg und Wolffheim am 3. November 1919 in ihrer „Ersten Kommunistischen Adresse an das Deutsche Proletariat“ propagiert hat-
17 Dethmann (1921): Sowjetregierung, S. 12.
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ten.18 Die Hamburger Parteiführer wollten durch ein Zusammengehen von Deutschland und Sowjetrussland die westlichen Siegermächte zurückschlagen und auf diese Weise die nationalen und revolutionären Interessen vereinen. Dazu sei ein „Burgfrieden“ mit der deutschen Bourgeoisie nicht nur möglich, sondern auch erstrebenswert. Diese Verlautbarung war im Namen der Hamburger Parteiorganisation veröffentlicht worden, und sie führte zu großer Konfusion. Mitgliedschaft und Funktionärskorps schwankten zwischen der Loyalität zu ihren charismatischen Führern und Skepsis gegenüber ihrer in dieser Frage recht eigensinnigen Konzeption. Da hatte man es ausserhalb von Hamburg schon leichter, einen kühlen Kopf zu bewahren. Laufenberg und Wolffheim hätten vor, so analysierte Dethmann am 23. November kurz und knapp, sich bei den gestürzten Militärs wie Ludendorff und Hindenburg „anzuschmusen“.19 Auch später sollte der Antinationalismus ein Kernelement von Dethmanns Politik ausmachen. Schon als die Kommunistische Arbeiter-Partei Deutschlands am 4. und 5. April 1920 gegründet wurde, hatte man sich im Norden mit ihrem Namen nicht einverstanden gezeigt. Statt der deutschen sollte eher ihre internationale Ausrichtung hervortreten. Während Hamburg für die Bezeichnung „Internationale Kommunisten“ eintrat – eine Lösung, die durchaus mit der nationalbolschewistischen Idee einer „Aufrichtung der Weltkommune in der freien Vereinigung freier Nationen“ harmonierte –, wollte sich Kiel eindeutig von jeglicher Nationalromantik absetzen und plädierte für den Namen „Antinationaler Kommunisten-Bund“.20 Als auf dem 1. ordentlichen Parteitag der KAPD im August 1920 die Auseinandersetzung mit dem Hamburger Nationalbolschewismus auf der Tagesordnung stand, plädierte Dethmann gegen alles Nationale.21 Gegen Laufenberg, der kurz zuvor vom „Ewigkeitscharakter“ der Nation gesprochen hatte, argumentierte er, nach der marxistischen Lehre sei die Herausbildung der Nationen nur ein Reflex ökonomischer Entwicklungen, und das Ziel sei „die kommunistische Menschheitsgemeinschaft, die keine nationalen Unterschiede mehr kennt“. Schließlich brachte er den Gegensatz zum Hamburger Nationalbolschewismus, der in der Begriffsverwirrung von „nationaler“ und „internationaler“ Ausrichtung oftmals unklar geblieben war, auf die pointierte Formel: „Der Kampf des Proletariats ist nicht nur international, er ist antinational.“ Auf dieser Linie bewegte sich auch Dethmanns Skepsis gegenüber der zunehmenden russischen Dominanz in der Kommunistischen Internationale, die er mit einem Großteil der KAPD-Führer teilte. Als erster offizieller Vertreter der KAPD im Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale fuhr Mitte Januar 1921 Arthur Goldstein, mit ihm als „stellvertretender Delegierter“ Adolf Dethmann nach Moskau.22 Neben dem Scheitern der Hoffnungen auf eine Veränderung der KI18 Zum Hamburger Nationalbolschewismus vgl. Schüddekopf (1972): Nationalbolschewismus, S. 70–86; Dupeux (1985): „Nationalbolschewismus“, S. 82–126. 19 E-Meldung Nr. 40, 25.11.1919; KAZ (Hamburg) v. 28.11.1919 (Beilage). 20 KAZ (Hamburg), 29.5.1920; Klockner (1981): Protokoll des 1. ordentlichen Parteitages, S. 33. 21 Ebd., S. 71–74. u. S. 81. 22 Auszug aus dem Bericht des Reichskommissars, Nr. 25, 25.1.1921; Proletarier, H. 3, Dezember 1920/Januar 1921; Vernehmungsprotokoll Dethmann, 28.3.1933; Dethmann an Oberstaatsanwalt, 19.5.1933.
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Politik war es wohl vor allem diese Einsicht in die russischen Realitäten, die zur Desillusionierung der KAPD-Spitze beträchtlich beitrug. Dethmanns Bericht spiegelt die deprimierenden Verhältnisse im Lande wider: Die Zustände in Russland seien „sehr schlecht, die Bevölkerung hungert buchstäblich“. Das Proletariat sehe in der „riesige[n] Bürokratie“ die eigentliche Ursache allen Übels, wolle „sie beseitigen und selbst mitbestimmen an den Regierungshandlungen“. Dethmanns Ernüchterung speiste sich nicht zuletzt aus der unmittelbaren Erfahrung des Kriegskommunismus, dessen Scheitern die großen Hungerdemonstrationen evident machten. Die Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes am 18. März 1921 erlebte er im Lande selbst. Gleichwohl äußerte er zunächst noch Verständnis für die Situation Russlands. Die Sowjetregierung sei zu Kompromissen gezwungen – vergleichbar der Situation nach der Französischen Revolution. „Entweder die Räteregierung trete zu Gunsten der Opportunisten zurück“, so zitierten die Protokollanten der deutschen Staatsorgane aus Dethmanns Bericht, „oder sie treibe eine bürgerliche Politik. Dadurch gerate die Räteregierung in einen Gegensatz zum Proletariat.“ Dies klang schon bedeutend skeptischer als noch der euphorische Rapport der vorgängigen KAPD-Delegation und deren Bekenntnis, sie sei nach Abschluss der Reise „erschüttert“ gewesen „über die Stärke und den Glanz des fortschreitenden Kampfes für den Kommunismus“.23 Erst im Frühjahr 1921 war unübersehbar geworden, dass sich die Idee des avantgardistischen Dirigismus nicht gegen die Masse der bäuerlich geprägten Gesellschaft würde durchsetzen können – jedenfalls nicht auf eine Weise, die auf die Dauer mit antiautoritären Ideen harmonieren konnte. Auf dem außerordentlichen Parteitag der KAPD, der vom 11. bis 14. September 1921 in Berlin stattfand, profilierte Dethmann sich mit dem Hauptreferat zum Thema „Die 3. Internationale und die Notwendigkeit zur Schaffung einer kommunistischen Arbeiter-Internationale“. Schon sehr bald nach dem Scheitern des Versuchs, die KI zu revolutionieren, hatte der Zentralausschuss der KAPD beschlossen, die Gründung einer Kommunistischen Arbeiter-Internationale vorzubereiten.24 Dort sah man schon im Fiasko des Märzaufstandes 1921 einen „Wendepunkt in der Geschichte des deutschen Kommunismus“: das Scheitern der Moskauer Idee, die Revolution in den westeuropäischen Ländern künstlich erzwingen zu können. Deshalb sei auch Moskaus Führungsanspruch erledigt, und die „geistige Führung“ der westeuropäischen Revolution müsse nun endlich von Russland auf Westeuropa übergehen. Die Notwendigkeit des Aufbaus einer neuen Internationale war von Beginn an umstritten. Insbesondere in Berlin, der bisherigen Hochburg des intellektuellen Führungszirkels, distanzierten sich viele Parteiaktivisten von diesem Plan – ein Konflikt, der zur Spaltung der KAPD im Frühjahr 1922 maßgeblich beitragen sollte. Ihnen schien die KAPD selbst, aber auch der internationale Linkskommunismus noch zu schwach, um ein solches Projekt meistern zu können, und sie be-
23 Proletarier, H. 3, Dezember 1920/Januar 1921. 24 Zur Debatte um die KAI vgl. Bock (1993): Syndikalismus, S. 341–348; Ihlau (1969): Die Roten Kämpfer, S. 24–28; Einleitung in: Klockner (1986): Protokoll des außerordentlichen Parteitags der KAPD, 11.-14.9.1921, S. 18–24; Bourrinet (2016): Dutch and German Communist Left, S. 226–274. Das folgende in: Proletarier, H. 6, Juni 1921.
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fürchteten, dass der Aufbau einer neuen Internationale die ohnehin unzureichenden Kräfte absorbieren würde. Davon unbeeindruckt arbeitete die vom Zentralausschuss eingesetzte Kommission, die die Leitsätze einer solchen Internationale erarbeiten sollte, zügig an der Verwirklichung dieses Projekts. Auf dem Berliner Parteitag lieferte Dethmann einen historischen Abriss über die Profile der bisherigen internationalen Zusammenschlüsse und leitete daraus die Spezifik der neuen Arbeiter-Internationale ab.25 Die revolutionäre Arbeiterbewegung könne auf die Dritte Internationale nicht mehr setzen, weil sich „ihr Prinzip“ geändert habe: Sie sei von einer revolutionären zu einer sozialdemokratischen Internationale mutiert, die ebenso wie alle anderen sozialdemokratischen Organisationen die Kampfkraft der Revolutionäre lähme. „In diesem Augenblick ist das Proletariat ohne eine entsprechende revolutionäre Arbeiter-Internationale.“ Weil diese jedoch „eine geschichtliche Notwendigkeit“ sei, so seine deduktive Volte, müsse sie eben aufgebaut werden. Aus dieser Perspektive hatte auch das eher realpolitische Gegenargument der Berliner Gegner einer neuen Internationale wenig Gewicht, der organisierte Linkskommunismus in den anderen Ländern sei – sofern überhaupt vorhanden – noch unterentwickelt. Die Opposition, die den Voluntarismus des Konzepts von Karl Schröder, Hermann Gorter und Dethmann attackierte, konnte sich auf dem Parteitag nicht durchsetzen. Mit großer Mehrheit nahmen die Delegierten die von der internationalen Kommission entwickelten Richtlinien an. Auf dem Parteitag zeigte sich bereits deutlich, dass die intellektuelle KAPD-Spitze auf die allgemeine Depression der linksradikalen Bewegung nach dem Märzaufstand mit zunehmendem Utopismus reagierte, der sich in der Folgezeit noch erheblich verstärken sollte. 3. DAS KOMMUNISTISCHE SUBJEKT: DER ALTRUISTISCHE MENSCH In seiner 1920 an der Universität Kiel eingereichten staatswissenschaftlichen Dissertation „Der Rätegedanke als Staatstheorie und seine Keime in den Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels“ beschäftigte sich Dethmann mit der Gestalt einer nachrevolutionären Gesellschaft, indem er eine Staatstheorie der Rätedemokratie entwarf, um dann seine Annahmen mit Aussagen von Marx und Engels zu konfrontieren.26 Er beschäftigte sich also mit der Frage, wie das „Endziel der kommunis-
25 Abgedruckt in: Proletarier, H. 9/10, Oktober/November 1921. 26 Dethmanns hier erwähnte Dissertation war für den Kontext der Universität Kiel nicht ungewöhnlich. Ein an dieser Hochschule vorhandenes linkes akademisches Milieu ließ in der frühen Weimarer Republik zahlreiche Arbeiten entstehen, die sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive für Fragen der Arbeiterbewegung interessierten. Der Soziologe Rudolf Heberle, der 1920 von Göttingen nach Kiel gekommen war, beschrieb dieses Milieu nachträglich so: „Was mich nach Kiel lockte, war das Institut für Weltwirtschaft. […] Zu meiner Überraschung fand ich mich bald zu einem Kreis von Doktoranden und Assistenten hingezogen, von denen einige Sozialisten waren und alle sich intensiv für die Arbeiterbewegung interessierten“. Siehe Heberle (1981): Soziologische Lehr- und Wanderjahre, S. 272. Hervorh. im Original. Weitere
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tischen Bewegung“, die „auf der Grundlage des Gemeineigentums und der absoluten Gewaltlosigkeit werktätige Menschheitsgemeinschaft, der sich auf die Anarchie (d. h. Herrschaftslosigkeit) gründende Kommunismus“ staatstheoretisch zu begründen und in Gestalt des Rätesystems genauer zu charakterisieren sei.27 Dabei betrachtete Dethmann den menschlichen Charakter als sozialisationsbedingt und leitete daraus die Hoffnung auf eine bessere Welt ab: Alle Schwächen und Unzulänglichkeiten, die den heute lebenden Menschen innewohnen und der Verwirklichung einer solchen kommunistischen Menschheitsgemeinschaft hemmend im Wege stehen, sind nicht als ursprünglich natürliche Eigenschaften im Menschen vorhanden anzusehen und deshalb für alle Ewigkeit unauslöschbar, sondern sie sind erst durch die geschichtliche Entwicklung selbst erzeugt bzw. stetig gesteigert worden. Alle Bewusstseinsformen sind nur der geistige Reflex des Milieus, innerhalb dessen sich die Menschen im Laufe ihrer Lebenszeit bewegen müssen.
Da die Menschen aber nicht nur Objekt, sondern zugleich auch Subjekt ihrer eigenen Geschichte seien, sei eine „soziale Revolution“ denkbar, die ihre niederdrückenden Existenzbedingungen beseitigen würde. Im Kommunismus, der eine „principielle Umstellung [...] der Menschen selbst“ zum Ziel habe, würde das Aufkommen der durch die Klassengesellschaft erzeugten „verwerflichen Eigenschaften und Verbrechen von vornherein zur Unmöglichkeit“ gemacht.28 Der Mensch war zum Altruismus fähig – so Dethmann in Anknüpfung nicht nur an den holländischen Rätekommunisten Anton Pannekoek, sondern auch an eine Kampfschrift des russischen Anachisten Peter Kropotkin gegen den Sozialdarwinismus –, aber es mussten zunächst die Rahmenbedingungen für seine Entfaltung geschaffen werden.29 Weder war zu erwarten, dass die Bourgeoisie ihre Klassenherrschaft und damit auch die Vorherrschaft ihrer egoistischen Ideologie freiwillig aufgeben würde, noch, dass sich die Menschen aus eigener Kraft von dieser Ideologie befreien könnten. Deshalb waren auch sozialdemokratische Ideen vom Klassenkompromiss und das anarchistische Modell der sofortigen Abschaffung des Staates nichts als Träumereien, denen mit dem Rätesystem eine Staatsform entgegengesetzt wurde, die den Übergang vom Klassenstaat zur herrschaftsfreien Gesellschaft organisieren würde. Das der „kommunistischen Menschheitsgemeinschaft“ eigentümliche „Princip der absoluten Gewaltlosigkeit“ konnte sich nur verwirklichen, wenn das Gewaltprinzip des Staates abgeschafft sei, und dies wiederum sei nur möglich durch eine als Diktatur des Proletariats sich manifestierende „Gegengewalt“ mit der Zielsetzung der „Zertrümmerung und Aufhebung jeglicher, auch seiner eigenen Klassenherr-
Details zum linken Milieu der Kieler Sozialwissenschaftler, zu dem auch Ferdinand Tönnies und Bernhard Harms zu zählen sind, umfassend bei Siegfried (2004): Das radikale Milieu sowie am Beispiel Alfred Meusels bei Wierzock (2014): Tragisches Bewusstsein. Eine Auflistung akademischer Qualifizierungsschriften aus diesem sozialwissenschaftlichen Umkreis findet sich bei Wierzock / Klauke (2013): Das Institut für Weltwirtschaft, S. 94, Fn. 3. 27 Dies und das Folgende: Dethmann (1920): Rätegedanke, S. 5. 28 Ebd., S. 7. 29 Kropotkin (1908): Gegenseitige Hilfe.
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schaft“.30 Erst im Kommunismus konnte der neue Mensch entstehen: „Sind diese Vorbedingungen (die Abschaffung des Staates, die Grundlegung der kommunistischen Wirtschaftsweise) erfüllt, so werden sich auch nach und nach die heutigen Gesellschaftsbegriffe der Menschen umformen und umgestalten in diejenigen Gemeinschaftsbegriffe, nach denen in der kommunistischen Menschheitsgemeinschaft alle Menschen beieinander und miteinander leben werden: Die relative Gleichberechtigung aller Menschen, die absolute Gewaltlosigkeit, die gegenseitige Hilfe der Menschen untereinander im Kampfe zur Überwindung der Naturwidrigkeiten.“31 Aber Dethmann begnügte sich nicht mit der Skizzierung dieses Ideals, er bearbeitete die Frage, wie es zu erreichen sei – nicht auf der Ebene des Klassenkampfes, sondern der staatlichen Organisation nach der Revolution des Proletariats. Ausführlich beschrieb er die Gestalt eines Rätesystems mit seinen vielfältigen Merkmalen – Aufbau von unten her, Wahlrecht nur für das Proletariat, Wahl von Personen anstelle von Parteien, imperatives Mandat, Aufhebung der Gewaltenteilung, Beteiligung aller an der Leitung des Staates, Arbeitspflicht etc. – und begab sich damit schon einen Schritt weg von der reinen Utopie. Im Grunde diskutierte Dethmann hier die Frage, wie die politische Unterdrückung durch die Bourgeoisie zu beseitigen und der Herrschaftsaufbau des Proletariats zu bewerkstelligen seien – eine Arbeit, bei der man sich durchaus die Hände schmutzig machen konnte, auch wenn sie noch vom konkreten Klassenkampf der Gegenwart abstrahierte und in der Vorstellung stattfand. Die Konsequenzen dieses Programms hatten durchaus praktische Implikationen. So postulierte Dethmann für den Kommunismus die Auflösung politischer Parteien, weil es keinen Staat und keine Politik mehr gebe. Bis dahin aber habe die Kommunistische Partei ihre Funktion als Avantgarde wahrzunehmen: Derjenige „Teil der Arbeiterklasse, welcher den politischen Rätegedanken bereits voll erfasst hat und gewillt ist, ihn in die Wirklichkeit umzusetzen“, habe „die geistige und politische Führung des proletarischen Staates zu übernehmen“.32 Dieser Teil sollte sich „in einer einzigen Partei“ organisieren und der „proletarischen Masse als politischer Vortrupp“ vorangehen. In der praktischen Tätigkeit als Führer einer solchen Avantgardepartei begab schon der Doktorand sich tief hinein in die politische Auseinandersetzung, aber sein Referenzrahmen sollte nach wie vor das in seiner Dissertation beschriebene Ideal des Kommunismus in seinen verschiedenen Facetten bleiben. So hatte er schon in dieser Abhandlung auf Marx’ Unterscheidung zwischen „rein ökonomischen“ Bewegungen auf der einen und aufs Grundsätzliche zielenden politischen Bewegungen der Arbeiter auf der anderen Seite hingewiesen, die er 1922 in den internen Richtungskämpfen der KAPD zur Konsequenz seiner sogenannten „Einzelmenschtheorie“ führte.33
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Dethmann (1920): Rätegedanke, S. 9f. Ebd., S. 13. Ebd., S. 23. Ebd., S. 40f.
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Entscheidend war hier der Kontext der enttäuschten Revolutionserwartung. Gerade in der depressiven Gesamtsituation nach dem gescheiterten Märzaufstand 1921 erschien die Verführungskraft der Realpolitik besonders groß. Nach Auffassung der KAPD-Intellektuellen kam es deshalb gerade jetzt darauf an, ihr nicht zu erliegen, sondern umso hartnäckiger am Gedanken der Revolution festzuhalten – bis das Tal durchschritten sei. Dieses Konzept baute Dethmann in einer vierteiligen Artikelserie aus, die unter dem Titel „Die Union – was sie ist und was sie nicht ist“ Anfang 1922 im Kampfruf erschien, der Zeitung der Allgemeinen Arbeiter-Union (AAU), des rätekommunistischen Gewerkschaftsbundes.34 Dethmann behauptete, ein Kampf um soziale Verbesserungen sei in der gegenwärtigen „Todeskrise des Kapitalismus“ im Grunde genommen nicht mehr möglich. Denn bei dem Widerspruch zwischen zunehmender Verelendung auf der einen, schwindelerregender Überproduktion auf der anderen Seite handele es sich um ein unaufhebbares Strukturproblem des Kapitalismus in seinem Endstadium. Daraus leiteten sich Konsequenzen für die Aufgabenstellung der Gewerkschaften ab: Der wirtschaftliche Interessenkampf sei Angelegenheit der Arbeiter als „Einzelmenschen“. Sie sollten ihn als solche wohl führen, die revolutionäre Gewerkschaft aber, die AAU, könne sich mit derart „egoistischen“ Bedürfnissen nicht abgeben, sondern müsse das „altruistische“ Interesse der gesamten Klasse im Blick haben und ausschließlich für die unmittelbar bevorstehende Revolution eintreten. Altruismus war also nicht nur ein Merkmal der zukünftigen, kommunistischen „Menschengemeinschaft“, sondern schon Maßstab der praktischen Politik in der Gegenwart – noch nicht beim Individuum, wohl aber bei der revolutionären Organisation. Dethmanns Artikelserie fand bei Herman Gorter, dem holländischen Mentor der KAPD, höchstes Lob. Gorter war überzeugt, „dass dieser Unterschied zwischen der vorrevolutionären und revolutionären Zeit von niemand von uns, auch nicht von Marx und Engels je verstanden worden war, und dass er, jetzt vom Genossen D. [Dethmann] in klarster Weise, indem er die Frage auf das moralische Gebiet (das in der Revolution eine so große Rolle spielt), auf das Gebiet des kapitalistischen und sozialdemokratischen Altruismus oder der kommunistischen Solidarität übertrug, erhellt ist. Es ist eine Ehre für das deutsche Proletariat, dass diese Klärung des Geistes auch wieder von einem aus seinen Reihen ausgeht.“35 An der Parteibasis hingegen lösten Dethmanns Analysen Entsetzen aus, denn damit verlor die Union jede alltagspraktische Bedeutung, die sie für viele Mitglieder durchaus noch hatte. Stattdessen hielt nun auch auf diesem Feld eine utopische Politik Einzug. Dethmanns früherer Kollege vom Kieler Institut für Weltwirtschaft, der Wirschaftswissenschaftler und Soziologe Paul Hermberg, formulierte es so: „Das theoretisierende Element macht sich in dem Organ der Union, dem ‚Kampfruf‘ immer mehr breit.“36 34 Der Kampfruf, Nr. 4, 5, 6 u. 8, Januar/Februar 1922. Vgl. auch Gorter (1923): Notwendigkeit. Zur Diskussion um die Todeskrisentheorie und Dethmanns Artikelserie: Hermberg (1922): Nachtrag; Bock (1993): Syndikalismus, S. 205–211 u. 242–248; Kools (1970): Dokumente, S. 136–142. 35 Gorter (1923): Notwendigkeit, S. 21. 36 Hermberg (1922): Nachtrag, S. 218.
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Auf das Feld der Theorie zog sich der intellektuelle Führungskreis der KAPD mehr und mehr zurück, denn die allgemeine Depression nach dem Märzaufstand nahm, wie an den zahlreichen Dissoziationsprozessen zu beobachten war, keineswegs ab, sondern noch zu. Zwar hoffte die KAPD-Spitze noch auf ihrem Septemberparteitag 1921 auf „die demnächst wieder aufwärts führende Welle der revolutionären Bewegung“, doch konstatierte man bald darauf, der Gedanke an eine deutsche Revolution werde „mehr und mehr unwahrscheinlich“.37 Dennoch sollte man sich nicht an als „reformistisch“ betrachteten Lohnkämpfen beteiligen, sondern „den Massen immer wieder den Gedanken der Revolution einhämmern, unermüdlich und eintönig bis zum Überdruss und bis zu dem Augenblick, wo wieder eine neue Welle der Revolution heranbraust“.38 Das Tal sollte durchschritten und die Reinheit der revolutionären Idee bewahrt werden – gerade in der Situation, die scheinbar so zwingend den Kompromiss forderte: „Durchhalten im Geist des KAPGedankens, ruhig alles andere ertragen, nicht mehr wollen, als die augenblickliche Situation geben kann“.39 Diese Haltung entsprach ganz einem Charakteristikum des „abtrünnigen“ Intellektuellen, das Alfred Meusel, auch ein Kollege Dethmanns vom Kieler Weltwirtschaftsinstitut, herausgearbeitet hatte: Er „ist der geborene Feind aller Kompromisse, der ängstlich darüber wacht, dass nicht die Reinheit der Idee durch eine unvollkommene Verwirklichung in der Gegenwart befleckt wird“.40 Freilich war Dethmanns idealistische Konstruktion der Todeskrise und ihrer organisatorischen Konsequenzen eher die „Rationalisierung einer Hoffnung“ als eine politische Theorie.41 Damit wurde aus der intellektuellen Führungsgruppe heraus – neben dem Projekt der neuen Internationale – nun auch auf diesem für das Selbstverständnis der Parteibasis wesentlichen Feld ein utopischer Kurs eingeschlagen. Die ohnehin schon vorhandene Konfrontation zwischen der Berliner Parteiorganisation und der Gruppe um Karl Schröder eskalierte, und Dethmanns „Einzelmenschtheorie“ bildete schließlich den unmittelbaren Anlass für die Spaltung der KAPD im März 1922. Für die meisten ihrer intellektuellen Führer bildete sie zugleich einen vorläufigen Abschluss ihres politischen Engagements. 4. ZEITSCHICHTEN Dethmann hatte am Ende seines revolutionären Aktivismus, im Alter von 25 Jahren, seine berufliche Karriere noch vor sich. Dies unterschied seine Situation von der der anderen Akademiker in der KAPD-Spitze, die im Durchschnitt ungefähr zehn Jahre älter waren. Mit ihnen verband ihn ein abstrakter Utopismus, der immer mehr zunahm, je verfahrener die Situation wurde. Jene „Überfütterung mit Theorie“, die Anfang 1922 in der KAPD konstatiert wurde, verweist einmal mehr auf eine starke 37 38 39 40 41
Zit. nach Bock (1993): Syndikalismus, S. 241f. Zit. nach Kools (1970): Dokumente, S. 139. Proletarier, H. 1, 1922. Meusel (1923): Die Abtrünnigen, S. 161. Bock (1993): Syndikalismus, S. 242.
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Neigung Dethmanns zur gedanklichen Konstruktion, zur „Geist“-Politik.42 Im Sommer 1922 war nicht mehr zu übersehen, dass die Idee, die Massen mit Hilfe einer Avantgardepartei zu revolutionieren, gescheitert war. Insofern wuchs im Laufe des einen Jahres zwischen dem Sommer 1921 und dem Sommer 1922 nicht nur die Desillusionierung über die Perspektiven der Revolution, sondern auch der materielle Pragmatisierungsdruck. Künftig musste ein Auskommen außerhalb des Parteiapparates gefunden werden. An einer ähnlichen biographischen Schnittstelle befanden sich zu diesem Zeitpunkt Dethmanns Freunde, die Protagonisten des Kieler Expressionismus. Richard Blunck, der parteipolitisch nicht in Erscheinung getreten war, hatte allmählich seine Hoffnung von 1919 aufgegeben, dass „der Geist nach Selbstverwirklichung drängte“.43 Auch Peter Drömmer hatte sich bereits von der expressionistischen Malerei verabschiedet und begab sich auf den Weg zum Industriedesign. Zwischen 1921 und 1922 gab Dethmann die Parteipolitik auf, Blunck die expressionistische Literatur und Drömmer das Malen. Ihre Hoffnungen auf die Dominanz des Geistes hatten sich zerschlagen, sie mussten Wege finden, sich materiell über Wasser zu halten und gleichzeitig nicht ganz ihren bisherigen Überzeugungen und Leidenschaften zu entsagen. Nach dem Ende der Utopien war Sachlichkeit das Stichwort der Zeit, an dem sich nicht nur die Kunst orientierte, sondern auch Alltagskultur und politische Konzepte.44 Gleichwohl bot auch die Neue Sachlichkeit Anschlussstellen für utopische Perspektiven. Vorzügliche Möglichkeiten, bestimmte Elemente einer politischen Ästhetik auch künftig noch zu reflektieren und praktisch umzusetzen, sollten sich für Dethmann bei Junkers ergeben. Das entscheidende Verbindungsglied zwischen den überschießenden gesellschaftlichen Utopien der expressionistischen Zeit und der Sachlichkeit war die Technik. Sie hatte in der expressionistischen Phase noch außerhalb der Welt des reinen Geistes gelegen, doch in der Sachlichkeit verschmolzen Avantgardismus und Technik zu einer neuen Utopie, die ihre Anziehungskraft aus einem Anspruch auf Objektivität bezog, aber gerade deshalb für politische Projektionen aus allen Richtungen offen war.45 In den noch verbliebenen KAPD-Kreisen sah man die Parallelität in der Entwicklung von linksintellektueller Politik und Kunst sehr genau und verwies einigermaßen rechthaberisch darauf, dass der Utopismus der Nachkriegsjahre an seiner Unvereinbarkeit mit den sachlichen Erfordernissen des Lebens gescheitert sei. Als der Proletarier 1926 auf die Theorien des „Doktoren-Konsortiums“ zurückblickte, da stellte er die Gemeinsamkeiten eines utopisch-revolutionären Überschwangs heraus: Gleich „ihrem expressionistischen Zwillingsbruder in der Kunst [...] müssen diese Theorien absterben, weil ihnen der lebendige Zusammenhang mit der Wirklichkeit fehlt“.46 Der Kommunismus sei nicht das Resultat der Arbeit einer „Gruppe selbstbewusster Menschen“, sondern der objektiven Klassenverhältnisse.
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Proletarier, H. 1, 1922. Blunck (1921): Impuls, S. 7. Lethen (1994): Verhaltenslehren. Trommler (1989): Technik; Steinmetz (1995): Anbetung. Proletarier, H. 7, 1926, S. 129. „Doktoren-Konsortium“ nach Klassenkampf, Nr. 13, 1924.
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Die Abkehr vom emotionalen Expressionismus und die Hinwendung zur nüchternen Sachlichkeit sollte nicht die Utopie verabschieden, sondern vielmehr realistische Wege zu ihrer Verwirklichung aufzeigen. Während utopische Gesellschaftsbilder in der expressionistischen Phase als hochfliegende geistige Konstruktionen erschienen, kam es nun darauf an, sie praktisch zu verwirklichen. Mit der Wende zur Sachlichkeit geriet der Neue Mensch von der reinen Utopie zum realistischen Projekt. Doch Dethmanns scheinbare Wende stellte sich in Wirklichkeit weniger eindeutig dar, wie sein Mentor Karl Schröder verdeutlichte. Schröder hatte sich bald nach der Spaltung der KAPD aus den Wirren der kommunistischen Richtungspolitik verabschiedet und erprobte seine Fähigkeiten in der Wirtschaft. Vom Mai bis zum September 1922 arbeitete er als Direktionssekretär beim Eisenhüttenwerk in Keula, einem Flecken in Schlesien.47 Schröder hat seine dortigen Erfahrungen kaum verschlüsselt in der 1928 bei der Büchergilde Gutenberg erschienenen Erzählung „Aktien-Gesellschaft Hammerlugk“ verarbeitet – sein schriftstellerisches Debüt. Sie handelt von den ersten Berufserfahrungen eines Universitätsabsolventen in der Direktion eines Unternehmens, von den Vermittlungsproblemen zwischen theoretischer Ausbildung und praktischem Unternehmertum, Idealismus und privatkapitalistischer Ausbeutung. Wesentliche Züge des Helden Erwin Grünberg sind Dethmanns Biographie entnommen, der Mitte September 1922 von Kiel nach Keula ging und dort schließlich mehr als vier Jahre – bis zum Frühjahr 1927 – blieb. Dethmann hatte Schröder um die Vermittlung einer Stelle gebeten, und Schröder, der die bedrückende Atmosphäre des provinziellen Industriebetriebs nicht lange ertrug, konnte damit einen Nachfolger anbieten, der dann auch eingestellt wurde.48 In einer Reihe von Charakterzügen erscheint der junge Dethmann – allerdings schon in der spezifischen Interpretation der mittleren 20er Jahre: Ein ursprünglich emotionaler, nun desillusionierter junger Intellektueller, den die Härte des Lebens zur Sachlichkeit getrieben hatte: „Er war unsentimental; nüchtern; sachlich.“49 Gleichwohl wird der Eindruck eines zur „Kälte“ hin gewendeten Expressionisten vielfach gebrochen. Vor allem die philosophischen Neigungen des Protagonisten stören das Bild eines klar strukturierenden und nüchtern kalkulierenden Pragmatikers der Macht. Schließlich löst der Autor diesen Knoten: Die Ambivalenz von außenvermittelter Kälte und innerer Wärme wird zugunsten der humanen Emotionalität entschieden, und in Selbsteinsicht erklärt der Protagonist, einer der Freunde hätte „mir einmal gesagt, sie schätzten meine ‚Sachlichkeit‘. Und siehst Du, gerade diese Sachlichkeit – das sehe ich jetzt ganz genau – war nur Ausweichen davor, gegen Ungerechtigkeit aufzutreten, die ich ganz gut als solche instinktiv fühlte.“50 Es entsteht das Bild eines jungen Intellektuellen, der zwischen den Verhaltenslehren seiner Zeit hin- und hergerissen ist, sich aber dann doch gegen die Macht und für die Moral entscheidet.
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Schröder (1928): Aktiengesellschaft Hammerlugk. Vernehmungsprotokoll Dethmann, 23.4. u. 4.5.1933. Schröder (1928): Hammerlugk, S. 39. Das folgende S. 86. Ebd., S. 196.
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SCHLUSS Dethmanns neuer Mensch war eine harmonische Existenz, die die Entfremdungen der modernen Gesellschaft durch Fremdbestimmung, Egoismus, Nationalismus überwinden sollte und als Gleicher unter Gleichen in einer Gemeinschaft der Freien leben würde, in der Eigentum und Politik überflüssig geworden wären. Das Streben nach Authentizität, nach Aufhebung der gesellschaftlichen Differenzierung, wie es Helmuth Plessner in seiner Diagnose des „sozialen Radikalismus“ von 1924 konstatiert hat, trug auch religiöse Züge.51 Dethmanns Freund Richard Blunck hat es als Ziel des „expressionistischen Menschen“ in seiner Schrift „Der Impuls des Expressionismus“ beschrieben: „Nicht eher sieht der expressionistische Mensch Vollendung, als bis zwischen Gott und den Menschen, zwischen Hiersein und Kosmos, zwischen brüderlichem Ich und Du kein Gegenstand, kein Dingliches, Materiales, Besitzhaftes mehr den Geist bindet, bis nichts mehr das Absolute, die Gemeinschaft zerreißt in Trennungen und Relationen zum Außergeistigen. Das Ziel ist ‚die unendliche Steigerung des Menschen‘.“52 Auf der politischen Ebene materialisierte sich dieses Ideal im kommunistischen Menschen, wie Dethmann ihn beschrieben hat. Vielfach ist der Kommunismus als säkularisierte Religion beschrieben worden, deren hehres Ziel seine Anhänger mobilisierte. So sah es ein kommunistischer Aktivst wie Bernhard Reichenbach im Frühjahr 1919: „Revolution ist die Vorbedingung zum Aufbau des Reiches Gottes auf Erden.“53 So sah es der italienische Soziologe Vilfredo Pareto, der die „sozialistische Religion“ als eine „große Schule der Disziplin“ betrachtete, man könne „von diesem Aspekt aus sogar sagen, dass sie unmittelbar hinter der katholischen Religion kommt.“54 Genauer hat der Historiker Thomas Kroll die religiöse Qualität des Kommunismus beschrieben. Der Glauben an den Kommunismus als herrschaftsfreie, egalitäre Gesellschaft repräsentiere eine Werthaltung der Moderne, die nicht im Widerspruch zur Rationalität stehe, sondern mit Paul Tillich als „Rationalität mit Ekstase“ zu verstehen sei.55 Gerade das Ekstatische aber, wie es bei Dethmann zum Ausdruck kam, ließ Linksradikale bei nüchternen Zeitgenossen, die eher das Machbare im Blick behielten, als allzu emphatisch-voluntaristisch erscheinen. Im Gegensatz zu Studierenden, die der SPD zuneigten oder angehörten und die einem Soziologen wie Meusel in der Rückschau als „viel solider“ erschienen, standen jene „Psychopathen des Jahres 1918“, wie er sie später in einem wissenschaftlichen Systematisierungsversuch bezeichnete, „die die ‚Diktatur der Liebe‘, die ‚Herrschaft der Idee‘ errichten wollten, ohne die mindeste Rücksicht auf das soziale Machtverhältnis der Klassen, auf die politische Lage, sowie auf ihr eigenes unzulängliches Können zu nehmen. Solche Menschen“, führte Meusel weiter aus, „bringen die chiliastischen Elemente, 51 52 53 54 55
Vgl. Plessner (2002): Grenzen der Gemeinschaft. Zit. nach Raabe (1992): Schriftsteller, S. 36. zit. nach Müller (1977): Linksradikalismus, S. 47. Zit. nach Eisermann (1962): Paretos System, § 1885. Kroll (2007): Kommunistische Intellektuelle, S. 11.
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alle Verstiegenheit und alle Verzückung in die Geschichte der sozialen Bewegungen, aber gleichzeitig auch jenes Moment der Begeisterung, ohne das ein großes gesellschaftliches Interesse nicht siegen kann.“56 Angesichts dessen konnten auch die Führungsambitionen, die viele Intellektuelle innerhalb von Arbeiterorganisationen hegten, zweifelhaft erscheinen. Der spätere sozialdemokratische Reichsjustizminister Gustav Radbruch, der im Frühjahr 1919 als Strafrechtler an die Kieler Universität gekommen war, hielt das charakteristische Misstrauen der organisierten Arbeiter gegenüber Akademikern für begründet, denn die „Bindung an die Arbeiterpartei durch das feste Band einer proletarischen Existenz“ sei „viel dauerhafter und unveränderlicher als die geistige Bindung durch die Idee. Die Idee“, präzisierte er mit Anspielung auf Tönnies’ Theorie der Aggregatzustände der Meinung, „gehört dem flüssigen Aggregatzustande an, bildet sich leicht um und fort und kann zu mancherlei Wandlungen und Überraschungen führen. Deshalb sind zu den Führerstellungen einer Arbeiterpartei nur solche berufen, die aus dem Arbeiterstande hervorgegangen sind, der Intellektuelle aber hat sich nur zu fühlen als fachlicher Berater des politischen Führers.“57 Für den Intellektuellen, so Radbruch, war „der Kontrast zwischen Idee und Existenz“ unaufhebbar. Die soziale Heimatlosigkeit, die aus ihrer Stellung zwischen bürgerlicher Erziehung und sozialistischer Politik resultierte – und auf sie ging im Kern auch Radbruchs Skepsis zurück – führte bei vielen Intellektuellen zu einem besonders ausgeprägten Radikalismus. Meusel, der sich mit dem Verhältnis der „abtrünnigen“ Bürgerkinder zu den von ihnen verehrten Arbeitern als Repräsentanten einer aufstrebenden Klasse professionell beschäftigte, urteilte: „Was von einer Revolution erfüllt werden kann, sind ihre materiellen Inhalte. Was von ihr unerfüllt bleibt, sind jene Werte sittlicher und geistiger Natur, denen sie zuzustreben schien.“ An dieser Entwicklung müssten, so Meusel weiter, gerade „diejenigen am meisten leiden, deren Teilnahme an der Bewegung am stärksten von der Idee her orientiert war: die Abtrünnigen.“58 QUELLEN Auszug aus dem Bericht des Reichskommissars für die Überwachung der öffentlichen Ordnung, Nr. 25, 25.1.1921, Staatsarchiv Bremen (StAB), 4.65/504. Dethmann, Adolf: Das Kernproblem der deutschen Revolution, o. D. Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Berlin, I 5/1/4. E-Meldung Nr. 40, 25.11.1919, StAB, 4,65/226.
56 Meusel (1923): Die Abtrünnigen, S. 164. 57 Radbruch (1988): Biographische Schriften, S. 246f. Vgl. auch Michels (1987): Masse, Führer, Intellektuelle. Zu Tönniesʼ Aggregatzustände der Meinung vgl. Tönnies (2002): Kritik der öffentlichen Meinung, S. 41–43. 58 Meusel (1923): Die Abtrünnigen, S. 162.
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Vernehmungsprotokoll Dethmann, 23.4. u. 4.5.1933, Landesarchiv Oranienbaum (LAO), Oberstaatsanwalt, (OSA) 155. Dethmann an OSA, 19.5.1933, LAO, OSA 157.
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NEUER STAAT FÜR NEUE MENSCHEN
ROMANTIK UND REVOLUTION Zur sittlichen Erneuerung im sozialen „Volksstaat“ bei Walther Rathenau Clemens Reichhold Am Abend der Revolution vom 9. November traf sich Walther Rathenau in einem Kreis von Intellektuellen, die einem religiösen Sozialismus zugeneigt waren, um ausgiebig Fragen der Transzendenz zu erörtern. Einer von ihnen, der Wirtschaftsund Sozialwissenschaftler Eduard Heimann, erinnerte sich später an die Zusammenkunft: Er [Rathenau] war das Gegenteil von einem Revolutionär, er wußte […], daß der plötzliche Umsturz auf die Dauer nichts ändern, wohl aber die Reste des Bestehenden zertrümmern konnte, bevor das Neue wahrhaft leben könne. Denn wie er in jener Nacht sagte: ‚Es gibt überhaupt nur eine einzige Art von Revolution, die von Damaskus‘.1
Mit dem Rathenau-Forscher Ernst Schulin lässt sich diese „einzige Art von Revolution“ als sittliche Revolution verstehen, die den Menschen – wie in der biblischen Erzählung von der Bekehrung des Saulus auf seinem Weg nach Damaskus – in ihrem Innersten ergreifen sollte.2 Von Interesse ist Rathenaus Idee eines sittlich erneuerten Menschen, die auf kein bestimmtes religiöses Bekenntnis zielt, zunächst wegen ihrer zeitgeschichtlichen Wirksamkeit. Denn obwohl gegen Ende des Jahres 1918 Rathenaus politische Karriere, die ihn später noch bis ins Amt des Außenministers führte, aus vielfältigen Gründen ins Stocken geraten war, fanden seine Schriften bereits zahlreiche LeserInnen und prominente KommentatorInnen.3 Verstehbar wird dieser Erfolg nicht ohne ihre ideologischen und sozialgeschichtlichen Voraussetzungen, die im Folgenden genauer untersucht werden. So gründet sich Rathenaus Ruf nach sittlicher Erneuerung auf eine Gesellschaftskritik, die sich 1 2 3
Eduard Heimann zit. n. Schulin (1979): Repräsentant, S. 95. Schulin hebt zudem hervor, wie wenig ergriffen sich Rathenau von den zeitgleich auf den Straßen Berlin tobenden Straßenkämpfen zeigte; siehe ebd., S. 95f. Zu den Schwierigkeiten und Hindernissen von Rathenaus politischer Karriere, auch durch einen bereits institutionalisierten Antisemitismus, siehe Michalka (2014): Blockierter Weg. Noch zu Kriegszeiten erschien 1917 Rathenaus wahrscheinlich erfolgreichstes Werk Von kommenden Dingen, von dem nach Chapoulek (2016): Ökonom und Sozialphilosoph, S. 177f., bis 1925 ganze 70 Auflagen und eine Gesamtzahl von über 100.000 in den Druck gingen. Zahlreiche Rezensionen erschienen und „Sozialdemokraten und Vertreter der Gewerkschaften nahmen dazu ebenso Stellung wie Vertreter der Kirchen, der Arbeitgeberverbände, der Frauenbewegung, der Freimaurer und der Bodenreformer. Soldaten nahmen das Buch in ihrem Tornister ins Feld mit und Pfarrer handelten darüber auch außerhalb Deutschlands, etwa in Schweden und in der Schweiz, in Predigten“, Gall (2009): Portrait, S. 200.
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weniger durch fachwissenschaftliche Stringenz oder Originalität auszeichnet, als durch ihre holistische Perspektive auf eine alle Lebenslagen durchdringende „mechanische“ Zweckrationalität und einen Individualismus, der die Menschen in voneinander entfremdete „Massen“ verwandele. Aufgeladen ist diese Kritik, die ihre Relevanz vor dem Hintergrund einer sich in zahlreichen Widersprüchen und Konflikten bis hin zum Weltkrieg durchsetzendenden industriekapitalistischen Moderne gewinnt, mit der Hoffnung auf individuelle Sinnstiftung und gesellschaftliche Einheit. Mit dieser Zielrichtung, so argumentiert der vorliegende Beitrag, entwirft Rathenau eine zeitgeschichtlich virale Form politischer Romantik, die der sich entfaltenden Moderne ebenso ambivalent gegenübersteht wie den revolutionären Bewegungen nach Ende des Ersten Weltkrieges. Mit der Frage nach dem Verhältnis von politischer Romantik und Revolution im Denken Rathenaus erkundet der vorliegende Beitrag in der auf Rathenau bezogenen Forschung Neuland.4 Damit verbunden ist auch eine neue Perspektive auf die Geschichte der deutschen politischen Romantik. Deren Entwicklung zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird meist auf die kriegsbegeistert-nationalistischen Ideen von 1914, d. h. auf einen reaktionären Gegensatz zu den universalistischen Ideen der Französischen Revolution von 1789 reduziert.5 Dass auch Rathenaus Idee neuer Sittlichkeit durch diesen völkischen Nationalismus infiziert ist, sollte nicht deren liberale, demokratische und sozialistische Konnotationen überdecken.6 Hinweise auf die Struktur dieses ideologischen Komplexes vermitteln im zweiten Kapitel zunächst verschiedene Theorien politischer Romantik, die diese als Reaktionsmuster auf soziale Krisen- und Desintegrationstendenzen der Moderne deuten. Ein solches, der Moderne ambivalent gegenüberstehendes Reaktionsmuster, so wird im dritten Kapitel gezeigt, stellt auch die geschichtsphilosophisch überformte romantische Gesellschaftskritik dar, die Rathenaus zwischen 1911 und 1917 veröffentlichte Hauptschriften prägt. Dass sich Rathenaus politische Romantik als eine Revolution der Innerlichkeit gegen andere, vor allem materialistisch-strukturelle Revolutionsideen wendet und stattdessen auf Reformen mit dem Ziel eines sozialen „Volksstaates“ zielt, wird im anschließenden vierten Kapitel an exemplarischen Schriften aus der Nachkriegszeit verdeutlicht. In einem Fazit wird die Fruchtbarkeit der
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Die Quellenlage zu diesem Thema ist durch die von Alexander Jaser und Wolfgang Michalka herausgegebene Neuedition von Rathenaus Schriften zu Krieg und Revolution: Rathenau (2017): Gesamtausgabe Bd. III zuletzt noch erweitert worden. Inwiefern diese Ideen von 1914 politisch durchaus heterogen waren, zeigt unter anderem Steffen Bruendel an der stark diskutierten Frage der staatlichen Neuordnung als Volksgemeinschaft oder Volksstaat, Bruendel (2003): Ideen. In der Rathenau-Forschung ist dieser Komplex von Patrick Küppers thematisiert worden, der Rathenaus neuidealistische Kunstauffassung, die sich von der Romantik des 19. Jahrhunderts ebenso abzusetzen suchte, wie von einem darauf für ihn folgenden nihilistischen Naturalismus, zwischen Moderne und Antimoderne verortet, Küppers (2014): Kunstverständnis. Auf ähnliche Weise ist Rathenaus Werk und Biographie zwischen Wirtschaft, Politik und Literatur als sich „berührende Extreme“ gedeutet worden, Deutsches Historisches Museum (1994): Extreme.
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vorgenommenen Verortung Rathenaus in der politischen Romantik und seine Rolle in ihrer historischen Entwicklung bilanziert. 2. RATHENAU – (K)EIN FALL FÜR THEORIEN DER POLITISCHEN ROMANTIK In der politischen Theorie und Ideengeschichte fristet der Begriff der politischen Romantik gegenwärtig eher ein Schattendasein.7 Ähnlich düster sieht es in Bezug auf entsprechende Deutungen von Rathenaus Denken aus: lediglich seine ästhetische Theorie wird bislang als Ausdruck einer romantischen Strömung gedeutet.8 Was sind die möglichen Gründe für das Schattendasein des Begriffs der politischen Romantik? Welche Anknüpfungspunkte bietet dagegen die von der Ideengeschichte hervorgehobene Bedeutung einheitsstiftender Sittlichkeit in der romantischen Denkbewegung für eine entsprechende Analyse von Rathenaus Denken? Die Gründe für die Abwesenheit des Begriffs der politischen Romantik in aktuellen Debatten liegen unter anderem in seiner historischen Verengung, durch die jene in Deutschland meist als eine fest umrissene Epoche gilt: die Zeit der Reaktion auf die Französische Revolution und die napoleonische Modernisierungsherrschaft.9 So fällt etwa für Kurt Lenk die politische Romantik mit jener konservativen Bewegung zusammen, die in dieser Zeit die unter Druck geratene deutsche Adelsherrschaft nebst der sie prägenden Ständegesellschaft zu restaurieren suchte.10 Aus dieser Frontstellung ergeben sich nach Lenk spezifische inhaltliche Motive: „Die Romantiker schufen die gegenrevolutionäre Argumentation; vor allem ist es ihnen 7
Eine Ausnahme hierzu bildet ein Kongress über Politische Romantik, der 2014 in Frankfurt die „Spannung zwischen Politik und Leidenschaft“ thematisierte, dabei jedoch zeitlich den Aufstieg des transatlantischen Rechtspopulismus knapp verpasste. Die hierzulande verbreiteten Klagen über einen Verlust von kollektiver Einheit, Identität und Souveränität durch „Islamisierung“ oder „Verschwulung“, durch die Herrschaft von Brüsseler „Bürokraten“ oder marktwirtschaftliche „Globalisierung“ bieten zahlreiche, hier nicht weiter erörterbare Anknüpfungspunkte für eine Deutung als aktualisierte Form politischer Romantik. Ohne dabei den Begriff zu verwenden, verweisen Blühdorn / Butzlaff (2017): Linke, auf die Bedeutung eines solchen Verlustes immaterieller kollektiver Sittlichkeit im politischen Diskurs des Rechtspopulismus. Dass allerdings eine einseitige Verortung der politischen Romantik auf der politischen Rechten nicht überzeugt, lässt sich an einer Schrift zeigen, die vom Gründer des Zentrums für politische Schönheit Philipp Ruch stammt und sich im Namen eines „aggressiven Humanismus“ dezidiert gegen den Rechtspopulismus wendet: Ruch (2015): Wenn nicht wir. 8 So etwa durch Heimböckel, der Rathenaus romantische Literaturtheorie als Teil einer größeren diskursiven Entwicklung sieht und damit bereits eine Fährte zu einer entsprechenden Deutung auch von Rathenaus politischem Denken legt. So begreift Heimböckel diese Entwicklung als „gesamtliterarischen Prozess“ in Reaktion auf eine Entwicklung, „die seit der Gründerzeit auf die Gleise eines unerbittlichen Fortschritts- und Industrialisierungsprozesses geriet und zu einem weitverbreiteten Unbehagen an der aufkommenden Massenzivilisation beitrug“, Heimböckel (1996): Rathenau und die Literatur, S. 60. 9 Das gilt unter anderem für die Textsammlung von Klaus (1985): Romantik in Deutschland. 10 Lenk (1989): Deutscher Konservatismus, S. 71–86.
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um die Wiederlegung des Gedankens zu tun, Recht und Staat seien Dinge, die einen Gegenstand planmäßiger Tätigkeit einzelner Menschen bilden könnten.“11 An die Stelle der Idee einer planmäßigen Gestaltung der Gesellschaft trete so die Idee des „organischen Wachstums“ der Gesellschaft, das nur zu bewahren sei, wenn Autorität, Ordnung und Bindung die revolutionär-aufgeklärten Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ersetzten.12 Erscheint bis hier hin bei Lenk die politische Romantik geradezu als Verkörperung einer sittlichen Antimoderne, wird in seiner Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie von Novalis, dem „Prophet der Romantischen Schule“, noch ein anderer Zug erkennbar. In dessen Fragment Die Christenheit oder Europa, so Lenk, folge auf das goldene Zeitalter mittelalterlicher Einheit zunächst der neuzeitliche Zustand des religiösen Zweifels und der gesellschaftlichen Zerrissenheit. Die von Novalis erhoffte Zukunft stelle indes nicht bloß einen Rückschritt, sondern eine Versöhnung beider Zeitalter auf höherer Stufe dar: eine „Einheit der Mannigfaltigkeit“.13 Was Lenk hier nur streift und nicht weiter vertieft, ist der romantische Versuch einer Integration von Vormoderne und Moderne, deren geschichtsphilosophisches Schema sich bei Rathenau in ganz ähnlicher Weise wiederholt.14 Erkennt man somit entgegen Lenks ursprünglicher Darstellung in der Reaktion der politischen Romantik auf die Französische Revolution weniger eine zeitspezifische Zurückweisung der Moderne als eine gebrochene Form ihrer Aneignung, öffnet sich der Begriff der politischen Romantik zur Analyse ideologischer Äußerungen, die sich nicht einfach auf die Forderung nach Rückkehr zu traditionellen Gesellschafts- und Herrschaftsformen beschränken. Probleme wirft der Begriff der politischen Romantik jedoch nicht nur durch eine zu starke Historisierung, sondern auch durch die Annahme einer subjektivistischen Beliebigkeit dieser Ideologie auf. So entstehe die politische Romantik nach Carl Schmitt, der mit seiner Schrift von 1919 den Begriff der politischen Romantik folgenreich prägte, zwar unter konkreten historischen Voraussetzungen der modernen bürgerlichen Gesellschaft und sei deshalb durch die Epoche der Moderne infiziert. Als emblematisch für diese Modernität sieht Schmitt die Neubesetzung des metaphysischen Zentrums durch das Subjekt und dessen ästhetische Haltung zur Welt, die er als „subjektiven Occasionalismus“ bezeichnet. Sowohl der von Schmitt gezeichnete Fokus auf eine bestimmte innere Haltung, wie auch seine Betonung der poetisch-intuitiven Geisteskräfte spielen, wie im Folgenden gezeigt wird, in Rathenaus Denken eine wichtige Rolle.15 Problematischerweise hebt Schmitt durch den Begriff des Occasionalismus jedoch auch hervor, dass mit der Romantik „wirklich alles zum Anlaß für alles werden [kann] und […] alles Kommende, alle Folge in einer abenteuerlichen Weise unberechenbar [wird].“16 So verliert die politische Romantik letztlich ihren ideologisch spezifischen Gehalt. 11 12 13 14 15 16
Ebd., S. 72. Ebd., S. 76. Ebd., S. 82. Vgl. hierzu das folgende Kapitel. Vgl. im nächsten Kapitel insbesondere Rathenaus Ausführungen zum Zeitalter der Seele. Schmitt (1919): Politische Romantik, S. 24.
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Einen fruchtbareren Ansatz zur Analyse der politischen Romantik als Ideologie, die trotz ihrer subjektiv-ästhetischen Dimension eine inhaltliche Spezifik in Reaktion auf bestimmte Bruchlinien der Moderne gewinnt, ohne dabei gleichzeitig auf eine bestimmte Episode des 19. Jahrhunderts festgelegt zu sein, bietet Dieter Groh. Seine Untersuchungsobjekte bilden dabei im Wesentlichen die frühen intellektuellen Gründer der politischen Romantik in Deutschland, Novalis, Adam Müller und Friedrich Schlegel, an denen sich auch Lenk abarbeitet. Indem Groh als Ausgangspunkt dieser geistigen Bewegung die Industrialisierung bestimmt, deren ökonomische Form – die „Strudelgewalt des Marktes“17 – zur Modernisierung aller Lebensbereiche führe, erweitert er gleichzeitig den historischen Horizont dieser Ideologie.18 An der zunehmend dominierenden und dabei aus politischer Gestaltung wie ethischer Bewertung weitgehend herausgelösten Dynamik des Marktes hätten die Romantiker dabei vor allem eine einseitig zweckrationale Entwicklung des Geistes kritisiert. So richte sich etwa Novalisʼ Heinrich von Ofterdingen gegen die bloß pragmatische Nützlichkeitsorientierung des modernen Menschen durch eine „Poesie, [die] die Wunden [heilt], die der Verstand schlägt“.19 Prägend für diese Form der Kritik ist jedoch wie schon in der zuvor skizzierten Geschichtsphilosophie kein Entweder-oder, sondern ein vermittelndes Sowohl-als-auch: Novalis gehe es letztlich um eine Integration von Poesie und (Zweck)Rationalität, ohne dabei mit den grundlegenden Strukturen der Gesellschaft zu brechen.20 Im erhofften goldenen Zeitalter der Poesie bestehe bei Novalis die kapitalistische Marktökonomie deshalb weiterhin fort, wenn auch in dienender, nicht dominierender Rolle, oder in seinen Worten: wenn der „ächte schaffende Handelsgeist“21 den „groben Egoism“22 ersetze. Neben den Grundstrukturen einer für den modernen Antisemitismus konstitutiven Kritik der „raffenden“ abstrakten Geldwirtschaft gegenüber einer davon vermeintlich unabhängigen „schaffenden“ konkreten Arbeit ist die politische Ökonomie von Novalis damit auch durch die Vision einer gemeinwohlorientierten Wirtschaft gekennzeichnet.23 Es ist deshalb nicht erstaunlich, wenn Novalis – ähnlich wie später auch Rathenau – die von ihm präferierte Form der Ökonomie als freiheitlich in einem Sinne bezeichnet, der über einen reinen Marktliberalismus
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Adam Müller, zit. n. Groh (2004): Gesellschaftskritik, S. 82. Zur Entstehung und Dynamik der Industrialisierung vgl. ebd., S. 65–72. Novalis, zit. n. ebd., S. 98. Ebd. Das Pendant einer solchen Gesellschaftsvision, so wird im nächsten Kapitel genauer dargelegt, bildet bei Rathenau die Veredelung des rationalistischen Geistes des Zeitalters der Mechanisierung durch das Zeitalter der Seele. 21 Novalis, zit. n. ebd., S. 105. 22 Ebd., S. 103. 23 „Die Kritische Theorie hat in der Aufspaltung in ‚produktives Kapital‘ und ‚spekulatives Kapital‘, die Sphäre der Zirkulation, in die die bürgerliche Gesellschaft die Juden traditionell eingesperrt hatte, einen Kern antisemitischer Ideologie und den spezifisch ökonomischen Grund des Antisemitismus erkannt. Während die Herrschaft in der Industrie den Mehrwert an der Quelle aneignet, aber als Produktion verschleiert und fetischisiert wird, wird den Händlern und Banken, der Zirkulationssphäre, die Verantwortlichkeit für die Ausbeutung zugeschrieben, die doch in der Industrie ihre Quelle hat“; siehe Rensmann (1998): Antisemitismus, S. 107f.
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hinausgeht und soziale Verantwortung für eine als wesenhaft gedachte Form der Gemeinschaft impliziert. Hält man sich vor Augen, dass zur Zeit des Todes von Novalis und all jener Protagonisten der politischen Romantik, die Groh untersucht, in Deutschland noch keine einzige Eisenbahn gefahren war, die gesellschaftsverändernde Dynamik von Industrialisierung und Kapitalismus in Deutschland vielmehr gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch Finanzialisierung, Organisation und Massenproduktion erst so richtig an Fahrt aufnahm, liegt es nahe, den Begriff der politischen Romantik historisch weiter auszudehnen. Wie bei Lenk und Schmitt ist allerdings auch bei Groh das Denken Rathenaus in der Erörterung der politischen Romantik kein Thema. Schon zu Beginn wurde jedoch angedeutet, inwiefern Rathenaus Vision eines sittlich erneuerten Menschen ähnlich wie bei Novalis auf der Kritik einer sich selbst überlassenen, markt- und kapitalgetriebenen Dynamik basiert, die er als Mechanisierung und Vermassung adressiert. Inwiefern sich eine Deutung von Rathenaus gesellschaftskritischem Denken und sein ambivalentes Verhältnis zur Revolution als politische Romantik als fruchtbar erweist, wird in den anschließenden Kapiteln dargestellt. 3. ZUR ROMANTISCHEN FORM DER GESELLSCHAFTSKRITIK IN RATHENAUS HAUPTWERKEN Werkgeschichtlich bildet die Zeit vor dem Ersten Weltkriegs bis zu Rathenaus kurzer wie steiler politischer Karriere, die ihn ab 1920 in die höchsten staatlichen Ämter brachte, die jemals ein Jude in Deutschland innehatte, seine produktivste Schaffensphase. Schon seit der Jahrhundertwende publizierte Rathenau Essays und politische Kommentare, unter anderem in der kaiserkritischen Zukunft Maximilian Hardens. Größere Bekanntschaft erreichte er jedoch durch seine Hauptwerke Zur Kritik der Zeit (1912), Zur Mechanik des Geistes (1913) und Von kommenden Dingen (1917), die ihn zusammen mit vielfach gedruckten kleineren Broschüren zu aktuellen politischen Themen gegen Ende des Weltkrieges wie Oswald Spengler und Ferdinand Tönnies zu einem viel besprochenen Modeautor machten. In seinen Hauptwerken entwickelte Rathenau eine Gesellschaftskritik, die im Folgenden genauer dargestellt werden soll, weil sie den romantischen Sound prägt, der auch in seinen Revolutionsschriften hörbar wird. Grundlage dieser Gesellschaftskritik ist eine Geschichtsphilosophie, die mit unterschiedlichen Schwerpunkten, aber strukturell identisch in allen Hauptwerken Rathenaus eine sittlich vorbildhafte Vergangenheit mit einer davon entfremdeten Gegenwart zu einer besseren Zukunft verbindet. Dieser geschichtsphilosophische Dreischritt lässt sich verschiedenen Kategorien zuordnen, die nach Rathenau das wesentliche Merkmal entsprechender historischer Entwicklungsstufen bilden: Stufe eins: „Mutmenschen“, Stufe zwei: „Furchtmenschen“, „Masse“, „Mechanisierung“
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und schließlich Stufe drei: „Seele“.24 Dass Rathenau mit dieser Perspektive in seiner Zeit kein Einzelfall ist, hat Pierluca Azzaro anhand der Ähnlichkeiten dieser Stufenkonstruktion mit der Geschichtsphilosophie Kurt Breysigs und Oswald Spenglers gezeigt: Alle drei Geschichtsdenker sehen in der „Mechanisierung“ […], bzw. der „Zivilisation“ […] eine das „Wesen des Menschen“ bedrohende Gefahr. […]. Die[se] erlebte Gegenwart gab sich nicht mit kleineren Reparaturen zufrieden, sondern strebte nach regelrechter ,Befreiung‘ und ,Erlösung‘.25
Warum es Rathenau vor allem auf eine innerlich-sittliche Erlösung ankommt, wird deutlich anhand des Bildes, das er von der Entstehung der Gegenwart als gesellschaftlicher Umschichtung und Umwertung zu Gunsten einer Herrschaft charakterlich minderwertiger „Furcht- bzw. „Zweckmenschen“ zeichnet. Diesen Persönlichkeitstypus hatte Rathenau bereits 1904 im Aufsatz Von Schwachheit, Furcht und Zweck vorgestellt und einem anderen Typus, den in der Vergangenheit herrschenden „Mutmenschen“ gegenübergestellt.26 Während der Mutmensch im positiven Gefühl der Gegenwart lebe, weil er in der Lage sei, die Zukunft durch seine Visionen zu gestalten, charakterisiere den Furchtmenschen eine schwankende Emotionalität und Reizbarkeit, weil sich sein Denken um die Sorge materieller Annehmlichkeiten in einer unsicher erlebten Zukunft drehe.27 Unter Rückgriff auf Friedrich Nietzsches Unterscheidung von Herren- und Sklavenmoral assoziiert Rathenau mit dem Mutmenschen deshalb charakterliche Stärke und Unabhängigkeit, Qualitäten, die ihn zur schöpferischen Herrschaft über die Furchtmenschen bestimmt haben.28 Wie Nietzsche konstatiert auch Rathenau einen darauf folgenden Herrschaftswechsel, der mit einer Umwertung der Werte einhergehe: „Die neue Epoche brach an, als der Boden Europas von befreiten Rassen und emanzipierten Hörigen zu wimmeln begann“.29 Damit, so erklärt Rathenau in seinem ersten Hauptwerk, der 1912 erschienenen Kritik der Zeit, seien „die transzendenten Ideale der alten Führer […] gefallen, an ihre Stelle tritt der freie Bewerb um den Geschmack der Menge“.30 Auf allen Ebenen steht deshalb für Rathenau die Gegenwart unter dem Zeichen der
24 Mit besonderem Blick für Rathenaus Kritik der Massengesellschaft habe ich Rathenaus Geschichtsphilosophie bereits an anderer Stelle untersucht; siehe Reichhold (2014): Massen. Um insbesondere die ideologische Komplexität von Rathenaus Gesellschaftskritik zu würdigen, erscheint der ideologietheoretische Ansatz der vorliegenden Arbeit gegenüber dem diskursanalytischen Ansatz der ersten Untersuchung fruchtbarer. 25 Azzaro (2005): Geschichtsdenker, S. 86f. 26 Rathenau (1925): Schwachheit. 27 Vgl. ebd., S. 15–23. 28 Vgl. Nietzsche (2017): Genealogie. Anders als bei Nietzsche sieht Rathenau allerdings nicht die Christenheit als Verkörperung der Sklaven- bzw. Furchtmoral, vielmehr findet man bei ihm an vielen Stellen rassistische, sexistische und klassistische Bezugnahmen. Ein Beispiel hierfür liefert Rathenaus Charakterisierung des Furchtmenschen als „Geistes- und Stimmungskomplex des primitiven Farbigen und des Kindes“, Rathenau (1977): Zur Mechanik des Geistes, S. 120. 29 Ders. (1925): Schwachheit, S. 33. 30 Ders. (1977): Kritik der Zeit, S. 30.
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Vorherrschaft der „Masse“: der Staat etwa habe seinen ursprünglich „mythischen“ Charakter verloren und diene nun Mehrheitsinteressen.31 Im Mutmensch, so ließe sich zusammenfassen, verdichtet sich das Ideal eines geistig-moralischen Heroismus und Führertums. Rathenaus Abneigung gegen den auf demokratische Gleichheit und materiellen Fortschritt gerichteten Charakter des Furchtmenschen und seine Sympathie für den nach eigenen, transzendenten Werten lebenden Mutmenschen bedeutet gleichzeitig nicht, dass er Anhänger einer feudalistischen und ständischen Staats- und Gesellschaftsordnung gewesen wäre. Vielmehr bezog Rathenau bereits vor dem Krieg explizit Stellung für ein neues, sozial verantwortliches Bürgertum und entsprechende Institutionen.32 Seine Sympathie für den Mutmenschen bildet als fernes Echo von Rousseaus Idee eines im ursprünglichen Naturzustand lebenden unabhängigen Wilden33 – der bei Rathenau nun als blonder Germane auftritt – vielmehr einen Maßstab zur Kritik der geistig-moralischen Lage seiner Gegenwart. Wie schon Novalis heißt auch Rathenau die strukturelle Fortentwicklung seiner Zeit grundsätzlich willkommen. Rathenaus mythologisierende Erzählung charakterlicher Umschichtung, die er stellenweise auch als „Entgermanisierung“34 bezeichnet, mischt sich dabei mit einer stärker soziologisch untermauerten Rekonstruktion der Gegenwart. Die Furchtmenschen der Gegenwart sind nach Rathenau nicht nur abhängig vom Urteil der Masse, sondern auch der „Mechanisierung“ unterworfen, die als Prozess ökonomischer und geistiger Rationalisierung, begleitet von Entfremdung und sozialer Spaltung verstanden werden kann. Als zentrales Gesetz der Mechanisierung definiert Rathenau: „Beschleunigung, […], Einheitlichkeit und Einfachheit der Typen, Ersparnis an Arbeit“35. Die damit einhergehende Entfremdung schildert Rathenau in den Kommenden Dingen: Die Weltarbeit vom Feldherrn bis zum Postboten, vom Tagelöhner bis zum Finanzmann steht unter dem Druck des Akkord- und Rekordsystems […]. Selbst in der Richtung und Fassung seiner Werktätigkeit ist der Mensch nicht frei. Mag er zur Einseitigkeit oder zur Vielfältigkeit bestimmt sein, die mechanistische Ordnung benutzt ihn zur Spezialisierung.36
So wie die Mechanisierung die Menschen zu einem spezialisierten Rädchen in einem zunehmend verselbstständigten Produktionsprozess degradiere und in 31 Ebd., S. 55. 32 Während des Krieges erneuerte Rathenau diese Position unter anderem in einem kritischen Artikel über das preußische Dreiklassenwahlrecht in dem er unter dem Titel Wahl und Volksvertretung „die weitgehende Begrenzung bei der Rekrutierung der politischen und militärischen Führungskräfte in Preußen und im Reich auf den agrarischen und militärischen Adel neben der politischen Selbstentsagung des Bürgertums als die beiden wesentlichen Ursachen für die Reformunfähigkeit des politischen Systems […] und vor allem auch die verfehlte Weltmachtpolitik der wilhelminischen Epoche insgesamt verantwortlich machte“; siehe Jaser (2017): Einleitung, S. 28. 33 Vgl. Rousseau (2001): Ungleichheit. 34 Rathenau (1977): Zur Mechanik des Geistes, S. 132. 35 Ders. (1977): Kritik der Zeit, S. 48. 36 Ders. (1977): Von kommenden Dingen, S. 314f.
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Fähigkeiten und Rhythmus von sich selbst entfremde, so entfremde sich der Mensch auch von seiner Umwelt und seinem Gegenüber: Gilt von den Dingen die Abmessung, so gilt vom Handeln der Erfolg; er betäubt das sittliche Gefühl, so wie Messen und Wägen das Qualitätsgefühl verblödet. […] Die Dinge selbst, vernachlässigt und verachtet, bieten keine Freude mehr, denn sie sind Mittel geworden. Mittel ist alles, Ding, Mensch, Natur, Gott; hinter ihnen steht gespenstisch und irreal das Ding-an-sich desStrebens: der Zweck.37
Der Staat habe nach Rathenau dieser Entwicklung bislang nichts entgegengesetzt, sondern sei im Wesentlichen den Entwicklungsgesetzen der Mechanisierung gefolgt. Der für ihn dagegen wahre Begriff der Regierung als „Leitung einer Menge durch überlegenen Willen und überlegene Einsicht zu vorbestimmten Zielen“ sei weitestgehend verdrängt worden durch Orientierung an organisierten wirtschaftlichen Interessen.38 Rathenaus Kritik an der Abhängigkeit des Furcht- bzw. Zweckmenschen von der Masse wird hier soziologisch unterlegt durch eine Kritik an einem verselbstständigten kapitalistischen Produktionsprozess und der durch ihn geförderten materialistisch-instrumentellen Ethik.39 Dieser entspreche nach Rathenau die Ausweitung pragmatischer-wissenschaftlicher Fähigkeiten, die sich auf die Beherrschung der Außenwelt richteten, um die von ihm kritisierten egoistisch-materiellen Zwecke zu erfüllen. Ähnlich wie andere kulturkritische AutorInnen seiner Zeit sieht auch Rathenau in dieser „Geistesrevolution“40 einen Verlust handlungsleitender Werte, von schöpferisch-kreativen Kräften und religiösem Glauben, die für ihn nicht durch den Intellekt, sondern allein durch die Seele vermittelt werden.41 Wenn auch Rathenau die Herrschaft von Masse und Mechanisierung kritisch schildert und in überwiegend trüben Farben ausmalt, konnte er, was nicht übersehen werden sollte, dieser Entwicklung auch zahlreiche positive Seiten abgewinnen. Denn der Verlust authentischer und transzendenter Werte, die den Charakter der Mutmenschen prägten, wird nach Rathenau begleitet durch immer größeren materiellen Wohlstand. Mit Blick auf Rathenaus zeitgeschichtliches Wirken als Unternehmer in einem der dynamischsten Industriezweige seiner Zeit, der Elektroindustrie, aber auch mit Blick auf seine Rolle als Organisator der Kriegsgüterproduktion im Ersten Weltkrieg, ist diese optimistische Haltung wenig verwunderlich. Was 37 Ebd., S. 313. 38 Ders. (1977): Kritik der Zeit, S. 86. 39 An Rathenaus Ausführungen über die Zweckrationalität des Furchtmenschen lässt sich eine Rezeption von Ferdinand Tönniesʼ Willenstheorie erkennen, wie ja auch der mit Rathenau bekannte Werner Sombart diesem nicht zufällig eine „geistige Vaterschaft für die erfolgreichen Zeitdiagnosen Walther Rathenaus zuschrieb“; siehe Lenger (2012): Sombart, S. 242. Zu Tönnies siehe den Beitrag von Alexander Wierzock in diesem Band. 40 Rathenau (1977): Von kommenden Dingen, S. 322. 41 „Niemals kann sie [die intellektuale Kraft, Anm. d. Verf.] bestimmen: dies ist als höchstes Gut der Menschheit beschieden und erreichbar, dies sollen wir erstreben, müssen wir erringen. Denn all unser Willen, soweit er nicht animalisch ist, entspringt den Quellen der Seele“; siehe ebd., S. 325.
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deshalb für Rathenau einerseits die Schwäche der Mechanisierung ausmacht: die Fertigung in großer Stückzahl durch Spezialisierung und Organisation sowie die Verallgemeinerung wissenschaftlicher Fähigkeiten, ist für ihn andererseits Stärke. Zu den Folgen dieser Stärke zählt Rathenau in der Kritik der Zeit verbesserte Lebensbedingungen für alle: eine „Mittelstandstendenz“.42 Diese grundsätzlich positive Haltung Rathenaus gegenüber den produktiven Aussichten des Kapitalismus unterscheidet ihn wesentlich von der geistesaristokratischen Intellektuellen-Gruppe des Forte-Kreises, die ab 1914 ebenfalls auf einen sittlich erneuerten Menschen hinarbeitete.43 Diesen Kreis, dem unter anderem auch Martin Buber und Gustav Landauer angehörten, bezeichnete Rathenau, der ihm bereits kurz nach seiner Gründung beitrat, enthusiastisch als „Bruderschaftsbund von Seelenmenschen“44. Die von Landauer und Buber vertretenen Ideale eines ethischen Sozialismus waren im Gegensatz zu denen Rathenaus jedoch radikal vorindustriell und antikapitalistisch. Den Gegensatz zwischen diesem radikalen Utopismus und Rathenaus Reformbestrebungen sieht Dieter Heimböckel noch vertieft durch den Unterschied zwischen einem Antietatismus, wie er einerseits Bubers Konzept der „Wiedergeburt der Völker aus dem Geist der Gemeinde“ kennzeichne und Rathenaus Hoffnung auf zentralstaatliche Lösungen andererseits.45 Die Notwendigkeit kollektiv-etatistischer Lösungen sozialer Ungleichheiten und Krisen betonte Rathenau im Zuge des fortdauernden Krieges immer vehementer. In den Kommenden Dingen beklagt er so etwa die immer ungleicher verteilten Effizienzgewinne der Mechanisierung und die Entstehung einer proletarischen Unterschicht, die weder selbstständig agieren noch gesellschaftlich aufsteigen könne.46 Trotz dieser Tendenzen zu Ungleichheit und sozialer Spaltung hält die Mechanisierung für Rathenau jedoch letztlich alle Mittel bereit, um durch staatlich durchgesetzte Reformen des (Luxus-)Konsums, der Vermögensverteilung und der Bildung auch den Massen Wohlstand zu gewähren.47 Schuld an der bislang ausgebliebenen
42 Ders. (1977): Kritik der Zeit, S. 60. 43 Zum Forte-Kreis vgl. Holste (1992): Rekonstruktion und zu Rathenaus Rolle darin vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Nietzsche-Rezeption vgl. Heimböckel (1996): Rathenau und die Literatur, S. 260–264. 44 Rathenau zit. n. ebd., S. 260. 45 Ebd., S. 261f. Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges verschärften sich unter dem Druck konkreter politischer Positionierungen die Gegensätze zwischen Rathenau und zentralen Mitgliedern des Forte-Kreises. Obwohl einige Kontakte weiterhin erhalten blieben beteiligte sich Rathenau ab 1914 nicht mehr an den Diskussionen, vgl. Heimböckel (2001): Rathenau und der Forte-Kreis, S. 177. 46 „Trotz Abendland, Christentum und Zivilisation“, so Rathenau (1977): Von kommenden Dingen, S. 317, sei ein Hörigkeitsverhältnis entstanden, das „ohne gesetzlichen Zwang, ohne sichtbare Herrengewalt, durch den bloßen Ablauf scheinbar freier Wirtschaftsvorgänge gesichert, eine […] erbliche Abhängigkeit von Schicht zu Schicht verbürgt.“ 47 Obwohl solche Reformen lediglich „polizeiliche“ Qualität besäßen und die eigentliche Aufgabe einer „ethischen“ Entwicklung eine ganz andere sei, betont Rathenau: „Selbstverständlich und leicht erfüllbare Menschenpflicht ist die Beseitigung aller Not und drückenden Armut; die
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Verwirklichung der produktiven Potentiale der Mechanisierung sei vor allem der Widerstand einer herrschenden Klasse, in der sich alte ständische Eliten mit neueren Eliten des Besitzes verbündet hätten.48 Auf der Seite oppositioneller Kräfte sieht es für Rathenau ähnlich düster aus: hier blockiere eine sozialistische Bewegung, die sich im Wesentlichen auf materielle Nöte konzentriere.49 Um die positiven Potentiale der Mechanisierung wirklich nutzen zu können, bedarf es nach Rathenau vor allem einer erneuten Umwertung der Werte. In der gedanklich opaken und von seinen Hauptschriften am wenigsten erfolgreichen Mechanik des Geistes fordert Rathenau deshalb einen „Doppelschritt: halb irdisch, halb transzendent“50. Was gebraucht werde, um der geistigen Entfremdung und den sozialen Spaltungen der Gegenwart entgegenzutreten, seien Ideale, die sich auf die reale Entwicklung der Gesellschaft beziehen ließen. Diese Ideale ergeben sich für ihn aus dem Nachvollzug zweier Prozesse: der Evolution eines individuellen „erlebten Geistes“ aus der Mannigfaltigkeit einzelner Geistesinhalte und die Evolution eines überindividuellen „erschauten Geistes“, der mehr sei als die Summe seiner Teile.51 Relevant ist hierbei insbesondere sein Ziel der Erweiterung rationaler Geisteskräfte um Kräfte der Intuition und Spiritualität. Dieses Ziel entspricht seiner Annahme einer „Kollektivseele“ bzw. eines „Kollektivgeistes“ als Charakteristikum menschlicher Gemeinschaften, die wesentlich durch solche nicht-rationalen, nichtmechanischen Kräfte bewegt würden. Georg Bollenbeck verweist in Bezug auf diese Qualitäten des Seelischen auf ein „Schillern“ des Seelenbegriffs zwischen den Polen des Subjektiven und des Objektiven, das zu jener Zeit auch dem Begriff der „Kultur“ eigen gewesen sei.52 Indem sowohl „Kultur“ als auch „Seele“ nicht nur auf eine subjektive Innerlichkeit, sondern auch auf eine gemeinschaftsbildende Objektivität verwiesen, wirkten sie handlungsanleitend auch über den Bereich des Privaten hinaus. So unkonkret Rathenaus Bild des zukünftigen Zeitalters der Seele letztlich bleibt: interessant ist daran insbesondere eine Überführung des heroischen Ideals der „Mutmenschen“ in ein Gemeinschaftsideal, das im Gegensatz zur mechanistischen Spaltung durch ein „Streben nach Gleichrichtung, nach Zusammenhang und Verschmelzung, […] der Beseitigung des Individuellen“ gekennzeichnet ist.53 Zentral für die Charakterisierung der Gesellschaftskritik in Rathenaus Hauptwerken bis 1917 als politischer Romantik ist somit die Amalgamierung sowohl moderner wie antimoderner Elemente, wie sie bereits in Lenks Rekonstruktion der historisch vermittelnden Geschichtsphilosophie von Novalis deutlich wurde. Ein solches Amalgam prägt auch Rathenaus sowohl mythologisierende wie soziologische
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Kosten eines Rüstungsjahres würden ausreichen, um die Blutschuld der Gesellschaft zu tilgen, die heute noch den Hunger und seine Sünden in ihrem Schoße duldet“; siehe ebd., S. 327. Vgl. ebd., S. 338. Vgl. ebd., S. 339. Ders. (1977): Mechanik des Geistes, S. 109. Ebd., S. 117–210. Bollenbeck (2007): Kulturkritik, S. 206. Rathenau (1977): Mechanik des Geistes, S. 102.
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Perspektiven auf den Verlust authentischer und transzendenter Werte im Gefolge einer (zweck-)rationalistischen Entzauberung der Welt. Wie vor allem Groh an den Gründern der politischen Romantik in Deutschland gezeigt hat, spiegelt sich in dieser Verlustgeschichte das Bewusstsein für die gesellschaftsverändernde und stratifizierende Kraft des industriellen Kapitalismus, die Rathenau als Mechanisierung und Vermassung begreift. Das Zukunftsbild, das Rathenau demgegenüber als „Zeitalter der Seele“ entwirft, zielt – vermittelt durch die von Schmitt hervorgehobene radikale Subjektivität – auf eine Neuschöpfung von Sittlichkeit, welche die Kräfte der Mechanisierung einer neuen gesellschaftlichen Einheit unterordnet. Die Verbindung dieser sittlichen Neuschöpfung mit der Ablehnung sozialistischer Revolutionen einerseits und dem Plädoyer für durchaus weitreichende soziale Reformen andererseits wird nun anhand verschiedener kleinerer Schriften Rathenaus zur Revolution genauer dargestellt. Die beschworene Authentizität des Mutmenschen kippt dabei in eine Identifizierung mit einer stark nationalistischen Sittlichkeit als Grundlage eines neuen sozialen Volksstaates. 4. ROMANTIK UND REVOLUTION IN RATHENAUS NACHKRIEGSPUBLIZISTIK Nach Vollendung seiner Hauptwerke publizierte Rathenau zwischen 1918 und 1920 in rascher Folge etwa zehn kleinere Schriften, mit denen er Einfluss auf die sich überschlagenden Ereignisse zu nehmen suchte.54 Anhand von drei exemplarischen Beispielen möchte ich zeigen, wie sich Rathenaus zuvor skizzierte Gesellschaftskritik in seinen Revolutionsschriften noch einmal zuspitzt, ihre romantische Form aber durchhält. Zunächst geht es dabei um Rathenaus Vorstellungen eines neuen Staats als rätedemokratischer Volksstaat, sodann um die Abgrenzung dieses Zieles und seiner sozial-reformistischen Implikationen von sozialistischen Utopien und zuletzt um die nationalistische Konnotation der von Rathenau im Kern geforderten sittlichen Revolution. Im März 1919, kurz nach der Wahl der deutschen Nationalversammlung und deren ersten Beratungen in Weimar über den verfassungsmäßigen Aufbau eines neuen parlamentarischen Staates, veröffentlicht Rathenau seine Schrift Vom neuen Staat. Darin zeichnet Rathenau das Bild eines abgelebten Kaiserreichs, in dem ungeformten Massen bislang lediglich militärisch Struktur gegeben worden sei. Die mangelnde Verbindung zwischen Staatsapparat und Volk drücke sich auch darin aus, dass die Einzelstaaten von Preußen nur durch die Mittel eines aufgeklärten Despotismus, nicht durch eine kulturelle Einigung zusammengehalten werden konnten.55 Bei dieser auf Militarismus und Bürokratie gegründeten Herrschaft, die im Zuge gesellschaftlicher Differenzierung dazu übergegangen sei, sich unpoli54 Zur Chronologie und dem großen Publikumserfolg dieser Schriften, vgl. Jaser (2017): Einleitung, S. 23–30. 55 Vgl. Rathenau (1925): Vom neuen Staat, S. 279.
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tischen Imperativen, insbesondere der Wirtschaft zu unterwerfen, handele es sich um ein „mechanisiertes Staatswesen“.56 Ein wünschenswerter neuer Staat ist nach Rathenau allerdings auch nicht durch die bisherige Revolution in Sicht, noch weniger durch jene, die der radikale Sozialismus fordere: Es ist vollkommen wahr, was die Revolutionäre sagen: die deutsche Revolution ist nicht erfüllt, sie hat noch nicht einmal angefangen. Erfüllt […] wird sie nicht durch Bolschewisten und Spartakisten, sondern durch eine Reihe von Volksschöpfungen, deren erste die soziale und demokratische Verfassung sein soll.57
Zum einen bedeutet Rathenaus Verweis auf die Unabgeschlossenheit der Revolution, dass die Schritte in Richtung Parlamentarismus die Probleme der Gegenwart nicht lindern, weil dieser die Interessenmajorität über die Kulturfrage stelle und daher nur die „Fiktion“ einer wirklichen Abbildung des Volkes darstelle.58 Die sozial-demokratische Verfassung, die Rathenau dagegen an die Stelle einer parlamentarischen stellen möchte, nimmt in gewisser Weise die in dieser Zeit von der Unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands (USPD) vertretene Forderung nach einer Räterepublik auf. Es gelte demokratisch organisierten Berufsgruppen und Verbänden als „Teilstaaten“ einer allgemeinen demokratischen Zentralinstanz an die Seite zu stellen: „echte Demokratie und Volkstribunat der Massen.“59 Diese demokratisch äußerst weitgehenden Reformen sind bei Rathenau allerdings in ein romantisch-organizistisches Staatsverständnis eingelassen. Wie in Friedrich Meineckes Konstruktion des deutschen Staates als „Kulturnation“ denkt auch Rathenau diesen Staat nicht als Ausdruck eines kollektiven Willensaktes, sondern als Ausdruck einer gewachsenen Sittlichkeit.60 Inwiefern sich dieses Insistieren auf Integration durch Sittlichkeit nicht nur gegen Demokratiedefizite des Kaiserreichs richtete, sondern wie bereits angedeutet, auch gegen den Materialismus radikalerer sozialistischer Neuordnungsprojekte, lässt sich an einem Text mit dem Titel Kritik der dreifachen Revolution: Apologie zeigen, den Rathenau ein halbes Jahr später, im August 1919 veröffentlichte. Auch in diesem Text kritisiert Rathenau die bisherigen Ergebnisse der deutschen Revolution, die seiner Auffassung nach wegen mangelnder Zukunftsentwürfe eher einem Durchrosten altersschwacher Ketten gleiche. Deshalb unterstreicht Rathenau: „Nur die zweite Revolution kann uns retten, doch nicht die Revolution der Kosaken, sondern die Revolution der Gesinnung“.61 Diese Gesinnung kann nach Rathenau nur eine deutsche Gesinnung sein: Internationalismus, Pazifismus und Bolschewismus
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Ebd., S. 279. Ebd., S. 267–268. Ebd., S. 287. Ebd., S. 289. „Das deutsche Dorf, beharrend auf dem natürlich Gegebenen, Art, Sitte und Wesen wahrend, ist unser Bestes und wird in Zukunft unser Stärkstes sein“ – lebendiges Deutschtum statt „abstracktes Preußentum“; siehe ebd., S. 281. 61 Rathenau (1919): Kritik, S. 15.
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seien alle von außen, anstatt aus deutscher „Tiefe“ gekommen.62 Es ist diese spezifisch romantische Anrufung einer historisch tiefen Wesenhaftigkeit, die Rathenau der russischen Revolution und ihren deutschen Anhängern entgegenstellt.63 Die sich darin manifestierende Einheitsidee kennzeichnet für Rathenau auch die revolutionäre Motivation, die sich aus einer Feindseligkeit gegenüber Menschen speist, die ihre Loyalität zu einer bestimmten Klasse oder Schicht über ihr Verhältnis zur Nation stellen.64 Werden so bestimmte Menschen für Rathenau zu Feinden, so sind es spezifische sittliche Qualitäten, die sie umgekehrt zu wahren Revolutionären machen. Ihr Ziel ist: innere Solidarität des Volkes, Veredelung und Würdigung der Arbeit, Ausgleich des Lebensanspruchs, Aufhebung des proletarischen Verhältnisses, Verantwortung eines jeden für die Gemeinschaft, Verantwortung der Gemeinschaft für jeden, Wandlung der Herrschaft in Führung.65
Wie sich schon in Novalis Kritik am „groben Egoism“ eine für die politische Romantik stilprägende personalisierte und moralisierende Kritik des liberalen Kapitalismus abzeichnete, so wird sie bei Rathenau mit neuen sozial-reformistischen Konnotationen versehen fortgeführt. Die von Rathenau geforderte Revolution der Gesinnung ist dabei weit entfernt davon, bloß eine individuelle zu sein, sie ist vielmehr verbunden mit einer ins Allgemeine zielenden geistig-moralischen Führung.66 Neben anderen hat zuletzt auch Thomas Rohkrämer diskutiert, ob Rathenaus Gesinnungsrevolution als politische Theologie, civic religion oder neuen Glaube zu verstehen sei.67 Mit einem letzten Text Die neue Gesellschaft vom Oktober 1919, der wie schon Die dreifache Revolution zeitlich unmittelbar an die Konstituierung der Weimarer Republik anschließt, die Revolution jedoch weiter zu treiben gedenkt, möchte ich gegenüber Rohkrämer meine Zuordnung Rathenaus zur politischen Romantik verteidigen. Rohkrämers Zuordnung scheint mir vor allem deshalb nicht zutreffend, weil sich Rathenau in seinen Revolutionsschriften zwar gegenüber dem Bürgertum offensiv zur Form eines sittlichen Sozialismus bekennt, diesen jedoch weniger auf eine religiöse Ethik denn auf einen spezifisch deutschen Volkscharakter gründet. Prägend für Die neue Gesellschaft ist in dieser Hinsicht die Idee einer Parallele zwischen individuellen Schöpfungen und der Schöpfung gesellschaftlicher Institutionen als „Summe unseres Charakters“.68 Ähnlich wie in theologischen Konzeptionen ist der Zusammenhang von Individuum und Kollektiv ein unvermittelter. Die Individuen werden erfasst durch eine Offenbarung: „Geistes-
62 Ebd., S. 18. 63 Die Revolution gesellschaftlicher Institutionen und Strukturen stellt aus seiner Perspektive eine Fixierung auf Oberflächenphänomene dar. 64 Vgl. ebd., S. 23–25. 65 Ebd., S. 51f. 66 Wie genau diese Form der Führung institutionell ausgestaltet werden soll, dazu schweigt sich Rathenau aus. 67 Rohkrämer (2009): Politische Theologie. 68 Rathenau (1925): Die Neue Gesellschaft, S. 352.
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abwesend sind die Massen, und geistesanwesend können sie nur dann werden, wenn durch den Mund eines wahren Propheten der Geist sie ergreift.“69 Das Volk ist in dieser Hinsicht für Rathenau nicht eine Versammlung von Individuen mit unterschiedlichen Interessen, die in liberaler Tradition einen Kompromiss oder in vernunft-republikanischer Tradition einen gemeinsamen Willen formulieren. Das Volk ist für Rathenau aber auch nicht das Gefäß für eine universalistische Ethik, wie sie für monotheistische Religionen gelten. In diesem Falle anknüpfend an die völkischnationalistische Tradition der Romantik ist das Volk für Rathenau stattdessen „Quelle des deutschen Geistes“.70 5. FAZIT Inwiefern lässt sich Rathenaus politisches Denken und die für sein Werk konstitutive Gesellschaftskritik als politische Romantik deuten? In welchem Verhältnis steht diese zur Frage der Revolution, die in der Transformationszeit zwischen 1918 und 1920 auch für Rathenau besondere Dringlichkeit erlangte? Lässt sich darüber hinaus etwas über die Rolle sagen, die Rathenau in der Entwicklung der politischen Romantik in Deutschland spielte? Um die verschiedenen Spuren zusammenzuführen, die in den vorangehenden Abschnitten zur Beantwortung dieser Fragen untersucht wurden, sei zunächst auf ihren Ausgang zurückverwiesen: die besondere Zentrierung von Rathenaus Denken um die Erneuerung der inneren, sittlichen Verfasstheit des Menschen. Daran anknüpfend konnte im zweiten Kapitel durch Entfaltung des Begriffs der politischen Romantik in relevanten Werken der politischen Theorie- und Ideengeschichte gezeigt werden, dass die von der Romantik anvisierte Erneuerung menschlicher Innerlichkeit immer auch eine Erneuerung der Vergangenheit darstellt. Insbesondere gegenüber Theorien, die in der politischen Romantik eine bloß nostalgische Sichtweise auf untergegangene vormoderne Gesellschaftsordnungen erkennen, ist auf eine spezifische Ambivalenz gegenüber der Moderne zu verweisen, die Rathenaus politisches Denken ebenso wie seine vielfältigen sozialen Rollen kennzeichnet. In die lange Reihe derjenigen, die diese Ambivalenz bemerkten und an ihr teilweise ressentiment-geladenen Anstoß nahmen, ordnete sich in revolutionären Zeiten auch die Zeitung ‚Die Republik‘, die Rathenau als: „Jesus im Frack, […] Inhaber von 39 bis 43 Aufsichtsratstellen und Philosoph von Kommenden Dingen, Schloßbesitzer und Mehrheitssozialist […], das paradoxeste aller paradoxen Lebewesen des alten Deutschlands“71 bezeichnete. Als zentrales Motiv der politischen Romantik – so wurde zunächst anhand der Frühromantik deutlich – kann dabei der Versuch gelten, solche sowohl zeitlich (Jesus im Frack) wie sozial (Schlossherr und Sozialist) 69 Ebd., S. 401 70 Ebd., S. 351. Aus dieser völkisch-nationalistischen Perspektive, erscheinen nun viele Defizite der gegenwärtigen Gesellschaft: Entfremdung oder die Herrschaft des Rechnerischen als Ausdruck des Geistes „halbslawischer Unterschichten“; siehe ebd., S. 391. 71 Die Republik v. 19.12.1918, zit. nach Sabrow (1994): Rathenaumord, S. 71.
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disparaten Zustände und Rollen zu vereinen, wobei der Sittlichkeit eine zentrale Rolle zufällt. Anhand von Rathenaus Hauptschriften konnte daraufhin im dritten Kapitel gezeigt werden, inwiefern die romantische Form seiner Gesellschaftskritik auf einer mythologisierenden Charakterologie fußt, die um das geistesaristokratische Ideal des „Mutmenschen“ kreist. Es ist dieser Maßstab „ursprünglicher“ heroisch-transzendentaler Werte, der Rathenaus Kritik an einer sich in der Moderne ausweitenden Entfremdung durch Mechanisierung und Vermassung die Spitzen verleiht. Eine geläuterte Zukunft erscheint in Rathenaus Hauptschriften dabei ähnlich wie in Novalis Vision einer Vereinigung von vormoderner Religiosität und moderner Zweckrationalität nicht einfach als historischer Rückschritt, sondern als sittliche Veredelung der Moderne.72 Vor diesem Hintergrund ist wenig verwunderlich, dass Rathenau sich selbst nie mit einem bloß nostalgisch gewendeten Begriff der Romantik assoziierte.73 In dem von Rathenau erhofften zukünftigen Zeitalter der Seele fungiert die Sittlichkeit jedoch nicht bloß als Band, das Vergangenheit und Gegenwart zu einer besseren Zukunft verbindet, sondern auch als soziales Band. Während in Hinblick auf dieses Band Autoren wie Azzaro von einem Bruch sprechen, der Rathenaus Werk in eine erste geistesaristokratische Phase und eine ab 1917 folgende kollektivistische Phase trenne,74 legt die vorliegende Analyse eine Akzentverschiebung nahe. So changiert bereits in Rathenaus Hauptschriften sein Konzept von Sittlichkeit zwischen unbedingter Individualität und „Kollektivseele“, die bei ihm die Grundlage eines neuen sozialen Volksstaates bildet. Auch wenn Rathenaus primäres Ziel der Erneuerung innerer Sittlichkeit eine Differenz gegenüber seinerzeit vorhandenen radikaleren materialistischen Utopien markiert, teilt er doch die Hoffnung auf freiheitlichere, demokratischere und sozial gerechtere Verhältnisse als noch im Kaiserreich. Mit Kriegsende und der revolutionären Anfangsphase, so konnte im vierten Kapitel anhand von drei relevanten politischen Broschüren gezeigt werden, spitzte sich Rathenaus Gesellschaftskritik noch einmal zu. So radikalisierte er etwa seine Forderung nach Demokratisierung um die Forderung eines rätedemokratischen 72 Anders als bei den Frühromantikern spielt für Rathenau die Ende des 19. Jahrhunderts beginnende Entwicklung hin zum organisierten Kapitalismus, d. h. zur Integration von Großbetrieben und deren Kooperation sowohl untereinander als auch mit dem Staat eine wichtige Rolle in der Entwicklung seiner gemischt- und gemeinwirtschaftlichen Ideen. Rathenaus Beitrag zur politischen Ökonomie der politischen Romantik beruht auch auf dieser Weiterentwicklung. 73 „Was ist historische Romantik? Unfruchtbarkeit. Unfähigkeit das nicht Gegebene vorzustellen, geschweige denn zu gestalten; übermäßige Fähigkeit, sich mit weiblicher Anpassung in das geschichtlich Gegebene, das geschichtlich Gewesene, von Michelangelo bis zum geblümten Stickmuster, einzufühlen“; siehe Rathenau (1925): Die neue Gesellschaft, S. 393. Auf Rathenaus Unfähigkeit sich weibliche Rollen anders als anpassungsfähig vorzustellen, muss hier nicht weiter eingegangen werden. Sie hängt zusammen mit Rathenaus eigener Form der Romantik: „Unserer Beschreibung des zukünftigen Gesellschaftszustandes haben wir eine unscheinbare Voraussetzung zu Grunde gelegt: die Andauer unserer Gesinnung, Ethik und geistigen Einstellung“; siehe ebd., S. 395. 74 Azzaro (2005): Geschichtsdenker, S. 301.
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Aufbaus, der Ergänzung fand in seinen gemeinwirtschaftlichen Vorstellungen. Überwölbt waren diese Forderungen jedoch nach wie vor durch eine romantische Gesellschaftstheorie, die immer stärker völkisch-nationalistische Züge annahm. Die romantische Sehnsucht nach einer weniger durch vernünftige Einsicht oder demokratische Willensbildung als durch Weltanschauung vermittelten sozialen Integration öffnet dabei Flanken von Rathenaus Denken gegenüber der parallel entstehenden Denkbewegung der „konservativen Revolution“, die an einer völkischen Umdeutung der neuen Republik arbeitete.75 Es wäre jedoch fatal, mit den Flanken schon den Kern von Rathenaus politischer Romantik getroffen zu sehen. Wie vielmehr Klaus Ries in Bezug auf die Entwicklung der deutschen politischen Romantik seit ihrer Gründung zu Beginn des 19. Jahrhunderts betont, läuft eine solche Interpretation Gefahr, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzende Vereinnahmung der politischen Romantik durch Anhänger der national-konservativen Ideen von 1914 fortzuschreiben.76 Einer solchen Vereinnahmung sperrt sich Rathenaus Offenheit für die strukturellen Transformationen des imperialen Kaiserreiches zur Weimarer Republik und seine Sensibilität für die gesellschaftlichen Widersprüche seiner Zeit, deren Lösung er allerdings zu allererst durch sittliche Integration zu beseitigen suchte. LITERATUR Azzaro, Pierluca: Deutsche Geschichtsdenker um die Jahrhundertwende in Deutschland und ihr Einfluss in Italien: Kurt Breysig, Walther Rathenau und Oswald Spengler, Bern 2005. Blühdorn, Ingolf / Butzlaff, Felix: Wo Linke nicht irren dürfen. Die Interpretation des Rechtspopulismus als Neuauflage der sozialen Frage geht am eigentlichen Kern der Sache vorbei. In: taz Online 10.04.2017. URL: http://www.taz.de/!5396079/ (zuletzt aufgerufen am 14.2.2018). Bollenbeck, Georg: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München 2007. Bruendel, Steffen: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003. Chaloupek, Günther: „Neue Wirtschaft“ und „Von kommenden Dingen“. Walther Rathenau als Ökonom und Sozialphilosoph. In: Ders. u. a. (Hrsg.): Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie Bd. XXX. Die Zeit um den Ersten Weltkrieg als Krisenzeit der Ökonomen, Berlin 2016, 177–208. Deutsches Historisches Museum (Hrsg.): Die Extreme berühren sich. Walther Rathenau 1867–1922, Berlin 1994. Gall, Lothar: Walther Rathenau, Portrait einer Epoche, München 2009. Groh, Dieter: Die Gesellschaftskritik der Politischen Romantik: eine Neubewertung ihrer Auseinandersetzung mit den Vorboten von Industrialisierung und Modernisierung, Bochum 2004.
75 In Hinblick auf die Nähe Rathenaus zur konservativ-völkischen Bewegung ist insbesondere auf sein ambivalentes Verhältnis zum völkischen Publizisten Wilhelm Schwaner zu verweisen, den Rathenau zeitweise finanziell unterstütze, Rathenau / Schwaner (2008): Freundschaft im Widerspruch. Zur konservativen Revolution, für die im Gegensatz zu Rathenau die Abschaffung der verfassungsmäßigen Grundlagen der Weimarer Republik einen zentralen Angriffspunkt darstellte, vgl. Weiß (2012): Moderne Antimoderne. 76 Vgl. Ries (2015): Wirkmächtigkeit romantischer Denkfiguren, S. 130.
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Weiß, Volker: Moderne Antimoderne. Arthur Moeller van den Bruck und der Wandel des Konservatismus, Paderborn u. a. 2012.
PAUL NATORPS SOZIALIDEALISMUS Transpolitisches Regieren im Rätestaat Albert Dikovich In der vom Jenaer Verleger Eugen Diederichs herausgegebenen Zeitschrift Die Tat erschien im Herbst 1919 ein Aufruf an das Proletariat,1 der keinen Zweifel daran ließ, dass sich in Deutschland eine Gruppe von Intellektuellen zusammengefunden hatte, um mit der Mission der Diederichsʼschen Monatsschrift für die Zukunft deutscher Kultur ernst zu machen: Die geistige Erneuerung Deutschlands.2 Die historischen Umstände dieses Wiederaufgreifens der Erneuerungslosung waren jedoch ganz andere, wesentlich düsterere als jene Zeiten der Aufbruchsstimmung, in denen die nunmehr ins zehnte Jahr gekommene Zeitschrift ins Leben gerufen wurde. Gemeinschaft ist das keineswegs neue, aber mit unvermindertem Pathos beschworene Schlagwort, das den Aufruf dominiert. Träger dieser Erneuerung des Gemeinschaftsgedankens ist aber nicht mehr die eigensinnige und rebellierende Jugend, sind auch nicht mehr die jungen Männer im Feld, sondern die darbende und zu einem erheblichen Teil politisch radikalisierte Arbeiterschaft; ein soziales Segment also, das man in denkbar weiter Ferne von den elitär-esoterischen Diskussionen, denen die Tat in ihrer bisherigen Laufzeit ein Forum geboten hatte, vermuten müsste. Die Unterzeichner des Aufrufs – darunter der protestantische Theologe Martin Dibelius, der Philosoph Martin Buber, der pazifistische Schriftsteller Alfons Paquet und der für den Expressionismus bedeutende Verleger Kurt Wolff – scheuen dabei gar nicht davor zurück, sich als eine Elite zu deklarieren; eine Elite des Geistes, die sich mit dem Aufruf zu den „Brüdern im Proletariat“ und zur „gemeinsamen Aufgabe“ bekennt. Unumwunden wird auch festgehalten, dass es nur zusammen mit dieser Elite gelingen könne, diese Aufgabe auszubuchstabieren. „Einig müssen wir sein: Euer Hunger nach Freiheit muß sich vereinen mit dem Wissen um ihre geistigen Voraussetzungen, mit dem reinen Willen der Wahrheit und des Rechts. Dann kommen wir zur lebendigen, schaffenden Tatgemeinschaft, dann sind wir die Macht!“ Das Angebot jener, die sich „in Freiheit von der Notarbeit […] der Geistespflege widmen konnten“ an jene, die durch ihre wirtschaftliche Stellung „um 1
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Zitate im Folgenden alle aus Anonym (1919): Aufruf an das Proletariat, S. 613–615. Die Entstehungsgeschichte des Aufrufs behandelt Jegelka (1992): Paul Natorp, S. 158–164. Zum Schaffen Natorps ab der Zeit der Revolution vgl. ebd., S. 143–168; Sieg (2006): Realitätsferner Utopismus. Zu Eugen Diederichs’ (kultur)politischen Bestrebungen in dieser Zeit, die in der Organisation der drei Lauensteiner Tagungen im Jahre 1917 kulminieren, siehe Hübinger (1996): Eugen Diederichs. Vgl. auch Diederichs (1924): Selbstentfaltung.
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eine reichere, freiere innere Entwicklung betrogen wurden“, liegt im „Zusammenwirken der Arbeit um die äußeren Lebensbedingungen und der Arbeit um den inneren Lebensgehalt“. Den großen „Befreiungskampf“ des Proletariats sucht dieser Diskurs von der materiellen Teilhabe in das Feld der Ideenkämpfe zu verschieben; der Kampf dürfe allein „der des Geistes um den Geist sein“. In dieser „Kampfgemeinschaft“ der Gebildeten und der Darbenden werde die „edlere Kultur“ als „Gemeingut aller“ wieder Wurzeln fassen, und dies – nicht die bloße Besitzergreifung der Produktionsmittel des äußeren Wohlstandes – müsse das Ziel der noch ausstehenden Revolutionierung Deutschlands sein. Was an diesem Musterfall zeittypischer romantisch-sozialistischer Bündnisund Tatideen auffällt, ist die Benennung des Gegners, den die beschworene Allianz so unterschiedlicher Kräfte zu überwinden habe. Es ist zum einen natürlich der die Gesellschaft in Klassen und entgegengesetzte ökonomische Interessen spaltende Kapitalismus; es ist aber nicht weniger der „bestehende politische Betrieb“. „Politik im herkömmlichen Sinne, die alten Parteien und ihre Programme haben ausgedient. Heute gilt nur eines: Bekenntnis zu denen, die gleichen Zieles sind.“ Gemeint ist damit nicht, dass eine neue Parteienlandschaft die alte ersetzen sollte. Gemeint ist eine Abschaffung der Politik der Parteien überhaupt: „Wir erblicken in den Spaltungen der wirtschaftlichen Klassen und der politischen Parteien die steilsten Mauern, die Seele und Seele, Geist und Geist voneinander trennen. Gemeinsam wollen wir dafür streiten, daß sie stürzen! Nicht eher ruhen, bis auf dem ganzen Erdkreis von den Mauern, die Haß und Blindheit errichtet haben, kein Stein mehr auf dem andern ist!“ Hass, Blindheit, Mauern zwischen Mensch und Mensch: Hier wird pazifistisches Vokabular gegen die Parteienpolitik gewendet, letztere offenbar unter Verdacht gestellt, Manifestation derselben destruktiven Kräfte zu sein, die Deutschland und Europa in die Katastrophe gestürzt hatten. Eine solche Haltung gegenüber den politischen Institutionen war bei weitem keine Seltenheit im intellektuellen Diskurs der unmittelbaren Nachkriegszeit. In einer Stimmung der Gemeinschaftssehnsucht wollte man sich nicht zufrieden geben mit einer politischen Ordnung, die der Austragung der Gegensätze Raum gibt, deren friedenssichernde Leistung aber gerade in der regelunterworfenen Normalisierung anstatt der Überwindung dieser Gegensätze liegt. Man verlangte nach der Aufhebung der Dissonanzen und Antagonismen in der übergreifenden einheitsstiftenden Tat, den Schritt von der politisierten Gesellschaft zu einer postpolitischen Gemeinschaftlichkeit.3 Man sagte dem politischen Streit wortgewaltig den Kampf an – dabei kaum mehr ins Feld führen könnend als eben das pathosvoll drängende Wort, das allzu schnell im lärmenden Raum
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Zu Ferdinand Tönnies, der nicht nur der wirkungsreichste Theoretiker der Gemeinschaft im deutschsprachigen Kontext war, sondern auch bei der Entstehung des Aufrufs an das Proletariat involviert war, um dann allerdings seine Unterstützung zu verweigern, siehe den Beitrag von Alexander Wierzock in diesem Band.
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der Politik verhallte.4 Man begab sich auf die Suche nach einer vollkommenen sozialen Friedensordnung und konnte dem System parlamentarisch-demokratischer Konfliktaustragung nur wenig abgewinnen. Man betrieb einen großen intellektuellen Aufwand für Entwürfe, die in ihrem Maximalismus über den Radius des Erreichbaren weit hinausschossen. Ein bedeutender deutscher Philosoph, der diese Bestrebungen teilte und dessen Name in der Unterstützerliste am Ende des anonym erscheinenden Aufrufs, den er selbst mitverfasst hatte, aufscheint, ist der „Universitätsprofessor Dr. Paul Natorp“. 1. DIE METAPHYSIK DES KAMPFES, DER ANTAGONISMUS DER PARTEIEN UND DIE STELLUNG DER PHILOSOPHIE Bevor seine politisch-philosophischen Überlegungen aus der Revolutionszeit eingehend untersucht werden, soll an dieser Stelle jedoch etwas weiter ausgeholt und Natorps Kampfansage gegen den Parteienstaat in einem übergreifenden und in das vorangegangene Jahrhundert zurückreichenden diskursgeschichtlichen Zusammenhang verortet werden. Es kann als ein der Ideengeschichte gut bekannter Sachverhalt gelten, dass eine Metaphysik des Kampfes, des Streites, der kollidierenden Gegensätze seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Denken von Gesellschaft, Politik, Geschichte und schließlich auch von Kultur bestimmte. Thomas Robert Malthus, Charles Darwin, Friedrich Nietzsche, Karl Marx schließlich sind nur die bekanntesten Vertreter und Begründer dieses Weltbildes. Von ‚Metaphysik‘ kann hier insofern gesprochen werden, als die Dimension des Kampfes gleichsam das ‚wahre Sein‘ darstellt, das hinter dem Schein der Ordnung zu finden ist; der Ordnung der gesellschaftlichen Institutionen, des Rechts, auch jener der moralischen und kulturellen Werte. Philosophie, Nationalökonomie, Biologie, Geschichtswissenschaften, auch die junge Soziologie beteiligten sich an einer Dechiffrierung der bellizistischen Dimension, aus der die stets nur auf Zeit stabile Ordnung des Friedens hervorgeht und die als ständige Bedrohung letzterer und schöpferische Unruhe nie ganz auszuschalten ist. In seinen Vorlesungen am Collège de France von 1976, von denen die beiden ersten unter dem Titel Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte 1986 in deutscher Sprache erschienen sind, gibt Michel Foucault eine konzise Zusammenfassung der Grundanschauungen dieses Diskurses „über den Krieg als Boden der Gesellschaftsbeziehungen“5: Der Krieg ist der Motor der Institutionen und der Ordnung. Auch in dem geringsten seiner Räderwerke wird der Frieden vom Krieg getrieben. Anders gesagt: man muß unter dem Frieden den Krieg herauslesen. […] Wir befinden uns im Krieg – die einen gegen die anderen. Eine Schlachtlinie durchquert die gesamte Gesellschaft durchgängig und andauernd, und diese
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Immerhin wurde der Aufruf an das Proletariat bei einer Versammlung der Frankfurter KPD von Alfons Paquet verlesen und in der kommunistischen Hanauer „Freiheit“ (Ausgabe vom 23.6.1919) in einer früheren Fassung abgedruckt; siehe Jegelka (1992): Paul Natorp, S. 161. Foucault (1986): Licht des Krieges, S. 10.
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Albert Dikovich Schlachtlinie stellt jeden von uns in ein Lager oder in ein anderes. Es gibt kein neutrales Subjekt, man ist unvermeidlicherweise der Gegner von jemandem.6
Der letzte Satz des Zitats deutet an, dass dieser Diskurs wesentlich auch ein Diskurs über den Status des erkennenden, Wissenschaft oder Philosophie betreibenden Subjekts in der (sozialen) Welt ist. Alle Wissenschaft ist gemäß dieser „Metaphysik“ immer schon in die Sphäre der konfligierenden Kräfte und Interessen hineingezogen, sie erscheint unvermeidlich als parteiisch. Die Kämpfenden sind sich selbst und dem Zufall überlassen; kein göttlicher Richterspruch, kein absoluter Geist entscheidet über den Ausgang des Kampfes. Die Geschichte der sich historisch realisierenden Wahrheit, der Vernunft oder des Geistes wird zu einer Geschichte siegreicher Macht. Foucault spricht von einer Ablösung des „philosophisch-juristischen Diskurs[es]“ der Universalität und Neutralität durch den „politisch-historischen Diskurs“.7 Der traditionelle Anspruch von Wissenschaft überhaupt und von Philosophie auf Neutralität und Allgemeingültigkeit scheint hier bedroht zu sein und bedarf der Rechtfertigung. Welche Position oder Stellung könnte und sollte die Philosophie angesichts dieser allgegenwärtigen Kämpfe beziehen? Diese Frage ist insbesondere für ihr Verhältnis zur Politik bedeutend. Der Kampf umfasst nämlich zwar alle Sphären des Gesellschaftslebens: von der wissenschaftlichen über die kulturelle hin zur wirtschaftlichen und biologischen. Dabei hat aber die politische eine Sonderstellung: Der politische Kampf ist nämlich nicht nur Repräsentation dieser antagonistischen Dimension der Gesellschaft, ihre Austragung innerhalb und auch außerhalb der zu diesem Zweck geschaffenen Institutionen und Regelsysteme, die explizite Artikulation der gegensätzlichen Interessen, der kollidierenden Zielrichtungen des Wollens. Der politische Konflikt ist vor allem der Konflikt um den Einsatz der staatlichen Macht- und Gewaltmittel zur Regulierung des gesellschaftlichen Konfliktzustandes. Die einzelnen gesellschaftlichen Konfliktsphären gravitieren also gleichsam um diesen speziellen und zugleich umfassenden Bereich der Politik, in dem über sie entschieden wird. Das Paradigma des Kampfes hatte bekanntlich jener politischen Philosophie zugrunde gelegen, die weit über das Deutsche Reich hinaus unter dem Namen Realpolitik bekannt wurde.8 Dabei kam das in dieser Denkschule vorausgesetzte Postulat einer fundamentalen antagonistischen Verfasstheit von Politik im Grunde nur für die Außenpolitik uneingeschränkt zum Tragen. Die moralischen Konsequenzen, 6 7 8
Ebd., S. 12. Ebd., S. 21. Erwähnt sei hier lediglich das für diese politische Denkrichtung namensgebende Werk Ludwig August von Rochaus, dessen erster Band im Jahre 1853 erschien; Rochau (1972): Grundsätze der Realpolitik. Der Kampf wurde darüber hinaus im späten 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert als soziologische und rechtswissenschaftliche Grundkategorie systematisch entwickelt; siehe u. a. Jhering (1992): Kampf ums Recht (zuerst 1872); Ratzenhofer (1893): Wesen und Zweck der Politik (3 Bände); Berolzheimer (1904–1907): System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie (5 Bände) oder in Simmel (1908): Soziologie (Kap. „Der Streit“, S. 186–255).
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die man aus den „Naturgesetzen“ des Politischen zog, betrafen die zwischenstaatlichen Beziehungen, nicht aber die Politik im Inneren. Man kann also von einem Doppelstandard sprechen. Aus einer konsequenten Applikation der realpolitischen Postulate hätte sich nicht nur ein Bild des Staatsinneren als eines durch Gegensätze und Kämpfe zwischen den Klassen, Regionen, Konfessionen und Parteien bestimmten ergeben. Es hätte diesen Zustand auch als einen natürlichen Ausdruck eben jener grundlegenden anthropologischen Faktoren anerkannt, aus denen der Kampf zwischen den staatlichen Gemeinwesen abgeleitet wurde. Kampf und survival of the fittest wären dann im Inneren und Äußeren gleichwertige Manifestationen des die menschliche Natur bestimmenden Willens zur Macht.9 Doch dies war nicht im Sinne großer Teile des sich nach 1848 seiner revolutionär-demokratischen Bestrebungen begebenden und im Laufe des späten 19. Jahrhunderts sich zusehends in einer Interessensallianz mit dem preußisch-wilhelminischen Obrigkeitsstaat sehenden Bürgertums. Besorgt durch das Erstarken der Arbeiterbewegung betrachtete es den Parteienkampf daher als eine Störung der Einheit, die im realpolitischen Diskurs als das alternativlose Ideal der innerstaatlichen Ordnung postuliert wurde.10 Einheit im Inneren und Kampfverhältnisse nach Außen stehen dabei nicht in einem Widerspruch, sondern ergänzen sich gegenseitig, bilden zwei Seiten einer Medaille. Der Kampf ist nämlich nicht allein der Gegenspieler des im 19. Jahrhunderts mit seiner Religionskritik, seinen revolutionären Bewegungen und seinen sozialen Kämpfen in die Krise geratenden neutralen Dritten, wie er von Foucault beschrieben wird, er kann selbst die Ausübung von Ordnungsmacht begründen. Die Ordnung der inneren Verhältnisse richtet sich nämlich am technischen Kriterium der größtmöglichen Mobilisierungskraft mit Blick auf die staatliche Selbstbehauptung nach außen aus.11 Im militaristischen Nationalismus ist der Kampf Instrument für die politische Einheitsstiftung, so wie umgekehrt das inner-
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Dieser Gegensatz zwischen der Bewertung des zwischenstaatlichen und des innerstaatlichen politischen Lebens wurde u. a. von Ferdinand Tönnies bemerkt; vgl. Tönnies (1901): Politik und Moral, S. 7–19. Zu Tönnies’ Haltung gegenüber dem Parteiensystem im wilhelminischen Deutschland und in der Weimarer Republik vgl. Wierzock (2014): Wart-Turm. 10 Der „Kulturkampf“ und das Sozialistengesetz von 1878 sind die ebenso Manifestationen dieser Haltung gegenüber der politischen Antagonizität im Inneren wie die Bismarcksche Sozialgesetzgebung. Mit beiden wurde auf eine Vereinheitlichung des politischen Gemeinwesens abgezielt, die weiten Teilen des bürgerlichen Spektrums als erstrebenswert galt. So schrieb Paul Natorp noch 1915 über die Sozialgesetzgebung Bismarcks, dass man in ihr „einen Hauptgrund der Einheit, die uns stark gemacht hat, zu ahnen beginn[e].“ Hier lägen „die klaren Richtlinien für den Aufbau eines neuen Deutschland. Es muß zur Wahrheit werden, dass es in Deutschland keine Parteien mehr gibt, sondern nur noch Deutsche; denn sonst sind wir verloren.“ Natorp (1915): Wiedergeburt unseres Volkes, S. 197. Der Verfasser dankt Alexander Wierzock für wertvolle Hinweise. 11 Vgl. u. a. Scholz (1915): Politik und Moral, S. 2: „Die Ziele der äußeren Politik müssen durch die innere vorbereitet sein. In diesem Sinne wird die innere Politik fast immer irgendwie auf die äußere hinzuarbeiten haben. Nur ein innerlich kräftiger Staat wird auch nach außen hin wirken können.“
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staatliche Leben als Ressource für die Führung des zwischenstaatlichen Kampfes behandelt wird. Es kann also festgestellt werden, dass die dominierende kampfbetonte politische Lehre im Wilhelminismus auch ein Ideal der Pazifizierung in sich enthielt; der nationale Bewährungskampf, der in bestimmten zugespitzten Situationen in Krieg kippen konnte, verlangte den Frieden im Inneren. So einseitig wie im realpolitischen Diskurs über zwischenstaatliche Relationen die Antagonizität hervorgekehrt wird, so einseitig wird mit Blick auf das Innere die allen Partikularinteressen übergeordnete Pflicht zum Dienst am größeren staatlichen Ganzen betont. Dieses Denkmotiv war in der idealistischen deutschen Kriegsphilosophie geradezu omnipräsent.12 Es war ein Denkmotiv, dessen massiver Wertverlust mit dem Zusammenbruch im November 1918 und der Kapitulation des Deutschen Reiches unvermeidbar war. Es erfolgte eine Abwendung vom Primat der Außenpolitik und eine allgemeine Zuwendung zu Fragen der innerstaatlichen Neuordnung, des Ausgleichs der sozialen Gegensätze, der Parteienpolitik und der Alternativen zu dieser – Debatten, die begleitet wurden von der Furcht vor der staatlichen Desintegration und den zentrifugalen Kräften, die nach dem Wegfall der bindenden Klammer sich als Gegensatz der Klassen, aber auch der Regionen und Konfessionen ungehemmt geltend machen würden.13 Dies ist die Situation, in der die philosophisch-politischen Ordnungsideen eines Paul Natorps zu verorten sind, die Herausforderung, auf die eine Antwort gegeben werden sollte. Der prekäre Status des sozialen Zusammenhalts und das Problem der ordnungsstiftenden Autorität angesichts einer durch materielle Interessensgegensätze, aber 12 Vgl. Mommsen (1990): Geist von 1914, bes. S. 407; 413. Eine Sammlung von Begrüßungen dieser durch den Krieg gewonnenen Einheit durch deutsche Gelehrte gab der Publizist und Historiker Friedrich Thimme heraus; Thimme (1915): Vom inneren Frieden. Um zu verdeutlichen, in welchem Maße der Krieg für Natorp eine gemeinschaftsstiftende Funktion hatte und eben jene Überwindung der sozialen und weltanschaulichen Gegensätze brachte, die später der Rätestaat erreichen sollte, sei hier eine längere Passage aus seinem ersten Kriegsbuch zitiert: „Wenn eine Lehre uns durch diesen Krieg unverlierbar eingehämmert ist, so ist es die, daß der Staat kein Gaukelspiel ist, sondern die mächtigste, allernötigste Wirklichkeit, mächtiger und nötiger als alle Partei, mächtig über wirtschaftliche, religiöse, kulturelle Gegensätze und Eigenwilligkeiten, mächtig über die Rasse, über die Sprache und alle fortwirkenden Einflüsse geschichtlicher Erinnerungen. Nicht umsonst werden wir die große Stunde erlebt haben, die größte vielleicht, die je einer Nation zu durchleben beschieden war, die Stunde, da all die Millionen des Deutschen Reichs […] wie ein Mann aufstanden und einander zuschworen, zusammenzustehen in diesem heiligen, bitter notwendigen Existenzkampf, wo sie alle, vom Kaiser bis zum letzten Sozialdemokraten, keine Partei mehr kannten und keine Klasse, keine Konfession und keine Rasse, sondern alle, einer wie der andre ans Vaterland […] sich anschlossen und um des Vaterlands willen an jeden Vaterlandsgenossen, wie er auch sich nenne und was er bekenne.“ Natorp (1915): Tag des Deutschen, S. 40f. 13 So stellte Natorp 1923 in einer Rede vor Jungsozialisten in Hofgeismar fest: „So erleben wir es, vielleicht greller als jemals, heute, daß das greifbarste Ergebnis des äußeren Krieges der Völker wider einander der unabsehbar verschärfte, bis zum äußersten sich zuspitzende innere Krieg der vorher miteinander kriegführenden Völker, siegender wie besiegter, ist.“ Natorp (1924): Der Deutsche, S. 28.
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auch durch unvereinbare Wertvorstellungen gespaltenen Gesellschaft war indes bereits weit früher Gegenstand von Krisendiagnosen und theoretischen wie institutionellen Bewältigungsversuchen geworden. Dabei ging es auch um die Restitution einer über den Gegensätzen stehenden und die soziale Kohäsion sichernden Instanz, die äußerst unterschiedlich konzeptionalisiert wurde. Hervorzuheben ist der bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte Versuch des Staatswissenschaftlers Lorenz von Stein, der eine Erneuerung der seit der Französischen Revolution unter Legitimationsdruck stehenden Institution der Monarchie durch die Verknüpfung monarchischer Souveränität mit gesellschaftstechnischem Regulierungswissen vorschlug und mit dem sozialen Königtum eine Instanz des Ausgleichs der Interessensgegensätze und der Befriedung des Klassenkampfes entwarf.14 Ab den 1890er Jahren, die einen Schub an gesellschaftsreformatorischer Ideenproduktion brachten, waren es vermehrt auch Philosophen wie Paul Natorp, Rudolf Stammler oder Friedrich Paulsen, die gesellschafts- und staatstheoretische Überlegungen mit praktischen Neuordnungsvorschlägen verbanden.15 Letztgenannter war es, der in einem am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert entstandenen Text eine intensive Debatte über das Wesen und die Probleme der modernen Politik in Deutschland auslöste, in deren Verlauf nicht nur die legitimatorischen Fundamente des Parlaments und des Parteiwesens zur Diskussion gestellt wurden, sondern auch die Stellung von Wissenschaft und schließlich auch Philosophie gegenüber der Politik erörtert wurde.16
14 Einen guten Überblick über von Steins umfassendes Schaffen gibt Fischer (1990): Wissenschaft der Gesellschaft. Prägend war auch, wie Wolfgang Mommsen betont, das Vertrauen in eine bürokratische Lösung innerer Konflikte durch eine allein dem Allgemeinwohl verpflichtete Beamtenschaft, das auf Hegels staatstheoretischer Einschätzung von letzterem als „allgemeinem Stand“ zurückzuführen sei; vgl. Mommsen (1990): Geist von 1914, S. 409f. Entsprechende Äußerungen Paul Natorps über die „strenge Uneigennützigkeit der Justiz und Verwaltung“, die eine „seltene, an besondere Bedingungen geknüpfte Ausnahme“ darstelle, in Deutschland aber „zur selbstverständlichen, festen Voraussetzung unseres ganzen nationalen Lebens“ geworden sei, finden sich in Natorp (1915): Tag des Deutschen, S. 79. 15 Angeführt seien hier nur Tönnies (1901): Politik und Moral; Goldscheid (1902): Zur Ethik des Gesamtwillens sowie Stammler (1896): Wirtschaft und Recht und Natorp (1920): Sozialpädagogik (zuerst 1899). Die beiden letztgenannten Werke werden im Folgenden ausführlicher behandelt werden. Neben dem Neukantianismus bildete vorwiegend der Positivismus den philosophischen Hintergrund solcher politisch-sozialer Reformideen. Bemerkenswert dabei ist, dass den höchst unterschiedlichen philosophischen Grundlagen eine weitgehende Übereinstimmung in der negativen Bewertung der Politik, insbesondere des Parlamentarismus gegenübersteht. Durch das Wirken einer neutralen, auf die Harmonisierung von Interessen und eine allgemeine Lustmaximierung abzielenden Planungsrationalität sollte, so ein Grundmotiv der positivistischen Gesellschaftsreformer, der politische Konflikt abgeschafft werden. Zu den Visionen einer „technokratischen Anti-Politik“ und transpolitischen „Sachlichkeit“ im Regierungshandeln insbesondere im Umfeld des Deutschen Monistenbundes siehe Lübbe (1963): Politische Philosophie, S. 153–172. Siehe auch die Beiträge von Katharina Neef und Christoffer Leber in diesem Band. 16 Vom Bruch (1980): Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung, S. 435f.
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In seinem Vortrag Parteipolitik und Moral aus dem Jahr 1900 deutet der Berliner Philosoph und Pädagoge Paulsen das Parteiwesen im Wilhelminismus als Resultat des Verlusts gesellschaftlicher „Einmütigkeit“17 und evoziert das Bild der Politik als Fortführung des Krieges mit anderen Mitteln – eine Inversion also des berühmten Ausspruchs Clausewitzʼ, die ebenso im oben zitierten Text Foucaults zu finden ist: Die Parteien stehen sich […] wie kriegführende Mächte gegenüber. Und hierdurch wird ihre Lebensbethätigung der Form nach wesentlich bestimmt. Alle dieselben Vorgänge, die dem Kriege eigen sind, kehren hier wieder: Siege und Niederlagen, Waffenstillstände und Friedensschlüsse, Bündnisse und Annäherungen, Strategie und Taktik; und auch auf die innere Organisation und Führung wird diese Naturbestimmtheit der Parteien zurückwirken.18
Durch das System der Parteien und das Parlament als öffentlicher Bühne der Auseinandersetzungen zwischen diesen wird der innergesellschaftliche Kampf Formen und Regeln unterworfen, gebändigt, aber auch als Normalität anerkannt und auf Dauer gestellt. Parteien sind durch geteilte Interessen, Ideen, Organisation und Führung zusammengehaltene quasi-militärische Einheiten, und das öffentliche Leben im modernen Staat gestaltet sich als ein Kampf dieser Einheiten um die Macht: Die „Lebensbestätigung“, das „Streben jeder Partei als solcher ist: ihren Willen gegen den Willen der Parteien zum Willen des Ganzen zu machen; sie strebt die herrschende Partei zu werden. […] Der Wille zur Macht ist die Seele jeder Partei.“19 Paulsen deutet an, dass der politische Kampf sich nicht nur in der „Zerrissenheit des öffentlichen Lebens“, in der Hemmung „gemeinnütziger Wirksamkeit“ im zivilen Bereich, schließlich auch durch die Verdrängung „sachlicher Erwägungen“ durch „Parteirücksichten“ in der Verwaltung und selbst in der Rechtsprechung bemerkbar mache, sondern sich darüber hinaus die Wahrheit einzuverleiben drohe.20 Er steht damit in einem antipodischen Verhältnis zur Philosophie. ‚Gerechtigkeit‘ oder ‚Gemeinwohl‘ verkommen zu Leerbegriffen, die von den unterschiedlichen Parteien entsprechend ihrer Ideologien und Interessen unterschiedlich besetzt und gegeneinander ins Feld geführt werden. Ziel des politischen Streitgespräches ist nicht die Eruierung der Wahrheit, sondern die Überredung möglichst vieler; nicht Wahrheitsliebe, sondern „Beredsamkeit“21 ist die entscheidende Eigenschaft des Politikers. Daher werde auch der „Philosoph“ und „ehrliche Mann“ der Gegenwart wie schon Platon und Sokrates eine „Abneigung gegen Politik und Politiker, wie sie sind“, verspüren. Daher könnten sie, denen „Wahrheit und Gerechtigkeit etwas anderes sind, als das was der Menge scheint und gefällt, etwas anderes als schön klingende Wörter, mit denen in der Volksversammlung um den Volksbeschluß gekämpft wird“, sich mit dem „politischen Leben […] nicht befassen“.22
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Paulsen (1900): Parteipolitik und Moral, S. 4. Ebd., S. 20. Hervorh. im Original. Vgl. Foucault (1986): Licht des Krieges, S. 8. Paulsen (1900): Parteipolitik und Moral, S. 19. Hervorh. im Original. Ebd., S. 6. Ebd., S. 23. Ebd., S. 7.
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Was aus diesem politischen Kampf als gesetztes Recht hervorgeht, kann nie die kohärente Umsetzung eines Begriffs des Gemeinwohls oder eines Ideals der Gerechtigkeit sein, sondern nur Abbild der jeweils bestehenden Kräfteverhältnisse zwischen den konfligierenden und in der Regel zu Kompromissen gezwungenen Parteien und Ideologien. Der Staat und seine Institutionenlandschaft emergieren und reproduzieren sich aus diesem Kampf heraus. Der Philosoph ist nach Paulsen im Wesentlichen ein Außenstehender in diesem Prozess, der durch und durch kontingenten Charakter hat und in dem die Leidenschaft in der Regel über die Vernunft und wissenschaftliche Sachlichkeit obsiegt. Dem Philosophen kommt nur die Aufgabe zu, für dieses Geschehen einen ethischen Rahmen zu entwerfen und einzufordern; eine politische Moral, der nach Paulsen der Charakter einer „Kriegsmoral“23 zukomme. Darüber hinaus aber hat der Philosoph grundsätzlich zu fragen, ob dem von Unvernunft gekennzeichneten Geschehen der Parteipolitik ein vernunftbegründetes Existenzrecht zukommt. Hier zeigt sich Paulsen, der viel Negatives über den Parteienstaat zu sagen weiß, jedoch als ein philosophischer Advokat desselben. In der „geschichtsphilosophischen Betrachtung“ zeige sich nämlich, dass „Parteien und Parteienkämpfe […], so viel des Unerfreulichen sie mit sich bringen, dennoch eine unvermeidliche und eine innerlich notwendige Erscheinung des geschichtlichen Lebens sind.“24 Aus der Bildung der Parteien werde aus der unorganisierten „Menge ein gegliedertes, verhandlungs- und entschließungsfähiges Ganzes. Die Parteibildung ist gleichsam die in einer Menge spontan entstehende Notorganisation, um überhaupt aktionsfähig zu werden.“25 Das in Parteien zerspaltene öffentliche Leben ist, mag man auch diesen permanenten inneren Kriegszustand beklagenswert finden, kein Chaos, sondern eine neue Organisationsform der Gesellschaft, die aus der Desintegration einer älteren Form – als historische Zäsur nennt Paulsen den „Wiener Frieden“26 – hervorgeht. Auch wenn er den Ursprung der im Parteienwesen zur politischen Repräsentation und Austragung kommenden sozialen Gegensätze als Zerfall eines Ursprungszustandes der Einmütigkeit erklärt, nimmt der Berliner Philosoph davon Abstand, der beschriebenen gesellschaftlichen und politischen Verfasstheit der Moderne das Gegenbild eines wiederherzustellenden organizistischen Staatswesens entgegenzusetzen, im Gegenteil: Paulsen weist auf die Potentiale und Kräfte hin, die im Kampf der Parteien liegen und die es mit einer Moral der Parteienpolitik zu fördern gelte: „Sie ist das Mittel, alle in der Bevölkerung vorhandenen lebendigen Kräfte zur Entwicklung, alle Interessen zur Geltung zu bringen und damit die Gesundheit des Ganzen zu sichern.“27 Paulsen, der sich im großen System der Ethik als Anhänger des sozialen Königtums im Geiste Lorenz von Steins deklariert hatte,28 ringt sich in seiner kleinen Schrift Parteipolitik und
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Ebd., S. 22. Ebd., S. 8. Ebd., S. 9. Hervorh. im Original. Ebd., S. 4. Ebd., S. 12. Hervorh. im Original. Paulsen (1894): System der Ethik, S. 514–552.
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Moral zu einer politischen Moral durch, die als pragmatischer modus vivendi angesichts der Realität des Parteiwesens und der Parteienkämpfe zu verstehen ist, und ein Programm zur Selbstkultivierung und -disziplinierung der Politiktreibenden enthält.29 Am Ende kommt sein Programm jedoch nicht ohne die Figur des monarchischen Schlichters und Richters und damit einen Modus der Entscheidungsfindung aus, also die Instanz eines über den Gegensätzen und über jeder Parteilichkeit stehenden Dritten.30 Nicht in Paulsens Befürwortung der Monarchie, jedoch in seiner realistischen Einschätzung des modernen politischen Lebens und in der Suche nach Formen der Kultivierung des letzteren als Aufgabenstellung für den politischen Philosophen liegt im Keim eine Position angelegt, wie sie im Revolutionsjahr 1918 von prominenten Vertretern des südwestdeutschen Neukantianismus wie Max Weber und von Gustav Radbruch eingenommen und zur Entfaltung gebracht wurde. Es ist die Position jener, die den Gegensatz der Interessen und der Wertvorstellungen als das unhintergehbare Signum und Schicksal der Moderne anerkannten, die jedoch nach dem Zusammenbruch der Monarchie in der Wahl des politischen Austragungsmodus der Konflikte auf die Parlamentarisierung Deutschlands setzten und die Steuerungsmöglichkeiten von Wissenschaft und Philosophie gegenüber dem politischen Geschehen für beschränkt hielten, dabei aber dennoch auf einem starken Konzept wissenschaftlicher Objektivität insistierten. Es ist gerade der übergeordnete neutrale Standpunkt wissenschaftlicher Erkenntnis, von dem her sich die Bestimmung des Kampfes bzw. des Krieges zeigt, der Vater aller existierenden Dinge zu sein. Der Kampf um Macht bestimmt demnach Politik, Wirtschaft und das kulturelle Leben gleichermaßen, er ist ein Grundzug des menschlichen Zusammenlebens und durch keine wie auch immer geartete Ordnung zu beseitigen. Allen Antworten auf die Fragen der Gerechtigkeit, des guten Lebens, des ästhetisch Schönen etc. ist, so die Gewissheit des Vertreters dieser Position, eine Parteinahme immanent. Der Philosoph sieht jedoch, dass keine bestimmte Kampfpartei als alleiniger Träger der Wahrheit auszuzeichnen ist und weiß auch, dass der Kampf als unentscheidbarer auch ein potentiell unendlicher ist. Wissenschaft und Philosophie können den Streit der Wertanschauungen nicht schlichten oder gar stellvertretend entscheiden. Ein
29 Paulsen hat damit Teil an der in den 1890er Jahren aus dem angloamerikanischen Raum in die deutschsprachigen Länder gelangenden ‚Ethischen Bewegung‘, die in den Worten Max Adlers „in eine Welt des Kampfes und des Hasses […] die Ethik als ein Panier der Versöhnung“ zu tragen und die „ökonomischen und politischen Kämpfe unserer Zeit zu ‚ethisieren‘“ versuchte; Adler (1924): Das Soziologische, S. 6. Im publizistischen Organ der „Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur“ mit dem Namen Ethische Kultur veröffentlichten neben Paulsen auch Ferdinand Tönnies und Paul Natorp. 30 Vgl. Paulsen (1900): Parteipolitik und Moral, S. 44f. Paulsen befürwortet also eine Repräsentation der unterschiedlichen Interessen und Weltanschauungen durch Parteien und eine durch konfrontative Debatte geprägte politische Öffentlichkeit, tritt aber für die konstitutionelle Monarchie als Regierungsform ein; Parteien sollen auf die Regierung Einfluss nehmen können, doch sie sollen nicht herrschen. Zum Problemkomplex des „Dritten“ in Philosophie und Kulturwissenschaften vgl. Bedorf (2003): Dimensionen des Dritten und Esslinger u. a. (2010): Figur des Dritten.
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epistemologisch begründeter Wertrelativismus bedingt, dass der Philosoph das Monopol auf die Antwortkompetenz in den zentralen Fragen des politischen Lebens, auf die Frage nach der guten und gerechten Gesetzgebung, nicht für sich beanspruchen kann und daher die Entscheidung an den offenen politischen Streit der Parteien und der Weltanschauungen delegieren muss. Doch diese neutrale Wissenschaft des Politischen will nicht für das Treiben von Politik belanglos sein. Indem sie die Frage nach der Natur des politischen Handelns an sich stellt, will sie zum Selbstverständnis der Politiktreibenden und zur Zivilisierung der politischen Konfliktaustragung beitragen. Wenn der Philosoph Normen und Prinzipien des politischen Handelns oder Richtlinien für institutionelle Arrangements des politischen Lebens artikuliert, so werden diese nicht als Positionierungen innerhalb des Spektrums der konfligierenden Wertvorstellungen verstanden, sondern in der grundlegenden Verfasstheit von Politik als Moment des gesellschaftlichen Zusammenlebens begründet. Die Schranken der Enthaltung im Kampf der Werte sind jedoch bald überschritten. Wenn etwa Max Weber auf der Suche nach einer der antagonistischen Natur des sozialen Lebens entsprechenden Einrichtung des staatlichen Gemeinwesens den Gedanken vom politischen Betrieb als Wettkampf im Sinne der „politischen Führerauslese“ entwickelt,31 der in seiner optimalen Austragungsform die Durchsetzung des befähigteren Kombattanten wahrscheinlich macht;32 wenn weiters die Strategie zur Legitimation bestimmter Spielordnungen von Demokratie und Parlamentarismus abzielt auf deren Eigenschaft, ein effektives Selektionsverfahren zu sein, so ist bereits Parteinahme im Kampf der Werte vollzogen worden in Form einer Entscheidung für ein Wertideal, an dem die Antwort zu den Organisationsfragen des politischen Lebens ausgerichtet wird; ein Wertideal, das mit Hermann Cohen als „Kulturwert des Besten“33 bezeichnet werden könnte. Diese Position war nicht ohne Gegen- und Konkurrenzentwürfe. Es lassen sich mit Blick auf die ideengeschichtliche Landschaft im Vorfeld des Herbst 1918 wohl mindestens drei weitere idealtypische Positionierungen in diesem Zusammenhang ausmachen:34 Zum einen jene Position, in der sich die Philosophie als kämpfende Philosophie in dem umfassenden gesellschaftlichen Kampfgeschehen verortet sieht, aktiv an
31 Vgl. insbes. Weber (1988): Parlament und Regierung (zuerst 1918). 32 Vgl. ebd., S. 351–369. Die dabei ins Auge gefassten Vorkehrungen können den institutionellen Rahmen (Weber), aber auch die Verhaltensnormen für Politiker (Paulsen) betreffen. 33 Cohen (1981): Ethik des reinen Willens, S. 443. Max Weber war sich dabei dieser Grenzüberschreitung stets bewusst. Vgl. Weber (1988): Wissenschaft als Beruf, bes. S. 600–613 (zuerst 1919); weiters ders. (1988): Der Sinn der „Wertfreiheit“ (zuerst 1918). 34 Diese vier Positionen sind als idealtypische Konstruktionen im Sinne Max Webers zu verstehen. Dass konkrete Autoren bzw. Werke sich nicht eindeutig zuordnen lassen und oft zwischen den einzelnen Positionen zu verorten sind, spricht nicht gegen letztere als heuristische Konstruktionen. Auch Paul Natorps Verhältnisbestimmung von Philosophie und Politik enthält Elemente der dritten und der vierten Position, wie im Folgenden deutlich werden wird. Vgl. Weber (1988): „Objektivität“, insbes. S. 190–212 (zuerst 1904).
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ihm teilnimmt und sich selbst als Kraft innerhalb desselben zu etablieren versucht, indem sie politischen Forderungen dazu verhilft, sich zu ,wahren' Gerechtigkeitspostulaten zu erheben. Durch die Philosophie wird das in den politischen Kampf verstrickte Subjekt verwandelt, denn durch sie vermag es, sein spezifisches Begehren durch Berufung auf allgemeingültige Normen geltend zu machen, mitunter eine Koinzidenz zwischen seinem Partikularwillen und dem Ganzen, dem Gemeinwohl herzustellen. Philosophie dient somit auch der politischen Intensitätssteigerung.35 Als exemplarisches Beispiel hierfür kann der Marxismus gelten. Das Interesse des Proletariats für seine Emanzipation ist aus der geschichtsphilosophischen Perspektive am Ende des Tages ein menschheitliches Interesse, denn der Weg zum Sozialismus mit der Endperspektive des Kommunismus bringt die Entfaltung der in Kapitalismus und Bourgeoisieherrschaft unterdrückten, nicht zur Entfaltung kommenden geistigen und moralischen Potentiale nicht nur einer Klasse, sondern der Menschheit als ganzer. In dieser Position verschmelzen die Parteinahme im Kampf und die Reklamation der Universalität. Die philosophische Wahrheit ist die „zu einer Waffe in den Kräfteverhältnissen“ gewordene Wahrheit, von der Foucault in Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte schreibt, dass sie „nur deswegen […] gesucht“36 werde, weil sie eben als intellektuelles und moralisches Kampfmittel die Stellung der kämpfenden Partei stärkt. Diese Position tendiert unvermeidlich dazu, nur einen legitimen Ausgang des Kampfes anzuerkennen; nämlich den Sieg der eigenen Partei. Die Frage ist, ob und inwiefern der Kampf noch bestimmten Einschränkungen zu unterwerfen ist. In der radikalen Spielart dieser Position beansprucht die Philosophie die Position des vom Gesichtspunkt der geschichtsphilosophischen Wahrheit über die Ansprüche der streitenden Parteien richtenden Dritten für sich, um dann das uneingeschränkte Recht einer Partei zur Durchsetzung zu postulieren. Dem Universellen wird Genüge getan, wenn die Partei des Universellen den Kampf zur Entscheidung bringt und den Gegner zerstört. Am Ende fallen hier die Frage des moralisch Richtigen und die richtige Wahl der zum Sieg verhelfenden Mittel in eins. Ethik ist dann nicht zu unterscheiden von Taktik, gut ist die Utilität mit Blick auf die Erringung des Sieges, Politik eskaliert in der radikalisierten Variante der ‚kämpfenden Philosophie‘ zum entgrenzten Bürgerkrieg.37 Eine weitere Verhältnisbestimmung von Philosophie und Politik findet sich im Umfeld der verschiedenen Versuche von lebensreformatorischen Gruppierungen oder anarchistischen Vereinigungen, eine alternative und bessere Gegenordnung 35 Hermann Lübbe erinnert daran, dass dieses Verständnis politischer Leistungskraft von Philosophie in der deutschen philosophischen Tradition insbesondere auf Johann Gottlieb Fichte zurückzuführen ist, der sich während der napoleonischen Befreiungskriege vergeblich um das Amt eines Feldredners beworben hatte. Vgl. Lübbe (1963): Politische Philosophie, S. 200. Die deutsche Kriegsphilosophie des Ersten Weltkrieges, die sich häufig auf Fichte berief, fällt zweifellos unter die hier aufgestellte Kategorie der ‚kämpfenden Philosophie‘. 36 Foucault (1986): Vom Licht des Krieges, S. 15. 37 Zu Georg Lukács’ politischer Ethik aus der Zeit der Ungarischen Räterepublik vgl. Dikovich (2017): Heroismus und Sorge.
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zur bestehenden politisch-sozialen Wirklichkeit zu errichten. Philosophie soll hier den gewaltlosen Auszug aus dem Raum der alten sozialen Verhältnisse anleiten und damit aber auch aus dem Raum der alten Politik hin in eine neue, noch weitgehend unbestimmte, aber gewiss nach anderen Grundsätzen zu gestaltende Ordnung. Der Kampf um Macht, das Zusammenprallen des Eigeninteresses, die Ethik der Selbstbehauptung, all diese Konstituenten der verlassenen / zu verlassenden Ordnung sollen hier außer Kraft gesetzt sein. Eine solche Rebellion gegen Politik wird 1918 exemplarisch von Gustav Landauer vertreten, dessen Denken als eines der „Antipolitik“ charakterisierbar ist.38 „Wir haben […] keine politischen Bestrebungen, wir haben vielmehr Bestrebungen gegen die Politik“,39 formuliert Landauer als Losung des von ihm vertretenen Anarchismus. Der Politik als Teil der radikal abgelehnten gesellschaftlichen Ordnung begegnet man hier mit der Haltung der pazifistischen Totalverweigerung. Eine grundlegende gesellschaftliche Erneuerung wird zwar gefordert, doch die staatsbezogene Politik wird als mögliches Mittel zu deren Erreichung abgelehnt. Der staatliche Zwang ist Inbegriff der alten Ordnung und soll daher keine Rolle mehr spielen. Machtbeziehungen und staatliche Institutionen sollen durch freie und zwanglose Kooperation sowie genossenschaftliche Strukturen ersetzt werden. Wie die neue Gesellschaft bzw. Gemeinschaft sich abseits des politischen Raumes formiert, so formiert sich auch der antipolitische Diskurs abseits der üblichen politischen Sprache. In der Versenkung des Philosophen in sich selbst werden gerade durch die Wendung ins Innere die Konturen eines neuen Volkes erblickt.40 In der durch das prophetische Wort des Visionärs versammelten Gemeinschaft wird der Versuch unternommen, experimentell neue Formen des Zusammenlebens zu realisieren. Die literarisch-politische Prophetie des Neuen und die Bildung von Kreisen, Bünden und Kommunen sind in einer solchen Konzeption die entscheidenden Medien und Mittel der Formierung dieses neuen Gemeinschaftsgeistes. Das Phänomen einer philosophisch angeleiteten und als vorausweisendes Gegenmodell zu den bestehenden politischen und sozialen Verhältnissen verstandenen Gemeinschaftsbildung ist schon aus der Antike bekannt – man denke an den Bund der Pythagoräer oder die platonische Akademie –, zur Zeit der an Gründungen von Bünden so reichen Jahrhundertwende florierte dieses Phänomen regelrecht mit dem Forte-Kreis um Gustav Landauer und großen Teilen der Jugendbewegung als bedeutenden Ausformungen. Die sehr unterschiedlichen Bewegungen einte eine Form der Gegenpolitik, die als Politik des Präfigurativen bezeichnet werden könnte; die Gemeinschaft wurde zum „anderen Raum“41 gegenüber den staatlich-politischen Institutionen und politischen Parteien. In ihrer Zielrichtung ist diese dritte idealtypische Position radikal zu nennen und darin gewissen Spielarten der zweiten Position verwandt; sie setzt aber nicht auf eine Herbeiführung des Neuen vom poli-
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Vgl. Wolf (2010): Einleitung, S. 9f. Landauer (2009): Ein paar Worte, S. 223. Vgl. ders. (1919): Aufruf zum Sozialismus, S. 6f. Vgl. Foucault (1992): Andere Räume.
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tischen Kampf her, sondern auf die Erzeugung eines gegenüber der Politik abgedichteten Raumes. In einer vierten Position, der sich die folgenden Seiten ausführlicher widmen werden, verbinden sich die bereits aus der ersten Position bekannte Vorstellung einer unbeteiligten und neutralen Position der philosophischen Erkenntnis gegenüber der gesellschaftlichen Ordnung des Kampfes und die Idee einer direkt auf den Kampf einwirkenden Philosophie. Sie sucht jene Instanz in ihr Recht zu setzen, um deren Sturz es der skizzierten „Metaphysik des Krieges“ zu tun war; die ordnende, über den Antagonismen des Gesellschaftlichen stehende, schlichtende und souverän entscheidende, universelle Vernunft. Es geht ihr um eine Bändigung und Unterwerfung der antagonistischen Sphäre, um eine Zurückweisung des politischen Elements in seine Schranken. Sie will Verbindlichkeiten setzen, die der politischen Anfechtung entzogen sind und damit Einigkeit garantieren, einen Gemeinsinn als Gegenkraft zum Streit hervorbringen. Sie versucht, die Autorität der Wissenschaft und Philosophie, in den grundlegenden Streitfragen des politischen Gemeinwesens als Schlichtungs- und Entscheidungsinstanz zu agieren, herzustellen. Sie bejaht mit Nachdruck den von Hannah Arendt so bezeichneten „apolitischen“ Charakter des philosophischen Denkens und verbindet gerade damit den Anspruch der Philosophie, die Regentschaft im Staate zu übernehmen – jene „Ungeheuerlichkeit“,42 mit der untrennbar der Name Platons verbunden ist und die wir heute eher als eine Skurrilität der Philosophiegeschichte zu betrachten gewohnt sind. Bändigen kann die Philosophie jedoch die Antagonizität des Sozialen nur, wenn sie selbst ein Raum des Einvernehmens ist. Dieses Einvernehmen hätte auf die noch gespaltene, uneinige Gesellschaft auszustrahlen. 2. LOGOKRATIE UND SACHLICHKEIT Diese mit Kurt Hiller hier logokratisch genannte Position in der Frage des Verhältnisses von Philosophie und Politik erlebte nun in der Revolutionsphase nach dem Ersten Weltkrieg eine Renaissance, und zwar gerade bei Denkern, die sich als Vertreter des umfassenden sozialen Umbruchs und radikalen Neuanfangs verstanden. Exemplarisch soll auf einen Autor und dessen Bestimmung der Rolle der Philosophie im neu einzurichtenden Staat näher eingegangen werden, der zu den prominentesten jener Philosophen gehört, die sich 1918/19 in die Debatten um die politische, kulturelle und wirtschaftliche Neugestaltung Deutschlands umfassend einschalteten: auf Paul Natorp und sein Räte- und Sozialismuskonzept. Die Ideen Natorps sind innerhalb einer übergreifenden intellektuellen Bewegung zu verorten, die von Deutschland ausgehend sich in ganz Mitteleuropa verbreitete und auch den philosophisch-politischen Diskurs und das Selbstverständnis zahlreicher engagierter Philosophen prägte. Was hier um das Jahr 1915 herum – dem Gründungsjahr der Hillerschen Ziel-Jahrbücher – als Politik der Ideen und des
42 Arendt (1993): Philosophie und Politik, S. 382.
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Geistes antrat, war durch einen sich an Platons Staatslehre anlehnenden Elitarismus gekennzeichnet. ‚Geistige Politik‘ war ein Teil der Debatten um die Neuordnung Deutschlands nach dem Kriege, die in den letzten Kriegsjahren intensiv geführt wurden und in denen von zahlreichen Gelehrten, aber auch Vertretern der literarischen Szene eine demo- und expertokratische Elemente verbindende Konstruktion gegenüber dem Parlamentarismus westlichen Zuschnitts der Vorzug gegeben wurde. Bekannt ist der Versuch des Verlegers Eugen Diederichs und des protestantischen Geistlichen und Publizisten Max Maurenbrecher, in drei Tagungen auf der oberfränkischen Burg Lauenstein im Jahre 1917 eine breite Allianz der ‚Geistigen‘, der Spitzen aus Wissenschaft und Kultur zu schmieden, die nach Kriegsende geschlossen die organisatorische Aufbauarbeit in Deutschland in die Hand nehmen sollte – ein Versuch, der an den schnell deutlich werdenden Gegensätzen zwischen den versammelten Personen scheitern sollte.43 Trotz dieses ersten Misserfolgs behielt die auf Burg Lauenstein diskutierte Idee einer Regierung der geistigen Eliten eine anhaltende Anziehungskraft in der Revolutionszeit. Die bekannteste Wiederbelebung der antiken Idee der Philosophenherrschaft ist die Idee der „Räte geistiger Arbeiter“, die als ein Gegenmodell zu den existierenden politischen Institutionen – und vielleicht als Gegenmodell zu politischen Institutionen überhaupt – entworfen wurde. Kurt Hiller als Wortführer dieser Bewegung prägte in diesem Kontext die Schlagworte der „Logokratie“ und des „revolutionären Aristokratismus“.44 Ausgehend von dem bereits in der Philosophie des Ziels von 1915 formulierten Gedanken, dass im künftigen Umbruch den Geistigen eine führende Funktion zukommen solle – der „Partei des deutschen Geistes“ werde „zufallen“, was sie „so lange erstrebte: die Macht!“; es würde „der Geist […] Herr im Volk“45 werden – ist der sich kalkuliert der Terminologie des Bolschewismus bedienende Hiller 1919 überzeugt, dass die „Diktatur“ nicht nur zu den „erlaubten Mitteln“ gehöre, sondern „das Mittel par excellence“ sei. Revolution versteht Hiller als „Tat“ der Zielsetzung; Diktatur besage, „daß ein Wille unumschränkt Gesetze diktiert und über ihre Anwendung wacht“. Demokratismus hingegen sei „die Staatslehre des Relativismus, zu Deutsch: der Ideenlosigkeit“; liberal sein wiederum heiße, „ziellos sein“. Doch „Politik heißt Zielsetzung“, liberale Politik sei daher eine „contradictio in adiecto“.46 Als Pazifist schloss Hiller zwar den Gebrauch von Gewalt aus; diktatorischen Charakter hat die „Partei des Geistes“ jedoch, insofern sie nicht nur an der Spitze des Staatswesens als rechtsetzende Instanz steht, sondern vor allem ihre Regentschaft nicht kraft eines demokratischen oder ihr anderweitig zufallenden Mandats ausübt. Sie ist keiner äußeren Instanz gegenüber weisungsge43 Zu den Teilnehmern der Lauensteiner Tagungen gehörten neben Maurenbrecher und Diederichs u. a. die Sozialwissenschaftler Max Weber, Werner Sombart, Ferdinand Tönnies, Edgar Jaffé, Franz Staudinger, der Dichter Richard Dehmel, die Frauenrechtlerinnen Ida Dehmel und Gertrud Bäumler und der damals noch unbekannte Ernst Toller. Vgl. Hübinger (1996): Eugen Diederichsʼ Bemühungen. 44 Hiller (1925): Überlegungen zur Eschatologie, S. 186 (zuerst 1919). 45 Ders. (1925): Philosophie des Ziels, S. 38 (zuerst 1915). 46 Ders. (1925): Überlegungen zur Eschatologie, S. 159f.
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bunden, reproduziert sich nur durch innere Mechanismen und Regelungen, ist allein der ‚Idee‘ verpflichtet. Erstaunlich ist an den Hillerschen Ausführungen, dass der Ruf nach der Ergreifung von ‚Macht‘ und ‚Verantwortung‘ durch die Geistigen nicht nur mit einer frappierenden Vernachlässigung der Frage nach den Wegen zu deren Erreichung und Sicherung einhergeht,47 sondern dass der vielbeschworene Geist als frei von jenen Gegensätzen vorausgesetzt wird, die das umzugestaltende gesellschaftliche Leben kennzeichnen. Postuliert werden einheitliche Einsichten, aus denen heraus die konkreten Handlungen der „Partei des Geistes“ folgen, die Einhelligkeit in Bezug auf einen „Vernunftgedanken“,48 zu deren Verwirklichung die Elitenregierung antritt. Regieren bedeutet also nicht den Ausgleich von Interessen oder die Durchsetzung eines politischen Gestaltungswillens gegen konkurrierende Kräfte. Die Regierenden sind keine Repräsentanten von Gesellschaftsgruppen mit unterschiedlichen Interessen und Wertvorstellungen; Regieren bedeutet, Folgerungen aus der Einsicht in die richtigen Normen, die wahre Idee zu ziehen und diese anzuwenden. Aus der „geistigen“ Regelung der staatlichen Angelegenheiten ist gleichsam wegeskamotiert, wovon nicht nur das politische Gemeinwesen, sondern auch die Kultur im Ganzen betroffen war: die Erodierung des Zusammenhalts durch den Parteienkampf, die sozioökonomischen Interessensgegensätze, das Chaos unvereinbarer Wertorientierungen. Der „antagonistisch-bellikose Charakter der modernen Kultur“49 erfährt durch das radikale Festhalten am philosophischen Idealismus einen Legitimitätsverlust; er ist nicht begründet in einer wesenhaften antagonistischen Verfasstheit des gesellschaftlichen Lebens, ist auch nicht unhintergehbarer Bestandteil der conditio moderna, sondern ist ein episodisches und reversibles Krisenphänomen. Der revolutionäre Neuanfang, der sich natürlich nicht nur in einer „äußeren“, d. h. politisch-ökonomischen Umgestaltung erschöpfen, sondern eine ethische Erneuerung in Form einer durchdringenden Pazifizierung des sozialen Lebens bringen soll, fordert also die Unterordnung der sozialen Antagonismen unter ein einendes Prinzip. Das Gemeinwesen soll unter einer den neuen Gemeinsinn repräsentierende Körperschaft vereint werden. Die philosophisch-wissenschaftliche Rationalität (als Sachlichkeit) wird Kandidat für ersteres, die platonische Herrschaft der Besten für letztere. Die ‚logokratischen‘ Zukunftsideen, die im Intellektuellendiskurs der Zeit zirkulierten, sind nicht nur als bildungsbürgerliches Wunschdenken, sondern als Mediationsutopien charakterisierbar, die als Ordnungskonzeptionen eigenen Schlags neben den unterschiedlichen Sozialutopien bestanden. Auf den folgenden Abschnitt vorgreifend soll hier nur bemerkt werden, dass damit anstelle des westlichen
47 Hillers Appelle und Forderungen können als Paradebeispiele der „wundergläubigen Atmosphäre der Kriegs- und Nachkriegszeit“ gelten – eine gelungene Formulierung, die ein anonymer Rezensent in der Berliner Volkszeitung vom 17.2.1926 in Reaktion auf Leonard Nelsons Rede Demokratie und Führerschaft verwendete. Zit. n. Nelson (1972): Demokratie und Führerschaft, S. 464. 48 Hiller (1925): Philosophie des Ziels, S. 50. 49 Jegelka (1992): Paul Natorp, S. 112.
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demokratischen Rechtsstaats der Ideenstaat als deutscher Sonderweg gefordert wurde, motiviert durch ein Misstrauen gegenüber der Fähigkeit des positiven Rechts, die Funktion des überparteilich-schlichtenden und ordnungsstiftenden Dritten auszuüben – ein Misstrauen, das zwangsläufig in weiterer Folge ein Misstrauen gegenüber dem rechtsetzenden Souverän der demokratischen Ordnung ist: also gegenüber dem Volk. Das positive Recht als das Produkt des politischen Betriebes und der demokratischen Prozeduren ist zwar Statthalter dieser vermittelnden Instanz des Dritten; aber eben nur als die jeweilige kontingente Bilanz der herrschenden Kräfteverhältnisse im politischen Kampf. Nie ist dabei ausgeschlossen, dass dieses vorübergehende Resultat ein unter dem Gesichtspunkt der Moral minderwertiges ist, dass der Rechtsstaat – um mit Kant zu sprechen – in Richtung eines Staates der Teufel abdriftet.50 Daher reagierte die Philosophie auf die von der historischen Rechtsbetrachtung herstammende Auffassung vom Recht als Feld und Produkt des politisch-sozialen Kampfes mit normativen Einhegungen der Rechtsetzung einerseits und institutionellen Arrangements zur Kontrolle des politischen Betriebes andererseits.51 Die Philosophen wollten die Politik nicht sich selbst überlassen. 3. NORMATIVE GRUNDLAGEN: DER GESAMTWILLE Bevor im Folgenden zur Analyse der politischen Entwürfe Natorps vorangeschritten wird, sollen die normativen Fundamente seines politischen Denkens in den Blick genommen werden. Beschäftigt man sich nämlich mit seiner großen sozialphilosophischen Studie von 1899, der Sozialpädagogik, so sieht man, dass es sich bei Natorps politischen Ideen aus der Revolutionszeit um eine konsequente Anwendung von Begriffen und normativen Maßstäben handelt,52 die bereits um die Jahrhundertwende ausgearbeitet wurden. Mit Rückgriff auf Kant wurde von Natorp und dem ihm philosophisch nahestehenden Rechtstheoretiker Rudolf Stammler in dieser Zeit versucht, das Bestreben der Philosophie, sich gegenüber dem politischen Leben als Instanz des regulativen Dritten in Stellung zu bringen, epistemologisch zu fundieren. In der Sozialpädagogik formuliert Natorp ein Ideal der Erziehung der Gesellschaft zu einer Willens- und Tatgemeinschaft und begründet dabei Maßstäbe, die richtungsweisend für eine künftige reformerische politische Praxis sein sollten und einhergehend damit der Kritik der bestehenden Gegebenheiten zugrunde liegen. Einheit und Synthese sind die ultimativen normativen Größen, an denen der Neukantianer das Staatswesen im Ganzen misst, womit Parlamentarismus und Parteiwesen ebenso unter das Verdikt der Philosophie fallen wie der Kapitalismus. Was hier als ideales staatliches Leben – die Bezeichnung ‚Politik‘ wird vermieden –
50 Vgl. Kant (2012): Zum ewigen Frieden, S. 31 (zuerst 1795). 51 Erwähnenswert als ein früher Entwurf in dieser Richtung ist die oben bereits angeführte Schrift von Ferdinand Tönnies von 1901 mit dem Titel „Politik und Moral“. Für nähere Angaben zu diesem Entwurf siehe auch Wierzock (2014): Wart-Turm, S. 112–116. 52 Vgl. dazu den Beitrag von Karl-Heinz Lembeck in diesem Band.
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vertreten wird, ist ein alle gesellschaftlichen Teilbereiche umfassender, auf seine maßgeblichen Zwecke hin transparenter, strukturierter, in seinen Einzelresultaten zwar offener, aber doch von einer zentralen Instanz gesteuerter Prozess. Eine Entwicklung, die nur das Resultat unterschiedlich und teils gegensätzlich motivierter Einzelhandlungen ist und in der die einzelnen Akteure zwar klare Zielvorstellungen haben mögen, die sich jedoch in ihrer Gesamtheit blind, d. h. nicht als Ausdruck und Verwirklichung eines gemeinsamen Wollens vollzieht,53 ist mit diesem normativen Staatsideal unvereinbar – und damit der schlingende, durch Kampf und Kompromiss gezeichnete Prozess der parlamentarisch-demokratischen Politik. Bezeichnender Weise ist es ein ursprünglich erkenntnistheoretisches Denkmotiv, das zuerst von Rudolf Stammler systematisch auf das Feld der staatlichen Organisation und der Willensbildung übertragen wurde. Kants Gedanke der regulativen Idee einer universellen Synthese der Einzeldaten und Erkenntnisse, die den Prozess der wissenschaftlichen Einsicht vorantreibt und seine teleologische Zielrichtung bestimmt, wird gesellschafts- und rechtstheoretisch gewendet. Dem systematischen Zusammenhang der Erkenntnisse, den er gleichermaßen als „Gesetzmäßigkeit“ bezeichnet, stellt Stammler die „Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens“ gegenüber, die man als eine „einheitliche Erfassung des gesellschaftlichen Daseins der Menschen“ und als „eine oberste einheitliche Art, nach der alle sozialen Erscheinungen aufgefaßt und eingesehen werden“,54 zu verstehen habe. Vielsagend ist die Umlegung des regulativen Prinzips von der Erkenntnis auf die Organisation des Gemeinwesens deshalb, weil hier eine höherstufige Syntheseleistung postuliert wird, die sich von defizitären Standpunkten gegenüber dem gesellschaftlichen Leben abhebt, und sich damit die Frage nach der Position stellt, von der aus sich das gesetzmäßige Zusammenstimmen der gesellschaftlichen Institutionen und Teilprozesse erschließt. Dieser Standpunkt ist nach Rudolf Stammler jener der sozialen Idee. Der Jurist und Rechtsphilosoph hatte dabei einen Maßstab für die Beurteilung von positiven Rechtsetzungen wie auch der diesen zugrundeliegenden Willensstrebungen der Subjekte im Auge: „Das letzte Ziel der rechtlichen Regelung liegt in der durchgängigen Innehaltung eines formal bedingungslos geltenden Gesichtspunktes für das soziale Leben von Menschen überhaupt; es ist“, so Stammler weiter, „die Richtung und Leitung der empirischen Sonderbestrebungen im Sinne einer für alle irgendwelche Regelung formal gültigen absoluten Einheit.“55 Dieser Standpunkt ist dabei ein höherstufiger als die partikulären Bestrebungen politischer Interessensvereinigungen, die in ihrer Berechtigung nur von ihm her richtig zu beurteilen sind: Dasjenige, was einer und die mit ihm zur Partei, zum Stande, zur Klasse Zusammengeschlossenen sozial erstreben, kann in seiner konkreten Eigenart und besonderen Bedingtheit natürlich
53 Vgl. dazu die zeitnahe zu Natorps Sozialpädagogik entstandenen Ausführungen des Neukantianers und Genossenschaftstheoretikers Franz Staudinger: Staudinger (1899): Ethik und Politik, S. 12. 54 Stammler (1896): Wirtschaft und Recht, S. 16. 55 Ebd., S. 574.
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nicht selbst das eben erwähnte letzte Endziel des sozialen Lebens überhaupt ausmachen. Es ist begrenzt und endlich und hat sich in seinem grundsätzlichen Sinne an dem obersten Ziele der menschlichen Gesellschaft rechtfertigend auszuweisen.56
Das soziale Ideal bzw. die soziale Regel ist darauf gerichtet, eine „bestimmte Art des Zusammenwirkens und des Verhaltens der Menschen zu einander zu schaffen.“57 Dieses Zusammenwirken soll von jeder Willkür und Heteronomie frei sein, d. h. sich als rein vernunftgeleitetes vollziehen. Das am objektiv und unbedingt gültigen sozialen Ideal ausgerichtete Zusammenstimmen unterscheidet sich dabei von Rousseaus Idee der volonté générale.58 Diese bedeutet nämlich nach Stammler eine bloß empirisch bedingte Übereinstimmung der Einzelwillen, deren Generalität also nur eine der Zahl nach ist, damit aber nicht schon objektiv begründete Allgemeingültigkeit beanspruchen kann.59 Eine auf dem Majoritätsprinzip und selbst auf dem Einstimmigkeitsprinzip basierende Rechtsetzung, die nur Ausdruck punktueller Übereinstimmung der Einzelwillen ist, kann nicht garantieren, dass das gesetzte Recht die Konsistenz der in einer Gesellschaft bestehenden Zwecksetzungen verwirklicht. Insbesondere dann nicht, wenn man die Setzung von Recht nicht als einen momentanen Akt, sondern als einen kontinuierlichen Prozess betrachtet, aus dem die in ständiger Entwicklung befindliche staatliche Ordnung hervorgeht. Diese übergreifende Konsistenz als Manifestation einer Willenseinheit aber sei das normative Ideal, an der jede Rechtsetzung zu beurteilen ist. Die volonté générale kann sich als unstet erweisen, der Prozess der Rechtsetzung und damit die staatliche Entwicklung sich als ein Hin-und-Her gestalten, das gesetzte Recht sich auf eine sehr beschränkte Regelung der Handlungen der Subjekte reduzieren, die das „blinde, wirre Gewirr“60 der empirischen Zwecksetzungen im Übermaß bestehen lässt. Natürlich gerät hier die bürgerliche Freiheit zur politischen Teilhabe an der Gesetzgebung und damit an der Herrschaft, die für die Konstitution der volonté générale im Sinne Rousseaus logisch unentbehrlich ist, mit der für Stammler maßgeblichen 56 Ebd., S. 573. 57 Ebd., S. 591. 58 Es ist hier zu erwähnen, dass Natorp eine sich von Stammler stark unterscheidende Interpretation des volonté générale vorlegte, nach der dem französischen Philosophen gerade die von Stammler und Natorp anvisierte Willenseinheit vor Augen gestanden hätte. Der volonté générale (oder auch das moi commun) sei insofern nicht eine Koinzidenz der Einzelwillen, der Gesellschaftsvertrag nicht das Produkt einer gegenseitigen Abstimmung der Sonderinteressen. „Rousseau erklärt ganz im Gegenteil: ein sogenannter ‚Vertrag‘, in dem der eine oder der andere Teil oder beide nur ihren Sondervorteil suchen, ist keiner, schafft kein Recht. Der ganze Sinn des sozialen Vereins ist vielmehr, daß ein jeder sein Sonderinteresse schlechthin und ohne Einschränkung unterordne dem Gemeininteresse. Das Gemeininteresse zu stabilisieren, gegen jedes Sonderinteresse, das, einzig das ist der Sinn des ‚sozialen Vertrags‘.“ Natorp (1922): Rousseaus Sozialphilosophie, S. 59. Vgl. auch Natorps gegen den Liberalismus gerichtete Gegenüberstellung der „Grundrichtung der vernunftbegründeten Gemeinschaft, der inneren Organisation“ und des „Prinzip[s] der bloß äußeren Vertragsfreiheit“, das durch erstere zu überwinden sei; Natorp (1915): Tag des Deutschen, S. 79; vgl. auch S. 74f. 59 Vgl. Stammler (1896): Wirtschaft und Recht, S. 604f. 60 Ebd., S. 460.
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Perspektive der sozialen Organisation in ein Spannungsverhältnis. Das Ideal der Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens ist eines, das zwar nicht prinzipiell mit dem Ideal demokratischer Partizipation unvereinbar ist, jedoch den Vorrang einer technokratischen Steuerung – genauer gesagt: einer erziehungstechnischen Steuerung, wie im Folgenden deutlich werden soll – nahelegt.61 Nicht in der Verwirklichung seiner subjektiven Zwecke ist demnach das einzelne Individuum frei und autonom, sondern gerade in der vernunftgemäßen Bestimmung seines Handelns, d. h. eben in der Ausrichtung am sozialen Ideal, in der Übereinstimmung seines Handelns und seiner Einzelzwecke mit der „allgemeingültigen Zwecksetzung“ als „unbedingte[m] Richtmaß“.62 Stammlers und in weiterer Folge Natorps normatives soziales Ideal fordert also eine durchgängige gesetzesmäßige Übereinstimmung der einzelnen Handlungen und selbst der Willensstrebungen der Individuen; diese bedeute die Realisierung des regulativen Vernunftprinzips der universellen Synthesis. Während Stammler das soziale Ideal primär als ein Prinzip der Rechtsbeurteilung verstand, das er in der 1902 erschienenen Lehre vom richtigen Rechte63 systematisch ausarbeitete, verlegt der Philosoph und Pädagoge Natorp es in die „Sozialpädagogik“, in die „Willenserziehung“ der Bürger eines Staates „auf der Grundlage der Gemeinschaft“.64 Doch worin besteht das einheitliche Prinzip, an dem sich die Organisation der Gesellschaft und der Wille des Einzelnen orientieren soll, in inhaltlicher Hinsicht? Was ist der letzte und allgemeine Zweck, an dem sich die Einzelzwecke der sich zur Gemeinschaft vereinenden Individuen ausrichten sollen? Und wie ist die Position in konkreter, nämlich politisch-institutioneller Hinsicht genauer zu definieren, von der aus die Rechtsbeurteilung im Sinne Stammlers und die Leitung der Sozialpädagogik nach Natorp vorgenommen werden sollen? Diese Fragen bleiben offen. Mit Blick auf den Inhalt des sozialen Ideals hat dies systematische Gründe. Jede inhaltliche Bestimmung der Zweckidee des sozialen Lebens ist nämlich bedingt durch die jeweiligen historischen Umstände; er ist abhängig von den gesammelten Erfahrungen der einzelnen Individuen und der Gesellschaft als ganzer, er ist weiters abhängig von den technischen Mitteln und damit dem praktischen Möglichkeitshorizont einer Gemeinschaft. Über die konkrete inhaltliche Ausfüllung des sozialen Ideals lässt sich also in verallgemeinernder Weise nichts sagen. Das Vernunftkriterium der gesetzmäßigen Übereinstimmung ist ein rein formales; die Vernunft fordert lediglich, dass überhaupt eine Zusammenstimmung der einzelnen Zwecksetzungen angestrebt wird. Das entscheidende Resultat der Sozialphilosophie der Marburger Neukantianer Stammler und Natorp, die nicht von Kants Ethik, sondern von seiner Erkenntnistheorie aus eine Philosophie des Sozialen entwerfen, ist, dass die Einheit des sozialen Willens bzw. des Gemein61 Dementsprechend bezeichnet Paul Natorp die von ihm vertretene „soziale Regelung“ als „Technik“ der „kausale[n] Beherrschung der lebendigen Triebkräfte des Menschen“; Natorp (1920): Sozialpädagogik, S. 157. 62 Stammler (1896): Wirtschaft und Recht, S. 374f. 63 Ders. (1902): Lehre vom richtigen Rechte, insbes. S. 171–201. 64 Vgl. Titel und Untertitel des betreffenden Werkes Natorps.
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schaftswillens als Zweck an sich selbst zu betrachten ist. Nicht hat das soziale Leben damit seinen Zielpunkt in der Freiheit der Individuen, sich möglichst uneingeschränkt zu entfalten, nicht erfüllt der Staat in der Anerkennung und im Schutz dieser Freiheit seinen letzten Zweck, sondern umgekehrt: Die Verwirklichung der individuellen Freiheit liegt in der Übereinstimmung des Willens des Einzelnen und seiner Handlungen mit dem der Gesamtheit, also in der Ausrichtung an der vernunftbegründeten Norm der gemeinschaftlichen Einheit. Was bei Stammler und Natorp als soziales Ideal verstanden wird, ist zwar die leitende Norm der sozialen Organisation, zugleich aber auch eine große Leerstelle. Klar ist nur, dass die konkrete Setzung von Gemeinschaftszwecken autoritative Geltung haben soll und dass eine Vernunftpflicht zur Unterordnung des Einzelwillens unter diese besteht. Auf welchem Wege aber soll diese Willenssetzung zustande kommen? Welche Instanz kann den Akt der autoritativen Setzung legitimer Weise für sich beanspruchen? Wie ist schließlich überhaupt sicherzustellen, dass diese autoritative Setzung keine Setzung schlechter Zwecke ist; wie soll gesichert werden, dass sie auf der Höhe des geschichtlich erreichten sittlichen Bewusstseins und der wissenschaftlichen, kulturellen und technischen Kenntnis über die zur Verfolgung sozialer, d. h. ökonomischer, kultureller, sozialpädagogischer usw. Zielsetzungen verfügbaren Mittel getätigt wird? Klar ist aus dem Vorhergehenden aber, dass diese Setzung – als Setzung eines einheitlichen Zwecks des Rechts und eines allgemeinen Ziels der sozialen Willenserziehung – nicht Resultat des politischen Kampfes der Parteien, der Klassen und der Nationen sein kann.65 Dieser nämlich bringt überhaupt keine klaren und einheitlichen Willenssetzungen hervor, sondern nur das Recht als ein „Machtergebnis“66 mit prekärem Status, als Ergebnis von stets möglicher Revision ausgesetzten Kompromissen zwischen entgegengesetzten und konkurrierenden Überzeugungen und Willensstrebungen. Mehr noch als Stammler gibt Natorp in seiner Sozialpädagogik Hinweise auf die konkrete politische Form des dem sozialen Ideal entsprechenden Gemeinweisens. Er unterscheidet zwischen drei „Grundformen der sozialen Tätigkeit“, nämlich die „wirtschaftliche, regierende und bildende“,67 denen im Idealstaat drei Klassen von Funktionären entsprechen. Dieser dreigegliederte Aufbau, wie er aus Platons Politeia bekannt ist,68 läuft nicht wie bei letzterem auf ein Kastensystem hinaus, sondern wird durch ein Kompetenzprinzip begründet. Die Teilhabe am staatlichen Leben ist vermittelt durch die Zugehörigkeit zu einer der drei Funktionärs- oder Expertenklassen. Natorp vertritt das Prinzip der „proportionale[n] Gleichheit“69 der Teilhabe an der Regierung des Gemeinwesens; so haben die Angehörigen der Funktionärsklassen zwar Anteil am gemeinschaftlich-staatlichen Arbeits- und Bildungsprozess, aber nicht die gleiche Entscheidungskompetenz in allen Teilgebieten und Sachfragen der gesellschaftlichen Organisation. Die 65 66 67 68 69
Vgl. Stammler (1896): Wirtschaft und Recht, S. 461f. Ebd. Natorp (1920): Sozialpädagogik, S. 184. Vgl. ebd., S. 166f. Ebd., S. 139.
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Setzung des Gemeinschaftszwecks soll dabei einer bestimmten Klasse obliegen; nämlich der bildenden, die den gesellschaftlichen Erziehungsprozess hin zum volonté générale anleiten soll. 4. RÄTESTAAT UND PHILOSOPHENHERRSCHAFT Natorp nahm an, dass sein dreigliederiges Gesellschaftsideal nicht nur als eine Forderung der Vernunft philosophisch stringent begründbar sei, sondern dass die faktische Gesellschaftsentwicklung sich in die Richtung seiner Realisierung bewege. Ein Grunddilemma dieser Entwicklung sei aber, so Natorp, dass die politisch-staatlichen Formen den wirtschaftlichen und technischen Entwicklungen hinterherhinken würden. Ein „unentrinnbarer Zwang in der Richtung fortschreitender sozialer Konzentration zunächst der wirtschaftlichen Tätigkeit“ fordere eine „durchgängig vernunftgemäße Regelung der sozialen Tätigkeit auf Grund sicherer wissenschaftlicher Erkenntnis der technischen (naturtechnischen wie sozialtechnischen) Bedingungen eines menschlichen Daseins auf Erden“.70 Der philosophisch begründeten Idee einer expertokratischen Regierungsform wuchs langsam in der institutionellen Realität ein entsprechender Körper. Das Genossenschaftswesen, das schon bei seinem Lehrer Hermann Cohen als Grundbaustein einer neuen gesellschaftlichen Organisationsform galt und mit dem auch Natorp sympathisierte, hatte noch lediglich den Status eines untergeordneten Subsystems. Auf der Suche nach Keimen des neuen Gemeinwillens wurde Natorp auch anderweitig fündig; so beim im Deutschen Reich verpflichtenden Militärdienst, den Natorp als eine Verpflichtung des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft verstand und daher zu einer Vorschule der „Tugenden der Gemeinschaft“71 erklärte. Als durch den Weltkrieg die militärische Organisationsstruktur eine Ausweitung auf das Wirtschaftsleben erfuhr, diagnostizierte Natorp, dass das neue soziale Stadium der „Zweckgemeinschaft“, das auf das Stadium der „Vertragsgemeinschaft“ nur äußerlich miteinander verbundener Individuen folge, in „festgegründeten, wohlbewährten Institutionen teilweise dargestellt und in den Grundlinien fast in jeder Hinsicht schon deutlich erkennbar geworden“ sei. Vor diesem Hintergrund spricht er von einer sich abzeichnenden „Geburt
70 Ebd., S. 184. Die zunehmende staatlich-bürokratische Regulierung der Wirtschaftssphäre war bereits in den 1890er Jahren in der Staatstheorie u. a. von Friedrich Paulsen diskutiert worden: Paulsen (1894): System der Ethik, S. 552–561. 71 Natorp (1920): Sozialpädagogik, S. 202; 207–209. Natorp bemerkt hier, dass die allgemeine Wehrpflicht die Errungenschaft einer „aktiven Beteiligung an einer der wesentlichsten sozialen Funktionen“ darstelle, bei der aber die geschichtliche Entwicklung nicht stehenbleiben würde; die allgemeine Beteiligung werde sich sukzessive auf die „Beteiligung an Funktionen der Gesetzgebung und der Rechtsprechung“ ausdehnen. Denn „in sich schon widerspricht es, von irgend einem Gliede der Gemeinschaft zu verlangen, daß es im gegebenen Fall für sie sterbe, ohne daß man ihm gestattet, für sie auch zu leben.“ Ebd., S. 209. Zur Diskussion über Natorps Verhältnis zum wilhelminischen Militarismus vgl. auch Jegelka (1992): Paul Natorp, S. 111– 142.
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einer neuen, einfacheren, doch allgemeineren, gleichmäßiger auf alle verbreiteten, streng sachgerechten Kultur, von der die Welt bisher kein Beispiel“ kenne.72 Der Krieg stelle einen qualitativen Sprung in der auf fortschreitenden Zusammenschluss und Kooperation drängenden geschichtlichen Tendenz dar. Eine institutionelle Realität, in welcher der Philosoph nicht nur einen Keim, sondern einen echten Grundbau seines Gesellschaftsideals sah, brachte jedoch erst die Revolution. Pál Szende, der Finanzminister der kurzlebigen Regierung Mihály Károlyis, bemerkte, dass den Räten als Projektionsfläche utopischer Erwartungen der Charakter eines „messianistische[n] Erlösungswort[es]“73 zukam. Eine solche utopische Aneignung des Rätegedankens kennzeichnet auch Paul Natorps Vorschläge aus der Revolutionszeit. Die Bedeutung und künftige Rolle der Räte war dabei heftig umstritten. Während Kommunisten und Linkssozialisten in ihnen den Ausdruck und das Instrument des proletarischen Klassenkampfes sahen, waren sie für Natorp das Mittel zur Realisierung seiner Vorstellung eines sachlichen, Partei- und Klassenschranken überwindenden Regierens.74 Der Neukantianer nimmt den aus der Genossenschaftstheorie und dem englischen Gildensozialismus bekannten und in der Revolutionszeit u. a prominent von Kurt Eisner vertretenen Gedanken auf,75 nach dem das Potential der Räte- und Genossenschaftsorganisation im Bereich des Erzieherischen liegt: Aus der Ausweitung demokratischer Selbstorganisation auf immer mehr Teilbereiche, der Praxis der kooperativen Planung und der damit zusammenhängenden Verantwortungsübernahme sollte nicht nur ein höhere organisatorisch-politische Fähigkeiten besitzendes Subjekt hervorgebracht werden, dem der bloß passive, Verantwortung delegierende Bürger der Stimmzetteldemokratie gegenübersteht, sondern auch ein neuer Gemeinsinn. Durch die ausgeweitete Praxis demokratischer Teilhabe würde sich der Mensch verändern, gegenwärtig unterdrückte Potentiale entfalten – so ein rätetheoretischer Grundgedanke. Die bei Natorp zu findende Rede von der „Autonomie“ der in das Gesamtsystem integrierten Teilkörperschaften und von einem „Aufbau von unten nach oben“ lässt die radikaldemokratischen Akzente des Rätegedankens anklingen. „Beinah alles“ solle 72 Natorp (1915): Tag des Deutschen, S. 85; 51. Eine „mit eherner Strenge durchgeführten Organisation“ der gesamten „wirtschaftlichen Produktion und Konsumtion“ betrachtete Natorp als alternativlose Perspektive für die durch Not und fortgesetzten nationalen Bewährungskampf gekennzeichnete Nachkriegszeit; ebd. S. 50. Ähnlich sprach Ernst Troeltsch von einem mit dem Krieg errungenen „Triumph der sachlichen Leistung“; Troeltsch (1916): Ideen von 1914, S. 614. 73 Szende (1920): Krise der mitteleuropäischen Revolution, S. 358. 74 Die Arbeiter- und Soldatenräte, die im Zuge des militärischen Zusammenbruchs entstanden, übten in den November- und Dezembertagen überwiegend eine Kontrollfunktion über den weiterhin bestehenden militärischen und kriegswirtschaftlichen Verwaltungsapparat aus, hatten also ursprünglich eine vorwiegend administrative Funktion. Die Räte und die in ihnen teilweise herrschende, durch keine politische Fraktionsbildung gestörte Kooperation waren Produkt eines enormen Handlungsdrucks, der gleichsam zur zeitweisen Aussetzung des politischen Konflikts führte. Diesen Ausnahmezustand in einen Normalzustand zu überführen war eine utopische Zielsetzung, die Natorp und anderen vorschwebte und an der man scheiterte. 75 Vgl. Grau (2001): Kurt Eisner, S. 421–438.
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in der neuen Ordnung „auf Selbstsorge und Selbsttat, so gut wie nichts auf fremde äußere Leitung und Kontrolle gestellt“76 werden, heißt es an einer Stelle der Schrift Sozial-Idealismus; an einer anderen ist von der Dezentralisierung77 von Entscheidungsprozessen die Rede. Demokratische Elemente finden sich bei Natorp in der Forderung nach einem Abbau hierarchisch-bürokratischer Strukturen und der Ausweitung von Selbstverwaltung. Tatsächlich enthält das von ihm entworfene System aber hochgradig hierarchische und zentralistische Elemente. Der rätedemokratische Gedanke wird zur Blaupause für die institutionelle Realisierung der platonischen Philosophenherrschaft im zwanzigsten Jahrhundert. Die demokratische Teilhabe an Entscheidungsprozessen ist hier nämlich vermittelt durch ein System von Körperschaften und damit beschränkt auf spezifische Zuständigkeitsbereiche des Einzelnen; die Bestimmung der Zieldimension des korporativistisch organisierten Arbeitsprozesses in seiner Gesamtheit aber unterliegt einem „Zentralrat“. Der Rat solle das „Ganze des Arbeitslebens der Gemeinschaft […] nicht bloß […] vertreten, nur hinterherkommend ihm Wort und Ausdruck geben, […] sondern“, so Natorp weiter, „indem er seine ganze, innerste, eben schöpferische Kraft in sich zusammenfassend darstellt, ihrer Eigenart gemäß wiederum schöpferisch, nämlich Einheit schaffend, ziel- und richtunggebend, sie durch den Staat geltend und bis in die letzten, fruchtbarsten Niederungen des Arbeitslebens hinab wirksam […] machen und […] erhalten.“78 Wenn von der Aufgabe des Rates die Rede ist, „reine Sachgesinnung“ in allen zu „pflanzen und wachzuhalten“,79 so impliziert dies durchaus eine ausgesprochen autoritative, dem übrigen korporativstaatlichen Bau übergeordnete Stellung des Rates. Entsprechend der Verteilung der Kompetenzen bedeutet Sachlichkeit nämlich unterschiedliches; die sachliche Lösung der letzten politischen Streitfragen, die Frage der Zwecke, ist den Angehörigen des Zentralrates vorbehalten, die Lösung der technischen Fragen den Angehörigen der ausführenden Körperschaften. Ein nicht bloß wichtiger, sondern der grundlegendste Teil dessen, was politischer Streitgegenstand ist, wird zur Entscheidungsdomäne des zentralen Rates erklärt. Der „Zentralrat [soll] dem Staat […] wie dem unmittelbaren Arbeitsleben [...] souverän gebietend gegenüberstehen.“80 Zwischen beiden hat ein Verhältnis der Führung und Gefolgschaft zu herrschen. Der Möglichkeit von Konfliktualität im Verhältnis zwischen den übergeordneten weisungsgebenden und untergeordneten ausführenden Instanzen und den Modalitäten zu ihrer Schlichtung kann Natorp, der ja einen Alternativentwurf zur gegebenen antagonistischen politischen Realität geben möchte, folgerichtiger Weise in seinen Ausführungen keinen Raum geben. Die Frage der Strategien und Mechanismen zur Etablierung und Erhaltung von Machtverhältnissen zwischen den Indi-
76 77 78 79 80
Natorp (1920): Sozial-Idealismus, S. 15. Vgl. ebd., S. 14. Ebd., S. 75. Ebd., S. 14. Ebd., S. 71.
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viduen und Körperschaften bleibt ohne Behandlung, stattdessen führt Natorp die sich eines Paradoxons bedienende Formel des „Geheimnis[ses] der gewaltlosen Gewalt“ ein. Nichts sei „gewaltiger, als der Genius, der doch keine Gewalt braucht, weil der Geist den Geist erkennt, und so begeistert [sich] der Führung anvertraut“.81 In Entgegnung auf den vom Autor selbst ins Feld geführten Einwand, dass eine solche Bereitschaft zur Unterordnung von der Bevölkerung zu erwarten unrealistisch sei, wird schlicht postuliert, dass „im Volk […] der Sinn des ‚Folgens‘ und zwar willig Folgens“ liege.82 Die sich hier unvermeidlich aufdrängende Frage der Modalitäten einer politischen Austragung von möglichen Konflikten wird also mit der Evokation der harmonischen und zugleich hierarchisch gegliederten Volkseinheit beiseitegeschoben oder besser annulliert. Während „Sachlichkeit“ sich mit Blick auf das Verhältnis von Zentralrat und untergeordneten Einheiten in Gefolgschaft ausdrückt, manifestiert sie sich in der obersten initiativen und legislativen Instanz als ein Wirken der reinen überpolitischen Wissenschaftlichkeit. Der Geist „darf und kann sich allein rechtfertigen vor sich selbst, […] nach den Methoden der Wissenschaft und Wissenschaftskritik, der Willensgesetzgebung und wiederum ihrer philosophischen Kritik“.83 Karl Korsch in Deutschland oder der wohl avancierteste Rätetheoretiker der Zeit, George Douglas Howard Cole,84 sahen pragmatische Sachlichkeit und basisdemokratische Organisation als zentripetal-gemeinschaftsbildende Kräfte im Genossenschafts- und Rätewesen in einem Spannungsverhältnis mit sich innerhalb desselben neu ausbildenden antagonistisch-politischen Konfliktlinien – nämlich vor allem jener zwischen Produzenten und Konsumenten –, die der Theorie zufolge nur in einem langwierigen evolutionären Prozess zugunsten des Gemeinsinns abgebaut würden. Natorp hingegen setzt mit dem Zentralrat auf die Autorität und Ausstrahlungskraft einer Instanz, welche die „Möglichkeit rein sachlicher Bestimmung alles sozialen Tuns“85 verkörpern soll. Der Zentralrat als Herrschaftsinstanz ist nicht nur Verwaltungsorgan und damit, um an Max Webers Typologie anzuschließen, rational legitimiert, er soll darüber hinaus als Repräsentation des neuen Gemeinsinns und des sachlichen Geistes eine charismatisch zu nennende Wirkung entfalten.86 „Die Gesinnung der Sachlichkeit ist, wenn überhaupt, von dem so gebildeten Rat zu erwarten. Brächte auch er sie nicht auf“, erklärt Natorp weiter, „würde er auch den Streit der Sonderinteressen in sich wieder aufkommen und gar herrschend werden lassen,
81 82 83 84
Ebd., S. 198. Ebd., S. 197. Ebd., S. 11. Korsch (1969): Was ist Sozialisierung, S. 112–117; zu Cole vgl. Masquelier (2016): Beyond Capitalism, S. 14. Vgl. auch die Überlegungen von Cohen (1981): Ethik des reinen Willens, S. 614. 85 Natorp (1920): Sozial-Idealismus, S. 76f. 86 Zum Charisma-Begriff Max Webers vgl. Weber (2005): Wirtschaft und Gesellschaft, S. 832– 873 (zuerst 1921/22).
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so wäre er freilich nicht besser […] als das bisherige, einseitig ‚politische‘ Imperium, er sänke damit selbst auf diese niedere Stufe herab.“87 Die hier explizit werdende Ablehnung des Politischen, das hier gleichgesetzt wird mit dem „Streit der Sonderinteressen“, geht einher mit einer vehementen Kritik am Parlamentarismus und dem Parteiweisen. Zwar sollte in Natorps Vision (zumindest vorübergehend) eine Koexistenz zwischen dem Parlament und dem Zentralrat bestehen. Der Philosoph stellt aber fest, dass das Parlament nicht weiter das „Formprinzip der Gesellschaft“88 darstellen könne. Das parlamentarische System und das Parteienwesen sind eben Repräsentationen der alten, nämlich antagonistischen Ordnung. Die wissenschaftliche Sachlichkeit ist jedoch ihrem Wesen nach neutral und macht damit alle Parteienbildung überflüssig. Die gesellschaftspädagogische Funktion der Räte liegt dementsprechend darin, die antagonistisch-politische Dimension sukzessive abzubauen, die „Schäden der Herrschaft und des Herrschaftskampfes der Parteien“89 durch die heilende Wirkung der Sachlichkeit zu beseitigen. Es ist entscheidend, dass hier gleichsam manichäisch Gemeinschaftlichkeit und Streit getrennt werden, die in einer alternativen Deutung des Parlaments ja durchaus in einer Einheit gedacht werden könnten; nämlich in einer solchen, welche das Parlament als Repräsentation eines gerade durch den gebändigten und kultivierten Streit geeintes politisches Gemeinwesen versteht, als Verkörperung eines – um mit Arendt zu sprechen – „Miteinanderlebens und Gemeinsamhandelns“,90 das Dissens und Konfrontation nicht aus sich ausschließt. In Natorps romantischem Sozialismus hingegen liegt die Zukunft des Verhältnisses von Rat und Parlament in der Unterordnung des letzteren unter ersteren: die wirtschaftlichen wie auch politischen Institutionen wären dem geistigen Rat zu unterstellen.91 5. INTEGRATION DURCH DIE IDEE IM NEUEN STAAT Mit der Repräsentation der gespaltenen sozialen Gesamtheit durch parlamentarische Parteien würden der gesellschaftliche Streit und die Uneinigkeit der Interessen nicht nur institutionell auf Dauer gestellt, sie würden als Teil der sozialen Wirklichkeit schließlich legitimiert und anerkannt werden. Das Rätewesen verkörpere und verwirkliche hingegen die organisch-einheitliche „soziale Arbeit“, die den neuen Gesellschaftskörper hervorbringen soll. Anstelle des politischen Streites, der parlamentarischer Politik eigen sei, würden hier der aufwärtsstrebende „Eros“92 der philosophischen Einsicht und die „concordia“ der gemeinsamen Arbeit an der Verwirklichung der Idee walten.93 Es dürfe „keine Partei gelten“, schreibt Natorp, denn 87 88 89 90 91 92 93
Natorp (1920): Sozial-Idealismus, S. 77. Jegelka (1992): Paul Natorp, S. 147. Natorp (1920): Sozial-Idealismus, S. 10 Arendt (2012): Die ungarische Revolution, S. 104. Vgl. Natorp (1920): Sozial-Idealismus., S. 11. Ebd., S. 220. Ebd., S. 57.
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dies bedeute „Teilgemeinschaft. […] Jede Teilung hebt die Einheitsordnung auf, die allein die Societas ausmacht. Der gemeinsame Grundirrtum aller Parteien ist – eben dies, die Partei.“94 Nicht nur mit dem romantischen Gemeinschaftsideal ist jedoch das Parteienwesen und der parlamentarische Betrieb unvereinbar, sondern auch mit dem, was als die ‚revolutionäre‘ Dynamik des Natorpschen Erziehungsidealismus bezeichnet werden könnte. Parteien sind nämlich als institutionelle Repräsentationen gesellschaftlicher Interessen den Subjekten, so wie sie sind, mit ihren Bedürfnissen, Meinungen und Vorurteilen rechenschaftsgebunden. Gegen das parlamentarisch-demokratische Parteiensystem könnte also auch eingewendet werden, dass es an den Kräften des Beharrens hängt und wenig erzieherische Impulse entfaltet. Der Zentralrat soll jedoch die Institutionalisierung und Verkörperung eines dynamischen Prinzips darstellen.95 Die sozialpädagogische Dynamik ist mit der mangelnden Steuerbarkeit und Trägheit des demokratisch-parlamentarischen Prozesses unvereinbar. Der Idee eines souverän gestaltenden Zugriffs des Zentralrates auf das Gesellschaftsleben entspricht die Forderung nach einer radikalen Autonomie des Rates, der nicht nur „unabhängig vom politischen Parlament“ operieren, sondern auch unabhängig von allen ökonomischen Interessenslagen arbeiten können soll.96 Von Verfahrensweisen der demokratischen Kontrolle des Zentralrates spricht Natorp nicht; der Geist dürfe nämlich „keiner anderen letzten Kontrolle unterstehen als der des Geistes selbst“.97 Es wäre daher vollkommen verfehlt, den Zentralrat als eine politische Vertretungsinstanz zu deuten.98 Man könnte sagen, dass der Rat sich nicht legitimiert durch die Vertretung der Anliegen des „seienden“ Volkes, sondern durch die Realisierung des „gesollten“ Volkes, der ideellen neuen Gemeinschaft und des Neuen Menschen. Was ist nun jedoch in inhaltlicher Hinsicht die vom Zentralrat artikulierte Idee? Wie ist die Zieldimension näher zu bestimmen? Die Beantwortung dieser Frage bleibt in den Ausführungen Natorps die bekannte Leerstelle. Der Neukantianer spricht zwar von „innerer Lebensgestaltung“,99 die vom Zentralrat geleitet werden soll, von der Ideenschau, welche „überhaupt erst die wahre Gemeinschaft und die echte Tugend“ erzeuge, die sich zusammenfassen lasse in der „sozialen Grundtugend: Gerechtigkeit“.100 Eine Perspektive des „unendliche[n] Ziels“101 wäre für die Leitung der gesellschaftlichen Probier- und Experimentalordnung maßgeblich.
94 Ebd., S. 22. 95 Die Aufgabe des Zentralrates als „eigentliche[r] Souverän in Staat“ sei nicht „rechtliches oder ‚politisches‘ Wirken“, ebenso wenig „unmittelbar wirtschaftliches, bildendes oder erziehendes Einzeltun, aber schöpferisches Entwerfen und immer neu Ausgestalten […] des Einheitsplanes all solchen, ja nie stillstehenden, sondern unablässig fortschreitenden Tuns.“ Ebd., S. 72. 96 Ebd., S. 8. 97 Ebd., S. 11. 98 Vgl. ebd., S. 75. 99 Ebd. 100 Ebd., S. 220. 101 Ebd., S. 135.
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Wenn von der Ideenschau gesprochen wird, wird indes nur die Verpflichtung des gesamten Erziehungsstaates gegenüber einem Erkenntnisgehalt (die Idee) gefordert sowie eine Instanz postuliert, die in sich die sachkundige Entscheidungsfähigkeit in den großen Fragen des Gemeinwesens konzentriert. Es wird eine bestimmte Kompetenz angezeigt, die zur Leitung der staatlichen Angelegenheiten befähigt und den Anspruch auf diese berechtigt; nämlich eben die Fähigkeit zur philosophischen Schau der Idee und eine aus dieser folgende Urteilsfähigkeit bezüglich der je nach historischer Situation unterschiedlichen Aufgaben und Herausforderungen. Die Führung gebühre allein den „‚Philosophen‘, das heißt, die der letzten, radikalen Begründung und damit der Kritik mächtig sind, müssen Könige sein.“102 Es ist die Aufgabe des Zentralrates, den neuen Geist der Gemeinschaft nach außen hin zu repräsentieren, also sich als sachlich beratende und nicht als streitende Körperschaft (wie das Parlament) zu zeigen. Es stellt sich die Frage, inwieweit die Selektionsmechanismen zur Konstituierung des Zentralrates, die nach Natorp offenbar demokratische Elemente und Verfahrensweisen der inneren Auslese nach Art akademischer Körperschaften verbinden soll,103 unter solchen Voraussetzungen noch eine Pluralität von Auffassungen zulassen könnten. Zwar soll in Natorps sozialistischem Gemeinwesen die Gegensätzlichkeit der Individualitäten nicht aufgehoben, sondern im Gegenteil sogar zur Entfaltung gebracht werden; doch diese Pluralität bezieht sich auf die unterschiedlichen Modi, die eine verbindende Idee zu realisieren. Natorp gebraucht das Bild der Vervielfältigung durch Spiegelung: „Der Sinn des Sozialismus ist also jene Harmonisierung, in der die ganze Spannung der Gegensätze erhalten bleiben muß, gerade um die Harmonie ins Unendliche zu vertiefen“; die „Vielheit“, die nicht eliminiert werden soll, ist nur eine Mannigfaltigkeit „individuelle[r] Spiegelung[en] des einen Geistes.“ Sozialismus sei notwendiger Weise „Idealsozialismus“, Überwindung der Antagonismen nicht durch eine Neuverteilung materieller Güter, sondern durch das gemeinsame Ideal.104 Die vom Philosophen verwendete visuelle Metaphorik („Schau der Idee“) deutet an, dass trotz der betonten Bedeutung der gemeinsamen Beratung und Planung die sachliche Entscheidungsfindung nicht aus der kommunikativen Konfrontierung des Heterogenen heraus hervorgeht, sondern aus der unmittelbaren Erfassung der einen Idee, zu der die Geistigen einen privilegierten Zugang haben, die darüber hinaus aber den gesamten Sozialkörper vereint. Eben diese einende Schau ist es, mit deren Möglichkeit die von Natorp ins Auge gefasste sachliche Herrschaft steht und fällt. Die traditionelle metaphysische Dichotomie, die das Sein, die Wahrheit und den Nous der Einheit zuordnet, die Vielheit und den Widerspruch aber zum Prinzip des Nichtseins, des Ungeistigen und Unwahren erklärt, wird auf die Beurteilung des Verhältnisses von Politik und Philosophie angewendet. Politik ist die Austragung dessen, was zwischen den Menschen Uneinigkeit erzeugt; Parlamentarismus und Parteiensystem aber kultivieren Uneinigkeit, sie beharren gleichsam auf ihr und sind also geistfremd. Das nach Natorps Terminologie „Gegensätzliche“ in der 102 Ebd., S. 240. 103 Vgl. ebd. S. 11 und S. 77. 104 Ebd., S. 191.
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Gesellschaft soll zwar nicht ausgelöscht werden, doch es wird radikal gezähmt, indem es auf die untergeordnete Ebene der reinen Ausführung beschränkt wird. Die Voraussetzung einer verbindenden Schau der Idee schließt prinzipiell aus, eine spezifische Rationalität des Politischen zu denken, die den Streit der Meinungen und die Uneinigkeit nicht bloß als einen auf dem Weg zur vollen Einsicht zu überwindenden Mangelzustand betrachtet, sondern gerade die Uneinigkeit als ihr Lebensprinzip hat. In Natorps Rätestaat wird der Einzelne vom in mannigfacher Hinsicht inkompetenten und dennoch zur Beurteilung und politischen Abstimmung über ihm undurchdringliche Sachverhalte befugten Bürger zum fachkundigen Funktionär im Rahmen der Gemeinschaftsarbeit mit berufs- und sachbezogener Mitbestimmungsmöglichkeit. Insbesondere der physisch arbeitende Stand verliert die Befugnis, sich gleichberechtigt in die Entscheidungsfindung zu den grundlegenden Fragen einzuschalten – in der repräsentativen Demokratie vollzieht sich das zumindest indirekt, nämlich durch die Wahl der Parteien und Volksvertreter. Was in Natorps Plänen keinen Platz hat, ist der öffentliche Raum, in dem eben auch der Inkompetente zu allen Fragen des Gemeinwesens Stellung nehmen kann, wo er aber vor allem durch die Konfrontation mit anderen und konträren Standpunkten zur Verschärfung, aber auch zur Reflexion und Revision seiner Meinungen bewegt werden kann. Streit, aber auch das politische Scheitern und die Enttäuschung als Momente eines Lernprozesses ohne klare Rollenverteilung von Erzieher und zu Erziehendem bleiben hier unberücksichtigt; die Rollen sind eindeutig verteilt, lernen heißt in erster Linie zu folgen. Dieser in den Begriffen der Erziehungswissenschaft wohl „autoritativ“105 zu nennende Charakter des genossenschaftlichen Erziehungsstaats Natorps musste zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Schrift Sozial-Idealismus natürlich gegen die im Raum stehenden alternativen, teils weit demokratischer ausgerichteten Ordnungsmodelle legitimiert werden. Die Rechtfertigungsstrategie Natorps ist eine klassisch platonische: Weil in dieser Regierungsform nach Maßgabe der Idee und des Wissens entschieden wird und nicht nach Maßgabe von unqualifizierten Meinungen, Vorurteilen oder auch Partikularinteressen, ist dieser Staat jedem anderen Staat vorzuziehen. In einer Situation, in der angesichst der von der Implosion des Kriegsidealismus hinterlassenen Leere und massiver Desintegrationstendenzen die Rufe nach der verbindenden Leitidee und nach dem rettenden Wort allgegenwärtig sind, beschwört Natorp einen Idealismus nicht nur als Forderung der Stunde, sondern als schlichte Forderung der Vernunft. Es ist ein Idealismus, der die geforderte Autorität der Idee in ein institutionelles Arrangement übersetzt, dessen Legitimität letztlich auf seiner Leistungskraft bei der Auslese der Besten beruht. Da eine Körperschaft der Besten immer nur die besten Entscheidungen treffen kann, so der an Platon angelehnte Argumentationsgang, stellt sie die beste Form der Regierung dar.
105 Vgl. Schmid (1975): Erziehung.
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5. SCHLUSS: DIE ABSCHAFFUNG DER POLITIK AUS DEM GEISTE DER KATASTROPHE Die Autorität der geschauten Idee ist es, die Natorps romantisch-sozialistisches System zusammenhält, und auf die Möglichkeit der Durchsetzung einer solchen autoritativen Geltung jenseits von Politik im herkömmlichen Sinne setzte er seine Hoffnungen auf die Realisierung seiner Gesellschaftsvision. Nicht durch Machtkampf sollte sie verwirklicht werden – denn dies hätte den Sozialidealismus ja nur zu einem politischen Akteur, einer Bewegung unter vielen gemacht und damit zu einem Teil dessen, was abgelehnt wurde. Wenn Natorp realpolitischen Fragen wie der nach dem Einsatz der staatlichen Zwangsgewalt zur Durchsetzung und Sicherung der geistigen Regierung in seinem Diskurs keinerlei Raum gibt, so ist dies primär nicht auf eine Ratlosigkeit angesichts der erwartbaren Widerstände zurückzuführen, es folgt vielmehr ganz aus der Logik des sich gegen Politik als solche richtenden Unternehmens. Was Natorp vorschwebt, ist die Utopie oder der ‚Wunderglaube‘ einer Überwindung des Gesetzes der politisch-sozialen Realität, nach der Regierung und Gewalt untrennbar miteinander zusammenhängen und jeder Veränderungswille in die Niederungen des sozialen Machtkampfes herabgezogen wird. An die Stelle des politischen Kampfes tritt die Schau der autoritativ geltenden Idee, aus der sich die Notwendigkeit eines Neuanfangs und der Umgestaltung, aber auch der Unterordnung dem schauenden Subjekt ergeben; eine Schau, die jedoch nicht Sache des einsamen Philosophen sein soll, sondern eine epochale menschheitliche Erfahrung. Sie steht bei Natorp am Ende eines Gewaltprozesses, in dem sich die Kräfte der alten und falschen Ordnung selbst zerstören und um ihre Existenzberechtigung bringen. „Nur aus dem Zusammenbruch, aus dem ‚Umsturz‘, in dem unvermeidlich auch manches stürzt, was stehen bleiben sollte, ja oft geradezu aus dem äußersten von Gewaltübung wird die Ungewalt geboren, weil erst die Gewalt an der Gewalt zerbrechen muss, damit für die Ungewalt der Boden frei wird.“106 In dieser katastrophisch-kathartischen Vision ist es erst der gewaltsame Zusammenbruch des „hohl[en] und fundamentlos[en]“107 Baus, der Sturz der alten Idole, aus dem heraus der neue Geist sich die Bahn brechen und den Neuanfang ermöglichen würde. Gesetzt wird also vor allem auf einen künftigen ethischen Gesinnungswandel, eine geistige Umkehr, und nicht auf das berechenbare Ausmaß an Unterstützung und momentanen Chancen der politischen Umsetzung. Natorps Sozial-Idealismus ist ein sich der Rhetorik des revolutionären Enthusiasmus reichlich bedienendes Stück philosophisch-politischer Programmatik – eines aus der Erfahrung des Kriegsgrauens und der herrschenden Not erwachsenden chiliastischen Enthusiasmus. Nirgends wird dies deutlicher als an folgender pathosvoller Stelle: Und so frohlocken wir in der Not der Stunde. Sie ist überreich, wie an Todesnöten und Höllenstürzen, so an Auferstehungen und Auffahrten. […] Wir, die Erlebenden, wissen, es ist, und nur der gar nicht zu bewältigende, immer neu uns überströmende Reichtum dieses Erlebens ist
106 Natorp (1920): Sozial-Idealismus, S. 254. 107 Ebd., S. 2.
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es, der die Aussprache so schwer macht. Sie will auch zuletzt gar nichts mehr besagen als: Erlebt mit uns, dann werdet ihr verstehen!108
Wie so viele seiner Zeitgenossen erhoffte sich Natorp, dass die Erfahrung des Sinnverlusts nach dem verlorenen Krieg und dem Zusammenbruch der alten Ordnung sich zu einer Quelle des revolutionären Erneuerungswillens entwickeln würde. Es ist der Topos der sinnentleerenden, alten und müden Kultur und Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, die sich in der Kriegskatastrophe selbst richtete, der hier beschworen wird.109 An diesem setzt das Natorpsche Szenario der Staatsgründung an, das seit Platon das Urszenario der politischen Philosophie ist. Bei Platon ist die Staatsgründung ein fiktives Szenario, ein Gedankenexperiment. Bei Natorp blieb in den 1890er Jahren die Frage der Umsetzung seiner sozialreformatorischen Ideen in der Schwebe, doch es bestand die Annahme, dass die historische Entwicklung ihrer zeitnahen Verwirklichung günstig ist. Die Entwicklungen zwischen 1914 und 1918 schienen den Prognosen einer zunehmenden Vereinheitlichung des innerstaatlichen Lebens in einem überraschenden Maße recht zu geben. Mit dem Burgfrieden wurde im kriegführenden Deutschen Reich die Überwindung des Parteienstaates gefeiert, die Umstellung auf die Kriegswirtschaft führte zu einer das ökonomische und das zivile Leben durchdringenden rationalen Verwaltungstätigkeit. Nach dem Zusammenbruch im November 1918 sollte diese, wie es diskutiert wurde, von einer zentralisiert-bürokratischen Form zu einer Form der berufsständischen und basisdemokratischen Selbstverwaltung überführt werden. Natorp sucht nun 1919 an den Kopf dieses neuen Gebildes sein Zentralorgan der Philosophenherrscher zu setzen und sein Konzept der dreigliedrigen Kompetenzenverteilung auf den Gesamtbau zu applizieren. Der Weg der politischen Machteroberung und der Durchsetzung seiner Ideen auf dem Wege des staatlichen Zwanges scheint dabei Natorp nicht alternativlos zu sein; an dessen Stelle bemüht er das Bild der Selbstheilung einer kranken, autodestruktiven Gesellschaft, die von sich aus zur Abgabe von Souveränität aus Einsicht und zu einer Autorisierung der Philosophen, die Rolle des schlichtenden und leitenden Dritten einzunehmen, führen sollte.110 Man könnte hier einen Umgang mit der Frage des realen, den weitreichenden Veränderungsvorhaben des Philosophen entgegengesetzten Machtdefizits sehen, der ebenfalls bereits bei Platon zu finden ist. Dieser spricht nämlich in der Politeia davon, dass sich der Bürger dem Philosophen wie der Kranke dem Regime des Arztes unterstellen sollte.111 Der
108 Ebd., S. 256. 109 Zu diesem Topos mit Bezug auf den Philosophen Arnold Metzger und seine „Phänomenologie der Revolution“ von 1918/19 vgl. Dikovich (2017): Arnold Metzger. 110 Herrmann Herrigel kommentierte zu diesem Punkt äußerst zutreffend: „Damit fällt der politische Gegensatz zwischen der Zentralbehörde als der Trägerin der Macht und den Einzelnen, die dem Druck der Macht ausgesetzt sind, weg; die Überwindung dieses Gegensatzes zwischen Machtsubjekt und Machtobjekt ist das letzte Ziel der pazifistischen Bestrebungen der Abschaffung der Politik.“ Herrigel (1921): Politik und Idealismus, S. 69. 111 Platon (1958): Politeia 489 b–c, S. 204. Zum Motiv der Heilung in Natorps politischen Schriften vgl. Tucker (1984): Ereignis, S. 210.
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Philosoph tritt bei Platon als Staatsretter auf,112 dem die Bürgerschaft aus der Erfahrung des Schmerzes heraus, die nach Platon der politischen Geschichte innewohnt und der er in seiner Darstellung des Kreislaufes der politischen Ordnungen mit seiner Einmündung in die Tyrannis breiten Raum gibt, die Geschicke des Staates in die Hände legt. Dadurch würde mit der zyklischen Zeit der Politik gebrochen und mit der den Ideen entsprechenden, wohlgeordneten Herrschaft der Philosophen eine neue Zeitlichkeit, nämlich eine der Beständigkeit eingeführt. Platon, in dessen Spuren Natorp sich in seinem gesamten politischen und sozialreformatorischen Denken bewegte, erwartete die Erneuerung von einer aristokratischen Elite im Staat, von der Leitung durch die Philosophenherrscher und von den sich unter dem Erziehungsregime letzterer heranbildenden „Wächtern“ des Gemeinwesens. Wie aber sollte sich eine solche Erneuerung in der demokratisierten Massengesellschaft ereignen, mit der Natorp konfrontiert war? Es ist auch hier die gesellschaftsübergreifende Erfahrungskontinuität der Katastrophe, die geteilte Erfahrung des Schmerzes, die schlagend werden sollte. Es lässt sich eine gewisse Wiederkehr politisch-romantischer Motive aus dem Bestand der ‚Ideen von 1914‘ zu beobachten, umgemünzt auf die neuen Gegebenheiten und Herausforderungen nach dem Krieg. Wie zu Beginn des ‚Volkskriegs‘ 1914 das Gemeinschaftserlebnis des enthusiastischen Patriotismus und der Opferbereitschaft beschworen wurde, so ist es nun die kollektive Depression und Desillusionierung einer Schicksalsgemeinschaft, die durch den idealistischen philosophischen Diskurs kanalisiert und in positive Handlungsenergie umgewandelt werden sollte. Natorp sah im Jahr 1919, zur Zeit der Entstehung seiner Schrift Sozial-Idealismus, die heilsame Katastrophe als noch im Gange befindlich: Also zu einer Zeit, in der bürgerkriegsnahe Zustände Berlin, Bremen, München und andere Orte in Deutschland und ganz Mitteleuropa heimgesucht hatten, und sich abzeichnete, dass das aus dem Krieg kommende Deutschland eines sein würde, dem die Gegensätze der Klassen, Ideologien und Parteien tiefer eingegraben waren denn je. LITERATUR o. A. (= u. a. Paul Natorp): „Aufruf an das Proletariat“. In: Die Tat. Monatsschrift für die Zukunft deutscher Kultur 11 (1919/20), H. 2, 613–615. Adler, Max: Das Soziologische in Kants Erkenntniskritik. Ein Beitrag zur Auseinandersetzung zwischen Naturalismus und Kritizismus, Wien 1924. Arendt, Hannah: „Die Ungarische Revolution und der totalitäre Imperialismus“. In: dies.: In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken, Bd. II, München 2012, 73–126. Dies.: „Philosophie und Politik“. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41 (1993), H. 2, 381–400. Bedorf, Thomas: Dimensionen des Dritten. Sozialphilosophische Modelle zwischen Ethischem und Politischem, München 2003.
112 Vgl. Platon (1958): Politeia 501e, S. 215. Ein entsprechendes Motiv hatte Natorp im volonté générale bei Rousseau gefunden; die Unterwerfung unter den Gemeinwillen gründet demnach im Bewusstsein, dass sich die Gemeinschaft nur auf diesem Weg erhalten kann, ist also ein Akt der Selbstrettung. Vgl. Natorp (1922): Rousseaus Sozialphilosophie, S. 60.
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EINE KONZEPTION DER GRÖSSE IN DER KLEINHEIT Tomáš Garrigue Masaryk und die tschechische Unabhängigkeit Vratislav Doubek 1. EINFÜHRUNG: EINE KLEINE NATION IN ZEITEN DES IMPERIALEN WETTBEWERBS Betrachtet man die Rolle des Neuen Menschen (nový člověk) im Zusammenhang mit der Entstehung der Tschechoslowakischen Republik am Ausgang des Ersten Weltkrieges, so zeigt sich, dass er in einem jahrzehntelang bestehenden Kontext des politischen Denkens in der tschechischen Gesellschaft entstanden ist.1 Im politischen Denken der Tschechen entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ein eigentümlich konstruiertes und den nationalen Verhältnissen angepasstes Ideal der Kleinheit – ein Ideal eines kleinen Menschen (ideál malého člověka) und einer kleinen Nation. Dieses Ideal war ein Spiegelbild der tschechischen Gesellschaft, die seinerzeit nur über wenige wirtschaftliche, kulturelle und folglich auch politische Eliten verfügte, was als ein Mangel empfunden wurde. Natürlich war diese Schwäche nur relativ, sie war die Folge eines systematisch-kontinuierlichen Vergleichs mit dem umgebenden und durchdringenden deutschen Element und dem ungarischen Rivalen. Die Herausbildung eines spezifisch tschechischen Nationalinteresses bedeutete im multinationalen mitteleuropäischen Raum des 19. Jahrhunderts eine Präzisierung seines Einflusses und seiner Stellung in Bezug zu anderen Nationalgruppen. Für die seit 1848 tonangebende Ideenströmung der liberalen Nationalisten war es kennzeichnend, die Interessen des Individuums mit denen der Nation zu verbinden. Die allgemeinen liberalen Parolen galten ihnen als zu universalistisch und daher nivellierend. Nicht bereit, den liberal-individualistischen politischen oder wirtschaftlichen Konzeptionen zu folgen, eigneten sie sich andere politische Leitsätze an, indem sie die liberale Lehre in eine erweiterte Konzeption der „nationalen Individualitäten“ transformierten. Dieser Konzeption folgend wurde die Nation auf eine Stufe mit dem Individuum gestellt, die „Nation mit der Gesamtheit ihrer geistigen Bedürfnisse und Begünstigungen ist uns nicht weniger heilig als der Mensch in seinem natürlichen Recht“.2 Im Verlauf dieses Diskurses wurde die Freiheit des
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Wenn auch der am 28. Oktober 1918 gegründete tschechoslowakische Staat einen multinationalen und -kulturellen Charakter hatte, konzentriert sich der folgende Aufsatz auf das politische Denken des tschechischen Sprach- und Kulturraums. Palacký (1898): Manifest prvního sjezdu, S. 48. (zuerst 1848).
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Individuums als Wert abgeschwächt und der Stärke eines Nationalkollektivs untergeordnet. Dieses Verhältnis wurde detailliert in verschiedensten Varianten entwickelt. Genau diese Auffassung sollte für die weiteren Jahrzehnte die tschechische Politik unverändert leiten. Die einzige markante Interpretationsverschiebung erfolgte ab den 1860er Jahren mit dem Aufkommen der Oppositionspolitik der Jungliberalen. Sie – genannt die Jungtschechen, seit 1874 Národní strana svobodomyslná (Nationalpartei der Freidenkenden) – verstanden die Nationalpolitik als Volkspolitik, als Politik des Volkes. Diese Neuausrichtung hing mit der Ablehnung der Honoratiorenpolitik und der Hinwendung zur Massenpolitik zusammen. Aber nicht einmal diese radikal aufgefasste Politik konnte etwas an der grundlegend labilen Ausgangssituation ändern. Die jungtschechischen Bestrebungen erfüllten sich zwar nach innen hin in einem kontinuierlich wachsenden National- und Landesbewusstsein. Die nach außen gerichteten Ambitionen gegenüber der k. u. k. Doppelmonarchie sowie dem Ausland blieben aber verständlicherweise beschränkt und zudem durch Attribute der Provinzialität und Abhängigkeit belastet. Die Selbstreflexion der Tschechen als Nation entwickelte sich demnach unter dem Druck einer langanhaltenden Spannung, welche aus dem Gefühl einer Indisposition erwuchs. Die empfundene Unterlegenheit rührte aus der Vorstellung einer zahlenmäßig relativ kleinen, kulturell und wirtschaftlich schwachen Nation her, welche sich zu einer Zeit zu etablieren versuchte, als in anderen Nationen Bestrebungen zum Aufbau einer kolonialen und imperialistischen Großmacht typisch waren. Da nicht einmal der allmähliche Prozess der Ausreifung und Stärkung des kollektiven Bewusstseins und Selbstbewusstseins des Volkes das Handicap der Kleinheit überwinden konnte, hatte sich das politische Denken anzupassen. 2. MASARYKS STAATSRECHTLICHES PROGRAMM Diese Anpassung lässt sich anhand der staatsrechtlichen Ideen von Tomáš Garrigue Masaryk (1850–1937), dem ersten tschechoslowakischen Präsidenten, nachvollziehen. Masaryk war als Politiker bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den öffentlichen Raum getreten, wobei er zugleich ein philosophischer und sozialwissenschaftlicher Autor von internationalem Rang war. Politisch teilte Masaryk die traditionelle Auffassung, dass die tschechische staatsrechtliche Frage von der österreichischen, bzw. österreich-ungarischen Koexistenz abhängig sei. Die Beziehung zwischen der tschechischen Peripherie und dem österreichischen Zentrum Wien kann somit als ein Sinnbild des Konflikts zwischen klein und groß gesehen werden. Die staatspolitischen Bestrebungen in der tschechischen Gesellschaft waren von Großmachtvorstellungen beeinflusst. Die tschechische Politik war auf die traditionelle Machtaufteilung Europas und der Welt bezogen und brachte vor diesem Hintergrund ihre progressiven Konzeptionen hervor. So formulierte bereits im Jahr 1863 der führende Politiker des tschechischen nationalliberalen Blocks (Národní strana), František Palacký, den zukünftig allgemeingültigen Ausgangspunkt der tschechischen Politik:
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Die Zeit, in der die Staaten der zweiten oder dritten Klasse in voller Unabhängigkeit und Eigenständigkeit schaffen und sich erhalten konnten, ist aufgrund der sich mit den Jahren verbreiteten Weltzentralisierung wenigstens in Europa für immer und ewig vorbei. Auch wir erleben es jetzt, dass allein in Europa nur die Weltmächte England und Russland eine völlig eigenständige, sich nur nach den eigenen Interessen richtende Politik betreiben können, während die anderen Staaten, selbst mächtige, gezwungen sind, Rücksicht zu nehmen und die Richtung jener Mächte zu befolgen.3
Nach diesen Worten richtete sich die tschechische Politik knapp ein halbes Jahrhundert lang – in Zeiten, als die Tschechen die Koexistenz mit den Österreichern unter einer Krone noch aktiv gestalten wollten, aber auch noch zu jener Zeit, als sie schon nach Alternativen für eine eventuelle nachösterreichische Entwicklung in Mitteleuropa zu suchen begannen. Ein Zwiespalt unterstrich die Schwäche der tschechischen Position: nach außen deklarierten die Tschechen öffentlich die Zugehörigkeit zu Österreich, daraus schöpften sie das Gefühl, eine Großmacht zu sein; nach innen hin war ihnen aber bewusst, dass sie zu eben dieser Zugehörigkeit verurteilt waren. Dieses staatsrechtliche Dilemma wurde für gewisse Kreise und Gruppen allmählich unerträglich, und zwar insbesondere in den Zeiten der politischen Frustration und der steigenden Opposition gegen die österreichische Reichspolitik. Daraus ergab sich eine forcierte Suche nach Alternativen. Auch diese Alternativen sahen eine Unterordnung unter eine Großmacht oder ein anderes starkes Zentrum vor, das im äußersten Fall Österreich ersetzen und unter dessen Schirmherrschaft die tschechische Politik und das tschechische Volk ihre Existenz erhalten und weiterentwickeln sollte. Nicht nur, dass diese Alternativen politisch nicht realisierbar waren, sie änderten vor allem grundsätzlich nichts an der Spannung zwischen dem Bewusstsein der nationalen Schwäche und der Größe der Ambitionen. Zu den wohl deutlichsten Konzeptionen dieser Art gehörte das Projekt eines gemeinsamen Reiches aller Slawen des einflussreichen jungtschechischen Politikers Karel Kramář kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Kramář hatte zu dieser Zeit bereits innerlich die tschechisch-österreichische Bindung hinter sich gelassen, doch konnte er sich nicht mit dem Verlust der Großmachtposition abfinden, die durch jene Bindung gesichert wurde. Eine Alternative sah er im Anschluss an eine andere Großmachtstruktur, die ebenfalls das Gefühl der Größe gewähren würde. Im Frühjahr 1914 verfasste er so in Zusammenarbeit mit dem russischen Agenten Vsevolod Pavlovič Svatkovsky eine Verfassung für ein allslawisches Reich, dessen Bestandteil auch die tschechischen Länder werden sollten. An der grundlegenden Konzeption hatte sich aber nichts geändert. Auch diese politische Vision ging von der Vorstellung aus, dass die tschechischen Länder der untergeordnete Teil einer Großmachtautorität, in diesem Fall das zaristische Russland, sein sollten.4
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Der Text wurde ursprünglich in den Nationalblättern (Národní listy) am 9. Juni 1863 unter dem Titel Odpověď Boleslavanu (Eine Antwort an Boleslavan) veröffentlicht. Siehe Palacký (1898): Odpověď Boleslavanu, S. 179. Vgl. zu Kramářs Zielvorstellung eines gemeinsamen Reiches aller Slawen: Winkler (2002): Karel Kramář, S. 209f.
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Als Fürsprecher eines starken Österreichs trat auch Masaryk zunächst in der öffentlichen politischen Sphäre auf. Zu Beginn seiner politischen Karriere 1891 verwendete er die früheren Überlegungen von Palacký, welche die Notwendigkeit eines starken Reiches im Interesse der starken Länder betonten: „Österreich muss im Interesse Europas fortdauern, wir wünschen uns somit das starke Österreich, da seine Stärke auch unsere Stärke ist“.5 Im Rahmen dieses starken Österreichs sah Masaryk ursprünglich ausreichend große Entfaltungsmöglichkeiten für die Entwicklung einer tschechischen Politik, deren erklärtes Ziel die Sicherung einer umfassenden Autonomie sein sollte. „Als tief überzeugter Vertreter der Freiheit jeder Art, der Autonomie und der Selbstverwaltung sowohl bei anderen als auch bei slawischen Völkern wollen wir die Individualität und Selbständigkeit aufrechterhalten, […] die Selbständigkeit der tschechischen Länder im Bereich Österreichs ist unser Hauptziel.“6 Masaryk kam in der Diskussion über die Grenzen und den Umfang dieser Länder ebenfalls auf staatsrechtliche Überlegungen zu sprechen, wobei er historisch-rechtliche und naturrechtliche Gesichtspunkte kombinierte. Als ein Politiker der sogenannten „realistischen Partei“ (Realistická strana) in einer Zeit des bestehenden österreichisch-ungarischen Dualismus ließ er die „natürlichen Ansprüche“ der Tschechen auf Oberungarn, der heutigen Slowakei, fallen; aus seinen privaten Aufzeichnungen geht jedoch hervor, dass sowohl er wie auch eine ganze Reihe anderer tschechischer Politiker die Slowaken als Tschechen betrachteten und die slowakischen Gebiete dem naturrechtlichen Anspruch der tschechischen Länder unterstellten, wie es auch später während des Ersten Weltkrieges geschehen sollte.7 In den grundsätzlichen Fragen der Landes- und Reichsabgrenzung der tschechischen Politik wich auch Masaryk nicht von traditionellen Vorstellungen und Erwartungen ab. Somit brachte Masaryk bei weitem nicht so viele originelle Elemente in das politische Denken ein, wie ihm zuweilen beigemessen werden. Dessen ungeachtet hatte er einen prägenden Einfluss auf seine Zeit und zwar durch eine Neubewertung des ambivalenten Verhältnisses zwischen Abhängigkeit und Souveränität, dem Gefühl der Größe und gleichzeitigen Schwäche sowie zwischen der Auffassung, ein Zentrum und gleichzeitig die Peripherie zu bilden, eine Liste von Paradoxa, welche die tschechische Politik (und Gesellschaft) lange zu lösen versuchte.8
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Masaryk T. G.: Slovanská vzájemnost. Trojspolek [1891], in: AUM, Masarykův archiv, fond Korespondence I, K3, sl. 17, S. 3. Ebd. „Slowaken sind Tschechen, auch wenn sie ihren Dialekt als Schriftsprache verwenden.“ Siehe Masaryk (1929): Independent Bohemia, S. 246f. (zuerst 1915). Siehe zum Thema der Auffassung des Zentrums und der Peripherie in der tschechischen Politik: Doubek (2012): Česká politika.
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3. DIE SUCHE NACH NEUEM SELBSTBEWUSSTSEIN Auch wenn Masaryk zu den Oppositionspolitikern gehörte, blieb er doch vor 1914 in seiner politischen Praxis ein österreichischer Politiker, der nach Entwicklungsmöglichkeiten der tschechischen Gesellschaft innerhalb des habsburgischen Staatsverbundes suchte. In seinen theoretischen Schriften der 1890er Jahre entwickelte er jedoch eine Konzeption, die letztlich eine Relativierung der Bindung zwischen der tschechischen Landesperipherie und dem österreichischen Reichszentrum darstellte. Masaryk befreite sich als erster der tschechischen Politiker und politischen Denker bewusst und konsequent von der Vorstellung, dass eine progressive Entwicklung der tschechischen Politik nur im Rahmen der Monarchie Österreich-Ungarns erfolgen könne. Auf seine Weise trennte er sich schon lange vor dem Weltkrieg von Österreich-Ungarn als einer für das tschechische Volk unvermeidbaren Großmachtformation. Er tat dies nicht in einem negativ-antiösterreichischen Sinne. Masaryk stellte weder die Monarchie, noch ihre Stärke oder geopolitische Rolle in Frage, ebenso wenig die Rolle der Großmächte an sich. Dessen ungeachtet deklinierte er die allgemeine Berechtigung der traditionellen Machtkriterien und Machtquellen neu durch; unter anderem auch dadurch, dass er die von der Gebietsfläche und der Einwohnerzahl abgeleitete Staatsbedeutung relativierte und den Wert der Staatlichkeit selbst abschwächte. So stellte er sie anderen Machtquellen, wie etwa dem Volk, gleichwertig gegenüber. Die neuen, aus seiner Sicht modernen und progressiven Machtquellen waren in der Ursprünglichkeit der Nation und dem Nationalcharakter zu suchen. Seit Beginn der 1890er Jahre kehrte Masaryk erkennbar das Verhältnis zwischen dem Volk und dem Staat in seinen politiktheoretischen Schriften immer deutlicher zu Gunsten der Volksart um, allerdings ohne dabei auf die Bevölkerungszahl abzuheben. Es besteht ein Unterschied zwischen den großen Reichen der früheren und heutigen Zeit; […] Wenn wir annehmen, dass die bisherige politische Entwicklung der Gesellschaft die Organisation der ganzen Menschheit widerspiegelt, verstehen wir unter dieser Organisation eine möglichst durchdachte Arbeitsteilung, die historisch den einzelnen kleineren Gesellschaftsorganisationen, Staaten, Kirchengemeinden, Völkern etc. aufgegeben worden war. Diese angestrebte Einheit bedeutet keine durch gewaltsame Uniformierung erzeugte Einförmigkeit […]. Die Einheit des Ganzen muss organisch aus angemessen entwickelten Individualitäten wachsen.9
Sicherlich, das Pluralitätsprinzip der Einheit und die Vorstellung von Nationalindividualitäten sind auch in der Argumentation der älteren tschechischen politischen Denker zu finden, aber im Vergleich zu deren Auffassungen wurden sie von Masaryk nicht mehr als ideale Zielvorstellung, sondern als Voraussetzung der Weiterentwicklung ausgegeben. Die Masaryksche Generation schritt von der früheren Forderung nach nationaler Gleichberechtigung zum Prinzip der Gleichwertigkeit der Nationen fort, und dieses Prinzip wurde eben am deutlichsten von Masaryk formuliert und vertreten. Über Die tschechische Frage (Česká otázka, 1895) bis zu 9
Masaryk (2007): Člověk a příroda, S. 286f. Der Aufsatz erschien zuerst 1890 in der Zeitschrift Květy (dt. Blüten).
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seinem Hauptwerk zu eben diesem Thema, Neues Europa (Nová Evropa, 1918), strebte Masaryk eine neue Auffassung an, deren zentraler Punkt in der Aufwertung der Rolle des „kleinen Volkes“ lag.10 Bei seiner Stellungnahme findet man das traditionelle, von Johann Gottfried Herder ursprünglich formulierte Motiv von der einzigartigen Bedeutung jeder Nation für die Menschheitsgesamtheit, die allein die Aufrechterhaltung der Nationalexistenz rechtfertig. Diese Idee wurde modernisiert und an die rein tschechischen politischen und sozialen Bedingungen und Möglichkeiten angepasst. Nur diejenigen Nationen, die in die historische Entwicklung etwas Originäres und Ursprüngliches, etwas Eigenständiges einbringen, haben nicht nur eine spezifische Daseinsberechtigung, sie werden für Masaryk vielmehr zu Entwicklungsträgern. Sie werden zu natürlichen, starken und richtungsgebenden Akteuren und letztendlich zu zentralen Machtträgern. Bereits in der Schrift Die tschechische Frage lässt sich der Anfang dieser Argumentationsstrategie finden, die zwar nur andeutungsweise konkrete Überlegungen über den spezifischen Eigenwert einer kleinen Nation vorbringt, der Sinn des Vorhabens wird jedoch offensichtlich: Ich gestehe ganz offen, dass auch mich unsere Kleinheit bedrückt, aber ich bin davon überzeugt […], dass ihre Quelle nicht unsere kleine Anzahl ist. […] Ich bin der Meinung, dass die bisherige peinvolle Kleinheit unseres nationalen Lebens nur zeitweilig ist und dass sie […] durch das Erkennen und das Einsehen unserer Mängel aufhört – wer die Mängel erkennt und fühlt, wird sie beseitigen können.11
Bereits aus diesen Worten wird deutlich, dass Masaryk von der Lebensfähigkeit eines kleinen Staates, bzw. einer kleinen Nation, überzeugt war. Zum einen, weil sich Kategorien wie die Fläche oder die Bevölkerungsanzahl ohnehin im Laufe der Zeit ändern könnten. Und zum anderen, sobald rein rechnerische Größen zu unbedeutenden Faktoren relativiert werden, konnten stattdessen andere, ideelle Quellen der Macht betont werden. Masaryk suchte und fand auf diese Weise das für die tschechische Gesellschaft angestrebte Ideal der Größe in der Kleinheit. Dieses machte die bisherige Auffassung der Stärke des Zentrums hinfällig, ja und mehr noch: Es hob die bis dahin unbeachteten Machtträger der abhängigen Zentren an der Peripherie des Reiches hervor und sagte ihnen die Fähigkeit zur positiven Entwicklung voraus. Das war der Kern der Masarykschen Lösung der tschechischen Frage, das war sein zentraler Beitrag zur Lösung des Problems der kleinen Nation, das war die wesentliche Errungenschaft sämtlicher theoretischer Vorkriegsarbeiten, die sich seit Mitte der 1890er Jahre auf dieses Problem bezogen. In seinen damaligen Texten wird stets das gleiche Argumentationsgerüst auf verschiedene Themen angewandt. Den Werken liegt ein breitangelegter Plan zugrunde, der einen starken Hang zur Dichotomie aufweist. Das Gemeinwohl wird begrifflich als allmenschliche Humanität oder Demokratie definiert, begrifflich 10 Ders. (1895): Česká otázka. Die Schrift Nová Evropa erschien 1918 zuerst in der tschechischen Exilpresse, sowohl auf Französisch als auch auf Englisch. Siehe Ders. (1918): L’Europe nouvelle u. Ders. (1918): The New Europe. 11 Ders. (2000): Česká otázka, S. 12 (zuerst 1895).
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präzisiert und mit konkretem Inhalt ausgefüllt wird es allerdings erst auf der Ebene der Slawen und schließlich der Tschechen. So ging Masaryk in seinen ersten Texten zu öffentlichen und politischen Streifragen in den 1880er und 1890er Jahren vor, von seinen unvollendeten Slawenstudien bis zur Tetralogie zur tschechischen Frage.12 Diese nahezu einem didaktischen Plan folgende Auslegung benutzte er auch in den folgenden Jahren in einer Reihe kleinerer Schriften und schließlich dann in dem Kriegswerk Neues Europa.13 Gerade im tschechischen Volk suchte und fand Masaryk die Wertquellen, die er als modern, progressiv und somit federführend ausgab. In der Geschichte und Gegenwart der tschechischen Nation sah er die Umrisse eines wesentlichen Demokratismus und Humanismus angelegt, aus denen er, trotz der relativen Kleinheit der tschechischen Nation, die innere Größe des tschechischen Nationalbewusstseins ableitete. Es war eben die Konzeption der „Größe in der Kleinheit“, die es Masaryk ermöglichte, die österreichische Großmachtidentität ohne Verlust des tschechischen Selbstbewusstseins zu ersetzen. 4. UNABHÄNGIGKEIT DER NATION ODER DES STAATES? Diese Argumentation musste während des Ersten Weltkrieges angepasst werden. Die Masarykschen Texte konzentrierten sich damals nicht auf die kleine tschechische Nation und leiteten auch nicht ihre innere moralische Kraft aus ihrer äußerlich kleinen Anzahl und Schwäche ab. Während des Krieges musste mit allgemeineren Argumenten gearbeitet werden. In ihrem Mittelpunkt blieb weiterhin der Begriff der Nation dem des Staates übergeordnet. Die Beseitigung der den kleinen Nationen zugefügten „historischen Unrechte“ wurde jetzt nicht nur als Ziel und Sinn des Krieges, sondern auch als höhere Vorsehung interpretiert. So argumentierte Masaryk unter Rückgriff auf biblische Motive: Im ersten Brief an die Korinther sagte der Apostel [hl. Paulus], dass Gott bestimmte, dass, was in Demut gesät wurde, in Ruhm auferstanden ist, und was in Schwäche gesät wurde, in Macht auferstanden ist. Dieses Paradox des Apostels erfüllt sich soeben. Seine wortwörtliche Krönung wird durch die sich nähernde Revolution die rechtliche Daseinsberechtigung der kleinen Nationen sein.14
Gleichzeitig begann Masaryk in seinen Schriften die Interessen des Individuums und die des Volkes miteinander zu verflechten und dieses Ineinandergreifen als ein organisch gewachsenes Ideal darzustellen, wodurch er den Staat umgekehrt in die Rolle eines bloßen künstlichen Instruments versetzte.
12 Mit der Tetralogie sind neben der oben erwähnten tschechischen Frage (Česká otázka) die folgenden zwischen 1895 und 1897 publizierten Schriften gemeint: ders. (1895): Naše nynější krize; ders. (1895): Jan Hus u. ders. (1897): Karel Havlíček. 13 Siehe Fn. 9 oben. 14 Ders. (2005): Vzkříšení malých národů, S. 218. Zuerst unter dem Titel „The Resurrection of the Small Nations“ in der Zeitschrift Christian Comonwealth (26.7.1916) abgedruckt.
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Vratislav Doubek Die Geschichte begünstigt alle Individuen, den Individualismus im Allgemeinen; Völker sind natürliche Organisationen von homogenen Individuen, Staaten sind im Gegensatz dazu eher künstliche Organisationen und sie passen sich den Nationen mehr und mehr an. Diese Tendenz ist so allgemein gültig, dass die numerische Stärke der Nationen keine entscheidende Rolle spielt. […] Der Staat ist autokratisch, herrschend und beherrscht, die Nation hingegen ist demokratisch, verwaltend, sozial, von innen heraus sich entwickelnd.15
Diese offen zum Ausdruck gebrachte Geringschätzung der Staatlichkeit versetzte Masaryk vom propagandistischen Standpunkt aus in eine komplizierte Situation und das in zweierlei Hinsicht. Der moderne Bürger war im Normalfall von der notwendig anwachsenden Rolle des Staates als Garant der Sozialpolitik, der wirtschaftlichen Entwicklung und des militärischen Schutzes überzeugt. Die Situation in der tschechischen Gesellschaft war jedoch in diesem Punkt verschoben. Ein eben nicht unbedeutender Gesellschaftsteil war in einer gewissen Geringschätzung gegenüber der Staatsautorität erzogen worden. Trotz aller gegen das konstitutionell-monarchistische System Österreich-Ungarns erhobenen Vorwürfe, das als konservativ und anachronistisch galt, stellte es eine für die Zeit hinreichend entwickelte Struktur dar, aus der heraus die tschechische Politik nicht nur gewachsen war, sondern an die es natürlich angeknüpft hatte. Das Problem lag darin, dass die tschechische Gesellschaft über die Legitimationsgrundlagen in Bezug auf Verfassung, Parlamentarismus oder Staatlichkeit vor dem Krieg oft eine deutliche Respektlosigkeit äußerte, und zwar mit der Erklärung, dass diese nicht aus ihrem unmittelbaren Willen hervorgegangen seien und sie nicht die Bedürfnisse und Ziele der tschechischen Nation erfüllen würden. Auch wenn die Tschechen letztlich die allgemeine Forderung nach einer wachsenden Rolle des Staates teilten, bestärkten sie sich gleichzeitig in einer gewissen Oppositionsidentität, aus der sich ein Misstrauen zum österreichischen Staat ergab. Der österreichische Staat stand zwar der sich entwickelnden tschechischen Gesellschaft als Modell vor, Vorstellungen von Modernität wurden aber nur bedingt mit ihm verbunden. Masaryk hat diesen eingeschränkten Respekt gegenüber dem österreichischen Staat in seiner Relativierung der Staatlichkeit aufgegriffen und verstärkt. Er konnte sich dies jedoch nur im Kampf gegen Österreich leisten. Ab dem Moment, als sich der Raum für die Gestaltung eines eigenen Staates eröffnete, wurde es im Gegenteil notwendig, die gesellschaftlichen Werte und Machtinstitute als allgemein verehrenswert zu versehen und sie außerdem mit dem Siegel der Fortschrittlichkeit und Originalität auszustatten. Dazu war aber auch eine Neubewertung des Glaubens an den Staat und eine Rehabilitation der Staatlichkeit als solcher notwendig. Masaryk gelang dies, indem er eine undemokratische von einer demokratischen Staatlichkeit unterschied: „[D]er Wiener und der Budapester Absolutismus haben uns zu einer dauerhaften Abkehr vom Staat gezwungen und so haben wir uns an eine Negation des Staates gewöhnt. Diese Negation müssen wir jetzt durch einen positiven Sinn für den Staat ersetzen.“16 Das war eine notwendige
15 Ders. (1922), Das Problem, S. 21 u. 27. Zuerst auf Englisch erschienen, siehe ders. (1915): The Problem. 16 Ders. (2003): Poselství prezidenta, S. 172 (Rede des Präsidenten Masaryk in der Volksversammlung am 28.10.1919).
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Modifikation der Argumentation aufgrund der sich verändernden tschechoslowakischen Szenerie. Aber eine ähnliche Verschiebung musste bereits während des Weltkrieges gegenüber den verbündeten Entente-Mächten erfolgen. Masaryk wollte damals nicht nur davon überzeugen, dass die Auflösung Österreich-Ungarns notwendig und zweckmäßig sei, sondern auch Vertrauen in die projektierten Nachfolgestaaten wecken. In späteren Kriegsphasen konzentrierte sich Masaryks staatsrechtliche Argumentation darauf, den Staat zu rehabilitieren und den Begriff der staatlichen und nationalen Unabhängigkeit zu betonen. Der Erfolg des von ihm geleiteten antiösterreichischen Widerstands führte nicht nur zum Aufbau des Vertrauens in die Staatlichkeit – nun in die tschechoslowakische Staatlichkeit – sondern zu der Überzeugung von der führenden Rolle dieses Staates, zumindest im mitteleuropäischen Maßstab. Das Konzept eines kleinen, aber starken Volkes wurde auf die Ebene eines nicht großen aber eben dennoch bedeutsamen Staates umgewandelt. Machttheoretisch geht man im Allgemeinen davon aus, dass im Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie die Machtkapazitäten stets beim Zentrum liegen. Die Bindung an ein starkes Zentrum kann dabei von der Peripherie aus gesehen zwei Positionen aufweisen: Eine offensive, wenn sich die Politik der Peripherie mit der Macht des Zentrums identifiziert und sie für die eigene Entwicklung ausnutzt. Die andere Position ist defensiv, sie liegt vor, wenn die Peripherie sich unter die protektionistische Schutzrolle des übergeordneten Zentrums stellt. Kramář sowie Masaryk repräsentierten die erste Position, denn es war ihr Ziel, dass sich die tschechische Politik emanzipieren sollte und sich zum Wachstum ermächtigt fühlt, trotz der österreichischen Hegemonie. Während Kramář ein starkes Zentrum suchte, mit dem sich die tschechische Politik identifizieren und das sie sich zunutze machen sollte, konstruierte und verortete Masaryk hingegen solch ein Zentrum direkt in Tschechien, seine Konzeption „der Größe in einer Kleinheit“ verzichtete nicht auf spezifische Ideen von Größe und Stärke, sie wurden nur anders konstruiert. Masaryk hatte sich bereits vor dem Krieg von Österreich innerlich getrennt, da sich seiner Auffassung nach diese Großmacht als nicht mehr fähig erwies, den mit ihr verbundenen Nationen genug Entwicklungsspielraum zu geben. Als Machtquelle war sie nicht ausreichend inspirativ im Geiste der modernen demokratischen Entwicklung. Dadurch setzte Masaryk indirekt ein sehr hohes Kriterium für die weitere eigenständige Entwicklung der tschechischen Gesellschaft als Führungs- und auf ihre Weise auch Großmachtgesellschaft. Eine neue Idee wurde zur Machtquelle erhoben. In ihr hörte Österreich auf ausreichend vorbildhaft, fortschrittlich und demokratisch zu sein und in diesem Sinne verlor es auch das Potenzial einer Großmacht. Im Gegensatz zur Tschechoslowakei, die auf Demokratie fußend mit dieser modernen Idee, laut Masaryk, auch die Dynamik und die Kraft einer Großmacht übernähme. Durch den Zusammenbruch Österreich-Ungarns und der Entstehung der Tschechoslowakei am Ende des Ersten Weltkriegs nahm das Selbstbewusstsein der tschechischen politischen Repräsentanten weiter zu. Dies zeigte sich etwa bei den Friedensverhandlungen in Versailles, als der Tschechoslowakei bei den Beratungen nur eine Randrolle als
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„kleiner Staat“ zugewiesen wurde, was auf tschechoslowakischer Seite voller Unverständnis aufgenommen wurde. „Die Bewertung der kriegsführenden Staaten in Paris war ganz seltsam“, beklagte sich der erste tschechoslowakische Ministerpräsident Karel Kramář: „Es wurde eine Gruppe großer Staaten gebildet und dann eine endlose Reihe der kleinen Staaten, die als Les états aux intérêts limités bezeichnet wurden. Niemand wusste jedoch, warum diese kleinen Staaten ‚begrenztes Interesse‘ haben sollten.“17 Zu einer ähnlichen Bewertung neigte auch Masaryk: „Hätten mich die Entente-Mächte eingeladen (als Experten für Osteuropa). Wären sie vernünftig gewesen, wäre ich Mitglied des vierköpfigen Rates. Die Entente und ihre Friedensschaffung sind furchtbar!“18 Wie zu erkennen ist, strotzten die durch den Kriegserfolg erstarkten tschechischen Politiker nur so vor ausdrucksvoller politischer „Großmachtsrhetorik“. 5. DAS INDIVIDUUM ZWISCHEN LIBERALISMUS UND SOZIALISMUS Die Verflechtung der staatsrechtlichen, nationalen und individuellen Interessen führte in der tschechischen politischen Diskussion am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert zu Argumentationsparallelen. Neben der staatsrechtlichen Konzeption, wie sie bei Masaryk sichtbar wird, sind vergleichbare Veränderungen beim Bild des Individuums festzustellen. Die öffentliche Debatte über das Wesen und die Stärke einer Nation enthielt zwangsläufig Elemente des Ideals des kleinen Menschen als typischem Akteur. Trotz aller moralischen Integrität, Charakterfestigkeit, Lebenselan und Geschäftigkeit des Einzelnen wurde zweckmäßig seine individuelle Schwäche betont, für deren Überwindung die Verflechtung mit dem Nationalkollektiv nicht nur eine Verpflichtung, sondern der einzige Ausweg sein sollte. Der Begriff des Individuums und der als notwendig anerkannte Individualismus wurden dem nationalen Interesse untergeordnet und in einer breiteren Projektion hin zum Begriff einer „nationalen Individualität“ transformiert. Die Forderung nach der Verteidigung nationaler Individualitäten schwächte folglich in der tschechischen liberal-nationalen Strömung die Aspekte der bürgerlichen individuellen Rechte und Freiheiten. Dieses Phänomen war nicht neu. Bereits die erste Politikergeneration nach der Märzrevolution 1848 hatte sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen. František Ladislav Rieger, ein typischer Vertreter des tschechischen Liberalismus zwischen 1848 und 1849, stellte sich in den 1860er Jahren in die erste Reihe der Nationalpartei (Národní strana). Als im Jahre 1867 die Dezemberverfassung, welche die Gesamtauflistung der bürgerlichen Rechte und Freiheiten enthielt, für die Rieger zuvor zwanzig Jahre lang gekämpft hatte, in Österreich-Ungarn angenommen wurde, musste er sie mit Blick auf den politischen 17 Kramář (1922): Pět přednášek, S. 71f. 18 Tomáš Garrigue Masaryk an Edvard Beneš, 8.4.1919, in: Masaryk / Beneš (2013): Korespondence, S. 112.
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und internationalen Kontext ablehnen. Die Dezemberverfassung gewährte keine hinreichenden Sicherheiten für die Entwicklung der nationalen Interessen, das heißt einer nationalen Individualität. Wegen des Mangels an Eliten in der tschechischen Gesellschaft galten Individualinteressen aus politischer und ideologischer Sicht sehr früh als nicht relevant und nicht tragbar. Das Ideal eines kleinen Menschen, wie es zur selben Zeit insbesondere in künstlerischen (Antonín Slavíček) und literarischen Schriften (Jan Neruda und Karel Václav Reis) formuliert wurde, war politisch noch nicht konsensfähig. Man hatte für das Ideal des kleinen Menschen keine Verwendung, da es dem Prinzip der Honoratiorenpolitik widersprach. Die Rolle des Schutzpatrons der Schwachen übernahmen im politischen Feld zuerst die Sozialisten, deren „Arbeiterpolitik“ aber in der politisch aufgeladenen tschechischen Gesellschaft zunächst kaum Anklang fand. Die Verteidigung des kleinen Menschen gegenüber der Gesellschaft brachte definitiv erst der Gleichlauf mehrerer Prozesse: die Anerkennung der Sozialisten als legitimer Partner auf der Ebene der österreichischen Politik, die Durchsetzung der Massenpolitik, begleitet durch eine Ausweitung des Wahlrechtes, die Anerkennung der Notwendigkeit einer Sozialpolitik und die Übernahme ihrer Prinzipien im liberalen Milieu. Gerade dieser Aspekt führt wieder zu Masaryk und zur Gruppe der sogenannten politischen Realisten zurück. Es waren politische Weggefährten, wie die Volkswirtschaftler Karel Kramář und insbesondere Josef Kaizl, die mit der Revision politischer Ziele hervortraten, die nicht nur Prinzipien der Massenpolitik, sondern eben auch die soziale Frage berücksichtigten. Sowohl Kramář als auch Kaizl waren Schüler der führenden Köpfe des Kathedersozialismus: Adolph Wagner und Gustav von Schmoller. Beide arbeiteten sich nach und nach an die Spitze der damals führenden Freisinnigen Volkspartei (Národní strana svobodomyslná). Kaizl wirkte gleichzeitig in diversen höheren Staatsämtern und war 1898/99 sogar Finanzminister von Cisleithanien. Gerade in Kaizls Vorstellungen einer Sozialisierung des Staates werden Aspekte des Respekts gegenüber den breitesten Schichten der Gesellschaft und ihres politischen Engagements deutlich. Zum einen vertraten die Kathedersozialisten die Vorstellung einer neuen Rolle des Staates: er sollte sozialen Ausgleich und Einheit garantieren. Zum anderen sollte sich dieser moderne verantwortungsvolle Staat in der Fähigkeit entfalten, gesellschaftliche Potentiale zu nutzen und die Kraft und Initiative des Einzelnen zur Geltung zu bringen. „Das Zusammenwachsen des Staates mit der Gesellschaft, oder was man die Sozialisierung des Staates nennt, auf welche die Entwicklung ganz bestimmt hinzielt, hat nicht nur den Sinn, dass alle einigermaßen aktiv bei den Bestrebungen des Staates mitwirken, sondern dass sie alle auch in sich selbst den Gegenstand seiner Fürsorge und seines Zutuns sehen können.“19 Die prinzipielle Durchsetzung des Einflusses eines Einzelnen auf den Gang des staatlichen Verwaltungsmechanismus ohne Rücksicht auf seine Fähigkeiten und seine soziale Stellung befreite die tschechische Politik von dem Mangel an Eliten. Erst in dieser Konzeption konnte das Potential des „kleinen Menschen“
19 Kaizl (1892): Finanční věda II, S. 154.
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ausgenutzt werden und ihm auf dem Weg zur Mobilisierung des Volkes politische Aufgaben zugewiesen werden. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts gelang es, das kulturell lang bekannte Ideal des kleinen Menschen als politische Triebkraft geltend zu machen. Dieses Zusammenwachsen von Staat und Gesellschaft faszinierte die Politik, die zum ersten Mal mit einer neuen Auffassung des Etatismus konfrontiert wurde. Mit dem Ideal der „Sozialisierung des Staates“ wuchs die ganze politische Generation der sogenannten Realisten auf, zu der Kaizl gehörte. Die Worte des damaligen Masarykschen Mitstreiters und Freundes verdeutlichen darüber hinaus, inwiefern eine erhöhte Garantie- und Interventionsrolle des Staates mit dem Prozess der Demokratisierung in Beziehung gesetzt wurde. Masaryk trennte sich jedoch von Josef Kaizl politisch und zuletzt auch menschlich: Kaizl starb sehr früh, mit 47 Jahren im Jahre 1901. Er konnte somit nichts mehr zum weiteren Verlauf der Vorkriegsdiskussion beitragen, in der das tschechische politische Denken in eine Argumentationsklemme geriet. Bei Masaryk war, wie wir gesehen haben, die komplizierte gegenläufige Suche nach progressiven Konzeptionen dadurch gelöst worden, indem er das Vertrauen in den Staat auf neue Kraftquellen und Autoritäten übertragen hatte. Im Unterschied zu Kaizl verharrte Masaryk ursprünglich in der Auffassung der ausschließlich nationalen Bindung durch eine Zusammenarbeit des Einzelnen und des Volkes, die Erweiterung auf die staatliche Interessenebene akzeptierte er erst mit der Entstehung der selbständigen Tschechoslowakei. Das Misstrauen gegenüber der Staatlichkeit war demnach nur vorübergehend und hing mit der Opposition gegen Österreich und mit dem Widerstand im Krieg zusammen. Als ein staatsrechtlicher Ausweg im Programm des Separatismus gefunden wurde, erneuerte sich auch das Staatsvertrauen. Ein Modell zur Erfüllung der Demokratisierungs- und Sozialisierungsziele vollendete sich aber erst im Prozess der Formung und Entstehung des tschechoslowakischen Staates. 6. VON DER TSCHECHISCHEN REFORM ZUR WELTREVOLUTION Masaryk begriff den Weltkrieg insgesamt als einen grandiosen Revolutionsprozess, der durch tschechische (tschechoslowakische), antiösterreichische Aktionen immer wieder vorangetrieben wurde. Nicht nur der Zerfall Österreich-Ungarns und die Entstehung der Nachfolgestaaten einschließlich der Tschechoslowakischen Republik, sondern die ganze historische und zivilisatorische Entwicklung am Anfang des 20. Jahrhunderts gewann seiner Auffassung nach einen bahnbrechenden, revolutionären Charakter, der durch den Krieg verstärkt wurde. Obwohl Masaryk zuvor als Widersacher der politischen und sozialen Revolution aufgetreten war, revidierte er diese Position bereits vor Ausbruch des Krieges. Die Revolution wurde jetzt von ihm als ein positives Kennzeichen des Zeitgeistes und der Modernität gerechtfertigt und zwar sowohl auf der nationalen, als auch auf der globalen Ebene. Neben dem Kriegsverlauf beeinflussten ihn maßgeblich die revolutionären Ereignisse in Russland. Denn so sehr er auch die Taktik der bolschewistischen Revolution ablehnte,
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ihr soziales Programm lag ihm nahe; so auch seinem engsten Mitarbeiter Edvard Beneš, der zum Außenminister des neuen Staates geworden war. Als nach dem Krieg 1919 spanische Journalisten den Präsidenten Masaryk nach seiner Meinung über die russische Revolution fragten, mündete die Antwort in eine Rechtfertigung der tschechoslowakischen Revolution. Wir sind die Radikalen, die radikalsten Radikalen, wir wollen jedoch nicht die Vergangenheit übersehen, solange wir die Gegenwart nicht gesichert haben. […] Es kommt die Zeit der Enteignungen, es kann aber nicht in Bausch und Bogen oder auf einmal in Tschechien und in der Slowakei enteignet werden. Der Fortgang der Reform muss flexibel und an die Verhältnisse des Ortes und der Zeit angepasst werden. Aber (wird mit Betonung gesagt) die Reform wird radikal sein. Ich befürchte, dass sie vor uns in Spanien erschrecken.20
Kaizls Vorstellung der Sozialisierung des Staates gelangte im Zusammenhang mit dem Projekt der tschechoslowakischen Selbständigkeit auf eine neue Ebene. Denn durch die Gründung eines tschechoslowakischen Staates schien sich nicht nur das Programm einer positiven Staatlichkeit zu realisieren, sondern auch die Umsetzung der Prinzipien einer gerechten Gesellschaft, in der die sozial Schwachen und die schwächsten Gruppen berücksichtigt und in den öffentlichen politischen Raum integriert werden. Zudem sollte ihnen ein Entscheidungsanteil bei Produktionsabläufen zuerkannt werden. Neben den Sozialisten nahm sich dieser Argumentation auch ein Teil der liberalen Sozialisten aus den Kreisen um die Prager Burg an. Für Beneš war der Sozialismus nicht nur eine Voraussetzung, um die Prinzipien demokratischer Politik durchzusetzen, vielmehr ging er über die Demokratie hinaus und zwar in zweifacher Hinsicht: erstens in der Möglichkeit, die Volkssouveränität gegen oligarchische und autokratische Modelle der Verwaltung und Politik zu vollenden, und zweitens in der Ausweitung dieses Prinzips auf den Bereich der Wirtschaft. Hierzu erklärte er: Genauso wie der Arbeiter das öffentliche politische Leben kontrolliert, will er immer mehr das wirtschaftliche Leben, d. h. seine Fabrik und den ganzen Produktionsprozess kontrollieren. […] Er will auch ein wirtschaftlicher Demokrat sein und dann nachhaltig und schrittweise im Geiste der demokratischen Philosophie weitergehen, das bedeutet eigentlich, zum radikalsten Sozialisten werden, oft radikaler als viele von denen, die heute zum Bolschewismus gelangen.21
Gerade durch die Verwirklichung des Projektes eines selbständigen tschechoslowakischen Staates sollte der „kleine Mensch“ mit seiner inneren Kraft und Authentizität zu Wort kommen. Auch so lässt sich die Masaryksche Suche nach der „Größe in Kleinheit“ reinterpretieren.
20 Masaryk (2003): Rozhovor prezidenta, S. 158. Das Gespräch mit dem Präsidenten Masaryk wurde am 30.8.1919 in der spanischen Zeitung La Correspondencia de España veröffentlicht. 21 Beneš (1924): Nesnáze demokracie, S. 19f.
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7. SCHLUSSBETRACHTUNG Wie in der staatsrechtlichen, so ist auch in der Frage der Sozialisierung des Staates im Verlauf des Ersten Weltkriegs eine Vollendung der Argumentationslinien zu sehen, die zur Überwindung älterer und damals schon überholter Konzeptionen konstruiert wurden. Masaryks Suche nach einem Neuen Menschen und nach einem neuen System wurde völlig an die Zusammensetzung, die Position, aber auch an die Entfaltungsmöglichkeiten der tschechischen Nation angepasst. Politisch wurde nun das Ideal der Kleinheit nicht mehr abgelehnt, sondern im Gegenteil begrüßt und als Devise der nationalen Strategie ausgegeben, als man in der systematischen Argumentation zur Begründung der wahren Größe des kleinen Menschen, Volkes und Staates gelangte. Da Attribute wie Kleinheit und Schwäche in jedweder Strategie nationalen Wachstums allgemein als beschränkend wahrgenommen werden, musste sich die tschechische Politik hin zu ihrem Ideal der Kleinheit durcharbeiten: die Vorzüge und Nachteile dieses Vorgehens mussten ausdiskutiert werden, man musste seine positiven Seiten ermitteln und finden. Während der Modernisierungsphase des politischen Lebens, die nach 1848 einsetzte, begriffen sich die tschechischen politischen Eliten als stark und progressiv. Ein Ideal des Kleinen war nicht zweckmäßig, als man sich mit Großmächten identifizierte und das eigene Wachstum und die Erfüllung eigener Machtambitionen innerhalb Österreich-Ungarns zu realisieren versuchte. In den Phasen der Frustration, als man mit Blick auf den eigenen Beitrag zum Selbstbewusstsein der Großmacht des österreichischen Reichs resignierte, als man den Glauben in die österreichische Identität verlor, begannen die politischen Entscheidungsträger nach alternativen Bindungen (reichsdeutsche, russische, allslawische) zu suchen, in denen die tschechische Nation eine möglichst international einflussreiche und zukunftsweisende Rolle (wirtschaftlicher, politischer oder kultureller Art) spielen könnte. Zuletzt wurde während des Krieges das Projekt der staatlichen Unabhängigkeit als Ausweg gewählt. Indem es einem Großteil der Gesellschaft ein Gefühl der staatlichen und nationalen Identität vermitteln konnte, erwies es sich als eine zufriedenstellende Lösung. Es bedeutete allerdings auch eine relative Absage an einstige Großmachtansprüche. Da jedoch die tschechische Gesellschaft im Glauben an eine Großmachtpolitik sozialisiert worden war, mit ihr ständig konfrontiert wurde und an eigene Machtkapazitäten glaubte, war sie nicht gewillt, diesen Anspruch einfach aufzugeben. Es musste zu einer Verflechtung kommen, zu einer Rechtfertigung des Gefühls der relativen Kleinheit mit dem eigenen Großmachtanspruch. Diese Verflechtung macht den Kern des tschechischen Selbstbildes der Nachkriegszeit aus. Der Erste Weltkrieg bildete die Hochphase dieser argumentativen Äquilibristik. Eine außergewöhnliche, komplizierte Zeit, in der die theoretische, breite Diskussion dieses Themas äußerst eingeschränkt war, die aber umso mehr Raum für praktische Politik bot, die sich an das Vertrauen und die Überzeugungskraft des erreichten Ergebnisses anlehnen konnte und daraus schöpfte. Die Adoration des Neuen Menschen war mit dem Entstehungsprozess des neuen Staates eng verknüpft und baute auf Respekt und Anerkennung der vermuteten weltgeschichtlichen Rolle und Berufung sowohl der Menschen als auch des Staates auf. Die organische Verflechtung des einzelnen Individuums mit dem Wohl
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der Nation, typisch für den politischen Nationalismus, wurde hier auf die staatsrechtliche Ebene gehoben. Auch darin lässt sich die Rechtfertigung des Ideals der Kleinheit erkennen. Der kleine Mensch, das kleine Volk, der kleine Staat – sie befreiten sich aus ihrer bisherigen randständigen Rolle und gelangten zur positiven Entfaltung. Es kam eine neue Zeit, die neue Ideale forderte und ihren Wortführern neue Möglichkeiten eröffnete – ohne Rücksicht auf historische Konventionen und Vorurteile. Eine neue Epoche war angebrochen für die Politik und die Politiker des Idealismus, wenn auch eines in realistischer Strategie formulierten. Aus dem Tschechischen von Petra Vintrová.
QUELLEN Archiv Ústavu T. G. Masaryka (AUM) – Masarykův archiv, fond Korespondence I, K3, sl. 17.
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POLITIKEN DES LEBENS
VORSTELLUNGEN ÜBER SEXUALETHIK UND -PRAXIS DES NEUEN MENSCHEN Experimente und Auseinandersetzungen Enikő Darabos Alle Völker oder Ethnien, deren Mitglieder als sozial Handelnde miteinander verknüpft leben und direkt oder indirekt sozial interagieren, wurden und werden umfangreichen Bestimmungen unterworfen bezüglich des rechtmäßigen Gebrauchs ihrer Geschlechtsorgane – wobei selbst jene Teile des menschlichen Körpers jeweils juristisch definiert werden, die als der sexuellen Sphäre im weiteren Sinn zugehörig erachtet werden. Ihre Belästigung durch eine „körperliche Handlung“ ist in beinahe allen Ländern strafbar. In Österreich ist nun nach dem neuen „Grapsch-Paragraphen“ strafbar, wer „eine andere Person durch eine intensive Berührung einer der Geschlechtssphäre zuzuordnenden Körperstelle in ihrer Würde verletzt“.1 Auch das Gesäß und der Oberschenkel gelten durch diese neue strafrechtliche Bestimmung als geschützte Körperstellen – deren Berührung war zuvor nicht strafrechtlich relevant. Übertretungen oder Verletzungen der Bestimmungen wurden und werden durch mehr oder weniger strenge Strafen – in einigen Ländern bis hin zur Todesstrafe – geahndet. Wie von der wissenschaftlichen Forschung überzeugend belegt,2 schaffte die allgegenwärtige Sanktionierung keineswegs das intendierte friedliche und harmonische Zusammenleben, sie erzeugte vielmehr Frustrationen und Angst, ließ eine heuchlerische Doppelmoral entstehen und führte zur Entstehung von getrenntem Rechtsempfinden für Mann und Frau.3 Als würde man in einem Geisterhaus der Menschheit herumirren, ist der Wortschatz der Auseinandersetzungen zur Sexualmoral oft haarsträubend. Es ist die Rede vom einen Körper in dem zwei Seelen wohnen, oder von zwei Körpern, die eine Seele seien; es gibt sogar dreifaltige Schemata zur Abhandlung des Problems der mentalen und physischen Begierde. Nach dem Schock des Ersten Weltkriegs wurde in den Ländern Zentral- und Osteuropas von Politikern, Denkern, Aktivisten und Theoretikern die Notwendig1 2 3
§ 218 Abs. 1 lit. a StGB. Siehe Rechtsinformationssystem des Bundes, URL: https:// www.ris.bka.gv.at/ (letzter Zugriff: 17.05.2018). Dover (1978): Greek Homosexuality, S. 244; Foucault (1976): La volonté de savoir; Foucault (1984): L’Usage des plaisirs; ders. (1984): Le Souci de soi; Laqueur (1992): Making Sex. Bereits Alexandra Kollontai sprach in ihrem Manifest Theses on Communist Morality in the Sphere of Marital Relations von Doppelstandards als einer Säule der bürgerlichen Moral: „Hypocrisy (the outward observance of decorum and the actual practice of depravity), and the double code (one code of behaviour for the man and another for the woman) are the twin pillars of bourgeois morality.“ Siehe Kollontai (1921): Theses on Communist Morality.
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keit eines Neubeginns und einer Neubesinnung nicht nur in gesellschaftlichen, sondern auch in moralischen Belangen erkannt. Es war vom Anfang an klar, dass der Problemkomplex „neuer Mensch“ nicht nur soziologische Dimensionen hatte, sondern auch neue ethisch-biopolitische Fragen aufwarf. „Wir bauen eine neue Welt!“ titelte die erste Ausgabe des Düsseldorfer Sexualreformblatts Die Warte. Kampforgan für Geburtenregelung, Mutterschutz und Geschlechtsethik, die im Frühjahr 1931 vom KPD-nahen „Bund bewusster Sexualreformer“ herausgegeben wurde. Hier veröffentlichte Wilhelm Reich unter dem Titel Vorschläge für den Arbeitsplan der Arbeitsgemeinschaften der Weltliga für Sexualreform seinen Entwurf zur Linderung der sexuellen Not der Massen.4 Darin enthalten waren natürlich auch Gedanken zur psychosexuellen Gesundheit des Einzelnen, zu seinem Privatleben, zur Lösung von alltäglichen Beziehungsproblemen – mit dem Ziel ihrer Zusammenfassung zu einem Regelwerk für Mentalhygiene und Sexualethik. Nach den verheerenden Verwüstungen des Ersten Weltkriegs und vor der Erstarkung der totalitären Diktaturen ab Anfang der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts gab es ein Jahrzehnt der relativen Ruhe, in der die kommunistische Utopie eine starke Anziehungskraft entwickelte. Sie schien für viele Reformbestrebungen – darunter auch für die neue Sexualethik – die geeignetste ideologische Basis zu sein. Ihre Verwirklichung in der Sowjetunion machte auf den Gebieten sexuelle Aufklärung, Schwangerschaftsabbruch, Mutterschutz und Kinderwohlfahrt Fortschritte, die Frauenemanzipation schien verwirklicht. Der vorliegende Aufsatz nimmt sich zur Aufgabe, die wichtigsten Thesen der zeitgenössischen kommunistischen Diskurse um die „Sowjetehe“ und die „Geschlechterfrage“ im ungarischen und im internationalen Kontext näher zu untersuchen.5 1. WORTFÜHRER/INNEN DER KOMMUNISTISCHEN SEXUALMORAL 1.1 August Bebel Wer sich mit der Sexualreformdebatte im Kommunismus beschäftigt, wird unweigerlich immer wieder auf August Bebels einflussreiches Werk Die Frau und der Sozialismus stoßen.6 Bebel, der von vielen der hier behandelten Autorinnen und Autoren als eine Art Vaterfigur verehrt wurde, hatte in dieser Schrift allerdings nur sehr vage Zukunftsperspektiven zu den möglichen Veränderungen des Verhältnisses der Geschlechter zueinander und deren Auswirkungen auf die gesellschaftliche
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6
Reich (1931): Vorschläge für den Arbeitsplan, S. 2–4. Siehe auch Peglau (2013): Unpolitische Wissenschaft?, S. 91–115. Wegen der Komplexität und der Ambivalenz der hier behandelten Entwürfe kommunitischer Biopolitik war es mir im Rahmen dieser Abhandlung nicht möglich, auch auf die Entwürfe und Programme der anderen politischen Gruppierungen und Ideologien einzugehen, und sie einer vergleichenden Analyse zu unterziehen – dies wäre Aufgabe eines weiteren Aufsatzes. Bebel (1879): Die Frau.
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Wahrnehmung skizziert. In Die Frau und der Sozialismus wird zwar die politische und berufliche Gleichberechtigung der Frau eingefordert, zugleich aber eingestanden, dass das Ende der Frauendiskriminierung erst in einer sozialistischen Gesellschaft erfolgen werde. Wenn auch das Werk bereits 1879 erschienen war, diente es doch vielen Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich mit der Sexualmoral und der Reform des Eherechts unter dem Aspekt der sozialistischen Zukunftsgesellschaft beschäftigt haben, als Ausgangspunkt. Daran ändert auch die Tatsache wenig, dass der Sozialist Bebel ganz sicher andere Vorstellungen über die Geschlechterverhältnisse hatte, als die Theoretikerinnen und Theoretiker des Bolschewismus, die sein Gedankengut vereinnahmt haben. Aus heutiger Sicht scheint Bebel, der Vorkämpfer für die Frauenemanzipation, indes nur insofern ein Vorläufer der späteren radikalen Sexualreformer gewesen zu sein, als er gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine treffende Analyse der Lage der Frauen leistete. Er beschreibt nüchtern die Geschlechterverhältnisse in der Klassengesellschaft, benennt Tabus und Verbote, die das Sexualleben in Korsette schnüren, und drängt auf ihre Angleichung an die tatsächlichen Gegebenheiten. Zukunftsweisend ist seine Feststellung über die Wichtigkeit der Erlangung eines Gefühls für den eigenen Körper. Er schreibt: Die sogenannten tierischen Bedürfnisse nehmen keine andere Stufe ein als die sogenannten geistigen. Die einen und die anderen sind Wirkung desselben Organismus und sind die einen von den anderen beeinflußt. Das gilt für den Mann wie für die Frau. Daraus folgt, daß die Kenntnis der Eigenschaften der Geschlechtsorgane ebenso notwendig ist wie die aller anderen Organe und der Mensch ihrer Pflege die gleiche Sorge angedeihen lassen muß. Er muß wissen, daß Organe und Triebe, die jedem Menschen eingepflanzt sind und einen sehr wesentlichen Teil seiner Natur ausmachen, ja in gewissen Lebensperioden ihn vollständig beherrschen, nicht Gegenstand der Geheimnistuerei, falscher Scham und kompletter Unwissenheit sein dürfen. Daraus folgt weiter, daß Kenntnis der Physiologie und Anatomie der verschiedenen Organe und ihrer Funktionen bei Männern und Frauen ebenso verbreitet sein sollte als irgendein anderer Zweig menschlichen Wissens. Ausgestattet mit einer genauen Kenntnis seiner physischen Natur, wird der Mensch viele Lebensverhältnisse mit anderen Augen ansehen. Es würde die Beseitigung von Übelständen sich von selbst aufdrängen, an denen gegenwärtig die Gesellschaft schweigend in heiliger Scheu vorübergeht, die aber fast in jeder Familie sich Beachtung erzwingen. In allen sonstigen Dingen gilt Wissen für eine Tugend, als das erstrebenswerteste, menschlich schönste Ziel, aber nur nicht Wissen in den Dingen, die mit dem Wesen und der Gesundheit unseres eigenen Ichs und mit der Grundlage aller gesellschaftlichen Entwicklung in engster Beziehung stehen.7
Von hier ausgehend erfolgte die in linke Gesellschaftsutopien eingebettete Sexualaufklärung.
7
Ebd.
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1.2 Alexandra Kollontai Beinahe alle kommunistischen Ideologen – selbst Lenin auf seine Weise – bestimmten parallel zur Eliminierung der Klassengesellschaft als eines der expliziten Ziele ihrer Bewegung die volle gesellschaftliche Frauenemanzipation. Sie wollten möglichst breite Frauenmassen in ihrem revolutionären Kampf sehen, darüber hinaus unterstützten sie die Organisierung und die Erstarkung von internationalen kommunistischen Frauenbewegungen. Die deutsche Politikerin und Frauenrechtlerin Clara Zetkin, zeitweise enge Mitarbeiterin von Lenin, vermittelt im Über die Sexual- und Ehefrage betitelten Kapitel ihrer Memoiren8 mit überraschender Lebendigkeit und Dramatik die Ansichten des Chefideologen über Frauen, Sexualität und Sexualethik. Als sie ihm beispielsweise bei einer Gelegenheit die Rolle Rosa Luxemburgs in der Frauenbewegung und ihre Vorstellungen über die dringende Aufgabe der Sexualaufklärung der Arbeiterinnen sowie die Neudefinition der weiblichen Geschlechterrolle schilderte, unterbrach sie Lenin aufgebracht: „Jetzt müssen alle Gedanken der Genossinnen, der Frauen des arbeitenden Volkes auf die proletarische Revolution gerichtet sein. Sie schafft auch für eine wirkliche Erneuerung der Eheund Sexualverhältnisse die Grundlage.“9 Das wäre die richtige Einstellung! „Die tätigen Genossinnen aber erörtern die sexuelle Frage und die Frage der Eheformen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“10 – fügte er missbillingend hinzu. Mit der gleichen Ablehnung kommentierte er ihr die „famose Theorie“ der Frauenrechtlerin Alexandra Kollontai: „Sie kennen gewiss die famose Theorie, dass in der kommunistischen Gesellschaft die Befriedigung des sexuellen Trieblebens, des Liebesbedürfnisses so einfach und belanglos sei, wie das Trinken eines Glases Wasser. Diese Glaswassertheorie hat unsere Jugend toll gemacht, ganz toll. Sie ist vielen jungen Burschen und Mädchen zum Verhängnis geworden.“11 Vollends in Rage geriet er schließlich, als er zu Kollontais Geschlechtsverkehrs-These zurückkehrte (ohne die Frau namentlich zu nennen): „The sexual act must be seen not as something shameful and sinful but as something which is as natural as the other needs of healthy organism such as hunger and thirst.“12 Lenin: Nun gewiss! Durst will befriedigt sein. Aber wird sich der normale Mensch unter normalen Bedingungen in den Straßenkot legen und aus einer Pfütze trinken? Oder auch nur aus einem Glas, dessen Rand fettig von vielen Lippen ist? Wichtiger als alles ist aber die soziale Seite. Das Wassertrinken ist wirklich individuell. Zur Liebe gehören zwei, und ein drittes, ein neues Leben entsteht. In diesem Tatbestand liegt ein Gesellschaftsinteresse, eine Pflicht gegen die Gemeinschaft.13
8 9 10 11 12 13
Zetkin (1975): Erinnerungen an Lenin. Ebd. Ebd. Ebd. Kollontai (1921): Theses on Communist Morality. Zetkin (1975): Erinnerungen an Lenin. Zetkins Schrift datiert auf Ende Januar 1925. „Wiederholt sprach Genosse Lenin mit mir über die Frauenfrage“, schreibt Zetkin: „Es war in Lenins großem Arbeitszimmer im Kreml, wo wir im Herbst 1920 das erste längere Gespräch über den
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Die Rolle und die Schriften von Alexandra Michailowna Kollontai (1872–1952) – Revolutionärin, Diplomatin, Politikerin – sind grundlegend für die Untersuchung der sogenannten ,roten Sexualmoral‘. Sie gehörte als erste Frau dem revolutionären sowjetischen Kabinett an (1917–1922) und war damit gleichzeitig die erste Ministerin der Welt. Alleinerziehende Mutter und Volkskommissarin für soziale Fürsorge, setzte sie in der jungen Sowjetunion durch, dass das Eherecht gelockert und der Mutterschutz verbessert wurde. Sie erkämpfte das Recht auf Schwangerschaftsabbruch und schlug Volksküchen und kollektive Kindererziehung vor. Zunächst einer Meinung mit Lenin, vertrat auch sie die These, dass die Stellung der Familie – und der Frau in ihr – unmittelbar von ihrer volkswirtschaftlichen Einbettung abhängen. Die bürgerliche Familienordnung, gegründet auf Doppelmoral und wirtschaftlicher Ausbeutung, sollte nach dem Sieg der proletarischen Revolution und der Eliminierung der Klassengesellschaft vom kommunistischen Gleichheitsmodell abgelöst werden. Als sie sah, dass die Versprechungen auf Emanzipation uneingelöst bleiben würden, vertrat sie immer radikalere feministische Positionen und geriet immer mehr auf Konfrontationskurs mit Lenin. Sie wurde allerdings 1923 Gesandte der Sowjetunion in Norwegen – wiederum ein Novum: die erste akkreditierte Diplomatin weltweit – und da sie sich auch später auf verschiedenen Auslandsposten befand, nahm sie an den Grabenkämpfen der Partei nicht teil. So war sie das einzige Mitglied des ZK der KPdSU des Jahres 1927, das die von Stalin initiierte große Säuberung überlebte. Kollontais Thesen über die neuen Möglichkeiten des Ehestandes im Kommunismus – treffender wäre vielleicht Lebenspartnerschaft – sind zivilrechtlicher und wirtschaftspolitischer Natur. In ihrer bereits zitierten Schrift mit dem Titel Theses on Communist Morality in the Sphere of Marital Relations stellt sie gleich einleitend fest: „[T]he communist economy does away with the family. In the period of the dictatorship of the proletariat there is a transition to the single production plan and collective social consumption, and the family loses its significance as an economic unit.“14 Während im Kapitalismus Familien als Unternehmen zum Zweck der Kinderaufzucht gegründet werden, gelte für die Proletarierdiktatur: [T]he economic subjugation of women in marriage and the family is done away with, and responsibility for the care of the children and their physical and spiritual education is assumed by the social collective. […] The family unit shrinks to a union of two people based on mutual agreement. [...] The family as an economic unit and as a union of parents and children based on the need to provide for the material welfare of the latter is doomed to disappear.15
Die weitere Regulierung der von der Last der Kindererziehung befreiten Lebenspartnerschaft bleibt weitgehend den Teilnehmern überlassen: „In the period of
Gegenstand hatten.“ Zetkin (1975): Erinnerungen an Lenin. Im Herbst 1920 hätte Lenin aber nicht die im Mai 1921 erschienene „Glas-Wasser-Theorie“ Kollontais kritisieren können – außer sie wäre ihm bereits früher mündlich zugetragen worden, wie dies Ágnes Huszár vermutet. Siehe dazu Huszár (2008): Egy feminista, S. 97–105. 14 Kollontai (1921): Theses on Communist Morality. 15 Ebd.
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the dictatorship of the proletariat, communist Morality – and not the law – regulates sexual relationships in the interest of the workers’ collective and of future generations. [...] Communist morality must above all, resolutely spurn all the hypocrisy inherited from bourgeois society in relationships between the sexes and reject the double standard of morality“16. Unter heuchlerischer Doppelmoral der bürgerlichen Gesellschaft versteht sie, wie schon erwähnt, abweichende Sexualnormen für Mann und Frau; er darf fast alles, sie wenig bis nichts. Es mag sein, dass der Geschlechtstrieb in manchen Menschen stärker, in anderen schwächer ausgebildet sei, fährt Kollontai fort, doch unabhängig davon sollte er von Allen ausgelebt werden können. Denn die Triebabfuhr sei Stabilisator sowohl für den Einzelnen, als auch für die arbeitende Masse insgesamt, erst sie lässt Gemeinschafts- und Solidaritätsgefühl aufkommen. Unter Triebabfuhr werden in der kommunistischen Gesellschaft nicht Abartigkeiten und sexuelle Ausschweifungen verstanden, aber die Zweierbeziehung wird nicht als einzig mögliche Art der Partnerschaft vorgeschrieben. Auch gleichzeitig geführte Mehrfachbeziehungen sollten ihrer Auffassung nach nicht verboten werden, doch rät sie davon ab, da Polygamie destabilisierend sei und die Nöte und die Interessen des Einzelnen den Interessen und Zielen des Kollektivs untergeordnet werden müssen. Auch dürfe die kollektive Kindererziehung nicht auf eine generelle Befreiung der Frauen von dieser Aufgabe hinauslaufen, im Gegenteil: „[T]he workers’ republic demands that mothers learn to be the mothers not only of their own child but of all workers’ children.“17 Diese Ansicht scheint aus heutiger Sicht merkwürdig traditionell zu sein, doch müssen wir bedenken, dass Kollontai keineswegs zufällig, sondern in profunder Kenntnis der zeitgenössischen gesellschaftlichen Realität nur von den Frauen spricht. Sie war sich im Klaren darüber, dass in den allermeisten Fällen die Männer ausschließlich im institutionellen Rahmen einer Ehe bereit seien, ihre Vaterrolle auszuüben. Die sexualpolitische Utopie Kollontais verbietet zudem alle Arten und Formen der Prostitution, einschließlich der Scheinehe. Zusammenfassend scheint es aus der Distanz eines Jahrhunderts, dass ihre Anliegen – freie Partnerwahl, problemlose Ehescheidung und Schwangerschaftsabruch, gemeinsame Kindererziehung – mit der plakativen Glaswassertheorie ziemlich überspitzt und verfälscht wurden, zumal sie stets betonte, dass es sich um provisorische Maßnahmen handelt, bis die proletarische Revolution für eine wirkliche Erneuerung der Ehe- und Sexualverhältnisse die Grundlage geschaffen habe. Bis dahin wollte sie folgende sexualpsychologische und eugenische Maßnahmen beachtet wissen: 1, All sexual relationships must be based on mutual inclination, love, infatuation or passion, and in no case on financial or material motivations. […] 2, The form and length of the relationship are not regulated, but the hygiene of the race, and communist morality require that relationships be based not on the sexual act alone.
16 Ebd. 17 Ebd.
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3, Those with illnesses etc. that might be inherited should not have children. 4, A jealous and proprietary attitude to the person loved must be replaced by a comradely understanding of the other and an acceptance of his or her freedom. Jealousy is a destructive force of which communist morality cannot approve. 5, The bonds between the members of the collective must be strengthened. The encouragement of the intellectual, and political interests of the younger generation assists the development of healthy and bright emotions in love.18
1.3 Ruth Fischer (Schriftstellername Elfriede Friedländer) Lenin muss sich eingehend mit den Theorien zur Sexualreform seiner jungen Genossinnen und Genossen beschäftigt haben, denn er übte im von Clara Zetkin aufgezeichneten Gespräch (oder einer aus mehreren Gesprächen montierten Zusammenfassung) auch an den Theorien von Elfriede Friedländer Kritik. „Die gelesenste Schrift soll die Broschüre einer jungen Wiener Genossin über die sexuelle Frage sein. Ein Schmarren! Was Richtiges darin steht, haben die Arbeiter schon längst bei Bebel gelesen. Nur nicht so langweilig, als ledernes Schema, wie in der Broschüre, sondern agitatorisch packend, aggressiv gegen die Bourgeoisgesellschaft.“19 Friedländers Arbeit Die Sexualethik des Kommunismus war 1920 in Wien beim Verlag „Neue Erde“ erschienen.20 Die Studie war tatsächlich „die gelesenste Schrift“ über die sexuelle Frage nach dem Ersten Weltkrieg, jedoch überhaupt nicht ledern, wie Lenin meinte, sondern spannend, aufreizend, Diskussionen auslösend. Ihre Wirkung war allerdings mehr oder weniger auf die junge deutsche Leserschaft begeschränkt, wie Manfred Scharinger im Vorwort zur Neuauflage meint.21 Während Lenin an den Thesen von Kollontai die individualistisch ausgerichtete „Befreiung“ kritisierte, wo doch die gesellschaftliche Befreiung Vorrang hätte, unterstellte er Friedländer gar krankhaft gesteigerten Geschlechtstrieb: Mir scheint, dass dieses Überwuchern sexueller Theorien, die zum größten Teile Hypothesen sind, oft recht willkürliche Hypothesen, aus einem persönlichen Bedürfnis hervorgeht, nämlich das eigene anormale oder hypertrophische Sexualleben vor der bürgerlichen Moral rechtfertigen und von ihr Duldsamkeit zu erbitten. Dieser vermummte Respekt vor der bürgerlichen Moral ist mir ebenso zuwider wie das Herumwühlen im Sexualleben. Es mag sich noch so wild und revolutionär gebärden, es ist doch zuletzt ganz bürgerlich. Es ist im besonderen eine Liebhaberei der Intellektuellen und der ihnen nahe stehenden Schichten. In der Partei, beim klassenbewussten, kämpfenden Proletariat ist kein Platz dafür.22
Die 1895 in Leipzig geborene Ruth Elfriede Fischer war allerdings – Kollontai ähnlich – eine viel zu schillernde und dazu starke Persönlichkeit, um als simple Nymphomanin abgestempelt werden zu können. Sie war das älteste Kind des 18 19 20 21 22
Ebd. Zetkin (1975): Erinnerungen an Lenin. Friedländer (1920): Sexualethik des Kommunismus. Scharinger (1987): Vorwort für Elfriede Friedländer, S. 3–12. Zetkin (1975): Erinnerungen an Lenin. Hervorh. durch E. D.
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österreichischen Philosophen und Privatgelehrten Rudolf Eisler und der Leipzigerin Maria Fischer. Ihre Brüder waren der Komponist Hanns Eisler und der Journalist und Kommunist Gerhart Eisler. Die Familie Eisler zog 1901 von Leipzig nach Wien, Elfriede trat mit Beginn des Studiums 1914 der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs bei, 1915 heiratete sie den Journalisten Paul Friedländer, von dem sie sich allerdings 1921 wieder scheiden ließ. In Wien wurde am 3. November 1918 unter führender Beteiligung von Ruth Fischer die KPDÖ (Kommunistische Partei Deutsch-Österreichs), die spätere KPÖ (Kommunistische Partei Österreichs), gegründet. Ruth Fischer hatte das Mitgliedsbuch mit der Nummer 1. Von Anfang an vertrat sie zunächst in Wien, dann in Berlin ultralinke Positionen, wofür sie 1926 aus der KPD ausgeschlossen wurde. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 musste sie selbstverständlich fliehen, kurze Zeit später, im Jahre 1936 wurde sie als ‚Trotzkist‘ beim Moskauer ‚Prozess der Sechzehn‘ in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Sie überlebte das alles und noch viel mehr und starb 1961 in Paris.23 Die 1920 unter dem Schriftstellernamen Friedländer veröffentlichte Kampfschrift räumte mit allen Topoi der gängigen Sexualmoral-Vorstellungen aller Schichten, Altersklassen und Ideologien auf. Sie begann mit der christlichen: Die Vorstellungen der Kirchen über das Sexualleben – Enthaltsamkeit vor der Ehe, Geschlechtsverkehr nur zum Zweck der Fortpflanzung, Monogamie – seien anachronistisch. Pervers sei die brutale Zügellosigkeit nach dem Krieg, die maßlose und seelenlose Begierde der Männer, die sich in der Ausbreitung der Prostitution und des Bordellwesens und im Elend zahlreicher Frauen manifestiere.24 Die Wurzeln des Übels – hier Borniertheit, dort Zügellosigkeit – lägen in der Befangenheit aller in der Tradition. „Befreien wir uns von jeder Tradition, legen wir die grüne Brille des Übelwollens und Misstrauens ab! Vielleicht sehen wir dann anstatt der Sünden der Wüstlinge, anstatt der folgen- und elendschweren Verwicklungen und Schmutzereien heitere, starke, unbefangene Menschen in ewig wechselnde, aber in stets schöne Liebesbeziehungen verstrickt“.25 Statt Verdinglichung nicht nur des Geschlechtsverkehrs, sondern auch der Sexualpartner sollten also „ewig wechselnde, aber stets schöne Liebesbeziehungen“ gelebt werden. „Das ist ja eben das kennzeichnendste Symptom unserer gegenwärtigen Kulturlosigkeit in erotischen Dingen, dass der Geschlechtstrieb, ganz unpersönlich, das heißt ohne Bindung an eine geliebte Person auftritt und nach Befriedigung verlangt. [...] Der Geschlechtstrieb ohne Liebe ist polygam, auf Abwechslung eingestellt, ihm ist die eine Frau so gut wie die andere“.26 Demgegnüber konstituiert sich für Friedländer eine schöne Liebesbeziehung dann, wenn die Liebenden einander dermaßen ausgezeichnete Wichtigkeit beimessen, dass der Gegenstand ihrer Liebe ihnen auch als ästhetisches Verhältnis zutage tritt. Die Unpersönlichkeit des sexuellen Begehrens
23 24 25 26
Siehe umfassend zu Ruth Fischers Biografie Kessler (2013): Ruth Fischer. Friedländer (1920): Sexualethik des Kommunismus, S. 14. Ebd., S. 15. Ebd., S. 23.
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betreffend folgt die obige Vorstellung dem Freudschen Modell, entlarvt gleichzeitig die Scheinheiligkeit der bürgerlichen Sexualmoral, die mit dem Slogan vom Schutz der Ehe die Prostitution legalisiert. Für Friedländer ist die Prostitution „das Spiegelbild unseres ganzen Sexuallebens, mehr noch als das – das Spiegelbild unserer ganzen kapitalistischen Gesellschaft überhaupt“,27 da unsere Jugend „Zinsen aus dem einzigen Kapital zu schlagen [beginnt], das ihr eigen ist, aus ihrem Körper.“28 Die Gleichsetzung des Kapitals mit dem eigenen Körper lässt in ihrem Text solche metaphorischen Schlüsse als zwingend erscheinen, die in die Ideologie der Abrechnung mit der kapitalistischen Klassenherrschaft die Idee der sexualethischen Pflege der Körperlichkeit miteinbeziehen. Daraus resultiert aber auch für die Theorie der kommunistischen Sexualmoral ein Problem: die Tatsache nämlich, dass der Mensch urprünglich polygam veranlagt zu sein scheint. Damit beschäftigte sich Friedländer im zweiten Kapitel ihrer Abhandlung mit dem Titel Ist der Mensch ursprünglich polygam oder mongam? Sie beantwortete die Frage entschieden: „Jeder Versuch einer Sexualethik muss mit der Tatsache rechnen, dass die Menschen ursprünglich polygam verlangt sind, und das Problem jeder Sexualethik heißt: Wie ist Sinn und Ordnung in das Sexualleben zu bringen, wenn mann [sic] mit dieser Tatsache rechnet?“29 Die neue Sexualethik musste also Sinn haben und Ordnung ermöglichen, jedenfalls die vollkommen libertäre Sexual-Anarchie in der kommunistischen Gesellschaft ausschließen. Diesen Gedanken vertiefend heißt es bei Friedländer: Dass aber der Mensch polygam veranlagt ist, beweist noch nichts dafür, dass er polygam leben soll. Diese Tatsache beweist nur eines, dass es ganz und gar unmöglich ist, mit wissenschaftlicher Sicherheit eine Forderung der Monogamie zu erheben, das heißt, dass es unmöglich ist, von der wissenschaftlich bewiesenen Anschauung auszugehen: Du sollst monogam leben, denn du kannst es auch sicherlich; jede Abweichung ist anormal, krankhaft und daher zu bekämpfen.30
Doch diese Schlussfolgerung wird sogleich umgedreht: Der Zwang zur monogamen Ehe ist anormal, krankhaft und daher zu bekämpfen. Daraus folgt, dass „fast alle heute existierenden Gesetze, die eine Beziehung auf das Sexualleben haben, fallen müssen“,31 das traditionelle Familienmodell habe ausgedient, in der Proletarierdiktatur dürfe sie nur als Ausnahme gelten. Dann postulierte sie eine Bedingung, die im Einklang mit der zentralen Idee von Kollontai im Staat der Werktätigen die gemeinschaftliche Erziehung der Kinder fordert: [D]ie Familienerziehung ist nicht, wie meist gemeint wird, die beste Erziehungsform; sie ist eine sehr schlechte Erziehungsform, die möglichst bald durch eine wirkliche Gemeinschaftserziehung ersetzt werden soll, vor allem deswegen, weil die Ehe eine Lebensgemeinschaft ist, die noch ganz andere Aufgaben hat und haben muss als die der Erziehung; sie ist eine
27 28 29 30 31
Ebd., S. 28. Ebd., S. 30. Ebd., S. 35. Hervorh. E. D. Ebd., S. 38. Ebd., S. 39. Hervorh. im Original.
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Enikő Darabos Lebensgemeinschaft, vor allem immer noch eine Wirtschaftsgemeinschaft, manchmal auch eine Berufsgemeinschaft. Alle diese Zwecke stören notwendig die Erziehungsgemeinschaft.32
Während die Kindererziehung nach Friedländer eine „kulturelle Verpflichtung“ des Staates sei, sollte die Frage der Reproduktion eine Entscheidung der Eltern, vor allem der Frau bleiben. „Es geht den Staat überhaupt nichts an, ob zwei Menschen miteinander leben oder nicht; er hat also hier nichts zu gestatten oder zu verbieten“,33 daher sollte das Kind auch den Nachnamen der Frau führen. Was einen möglichen Schwangerschaftsabbruch anbelangt, wollte sie die Frau darüber bis zum Ende des dritten Monats entscheiden lassen. Die Frage, ob es dann der Mutter freigestellt sei, ihre Leibesfrucht zu töten, wurde von ihr bejaht, mit der Einschränkung: „[A]ber wenn sie es wünscht, nimmt es (das Neugeborene) ihr die Gemeinschaft ab, versorgt es gut, und sie braucht es in ihrem Leben nicht wiederzusehen“.34 War der „kapitalistischen Sexualheuchelei“35 erst einmal das Ende bereitet, würde auch die gleichgeschlechtliche Liebe genauso völlig freigestellt werden, wie auch die inzestuöse Liebe: „Es soll ganz klar ausgesprochen werden: auch gegen eine Verbindung von Vater und Tochter, Mutter und Sohn, Vater und Sohn, Mutter und Tochter kann unter diesen Umständen nichts eingewendet werden.“36 Zwar wird die Geschwisterliebe nicht thematisiert, aber es ist anzunehmen, dass Friedländer auch dagegen nichts einzuwenden gehabt hätte. Gut vorstellbar, dass Lenins Stresshormone ihn in einen gesundheitsgefährdenden Erregungszustand versetzt haben, sollte er die Broschüre tatsächlich bis zum Ende gelesen haben. Das war jedoch ganz sicher nicht Friedländers Absicht, sie wollte nicht provozieren. Dass sie im Kapitel „Die Möglichkeit eines sexualethischen Ideals“ noch einmal zur Frage der polygamen Beziehung zurückkehrt, beweist die Ernsthaftigkeit ihrer Theoriebildung. Wie sollen solidarische, ewig wechselnde, aber stets schöne Liebesbeziehungen bei promiskuitiver Lebensweise zustandekommen und aufrechtgehalten werden können? Zunächst einmal ging es ihr nur um echte Polygamie (als unecht stufte sie das Don-Juan- bzw. Aspasia-Syndrom ein), also um die Verbindung zweier ähnlich entwickelter, möglichst eifersuchtsloser Menschen, die die gegebene Beziehung voll leben, wissend, dass sie genauso endlich sei, wie ihre für sexuelle Aktivitäten bemessene Zeit. Bemerkenswert, dass Kollontai Eifersucht und Besitzdenken in den sexuellen Beziehungen für genauso destruktiv hielt wie Friedländer, die mit einem Idealbild, mit dem Bild von der Idee des Seinsollenden ihre Betrachtungen schließt, mit dem Ideal geistiger und körperlicher Anziehung, Ehrlichkeit und Einklang. „Das alles ist denkbar, aber in Wirklichkeit bei Kulturvölkern nirgends zu finden.“37 Von den arbeitenden Massen gar nicht zu reden, bei denen durch den Daseinskampf eine gesunde Promiskuität von vornherein
32 33 34 35 36 37
Ebd., S. 41–42. Hervorh. im Original. Ebd., S. 40. Ebd., S. 44. Hervorh. im Original. Ebd., S. 45. Hervorh. im Original. Ebd., S. 62. Ebd., S. 49. Hervorh. im Original.
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ausgeschlossen sei. Die Beschlagnahme, die Vereinnahmung der Partnerin, des Partners, schlimmstenfalls die Anklage wegen Untreue, die Feststellung der Schuld, der Verschuldung würden keine frei gestalteten, selbstbestimmten Paarbeziehungen entstehen lassen. Entsprechend resignativ fielen ihre Betrachtungen zur Monogamie aus. „Unter Monogamie sei verstanden, dass ein Verhältnis mit dem Willen zur Dauer und zur Ausschließlichkeit eingegangen wird“38 – schreibt sie. Und weiter: „Wer sein Sexualleben monogam ordnen will, der bedarf einer gewissenn asketischen Kraft und Selbstzucht. [...] Das Ideal eines monogamen Menschen wäre jemand, der physisch nicht imstande ist zu lieben, wenn die Beziehung zum anderen nicht in jeder Hinsicht als tief, dauernd und vollkommen erscheint.“39 Gegenwärtig sei die wenig erotische Monogamie die einzig gesetzeskonforme, staatlich anerkannte und geförderte Art des Zusammenlebens, indes sollte sich auch in der Gegenwart niemand bei der Ausgestaltung eines schönen, befriedigenden und aufregenden Geschlechtslebens entmutigen lassen. Doch erst in der verwirklichten kommunistischen Gesellschaft würde allen „die vollkommene Freiheit der Entscheidung, wie der einzelne sein sexuelles Leben gestalten will, ob promiskue, ob polygam, ob monogam“ zugestanden.40 1.4 Wilhelm Reich und die Sexpol Der 1897 in Galizien geborene Wilhelm Reich ging nach dem Ende des Ersten Weltkrieges nach Wien und studierte Medizin. Er wurde im Seminar zur Sexualität, das sein Kommilitone Otto Fenichel außeruniversitär organisiert hatte, auf Sigmund Freud und die Psychoanalyse aufmerksam. Noch als Student wurde er 1920 in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung aufgenommen. Nach dem Abschluss seines Studiums gelangte Reich aus seinen klinischen Erfahrungen heraus zu der Auffassung, dass jede psychische Erkrankung mit einer Störung der sexuellen Erlebnisfähigkeit einhergehe, worüber im Rahmen der Psychoanalyse bis dahin kaum geforscht worden war. An Stelle der Freudschen Libidotheorie entwickelte er die Orgasmustheorie. Als Ziel seiner therapeutischen Bemühungen bestimmte er die Fähigkeit der Erlangung der orgastischen Potenz – nicht als punktuelle, sondern als ganzheitliche Heilung. Unter dem Eindruck der Geschehnisse beim Wiener Justizpalastbrand vom 15. Juli 1927 trat er in die KPÖ ein. Fortan galten seine Bemühungen einer Zusammenführung von Psychoanalyse und Marxismus, wie z. B. seine Schrift Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse (1929) zeigt. Er gründete zusammen mit linken Ärztinnen und Ärzten in Wien Sexualberatungsstellen, um ganz gezielt Arbeiterinnen und Arbeitern Anlaufstellen für Fragen zur Empfängnisverhütung, zur Abtreibung, zur Selbstbefriedigung und zur Lösung ähnlicher Pro-
38 Ebd. 39 Ebd., S. 50. Hervorh. im Original. 40 Ebd., S. 54.
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bleme anzubieten.41 Bald erkannte er, dass das sexuelle Elend der Arbeiterschaft ein Massenphänomen sei, dem nur durch eine breit organisierte gesellschaftliche Umwälzung Abhilfe geleistet werden könne. Daher verlegte er den Mittelpunkt seiner Tätigkeit von Wien nach Berlin, trat der KPD bei und gründete 1931 den Deutschen Reichsverband für Proletarische Sexualpolitik, kurz die Sexpol. Es ist fast überflüssig zu sagen, dass er – Ruth Fischer ähnlich – mit der Zeit aus allen Parteien und Organisationen ausgeschlossen wurde. Der Körperpsychotherapeut Marc Rackelmann schreibt über das Engagement Reichs in und um Sexpol Folgendes: „Reichs Sexualtheorie grenzte sich radikal gegen moralisierende, rassehygienische und bevölkerungspolitische Zielsetzungen ab. Sein Ziel war die Befreiung der menschlichen Lust, und das war für Reich unter den gegebenen sozialen Umständen nicht durch Sexualreform, sondern nur durch eine revolutionäre Sexualpolitik zu leisten. Dazu, glaubte er, brauchte er eine starke Partei.“42 Reich war sich der gesellschaftlichen Grenzen seiner ärztlichen Tätigkeit bewusst; so hielt er beispielsweise eine Massenneurose für nicht behandelbar. Wo gesellschaftliche Grenzen einer Gesundung entgegenstehen, galt es diese zu beseitigen: „In den Fällen, in denen der Arzt nichts mehr zu sagen hat, muß der Sozialist an seine Stelle treten.“43 Der organisierte Sozialist bzw. Kommunist wurde jedoch regelmäßig binnen kurzer Zeit durch die starre, bornierte und teilweise selbstzerstörerische Ideologie der Linken frustriert. „Der KPD ging es bei ihrem sexualreformerischen Engagement primär um die Rettung hunderttausender unschuldiger Proletenseelen vor den Verlockungen der Sozialdemokratie. […] Dieses Desinteresse der KPD an sexualpolitischen Inhalten schien Reich nicht wahrzunehmen, als er 1931 seine Zusammenarbeit mit der KPD begann.“44 Doch zunächst gelang es Reich, die Abhaltung eines Gründungskongresses wichtiger sexualreformerischer Organisationen zu einem Dachverband in Düsseldorf zu organisieren. Es entstand der „Einheitsverband für proletarische Sexualreform und Mutterschutz“ und Reich publizierte die Liste sexualpolitischer Grundsätze des Verbandes im „Kampforgan für proletarische Sexualpolitik und für die Herstellung der Einheit aller sexualpolitischer Organisationen“, Die Warte: 1. Kampf für die Abschaffung des § 218 [des Abtreibungsverbotsparagraphen], kostenlose Schwangerschaftsunterbrechung, Verteilung von Verhütungsmitteln durch Krankenkassen, Einrichtung von Sexualberatungsstellen 2. Mutter- und Säuglingsfürsorge 3. Überwindung der sexuellen Not durch a) Erkämpfung ausreichenden Wohnraums
41 Reich (1929): Erfahrungen und Probleme, S. 98–102; ders. (1931): Sexualnot der Werktätigen, S. 72–87. 42 Rackelmann (1994): Sexpol, S. 56–93. 43 Reich (1929): Erfahrungen, S. 102. 44 Rackelmann (1994): Sexpol, S. 64.
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b) freie sexuelle Jugendaufklärung und Erziehung c) Schaffung eines proletarischen Ehe- und Sexualrechts 4. Aufklärung über Art und Anwendung von Verhütungsmitteln, verbilligte Lieferung von Verhütungsmitteln an die Mitglieder, Schaffung von Sexualberatungsstellen.45
Reich emigrierte 1933 aus Deutschland über Wien, Kopenhagen und Oslo 1939 nach New York. Er verstarb in den Vereinigten Staaten 1957. Die überblicksmäßige Bestandsaufnahme der Einstellung der sozialistischen und kommunistischen Parteien zu Fragen einer neuen proletarischen Sexualmoral und -ethik am Beispiel der Bemühungen von Alexandra Kollontai, Ruth Fischer und Wilhelm Reich zeigt, dass die oft widersprüchliche, in ständigem Wandel begriffene Parteiideologie der russischen Bolschewiki, der österreichischen Sozialisten und der deutschen Kommunisten die Entstehung und Umsetzung neuer, zeitgemäßer sexualpolitischer Richtlinien mindestens genauso hintertrieb, wie sie sie förderte; so dass beinahe allen Aktivistinnen und Aktivisten, die an der Ausarbeitung des sexualethischen Profils des Neuen Menschen mitbeteiligt waren, höchstens postume Anerkennung für ihre Bemühungen zuteil wurde. Beinahe alle ihrer Errungenschaften um eine freiere Sexualität wurden im Zeitalter der Diktaturen zunichtegemacht oder zumindest hintertrieben. Allerdings wurden pragmatische Aspekte ihrer Reformvorschläge in Bereichen der Volkswohlfahrt, des Wohnungswesens, der Kindererziehung, der Organisation der Arbeit in Teilbereichen verwirklicht – ohne ihre Urheber anzugeben und auf die Tatsache hinzuweisen, dass auch diese Alltäglichkeiten nichts anderes sind als die philosophisch-anthropologische Seite der Aufwertung einer freieren Persönlichkeitsentfaltung. Und es darf auch nicht vergessen werden, dass in allen Diktaturen der Diskurs über die freiere Sexualität weitergeführt wurde, zwar nicht öffentlich und theoretisch, wohl aber pragmatisch, bei Lösungen der Probleme des Alltagslebens und der Lebensführung. 2. SEXUELLE REFORMBEWEGUNGEN IN DER WEIMARER REPUBLIK Nach den Konzepten der Theoretikerinnen und Theoretiker soll die sexuelle Reform im Folgenden aus dem Blickwinkel ihrer gesellschaftlichen Relevanz betrachtet werden. In der Weimarer Republik veränderte sich die gesellschaftliche Stellung der Frau – und damit das Frauenbild – durch breit gefächerte gesellschaftspolitische Bewegungen, bis schließlich, analog zur Vorstellung vom Neuen Menschen, auch die Vorstellung einer Neuen Frau entstehen konnte.46 Die Historikerin Julia Roos illustriert dies in ihrer Monographie Weimar through the Lens of Gender unter anderem mit einer Studie zur Legalisierung der Prostitution. Sie beschreibt jene
45 Ebd., S. 69. 46 Freund-Widder (2003): Frauen unter Kontrolle, S. 32–41.
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Widersprüche, die durch die staatliche Reglementierung der unter institutioneller Aufsicht der Polizei ausgeübten Prostitution für die Sexarbeiterinnen entstanden waren. Ihnen wurde eine ständige und strenge ärztliche Kontrolle vorgeschrieben, während ihre männliche Kundschaft keinerlei Vorschriften zu befolgen hatte. Zahlreiche Feministinnen erhoben ihre Stimmen gegen diese Art einer Ungleichbehandlung, bis schließlich im Jahre 1927 das Reichgesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten erlassen wurde. Die in diesem gesetzlichen Rahmen verwirklichte Gleichbehandlung erweckte indes sowohl im rechten als auch im linken Lager aus verschiedenen Gründen Unmut und trug zur weiteren Destabilisierung der Weimarer Republik bei.47 Der Aufsatz Anita Grossmanns The New Woman and the Rationalization of Sexuality in Weimar Germany zeigt einleuchtend die Ambivalenzen der Bestrebungen um eine neue Sexualmoral. Mit feiner Ironie beschreibt sie jene Veränderungen, in deren Zuge die Frauen im Deutschland der 1920er Jahre von der einen Abhängigkeit in die andere geraten waren, diesmal mittels der raffinierten Unterdrückungsmaschine der neuartigen Sexual-Ideologie. „Sex Reform“, schreibt Grossmann, „brought together doctors, social workers, and lay people, many of them associated with working-class political parties, in the name of a commitment to legalized abortion, contraception, sex education, eugenic health, and women’s right to sexual satisfaction“.48 Es wurde ein Wunschkatalog erstellt, viele Einzelpunkte wurden auch realisiert, doch „the counseling and literature of the Sex Reform movement never assumed that women could control or determine the forms of their own sexual satisfaction. Although many women doctors worked in counseling centers and there were some prominent women Sex Reformers, men wrote most of the important sex manuals and journal articles“.49 In den Handbüchern wurde in erster Linie den Männern die richtige Handhabe der Frauen beim Sex gelehrt, ihnen wurden Techniken und Handgriffe gelehrt, um die Frau den Wünschen der Männer entsprechend zu gestalten. Diese waren mitunter nicht einfach, benötigten Geschicklichkeit und Ausdauer, Sex wurde ein „very hard work“.50 „Sex Reform treated the body as a machine that could be trained to perform more efficiently and pleasurably. The goal was to produce a better product, be it a healthy child or a mutual orgasm“.51 Grossmann weist anhand zahlreicher Beispiele nach, dass die Entmystifizierung der Sexualität, die wissenschaftliche Beschreibung der Funktionsweisen des humanen Körpers unmittelbar zu einer technizistischen Sichtweise führten, der adäquate Ablauf eines Aktes wurde in Handbüchern reguliert, wobei die 47 „The abolition of regulationism and decriminalization of prostitution in the course of 1920s suggest that Weimar-era women’s emancipation succesfully challenged central aspects of established patriarchal gender hierarchies and sexual mores. The backlash against liberal prostitution reforms during the early 1930s illustrates that gains in women’s rigths played a fateful role in mobilizing antidemocratic sentiments and opposition“. Roos (2010): Weimar, S. 44. 48 Grossmann (1983): The New Woman, S. 154. 49 Ebd., S. 159. 50 Ebd., S. 162. 51 Ebd., S. 164.
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Eigenheiten des weiblichen Körpers weitgehend außer Acht gelassen wurden. „Women’s particular sexual ‚skills‘ – such as the ability to have multiple orgasms – that did not necessarily coincide with the required simultaneous orgasm were ignored in favor of establishing a sexual norm based on the male pattern of sexual satisfaction – the steep plunge to the orgasm“.52 In der Weimarer Republik hielt schließlich die neue Sachlichkeit auch in den Sexualverkehr Einzug: „Sex was understood in a sachliche manner as a natural objective function that simply needed to be perfected and regulated. They sought to domesticate, by defining and categorizing, what might be wild and untamable“.53 Dem kann Katie Suttons Buch The Masculine Woman in Weimar Germany gegenübergestellt werden, das die Widersprüchlichkeit der Figur der Neuen Frau anhand der Hypothese einer „Vermännlichung der Frau“ aufzeigt. Sie untersucht die Erscheinungsformen dieser Frauengestalt in der zeitgenössischen Popkultur und in den Druckmedien. Die aus der Gefangenschaft der vier K’s (Kinder, Küche, Keller, Kirche) entlassene Frau diente offenbar als Projektionsfäche für ein neues Frauenideal – dessen Ausgestaltung aber in einem eigentümlichen historischen Kontext erfolgte. Der Verlust des Ersten Weltkrieges hat nicht nur Deutschland gedemütigt, sondern gleichzeitig auch eine „crisis of masculinity“ verursacht. „With so many men unfit to carry out their patriarchal duties as fathers and husbands, concers about Germany’s emasculated manhood and uncertain reproductive future were compunded by women’s increasing movement into social and political life.“54 Sutton beruft sich bei ihrer Behauptung, die Neue Frau „represented a ‚crisis‘ in gender roles that was, in turn, a response to the ‚shock of modernity‘“, auf Atina Grossmann, die ihrerseits das neue Frauenideal folgendermaßen umreißt: „This New Woman was not merely a media myth or a demographer’s paranoid fantasy, but a social reality that can be researched and documented. She existed in office and factory, bedroom and kitchen, just as surely as in cafe, cabaret and film.“55 Ein Aspekt dieser neuen „social reality“ sei die sexuelle Reformbewegungen begleitende ‚Aufklärungsliteratur‘ gewesen, der es gelungen war, mit Unterstützung der Massenmedien die Figur der zigarettenrauchenden Neuen Frau im Hosenanzug und mit dem Bubikopf erfolgreich im öffentlichen Raum zu präsentieren, und die darüber hinaus verschiedene Arten der Empfängnisverhütung vorstellte, die Ehe nicht mehr für die einzig mögliche Form einer langfristigen Partnerbeziehung hielt, und auf ihr Recht einer erfüllten Sexuallebens bestand. Die rasche Akzeptanz dieses Frauentyps zumindest in den deutschen Großstädten zeigt die fundamentale Wandlung der Geschlechterrollen.56 Sutton betont, dass gleichzeitig auch das männliche Selbstbild einer ähnlich radikalen Wandlung unterworfen war, sodass festgestellt werden
52 53 54 55 56
Ebd., S. 165. Ebd., S. 166. Sutton (2011): The Masculine Woman, S. 4. Grossmann (1986): Girlkultur, S. 64. Sutton (2011): S. 8f.
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kann: „Such discussions about the masculinization of women were as much about men and male cultural anxieties as about women or their changing appearances“.57 Im Rahmen dieses Aufsatzes ist es nicht möglich, alle Arten des neuen Nachkriegsfeminismus vorzustellen. Der hier vorgestellte Überblick reicht aber bereits aus, um einen Eindruck davon zu vermitteln, inwieweit die vielschichtigen gesellschaftlichen Umwälzungen in der Weimarer Republik fundamentale Auswirkungen auch auf die Geschlechterrollen hatten. Sie betrafen die innerfamiliäre Rolle der Frau ebenso wie das Frauenbild in den Medien bzw. die physische Erscheinung der Frau in den damals gegebenen Räumen für Unterhaltung und Freizeit und auch bei der Ausübung verschiedener, früher Männern vorbehaltenen Sportarten.58 3. DIE VERWIRRENDE SEXUALETHIK DER GEBILDETEN SOWJETJUGEND Die Historikerin Sheila Fitzpatrick führte umfassende Untersuchungen zur Sexualethik und Sexualverhalten jener Studentinnen und Studenten durch, die in den 1920er Jahren an den Universitäten von Moskau, Odessa, bzw. Omsk immatrikuliert waren. Ihr 1978 erschienener Aufsatz ist die Auswertung dreier historischer Fragebogen-Aktionen unter jener „pioneering generation“, die kurz nach der Oktoberrevolution ihr Studium begann. Das Verhältnis männlicher und weiblicher Hörer war drei zu eins, ihre Herkunft betreffend gab es ungefähr gleich viele Hörerinnen und Hörer aus Arbeiter- und Bauernfamilien wie aus urbanen bzw. bürgerlichen Familien. Erstere waren studiengebührenbefreit und erhielten ein Stipendium zur Deckung ihrer Lebenskosten und der Kosten für den Universitätsbesuch. Bei letzteren mussten die Familien die Kosten tragen. Sie besuchten die verschiedensten Studienrichtungen, aber alle mussten auch Vorlesungen über Marxismus besuchen, um auf welchen Aufgabengebieten auch immer, im Besitz ihrer Bildung eine ideologische Vorbildfunktion auszuüben. Die stramme Indoktrinierung der Universitätsjugend dürfte indes nicht so gut funktioniert haben wie erhofft, denn sie stimmte im Winter 1923/24 großteils für Trotzki, dem dies natürlich gelegen kam, um das Ergebnis seinen Widersachern genüsslich unter die Nase zu reiben, hätten doch sie selbst die Universitätsjugend als „barometer of the Party“ bezeichnet.59 Im Zentral-
57 Ebd., S. 8. 58 Siehe dazu ausführlich Freytag / Tacke (2011): City Girls. 59 1923 erlitt die sowjetische Wirtschaft einen Wachstumseinbruch, es wurden landesweit Arbeitsniederlegungen organisiert. In seinem 1923er Memorandum an die ZK der KPdSU bezeichnete Trotzki die fehlende innerparteiliche Demokratieverbundenheit als Ursache für die Entstehung der immer schwieriger werdenden Wirtschaftslage. Die Parteileitung versuchte in der nun offen ausgetragenen Auseinandersetzung mit Trotzki abzurechnen. Sie bezichtigten ihn, die Parteijugend irreleiten zu wollen, und führten als Beweis die offene Ablehnung seiner Thesen durch die Studentenschaft an. Die Abstimmung im Kreise der Universitätsjugend ging allerdings zu seinen Gunsten aus. Vgl. Fitzpatrick (1978): Sex and revolution, S. 253f., das Zitat auf S. 254.
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komitee war bald die Erklärung für das Fehlverhalten der Universitätsjugend gefunden: „[T]hey had degenerated through contact with the essentially bourgeois environment of the universities and the big cities under NEP“.60 NEP (nowaja ekonomitscheskaja politika), die Neue Wirtschaftspolitik, ein um 1920 eingeführtes wirtschaftspolitisches Konzept, zielte auf eine Dezentralisierung und Liberalisierung in der Landwirtschaft, im Handel und in der Industrie ab. Die NEP hatte nur einige Jahre Bestand, führte indes in dieser Zeit zur Verbesserung der Versorgung und zu gesellschaftlichen Freiheiten. Ihre Gegner, die alsbald die Oberhand bekamen, beschuldigten die Anhänger dieser neuen Wirtschaftspolitik der Philisterhaftigkeit (russ. meshchanstvo), was im seinerzeitigen Parteijargon als Begriff für gewinnsüchtige bürgerliche Spekulanten und Wucherer gebraucht wurde. Die Universitätsjugend traf die Anschuldigung hart. Die Arbeiter- und Bauernkinder, die in der Hoffnung des gesellschaftlichen Aufstiegs die Entbehrungen des Studentenlebens auf sich nahmen, fühlten sich verunglimpft. Aber auch für Bürgerkinder war die Anklage der Philisterhaftigkeit gefährlich, denn sie bedeutete, dass sie sich nicht von der verwerflichen bürgerlichen Tradition lösen können oder wollen: [T]o the students, meshchanstvo meant following the conventions of the old regime, observing bourgeois courtesies and bourgeois hypocrisies, wearing a tie, preaching the sanctity of the family and chastity before marriage, being bowed to by doormen, not swearing in mixed company. [...] To Old Bolsheviks, meshchanstvo in the sexual realm was NEP morality, postwar sexual permissiveness and promiscuity. To Komsomol students, it was conventional bourgeois marriage, sexual coyness and hypocrisy, and women talking about love.61
Demnach konnten alle sofort als Klassenfeinde denunziert werden, die nicht nach dem Code handelten oder sprachen. Da niemand wusste, welches Zeichensystem, welche Parteidirektive am gegebenen Ort zur gegebenen Zeit galt, war die Verwirrung beträchtlich. Die alten Bolschewiki bezeichneten die freie Liebe als philisterhaft, die Jungkommunisten hingegen jene, die an der bürgerlichen Ehe und an der Verweigerung vorehelicher Sexualkontakte festhielten. In Gregory Carletons Sexual Revolution in Bolshevik Russia ist zu lesen: [C]onfusion about the issue was on full public display. In fact, tension and disagreement from on high only encouraged the personalized, idiosyncretic appropriation of revolutionary discourse by young people that frustrated party leaders and challenged their authority to regulate Soviet society. […] Young people were not necessarily intentional counterrevolutionaries, nor did they consciously resist the party’s hegemonic ambitions. On the contrary, much of what they did was what they thought proper – indeed, expected – since it was a Soviet axiom that one could not perform an ideologically neutral act.62
In dieser Pattsituation war es für die Universitätsjugend beinahe unmöglich, eine Sexualmoral auszuarbeiten und zu befolgen, die sowohl den eigenen körperlichen Bedürfnissen entsprach, als auch gesellschaftlich gelitten war. Carleton versucht anhand zeitgenössischer Zeitungsberichte, Briefe, Tagebücher und literarischer
60 Fitzpatrick (1978): Sex and Revolution, S. 254. 61 Ebd., S. 254f. Hervorh. im Original. 62 Carleton (2004): Sexual Revolution, S. 91f.
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Texte über die von den Bolschewiken betriebene sexuelle Emanzipation eine Antwort auf die Frage zu finden, wie sich dieses widersprüchliche Datenmaterial interpretieren lässt. Seine Schlussfolgerung ähnelt jener von Fitzpatrick, indem auch er den Ersatzcharakter der Bewegung betont: „[I]n the upheavals after 1905, sexuality provided a primary metaphor through which to express anxieties arising from class and ethnic conflict.“63 Bei der Untersuchung des Nachhalls dieser sexuellen Revolution und ihrer Rezeption in der zeitgenössischen Öffentlichkeit stellt er eine „cacophony of voices“64 fest, die sich wohl beschreiben, aber kaum sinnvoll kategorisieren lässt. Von den Zeitgenossen wurde sie wohl als ein völliges Durcheinander wahrgenommen, in dem sich niemand zurechtzufinden vermochte, in dem die verschiedensten Standpunkte aufeinanderprallten und miteinander wetteiferten. Fitzpatrick zog zur Auswertung des historischen Materials über das Sexualleben der sowjetischen Universitätsjugend anonymisierte Erhebungen mittels Fragebögen heran, die an der Kommunistischen Universität in Swerdlow 1922, an der Medizinischen Fakultät der Moskauer Universität und an den Omsker Hochschulen 1924, und an den Hochschulen von Odessa im Jahr 1927 durchgeführt wurden. Als Ergebnis langer statistischer Berechnungen stellt Fitzpatrick fest, dass „the reported behavior of Soviet students provides more evidence of the persistence of traditional sexual patterns – including male machismo and prudent female chastity – than of liberating sexual revolution. But when we come to the students’ ideology of sex, love and marriage, the situation is somewhat different“.65 Ein Gutteil der Befragten hielt die Institution der Ehe für eine korrupte bürgerliche Tradition – ungeachtet dessen, dass die meisten verheiratet waren. Diese widersprüchliche Aussage wird erklärlich, wenn man bedenkt, dass meistens nur der Ehemann (seltener die Ehefrau) studierte, d. h. dass der oder die Andere zu Hause blieb, und dass ein Zusammenleben wegen der damaligen Beschaffenheit der Studentenheime mit ihren Massenschlafsälen ohnehin unmöglich gewesen wäre. Wenige hielten eine langanhaltende, auf Liebe gegründete Partnerschaft für wünschenswert. Ihre ersten Sexualkontakte hatten die ländlichen Studenten mit Prostituierten, städtische hingegen mit Dienstmädchen im Elternhaus. Die meisten Studenten hielten die Prostitution für problemlos, ihre Libido zielte im Zeichen eines radikalen Materialismus auf die rohe, ungezügelte und unmittelbare Befriedigung des Sexualtriebes. A significant number of them were also radicals on marriage – not in the Kollontai sense of emphasizing love rather than obligation or self-interest but with a more straightforward enthusiasm for revolutionary liberation in the sexual sphere. […] For this generation, Kollontai’s ideas no longer seem influential or even known at all except in distorted form as an encouragement to promiscuity – the notorius ›glass of water‹ theory of sex. […] However, the students, even on this question, were more radical in ideology than in practice.66
63 64 65 66
Ebd., S. 3. Ebd., S. 11. Fitzpatrick (1978): Sex and Revolution, S. 271. Ebd., S. 272 u. 274.
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4. AUSWIRKUNGEN DER SEXUALREFORMEN IN UNGARN IN DER ZWISCHENKRIEGSZEIT Wer Elfriede Friedländers 1920 erschienene Sexualethik des Kommunismus studiert, wird sehen, dass sie auch die Sexualerziehung der ungarischen Räterepublik beschäftigte. Wobei sie betreffend der Situation in Ungarn einschränkt, dass bezüglich der neuesten Entwicklungen nicht genügend Informationen zur Verfügung stehen würden: „Die vier Monate der Sowjetrepublik haben dort natürlich auch eine Fülle neuer Erfahrungen auf dem Gebiete des Geschlechtslebens erzeugt, aber die Sammlung und Sichtung des darauf bezüglichen Materials ist vorläufig nicht möglich gewesen. Das bleibt einer eventuellen späteren Auflage vorbehalten.“67 Diese spätere Auflage wurde leider nie realisiert. Viel wäre auch nicht zu berichten gewesen, denn nicht nur der kurze Bestand der Räterepublik und das allgemeine Chaos machten den Aufbau einer Beratungsstelle unmöglich, sondern auch das Fehlen des qualifizierten Personals. Erst rund zehn Jahre später, Anfang der 1930er Jahre erschienen interessante Publikationen und wurden heftige Diskussionen zur Frage einer sexualhygienischen Neuorientierung geführt. Die Vorreiterrolle kam dabei dem Arzt Dr. Béla Totis (1895–1943?) zu. Dieser versuchte, seine Kolleginnen und Kollegen zur Organisierung von Sexualberatungsstellen zu motivieren, wie sie von der progressiven österreichischen und deutschen Ärzteschaft verwirklicht wurden. Was wegen der repressiven Landespolitik zwar nicht gelang, doch die Publikationstätigkeit war ihm freigestellt. Im Januar 1932 organisierte Totis unter der Ägide der Ärzte- und Juristenorganisation der Ungarischen Sozialdemokratischen Partei eine Arbeitstagung zur Frage der Geburtenregelung. Präsidiert wurde die Veranstaltung von dem Rechtswissenschaftler und bürgerlichradikalen Journalisten Rusztem Vámbéry, der Tagungsband mit dem Titel Születésszabályozás (Geburtenregelung) noch im nämlichen Jahr publiziert.68 Frauen fanden sich unter den teilnehmenden und beitragenden Ärzten, Juristen, Politikern und Literaten in weitaus größerer Zahl, als bei jeder vergleichbaren Veranstaltung, was zwar angesichts des Themas verständlich ist, aber im zeitgenössischen Ungarn absolut unüblich und skandalös war. Der Ton der Auseinandersetzungen in der ungarischen Gesellschaft wurde immer rauher, allmählich emigrierten alle, die Reformen gefordert oder vorgeschlagen hatten. Auch Totis emigrierte nach Frankreich,69 von wo er nach der deutschen Besatzung Frankreichs an die Nazis ausgeliefert und ermordet wurde.70 Bereits seine 1931 erschienene 67 Friedländer (1920): Sexualethik, S. 57. 68 Totis (1932): Születésszabályozás. S. 1–118. 69 Der genaue Zeitpunkt seiner Emigration ist nicht bekannt, doch erwähnt György Faludy in einem Gespräch mit Márton Karinthy (das Karinthy in seinem Buch Ördöggörcs zitiert), dass er 1939 in Paris den Frauenarzt Béla Totis besucht hatte. Siehe Karinthy (2003): Ördöggörcs, S. 26. 70 Vgl. Eintrag zu Béla Totis in Yad Vashem, The Central Database of Shoah Victims. URL: http://yvng.yadvashem.org/index.html?language=en&s_lastName=Totis&s_first-1DPH %HOD &s_place (letzter Zugriff:12.03.2018).
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Aufklärungsbroschüre Sexuelle Probleme der Jugend – Briefe an meinen Sohn71 wurde vernichtend rezensiert, wobei sich zu der rechten Kritik solche Größen der linken Arbeiterjugend-Kultur zur Seite gesellten, wie der Dichter und Schriftsteller Lajos Kassák und der hochgebildete, auch psychologisch geschulte Dichter Attila József, der im Geiste des revolutionären Materialismus die Arbeit von Totis kritisierte. Totis, der als praktizierender Gynäkologe auch Schwangerschaftsunterbrechungen vornahm – diese waren in der Zwischenkriegszeit zum Schutz des Lebens und der Gesundheit der werdenden Mutter erlaubt, konnten also durch die Dehnbarkeit des Begriffes relativ oft legal durchgeführt werden – war unmittelbar mit der Not seiner Patientinnen konfrontiert. 1932, in der Märznummer der im siebenbürgischen Cluj/Klausenburg (heute Cluj-Napoca) erscheinenden ungarischsprachigen sozialwissenschaftlichen Zeitschrift („Weltanschauliche und literarische Monatsschrift“) Korunk (Unsere Zeit) formulierte Totis – selbst Marxist – seine Vorbehalte gegen jene linke Ideologie, die im Namen der naturwissenschaftlichen Weltanschauung die individuelle Problembehandlung auch in der Frage der Abtreibung als unethisch bezeichnete. Ich stelle die naturwissenschaftliche und die marxistische Weltanschauung nicht als Gegensätze dar, sondern fasse sie als historisch nacheinander entstandene auf, und behaupte, dass die naturwissenschaftliche Weltanschauung im Menschentyp einer Übergangsperiode durchaus Daseinsberechtigung hatte, da es zur Zeit keine bessere gab. Es ist nicht die naturwissenschaftliche Weltanschauung, die wirklich und wahrhaftig ethisch ist, sondern die marxistische. 72
Attila József antwortete ihm im Maiheft der Zeitschrift: Der Marxist [...] kategorisiert wissenschaftlich, aus dem Gesichtpunkt des Marxismus, der objektiven Wissenschaft zur Befreiung des Proletariates, also gehen ethische Form und Inhalt seiner Beurteilung verloren. [...] Wäre es nicht lächerlich, die Handlungen der Kapitalisten danach beurteilen zu wollen, ob diese aus dem Gesichtspunkt der revolutionären oder der konterrevolutionären Bewegungen oder wie auch immer allgemein ethisch seien oder nicht? Nein, der Marxist beurteilt die Handlungen der Kapitalisten aus keinen wie auch immer gearteten ethischen Gesichtspunkten, sondern nimmt sie als Tatsachen wahr.73
Totis und viele seiner Kolleginnen und Kollegen, die sich tagtäglich mit konkreten Problemen konfrontiert sahen und sich bei ihrer Lösung bewähren mussten, erachteten ihre mitunter selbstgefährdende Hilfe und Aufklärungsarbeit als marxistisch, was von den Kommunisten in Abrede gestellt wurde. József, der sich zu dieser Zeit an die Parteilinie (der illegalen) KP hielt, und seine Organisation waren wiederum unempflindlich für die Nöte und das Leid des Einzelnen, und hielten sich an die Maxime, dass die Befreiung des Proletariates alle Gesellschaftsprobleme lösen wird. Dafür wurden sie selbst von den gemäßigten Linken als Phantasten, als Fanatiker erachtet, die unfähig sind, ethisch zu handeln, eine wirklich gesellschaftsemanzipatorische Lebensweise zu führen.
71 Totis (1931): Az ifjúság nemi problémái. 72 Ders. (1932): A természettudomány, S. 203. 73 József (1932): Természettudomány és marxizmus. S. 405.
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Die Broschüre Sexuelle Probleme der Jugend – Briefe an meinen Sohn polarisierte indes nicht nur in der Frage der Familienplanung. Sie wendet sich nicht etwa an den fiktiven eigenen Sohn, sondern an den als Individuum gedachten jungen Mann. Zur Klärung der zahllosen auch sexuellen Unsicherheiten während der Adoleszenz spricht Totis die Jugendlichen ungeachtet ihrer Klassenzugehörigkeit und Klassenlage als selbstverantwortliche Individuen an, die ihren Verstand gebrauchend lernen sollen, um Entscheidungen zu treffen. Die Themen, die Gegenstände der einzelnen Entscheidungen behandelt Totis als Ratgeber, entlang den wichtigsten Fragen der sexuellen Aufklärung, und zwar in Briefform. In der Broschüre finden sich insgesamt neunzehn Briefe, mit Themen wie „Die vergiftete Liebe“ (die Prostitution), „Psychoanalyse und Verliebtheit“, „Freud und Marx“, „Die Grenzen der Liebe“, „Monogamie oder Polygamie“, „Ehe und Gewissen“ oder „Die heikle Frage“ (die Homosexualität). Die zielgerichtete, rationale Problembehandlung des Gynäkologen tritt am deutlichsten im Brief über die Selbstbefriedigung zu Tage. Über die männliche Onanie wurde in der Zwischenkriegszeit hitzig debattiert, die einander diametral entgegengesetzten Standpunkte wurden, um ein Bild zu verwenden ‚mit Krallen und Zähnen‘ verteidigt bzw. unerbittlich angeprangert. Bei der Verdammung aller Formen der Selbstbefriedigung erwies sich die 1919 in Budapest erschienene, ebenfalls in Briefform verfasste Broschüre des katholischen Geistlichen Tihamér Tóth (1889– 1939) A tiszta férfiúság (Die reine Männlichkeit) als besonders wirkmächtig.74 Das Buch wurde wenig später unter dem Titel Reine Jugendreife ins Deutsche übersetzt. Der Ratgeber des Jugendseelsorgers, der als „Privatdozent an der Universität zu Budapest“ vorgestellt wird, war ein flammender Aufruf zur Vermeidung der von ihm als Selbstschändung bezeichneten Praxis der Onanie. Um jeden Preis sollte sie vermieden werden, sonst seien Seelenheil und irdisches Glück auf immer verloren, das kostbare Rückenmark unnütz vergeudet, bis zuletzt den unglücklichen, hirntoten Selbstbefriediger im Rollstuhl, „die Verwesung bei lebendigem Leibe“75 erwarte. Der Gynäkologe Totis begegnete dem Sexualratgeber des Klerikers auf den Seiten seiner Aufklärungsbroschüre im Brief mit dem Titel Das verlogene Gespenst mit Ironie: „Es gibt unter uns tatsächlich viele schwer verblödete Leute, doch bei Weitem nicht so viele, wie Selbstbefriediger.“76 All dies zusammengenommen wird deutlich, dass in Europa vom Beginn des 20. Jahrhunderts an – beschleunigt durch die Katastrophe des Ersten Weltkriegs – überall starke sexualreformistische Bewegungen initiiert wurden, die voneinander Kenntnis habend, ihre Verknüpfung zu einem Netzwerk anstrebten. Als Beispiele seien hier die von Magnus Hirschfeld und seinen Kollegen in Berlin 1908 gegründete Zeitschrift für Sexualwissenschaft, das ebenfalls von Hirschfeld 1919 gegründete Institut für Sexualwissenschaft, schließlich die von diesem Institut 1921 74 Die Broschüre existiert als Digitalisat in der elektronischen Bibliothek der Pázmány Péter Katolikus Egyetem (Katholische Universität Péter Pázmány) als Bd. 1 der Gesammelten Werke Tihamér Tóth (siehe Literaturverzeichnis). 75 Tóth (1935): A tiszta férfiúság, S. 55. 76 Totis (1931): Az ifjúság nemi problémái, S. 31.
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organisierte Erste internationale Tagung für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage in Berlin erwähnt, an der namhafte Sexualwissenschaftler teilnahmen. Die Leistung des Kongresses bestand vor allem in der personellen Vernetzung der einzelnen Sexualreformbewegungen. Auf dem zweiten Kongress, der 1928 in Kopenhagen stattfand, wurde schließlich der entscheidende organisatorische Schritt getan: Die Gründung der Weltliga für Sexualreform. Es folgten Kongresse in London (1929), Wien (1930) und Brno/Brünn (1932). An all diesen Kongressen nahm auch Béla Totis teil, wie auch sein enger Mitarbeiter Béla Neufeld, mit dem er in der Klausenburger Zeitschrift Korunk eine rege, einander unterstützende publizistische Tätigkeit entfaltete. Neufeld, der zur Zeit des Kongresses in Brno in Karlovy Vary (Karlsbad) praktizierte, publizierte auch zusammen mit Hirschfeld und verbrachte zuvor, im Jahre 1930, ein halbes Jahr an dessen Institut für Sexualwissenschaft in Berlin (an dem 1931 die erste Geschlechtsumwandlungsoperation durchgeführt wurde). Die totalitären Diktaturen zerstörten alle diese Institutionen und Netzwerke. So wurde etwa das Berliner Institut am 6. Mai 1933 durch die Nazis geplündert, von jenen etwa 20.000 Büchern, die bald darauf öffentlich verbrannt wurden, stammten ungefähr die Hälfte aus Hirschfelds Bibliothek. Es sollte über 30 Jahre dauern, bis man wieder in den 1960er Jahren in Westeuropa an diesen sexualwissenschaftlichen Traditionsstrang anzuknüpfen begann. Ein Prozess, der in Osteuropa noch wesentlich länger dauerte und bis heute mit großen Problemen zu kämpfen hat. Aus dem Ungarischen von Pál Deréky.
LITERATUR Bebel, August: Die Frau und der Sozialismus. 62. Aufl., Berlin (Ost) 1973. URL: http:// www.mlwerke.de/beb/beaa/beaa_000.htm (letzter Zugriff: 20.01.2017). Carleton, Gregory: Sexual Revolution in Bolshevik Russia, Pittsburgh 2004. Dover, Kenneth James: Greek Homosexuality, London 1978. Fitzpatrick, Sheila: Sex and Revolution. An Examination of Literary and Statistical Data on the Mores of Soviet Students in the 1920s. In: Journal of Modern History 50 (1978), 252–278. Freund-Widder, Michaela: Frauen unter Kontrolle. Prostitution und ihre staatliche Bekämpfung in Hamburg vom Ende des Kaiserreichs bis zu den Anfängen der Bundesrepublik (Geschlecht – Kultur – Gesellschaft Bd. VIII), Münster 2003. Freytag, Julia / Tacke, Alexandra (Hrsg.): City Girls. Bubiköpfe & Blaustrümpfe in den 1920er Jahren, Wien u. a. 2011. Friedländer, Elfriede: Die Sexualethik des Kommunismus: eine prinzipielle Studie, Wien 1920. Foucault, Michel: Histoire de la sexualité. Vol. 1. La volonté de savoir, Paris 1976. Ders.: Histoire de la sexualité. Vol. II. L’Usage des plaisirs, Paris 1984. Ders.: Histoire de la sexualité. Vol. III. Le Souci de soi, Paris 1984. Grossmann, Atina: The New Woman and the Rationalization of Sexuality in Weimar Germany. In: Snitow, Ann u. a. (Hrsg.): Powers of Desire. The Politics of Sexuality, New York 1983, 153– 171.
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RUDOLF GOLDSCHEIDS MENSCHENÖKONOMIE Biopolitik und soziale Revolution Katharina Neef Das Bemerkenswerteste an einer Betrachtung Rudolf Goldscheids im Kontext des Revolutionsgeschehens von 1918/19 und der Imaginationen des Neuen Menschen im Zusammenhang dieser Umwälzungen ist – das Nichts.1 Während dieser Topos in den Revolutionsjahren und im Nachgang eine geradezu allgegenwärtige Präsenz feierte, schwieg sich der Privatgelehrte Goldscheid hierzu aus. Dabei war er zum Einen ein reger Teilnehmer der gesellschaftlichen Kreise, die mit am intensivsten vom Umsturz und der Neugeburt aller Dinge, allem voran des Neuen Menschen, träumten – des Wiener spätreformerischen Milieus (Friedrich Stadler), der multiplen Szene sozial- und lebensreformerischer Organisationen, die sich im späten 19. Jahrhundert im gesamten deutschsprachigen Raum gegründet, in den Monarchien mitunter mehr schlecht als recht etabliert hatten und nun in den nachfeudalen Systemen der Nachkriegsgesellschaften ihre Stunde gekommen zu sehen glaubten. Der Privatier Goldscheid war in einigen dieser Organisationen und Bewegungen involviert und als Funktionär aktiv; sein reges Mitwirken am Diskurs des Neuen Menschen erscheint hier (den Handlungslogiken der Gesellschaften und Bünde folgend, denen an der Produktion öffentlicher Aufmerksamkeit und anerkannter Expertise lag) zumindest naheliegend. Zum anderen war Goldscheid der Begründer der Menschenökonomie, einer wertpositiven ökonomischen Programmatik, die er als wissenschaftliche Disziplin in die akademische Welt und als technologische Handlungsgrundlage ins politische Feld implementieren wollte. Beide Ziele operieren mit einer grundlegenden Reform der bestehenden Gesellschaftsordnung, die Auswirkungen auf den Menschen haben würde – es war gleichsam Goldscheids Tagesgeschäft, den Neuen Menschen und/oder sein Habitat zu definieren und zu gestalten. Sein Schweigen zum homo novus ist also damit in einem solchen Maße verwunderlich, dass es Gegenstand der folgenden Betrachtungen sein soll. Dazu gilt es, zuerst das ihm eigene Maß an Aktivitäten aufzuzeigen, um dann die Leerstelle des Neuen Menschen zu diagnostizieren und zu kontextualisieren – und so das vielfältige Panorama auf die Revolutionshoffnungen der Jahre 1918/19 um eine weitere Perspektive zu erweitern.
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Grundlage der folgenden Ausführungen ist Neef (2012): Entstehung der Soziologie. Ich danke zudem Alexander Wierzock für seine produktiven Hinweise und Rückfragen.
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1. BIOGRAFISCHE VERORTUNG Die biografische Rahmung Rudolf Goldscheids kann kurz bleiben: Die Eckdaten sind allgemein verfügbar und genaueren Aspekten aus Leben und Werk widmeten sich in den vergangenen Jahren gleich mehrere Publikationen.2 In aller gebotenen Kürze und fokussiert auf die konkrete Fragestellung ist festzuhalten: Goldscheid wurde 1870 in eine gut situierte Wiener Familie hineingeboren. Eine Erbschaft ermöglichte es ihm bereits in jungen Jahren, ein Rentiersdasein mit bürgerlicher Lebenshaltung ohne Zwang zur Erwerbsarbeit zu führen. Damit zur freien Arbeit befähigt, wirkte Goldscheid im Laufe seines Lebens als Mitarbeiter und Funktionär verschiedener sozial- und lebensreformerischer Projekte, doch trat er nie als deren Finanzier in Erscheinung. Da diese Vereinigungen beständig auf der Suche nach Unterstützern und Mäzenen waren, lässt sich schließen, dass Goldscheids Finanzmittel ausreichend, aber nicht überreichlich vorhanden waren – und dass dies auch bekannt gewesen sein muss. Die aktive politische und reformerische Arbeit ist als wesentlicher Aspekt eines bildungsbürgerlichen Habitus zu sehen, der im Falle Goldscheids seinen Ausgang sowohl in anfänglichen literarischen Ambitionen als auch in seinen philosophischen Studien an den Universitäten in Wien und Berlin nahm. Obgleich er das Studium nicht formal abschloss, war er in der Performanz des Gelehrten offenbar glaubwürdig: So wiesen ihn seine recht umfangreichen, mehrheitlich theorielastigen Monografien als intellektuellen Autoren aus;3 so wurde er in Buchbesprechungen oder Berichten regelmäßig als „Dr. Goldscheid“ und im Einzelfall sogar als „Prof. Goldscheid“ bezeichnet.4 In den Gelehrtenkalendern der Zwischenkriegszeit firmiert Goldscheid als Privatgelehrter, Soziologe und Philosoph bzw. Kulturphilosoph; die Publikationspraxis dieser Kompendien legt nahe, dass es sich dabei um Selbst-
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Monografisch zu nennen sind: Witrisal (2004): Soziallamarckismus; Mikl-Horke / Fritz (2007): Goldscheid; Peukert (2010): Goldscheid; Exner (2013): Soziologische Gesellschaft. Hinzu treten an Artikeln bzw. Sammelbänden: Fleischhacker (1996): Wandel generativer Verhaltensmuster; ders. (2000): Goldscheid; Ash / Stifter (2002): Wissenschaft; Bröckling (2003): Menschenökonomie; Mikl-Horke (2004): Weber und Goldscheid; Exner (2008): Briefwechsel; Neef (2009): Goldscheid; Stekeler-Weithofer et al. (2011): An den Grenzen; Neef (2014): Sozialenergetik und Menschenökonomie. An Monografien sind zu nennen: Goldscheid (1902): Ethik; Ders. (1905): Grundlinien; Ders. (1908): Entwicklungswertökonomie; Ders. (1911): Höherentwicklung. An z. T. umfangreichen Artikeln tritt hinzu: Ders. (1907): Richtungsbegriff; ders. (1908): Geschichtswissenschaft; ders. (1909): Mikrohistorik; ders. (1911): La principe; ders. (1913): Kulturperspektiven; ders. (1914): Soziologie. Die Stellen sind versammelt in: Neef (2012), Entstehung der Soziologie, S. 107. Damit sei keinesfalls eine Betrugsabsicht unterstellt. Ganz im Gegenteil findet sich in den Quellen keine Selbstbezeichnung. Vielmehr wird argumentiert, dass Goldscheid der Rolle des Gelehrten habituell offenbar perfekt entsprach – sowohl im Lichte seiner Schriften als auch bei persönlicher Begegnung.
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kategorisierungen handelt.5 Als Privatgelehrter konnte er also durchaus in akademisch geprägten Netzwerken reüssieren, war sein Status als Gelehrter hier zuerst einmal unhinterfragt. Gleichzeitig ist festzustellen, dass er in den universitären philosophischen und sozialwissenschaftlichen Zirkeln ein Außenseiter blieb.6 Zwar zeitigten seine akademischen Anbindungsversuche durchaus Erfolge, doch konnten diese nie verstetigt werden: So wurde er 1914 Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), wäre Tagungsausrichter der neunten Konferenz des Institut International de Sociologie (IIS) in Wien gewesen (hätte nicht der Ausbruch des Weltkrieges diesen verhindert) und richtete letztlich den Fünften Deutschen Soziologentag 1926 in Wien aus.7 Als Eintrittskarte in die soziologischen Netzwerke der Zeit fungierte offenbar seine Tätigkeit als Gründer und (Langzeit-)Präsident der Wiener Soziologischen Gesellschaft seit 1907, zumindest wird diese Funktion in den Mitgliederlisten des IIS vermerkt. Als Goldscheid 1932 starb, würdigte ihn Ferdinand Tönnies, der Präsident der DGS, mit einem umfangreichen Nachruf, der seinen „Verdiensten um die neuere Entwicklung der Soziologie“ breiten Raum gab, zugleich bemerkte Tönnies aber auch, dass die Fülle seines soziologischen „Wissens und Denkens […] wohl nicht in weiten Kreisen außerhalb Wiens […] und außerhalb anderer freidenkender Kreise Österreichs bekannt geworden“ sei.8 Zeitgenössische kritische Bemerkungen über Goldscheid führen nie seine Amateurhaftigkeit ins Feld, sondern gründen eher in inhaltlichen oder strategischen Differenzen.9 In der akademischen Soziologie ist er heute weitgehend vergessen; jüngst wurde er allerdings ein Gegenstand der Soziologiegeschichte. 10 2. GOLDSCHEID IM DEBATTENZUSAMMENHANG DES NEUEN MENSCHEN Diese Erläuterungen zur akademischen Anbindung lassen die Frage nach der thematischen Einordnung Goldscheids innerhalb dieses Bandes aufkommen. Als Gelehrter passt er durchaus in den Debattenzusammenhang des Neuen Menschen – als 5
Degener (1922): Wer ist’s?, S. 343: „Priv.-Gel.“ Wininger (1927), Jüdische National-Biographie, S. 494: „Privatgelehrter“. Kürschner (1931), S. 376: „Soziologie, Privatgelehrter“. Encyclopedia Judaica (1931), S. 609: „soziologischer und kulturphilosophischer Schriftsteller“. 6 Exner (2008): Briefwechsel, S. 130f. und 146f. 7 Vgl. Dörk (2017): Die frühe Geschichte. 8 Tönnies (1998): Goldscheid, S. 308. 9 Siehe hierzu einen Brief Max Webers an Lujo Brentano, 2. Aprilhälfte 1909: Nachdem er ihm die Pläne betreffend der DGS erläutert hat, schließt Weber: „Ich nehme an: so töricht, wie nach dem anscheinend etwas konfusen Mitteilungen Dr. Goldscheids, erscheint Ihnen die Sache jetzt doch nicht mehr.“ Weber (1994): Briefe 1909–1910, S. 108. Allerdings stratifiziert Gudrun Exner den Umgang mit ihm doch deutlicher und analysiert aus dem Briefverkehr Ernst Machs, dass dieser Goldscheid weniger als Kollegen denn als Schüler adressierte. Exner (2008): Briefwechsel, S. 146. 10 Vgl. Mikl-Horke (2004): Weber und Goldscheid.
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Menschenökonom kann er durchaus als Vordenker des Neuen gelten. Gleichzeitig kann die Menschenökonomie auch als politischer Anwurf gesehen werden. Denn die Verortung im Spannungsfeld zwischen politischem und (sozial)wissenschaftlichem Feld spiegelt sich in der gesamten Biografie Goldscheids und in den Einschätzungen bzw. der Literatur über ihn wider: Ist Goldscheid als Soziologe und Wissenschaftler oder als politischer Aktivist zu thematisieren? Handelt es sich bei seinen Konzepten der Menschenökonomie und Finanzsoziologie um wissenschaftliche Modelle und Theorien oder um politische Programme und Instrumente? Eine eindeutige Antwort lässt sich nicht geben, Person und Werk Goldscheids zeigen explizit die Grenzen wissenschaftlicher Kategorienbildung und damit, dass gerade die sozialwissenschaftliche Kategorienbildung zu einem guten Teil Grenzziehungsarbeit (boundary working)11 und damit ein normatives Unterfangen mit der Funktion der Etablierung von Wahrnehmungsstrukturen ist. Der Fall Goldscheid ist beides: Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte und der Religionsgeschichte, verstanden als Disziplin, die sich mit den Weltbildern und -anschauungen historischer Akteure sowie deren Umsetzung in konkretes Handeln beschäftigt.12 Diese Kopplung spiegelt sich auch im historischen Material: In seinen Schriften interagieren die beiden Segmente – der Soziologe fordert politisches Gehör, der Politiker fordert wissenschaftliche Expertise. Diese Verbindung zweier Arbeitsfelder erregte bereits unter den Zeitgenossen vielfach Kritik, da Goldscheid programmatisch und exemplarisch zwei Subdiskurse verknüpfte, die sich bereits um 1900 in einem Prozess befanden, in welchem sie sich zu professionalisieren und als autonome gesellschaftliche Teilsysteme von anderen Teilbereichen (z. B. voneinander oder von religiösen Deutungszugriffen) abzugrenzen begannen. Das spezifisch politisch Imaginäre entsteht in diesem Fall erst durch seine forcierte Verknüpfung mit dem Wissenschaftlichen. Gleichzeitig blieb die Teilhabe an den Feldern in beiden Fällen partiell. Dass die umfängliche Integration in die akademische Welt ausblieb, ist sicherlich auch mit seinen Lebensumständen zu erklären – es bestand schlicht nicht die Notwendigkeit, sich um akademische Bildungstitel und Anstellung zu bemühen; die Mittel zum Lebensunterhalt waren vorhanden und Goldscheid schätzte offenbar auch die Optionen des Privatgelehrten, sich frei mit Kollegen und Denkern zu assoziieren oder an wissenschaftlichen und politischen Tagungen teilzunehmen.13 Schwieriger ist Goldscheids Nicht-Karriere im politischen Sektor zu deuten: Obwohl er über Jahrzehnte hinweg am sozialdemokratischen Parteileben partizipierte und letztlich auch Parteimitglied der sozialdemokratischen Partei Österreichs (SDAP) wurde, übernahm er nur für eine kurze Episode ein politisches Amt – so wurde er 1918/19 Mitglied des Wiener Arbeiterrates, gab das Amt aber bereits wenig später wieder
11 Gieryn (1999): Boundaries; Prietl / Ziegler (2017): Machtvolle Grenzen. 12 Die Geschichte politischer Ideen mag hier als dritte interessierte Disziplin hinzutreten. 13 Eine allzu große Nähe zur Sozialdemokratie erschwerte oder verunmöglichte nicht nur eine Akademikerkarriere. Zu den bekanntesten Fällen gehören Ludo Moritz Hartmann, Ferdinand Tönnies und Robert Michels.
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auf.14 Trotzdem galt und gilt Goldscheid als „eine bedeutende Persönlichkeit des Roten Wien“.15 Dabei speiste sich sein Prestige und seine Legitimation weniger aus seiner konkreten amtlichen oder politischen Bedeutung – vielmehr wirkte er als intellektueller Stichwortgeber. Und dazu trug eben maßgeblich seine sozialwissenschaftliche (menschenökonomische und finanzsoziologische) Publizistik und Vortragsarbeit und seine sozialreformerische Arbeit im linksbürgerlichen, spätaufklärerischen Milieu bei. Das offensive Changieren zwischen zwei Bezugssystemen bzw. deren proaktive Verbindung, die sich empirisch als zweifelhafte Nicht-Zugehörigkeit zu beiden Kategorien äußert, macht den Fall Goldscheid interessant: Als politischer Geist und Reformer betrieb er den sozialen Wandel, den er als Soziologe beschrieb. Hier von einer dichotomen oder ambivalenten Zuordnung zu den Metakategorien Wissenschaft und Politik zu sprechen, wird allerdings dem Selbstverständnis von Goldscheid nicht gerecht: Denn genau die in den Begriffen ausgedrückte Zwei- oder Mehrteiligkeit, die qualitative Differenz zwischen Politik, Wissenschaft und Sozialreform, negiert die Praxis Goldscheids, der sich in seiner eigenen Wahrnehmung innerhalb eines einzigen konsistenten Felds bewegte. Die Sphärentrennung von Wissenschaft und Politik (und Sozialreform), wie sie sich in der Hochmoderne verfestigt und als Zeichen der gesellschaftlichen Differenzierung, Spezialisierung und Professionalisierung zu einem zentralen Strukturmuster der Akteure in beiden Sphären wird, stellt für Denker wie Goldscheid eine falsche Entwicklung dar, die es zu korrigieren gilt – etwa durch eine diskursive Reintegration: In den einzelnen Wissenschaften wie in der Wissenschaft im ganzen sucht man heute die lückenlose Kontrolle der Vernunft auszuschalten, in immer neuen Formen und mit immer neuen Mitteln; in der Biologie (Entwicklungslehre) wie in der Psychologie, Soziologie, Ökonomie und Philosophie, ja teilweise sogar in der Physik, und ganz besonders in der Geschichtswissenschaft. Wechselseitige Korregulation von Natur- und Geistes- resp. Sozialwissenschaft wird zu unterbinden gesucht, um keine volle Übereinstimmung zwischen Theorie und Praxis zustande kommen zu lassen, keine exakte Anwendung der Wissenschaft auf die Realität, das Leben. Der Anpassung der Denkmittel an die Denkzwecke wird systematisch entgegengearbeitet durch die geistigen und physischen Machtmittel von Kirche (‚Übervernunft‘) und Hochschule (‚Objektivität‘), Heer und sonstigen Gewaltorganisationen; mit religiösen und militärischen Übungen, mit formalistisch-scholastischem Drill, mit Antiempirismus, Irrationalismus, Absolutismus u. dgl.16
Hier stoßen deutlich zwei Deutungsansprüche aufeinander, die sowohl Inhalte und Methoden als auch die Belange und Zwecke einer sich formierenden wissenschaft-
14 Fritz (2007): Goldscheid, S. 70. 15 Exner (2008): Briefwechsel, S. 134. Hervorh. im Original. Bereits 1981 meinte Michael Hubenstorf: „Auf die Gesundheitspolitik der Gemeinde Wien blieben auch die Bestrebungen der sogenannten ‚Menschenökonomie‘ nicht ohne Einfluss. […] Der praktischen Umsetzung der Ziele der Menschenökonomie diente in Wien der Verein Die Bereitschaft […] [und] dessen Zeitschrift für Menschenökonomie, Wohlfahrtspflege und soziale Technik“. Ders. (1981): Sozialmedizin, S. 253f. 16 Goldscheid (1932): Aufruf.
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lichen Disziplin verschieden gewichten. Goldscheids Verschwinden aus dem soziologischen Diskurs zeigt deutlich, welche Deutung sich im Zuge der akademischen Institutionalisierung der Soziologie durchsetze.17 Ferdinand Tönnies bemerkte dazu an der bereits erwähnten Stelle: „Man wird Goldscheid, seinen Vorzügen nach, wie in deren Mängeln richtig charakterisieren, wenn man darauf hinweist, dass er mehr gewollt hat, als ein Mensch vermag, er strebte danach den Theoretiker und Praktiker, den Denker und Reformpolitiker in seiner Person zu vereinigen“.18 3. DER BIOGRAFISCHE UMBRUCH 1919 UND VERÄNDERUNGEN LEBENSWELTLICHER PRAXIS Wie bei vielen Zeitgenossen lassen sich auch im Lebenslauf Rudolf Goldscheids deutliche Differenzen zwischen seinen Vorkriegsaktivitäten und seinem Nachkriegsleben feststellen. Und ebenso typisch sind diese Brüche nicht zwangsläufig Gegenstand der biografischen Arbeit des Subjekts; ganz im Sinne der biografischen Illusion (Bourdieu) lassen sich in den autobiografisch anschlussfähigen Bemerkungen Goldscheids wenig Hinweise darauf finden, dass er das Geschehen individuell als Bruch erlebte – der weltgeschichtlichen Bedeutung der gesellschaftlichen Brüche mag er sich durchaus bewusst gewesen sein, doch die eigene Entwicklung folgt letztlich einer ohnehin vorhandenen Tendenz, dem telos. Dabei ist hier deutlich relativierend zu vermerken, dass das Fehlen autobiografischer oder anderer Egodokumente den Befund hier verzerrt.19 Doch ist aus dem Umfeld Goldscheids mehrfach überliefert, dass diesen die Weltkriegserfahrung eben nicht zur Neuausrichtung führte: Georg Graf von Arco sah Goldscheid von „einer [sein] ganzes Leben und Handeln beherrschenden Grundeinstellung“20 geprägt und mit Rosa Mayreder
17 Dass er in jüngerer Zeit wieder vermehrt Gegenstand akademischen Interesses wurde, mag einerseits am regen Forschungsinteresse zum auslaufenden langen 19. Jahrhundert bzw. zur Zwischenkriegszeit liegen; auch und speziell die Soziologiegeschichte setzt nunmehr auf breitere, kontextuelle oder diskursive Rekonstruktionen der Klassikerzeit denn auf rein personenzentrierte Fokussierungen. Aber besonders für die Finanzsoziologie lässt sich mit Helge Peukert durchaus ein Interessent Goldscheidscher Theoriebildung benennen, der kontinuierlich auf Potentiale und analytische Klarsichten Goldscheids verweist. 18 Tönnies (1998): Goldscheid, S. 313. Dieselbe Spannung charakterisierte in gewisser Weise auch Tönnies selbst, siehe zu ihm den Beitrag von Alexander Wierzock in diesem Band. 19 Einen Beleg für eine bruchhafte Biografisierung liefert dagegen Ferdinand Tönnies, der in seinem Nachruf auf Goldscheid den Ausbruch des Weltkriegs für dessen schwindendes Interesse an der Menschenökonomie verantwortlich macht. Vgl. Tönnies (1998): Goldscheid, S. 311. Allerdings waren Goldscheids Fortsetzungsbände zur „Grundlegung der Sozialbiologie“ 1914 bereits drei bzw. sechs Jahre überfällig (Höherentwicklung und Menschenökonomie erschien 1911, drei Jahre nach den benachbarten Bänden der Philosophisch-Soziologischen Bücherei). Auch finden sich keine Verweise auf existierende Entwürfe oder Teilabdrucke. 20 Arco (1930): Goldscheid, S. 193. Weitere Passagen finden sich in ebendem Sonderheft der Friedens-Warte zu Goldscheids sechzigstem Geburtstag. Vgl. dazu auch Bister (2002): Goldscheid.
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kam es sogar zum zwischenzeitlichen Zerwürfnis in der Frage der Beurteilung der Kriegsereignisse hinsichtlich der ethischen Folgen: „Goldscheid glaubt an sein demokratisches Credo so fest wie nur ein Gläubiger an seine Heilsbotschaft.“21 Dabei lassen sich im diachronen Vergleich deutliche Veränderungen im Leben Goldscheids aufzeigen: So wandelte sich sein publizistisches Profil sowohl inhaltlich als auch strukturell. Vor 1914 entstanden umfangreiche Monografien, deren Duktus deutlich philosophisch oder sozialwissenschaftlich ist. Dieses Oeuvre demonstrierende Artikel erschienen in mehreren philosophischen und sozialwissenschaftlichen Fachzeitschriften. Der zutage tretende Habitus ist ganz bildungsbürgerlich: Orientiert an den Ergebnissen der eigenen Autorenschaft, bemisst sich Erfolg an der Lektüre und Rezeption durch andere Bildungsträger, wobei die Wertschätzung durch die höchsten Repräsentanten des Bildungskapitals, die Universitätsprofessoren, naturgemäß als besonders prestigereich zu bewerten ist. Goldscheids Aktivitäten bei der Gründung der DGS, seine Aktivitäten im IIS in Paris und seine Bemühungen als Funktionär verschiedener Fachgesellschaften spiegeln sein Interesse um Anbindung an diese spezielle Klientel wider. Die Kriegsjahre verkehren diese Praxis: Die Publizistik Goldscheids nimmt im Umfang ab, nun erscheinen mehrheitlich Broschüren, Vortragsdrucke und Zeitschriftenartikel sowie die Anthologie Grundfragen des Menschenschicksals, die Texte der Vorkriegszeit und der Kriegsjahre versammelt.22 Weiterhin ist eine Verlagerung der Publikationsorte zu verzeichnen: Während Goldscheid vor 1914 Artikel vor allem in wissenschaftlichen oder akademischen Zeitschriften unterbringen konnte, veröffentlichte er nach 1919 fast nur noch in politischen und reformerischen Zeitschriften. Der Wechsel vollzog sich allerdings nicht nur auf der publizistischen Bühne, sondern auch habituell:23 Trotz aller Sympathie und des Fehlens beruflicher Gründe für Zurückhaltung beließ Goldscheid es vor 1919 eben bei der sympathisierenden Nähe zur Partei, um sich gleich in der ersten Revolutionseuphorie als Mitglied des Arbeiterrats zu engagieren und eine Reise nach Ungarn zu unternehmen und das dort installierte Rätesystem genauer zu studieren. Doch verflog die anfängliche Euphorie gegenüber den Räten schnell: Aus dem Arbeiterrat zog er sich noch 1919 zurück und die Ungarnreise blieb trotz guter Kontakte letztlich eine Studienreise ohne praktischen Nutzen. Hernach konzentrierte sich Goldscheids Wirken wieder auf Felder fernab institutioneller Rahmen (und Zwänge), es zeigte dabei aber eine exzellente Vernetzung und damit auch Einflussmöglichkeiten auf die Politik des Roten Wiens; dazu taugten nicht nur seine persönlichen Kontakte zu sozialdemokratischen Funktionären auf der lokalen wie auch nationalen Ebene, sondern auch seine Tätigkeit als Präsident der Wiener Soziologischen Gesellschaft, mit der er durch Themensetzung und Referentenauswahl durchaus Gestaltungsmöglichkeiten hinsichtlich des politischen Diskurses hatte und diese auch nutzte. Als exzeptionelle 21 Mayreder (1988): Tagebücher, S. 148–152. 22 Die wenigen umfänglicheren nach 1919 entstandenen Arbeiten sind: Goldscheid (1928): Steuerverwendung, u. ders. (1926): Staat. 23 Vgl. Fritz (2007): Goldscheid.
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Gelegenheit hierfür kann, wie bereits erwähnt, die Ausrichtung des Deutschen Soziologentages 1926 in Wien gelten, auf dem neben den akademischen Größen der jungen Disziplin auch führende Vertreter der Republik Österreich und der Stadt Wien referierten. Die Menschenökonomie kann als Allgemeinplatz des politischen Diskurses der Zwischenkriegszeit in Wien gelten – nicht konkret umgesetzt, aber als Terminus und Programm durchaus bekannt und als Anspruch geteilt. Eine einfache Unterscheidung in Vorkriegssalonsozialismus und Nachkriegsaktionismus ist dabei nicht zu treffen; vielmehr appropriierte Goldscheid kontinuierlich neue Tätigkeitsfelder bzw. Publika – auch nach strategischen Aspekten, denn die Einführung und praktische Umsetzung seiner Theorien können als zentrales Ziel seines Wirkens gelten. Insofern spiegeln sich in den wechselnden Adressaten seiner Publikationen vor allem die von Goldscheid identifizierten Zentren gesellschaftlichen Wandels: beginnend mit dem feingeistigen Leser seiner sozialkritischen Romane und den akademischen Philosophen über den reforminteressierten Bürger bis zum Politiker mit konkreten Handlungsmöglichkeiten. Als alle Aktivitäten inkludierender Leitstern fungierte dabei die (einheits)wissenschaftliche Weltanschauung, die sich durch sein Engagement im Monistenbund auch als szientistisch gewonnene Handlungsmaxime umsetzte. Dies führt in ein anderes Aktivitätszentrum Goldscheids: das wissenschaftliche bzw. wissenschaftsorganisatorische. Er war engagiert im Bemühen um die Verbreitung der Soziologie im öffentlichen Bewusstsein und ihrer Installation als akademische Disziplin. Dazu initiierte er sowohl die Gründung einer Soziologischen Gesellschaft in Wien als auch die der DGS. Dabei schrieb er beiden Plattformen mehreren Funktionen zu: – – –
als Organisator öffentlicher Vorträge zur Popularisierung der soziologischen Methode (Ortsverein) als Vernetzungspunkt lokaler, regionaler und nationaler interessierter Gelehrter (Fachverband) als Ansprechpartner für nicht-soziologische Akteure mit spezifischem Interesse (z. B. Politikberatung).
Die Etablierung der akademischen Soziologie folgte also nicht nur wissenschaftspolitischen, sondern vielmehr auch gesellschaftspolitischen Zielen. Soziologie heißt im Duktus Goldscheids vor allem Sozialtechnologie. Das verweist unmittelbar zurück in den politischen Kontext. Diese spezifische Ausrichtung wurde nach 1914 im deutschsprachigen Diskurs zwar zunehmend marginalisiert, doch erzielte Goldscheid damit wie erwähnt auch Erfolge – angefangen bei seiner Vernetzung mit den französischsprachigen Soziologen des IIS bis zu seiner unbestrittenen Expertise als Soziologe in verschiedenen Reformnetzwerken, von denen noch die Rede sein wird. Allerdings war in beiden Kreisen die Werturteilsfreiheitsdebatte der
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deutschen Nationalökonomen irrelevant oder wurde im Sinne der Wertpositivität wissenschaftlichen Arbeitens beantwortet.24 Die Positionierung der Biologie als Leitwissenschaft ist ein weiterer, relevanter Punkt mit Blick auf Goldscheids wissenschaftliche Positionierung, speziell durch seinen Anspruch, die Soziologie aus der Biologie heraus zu fundieren und damit zu legitimieren. Die Strategie, die Gesellschaft als biologische Größe und damit soziale Phänomene als aus biologischen Grundlagen erwachsend zu betrachten, hat letztlich eine außerwissenschaftliche, weltanschaulich rechtfertigende Funktion: Soziales Handeln wird dadurch als menschlich „artspezifisches“ Handeln naturalisiert und damit letztbegründet. Das führt neben der wissenschaftspolitischen Legitimation soziologischen Arbeitens auf ein ganz anderes Diskursfeld, das für das wissenschaftliche wie politische Wirken Goldscheids zentral war, nämlich die Frage der Übertragung der Evolutionstheorie Darwins auf die menschliche Gesellschaft. Heinz Mürmel hat darauf hingewiesen, dass die frühe Soziologiegeschichte gerade mit Blick auf politisch eher im sozialdemokratisch-sozialistischen Spektrum zu verortende Denker maßgeblich als Gegengeschichte zu Anthroposoziologen wie Georges Vacher de Lapouge, Otto Ammon oder Alfred Ploetz zu lesen ist.25 Auch Goldscheids Soziallamarckismus kann als Gegenprogramm zu den anthroposoziologischen Theorien, die um 1900 sozialdarwinistische Theoreme salonfähig machten, gelesen werden – im Effekt changierend zwischen dem Aufzeigen der theoretischen Unzulänglichkeit und der weiteren Verbreitung des einschlägigen Vokabulars. Gleichzeitig findet sich mit der Menschenökonomie und dem ihr zugrundeliegenden Soziallamarckismus eine spezifisch positivistische Art der Wissenschaft umgesetzt. Goldscheid argumentiert gegen die Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften und formuliert als Ziel der Soziologie die Formulierung nomothetischer, naturgesetzlicher Theoreme über Entstehen, Funktionieren und eben auch Fehlfunktionieren menschlicher Vergesellschaftung. Mit dieser Position gesellt er sich zu einer Reihe von Wissenschaftlern, die um 1900 die als solche empfundene Zersplitterung der akademischen Praxis reintegrieren wollten.26 Und wie bei vielen dieser Gelehrten auch, bildet die Annahme der einheitswissenschaftlich beschreibbaren Welt die Brücke zum persönlichen sozialreformerischen Engagement – ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier Wilhelm Ostwald, Franz Oppenheimer, Ferdinand Tönnies oder Hans Freyer genannt, die in teilweise sehr verschiedenen Gesellschaften dieses Engagement umsetzten.
24 Zur wissenschaftstheoretisch diversen Zusammensetzung des IIS vgl. Neef (2017): Internationalität. Zur Programmatik vgl. Stoeckel (2017): Worms. Zur politischen Erwartungshaltung besonders des Orientalisten und preußischen Unterstaatssekretärs im Kultusministerium C.H. Becker vgl. Müller (1991): Bildung, S. 338–351. 25 Zu „arischen“ Lebenskonzepten vgl. Mürmel (2014): Religion. Die Deutung gerade der Schriften der Durkheim-Schule als Entgegnung auf Lapouges Arier-Theorien entnehme ich vor allem persönlichen Gesprächen mit Herrn Mürmel. 26 Vgl. Chickering (1997): Positivisten-Kränzchen.
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Die Möglichkeiten, dieses Engagement zu erfassen, sind vielfältig; pragmatisch sei an dieser Stelle lediglich auf drei Dimensionen zurückgegriffen, um verschiedene Grade der Involviertheit und Verpflichtung einerseits sowie Diskursmacht und Einflussmöglichkeiten andererseits zu erfassen – nämlich passive Rezeption, diskursive Partizipation und aktive Gestaltung.27 Auf der praktischen Ebene lassen sich der ersten Dimension passive Praktiken zuordnen, etwa das Abonnement oder die regelmäßige Lektüre bestimmter Zeitschriften, wobei ersteres schwer und letzteres nur indirekt über diverse Hinweise zu rekonstruieren ist. Eine weitere, vorerst passive Praxis ist die Teilnahme an Kongressen. Im Falle Goldscheids lässt sich aus Bemerkungen in seinen Artikeln, seiner nur sporadisch erhaltenen Korrespondenz und Kongressberichten in verschiedenen Journalen eine über Jahrzehnte hinweg konstante, durchaus rege Teilnahme an allerhand Versammlungen verschiedenster Natur rekonstruieren: diese umfassten Parteitage der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Friedens- und Frauenrechtskongresse, Mutterschutzkonferenzen, Monisten- und Soziologentage sowie internationale Fachtagungen. Dabei besuchte er viele dieser Tagungen als Hörer, brachte sich aber auch als Referent oder Diskutant aktiv ein und propagierte damit seine Ideenangebote in beiden Foren – den wissenschaftlichen wie auch den politisch-reformerischen. Auf der gleichen Ebene aktiver Diskurspartizipation ist die Publizistik anzusetzen; es wurde bereits auf das zunehmende Engagement in reformerischen Zeitschriften hingewiesen. So gab Goldscheid jeweils für einige Jahre die Annalen der Natur- und Kulturphilosophie (zusammen mit Wilhelm Ostwald, 1913–1917) und die Friedens-Warte (nach dem Tod Alfred Hermann Frieds, 1922–1925) heraus und publizierte dort auch regelmäßig. Weiterhin erschienen seine Artikel im Monistischen Jahrhundert, der ungarischen Huszadik Század (Das 20. Jahrhundert), im sozialdemokratischen Der Kampf, in Helene Stöckers Neue Generation, in Die Menschenrechte, der (rassenbiologisch positionierten) Politisch-Anthropologischen Revue und in Sammelbänden sowie Broschüren einschlägiger Verlage. Die Bandbreite der Publikationsorgane zeigt gleichzeitig die inhaltliche Diversität des jeweils anvisierten zu reformierenden Objekts an, in dessen Bearbeitung Goldscheid sich wortwörtlich einschrieb – die Spannbreite reicht von Kindern, Frauen, unverheirateten Müttern und Arbeitern bis hin zum Staat, dem Volk oder gar der Kulturmenschheit.28 Im Publikationsverlauf dokumentiert sich zudem die Entwicklung des politischen Fokus: Im sozialdemokratischen Milieu gehörte Goldscheid zum revisionis27 Vgl. dazu auch Neef (2012): Entstehung der Soziologie. 28 Dabei offenbart sich ein zeitgenössisch gänzlich unzugängliches Muster: Sozialreform bedeutet nämlich nach 1900 immer eine passive Verhandlung bzw. eine vertikale Vermittlung des jeweiligen Objekts. Soll heißen: Die Sozialreform bestand fast ausschließlich aus nicht-betroffenen Akteuren. Es wurde nur über Kinder, gefallene Mädchen, Frauen und Arbeiter und deren Bedürfnisse und Zwänge gesprochen – eine eigene Sprecherposition erhielten sie zumeist nicht, weil sie ganz einfach nicht als ausreichend sprechfähig angesehen wurden. Sie benötigten die agency engagierter, sympathetischer und vor allem sprachfähiger Vertreter. Diese sich fremde Ungerechtigkeit aneignende Praxis wurde nicht problematisiert.
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tischen Flügel, der den Sozialismus vorrangig durch sozialstaatliche Reformen erreichen wollte. Zwar gehörte er während seiner Arbeiterratsepisode der Neuen Linken an, die eine Kooperation mit bürgerlichen Kräften ablehnte, doch zeigen gerade auch die Schriften dieser Zeit sein Interesse an einem möglichst gleitenden, „vernünftigen“ Staatsumbau ohne radikale oder gar gewalttätige Auswüchse.29 In Sozialisierung der Wirtschaft oder Staatsbankerott (1919) spricht er sogar offen die besitzende Klasse an: Ihnen müsse an der geordneten Sanierung des Staatshaushaltes liegen, denn ein ungeordneter (d. h. revolutionärer) Umbau treffe sie sicher härter. Oberstes Ziele sind ihm die Entschuldung des Staats und die Wiederherstellung seiner Handlungsfähigkeit – er zeigt sich damit nicht als Revolutionär, sondern als Reformer zum Sozialismus.30 Dabei rahmt er sein Handeln ganz und gar im Bezugskontext der Soziologie, es szientistisch geradezu heilsgeschichtlich als Reinigungs- und Besinnungsakt deutend und einbettend: Zur Vernunft zurückzufinden, das ist die große Aufgabe unserer Zeit. Der Mensch hat den Glauben an sich verloren, weil er der Vernunft nicht mehr vertraut, weil er die Hoffnung aufgegeben hat, dass die Vernunft sich in der Welt durchzusetzen vermag. Und doch – so sehr der Krieg uns zurückgeworfen hat, hat er uns letzten Endes nicht wieder auf die Vernunft zurückgeworfen?31
Diese Orientierung an sozialdemokratischen Reformvorstellungen verweisen zunächst zurück in die Vorkriegszeit: Die genannten Zeitschriften und die damit verbundenen Gesellschaften und Bewegungen,32 an denen Goldscheid partizipierte, lassen sich weitgehend einem relativ gebildeten, bürgerlichen, politisch progressiven Spektrum zuordnen, das es in seinen Augen zu agitieren galt. Die Sozialdemokratie war dabei nur ein Gesprächspartner neben anderen. Nach 1919 richtete er sich zunehmend an nicht-bürgerliche Kreise mit seiner sozialpolitisch fokussierten Soziologie, scheiterte jedoch, da die Menschenökonomie kein Teil des sozialdemokratischen bzw. später des sozialistischen Theorienkanons wurde.
29 Goldscheid (1917): Staatssozialismus; Ders. (1919): Sozialisierung. 30 Ders. (1919): Sozialisierung, S. 20. Die Vermögensabgabe und wirtschaftliche Sozialisierung ist für Goldscheid ein „Entwirrungsplan“ (ebd.), der vor allem die Verwicklungen des Krieges beseitigt und dabei gleichsam als Nebenprodukt die Unzulänglichkeiten des kapitalistischen Systems überwindet. Vgl. auch ders. (1919): Naturalabgabe, wo Goldscheid sich gegen Kritik Helene Bauers verteidigt und nochmals deutlich macht, dass die Vermeidung des Staatsbankrotts ihm das zentrale Ziel bedeutet, was gleichbedeutend sei mit der Schonung der kleinen und mittleren Vermögen (den maßgeblichen Gläubigern der Kriegsanleihen). 31 Ders. (1919): Ehrgefühl, S. 217. 32 Zu nennen sind hier der Deutsche und der Österreichische Monistenbund, der Wiener Sozialwissenschaftliche Bildungsverein, der Verein für Schulreform, der Bund für Mutterschutz, die Reformfreimaurerei und die Friedensgesellschaft. Während des Krieges und nach 1919 traten zudem der Bund Neues Vaterland und die daraus hervorgegangene Deutsche bzw. Österreichische Liga für Menschenrechte sowie die Weltliga für Sexualreform hinzu.
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4. MENSCHENÖKONOMIE Aus den bisherigen Äußerungen schien bereits die Stoßrichtung dieser „Grundlegung der Sozialbiologie“, so der Untertitel von Höherentwicklung und Menschenökonomie (1911), oder in eigenen Worten: Die Menschenökonomie ist somit die Lehre vom organischen Kapital, von jenem Teil des nationalen Besitzes also, den die Bevölkerung selber darstellt, von den organischen Produktivkräften, von dem wichtigsten Naturschatz, über den ein Land verfügt. [...] [Sie] muss sich darum aufbauen auf einer naturwissenschaftlich fundierten, soziologisch exakten Analyse der Bedürfnisse, die die gesellschaftlich notwendigen Bedürfnisse, […] die Entwicklungserfordernisse sind, klar herausarbeitet, [...] sie fragt vor allem: wie sind die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen beschaffen, unter denen der Mensch in unseren Tagen erzeugt und weiterverarbeitet wird? 33
Denselben Gedanken formuliert Goldscheid 1924 noch pointierter: Ist doch die Menschenökonomie im Gegensatz zur Warenökonomie […] die Lehre vom organischen Kapital, die deshalb vor allem den Aufbau, Umsatz und Zerfall des Menschenmaterials untersucht, die danach fragt, mit welchen Kosten von Menschenleben, menschlicher Gesundheit und menschlichem Glück wir unsere kulturellen Errungenschaften bezahlen […]. Die Menschenökonomie bleibt nicht stehen bei der Ökonomie der Arbeit, sie vertieft sich vielmehr in die Ökonomie des Arbeiters, sie fragt nach dem ganzen Menschen, der hinter der Arbeitskraft steckt, [...] sie zeigt die innigsten Wechselbeziehungen auf, die zwischen Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit bestehen […].34
Die Menschenökonomie setzt Sozialpolitik und Arbeitskraft in ein Kosten-NutzenVerhältnis, allerdings nicht mit dem kapitalistischen Impetus der Nutzenoptimierung, sondern mit dem ethischen Impetus der Kostenlegitimierung. Denn Kostenträger wie Nutzenempfänger gleichermaßen ist nicht der ökonomische Unternehmer, sondern sind Gesellschaft und Individuum. Das Investitionsprogramm, das die „Lehre vom organischen Kapital“ darstellt, ist letztlich die Rechtfertigung einer flächendeckenden sozialpolitischen Versorgung – von Familienunterstützung, Bildungs- und Erziehungsreform, Fürsorge, Kranken- und Altenpflege bis hin zur Rente. Gleichzeitig verbindet sich die Menschenökonomie mit einem pazifistischen Impetus: Kriege erscheinen als Handlungsoptionen, solange Menschen als „ein im Überfluss vorhandenes Gut“ erscheinen.35 Der Soziologe Christian Fleck meint hierzu, die, „meist missverstanden, [sic!] rezipierte Menschenökonomie ist eine in der Sprache der Ökonomen geschriebenes Plädoyer für präventive Sozialpolitik, die vom Schutz der Schwachen zum Schutz vor Schwächung weiterentwickelt werden müsste“.36 33 34 35 36
Goldscheid (1911): Höherentwicklung, S. 488f. Hervorh. im Original. Ders. (1924): Geburtenregelung, S. 315. Ders. (1908): Entwicklungswerttheorie, S. IX. Fleck (1990): Rund um Marienthal, S. 53. Ähnlich analysiert Hubenstorf: Die Menschenökonomie „versucht Forderungen der Arbeiter- und der Frauenbewegung durch eine Systematik biologischer, medizinischer und ökonomischer Argumente als gerechtfertigt zu erweisen, ganz im Gegensatz zu Bestrebungen, durch ein biologistisch definiertes Allgemeinwohl Herrschaft über Unterschichten und Frauen gerade zu rechtfertigen.“ Hubenstorf (1981): Sozialmedizin, S. 253.
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5. DER NEUE MENSCH UND DIE MENSCHENÖKONOMIE Die Kritik an der kapitalistischen und militaristischen Verschleißgesellschaft fundiert Goldscheid mit einer Kritik am Malthusianismus und dem sich formierenden Sozialdarwinismus. Und hier manifestiert sich nun der Neue Mensch, der dann gar nicht neu ist. Er ist lediglich besser ausgebildet und nicht so stark durch gesellschaftliche Zwänge verkrüppelt wie der alte Mensch. Was beide grundlegend unterscheidet, ist der jeweilige ihnen zugemessene Wert. Im Gegensatz zum kapitalistischen Unternehmer, den nach Goldscheid am Arbeiter nur der durch ihn geschaffene Mehrwert interessiere, betrachtete die Menschenökonomie den Arbeiter ganzheitlich: sowohl als arbeitenden Wertschöpfer als auch als gesellschaftliche Investitionsmasse, als Potenzial ökonomischer oder sozialer Entwicklung. Sozialausgaben – Anschubfinanzierungen wie Schulunterhalt und Folgekosten wie Renten gleichermaßen – werden so als Investitionen eingepreist und damit ökonomisch legitimiert. Gleichzeitig erklärt diese Perspektive den Menschen in viel stärkerem Maße zu einem Objekt gesellschaftlicher Planung. Das lässt durchaus an Bildungs- und Aufstiegsstrategien denken, gleichzeitig klingen aber auch zeitgenössisch utopische technologische Ideen von Familienplanung und -politik mit an. In der Folge einer solchen Sozialtechnologie wäre der Mensch kein „im Überflusse vorhandenes Gut“ mehr,37 sondern erhielte als Individuum einen Wert an sich – und dies mit jeder Bildungsinvestition umso sicherer. Dieser ökonomische Paradigmenwechsel begründet sich in einer Strategie der Warenverknappung und korreliert mit dem biologischen Paradigmenwechsel von Malthusianismus bzw. Sozialdarwinismus hin zum Soziallamarckismus im Sinne der linksbürgerlichen Sozialreformer: Das darwinistische Prinzip survival of the fittest bedeute eben nicht das Überleben des Stärkeren, sondern das des am besten Angepassten – und diese Anpassung dürfe eben auch durch sozialreformerische Eingriffe begleitet sein. Folgerichtig werden sozialpolitische Maßnahmen nicht als Schwächung der individuellen oder kollektiven Überlebenskraft angesehen, sondern als legitimes Mittel zu ihrer Steigerung.38 6. EINE NAHE ZUKUNFT OHNE NEUEN MENSCHEN ODER: REFORM STATT REVOLUTION Die Frage nach dem Neuen Menschen im Oeuvre des Wiener Privatgelehrten und Soziologen Rudolf Goldscheid ergibt eine frappante Fehlstelle. Dabei zeigt sich dieses Schweigen nicht als zufällige Lakune. Vielmehr ist es als konsequente Umsetzung einer alternativen Programmatik zu deuten, welche die Revolution zwar begrüßte und gar ersehnte, darin aber weniger eine qualitative Umwälzung aller 37 Goldscheid (1916): Frauenfrage, S. 10. 38 Diese Wendung erklärt auch, warum die Würdigung Darwins in soziallamarckistischen Kreisen durchaus hoch war – die Kritik richtete sich gegen die so identifizierte Verkürzung oder Fehlinterpretation.
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Dinge als vielmehr eine Transformation, eine Evolution sah. Mitten im Krieg – auch dies ein Beleg seines ungebrochenen Optimismus – sah Goldscheid noch die neue Zeit dämmern: Wie das 19. Jahrhundert das Jahrhundert der Technik war, so wird das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der verinnerlichten Technik, und damit der Organik und der Psychotechnik sein, war für jenes die Natur, so wird für dieses das Leben der Ausgangspunkt sein. Auf die Naturbeherrschung wird so die Lebensbeherrschung folgen.39
Der Blick auf Goldscheid zeigt damit auch, dass die Erwartung des Neuen Menschen um 1919 nicht zwangsläufig einen eschatologischen Charakter annehmen musste, der sich auf die revolutionäre Umwälzung gesellschaftlicher Verhältnisse oder der grundlegenden Umwandlung des Menschen gründete. Dabei ist „eschatologisch“ hier wörtlich gedacht: Denn der Weltkrieg wurde als das Ende des ‚alten Menschen‘ gedeutet – sei dies nun apokalyptisch gerahmt wie in der klassischen Semantik des aus der neutestamentlichen Exegese entwickelten Begriffs oder sei es ‚modern‘ transformiert in einem biologischen (bzw. vielmehr biologistischen) Bezugssystem, das Paul Kammerers homo sapientissimus vergegenwärtigt, der die Genese des Neuen Menschen als evolutiven Schritt und ihn selbst damit als neue Subspezies des Menschen beschrieb.40 In beiden Fällen aber ist die Hoffnung auf den Neuen Menschen mit dem Gedanken der Ablösung des Alten verbunden: Sowohl die christliche Apokalyptik als auch die Utopie Kammerers verstehen beide als grundsätzlich voneinander geschiedene, gänzlich differente Entitäten oder Kategorien. Die Negation des Hiatus zwischen Neuem und altem Menschen verortet den Soziallamarckismus eben nicht automatisch im utopischen Diskurs des Neuen Menschen. Sie ermöglicht es seinen Protagonisten vielmehr, sich in einem (strukturell ähnlichen, weil utopischen) Paralleldiskurs zu festigen, den weniger die Hoffnung auf eine revolutionäre Umwälzung aller Dinge fundiert als die Annahme eines graduellen adaptiven Wandels menschlicher Sozialformen und damit auch Seinsformen. Oder ganz pointiert: Goldscheid war – gemessen an seinen Zeitgenossen – gar nicht auf der Suche nach dem Neuen Menschen. Die revolutionäre Idee des Neuen trifft den ihn maßgeblich prägenden sozialreformerischen und soziologischen Impetus überhaupt nicht, dem es weniger um die Schaffung eines neuen Menschen gehen kann, als vielmehr um die Formulierung und Ausgestaltung besserer Lebensbedingungen. Dabei ist es eine andere Frage, ob es unter veränderten Bedingungen und Lebensformen auch zu einer Veränderung des Menschen selbst kommen würde. Aber für Goldscheid war diese Frage letztlich nachrangig, weil gar nicht mehr Teil seines politisch-soziologischen Programms.
39 Goldscheid (1916): Frauenfrage, S. 14. Hervorh. im Original. 40 Vgl. dazu den Beitrag von Christoffer Leber in diesem Band.
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HOMO SAPIENTISSIMUS Der Neue Mensch im populärwissenschaftlichen Werk Paul Kammerers (1918/19) Christoffer Leber 1. EINLEITUNG: PAUL KAMMERER ALS POLITISCHER WISSENSCHAFTLER Seine Forschungen zur Vererbung erworbener Eigenschaften machten Paul Kammerer (1880–1926) in den 1920er Jahren zum Enfant terrible der zeitgenössischen Biologie. Von den einen als Hauptverfechter des Neolamarckismus gerühmt, warfen ihm andere Wissenschaftsbetrug vor.1 Nicht zuletzt aufgrund seiner außergewöhnlichen – und tragischen – Biografie avancierte Kammerer zum beliebten Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte und Literatur.2 Eine Konstante in Kammerers Leben und Werk bildete die Verbindung von Wissenschaft und Politik: Im Jahr 1919, wenige Monate nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, veröffentlichte der Wiener Biologe einen Aufsatzband mit dem programmatischen Titel Menschheitswende. Wanderungen im Grenzgebiet von Politik und Wissenschaft.3 Erschüttert von den Erfahrungen des Krieges verstand Kammerer seinen Sammelband als „Streitschrift“ für den „großen Menschheitsfrieden“.4 Seine entschiedene Parteinahme für Pazifismus und Sozialismus entspreche keiner zeitgenössischen Mode,
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Paul Kammerer wurde am 17. August 1880 in Wien als Sohn eines Fabrikbesitzers geboren. Nachdem Kammerer 1904 an der Universität Wien in Biologie promoviert worden war, folgte 1910 seine Habilitation in Zoologie. Seit 1902 wirkte er als Assistent am Wiener Prater Vivarium, einer biologischen Versuchsanstalt, die von Hans Przibram erworben und als außeruniversitäre Forschungsanstalt ausgebaut worden war. Das Prater Vivarium bot ihm hervorragende Voraussetzungen, um Langzeitversuche an Amphibien durchzuführen. Nach Jahren einer ausbleibenden Professur folgte Kammerer 1926 schließlich einem Ruf nach Moskau an die Kommunistische Akademie der Wissenschaften. Dem scheinbaren Höhepunkt seiner Karriere folgte schon bald der Fall: Im August 1926 warf ihm der Zoologe Gladwyn Kingsley Noble in dem Fachjournal Nature vor, seine Versuchsergebnisse zur Geburtshelferkröte gefälscht zu haben. Zermürbt von der Fälschungskontroverse beging Kammerer am 23. September 1926 in Wien Selbstmord. Zur Biographie Kammerers vgl. Taschwer (2016): Fall Paul Kammerer; Gliboff (2006): Case of Paul Kammerer, S. 525–563; Logan (2013): Hormones, S. 5–7 u. Hirschmüller (1991): Paul Kammerer, S. 26–77. Vgl. den Film „Salamandra“ von Anatoli W. Lunatscharski; Köstler (1972): Midwife Toad; Taschwer (2016): Fall Paul Kammerer u. Rabinowich (2016): Krötenliebe. Kammerer (1919): Menschheitswende. Ebd., S. 8. Hervorh. im Original.
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so Kammerer, sondern resultiere unmittelbar aus dem gesicherten „Tatsachenmaterial“ seiner naturwissenschaftlichen Forschung.5 Denn nicht der gewaltsame Kampf ums Überleben, sondern die gegenseitige Hilfe war für ihn die zentrale Triebfeder der Evolution. Eindeutig gab Kammerer in seinem Vorwort zu erkennen, dass er sich als Grenzgänger zwischen den sich ausdifferenzierenden Systemen der Wissenschaft und der Politik verstand. Da die Biologie die Wissenschaft vom Leben sei, gebe es „keine menschliche Erscheinung, kein Feld menschlicher Betätigung, das hier nicht inbegriffen wäre“, betonte er.6 Dadurch widersprach Kammerer bewusst dem Rollenbild eines politisch und weltanschaulich neutralen Wissenschaftlers, wie es seinerzeit in den Natur- und Sozialwissenschaften zunehmend gefordert wurde.7 Die Auffassung, dass Wissenschaft politisch verpflichtet sein solle, prägte Kammerers professionelles Selbstverständnis vor und besonders nach dem Ersten Weltkrieg. Dies zeigte sich daran, dass Kammerer in der Wiener Volksbildung aktiv war, in zahlreichen Reform- und Arbeitervereinen als Redner wirkte und in sozialistischen Kreisen verkehrte.8 In aufwendigen Schauvorträgen popularisierte er seine Forschungsergebnisse zum Lamarckismus und zur Symbiose. Seine populärwissenschaftlichen Vorträge betrachtete er als Form der Volksaufklärung, die das Laienpublikum bilden, zu kritischem Denken erziehen und ethischem Handeln verhelfen sollte.9 Dabei bekannte sich Kammerer offen zur wissenschaftlichen Weltanschauung (dem Monismus), zum Pazifismus und Sozialismus. Die Synergie von Wissenschaft und Politik war für ihn besonders nach 1918 eine zentrale Forderung der Zeit. So erklärte er: Die Vermengung und gegenseitige Befruchtung von Wissenschaft und Politik kann derjenige befehden, der nur in jener die Domäne der Wahrheit, in dieser aber den Tummelplatz von Lug und Trug erblickt. […] Und findet man in der ‚politischen Wissenschaft‘ den herkömmlichen, üblen Beigeschmack einer nicht voraussetzungslosen Tendenz, dann treibe man eben ‚wissenschaftliche Politik‘: sie ist dringliche Forderung unserer Zeit; ein Novum – freilich nur in ihrem Anspruch auf Erfüllung, die sie heute nachzuholen hat, aber schuldig war seit altersher. 10
Nach dem Trauma des Ersten Weltkriegs wurden in Europa und Russland vielfach Visionen eines Neuen Menschen formuliert, die durch biopolitische Eingriffe herbeigeführt werden sollten.11 Ausgehend von seinen neolamarckistischen Positionen
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Ebd. Ebd., S. 9. Als Beispiel kann die Auseinandersetzung zwischen Rudolf Virchow und Ernst Haeckel 1877 gelten, in der es um die politische und ideologische Vereinnahmung der Evolutionstheorie Darwins ging. Zur Haeckel-Virchow-Kontroverse vgl. Zigman (2000), S. 263–302 u. Daum (1998): 65–71. 8 Zu Kammerers Aktivität im Volksheim Ottakring, vgl. Hofer (2002): Biologen des Prater-Vivariums, S. 149–184. 9 Ebd. 10 Kammerer (1918): Einzeltod, Völkertod, S. 10. 11 Zum Neuen Menschen im frühen Sowjetrussland vgl. Hagemeister (2005): Die Neue Menschheit u. Tetzner (2013): Der kollektive Gott, S. 257–370.
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schlug Kammerer hingegen einen eigenen Weg vor, um eine neue menschliche Spezies zu schaffen: den „Homo Sapientissimus“. Gegenüber den „Rasseaposteln“ seiner Zeit – den Eugenikern, Neo-Darwinisten und Rassehygienikern – verteidigte er die kontinuierliche Verbesserung der äußeren Umwelt- und Lebensbedingungen, um die Höherentwicklung des Menschen zu befördern.12 Kammerers Neuer Mensch, so das Argument, sollte aus einer aktiven Steuerung von außen in Form von wissenschaftlicher Aufklärung, Sozialreform und einem bioethischen Bewusstsein hervorgehen. Anstelle eines passiven Attentismus propagierte er einen zielgerichteten „Aktivismus“ zur Neuschaffung des Menschen.13 So imaginierte Kammerer eine Gesellschaft, die aus einem generationellen Verantwortungsgefühl heraus an dem evolutionären Fortschritt des Menschen arbeitete. Sein Bild vom Neuen Menschen basierte also auf den Prinzipen von Aufklärung, Verantwortung und Reform – und nicht auf eugenischen ‚Zuchtphantasien‘. 2. HÖHERENTWICKLUNG STATT DASEINSKAMPF: MONISTISCHE VERSUS DUALISTISCHE VERERBUNG Kammerers Überzeugung, dass sich aus evolutionsbiologischen Erkenntnissen politische Normen und Maßnahmen ableiten ließen, führte ihn in die Nähe pazifistischer, sozialistischer und monistischer Kreise in Wien.14 Gemeinsam mit dem Privatgelehrten und Soziologen Rudolf Goldscheid (1870–1931), einer der führenden Köpfe der sozialreformerisch geprägten Intellektuellenkreise Wiens, gründete Kammerer 1913 den Österreichischen Monistenbund. Gegenüber dem Einfluss von Religion und Kirche propagierte die Monismusbewegung die Deutungsmacht der rationalen, wissenschaftlichen Weltanschauung. Als Hauptvertreter des „organized secularism“ im Deutschen Kaiserreich strebte der 1906 gegründete Monistenbund danach, den Einfluss von Kirche und konservativen Kräften in der Gesellschaft zurückzudrängen. Stattdessen propagierten Monisten die Naturwissenschaften als Ersatzreligion und erhoben sie zur Grundlage einer säkularen Ethik.15 Gerade in Wien war die Monismusbewegung eng mit sozialistischen Akteuren verwoben; so veröffentlichte der Wiener Monistenbund seine Schriften im sozialistischen „Anzengruber-Verlag Brüder Suschitzky“, der im Arbeiterbezirk „Favoriten“ ansässig war.16 Der Monismus bildete für Kammerer die ideologische Klammer für seine pazifis-
12 Kammerer (1919): Lebensbeherrschung, S. 17. 13 Ebd. 14 So pflegte Kammerer Kontakte zu Julius Tandler, Rudolf Goldscheid und Friedrich Jodl. Zur Verflechtung von Bürgertum, Liberalismus und Wissenschaft in Wien um 1900, vgl. Coen (2006): Age of Uncertainty. 15 Als „organized secularsim“ bezeichnet Todd Weir Vereinigungen um 1900, die eine Weltanschauung auf naturwissenschaftlicher Basis verkündeten und eine antiklerikale Programmatik vertraten; vgl. Weir (2014): Secularism and Religion u. ders. (2012): Monism. 16 Zum Anzengruber Verlag vgl. Lechner (1994): Anzengruber-Verlag.
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tische und sozialistische Überzeugung, da er die alleinige Autorität der Wissenschaft vertrat und diese zur Leitinstanz politischen und gesellschaftlichen Handelns erhob. Kammerer war sich durchaus bewusst, dass sein Engagement für den Monismus und Sozialismus die Aussicht auf eine Wissenschaftskarriere in der konservativ-katholischen Habsburgermonarchie erheblich verringerte.17 So führte er 1918 das jahrelange Ausbleiben einer ersehnten Professur auf sein öffentliches Bekenntnis zum Monismus zurück. Nicht so sehr die Tatsache, dass er populärwissenschaftliche Aufsätze verfasse, sei das Verwerfliche, „sondern die monistische Weltanschauung, worin all meine Worte und Schriften gipfeln“, bemerkte er Ende März 1918 in einem Brief an den Chemiker Wilhelm Ostwald, dem ehemaligen Vorsitzenden des Deutschen Monistenbundes.18 Die entwicklungsbiologischen Positionen Kammerers verbanden die Theorien Jean-Baptiste Lamarcks (1744–1829) mit dem evolutionären Mechanismus der Symbiose.19 Während der Krise des Darwinismus um 1900 erlebte der Lamarckismus eine neue Konjunktur.20 Die Vererbungslehre Lamarcks ging davon aus, dass Organismen Eigenschaften, die sie im Laufe ihres Lebens durch Anpassung an die Umwelt erworben hatten, über den Mechanismus von Gebrauch und Nichtgebrauch an die nächste Generation weitervererben. Die äußeren Umwelteinflüsse hatten demnach unmittelbaren Einfluss auf das Erbmaterial. Sinnbildlich für den Lamarckismus steht das bis heute bekannte Beispiel der Giraffe, deren Hals über Generationen hinweg immer länger wurde, um an die Blätter der Baumkronen zu gelangen. Im Unterschied zum kontingenten Mechanismus der natürlichen Selektion, war Lamarcks Lehre von einem teleologischen Impetus durchzogen: Die Natur folgte Lamarck zufolge einem inneren Drang nach Vervollkommnung.21 Im Wiener Prater Vivarium versuchte Kammerer über mehrjährige Zuchtversuche an Salamandern und der Geburtshelferkröte die Vererbung erworbener Eigenschaften
17 Der Wiener Bürgermeister Karl Lueger (1844–1910), der sein Amt zwischen 1897 und 1910 innehatte, kann als Beispiel für das konservative, reaktionäre und antisemitische Klima im Wien der Jahrhundertwende gelten. Als Gründer der Christlichsozialen Partei verfolgte Lueger eine antiliberale und offen antisemitische Politik. Deshalb war Lueger gerade für deutschnationale und antisemitische Kräfte eine zentrale Identifikationsfigur. 18 Paul Kammerer an Wilhelm Ostwald, Wien, 27.3.1918, ABBAW, NL Ostwald, Nr. 1439. 19 Wenngleich Kammerer in der Forschung wiederholt als Anti-Darwinist und Vorkämpfer des Neolamarckismus eingestuft worden ist, war er darum bemüht, die Vererbung erworbener Eigenschaften mit Darwins und Mendels Ansätzen in Einklang zu bringen. Vgl. hierzu Gliboff (2006): Case of Paul Kammerer, S. 529. 20 Insbesondere wurde der Mechanismus der natürlichen Selektion kritisiert, vgl. Dennert (1903): Sterbelager des Darwinismus. In seiner Studie „The Eclipse of Darwinism“ beschrieb Peter Bowler die Jahre zwischen 1880 und 1920 als Periode, in der alternative Theorien zur natürlichen Selektion aufkamen, vgl. Bowler (1983): The Eclipse of Darwinism. 21 Der Gedanke eines zielgerichteten Vervollkommungstriebes von Organismen wurde um 1900 von der Theorie der ‚Orthogenese‘ aufgegriffen. Dieser zufolge wird die Evolution der Arten von inneren Kräften angetrieben, die in eine bestimmte Richtung zielen; vgl. Kammerer (1918): Einzeltod, Völkertod, S. 35–36; Bowler (2009): Evolution, S. 247–250.
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nachzuweisen.22 Sein zentrales Anliegen war dabei der Beweis der „somatischen Induktion“, die davon ausging, dass neue Umweltreize über Veränderungen in den Körperzellen an das Keimplasma (Sitz des Erbmaterials) weitergeleitet werden würden.23 Seine Parteinahme für den Lamarckismus beinhaltete eine entschieden sozialistische und sozialreformerische Stoßrichtung. So veröffentlichte er 1912 im monistischen Vereinsorgan Das Monistische Jahrhundert einen Artikel über „Monistische und dualistische Vererbungslehre“.24 Während die dualistische Vererbungslehre einen unüberwindbaren Gegensatz zwischen äußerem und inneren Milieu konstatiere, vertrat die monistische Vererbungslehre die untrennbare Einheit von Organismus und Umwelt. Die Lebensbedingungen würden sich direkt in das Erbgut einschreiben, so Kammerer. Hieraus folgerte er bezogen auf die Gesellschaft: „Unsere Kulturarbeit ist nicht vergebens, da wir unsere Ideen und unser Wissen (zwar nicht als fertiges Können, aber als Anlage, als Begabung) auf die nächste Generation vererben.“25 Aus seiner lamarckistischen Position heraus leitete Kammerer (wie auch andere Monisten) konkrete Forderungen zur Sozialreform ab, die vom Sozialismus und Austromarxismus geprägt waren.26 Durch Bildungsreform, Humanisierung von Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen, Wohnhygiene, Ausbau der staatlichen Gesundheitsfürsorge, Frauenemanzipation und Alkoholbekämpfung sollte sich das äußere Milieu der Menschen und letztlich auch das innere verbessern, denn: verbesserte Umweltbedingungen förderten die Ausprägung neuer Merkmale, die an die nächste Generation weitergegeben wurden. „Sind wir Slaven der Vergangenheit oder Werkmeister der Zukunft?“ fragte Kammerer in einem Vortrag von 1912 im Österreichischen Monistenbund.27 In der Wissenschaft sah er die zukünftige Aufgabe der „Befreiung der hohen, menschlichen Entwicklungspotenzen vom Sklavenjoch des Rückschritts“.28 Einige Jahre später, in den 1920er Jahren, sollte
22 In seiner Dissertation setzte Kammerer Alpen- und Feuersalamander, die je ein unterschiedliches Brutverhalten aufweisen, unnatürlichen Umweltbedingungen aus. Er konnte über mehrere Lebenszyklen nachweisen, dass beide Salamanderarten ihr Gebärverhalten aufgrund entgegengesetzter Umwelteinflüsse „vertauschen“. In einem daran anschließenden Versuchszyklus setze er Geburtshelferkröten, die an Land brüten, ungewöhnlich hohen Temperaturen aus, wodurch sie ein neues Brutverhalten im feuchten Milieu ausbildeten, vgl. Kammerer (1904): Verwandtschaftsverhältnisse, S. 165–265. u. ders. (1906): Experimentelle Veränderung, S. 48– 140. Kammerer forschte auch zur Vererbung musikalischen Talents; vgl. ders. (1912): Erwerbung. 23 Gliboff (2006): Case of Paul Kammerer, S. 532. 24 Kammerer (1912): Monistische und dualistische Vererbungslehre, S. 225–235. 25 Ebd., S. 234. 26 Der Austromarxismus beschreibt eine österreichische Schule des Marxismus, die nach dem Ersten Weltkrieg vor allem von Otto Bauer (Chefideologe der SDAP) und Max Adler geprägt wurde. Er strebte nach einem dritten Weg zwischen sozialdemokratischem Reformismus und proletarischer Revolution. 27 Kammerer (1913): Sklaven der Vergangenheit. 28 Ebd., S. 32. Hervorh. im Original.
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Julius Tandler, der ‚Architekt‘ des Roten Wien, Kammerers soziallamarckistisches Anliegen durch umfassende Sozial- und Gesundheitsreformen in die Tat umsetzen.29 Kammerers Kontrahent war der Neo-Darwinist August Weismann (1834– 1914), der 1885 die Keimplasmatheorie begründet hatte. Dieser Theorie zufolge bestand der Sitz des Erbmaterials, das Keimplasma, völlig unabhängig von den Körperzellen – mit anderen Worten: die Vererbung blieb von Umwelteinflüssen völlig unberührt.30 Den Vertretern der „dualistischen Vererbungslehre“, also den rechten Eugenikern, Rassehygienikern und Neo-Darwinisten, warf Kammerer eine reaktionäre politische Agenda vor, da sie nicht daran interessiert seien, soziale Missstände zu beheben. Stattdessen unterstellte er ihnen ein dogmatisches Rassedenken: „über die Lehre von der Nichtvererbbarkeit erworbener Eigenschaften hinweg reichen sich die Reaktionäre in Wissenschaft und Politik die Hand. Von hier stammt das Zerbröckeln aller Ideale und jedes Optimismus.“31 Seine radikal pazifistische Haltung legitimierte Kammerer indes mit dem evolutionären Konzept der gegenseitigen Hilfe (Symbiose). Die Annahme, dass die Kooperation und nicht die Konkurrenz ums Überleben der zentrale Mechanismus der Evolution sei, übernahm Kammerer von dem russischen Anarchisten und Biologen Peter Kropotkin (1842–1921).32 Im Gegensatz zu nationalistischen und militaristischen Kreisen, die den Krieg verherrlichten, warnte Kammerer konsequent vor den degenerativen Folgen des Krieges. So war der Krieg in seinen Augen keineswegs als darwinistischer Daseinskampf zu verstehen; vielmehr hielt er ihn für einen „‚struggle against life‘“, da die „Tüchtigsten“ an der Front fielen, während die „Untauglichen“ verschont blieben. „Der Krieg übt negative Auslese, Kontraselektion; er bewirkt Übrigbleiben der Schlechteren, oft der Feiglinge und Verräter auf dem Kampfplatz, der Schwachen und Bresthaften im sicheren Daheim.“33 Bereits 1909 verkündete er in hervorgehobenen Lettern: „Kampf kann weder hervorbringen noch erhalten, sondern nur vernichten.“34 Diese vehemente Kritik, die Kammerer und andere Wiener Monisten an Kriegstreiberei, Rassenhygiene und Sozialdarwinismus übten, trug erheblich zu einer „Verwissenschaftlichung“ und „Ethisierung“ der sozialdemokratischen Vision des Roten Wien in den 1920er 29 Zu Tandler vgl. Logan (2013): Hormones, Heredity u. McEwen (2010): Welfare and Eugenics, S. 170–190. 30 Weismann behauptete, dass das Keimplasma über eine Keimbahn an die nächste Generation weitergegeben wird und demnach unabhängig von Umwelteinflüssen war (WeismannBarriere). 31 Kammerer (1912): Monistische und dualistische Vererbungslehre, S. 231. Kammerers Kritik an Rassenhygiene und Sozialdarwinismus war sowohl seinem jüdischen Hintergrund, seiner morphologischen Schulung, als auch seiner sozialistischen Haltung geschuldet. Nicht nur im Lamarckismus, auch in der Hormonforschung seines Kollegen Eugen Steinachs (1861–1941) erblickte Kammerer eine Möglichkeit, Wissenschaft als Legitimation für politische Reformforderungen zu nutzen, vgl. Logan (2013): Overheated Rats. 32 Kropotkin (1908): Gegenseitige Hilfe (zuerst 1902). 33 Kammerer (1918): Einzeltod, Völkertod, S. 52. Hervorh. im Original. 34 Ders. (1909): Allgemeine Symbiose, S. 604.
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Jahren bei, wie Cheryl A. Logan argumentiert.35 Dem destruktiven Sozialdarwinismus stellten die Wiener Monisten einen zukunftsorientierten Soziallamarckismus gegenüber.36 3. VOM FORTSCHRITTSOPTIMISMUS ZUR LEBENSBEHERRSCHUNG Die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ hinterließ deutliche Spuren im Denken Kammerers.37 Einst getrieben von ungetrübtem Wissenschaftsglauben und Fortschrittsoptimismus, dominierte bei Kammerer nach 1918 ein erheblich kritischeres Bild: Ausdrücklich begann er nun davor zu warnen, dass der zivilisatorische Fortschritt auch stagnieren könne. Sein ungetrübter Optimismus war nach dem Ersten Weltkrieg der Überzeugung gewichen, dass die Entwicklung der Menschheit aktiv in bestimmte Bahnen gelenkt werden müsse, um die Gefahren der Degeneration abzuwenden. Die Kultur des Menschen, ja sein Leben, galt es zu beherrschen. Kammerer warb für ein aktives Arbeiten am Entwicklungsfortschritt, das Bernhard Kleeberg treffend als „evolutionären Aktivismus“ beschreibt.38 Die Losung der Stunde galt in Kammerers Augen der „organischen Technik“.39 Diese Technik – auch als „Organik“ bezeichnet – verband lamarckistische Evolutionstheorien mit ethischen und ökonomischen Forderungen.40 Auf der Ebene der Ethik konstatierte Kammerer zunächst, dass man den Einzelwillen genauso wie den „ethischen Gesamtwillen“ eines Kollektivs durch Volksaufklärung erziehen könne.41 Von besonderer Relevanz für die Zukunft der Menschheit sei die kollektive Einsicht in die „stammesgeschichtliche Tragweite der Tat“, wie er betonte.42 Der individuelle und kollektive Wille müsse in ein „sittliches Verantwortungsgefühl“ gegenüber der menschlichen Gattung überführt werden, um solche Handlungen, Praktiken und Lebensweisen zu fördern, die zu einer Höherentwicklung der Folgegenerationen beitrugen. So gesehen konnte „jede Rede, jede Handlung, ja jede Idee“ das erlangen,
35 Logan (2007): Overheated Rats, S. 717. 36 Zum Soziallamarckismus Goldscheids vgl. Witrisal (2004): Soziallamarckismus Rudolf Goldscheids. 37 Dieser Ausdruck geht auf George F. Kennan zurück, ferner: Mommsen (2002): Urkatastrophe Deutschlands. 38 Kleeberg (2005): Theophysis, S. 195. Kleeberg verwendet diesen Begriff, um Ernst Haeckels monistisches Fortschrittskonzept zu beschreiben. Obwohl der Fortschritt nach Haeckel kausalmechanisch determiniert sei, treibe ihn der Mensch als höchstentwickelte ‚Rasse‘ aktiv voran. 39 Kammerers „Organik“ betrachtete Cheryl A. Logan als Beispiel für dessen „Socialist BioEthics“, vgl. Logan (2007): Overheated Rats, S. 715–718. 40 Der Begriff der organischen Technik lehnte sich zum einen an die „Entwicklungsmechanik“ Wilhelm Rouxs an, zum anderen an die „Sozialbiologie“ Rudolf Goldscheids. 41 Hierbei spielte Kammerer implizit auf Goldscheid an. Vgl. hierzu Goldscheid (1902): Ethik des Gesamtwillens. 42 Kammerer (1919): Lebensbeherrschung, S. 18.
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was Kammerer als „Generationsbedeutung“ bezeichnete.43 Hierzu zählte er vor allem das Eintreten für gegenseitige Hilfe anstelle des darwinistischen Daseinskampfes. Kammerers Bemühen um eine neue Ethik mag auch durch seinen akademischen Lehrer Friedrich Jodl (1849–1914) beeinflusst worden sein, der zeitlebens für eine monistische Ethik auf wissenschaftlicher und rationaler Basis eintrat.44 Als Jodl 1914 gestorben war, schrieb Kammerer in einem Kondolenzbrief an Margarete Jodl, ihr Ehemann sei für ihn stets „eine der wenigen Stützen einer freien und aufrechten Weltanschauung“ gewesen, ohne „das leiseste Tröpfchen opportunistischen Giftes“.45 Auf der ökonomischen Ebene orientierte sich Kammerer hingegen an der „Menschenökonomie“ Rudolf Goldscheids, mit dem er in engem Austausch stand. Goldscheid definierte seine „Menschenökonomie“ als die „Lehre vom organischen Kapital“, die sich vor allem für jene gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen interessiere, welche die Ressource Mensch schonen und erhalten können.46 Im Unterschied zur „Güterökonomie“, der Goldscheid eine einseitige Ausrichtung an der kapitalistischen Kosten-Nutzen-Optimierung attestierte, warb die Menschenökonomie für ein politisches Verantwortungsgefühl gegenüber dem „Humankapital“ – nicht zuletzt auch, um Kosten zu sparen, die dem Staat durch arbeitsbedingte Invalidität oder Krankheit entstanden.47 Aus dieser Erkenntnis leitete Goldscheid weitreichende Sozialreformen ab, darunter verbesserte Arbeitsbedingungen, umfassende Bildungsreformen und die rechtliche wie ökonomische Gleichstellung der Frau, um nur einige Beispiele zu nennen.48 Anknüpfend an Goldscheids Menschenökonomie und in bewusster Abgrenzung zur Maschinentechnik wies Kammerer auf das Zukunftspotential der organischen Technik hin. Sie kulminiere letztlich in der aktiven Beherrschung und Steuerung des menschlichen Lebens: „Die bisherige Maschinentechnik brachte uns die Bewältigung toten Stoffes, die Gestaltung der leblosen Natur zu unseren Gunsten; wir stehen im Begriffe, auch die lebenden Naturkörper und deren Kräfte derart beherrschen zu lernen, daß wir sie am eigenen Leib werden benützen können zur Formung höherer Lebensstufen.“49
43 Ebd. 44 Friedrich Jodl lehrte Philosophie an der Wiener Universität. Er war Monist, Gründer der Ethischen Gesellschaft in Wien und über Jahre hinweg Vorsitzender des ansässigen Volksbildungsvereins. 45 Paul Kammerer an Margarete Jodl, 1. Februar 1914, Wienbibliothek im Rathaus, Handschriften, Sammlung Wilhelm Börner, H.I.N.-178165, Bl. 1. 46 Goldscheid (1911): Höherentwicklung, S. 488f. Hervorh. im Original. 47 Zur Menschenökonomie Goldscheids vgl. Fritz / Mikl-Horke (2007): Goldscheid; Peukert (2009): Goldscheid; Neef (2012): Entstehung der Soziologie, S. 106–118; dies. (2014): Sozialenergetik, S. 249–282. 48 Goldscheid (1911): Höherentwicklung, S. 447. Siehe hierzu auch den Beitrag von Katharina Neef in diesem Band. 49 Kammerer (1919): Lebensbeherrschung, S. 24.
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Die Einführung der organischen Technik erachtete Kammerer aus zwei Gründen für notwendig: Erstens habe die Maschinentechnik zu einem nie da gewesenen Wettrüsten und letztlich zur hochtechnisierten Massenzerstörung geführt, die es zukünftig zu vermeiden gelte. Mehr noch: Die Maschinentechnik sei zu einem „hypertrophierenden, fressenden Krebsgeschwür“ innerhalb der Zivilisation mutiert.50 Zweitens wurde die menschliche Arbeit derart von Maschinen ersetzt, dass der „Kulturmensch“ Gefahr laufe, seine „Anpassungsfähigkeit“ zu verlieren.51 Schließlich sei die Adaption des Menschen an veränderte Umweltbedingungen notwendig, um neue Merkmale und Anlagen auszubilden. Obwohl der Monist Kammerer die Autorität der wissenschaftlichen Weltanschauung stets verteidigte, stand er einer umfassenden Technisierung der Gesellschaft offenbar kritisch gegenüber, da sie den Menschen von seiner natürlichen Umgebung entfremde. Während die mechanische Technik lediglich zur Entstehung der Zivilisation beigetragen habe, werde die organische Technik „wahre ‚Kultur‘“ hervorbringen, resümierte Kammerer: „Denn der unverlierbare Gewinn organischer Technik lautet: Entwicklungsfortgang und das Glück der Arbeit an sich selber!“52 Kammerer rekurrierte hier bewusst auf die zeittypische Dichotomisierung von Kultur und Zivilisation. Während die Zivilisation für ihn allein technisch-wissenschaftliche Errungenschaften verkörpere, beinhalte die Kultur ‚höhere Werte‘: ein bioethisches Verantwortungsgefühl gegenüber der Menschheit. 4. „DIESSEITS-POLITIK“: KAMMERERS VISION VOM HOMO SAPIENTISSIMUS (1918) Angesichts der Erfahrung von Massenzerstörung und Kriegsleiden war Kammerer 1918 bestrebt, für einen „evolutionären Aktivismus“ zu werben, der einen neuen „Hochmenschen“ hervorbringen sollte: den Homo sapientissimus. Ende Januar 1918, rund elf Monate vor dem Ende des Ersten Weltkriegs, hielt Kammerer im Österreichischen Monistenbund einen Vortrag über „Einzeltod, Völkertod, biologische Unsterblichkeit“.53 Ausführlich erörterte er die Möglichkeit des Ausstrebens einer gesamten Gattung. Sein Ergebnis lautete, dass (analog zum Individuum) ganze Arten periodisch von Naturkatastrophen oder Seuchen heimgesucht würden, die deren weitere Existenz gefährdeten. Der Krieg sei eine Hauptbedrohung für den 50 Ebd. 51 Ders. (1920): Das Biologische Zeitalter, S. 2–3. 52 Ders. (1919): Lebensbeherrschung, S. 24. Hervorh. im Original. Mit dem Begriff „Lebensbeherrschung“ verwies Kammerer auf einen monistischen Topos: Analog zur Naturbeherrschung strebte der Monismus nach „Kulturbeherrschung“. Mithilfe wissenschaftlicher – besonders soziologischer – Methoden sollten Entwicklungsgesetze der Kultur identifizieren werden, die eine bewusste Steuerung der Zukunft erlaubten. Der Monismus vertrat dabei die Auffassung, dass Wissenschaft zur Vorhersage zukünftiger Ereignisse diene. 53 Kammerer (1918): Einzeltod, Völkertod, S. 96–122. Zudem ders. (1918): Unsterblichkeit, S. 5–6.
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Fortbestand der menschlichen Gattung, denn er trage „seine schweren Entartungen durchs Wellental des Friedens zum Wellenberg des nächsten Krieges hinüber“ und summiere letztlich die „Entartungen“ der Menschen.54 Um diese „Degenerationshäufung“ abzuwenden, votierte Kammerer für volkserzieherische Maßnahmen, die den Pazifismus stärken und einen zukünftigen Krieg vermeiden sollten. Zwar könne die Stärkung des Pazifismus die Gattung Mensch nicht unsterblich machen, jedoch könne er einen wichtigen Beitrag zur Schaffung eines „Hochmenschen“ leisten: Der Artentod ist uns nicht minder sicher wie das Ende unseres individuellen Seins: aber wenn wir den Tod erwarten in unablässig froher Entwicklungsarbeit; dann dürfen wir hoffen, daß wir, ehe der Artentod den Homo sapiens hinwegrafft, aus seinem Schoße der Homo sapientissimus geboren haben. Daß der Mensch seine stammesgeschichtliche Fortsetzung fände im Übermenschen oder – sagen wir lieber, weil wir ihn nicht so haben möchten, wie Nietzsche ihn dachte – im Hochmenschen.55
Kammerers „Hochmensch“ war kein Übermensch im Nietzscheanischen Sinne, der aus Immoralismus, Machtstreben und eugenischen Maßnahmen emporsteigen sollte – im Gegenteil: Er sollte aus einer generationellen Kollektivverantwortung gegenüber der menschlichen Gattung hervorgehen; er sollte aus dem Bewusstsein entstehen, dass individuelle und kollektive Taten einen Fußabdruck im Leben der zukünftigen Generation hinterließen. Das Leben war in Kammerers Augen nicht zwangsläufig der Kontingenz des Daseinskampfes ausgeliefert, sondern konnte durch soziopolitische Maßnahmen in zielgerichtete Bahnen gelenkt werden. Entsprach der Neue Mensch im biblischen Sinne einem eschatologischen Warten auf den Messias, so war der Neue Mensch im monistischen Denken Kammerers reformpolitisch planbar, steuerbar und gestaltbar. Die Hoffnung auf Erlösung wich in seiner Lesart des Neuen Menschen der Gewissheit wissenschaftlicher Erkenntnis. Das Urchristentum, so Kammerer, stand nicht für „entwicklungsfeindliches Bauen aufs Jenseits“, sondern für „kräftige Bejahung des Diesseits“, für „planbewußte Lebensgestaltung, und zwar Lebensbeherrschung im ethischen Sinne“. Der christlichen Jenseitserwartung stellte Kammerer das Ideal von „Diesseits-Politik“ entgegen: einer „lebensbejahenden Gestaltung unseres Diesseits“.56 Kammerer reflektierte also explizit über die christlichen Wurzeln des Neuen Menschen, indem er sich kritisch mit ihnen auseinandersetzte und sie in einen säkularen, szientistischen Bezugsrahmen transformierte. Obwohl sich Kammerer in seinem Vortrag vor dem Österreichischen Monistenbund 1918 offen zum Monismus bekannte, kritisierte er angesichts der Weltkriegserfahrung den naiven Fortschrittsoptimismus der Monisten, insbesondere ihren Glauben an einen naturnotwendigen Fortschritt. „Wir Monisten – dasselbe gilt von Sozialisten und Pazifisten – sind in unserer kindlichen Gewissensreinheit und Gutgesinntheit nachgerade allzu optimistisch geworden.“57 Gegenüber dem naiven 54 55 56 57
Ebd., S. 118. Ebd., S. 120f. Hervorh. im Original. Ders. (1920): Das Biologische Zeitalter, S. 1. Hervorh. im Original. Ders. (1918): Einzeltod, Völkertod, S. 121–122.
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Optimismus und destruktiven Pessimismus rief Kammerer nun zum „Aktivismus“ auf, „zu kraftvollem, ausdauernden Kampfe gegen die entwicklungsfeindlichen Mächte“.58 In seinen Augen folgte die Entwicklung keinem linearen, naturwüchsigen Aufstieg, sondern einem „Wechsel von Wellenberg und Wellental“. Der Weltkrieg schien bewiesen zu haben, dass der Fortschritt einer „Schraubenlinie“ folge und stets drohe, degenerativen oder regressiven Tendenzen zu unterliegen. Der Entwicklungsfortschritt könne sich nicht von allein seinen Weg bahnen, sondern müsse bewusst vorangetrieben werden: „Ich glaube nicht mehr an den Fortschritt der Menschheit als ein ihr immanentes Entwicklungsgeschehen“, resümierte Kammerer 1919, „aber ich glaube noch immer an den Fortschritt der Menschheit als ein durch planmäßige Bauarbeit ins Werk zu setzenden Vorgang!“59 Die Schaffung des Neuen Menschen resultierte also nicht aus eugenischen ‚Zuchtphantasien‘, sondern aus zielgerichteter Entwicklungsarbeit. 5. ZUSAMMENFASSUNG Paul Kammerers Selbstverständnis als Wissenschaftler basierte auf der Vorstellung eines Nonkonformisten, der die Wissenschaft in den Dienst der gesellschaftlichen Höherentwicklung stellte. Sein Werk oszillierte immer wieder zwischen den Polen Wissenschaft und Politik sowie zwischen denen der Fachexpertise und Volksbildung. Seine evolutionsbiologischen Erkenntnisse nutze er als Argumentationsbasis, um pazifistische, monistische und sozialistische Forderungen zu legitimieren. Waren Kammerers Arbeiten vor 1914 noch durch einen Fortschrittsoptimismus geprägt, so wandelte sich sein Glaube an Fortschritt und Wissenschaft nach der Kriegserfahrung grundlegend. Evolutionärer Fortschritt, so Kammerer, müsse durch einen kollektiven „Aktivismus“ kontinuierlich angestoßen werden. Ein bioethisches Verantwortungsgefühl für den Einfluss von Handlungen und Taten auf die Menschheitsentwicklung könne dabei helfen, einen „Hochmenschen“ zu erzeugen: einen Menschen, der jegliche Form von Stagnation oder Degeneration zugunsten von Fortschritt vermied. Der Neue Mensch entsprach aus Kammerers Sicht keiner plötzlichen Neuschöpfung, sondern resultierte aus planmäßiger Arbeit auf bioethischer und soziallamarckistischer Basis. Das Hoffen auf ein besseres Leben im Jenseits ersetze Kammerer durch die Ideale von „Lebensbeherrschung“ und „Diesseits-Politik“. QUELLEN Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (ABBAW), NL Wilhelm Ostwald, Nr. 1439. Wienbibliothek im Rathaus, Handschriften, Sammlung Wilhelm Börner.
58 Ebd., S. 122. 59 Ebd., S. 73. Hervorh. im Original.
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POLITIK DURCH LITERATUR
‚RAUSCH UND TOLLHEIT‘. Zur Ethik und Ästhetik revolutionärer Politik um 1918 Verena Wirtz Der Dichter träumt nicht mehr in blauen Buchten. Er sieht aus Höfen helle Schwärme reiten. Sein Fuß bedeckt die Leichen der Verruchten. Sein Haupt erhebt sich, Völker zu begleiten. Er wird ihr Führer sein. Er wird verkünden. Die Flamme seines Wortes wird Musik. Er wird den großen Bund der Staaten gründen. Das Recht des Menschentums. Die Republik.1
EINLEITUNG Wer sich mit dem Politischen und dem Imaginären während der sogenannten Deutschen Revolution von 1918 und 1919 beschäftigt, wird schnell feststellen, dass diese beiden Sphären eine historisch genuine Verbindung eingegangen sind, die nicht mit der Revolution unterging. Parteiübergreifend setzte sich trotz und in großen Teilen gerade wegen Not und Niederlage ein Gestaltungsbewusstsein frei, das seine politische Legitimation aus der kathartischen Auslegung des Krieges herleitete.2 Menschheitsdämmerung, jenes Szenario der Expressionisten, das schon vor dem Ersten Weltkrieg das schöpferische Potential eines Übergangszustands zwischen Katastrophe und Lösung, Himmel und Hölle, Tod und Neugeburt versinnbildlichte, stand nicht nur dem Dichter Walter Hasenclever, sondern vielen seiner Zeitgenossen vor Augen. Doch nicht im Sinne eines schleichenden, fatalistischen Untergangs des Abendlandes wurde diese Krise betrachtet, sondern als notwendig zu realisierende Möglichkeit der Kreation einer neuen Welt.3 Wie in dieser Übergangsphase die Akteure der Revolution die zukünftige Staatsform imaginierten und ihre Visionen in Handlung übersetzten, ist die grundlegende Fragestellung dieses Beitrags. Einleitend geht es darum, die Entwicklung
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Hasenclever (1919): Der politische Dichter, S. 216. Vgl. Segal (1996): Krieg als erlösende Perspektive, S. 165–170. Zur zeitgenössischen Semantik von ‚Krise‘ siehe insb. Koselleck (1982): ‚Krise‘, S. 617–650; ders. (2006): Begriffsgeschichte von ‚Krise‘, S. 203–217 sowie Graf / Föllmer (2005): Die ‚Krise‘ der Weimarer Republik und Makropoulos (2013): Begriff der ‚Krise‘, S. 13–20.
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des deutschen Expressionismus vom Ästhetizismus zum Aktivismus und von der „Politisierung der Kunst“ zur „Ästhetisierung der Politik“4 nachzuzeichnen (1). Denn der Herkunftskontext der Benjaminschen Prozessbegriffe ist um den Ersten Weltkrieg anzusiedeln, sowohl ideengeschichtlich als auch diskursiv, im direkten Sprachgebrauch der Zeitgenossen wie im Selbstverständnis der Revolutionäre. Am Beispiel von Ernst Tollers Revolutionsdrama Masse – Mensch wird anschließend illustriert, welche Rolle das Imaginäre in der Politik der Münchener Räterepublik spielte und wie diese ästhetisierende Politik wahrgenommen und bewertet wurde (2). Zum Schluss wird skizziert, inwieweit sich die sozialistische von der nationalsozialistischen Künstlerpolitik unterscheiden lässt, die nachweislich von der Münchener Räterevolution geprägt wurde (3). 1. ‚MENSCHHEITSDÄMMERUNG‘: VOM ÄSTHETIZISMUS ZUM AKTIVISMUS In der ersten Strophe von Walter Hasenclevers 1919 veröffentlichtem Gedicht Der politische Dichter wird auf anschauliche Weise die Genese eines neuen Künstlertypus beschrieben, wie er unter den vielen Spielarten des Expressionismus sich bereits vor oder spätestens mit dem Ersten Weltkrieg herauszubilden begonnen hatte: Der ideale Dichter der Republik zeichnete sich demnach nicht mehr durch seine Werk- und Weltflucht aus, sondern durch seine gesellschaftspolitische Weltwirkung. Dieser Übergang von der Weltanschauung des Ästhetizismus zum Aktivismus, von der gestaltpsychologisch geprägten und Nietzsche-gläubigen Lebensreformbewegung der Jahrhundertwende zu einer weltwandelnden Tatorientierung, vollzog sich in den historischen Avantgarden bereits vor dem Ersten Weltkrieg.5 Illustriert werden kann dieser Übergang anhand von vier Entwicklungen: innerhalb der Kunst deutet das Phänomen des um 1910 verbreiteten „Manifestanismus“ der Avantgarden bereits auf ihre Selbstpolitisierung hin, indem sie auch mit Blick auf den Futurismus in Italien anstelle von Kunstwerken zunehmend Programme produzierten und ihre Rezipienten vermehrt als potentielle Wähler und nicht mehr als Publikum ansprachen. Dabei ist entscheidend, dass die politische Qualität der Manifeste dem Selbstverständnis vieler Expressionisten, Kubisten und Futuristen als Vertreter einer ‚Weltanschauung‘ entsprang, nicht oder nur selten einer parteipolitischen Mobilisierung.6 Wollte man den literarischen Expressionismus auf den Begriff bringen, was mit Kurt Pinthusʼ Anthologie bereits 1920 geschah, so wird ersichtlich, dass er sich
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Benjamin (1980): Das Kunstwerk, S. 508 (zuerst 1936). Vgl. z. B. Rubiner (1912): Der Dichter greift in die Politik, S. 645–652. Zur Entwicklung des künstlerischen als politisches Selbstverständnis in den historischen Avantgarden siehe Fähnders (2014): Der avantgardistische Künstler, S. 211f. Huebner (1982): Der Expressionismus, S. 3 (zuerst 1929); Asholt / Fähnders (1995): Einleitung, S. XVII. Vgl. auch Fleckner / Steinkamp (2015): Gauklerfest, S. 8.
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selbst als eine weltanschauliche ‚Bewegung‘ verstand, deren utopischer Gehalt in der aktiven Herstellung des Neuen Menschen in der Gegenwart einer neuen Zeitrechnung bestand.7 Ihre Vertreter verstanden sich als „Träger der Weltwende“, als „Vorläufer, Propheten einer neuen Zeit“8, deren erste Tat auf dem Weg zur „vita nova“ konsequenterweise „die Abkehr von der alten Welt“ sein würde.9 Der pathetische Inhalt dieses Zukunftsglaubens gründete auf dem Ethos menschlicher Verbrüderung. In einer Zeit der Kriege und Katastrophen, in einer „Tragödie der Zeit“, in der alles möglich schien, weil „Zerstörung und Aufrichtung“, Untergang und Neugeburt gleichbedeutend waren10, richtete sich die selbsternannte „Zeitrasse“ – stets auf der Suche nach ihrem geistigen Führer und Erlöser – gegen den Ästhetizismus und damit gegen jede sich selbst genügende Elfenbeinturmideologie.11 Stattdessen, so Schickele, „schleudert[e] [der Expressionismus] die Kunst auf die Straße.“ Er strebte also keine Flucht aus, sondern eine Flucht in die Wirklichkeit an; suchte sie zu „besiegen und [zu] beherrschen“, nach seinen eigenen visionären Vorstellungen und ethischen Maßstäben zu revolutionieren.12 Laut Pinthus war es eben diese revolutionäre Vorgehensweise, die aus dem literarischen Expressionismus eine „politische Dichtung“ machte: „gegen realpolitischen Irrsinn“ und zugunsten der „größere[n] überpolitischen Bedeutung“ eines Weltenwandels wie vor einem „Jahrtausend“.13 Einflussreich für diese Selbstbestimmung waren zweitens mehrere kunst- und geistesphilosophische Schriften, die, ebenfalls um das Jahr 1910 erschienen, allesamt Welt- und Zeitenwenden verkündeten. Dazu zählen Heinrich Manns Syntheseutopie Geist und Tat, das zum Manifest des expressionistischen Aktivismus avancierte, Wassily Kandinskys Über das Geistige in der Kunst – eine den Expressionismus genauso wie das Bauhaus und die Neue Sachlichkeit prägende Gesamtkunstwerkanschauung –, Franz Marcs Stilisierung der Kunst als „neue Religion“ oder Walter Rathenaus Mechanik des Geistes, das ein neues, den Prozessvorstellungen der Rationalisierung und Mechanisierung entgegengesetztes „Zeitalter der Seele“ beschwor.14 Mit der Konjunktur weltumstürzlerischer Artikulationen vor dem Ersten Weltkrieg machte sich zum Dritten ein Vergemeinschaftungsprozess unter den
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Edschmid (1982): Expressionismus, S. 43. Ball (1982): Kandinsky, S. 124 (zuerst 1917). Schreyer (1919): Der neue Mensch, S. 19 und Bloch (1918): Absicht, S. 9. Edschmid (1982): Expressionismus., S. 54. Müller (1982): Die Zeitrasse, S. 135–138 (zuerst 1917). Pinthus (1982): Zur jüngsten Dichtung, S. 30f. (zuerst 1915) und Schickele (1982): Expressionismus, S. 38 (zuerst 1916). 13 Ball (1982): Kandinsky, S. 126; Pinthus (2009): Zuvor, S. 29 (zuerst 1919/20). 14 Rathenau (1920): Zur Mechanik des Geistes, S. 67 (zuerst 1913); Kandinsky (1912): Über das Geistige; Marc (1998): Zwei Bilder, S. 125 (zuerst 1912) sowie Mann (1997): Geist und Tat, S. 11–18 (zuerst 1910). Zu Walther Rathenau siehe auch den Beitrag von Clemens Reinhold in diesem Band sowie zur Rezeption von Heinrich Mann im ungarischen Aktivismus denjenigen von Annamária Biró.
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expressionistischen Künstlern und Intellektuellen bemerkbar. Zeitschriften wie Die Aktion um Franz Pfemfert, aktivistische Foren wie der Tat-Kreis um den Verleger Eugen Diederichs oder der Ziel-Kreis um den Dichter Kurt Hiller verstanden sich als Netzwerke intellektueller Verbrüderung im Dienste ganzheitlicher Erneuerung. Wenn auch nicht im Einsatz für die deutsche Nation, so glaubten diese Vereinigungen ganz ähnlich wie die Intellektuellen mit ihren Ideen von 1914 mehr Macht und Einfluss auf die Entwicklung der Menschheit ausüben zu können als der Staat.15 Viele expressionistische Dichter und Denker der Kriegszeit beanspruchten demnach viertens eine Führungsrolle, wenn es um die Umsetzung neuer Menschheitsutopien ging. Wer sonst, außer die über der Zeit stehenden Schöpfer neuer Wirklichkeiten, sollte dazu berufen sein, die Welt zu verändern und die Massen mit Ihren Prophetien in eine bessere Zukunft zu führen? Was sonst, als die produktive Gestaltung der eigenen Zeit, würde das Zeitalter der Dekadenz und Langeweile, der Reaktion und Regression, endlich überwinden? Selbst skeptische Beobachter dieser „Politisierung der Literaten“, wie der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, waren 1916 davon überzeugt, dass die „Politik auf den Geistigen warte“ und „sich jedem Tätigen und Wollenden als Feld anbiete […]. Auch dem Literaten.“16 Im gleichen Jahr appellierte auch der Expressionist und Anarchist Erich Mühsam „an die Dichter“: „Nicht Sternenwandler – Menschen seid! / Und eure Lieder singt dem Frieden!“ Davon angesprochen fühlten sich viele spätere Revolutionäre, unter anderem Kurt Eisner. „Kunst“, schrieb der unabhängige Sozialdemokrat im Jahr 1917, sei „nicht nur Vision und Utopie […], sondern auch das beste Medium der Verwirklichung.“ Daher sah er als notwendig an, der Kunst als „weltumbildende[n] Macht“ endlich den „politischen Rang einzuräumen, der ihr gebührt.“17 Überzeugungen wie diese wurden während des Krieges nicht erschüttert, sondern erhärtet. Das lag zum einen an der Auslegung des Krieges als Kulturkrieg und dem im Vergleich zu Frankreich und England empfundenen Nachholbedarf in Sachen staatlicher Kulturförderung. Ganz ähnlich hatte man im Nachhinein auch den mangelnden Einsatz der Propaganda für die Kriegsniederlage mitverantwortlich gemacht. Daher arbeiteten Befürworter einer neuen Kulturpolitik und Propaganda schon während des Krieges auf ihren zukünftigen Auf- und Ausbau hin.18 Viel wichtiger für ihr kontinuierliches Selbstverständnis als Führer der Menschheit war den Künstlerpolitikern aber die produktive Auslegung des Krieges. 15 So etwa der Theologe Ernst Troeltsch in seinem Glauben an eine europäische Kultursynthese, die von den Intellektuellen geschaffen werden müsste, da „unsere politische Leitung uns darin wenig Hilfe gewährt“, in: Troeltsch (1925): ‚Die Ideen von 1914‘ (zuerst 1916), S. 36; Vgl. auch Hiller (1920): Wir, S. 34–44 (zuerst 1914/15); zudem Kjellén (1915): Ideen von 1914, S. 33–38; Sombart (1915): Händler und Helden, S. 3–6. Vgl. dazu Ungern-Sternberg (2013): Der „Aufruf“, S. 209–212. 16 Heuss (1975): Politisierung des Literaten, S. 45 (zuerst 1916); Vgl. dazu Radkau (2013): Theodor Heuss, S. 101f. 17 Eisner (1969): Weltliteratur, S. 244f. (zuerst 1917); Mühsam (1978): An die Dichter, S. 77 (zuerst 1916). Vgl. dazu Scheideler (2000): Kunst als Politik, S. 117–137. 18 Vgl. Jeismann (2014): ‚Propaganda‘, S. 198–210.
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Im Zusammendenken von Untergang und Schöpfung ließ sich der Kriegseinsatz trotz aller Opfer und Verluste sinngebend legitimieren und mit der Gewissheit verknüpfen, dass eine neue Zeit anbräche. Neben die Kontinuität genieästhetischer Traditionen eines klassisch-bürgerlichen Kunstverständnisses trat die Überzeugung, die Massen durch eine affektive und synästhetische Formung in eine bestimmte politische oder erzieherische Richtung bewegen zu können. Eisner deklarierte die Kunst deshalb als bestes „Medium der Verwirklichung“, weil sie den Menschen Räume eines neuen, kollektiven Erlebens gemeinschaftlicher Zu- und Zusammengehörigkeit offerierte. Indem Dichter auf die Straßen gingen, eigens gestaltete Flugblätter und Plakate verteilten und überwältigende Reden hielten, zeigten sie den Menschen sinnlich erfahrbare Alternativen zur Gegenwart auf – so die Vorstellung vieler Künstler.19 Nur einzelne Stimmen wagten es, die neue Symbiose von Geist und Macht, Kunst und Krieg zu hinterfragen – am eindrücklichsten und frühesten Karl Kraus.20 Aber selbst jene, die wie der expressionistische Schriftsteller Ernst Toller freiwillig an die Front gezogen waren und das Massensterben miterlebt hatten, schienen keineswegs desillusioniert hinsichtlich einer potentiellen Weltveränderung oder widerlegt in ihrem Führungsanspruch, im Gegenteil: Gerade aufgrund der immer sichtbarer sich abzeichnenden Niederlage schien der Krieg als „Ereignis schöpferischer Neuerung“ nur noch zu bestätigen, was vorher schon gewiss schien: dass erst eine allumfassende Katastrophe den Neuanfang bringen und die Möglichkeit zu einer allumfassenden Umgestaltung schaffen würde.21 Diese kathartische Auslegung des Krieges führte ab 1916 zu neuen Zusammenkünften und Mobilisierungen unter den Künstlern und Intellektuellen des Expressionismus. Bereits jetzt plante man die Zeit danach; sei es in der Institutionalisierung der Mitteleuropa-Idee Friedrich Naumanns durch die Deutsche Gesellschaft 1914, die davon überzeugt war, noch „im Fließen des Blutes“ müssten „die Grundlagen der neuen Gestaltung gelegt werden“;22 sei es in den neuen pazifistischen und geistesaristokratischen Vereinigungen wie dem Forte-Kreis um Gustav Landauer oder dem Ziel-Kreis um Kurt Hiller, die für die Münchener Räterevolution noch eine wesentliche Rolle spielen sollten.23 Unter allen Zukunftsnetzwerken aus der Zeit des Krieges ragten jedoch besonders die vom Verleger Eugen Diederichs initiierten Lauensteiner Kulturtagungen
19 Vgl. Anz (1996): Vitalismus, S. 235–248 sowie Fähnders (2014): Der avantgardistische Künstler, S. 201–220. 20 Der Literaturkritiker schrieb schon im November 1914: „Wer Taten zuspricht, schändet Wort und Tat und ist zweimal verächtlich. Der Beruf dazu ist nicht ausgestorben. Die jetzt nichts zu sagen haben, weil die Tat das Wort hat, sprechen weiter. Wer etwas zu sagen, trete vor und schweige!“, siehe Kraus (1998): In dieser großen Zeit, S. 206 (vorgetragen am 19.11.1914). 21 Mann (1984): Gedanken im Kriege, S. 10 (zuerst 1914). 22 Naumann (1915): Mitteleuropa, S. 8. Vgl. dazu Mommsen (1995): Die Mitteleuropaidee, S. 19 sowie Elvert (1999): Mitteleuropa!, S. 20–27. 23 Vgl. Holste (1992): Der Forte-Kreis, S. 179–232; Hiller (1920): Bund der Geistigen, S. 44–58 (zuerst 1915) sowie Mommsen (1996): Eliten, S. 2f.
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aus den Jahren 1917 und 1918 heraus. Hier versammelte der selbsternannte Kultur„Organisator“ Vertreter aus den verschiedensten Bereichen der Wissenschaft, Kunst und Politik, um jedwede ideologischen, politischen oder generationellen Gegensätze hinter sich zu lassen zugunsten der Aussicht auf die baldige Realisierung einer einheitsstiftenden Kultursynthese.24 Zwar waren Ideen wie diese schon vorher beschworen worden. Doch ging es jetzt um ihre tatsächliche Umsetzung. Belegt werden kann dieser wirklichkeitsverändernde Impetus kursierender Visionen durch selbstbeschreibende Wortschöpfungen wie „Realidealismus“ oder „Tatgesinnung“.25 Gemeint waren damit Realisierungen von Als-ob-Möglichkeiten jenseits fiktionaler Beglaubigungen, entweder durch einen herbeizuführenden Wahrnehmungs- und Wertewandel (Ethos), oder – und dies gegen Ende des Krieges zunehmend – durch die politisch-gesellschaftliche Veränderung der Verhältnisse (Pathos); oder beides. Auf der Burg Lauenstein sollten diese Varianten durchgespielt und ihre Verwirklichung für die Nachkriegszeit erprobt werden.26 Nicht ohne Grund spricht die Forschung in diesem Zusammenhang von einem Experimentierfeld oder „kommunikativen Kraftfeld“ politischer Partizipation.27 Dennoch sollten die faktischen Folgen dieser Gedankenexperimente für die Räterevolutionen und darüber hinaus nicht unterschätzt werden. Nimmt man den damaligen Erwartungshorizont der Zeitgenossen ernst, so war die Zukunft völlig offen und insofern gestaltbar. Utopien galten den selbsternannten Dichterpropheten nicht mehr als raum- und zeitferne Orte der Einbildung, sondern als machbare Realisierungsvorlagen: „Erst die Tat der ‚Utopiker‘ machte die ‚Utopie‘ topisch“, resümierte zum Beispiel Kurt Hiller, nachdem er im November 1918 den „Politischen Rat geistiger Arbeit“ gegründet und im Reichstag als „Kammer der Geistigen“ für einige Monate verankert hatte.28
24 So etwa Troeltsch (1925): Meine Bücher, S. 15 (1922 verfasst); Hübinger (1996): Eugen Diederichs, S. 262. Zu den drei Kulturtagungen an Pfingsten 1917 zum Thema „Sinn und Aufgabe unserer Zeit“, im Oktober 1917 zum „Führerproblem im Staate und in der Kultur“ und im Frühjahr 1918 zur Rolle der Jugend und der Frauen siehe ebenfalls ebd., S. 263f. 25 Der Verleger Eugen Diederichs verstand die von ihm seit 1909 herausgegebene Zeitschrift Die Tat, ab 1916 „Monatsschrift für die Zukunft der deutschen Kultur“, als Forum für eine „Realpolitik des Realidealismus“, wie es in einem Geleitwort heißt. Siehe ders. (1919): Was zu sagen ist!, S. 2; vgl. auch Habereder (1981): Kurt Hiller sowie Holste (1992): Der Forte-Kreis. 26 Vgl. Hübinger (1996): Eugen Diederichs, S. 259f. 27 Koselleck (1990): Einleitung, S. 35. Vgl. dazu Hübinger (1996): Eugen Diederichs, S. 262. 28 Hiller (1918): Ein deutsches Herrenhaus, S. 47; Vgl. dazu Habereder (1981): Kurt Hiller, S. 65–69.
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Laut Protokoll der Lauensteiner Pfingsttagung zum Thema „Sinn und Aufgabe unserer Zeit“ wurde genau dieses Spannungsverhältnis zwischen Idee und Umsetzung, Theorie und Praxis, Prophetie und Pragmatismus vorerst für das Scheitern der Kultursynthese verantwortlich gemacht. Der Dresdner Schriftsteller und Schriftführer des Dürerbundes, Wolfgang Schumann, resümierte, die einzige Einigkeit zwischen den gegensätzlichen Auffassungen, zwischen der „Partei der Geistigen“ und den „Realisten“, habe in der geteilten Überzeugung bestanden, „daß eine bisher ungeahnte moralische Erneuerung das politische Leben durchdringen und säubern müsse.“ Immerhin, bekannte der Protokollant zum Schluss, seien aus diesem „überaus starke[n] geistige[n] Erlebnis“ neue persönliche Bindungen entstanden, die von langfristigerer Dauer sein mögen als die hier geäußerten Ideen.29
Abb. 2: Max Weber und Ernst Toller auf Burg Lauenstein (1917). © bpk
Als bekanntestes Beispiel dafür gilt der Forschung das fotografisch eingefangene Zusammentreffen der personifizierten Gegensätze Ernst Toller und Max Weber. Der junge, gutaussehende, enthusiasmierte, aber nach geistiger und politischer Orientierung suchende Schriftsteller hier, der renommierte, sachlich-nüchterne Soziologe mit Führungsqualitäten da – so beschrieben schon damals Beobachter die folgenreiche Begegnung der beiden Ungleichgesinnten. In Max Webers Worten standen sich Gesinnungs- und Verantwortungsethik gegenüber; eine idealtypische Unterscheidung, die realiter nicht immer aufging und für Tollers Werdegang noch eine entscheidende Rolle spielen sollte. Denn trotz aller Differenzen und jeweiligen Enttäuschungen scheinen sie sich gegenseitig inspiriert zu haben: Weber in seinem
29 Schumann (1966): Protokoll, S. 269, 271 u. 274 (das Protokoll datiert auf das Jahr 1917).
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politischen Engagement bei der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und in seiner berühmten Rede Politik als Beruf; Toller in seiner ethischen Rechtfertigung als Räterevolutionär und in seiner politischen Legitimation als Dramatiker der Wandlung.30 Konkret und unmittelbar führte Tollers Begeisterung für die „kämpferische Natur dieses Gelehrten“ aber zunächst dazu, dass er Weber nach Heidelberg folgte, wo er noch am 24. November 1917 den „Kulturpolitischen Bund deutscher Studenten“ gründete.31 Zwar hatte dieser institutionell keinen Bestand. Von Bedeutung war er aber allemal. Nachdem der Schriftsteller auf Burg Lauenstein erkannt hatte, dass die junge Generation, und nicht Weber oder Hugo von Hofmannsthal, die Führungsrolle bei der Gestaltung einer neuen Welt übernehmen mussten, nahm er selbst das Heft in die Hand. Als Reaktion auf die Gründung der Deutschen Vaterlandspartei (DVLP) am 2. September des Jahres verschaffte sich Toller mit seinem Aufruf gegen die nationalistische Vereinnahmung deutscher Kultur außerdem zum ersten Mal reichsweit Gehör. Darüber hinaus führte die heftige Reaktion der Vaterländischen auf seine „Leitsätze“32 zu seiner Flucht nach Berlin, wo er zum ersten Mal Kurt Eisner begegnete. Der wiederum empfahl ihm die Lektüre von Gustav Landauers und Erich Mühsams „Aufruf[en] zum Sozialismus“ aus dem Jahr 1911. Angeblich antwortete er Landauer daraufhin in einem Brief, der allerdings nicht überliefert ist: Ich bin kein religiöser Ekstatiker […]. Ich bemitleide jene Verkümmerten, die aus Freude an der ‚Bewegung‘ abwechselnd futuristische Kabaretts und Revolution fordern. […] Ich weiß, welche Inhalte ich bekämpfe, ich glaube auch zu wissen, welche neuen Inhalte da sein müssen, aber noch besitze ich keine Klarheit, welche äußeren Bedingungen, welche Formen diese neuen Inhalte haben müssen.33
Wer nun glaubt, Toller habe die Antwort auf seine Fragen in der „geistigen Bewegung“ Landauers gefunden, der verkennt deren inhaltliche Leere. Denn nichts erzürnte Landauer und Mühsam mehr als der sogenannte „Patentsozialismus“, jener theoretische Überbau marxistischer Prägung, der jede Art von spontaner und schöpferischer Revolution im Keim ersticke.34 Obwohl Toller in seinem Brief glaubte, sich genau für diese Art von aktivistischer „Antipolitik“35 (vielleicht vor Weber) rechtfertigen zu müssen, ließen die Appelle des Sozialistischen Bundes den jungen
30 Vgl. Weiller (1994): Max Weber, S. 164–168; Mommsen / Schluchter (1992): Einleitung, S. 39 und dies. (1992): Editorischer Bericht, S. 116. 31 Toller (2015): Eine Jugend, S. 157 (zuerst 1933). 32 Ders. (2015): Leitsätze, S. 171–174 (zuerst 1917). 33 Ders. (2015): Eine Jugend, S. 162. 34 Landauer (1968): Eine Ansprache, S. 271 (zuerst 1918); Vgl. Mühsam (2008): Revolution, S. 151–190 (zuerst 1913). 35 Landauer (1898): ‚Antipolitik‘, Sp. 747; Vgl. dazu Wolf (2010): Einleitung, S. 9f.; Heuss warnte schon 1907 als Redakteur der Neckar-Zeitung vor der Gefahr der Antipolitik-Rhetorik bei Naumann und in Sombarts gleichnamiger Artikelserie. Siehe Heuss (1975): ‚Antipolitik‘, S. 39–44 (zuerst 1907).
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Schriftsteller einfach nicht „kalt“.36 Sie hatten ihn derart „berührt“, heißt es in seiner 1933 erschienenen Autobiographie Eine Jugend in Deutschland, dass er dem Arbeiterführer Eisner im Januar 1918 nach München folgte, wo seine politische Karriere als „Revolution[är] der Gesinnung“ ihren turbulenten Anfang nahm.37 2. ‚TAT-SACHEN‘ UND ‚TRAUM-BILDER‘ AUS DER REVOLUTIONSZEIT Seinen ersten großen Einsatz als Arbeiterführer und Redner der Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) hatte der fünfundzwanzigjährige Toller während des vom Parteivorsitzenden Eisner mitinitiierten Munitionsarbeiterstreiks Ende Januar 1918 in München. Hier standen weniger die prekären Arbeitsverhältnisse als die Fortsetzung des Krieges durch die Rüstungsindustrie am Pranger der Sozialisten. Als Toller und Eisner kurz darauf verhaftet wurden und im Münchener Militärgefängnis landeten, lautete die Anklage daher Vaterlandsverrat.38 Zwar bekannte der junge Schriftsteller sich zum Sozialisten, doch erst nachdem er im Februar und März die Haftzeit dazu genutzt hatte, sich in die entsprechenden Theorien einzulesen. Primär gegen den Kapitalismus war sein politisches Engagement daher nicht gerichtet. Später und plötzlicher als Eisner vom Kriegsbefürworter zum Kriegsgegner gewandelt, hatte Tollers Sozialismus vor allem eine ethisch-ästhetische Grundlage.39 Während Eisner, der noch vor seiner Ausrufung des Freistaats Bayern am 8. November 1918 es als seine „Zivildienstpflicht“ angesehen hatte, die deutsche Bevölkerung und im speziellen die mehrheitlich burgbefriedete Sozialdemokratie über ihre Mitschuld am Krieg „aufzuklären“, schrieb Toller mit seinem ersten Antikriegsdrama Die Wandlung 1917 gegen den deutschen Militarismus an. Denn erst auf dem Schlachtfeld, im Angesicht der Leichen, war ihm bewusstgeworden, dass unter ihm nicht Feinde, sondern Menschen vergraben lagen, die, obwohl sie vier Jahre im Glauben an einen deutschen Siegfrieden für unmenschliche Ziele einge36 So endete Mühsams Zusammenfassung von Landauers „Aufruf zum Sozialismus“ 1911 in einem gleichnamigen Artikel mit den Worten: „Wen Theorien, Kritiken und national-ökonomische Spekulationen nicht interessieren, der lese das Buch um der warmen, starken Leidenschaft willen, mit der es geschrieben ist. Wer aber bei der Lektüre kalt bleibt und nicht selbst zum Eiferer wird, der bleibe ja bei seinen Leisten oder bei seiner Politik; aus ihm soll beileibe kein Proselyt gemacht werden.“ Siehe Mühsam (1982): Aufruf zum Sozialismus, S. 253. Der Sozialistische Bund, dem neben Mühsam auch Martin Buber angehörte, wurde am 16. Mai 1908 von Gustav Landauer gegründet. Das Gründungsmanifest, die Zwölf Artikel des Sozialistischen Bundes, entstand ein Jahr später und wurde in zwei Fassungen, 1910 und 1912, in der Zeitschrift Der Sozialist veröffentlicht. Landauer (1982): Zwölf Artikel. Vgl. dazu Wolf (2010): Einleitung, S. 9–34. Zum Einfluss Landauers auf Toller siehe Dove (1993): Ernst Toller, S. 54– 57. 37 Toller (2015): Leitsätze, S. 174 sowie ders. (2015): Eine Jugend, S. 161. 38 Vgl. Eisner (2016): Gefängnistagebuch, S. 49 (Tagebucheintrag vom 6.2.1918); Vgl. dazu Grau (2017): Kurt Eisner, S. 332–343. 39 Vgl. Karl (2008): Die Münchener Räterepublik, S. 193.
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treten waren, auch wieder zu Menschen werden können. Er selbst schloss sich von dieser Utopie innerer Menschwerdung nicht aus. Und dennoch blieb es nicht dabei.40 Der O-Mensch-pathetische Pazifismus Tollers übertrug sich schnell und im Angesicht der Not der Arbeiter auf die Vorstellung von der Notwendigkeit einer gesamten Menschheitswandlung. Der kompromisslose Wahrheitssozialismus Eisners diente ihm dabei als Legitimationsquelle und als Aufklärungsinstrument zur „Erziehung der Massen“. Unter ihnen – und hier kam ihm die expressionistische Vorstellung von der geschichts- und selbstermächtigenden Gestaltungskraft der Kunst entgegen – verteilte er sein Wandlungsdrama wie ein „politisches Flugblatt“. Politisch nannte er diese Aktion deshalb, weil er seine Dramen und Gedichte als „Wegweiser, geboren aus der Not der äußeren Wirklichkeit“ verstand. Er wollte die Menschen „aufwühlen (‚aufhetzen‘ gegen den Krieg!) […] immer mit der Absicht […], Widerstrebende zum Marschieren zu bewegen, Tastenden den Weg zu zeigen.“41 Damit befand sich Toller ganz auf der Linie Eisners, der Politik zwar auch als Erziehung, „zum größten Teil [aber als] vorausgeschaute Wirklichkeit“ definierte. Der Dichter, ließ er seine Gesinnungsgenossen wissen, sei wie kein anderer zum Staatsmann berufen; und mehr noch: „ein Politiker, der kein Dichter [sei], [sei] auch kein Politiker.“42 Erstaunlich an dieser mit literarischen Mitteln vollzogenen politischen Mobilisierung ist nicht Tollers Selbstverständnis als prophetischer Führer und politischer Dichter. Dieses teilte er mit vielen anderen revolutionären Schriftstellern. Bemerkenswert ist vielmehr, dass die Prozessvorstellung von einer politisierten Kunst – nun verinnerlicht – direkt in die Ästhetisierung des Politischen umschlug.43 Das Politische war überhaupt ein relativ neues semantisches Feld. Im Gegensatz zur Politik, mit der die Mehrheit der Zeitgenossen die zunehmend aggressiv bekämpfte, weil an ihrer Ideal- und Ideenlosigkeit gescheiterte Interessen- und Parteien-, Tages- und Realpolitik bezeichneten, bedeutete politisch-sein, auch unabhängig von Staat und Partei einen Wandel der Verhältnisse herbeiführen zu wollen und zwar nicht nur innerlich und ideell, sondern äußerlich und performativ. Mit den sinnlichsynthetischen Mitteln der Kunst schien das Ziel, Welt und Zeit zu wandeln, nicht mehr weit. Denn Kunst und Revolution bedeutete für sie das gleiche: Neuschöpfung. So appellierte Landauer am 18. Oktober 1918 „an die Dichter“:
40 Toller verarbeitete diese Erfahrung in seiner Kriegslyrik, die Walter Hasenclever und Thomas Mann später „wohlwollend“ begutachteten, so z. B.: „Ein toter Mensch. / Nicht: ein toter Franzose. / Nicht: ein toter Deutscher. / Ein toter Mensch“, zit. n. Rothe (1997): Toller, S. 34; Eisner (1919): Unterdrücktes, S. 36 u. 53. Entstanden waren Eisners Aufklärungsschriften bereits zwischen 1916 und 1918. 41 Toller (1980): Bemerkungen, S. 386 (zuerst 1919); Zum „Drama als politische Aktion“ siehe Dove (1993): Ernst Toller, S. 76f. 42 Eisner (1996): Zwischen Kapitalismus und Kommunismus, S. 260 (Rede in der 4. Sitzung der Räteversammlung vom 17.12.1918). 43 Vgl. dazu auch Anz (1982): Einleitung, S. 327.
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Wir aber brauchen in Wahrheit die immer wiederkehrende Erneuerung, wir brauchen die Bereitschaft zur Erschütterung, […] wir brauchen den Frühling, den Wahn und den Rausch und die Tollheit, wir brauchen – wieder und wieder und wieder die Revolution, wir brauchen den Dichter.44
Landauer und Eisner hatten damit die Revolution zur Dichtung, die Fiktion zur Realität und die Politik zur Kunst erklärt. Thomas Mann war neben dem Soziologen Max Weber und dem Staatsrechtler Carl Schmitt damals einer der schärfsten und unter den Schriftstellern einer der wenigen Kritiker dieses Kunst- und Politikverständnisses. Mit seinen Betrachtungen eines Unpolitischen hatte er 1918 ein Manifest gegen den Aktivismus und „Politizismus“ Hillers und seines Bruders Heinrich verfasst, weil er sich dazu gezwungen sah, sich für seine ganz „unzeitgemäße“, das hieß ästhetizistische Position zu rechtfertigen. Nur deshalb hatte er sich nach einigem hin und her dazu entschieden, seine Apologetik eine unpolitische und nicht eine politische zu nennen. In polemischer Degradierung des zur „deutschen Leitfrage“ avancierten Prozesses der „Politisierung der Kunst“ warf er seinen Gegnern vor, „den Staat überhaupt nicht [zu] wollen“, gar „Politiker gegen den Staat“ zu sein oder mit anderen Worten: die Politik zu ästhetisieren und zu moralisieren: Was ich hier sagte – wie alles, was ich sage –, ist der Ausdruck meiner Empörung gegen die Unverschämtheit, womit der Geistespolitiker die Identität von Politik und Moral statuiert, jenen ungebildeten, ich meine: undeutsch gebildeten Dünkel, der Ästhetizismus schimpft, was nicht Politik ist, und sich anmaßt, deutsches Leben mit feindlichem Auslandsgeist zu schulmeistern.45
Auch der Soziologe Weber redete in seinem Ende Januar 1919 gehaltenen Vortrag Politik als Beruf – den er überhaupt erst zu halten entschieden hatte, nachdem statt seiner Eisner vor der Münchener Studentenschaft auftreten sollte – vor allem gegen den „Revolutionskarneval“ der „Literatenpolitiker“ und den „Dilettantismus“ der Arbeiter- und Soldatenräte an. Dem bayrischen Ministerpräsidenten Eisner warf er konkret vor, ständig die längst der Vergangenheit angehörende Frage der Kriegsschuld zu behandeln und sich damit selbst schuldig zu sprechen, „anstatt sich um das zu kümmern, was den Politiker angeht: die Zukunft und die Verantwortung vor ihr“. Wie viele bildungsbürgerliche Beobachter, die sich vor der „Bolschewisierung“ der deutschen Gesellschaft fürchteten, warnte auch er vor einem „Bürgerkrieg“: In der Welt der Realitäten machen wir freilich stets erneut die Erfahrung, daß der Gesinnungsethiker plötzlich umschlägt in den chiliastischen Propheten, daß zum Beispiel diejenigen, die soeben ‚Liebe gegen Gewalt‘ gepredigt haben, im nächsten Augenblick zur Gewalt aufrufen, –
44 Landauer (1968): Ansprache, S. 271 (Ansprache gehalten am 18.10.1918). 45 Mann (1968): Betrachtungen (zuerst 1918), S. 423 und ders. (1982): Der Taugenichts, S. 273 u. 282f. (zuerst 1916). Vgl. dazu Hansen (2013): Betrachtungen eines Politischen, S. 10f. Siehe auch Schmitt (1919): Politische Romantik, S. 103–106.
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Verena Wirtz zur letzten Gewalt, die dann den Zustand der Vernichtung aller Gewaltsamkeit bringen würde.46
In der regierungsnahen Tagespresse, aber auch in der Weltbühne, warf man Eisner ebenfalls vor, dass er bloß „geistreich ästhetisiere, […] aber unmöglich politisch real denken und handeln könne“.47 Kurt Hillers am 10. November 1918 gegründetem „Rat geistiger Arbeiter“ ging es nicht anders, als sich in Politik und Öffentlichkeit Zweifel an der Regierungsfähigkeit der Schriftstellerrepublik regten.48 Zudem führte der Name zu Missverständnissen: „man verwechselte ‚Rat‘ mit ‚Beratungsstelle‘ und hielt uns für ein Stellenvermittlungsbüro“, erklärte Hiller leicht beschämt seinen Geistesgenossen auf der Aktivistentagung am 2. Dezember. Deshalb unterstützte er Heinrich Manns Idee, dem Rat das Adjektiv politisch voranzustellen.49 Das half nur wenig. Selbst nach der Umbenennung fragte ein Journalist der Süddeutschen Freiheit in einem Aufklärungsartikel über die neuen „politischen Gemeinschaften geistiger Arbeiter“: „Woher nehmen diese Journalisten, Schriftsteller und Künstler das Recht, sich vor aller Leistung als zur Herrschaft berufen anzusehen?“50 Eine nicht unberechtigte Frage, führt man sich das Programm des Rates vor Augen, in dem über seine Konstitution nicht mehr zu erfahren war, als dass er „weder durch Ernennung noch durch Wahl, sondern […] nach eigenem Recht und nach eigenem Gesetz sich erneuert.“51 Natürlich wehrten sich die Schriftsteller gegen die Vorwürfe und Verunglimpfungen des zum „Schimpfwort“ degradierten „Litteraten“.52 Einer der bekanntesten Mitglieder des Aktivistenbundes, der Sozialdemokrat Carlo Mierendorff, verteidigte die politischen Ambitionen des Geistesministeriums in seinem Aufsatz „Und doch Politik“ folgendermaßen: „Jene Forderung, die der politische Dichter sich politisierend erkannte: Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Liebe, sind noch nicht verwirklicht. Auch der Staat ist eine Etappe dahin.“ Kurt Hiller schrieb Thomas Mann zurück, „daß sie den empirischen Staat ‚nicht wollen‘, daß sie Politiker […] nicht ‚gegen den Staat‘, aber für einen andersartigen sind.“53 Heinrich Mann erläuterte seinen Bewunderern noch einmal „Sinn und Idee der Revolution“; nämlich, dass „in diesem Lande, komme alles, wie es mag, endlich doch der Geist herrschen wird“
46 Weber (1988): Politik als Beruf, S. 544f. u. 553 (zuerst 1919); Vgl. Mommsen (1994): Max Weber, S. 8–12. 47 Fischart (1919): Politiker und Publizisten, S. 34; Vgl. dazu Weiller (1994): Max Weber, S. 195f. 48 Vgl. Kreiler (1978): Die Schriftstellerrepublik. 49 Vgl. Hiller (1920): Wer sind wir?, S. 71–93 (zuerst 1918). Vgl. dazu ders. (1920): Ein Ministerium der Köpfe, S. 125–147 (zuerst 1919). 50 Geiger (1982): Die Räte geistiger Arbeiter, S. 291f. (zuerst 1919). 51 Hiller et al. (1981): Programm S. 237 (zuerst 1918); Vgl. dazu ebd., S. 234. 52 Ders. (1920): Ein Ministerium der Köpfe, S. 145 (zuerst 1919). So auch Landauer und Mühsam in dessen Rechenschaftsbericht (1929): Von Eisner bis Leviné, S. 68. 53 Hiller (1982): Vom Aktivismus, S. 288 und S. 286 (zuerst 1917); Mierendorff (1919): Und doch Politik, S. 63. Zur Konzeption eines geistigen Staatsverständnisses siehe Hiller (1918): Ein deutsches Herrenhaus, S. 47.
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und „Deutschland und die Welt erobert.“54 Während ein solcher Missionierungsgestus nach dem altbekannten Motto, am deutschen Wesen werde die Welt genesen, den Philosophen Ernst Bloch nicht ganz zu Unrecht an die Ideen von 1914 erinnerten, schossen die Räterevolutionäre mit den gleichen Waffen geradezu reflexartig zurück. So verkündete Eisner in seiner Rede vor den Unabhängigen am 12. Dezember 1918 unter tosendem Applaus: Wir sind die Phantasten, die Ideologen, die Dichter, – und die anderen, das sind die klugen Rechner […]. Meine Herren, wir Ideologen, wir Phantasten, wir haben uns viereinhalb Jahre nicht geirrt und die anderen, die nüchtern die Tatsachen beurteilen, die bekennen heute, dass sie sich viereinhalb Jahre lang geirrt haben. […] Parteigenossen, ich glaube es gibt nur eine Realpolitik der Welt und das ist die Realpolitik des Idealismus! (Bravo! Beifall!) Nur diejenigen, die an die Macht der Wahrheit glauben, nur diejenigen, die den Idealen der Menschheit vertrauen, die siegen auf Dauer.55
Der einzige, der in diesem Deutungskrieg weder hier noch dort einzuordnen war, der zwischen Freund und Feind, Kunst und Politik, Eisner und Weber, Mann und Mann stand, und so bis an sein Lebensende in einen politischen wie in einen inneren Gewissenskonflikt geriet, war Ernst Toller.56 In den sieben Monaten zwischen Eisners Proklamation des Freistaats Bayern am 8. November 1918 und seiner Verhaftung wegen Hochverrats am 4. Juni 1919 hatte der Schriftsteller zwölf verschiedene Stellungen und Ämter inne, wie die Herausgeber seiner Gesamtwerke feststellen. Als Nachfolger des am 21. Februar 1919 von Anton Graf von Valley erschossenen Ministerpräsidenten übernahm Toller während der nur sieben Tage währenden Räterepublik vom 6. bis zum 13. April die Leitung des Revolutionären Zentralrats, nachdem Ernst Niekisch am 8. April zurückgetreten war. Auch wenn die einzelnen Ereignisse und Tätigkeiten Tollers hier nicht im Detail verfolgt werden können,57 so ist in Anbetracht all seiner Erlasse und Reden festzustellen, dass der Schriftsteller sich über das hohe Maß an Verantwortung für den Verlauf der Revolution bewusst war. Die wiederum erschien ihm in all ihren Irrungen und Wirrungen so irreal, dass er sich zeitweise wie der Regisseur einer Tragikomödie vorkam.58 Zwar hatten viele der revolutionären Dichter noch zu Beginn der Novemberrevolution den Eindruck, dass die „neue Welt begonnen“ habe und der Expressionismus „kein Begriff mehr [sei], sondern eine herrliche Wirklichkeit“. Und tatsächlich waren Künstler- und Intellektuellenräte, Internationalen des Geistes, neue Kunst54 Mann (2005): Sinn und Idee, S. 161 (zuerst 1918). 55 Eisner (1919): Wahlrede vor den Unabhängigen, S. 14 (gehalten am 12.12.1918); Vgl. Bloch (1982): Zur deutschen Revolution, S. 339 (zuerst 1918). 56 Zur Biographie des jüdischen Schriftstellers siehe Dove (1993): Ernst Toller, S. 78f. 57 Siehe dazu ebd., S. 80–110, zu seinen Ämtern den Kommentar zur Revolutionspublizistik in Toller (2015): Publizistik, S. 927–935. Zur Regierungszeit Eisners siehe Bauer (1987): Die Regierung Eisner 1918/19, S. IX–LXV. 58 Auch das Satireblatt Rote Hand stellte die Protagonisten der Revolution als Schauspieler eines Dramas vor. Siehe o. A. (1980): „Die Männer der Münchner Glanzperiode“, S. 1 (zuerst 1919). Vgl. zum zehnten Gedenktag Eisners Knauf (1929): Welt werde froh!
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und Kulturämter geschaffen worden.59 Doch der formale und in seiner Offenheit als schöpferisch begrüßte Ausnahmezustand konnte in der Wahrnehmung der Revolutionäre die andauernde inhaltliche Uneinigkeit zwischen Führern und Arbeitern, Parteilinken und -rechten über die Zukunft der Republik nicht überwinden. Der dadurch erstarkte Gegenwind aus den konservativen Reihen, der Sturm der rechten Truppen und nicht zuletzt das alltägliche Elend von hungernden, kriegsgeschädigten und arbeitssuchenden Menschen auf den Straßen, all das waren für Toller die Hauptgründe für das frühzeitige Ende der ersten Räterepublik.60 Einige Literatur- und Kulturgeschichten der Münchener Räterevolution heben an dieser Stelle gerne hervor, dass die ominöse „Übermacht des Faktischen“ letztlich über die „Dichterrepublik“ gesiegt und die Besiegten von der Revolution direkt zur Reaktion übergelaufen seien.61 Doch dieser Blick ist anachronistisch. Aus Sicht der Revolutionäre verhielt es sich genau umgekehrt: Als Irreal wurde die Unwirklichkeit eines Zustandes empfunden, der den eigenen ethischen und ästhetischen Maßstäben nach der Vergangenheit angehörte, während allein die Möglichkeitsrealität, d. h. die tatsächliche Herstellung einer neuen Zeit, als wahrhaftig und real galt. Ähnlich war es Eisner und Toller schon während des Krieges ergangen: Irrational seien der Kriegseintritt, sein Verlauf und seine Antreiber gewesen. Als wahr und wirklich erschienen ihnen demnach nur das eigene Seelenleben und die daraus geschöpften Visionen von einer neuen Menschheit und Mitmenschlichkeit.62 Toller machte diesen inneren wie äußeren Konflikt zum Kern seines Revolutionsdramas Masse – Mensch, das er zwischen Oktober 1919 und Februar 1920, also ganz zu Beginn seiner fünfjährigen Festungshaft in Eichstätt und Niederschönenfeld, verfasst hatte. Im Gefängnis sei das Drama wie „eine visionäre Schau in zweieinhalb Tagen förmlich aus [ihm] [herausgebrochen]“, hieß es ein Jahr später „an einen schöpferischen Mittler“; den Theaterregisseur Jürgen Fehling, der sein Stück am 29. September 1921 auf der Berliner Volksbühne vor großem Publikum und mit großem Erfolg aufgeführt hatte. In diesem Brief, der der zweiten Auflage von 1921 vorangestellt ist, reagierte Toller auch auf die Kritik an der zeitgeschichtlichen Qualität seines Stückes. Während der berühmte Theaterkritiker Alfred Kerr beispielsweise die Wandlung in seiner biographischen wie zeitgeschichtlichen Authentizität noch als wahrhaft revolutionär begrüßt hatte, schienen sich Karl von Ossietzky oder Alfred Döblin nun über die Auflösung der Grenzen zwischen der Realität und Fiktionalität des Stückes zu wundern. Toller entgegnete ihnen zu einem Zeitpunkt, da er selbst schon „dem Drama kritisch gegenüber stand“63:
59 Vgl. Anz (1982): Einleitung, S. 326–332 und Hiller (1918): Ein deutsches Herrenhaus, S. 4, 33. 60 Siehe Toller (2015): Deutsche Revolution, S. 134–138 (zuerst 1925). Vgl. dazu Geyer (1998): Verkehrte Welt, S. 86f. 61 So etwa Frühwald (1971): Kunst, S. 388 und 380; Vgl. dazu aus historischer Perspektive Geyer (1998): Verkehrte Welt, S. 381. 62 Vgl. Dove (1993): Ernst Toller, S. 78. 63 Toller (2015): Brief, S. 355 (zuerst 1919) und Kerr (1980): Ernst Toller, S. 388 (zuerst 1919).
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Was kann in einem Drama wie ‚Masse – Mensch‘ real sein? Nur der seelische, der geistige Atem. Als Politiker handle ich, als ob [sic!] die Menschen […] reale Gegebenheiten wären. Als Künstler schaue ich diese realen Gegebenheiten in ihrer großen Fragwürdigkeit.64
Die Konsequenz aus dieser Definition „politischer Dichtung“ war für Toller weder Propaganda noch Proletkunst, sondern eine sich selbst und dem Menschen verantwortlich gegenüberstehende Dichtung. Bestes Beispiel dafür ist seine Beobachtung der Gefängnisarbeiter, die er durch das Fenster seiner Zelle aus der Möglichkeitsrealität einer besseren Zukunft betrachtete und die ihm in der Gegenwart der Illusionen und Scheinheiligkeiten erschienen waren als „schauerliche Marionetten, von ahnungsvoll erfülltem Zwang schicksalhaft getrieben.“ In den im immergleichen Rhythmus Holz sägenden Sträflingen erblickte er „keine Menschen mehr“, sondern entfremdete, entindividualisierte Typen. Der Widerspruch, dass allein „jeder in seinem inneren Individuum und Masse zugleich ist“, schien ihm im Nachhinein genauso „unauflöslich“ wie die Tragik, ein ‚richtiges Leben im falschen‘ zu führen. Doch im Gegensatz zum aufklärungsskeptischen Adorno glaubte Toller noch an den wirklichkeitsverändernden Charakter der Kunst, an ihre Kraft, neue Welten zu erschaffen, indem sie mögliche Alternativen aufzeigte und politisch umsetzte.65 Personifiziert wurde der Konflikt zwischen der Idealität und Realität der Revolution in der Figur der Sonja Irene L., im Drama: „die Frau“, in Wirklichkeit: Sarah Sonja Rabinowitsch, verheiratete Lerch. Toller hatte sie als Streikführerin im Januar 1918 in München kennengelernt, wo die Unabhängige Sozialdemokratin verhaftet wurde und – von ihrem Mann schmerzlich getrennt – am 20. März 1918 in Stadelheim Selbstmord beging. In diesem Zeit- und Handlungsrahmen bewegte sich auch Tollers Drama, mit dem einzig wesentlichen Unterschied, dass die literarische Figur im Gegensatz zu ihrem historischen Pendant am Ende standrechtlich erschossen wurde.66 Wirklichkeit und Fiktion alternieren ebenso im Aufbau: Statt Akte findet der Leser sieben „Bilder“ „aus der sozialen Revolution des 20. Jahrhunderts“ vor, wobei das dritte, fünfte und siebente Bild in „visionärer Traumferne“ verfasst worden sind. Im ersten Bild wird der innere Gewissenskonflikt „der Frau“ nach außen getragen, indem sie als Streikführerin von Munitionsarbeitern in einen Streit mit dem „Namenlosen“ gerät, der höchst wahrscheinlich Tollers kommunistischem Erzfeind Eugen Leviné nachempfunden ist. Die Anonymität des Namenlosen repräsentiert im Gegensatz zur Intellektuellen jenen Typus des proletarischen Revolutionärs, dessen Ziele alle Mittel heiligt. Statt zum Streik ruft er zum Krieg auf. Als „die Frau“ ihm dessen „Kampf mit Eisenwaffen“ als Verrat an der Revolution, am Sozialismus und am Menschheitsglauben vorwirft, wird statt seiner sie wegen Hochverrats festgenommen: auf Veranlassung ihres eigenen Mannes. Dieser reprä-
64 Toller (2015): Brief, S. 354f. 65 Ebd., S. 159. Vgl. auch Adorno (1997): Minima Moralia, S. 42 (zuerst 1951). 66 Vgl. Toller (2015): Eine Jugend, S. 165 (zuerst 1933): „Sie schrie Tag und Nacht, […] am vierten Tag fand man sie tot, sie hatte sich erhängt“ (am 30.03.1919); zum Masse – MenschKonflikt siehe Dove (1993): Ernst Toller, S. 131–138.
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sentiert zugleich „den Mann“ und „einen Beamten“, womit im zweiten Bild der äußere Konflikt mit dem bürgerlichen Wertesystem die Bühne des Revolutionsdramas betritt. Vor dem Tribunal ist wiederum sie es, die im siebten Bild als „Angeklagte [zum] Richter [wird]“ über all das, was ihr Mann systemisch verkörpert: Die Frau: Wer stieß die Massen in verweste Höhlen, / daß heute sie beladen mit dem Sud des Gestern. / Wer zwang sie in Mechanik, / Wer raubte Brüdern menschlich Antlitz, Wer zwang sie in Mechanik, / erniedrigt sie zu Kolben an Maschinen? Der Staat!... Du! 67
Auf ihren „Totentanz der Zeit“, ihre Abrechnung mit dem Krieg und dem Kapitalismus, entgegnet er ihr nur mit den Worten: „Staat ist heilig…Krieg ist nichts als unterbrochener Waffenstillstand, / in dem der Staat, bedroht vom äußeren Feind, / bedroht vom inneren Feind, beständig lebt.“ Bedeutet ihm sein „Leben Pflicht am Staat“, ist sie für ihn „innerer Feind“ und Fremdkörper, der entfernt werden muss, solange er im Widerspruch zum Staat lebt. Während die Ästhetik seiner Staatsethik sich aus der Vergangenheit, der sinnlichen Harmonie von Pflicht und Ordnung, speist, schöpft sie ihr Wertesystem aus der noch zu realisierenden Zukunft einer Als-ob-Wirklichkeit: „Ich aber werde ewig, / Von Kreis zu Kreis, / von Wende zu Wende, Und einst werde ich / reiner, / schuldloser, / Menschheit sein.“ Für den Mann „ist damit Scheidungs-Tatbestand gegeben.“68 Was den Räterevolutionären an der den Krieg überdauernden Ethik der Bürgerlichkeit und des Militarismus am verhängnisvollsten erschien, war ihr Ruf nach Ruhe, Recht und Ordnung inmitten des revolutionären Neubeginns. Den Revolutionären wurde dieser innere Widerspruch, diese aus ihrer Perspektive spezifisch deutsche Art, eine Revolution mit spießbürgerlicher Manier und biedermeierlichen Mitteln durchzuführen, zum Feindbild. Es kursierte nicht nur in Tollers Revolutionsdrama, in dem der Offizier bei der Urteilsverkündung auf die Frage der Frau, ob sie jetzt erschossen werde, nur antwortete: „Befehl. Befehl. Gehorchen, gehorchen. / Staatsinteresse. Ruhe. Ordnung. / Offizierspflicht.“69 Besonders der Dadaismus machte sich diese Anti-Philistertums-Ideologie zu eigen. Ob er sich nun gegen die „Regierung Ebert“ oder die „ernsthaften Dichter“ richtete, spielte in seiner Polemik gegen die wahrgenommenen Übel und Überreste konservativer Werte inmitten der neuen Zeit des Erlebens keine Rolle. Alle „Goethe-Ebert-Schiller-Scheidemannianer“ waren für Richard Huelsenbeck und Raoul Hausmann erfahrungsgesättigte „Kopfarbeiter […] mit dem Verlangen nach Disziplin, Ruhe, Ordnung“, die es nicht verstünden, eine radikal neue, schöpferische Zeitpolitik zu betreiben. Auch Toller, dessen einziger Kritikpunkt an Eisner immer dessen Kompromisspolitik gewesen war70, bezweifelte mit zunehmender Distanz zu den Ereignissen, dass die „Massen wirklich eine Revolution“ oder nicht doch einfach nur Frieden wollten. In seiner Autobiographie stellte er daher die
67 Toller (2010): Masse – Mensch, S. 38, 44 u. 52f. (zuerst 1919). 68 Ebd., S. 16 u. 33f. 69 Siehe auch Tollers Rede zum Jahrestag der Revolution vor Arbeitern in Berlin; in ders. (2015), Deutsche Revolution, S. 134–138 (gehalten am 8.11.1925). 70 Ders. (2015): Persönliche Erinnerungen, S. 421–423 (zuerst 1920).
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Begegnung mit einem roten Beamten nach dem Sieg der „weißen Truppen“ tragikomisch als eine contradictio in adiecto dar: Aus einem andern Schuppen blinkt ein Lichtschein, zwischen Proviantsäcken und Kisten sitzt unser Dachauer Zahlmeister hinter seinen Büchern. – Ich bringe die Bücher in Ordnung, sagt er, die Weißen sollen uns nicht vorwerfen, daß wir Revolutionäre die Bücher unordentlich führen, ein Posten von 50 Pfennigen stimmt nicht, ich muß den Fehler finden, stör mich nicht. Er rechnet weiter. Hier sitzt der deutsche Revolutionär, gutmütig und ahnungslos, addiert Zahlen und kontrolliert Vorräte, damit alles seine Ordnung habe, wenn er erschossen wird.71
Jenseits der Polemik gegen die sogenannten Kompromissler und Kontinuitäten von Kaiserreich und Kapitalismus wurde hier jener Deutungskrieg literarisch verarbeitet, der durch die kathartische Auslegung des Krieges selbst ausgelöst worden war: Die produktiv-destruktive Wirklichkeit und Wirksamkeit des Ausnahmezustands sollte genutzt werden, um die Geschichte der Menschheit neu beginnen zu lassen. „Der Namenlose“ aus dem Drama war deshalb mit seiner radikalen Kriegsführung „der Lehre willen“ aus der Perspektive „der Frau“ genauso zu verurteilen, wie „der Mann“, der den Krieg verschuldet und jetzt mit den Mitteln der Vergangenheit fortgeführt hatte. Doch sie war es, die vor Gericht stand, sich aber vor dem Hintergrund dieses Unrechtsstaates der Gegenwart, weder vom „Namenlosen“ befreien lassen noch vom Gericht als Verbrecherin verurteilen lassen wollte. Statt zu fliehen, entgegnete sie ihren Henkern: „Nur selbst sich opfern darf der Täter.“72 Das sollte aber nicht das tragische Ende der Geschichte sein. Da „die Frau“ als Symbol einer wahren und würdigen Revolution „ewig lebe[n]“ würde, war ihr Einsatz als ein kleiner, aber notwendiger Beitrag einer erst beginnenden „sozialen Revolution“ zu lesen, so wie es schon der Untertitel von „Masse – Mensch“ ankündigt hatte.73 Mit dieser Urteilsbegründung nahm Toller Walter Benjamins Kritik der Gewalt aus dem Jahr 1921 vorweg, in welcher der Philosoph die Revolution als einen außerhalb des geltenden Herrschaftsrechts stehenden, produktiven Ausnahmezustand beschrieb. Benjamin erkannte – in seiner messianischen Erlösungsapokalyptik Landauer ganz nahe – die Gelegenheit, im Übergang zwischen zwei Rechtssystemen einen Neuschöpfungsprozess in Gang zu setzen, der sich vor nichts zu rechtfertigen hatte außer vor seiner notwendigen Verwirklichung. Deshalb konnte „die Frau“, wie Toller selbst, für „schuldlos schuldig“ gesprochen werden. Ausgangs- und Endpunkt des Revolutionsdramas war somit ein fiktives und ein reales Gerichtsurteil, das für Toller und die anderen Revolutionäre „nicht ein Urteil des Rechts, sondern […] ein Urteil der Macht“ war.74 71 Ders. (2015): Eine Jugend, S. 217 u. 181; Hausmann (1995): Pamphlet, S. 171 (zuerst 1919) und Huelsenbeck (1998): En avant Dada, S. 306 (zuerst 1920). 72 Toller (2010): Masse – Mensch, S. 56 u. 52f. 73 Ebd., S. 57. Vgl. dazu Dove (1993): Ernst Toller, S. 136. 74 Ebd., S. 50. Vgl. auch Hoffmann (2015): Nachwort zu Masse – Mensch, S. 363 und Benjamin (1965): Kritik, S. 29–65 (zuerst 1921).
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Eingesperrt wurde der Schriftsteller immerhin, weil er als Räterevolutionär Kunst mit Politik verwechselt zu haben schien. „Mildernde Umstände“ wurden ihm vor dem Münchener Landgericht nur deshalb gewährt, weil diese Verwechslung glaubhaft als Irrsinn ausgelegt werden konnte – und zwar von seinen einstigen Lehrern Thomas Mann und Max Weber. Weil der Soziologe urteilte, „Gott habe im Zorn Ernst Toller zum Politiker erschaffen“ und der Schriftsteller dem hinzufügte, dass „seine Handlung aus einer ehrlosen Gesinnung entsprungen“ sei, wurden „mildernde Umstände“ walten gelassen. So konnte Toller tatsächlich, mit dem Weberschen und Mannschen Moralstempel des naiven Literatenpolitikers versehen, der Todesstrafe entkommen.75 Schon während seiner Haftzeit im Frühjahr 1918 war er vom Münchener Militärgefängnis wegen „Haftunfähigkeit“ in die „Irrenanstalt“ Emil Kraepelins überwiesen worden, nachdem die psychologischen Gutachten zu dem Ergebnis gekommen waren, Toller sei „offenbar einer von den politisch unreifen, ästhetisierenden und übersensitiven jungen Menschen, die nur in ihren Ideen leben, ohne die realen Vorgänge in der Welt richtig einzuschätzen.“ Wer von ihnen beiden der eigentliche Irre sei, stand für Toller außer Frage: Kraepelin hatte mit seinen völkischen und imperialistischen Kriegsschriften bewiesen, dass er auf der falschen Seite der Geschichte stand.76 Und nun, vor dem Standgericht Münchens, wurde er erneut von jenen Gutachtern, die sich in Anbetracht der Kriegsniederlage eigentlich kein Urteil mehr erlauben konnten, verurteilt. Als ihm laut Gerichtsprotokoll aufgrund der schlagenden „Beweislast“ früherer Atteste „die Eignung zum verantwortlichen Politiker abgesprochen“ wurde, entgegnete er den Richtern zu seiner Verteidigung wider Erwarten mit dem Gestus Weberscher Verantwortungsethik: Es ist klar erwiesen, daß es sich bei mir weder um eine psychopathische, noch um eine hysterische Konstitution handelt, die mildernde Umstände beansprucht. Ich weise das entschieden zurück. Ich habe alle meine Handlungen aus sachlichen Gründen, mit kühler Überlegung, begangen und beanspruche, daß Sie mich für diese Handlungen voll und ganz verantwortlich machen.77
Der Dichterrepublik wurde inmitten der nun sichtbar und streitbar gewordenen „Ästhetisierung der Politik“ der Prozess gemacht. Mit der Verurteilung Tollers und Mühsams zu Hochverrat, den politisch motivierten Morden an Luxemburg und Liebknecht, Eisner und Landauer wurden Exempel statuiert, die stellvertretend für ein grundlegendes Dilemma der jungen Demokratie standen; nämlich die Frage, ob und wie es in Zukunft möglich sei, ohne Gewalt, Zucht und Zwang Menschen zu demokratischen Staatsbürgern zu erziehen. Diese Frage ließ die demokratische Mitte bis zum Ende der Weimarer Republik nicht los. Die politischen Extreme hingegen fanden darauf ganz eigene, radikale Antworten, auch wenn sie einander 75 Mann und Weber zit. n. Frühwald (2010): Nachwort, S. 78; Vgl. auch Egl (1980): Protokoll vor dem Standgericht, S. 397–404 (zuerst 1919). 76 Psychiatrisches Gutachten zit. in Rothe (1997): Ernst Toller, S. 13; Vgl. Toller (2015): Eine Jugend, S. 179. 77 Ders. (2015): Schlußwort vor dem Standgericht, S. 51 (zuerst 1919).
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imitierten und andere Weltanschauungen in ihre eigene Ideologie integrierten. Walter Benjamin sollte diese Entwicklung im Pariser Exil 1936 dazu veranlassen, aus dem ursprünglich wechselseitigen Prozess zwischen der „Ästhetisierung der Politik“ und der „Politisierung der Kunst“ einen fatalistischen Gegensatz zwischen Faschismus und Kommunismus zu formulieren. Inwieweit dies seine historische Berechtigung hatte, wird nun abschließend skizziert.78 3. AUSBLICK: VOM ‚KULTURBANKROTT‘ ZUR ‚KULTURSYNTHESE‘? Ernst Toller folgte bis zu dem Tag, an dem er sich im New Yorker Mayflower Hotel erhängte, seinem ethischen Glaubensbekenntnis, dass nur der Täter das Recht habe, sich selbst zu opfern. Zwischen seiner Haftentlassung am 30. Juni 1924 und seinem Freitod am 22. Mai 1939 widmete er sich literarisch wie politisch dem Kampf gegen die Ungerechtigkeiten der Weimarer Justiz. Seine ganze Lebensenergie verwendete er aber darauf, die Welt über die Gefahren des Faschismus aufzuklären und alle Staaten der Erde, die für Humanität, Freiheit und Vernunft eintraten, zum Widerstand gegen Hitler aufzurufen.79 In unzähligen Reden, auf Vortragsreisen in England, Spanien und den USA sprach er regelmäßig über seine Mitschuld am Scheitern der Räterevolution 1919 und am Sieg der „nationalsozialistischen Revolution“ 1933.80 Wie viele andere sozialistische Schriftsteller, die an der Räteregierung mitgewirkt hatten, wurde er den Verdacht nicht los, zwischen dem Versagen der Linken und dem Aufstieg der Rechten bestünde ein kausalgeschichtlicher Zusammenhang.81 So veröffentlichte er seine Autobiographie Eine Jugend in Deutschland am 10. Mai 1933 „am Tag der Verbrennung [s]einer Bücher in Deutschland“. Dass er seine eigene Geschichte als Vorgeschichte des Nationalsozialismus las, zeigen die einleitenden Worte zu seinem „Blick 1933“: „Wer den Zusammenbruch von 1933 begreifen will, muß die Ereignisse der Jahre 1918 und 1919 in Deutschland kennen, von denen ich hier erzähle.“ Fünf Monate später versetzte er sich in seiner Rede vor dem Londoner PEN-Club ebenfalls zurück in die Revolutionszeit; freilich so, als sei er nur ein empathischer Zeuge gewesen:
78 Benjamin (1980): Das Kunstwerk, S. 508 (zuerst 1936). 79 Vgl. dazu Dove (1993): Ernst Toller, S. 271–277 u. 308f. 80 Die Parteispitze der NSDAP rekurrierte im Laufe ihrer Herrschaft immer wieder auf die Machtergreifung als einzig wahre deutsche Revolution, so z. B. Hitler in seiner Rede zur Eröffnung der Großen Deutschen Kunstausstellung am 10. Juli 1938 in München, um die Radikalisierung in der Kunstpolitik zu legitimieren: Siehe Hitler (2004): Das Bekenntnis, S. 182. 81 Zu den Vortragsreisen siehe Dove (1993): Ernst Toller, S. 271–277, und zu seiner Zeit in Spanien ebd., S. 295–306; Vgl. auch Mühsams Rechenschaftsbericht (1929): Von Eisner bis Leviné, S. 68.
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Verena Wirtz Der junge Schriftsteller wollte, er musste Unruhe erzeugen. […] Die Jugend Europas erlitt den Verfall der alten Gesetze. Sie lebte und wusste nicht, wozu. […] Sie sehnte sich nach weisenden Zielen […] und man tröstete sie mit dem Rausch der Leere.82
Wahrlich als tragische Wendung seiner Friedensutopie, seiner Hoffnungen auf ein menschliches Miteinander, erinnerten ihn der zunehmende Hass und die Gewalt auf den Straßen Anfang der dreißiger Jahre an Max Webers Bild vom Dämonischen in der Politik: der Kontingenz und Unberechenbarkeit der eigenen Handlungen, die, so ehrenhaft sie gedacht gewesen sein mögen, bisweilen auch ins Gegenteil umschlugen.83 Spätestens 1930 war er nicht mehr nur in dritter Person davon überzeugt, dass „die deutsche Revolution […] an der Unzulänglichkeit von uns Jungen gescheitert ist, die den Fanatismus hatten, aber nicht genügend Einsicht und Erfahrung.“84 Vermutlich war es seiner intensiven Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus geschuldet – dessen Führungsriege er in offenen Briefen auch persönlich attackierte –, dass er früh und bemerkenswert prägnant den Aufstieg des ‚Dritten Reiches‘ voraussagte. Nach dem sogenannten Erdrutschsieg der NSDAP bei der Reichstagswahl am 14. September 1930 stellte sich Toller ein Deutschland unter Reichskanzler Hitler so vor: Wir schreiben Silvester 1931. Vor den Toren wartet Reichskanzler Hitler. Die republikanischen Führer beraten und beraten. […] Es ist an der Zeit, gefährliche Illusionen zu zerstören. Nicht nur Demokraten, auch Sozialisten und Kommunisten neigen zu der Ansicht, man solle Hitler regieren lassen, dann werde er am ehesten ‚abwirtschaften‘. Dabei vergessen sie, daß die Nationalsozialistische Partei gekennzeichnet ist durch ihren Willen zur Macht. […] Sie wird sich wohl gefallen lassen, auf demokratische Weise zur Macht zu gelangen, aber keinesfalls auf Geheiß der Demokratie wieder abzugeben. […] Geschieht heute nichts, stehen wir vor einer Periode des europäischen Faschismus, einer Periode des vorläufigen Untergangs sozialer, politischer und geistiger Freiheit, deren Ablösung nur im Gefolge grauenvoller, blutiger Wirren und Kriege zu erwarten ist. Wir schreiben Silvester 1931. Diesmal wird die Phrase Wahrheit. Die Uhr zeigt eine Minute vor zwölf.85
Wie sieht es umgekehrt aus? Welche historische Verbindung, welches persönliche Verhältnis hatten die Nationalsozialisten zu den Räterevolutionären? Eine in ihrer Uneindeutigkeit unbefriedigende Antwort würde zunächst lauten: ein destruktives wie produktives Verhältnis. Als destruktiv erwiesen sich konkret und unmittelbar die gewaltsame Zerschlagung der Räterepubliken und die Ermordung ihrer An82 Toller (2015): Rede, S. 333 (gehalten in London am 10.11.1933) u. ders. (2015): Eine Jugend, S. 101. 83 Zu Max Weber und seinem Begriff des Dämonischen siehe den Beitrag von Christian Marty in diesem Band. 84 Toller (2015): Reichskanzler Hitler, S. 505 (zuerst 1930); Zu den „diabolischen Mächten“, auf die sich jeder Berufspolitiker einlassen müsse, wolle er überhaupt in die Politik gehen, siehe Weber (1992): Politik als Beruf, S. 247 (zuerst 1919). 85 Toller (2015): Reichskanzler Hitler, S. 505–507. Zu den persönlichen Attacken zählt ein offener Brief Tollers an Goebbels. Siehe Toller (2015): Offener Brief, S. 525f. (zuerst 1933).
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hänger durch gegenrevolutionäre Freikorps und Wehrverbände deutschnationaler und völkischer Gesinnung wie Stahlhelm oder Thule-Gesellschaft.86 Jenseits der parteipolitischen Gegensätze diente die an ihren eigenen Ansprüchen gescheiterte Räterevolution der nationalsozialistischen Propaganda rückblickend als Negativfolie zur „erfolgreichen und friedlichen“, wahren und einzigen „deutschen Revolution“ von 1933.87 Gleichzeitig wurde die Revolutionszeit in München von den führenden Köpfen der NSDAP als eine für die Entwicklung der eigenen Propaganda und Kunstpolitik entscheidende Phase gesehen, auch wenn sie dies nachträglich im Sinne ihrer Originalitätspropaganda zu verschleiern versuchten. Während sich Hitler als Teilnehmer an Eisners Staatsbegräbnisfeier am 26. Februar 1919 von der „künstlerischpolitischen Aufführung“ inspirieren ließ und daraufhin seine „Fähigkeit zur Ästhetisierung der Politik“ ausbaute, wie Wolfram Pyta mühevoll rekonstruierte, beschrieb Goebbels seinen Werdegang sogar als „geistigen Weg von Toller bis Hitler“.88 Dass die Gemeinsamkeiten sich nicht leugnen, die Unterschiede zwischen Räterevolutionären und Nationalsozialisten sich aber genauso wenig relativieren lassen, beweist ein historisch einzigartiges Tondokument aus dem Jahr 1930. Es ist deshalb so besonders, weil es die direkte Konfrontation und Kommunikation zwischen den zwei politischen Extremen noch vor dem Wahlerfolg der NSDAP aufzeichnete, was eine differenzierte Aussage über die Eigenheiten der beiden Weltanschauungen zulässt. Die Reichsrundfunk-Gesellschaft hatte am 2. Februar zusammen mit der Deutschen Zeitung zu einer „improvisierte[n] Diskussion“ eingeladen. Es handelte sich um ein brisantes Thema, das „in Deutschland in jeder Stadt, in jedem Marktflecken, in jedem Dorf“ die Menschen umtreibe: „den Kulturbankrott des Bürgertums“. Die eingeladenen Gäste und Gegner waren: Alfred Mühr, bekennender Nationalsozialist und als Feuilletonchef der Deutschen Zeitung Initiator der Debatte, und Ernst Toller.89 Verfolgt man das Gespräch zwischen den politisch ungleichen Kulturkritikern gewinnt man den Eindruck, es unterhielten sich zwei Freunde, nicht Feinde. Denn im Grunde waren sich beide über die Diagnose des Kulturverfalls, seine Ursachen und Ursprünge, einig. Das allein war schon erstaunlich und verleitete Toller zu der Bemerkung: „Mir scheint, wir haben die Rollen vertauscht. Sie sagen in ausgezeichneter Form, was ich sagen könnte.“ Mühr hatte gerade die These aufgestellt, der revolutionsfeindliche Bürger sei selbst schuld an seinem kulturellen Untergang. Das konnte der Künstlerrevolutionär natürlich nachvollziehen. Immerhin waren es 86 Zur Gegenrevolution siehe Geyer (1998): Verkehrte Welt, S. 88f. u.112–132. 87 So Goebbels Rede auf der Sonnenwendfeier der Gaupropagandastelle der NSDAP Groß-Berlin am 30.06.1933. Siehe Goebbels (1971): Rede, S. 126. 88 Goebbels (2017): Tagebucheintrag v. 16.05.1924; Pyta (2015): Hitler, S. 153 u.134; Vgl. dazu Longerich (2015): Goebbels, S. 69 und Frühwald (1971): Kunst, S. 384. Zur Revolution von 1918/19 als kulturpolitische Prägungsphase der Weimarer Republik siehe Geyer (1998): Verkehrte Welt, S. 93. 89 Toller (2015): Radiogespräch, S. 305 (zuerst 1930).
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ja personelle wie institutionelle Kontinuitäten des Militarismus und Philistertums gewesen, die, im Wertehimmel auch des Arbeiters verwurzelt, die Revolution von 1918/19 im Keim erstickt hätten.90 Sicher, es gab einige kategoriale und formale Differenzen in der Frage, wer oder was kultureller Träger der Geschichte sei: Rasse oder Klasse.91 Der entscheidende Unterschied zwischen den politischen Gegnern aber wurde erst gegen Ende der vierzigminütigen Diskussion deutlich, als es um die Prognose zur Zukunft deutscher Kultur ging. Toller hatte aus der inhaltlichen Leere der sozialistischen Künstlervisionen während der Revolutionszeit „gelernt, dass ‚Schicksal‘ eine Ausrede ist.“92 Deshalb stellte er dem Feuilletonchef die alles entscheidende Frage nach dem Wozu; nach dem Ziel der nationalsozialistischen Bewegung: „Das alles bekämpfen wir ja auch, was wollen sie positiv?“ Die Antwort Mührs lautete: Sinn und Zweck der Bewegung sei die Bewegung selbst: der „Entwicklungsdrang“ der Massen.93 In diesem Moment erkannte Toller, dass der Nationalsozialismus sich rein negativ und destruktiv gebarte und ihre falschen Propheten „Chaos und Blut an sich als das schöpferische Prinzip ansehen“, während er versucht hatte, mit künstlerischen Mitteln, aber ohne Gewalt, die Massen zu erziehen. Im Ausland versuchte er den Politikern daher immer wieder bewusst zu machen, dass „Worte gewaltiger [seien] als Waffen“, dass niemand das Recht habe, die Lebenden für eine Zukunft zu opfern, die zwar paradiesisch klingen mag, aber – errichtet auf Bergen von Leichen – nichts Menschliches mehr in sich trage, geschweige denn noch hervorzubringen vermag.94 Tatsächlich redeten Hitler und Goebbels sich selbst genauso wie der Bevölkerung bis zum Ende des ‚Dritten Reiches‘ ein, dass eine Zeit kommen werde, da sie nach Krieg und Massenvernichtung „wieder anfangen [könnten], Menschen zu werden.“95 Zusammengefasst: Ob die Nationalsozialisten kommunistische oder sozialistische Symbole und Propagandatechniken adaptierten oder bürgerliche Traditionen in ihre Ideologie integrierten, was die „kulturelle Synthese“96 des Nationalsozialismus vor allem ausmachte, war die synästhetische Synthetisierung widersprüchlicher Elemente, war die Dauerrevolution einer sich selbst genügenden Bewegung totaler und destruktiver Massenformung ohne eine moralische oder menschenrechtlich legitimierte Basis. Das allein lässt sich diesem Radiogespräch entnehmen und
90 Ebd., S. 310. 91 Zu den konkurrierenden „Ordnungsbegriffen“ der politischen Ideologien siehe Geyer (1998): Verkehrte Welt, S. 398f. 92 Toller (2015): Das Wort, S. 374 (gehalten im Juni 1936); Vgl. dazu Arendt (1986): Elemente, S. 706–714 (zuerst 1955). 93 Toller (2015): Radiogespräch, S. 318f. 94 Ders. (2015): Masses and Man, S. 345 (gehalten am 13.02.1934). 95 Goebbels (2017): Tagebucheintrag v. 10.05.1943. Da auf Komplexität, Umfang und Entwicklung der beiden Prozessbegriffe in diesem Rahmen nicht ausführlicher eingegangen werden kann, sei an dieser Stelle auf meine Dissertation zum Prozessbegriff der Ästhetisierung in der Zwischenkriegszeit verwiesen, die voraussichtlich 2019 erscheinen wird. 96 Vgl. Föllmer (2016): ‚Ein Leben wie im Traum‘, S. 63f.
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trennt Toller und Mühr, die Künstlerrevolutionäre von 1918 und die selbsternannten Avantgardisten von 193397, in einem entscheidenden Maße voneinander. Letztlich hatte Benjamin Recht, als er 1935 im Pariser Exil schrieb, dass die nationalsozialistische Variante der Ästhetisierung nur in einem Punkt gipfeln könne und zwar im Krieg.98 LITERATUR o. A.: „Die Männer der Münchner Glanzperiode“. In: Viesel, Hansjörg (Hrsg.): Literaten an der Wand. Die Münchner Räterepublik und die Schriftsteller, Frankfurt am Main 1980, 63. o. A.: Politiker und Publizisten, XLV. Kurt Eisner. In: Die Weltbühne 15 (9. Januar 1919), H. 1, 34. Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Gesammelte Schriften Bd. 4. 23. Aufl., Frankfurt am Main 1997, zuerst 1951. Anz, Thomas, Einleitung. In: Ders. / Stark, Michael (Hrsg.): Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910–1920. Stuttgart 1982, S. 326–332. Ders.: Vitalismus und Kriegsdichtung. In: Mommsen, Wolfgang J. (Hrsg.): Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg. (Schriften des Historischen Kollegs – Kolloquien, Bd. 34), München 1996, 235–248. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München / Zürich 1986, zuerst 1955. Asholt, Wolfgang / Fähnders, Walter: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938), Stuttgart 1995, XV–XXX. Baddack, Cornelia et al. (Hrsg.): Kurt Eisner. Gefängnistagebuch, Berlin 2016. Ball, Hugo: Kandinsky. Vortrag gehalten in der Galerie Dada, Zürich. In: Anz, Thomas / Stark, Michael (Hrsg.): Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910– 1920. Mit Einleitungen und Kommentaren, Stuttgart 1982, 124–127, zuerst 1917. Bauer, Franz J. (Hrsg.): Die Regierung Eisner 1918/19. Ministerratsprotokolle und Dokumente. (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Erste Reihe, Bd. 10), Düsseldorf 1987. Benjamin, Walter: Kritik der Gewalt. In: Marcuse, Herbert (Hrsg.): Walter Benjamin. Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt am Main 1965, 29–65, zuerst 1921. Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. 1.2. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1980, 471–508, zuerst 1936. Bloch, Ernst: Geist der Utopie, München / Leipzig 1918. Diederichs, Eugen: Was zu sagen ist! In: Neue Wege zum Aufbau Deutschlands. (Die Tat, Beiheft 1), Jena 1919, 2. Dorst, Tankred (Hrsg.): Die Münchener Räterepublik. Zeugnisse und Kommentar, Frankfurt am Main 1966. Dove, Richard: Ernst Toller. Ein Leben in Deutschland. Aus dem Englischen von Marcel Hartges, Göttingen 1993. Edschmid, Kasimir: Expressionismus in der Dichtung. Rede gehalten am 13. Dezember 1917 vor dem ‚Bund deutscher Gelehrten und Künstler‘. In: Anz, Thomas / Stark, Michael (Hrsg.): Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910–1920. Mit Einleitungen und Kommentaren, Stuttgart 1982, 42–55, zuerst 1917.
97 So sprach Goebbels die Parteispitze oft als „Avantgarde der deutschen Revolution“ an, z. B. in seiner oben bereits zitierten Rede vom 30.6.1933; Goebbels (1971): Rede, S. 126. 98 Benjamin (1980): Das Kunstwerk, S. 506.
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ZWEI UNGARISCHE VARIANTEN DES AKTIVISMUS Der Aktivismus von Lajos Kassák und der Aktivismus als Komponente in den gesellschaftspolitischen Vorstellungen von Lajos Hatvany Annamária Biró Der vor dem Ersten Weltkrieg entstandene deutsche Aktivismus ist heute nur noch wenig bekannt. Kein Wunder, denn selbst Stefan Zweig, der sich 1911 noch für die aktivistische Programmschrift von Heinrich Mann begeisterte, vergaß bis 1942 seine einstige Begeisterung komplett. Zweig hatte wenig bis gar nichts mit der Avantgarde zu tun: Die Kunstismen und ihre Produkte auf allen Gebieten der Kunst und der Literatur fasste er als extreme, vergängliche Modeerscheinungen auf. In seinen großartigen Memoiren, seinem letzten Buch, dessen Manuskript er 1942, unmittelbar vor seinem Selbstmord aus Brasilien auf dem Postweg nach Schweden brachte – Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers –, spielen die Begriffe „aktivistisch“, „Aktivismus“ und „Aktivisten“ allerdings eine Rolle. Er benutzt den Ausdruck stets abwertend für ein mit politischer Theorie und Ideologie überladenes, experimentelles Schrifttum von Polit-Literaten.1 In gewisser Weise hatte er auch recht damit gehabt, obwohl z. B. Heinrich Mann schwer in diese Kiste gestopft werden kann.2 Fest steht, dass der Aktivismus vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland entstanden war. Die Bekanntheit seiner berühmtesten Protago-
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Hier einige Beispiele aus der Kritik Zweigs: „Die Artikel ‚der, die, das‘ wurden ausgeschaltet, der Satzbau auf den Kopf gestellt, man schrieb ‚steil‘ und ‚keß‘ im Telegrammstil, mit hitzigen Interjektionen, außerdem wurde jede Literatur, die nicht aktivistisch war, das heißt, nicht politisch theoretisierte, auf den Müllhaufen geworfen.“ Ganz ähnlich auch: „Schriftsteller, die jahrzehntelang ein rundes, klares Deutsch geschrieben, zerhackten folgsam ihre Sätze und exzedierten in ‚Aktivismus‘“. Zusammenfassend meinte er: „[Die] Expressionisten, die Aktivisten, die Experimentisten hatten sich abgespielt, für die Geduldigen und Beharrlichen war der Weg zum Volke wieder frei.“ Für die Zitate siehe der Reihenfolge nach Zweig (2017): Die Welt von Gestern, S. 322, S. 323 u. S. 341. Zweig vergaß nämlich seine einstige euphorische Rezeption von Heinrich Manns aktivistischer Programmschrift Geist und Tat. In einem Brief vom Anfang Januar 1911 schrieb er an Wilhelm Herzog über Manns Essay: „Gäbe es ein gerechteres und wirklich intellectuelles Empfinden in Deutschland, so müsste dieser Essay von allen deutschen Zeitungen in seiner Gänze reproduziert werden, um zu verhindern, dass er im Käfig des literarischen Interesses eingesperrt bleibt. Es ist ein Meisterwerk der Kombinierung, herrlich in seiner furchtlosen Leidenschaft – Ich war selten so hingerissen.“ Stefan Zweig an Wilhelm Herzog, 6.1.1911 zit. n. Mann (2012): Essays und Publizistik, S. 549 (Editorischer Apparat).
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nisten – Kurt Hiller, Franz Pfemfert (der Herausgeber der Zeitschrift Die Aktion 1911–1932) und eben Heinrich Mann – darf vorausgesetzt werden. Die Aktion wurde auch in Budapest gelesen und in den von Lajos Kassák herausgegebenen avantgardistischen Zeitschriften A Tett (Die Tat, 1915–1916) und MA (Heute bzw. Gegenwart, 1916–1919 in Budapest, 1919–1925 Wien) beworben.3 Der ungarische Aktivismus war zweifelsohne ein Ableger des deutschen, wie auch der österreichische, dessen bekanntester Vertreter Robert Müller war. Diesen beinahe zeitgleich mit dem deutschen entstandenen Aktivismen folgten weitere Varianten in Serbien (später im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen), im Königreich Rumänien usw. Bei aller Ähnlichkeit dieser Aktivismen untereinander und mit Blick auf ihre beiden deutschen Abstammungslinien hin zu Hiller und Pfemfert wiesen sie alle beträchtliche Unterschiede auf. In meinem Beitrag möchte ich zwei ungarische Varianten des deutschen Aktivismus näher vorstellen. Formell wurde der ungarische Aktivismus nach dem Ersten Weltkrieg mit einem Vortrag von Lajos (Ludwig) Kassák am 20. Februar 1919 in Budapest proklamiert, dessen Text Kassák wenig später in seiner Zeitschrift MA publizierte.4 Der Ursprung, die Urform dieser ungarischen Lesart des deutschen Aktivismus war trotz der beträchtlichen ideellen Transformation jene 1915 von Kurt Hiller gegründete pazifistische Bewegung, die eine „Aktivierung des Geistigen zur Herbeiführung einer neuen Menschheitsära“ (Logokratie, Herrschaft der Vernunft) anstrebte, wie dies Hiller in seinem Werk Der Aufbruch zum Paradies proklamierte.5 Doch weicht die ungarische, d. h. die Kassáksche Interpretation des Aktivismus beträchtlich vom Hillerschen Grundgedanken ab. Denn Kassák bekannte sich um diese Zeit (1915–1919) mit allen seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen zum Kommunismus als Weltanschauung, bei voller Aufrechterhaltung der künstlerischen Autonomie. Diese Distinktion führte bereits 1917 zur ersten Spaltung seines Kreises: Jene vier Mitarbeiter schieden aus, die die ideologischen Vorgaben der Kommunistischen Partei (KP) auch in künstlerischen Fragen für maßgeblich erachteten (Mátyás György, Aladár Komját, József Lengyel und József Révai). Im Gegensatz zu Hiller glaubte Kassák nicht an die Logokratie, an die Herrschaft der Intellektuellen: Die Trägerschicht seiner Transformationspläne war die Jungarbeiterschaft. Diese sollte – um einen viel späteren Begriff zu gebrauchen – auf dem zweiten Bildungsweg ihr Wissen erwerben, d. h. autodidaktisch, durch das Bildungsystem der Gewerkschaften und die Abendschulen der Arbeitervereine, um möglichst wenig von den Idealen des laut den Aktivisten verrotteten Bildungsbürgertums mitzubekommen. Es gab in den Aktivismen von Zentral- und Ostmitteleuropa – im deutschen, österreichischen ungarischen, slowakischen, kroatisch-serbischen und rumänischen 3 4 5
Siehe dazu: Forgács (2016): In the vacuum of Exile, S. 108–124. Kassák (1919): Aktivizmus, S. 46–51. (In ungarischer Sprache). Hiller (1922): Der Aufbruch zum Paradies. Siehe auch: Ders. (1920): Geist werde Herr (Der Band sammelt die frühen politischen und pazifistischen Schriften Hillers über den Bund der Geistigen und den von Hiller kreierten Aktivismus, die außerhalb der Ziel-Jahrbücher erschienen.) und ders. (1916): Das Ziel. (Der 1. Band der Ziel-Jahrbücher erschien Ende 1915.)
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Aktivismus – zahlreiche gemeinsame Züge. Gemeinsam war den Pazifisten Hiller und Kassák das Streben nach echter gesellschaftlicher Relevanz. Sie planten die Umgestaltung der Gesellschaft zu einer Gemeinschaft autonomer und doch das Gemeinwohl achtender Individuen, die sich nicht mehr für Kriegshandlungen instrumentalisieren lassen würden. Kassáks Neuer Mensch hieß kollektives Individuum, aber alle Aktivismen hatten ihre spezifischen Vorstellungen vom Neuen Menschen. Alle Aktivismen wollten eine grundlegende gesellschaftliche Transformation, wobei die Theoretiker nur ungenaue und unterschiedliche Vorstellungen sowohl vom idealen Staat, dem Paradies auf Erden hatten, wie auch von den Mitteln und Wegen, die dessen friedliche Verwirklichung – die Erlösung – ermöglichen sollten.6 Die verbreitete Verwendung einer solchen quasi-religiösen Terminologie lehnte z. B. der prominenteste Vertreter des österreichischen Aktivismus, Robert Müller (1887–1924), ab. Sein Roman Tropen. Der Mythos der Reise (1915) gehört zur Gattung des deutschsprachigen Exotismus. Dem erdverbundenen „balkanischen Barbarogenius” der kroatisch-serbischen Aktivisten ähnlich, verherrlichte Müller den hemmungslosen Instinktmann, der seine raubtierähnliche Aktivität allerdings im Dschungel der Großstadt entfalten sollte. Müller hatte weder etwas mit linker Ideologie noch mit Gesellschaftsutopie zu tun, sein Aktivismus zielte eher auf individuelle Enthemmung. Dieser kurze Überblick soll verdeutlichen, dass es vor und nach dem Ersten Weltkrieg sowie während des Krieges in Zentraleuropa mehrere Aktivismen gegeben hat, von denen hier zwei ungarische Varianten vorgestellt werden sollten. Die spätere – als Skizze – zuerst, die frühere Variante dann ausführlicher. 1. DER BUDAPESTER AKTIVISMUS DES KASSÁK-KREISES VON 1915 BIS ZU SEINER PROKLAMIERUNG 1919 Lajos Kassák (1887–1967) war Autodidakt. Seine intellektuelle Entwicklung wurde maßgeblich durch seine Vagabondage in Europa im Frühjahr und Sommer des Jahres 1909 bestimmt,7 in deren Zuge er in Paris der Literatur von Guillaume
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Vor der Ausrufung der Ungarischen Räterepublik am 21. März 1919 – also in seiner Aktivismus-Proklamation vom 20. Februar – bejahte Kassák die temporäre Notwendigkeit der Einführung einer Diktatur des Proletariats. Während der Zeit der Räterepublik, die bis zum 1. August 1919 bestand, wurde er allerdings gründlich desillusioniert. Seine literarische Bearbeitung dieser Reise setzt mit dem Gedicht A ló meghal és a madarak kiröpülnek an (ersch. 1922 in Wien im Heft 1. der ungarischen Kunst- und Literaturzeitschrift 2 x 2; in deutscher Übersetzung von Andreas Gáspár: Das Pferd stirbt und die Vögel fliegen aus in: Kassák (1923): MA-Buch. Eine Faksimilie des MA-Buchs wurde vom Budapester Kassák-Museum 1999 verlegt. Die Neuübersetzung des Gedichts durch Robert Stauffer erschien mit gleichem Titel 1989 im Klagenfurter Wieser-Verlag. In Kassáks Autobiographie (1927– 1934): Egy ember élete (Das Leben eines Menschen) wird die Vagabondage im Buch 3. (Csavargások) behandelt; diese Teilausgabe gibt es auch in deutscher Übersetzung: Kassák (1979): Als Vagabund unterwegs.
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Apollinaire und der Kunst von Henri Matisse und Pablo Picasso begegnet war, ebenso durch die Dichtung von Walt Whitman, die ihm durch ungarische Quellen vermittelt wurde, und durch die futuristische Wanderausstellung von Filippo Tommaso Marinetti, die – durch von Herwarth Walden bereitgestellte expressionistische Werke angereichert – im Frühjahr 1913 in Budapest Station machte.8 Auf seiner Bildungsreise beeindruckten ihn in Belgien die Ideen des anarchistischen Flügels der internationalen Gewerkschaftsbewegung: Dieser tiefe Eindruck wurde nach seiner Rückkehr in Budapest vom charismatischen Anarchosyndikalisten Ervin Szabó (1877–1918) intellektuell bestätigt und untermauert. Der Anarchosyndikalismus entstand Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts als eine weltweite Bewegung Lohnabhängiger, die sich an den Prinzipien von Selbstbestimmung, Selbstorganisation und Solidarität orientierte. Sein Hauptziel war die revolutionäre Überwindung des Staates und der kapitalistischen Gesellschaft durch die unmittelbare Übernahme der Produktionsmittel in gewerkschaftlicher Selbstorganisation. Hauptaktionsfelder waren der Klassenkampf im Betrieb mit den Mitteln der direkten Aktion, die möglichst breitenwirksame Agitation für ihre Ziele und Kultur- und Jugendarbeit. Szabós Freie Schule erleichterte es für Kassák, seine autodidaktisch erworbenen Kenntnisse zu ordnen und zu einer kohärenten Theorie zu formen. Daher kann mit einiger Sicherheit behauptet werden, dass die Grundelemente des Kassákschen Aktivismus bereits fünf bis sechs Jahre vor dessen Proklamation von 1919 – jedenfalls noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und vor der Gründung der ungarischen KP im Jahre 1918 – ausgereift und geordnet vorlagen. Aus dieser Zeit stammt auch sein Pazifismus, den er in der Proklamation von 1919 nicht mehr erwähnt. Im Folgenden möchte ich die Grundaussage seiner in der Zeitschrift MA 1919 publizierten Aktivismus-Grundsatzrede zusammenfassen.9 In dieser Rede finden sich alle Konstituenten der Aktivismus-Theorie von Kassák, die er zwischen 1915 – der Gründung seiner ersten Budapester Zeitschrift für neue Kunst und Literatur A Tett – und der Einstellung von MA 1925 in Wien in die Praxis umzusetzen bestrebt war. Kassák beginnt darin gleich mit der eigenen Auslegung: Aktivismus ist ein neuer Begriff in unserer Sozialbewegung. In ungarischer Übersetzung hieße er unmittelbares Handeln. Ich möchte ihn indes in seiner weitergehenden, umfassenderen Bedeutung als spontane und unbegrenzte revolutionäre Lebensweise der Unterdrückten verstanden wissen; der Werktätigen, deren Erlösung nur aus eigener Kraft erfolgen kann. Die Gruppe der Budapester Aktivisten konstituierte sich auf diesem breiten Fundament und sie will ihre
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Siehe ausführlicher Deréky (2014): The Reception of Italian Futurism, S. 301–327. Der Text kann im ungarischen Original in der ANNO-Datenbank historischer österreichischer Zeitungen und Zeitschriften der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) aufgerufen werden: http://anno.onb.ac.at/alph_list.htm (zuletzt aufgerufen am 21.10.2017). MA wurde von 1916 bis 1919 in Budapest, sodann von 1920 bis 1925 in Wien herausgegeben. Die ÖNB ließ alle 10 Jahrgänge, auch die in Budapest erschienenen, digitalisieren.
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Bewegung zielstrebig in die Richtung der individuellen Revolution weiterführen – einer Revolution, die alle Regierungsformen und Parteidiktaturen sprengt.10
Mit „unserer Sozialbewegung“ sind jene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Budapester Kassák-Gruppe oder Kassák-Kreises gemeint, die seit 1915 unablässig bemüht waren, die Ziele ihrer radikalen ästhetischen und bildungspolitischen Neuerungsbestrebungen in die Tat umzusetzen. In ästhetischer Hinsicht wiesen diese Neuerungen in Richtung Avantgarde, was umso bemerkenswerter war, als in Ungarn die Moderne erst in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts den Durchbruch zur vorrherrschenden Position im Kulturleben schaffte. „Ein neuer Begriff“ war der Aktivismus in Ungarn deswegen, weil er vor dem Februar 1919 nie als Bezeichnung einer ungarischen Bewegung oder Publikation verwendet wurde, obwohl die Praxis der Kassák-Gruppe natürlich seit Jahren eine aktivistische war und sie Die Aktion in ihren Organen bewarb. Doch ihre Mitglieder bezeichneten sich als „Neukünstler“ und ihre Kunst als „Neukunst“, von der Kritik wurden sie „ungarische Futuristen“ genannt. Daher ist es einigermaßen irreführend, den Ausdruck oder das Etikett „ungarischer Aktivismus“ als Bezeichnung für Strömungen in der ungarischen Kunst bzw. Literatur der Vorkriegszeit anzuwenden.11 A Tett (1915–1916) firmierte im Untertitel als „Zeitschrift für Literatur, Kunst und Gesellschaft“, MA vom Jg. I. (1916), Heft 1. bis Jg. IV. (1919), Heft 1. als „Zeitschrift für Literatur und Kunst“, ab Heft 2. und 3. des gleichen Jahrganges als „Aktivistische Kunstzeitschrift“, ab Heft 4. des IV. Jahrganges bis Heft 4. vom Jg. VI. (1921) als „Aktivistische Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft“ (Aktivista művészeti es társadalmi folyóirat) und schließlich bis zur Einstellung im Jahre 1925 als „Aktivistische Zeitschrift “ (Aktivista folyóirat). Die Proklamierung des Aktivismus und die Neuetikettierung der Gruppe war notwendig geworden, da der Kassák-Kreis immer öfters als Kunst- und Kulturableger der Partei der Ungarländischen Kommunisten bezeichnet wurde. Das konnte Kassák nicht zulassen. Zwar stimme er – wie die Einleitung der Rede zeigt – mit der KP darin überein, dass der wirtschaftliche Niedergang des Kapitalismus und der moralische Niedergang aller Zeitgenossen die Etablierung einer neuen, sozialistischen Gesellschaft unabdingbar mache, daher das Ziel der politischen Bewegungen nur „die Schaffung eines Wirtschaftskommunismus“12 sein könne. Doch die Parteien vermögen nicht die Welt zu erlösen – keine einzige Partei kann das, auch die KP nicht, denn auch sie vertritt nur partikulare Interessen. Die Erlösung der Welt kann nur im Zeichen einer universalen Idee erfolgen, diese Tat muss das revolutionäre Proletariat vollbringen. Es braucht eine neue, umfassende, aktivistische Revolution. Parteien sind nur bis zur Etablierung einer Diktatur des Proletariats nötig. Doch nicht einmal Demokratie oder Diktatur sei die Hauptfrage; entscheidend für den Fortbestand der revolutionären Errungenschaften sei, dass die neue 10 Kassák (1919): Aktivizmus, S. 46. Hervorh. A. B. Alle Übersetzungen von Zitaten aus ungarischen Werken stammen von der Verfasserin. 11 Besonders die Künstlergruppe Die Acht (1908–1918) wurde früher als Die Acht und die Aktivisten bezeichnet, neuerdings nicht mehr. Vgl. die Kataloge der Ausstellungen Barki et al. (2012): Die Acht.; Szücs et al. (2013): Allegro Barbaro. 12 Kassák (1919): Aktivizmus, S. 46.
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Formation auf dem moralischen Freiheitswillen der Neuen Menschen der Neuen Gesellschaft gründe. Die ungarischen Aktivisten haben keinerlei Zweifel an der Notwendigkeit einer Proletarier-Diktatur – schreibt Kassák –, doch sie wissen genau, dass eine kommunistische Diktatur mit der Zeit konterrevolutionäre Züge annehmen wird. Die Aktivisten müssen daher stets zur Weiterarbeit mahnen, nicht mehr im Interesse der Erhebung einer vormals unterdrückten Klasse, „vielmehr für die individuelle Revolution einer sich ihrer Wirtschaftsfragen bereits entledigten Menschheit“.13 Der Kommunismus kann kein Endziel sein, so Kassák, die ungarischen Aktivisten plakatieren den seelisch neugeborenen Menschen als Ideal der Revolution. Einen sozialen, sich selbst verwirklicht habenden Menschen, der sich der Verantwortung stellt, sein Wissen allen – vor allem den Jungarbeiterinnen und Jungarbeitern – weiterzugeben. Die Kommunisten würden die Proletarier nur aufhetzen, nicht revolutionieren. Die hungrige Meute „belastet mit den geschulterten Kadavern ihrer toten Väter, mit der Traglast ihrer unnützen Kinder in den Armen, mit allen moralischen Scheinwahrheiten der Herrschaftswelt in ihren verbildeten Seelen“14 würde sich mit Wohlstandskrümeln begnügen. Der Aktivismus muss sie zur Selbstverwirklichung ermuntern, mit neuer, agitativer Literatur und bildender Kunst versorgen, die weder Narkotika sind, wie der ganze Schönheitskult der Moderne, noch plumpe Propaganda, wie der Proletkult der KP. Kassák fragt sich anschließend, warum die Revolution im rückständigen Osten Europas ausgebrochen war und nicht im entwickelteren Westen, und beantwortet die selbstgestellte Frage damit, dass sich willentlich bloß eine Revolte generieren lässt, während eine Revolution tiefreichende Wurzeln haben muss. Nicht Lenin und Trotzki hätten die russische Revolution entfacht, sie hätten nur den in der russischen Seele seit Generationen sich akkumulierenden, moralisch begründeten revolutionären Stau kanalisiert. Die russische Empörung sei keine politische oder wirtschaftliche Revolution gewesen, wie im Westen, und gerade deswegen wird sie sich institutionalisieren lassen können, wird zu einer permanenten Revolution werden, und auch anderswo in Europa massenhaft das kollektive Individuum entstehen lassen. Daher bejahen und fordern die ungarischen Aktivisten die kommunistische Revolution und kämpfen zugleich mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln der Kunst für die Erschaffung des ungarischen kollektiven Individuums. Aufgrund der praktischen Arbeitsteilung im Dienste der Revolution halten wir unsererseits unsere Kunst für das geeignetste Mittel im großen Kampf, denn wir glauben an ihre Kraft, die den neuen Menschen entstehen lassen wird, wie wir auch an die revolutionäre Kraft der verwirklichten Ideen der russischen Kunst glauben. Und wir sind nicht allein! Über den gutmenschlichen Pazifizmus eines Henri Barbusse und eines Romain Rolland [...] ist die Bewegung der aktivistischen Künstler bei den Franzosen um den zum Tode verurteilten aber geschickt in die Schweiz geretteten Henri Guilbeaux15 und bei den Deutschen um den während den ersten
13 Ebd., S. 48. 14 Ebd., S. 49. 15 Henri Guilbeaux (1884–1938) war Mitglied der Section française de l’Internationale ouvrière und hatte Kontakt zu anarchistischen und syndikalistischen Kreisen – daher die Sympathie des Anarchosyndikalisten Kassák zu ihm.
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Spartakus-Erhebungen eingekerkerten Franz Pfemfert16 ebenfalls lebendig. Verfrüht oder bereits verspätet? Unter eine Maske der Ernsthaftigkeit wird uns sowohl dieses als auch jenes vorgeworfen. Beide Meinungen haben ihr Recht, die eine aus dem Gesichtspunkt der Konterrevolution, die andere aus dem Gesichtspunkt der Revolution. Doch unsere Kritiker sind sich der Tatsache nicht bewusst, dass hinter uns und vor der sich jetzt entfaltenden Revolution bereits das Antlitz einer unbewussten, anarchischen Revolution in der Form der verschiedenen Kunstrichtungen (Futurismus, Kubismus, Expressionismus, Simultanismus) sichtbar wurde. Diese wollen gefühlsgelenkt bloß vernichten, während wir vernunftgelenkt über die Vernichtung hinaus bereits die ersten Grundlagen der Aufbaumöglichkeiten legen. Diese haben nur das Warum, wir haben bereits auch das Wohin vor Augen. Diese haben nicht mehr das Elendsdasein im Sumpf der Bürgergesellschaft ausgehalten, während wir parallel zu unserer Bewusstwerdung auch die Wege zum Leben gefunden haben. [...] Dem unverantwortlichen Ständeparlament wird die Räterepublik der Werktätigen folgen, gleichsam als erste Station der Gemeinschaft der verantwortlichen Menschen, der Gemeinschaft der alle Staatsformen verneinenden kollektiven Individuen, die in der permanenten Revolution ihre Bestimmung finden.17
Welterlösung, individuelle Revolution, kollektives Individuum und ähnliche Termini waren für die KP blauer Dunst, Sektiererei, Abweichlertum und Verrat. Kassák nützt es nichts – so die einhellige Meinung der Parteiführung – im Namen seiner Gruppe und im eigenen Namen zu behaupten, Kommunist zu sein und die Proklamierung einer Räterepublik zu wollen, denn wenn sie nicht bereit sind, sich auch in künstlerischen Fragen der Parteidisziplin unterzuordnen, seien sie Konterrevolutionäre, und ihre Kunst muss als bürgerliche Kunst bezeichnet werden. Das hat man bereits 1919 so gesehen (vom Volkskommissariat für Allgemeinbildung wurde die Einstellung der Zeitschrift MA verfügt, das letzte Heft war am 1. Juli 1919 erschienen) und nicht zufällig wurde Kassák auch 30 Jahre später, gleich nach der kommunistischen Machtergreifung im Jahre 1948, mit einem Berufsverbot belegt, das erst nach dem Volksaufstand 1956 aufgehoben wurde. Die ungarische KP wollte keinen Augenblick etwas mit dem Aktivismus zu tun haben. Diese Haltung ist jedenfalls verständlicher als die völlige gegenseitige Negation von Lajos Kassák und Robert Müller, lebten doch der bekannteste ungarische und der bekannteste österreichische Aktivist zwischen 1920 und 1924 beide in Wien – ohne jeweils den anderen auch nur zu erwähnen. Es ist schwer sich vorzustellen, dass sich beide Männer nicht gekannt haben, obgleich publizierte Stellungnahmen Robert Müllers zum ungarischen und Lajos Kassáks zum österreichischen Aktivismus nicht bekannt sind.18
16 Franz Pfemfert (1879–1954) Publizist, Gründer und Herausgeber der Zeitschrift Die Aktion (1911–1932) war ebenfalls Mitglied in einer Organisation der deutschen Anarchosyndikalisten, der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD). 17 Kassák (1919): Aktivizmus, S. 51. 18 Siehe dazu Deréky (2003): Eigenkultur – Fremdkultur, S. 157–170.
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2. AKTIVISMUS ALS KOMPONENTE IN DEN GESELLSCHAFTSPOLITISCHEN VORSTELLUNGEN VON LAJOS HATVANY Kassák und Lajos Hatvany waren beide von der Massenwirksamkeit des Mediums Literatur überzeugt. Kassák hatte bereits in seinem 1916er Programm-Manifest erklärt, dass er die Neue Literatur für die beste Waffe des Fortschritts hielt.19 Abgesehen von seiner eigenen literarischen und publizistischen Tätigkeit wirkte Hatvany finanziell bei der Gründung bzw. Übernahme zahlreicher Zeitungen und Zeitschriften mit, die den Durchbruch der Neuen Literatur ermöglichten – wobei er unter diesem Begriff die gesellschaftspolitisch orientierte Moderne und nicht die Avantgarde verstand. Seine wichtigste Tat zur Modernisierung des ungarischen Zeitschriftenwesens zu Beginn des 20. Jahrhunderts war seine Mithilfe bei der Gründung der Literatur- und Kunstzeitschrift Nyugat (Westen) im Jahre 1908, auch im Sinne der Massenwirksamkeit dieses Mediums. Der Poet Endre Ady wurde bereits zuvor durch eine geschickt inszenierte, skandalgespickte Medienkampagne als neuer Star lanciert, nun sollte es mit seiner Zugkraft und Hatvanys Finanzierung zur Umgestaltung der kulturellen Medienlandschaft nach deutschem Vorbild kommen. In seinem Indulás (Aufbruch) betitelten Programmaufsatz nennt Hatvany 1909 drei Berliner Beispiele: den Pan, die Freie Bühne und die Neue Rundschau.20 Zwei Jahre später setzte er mit dem Aufsatz Irodalompolitika (Literaturpolitik) nach.21 Die ideelle und die strukturelle Erneuerung der Literaturvermittlung zu Gunsten des Neuen sei bereits in kurzer Zeit ein voller Erfolg geworden. Vor allem der Zeitschrift Nyugat sei es in den dreieinhalb Jahren seit ihrer Gründung gelungen, eine auch zahlenmäßig bedeutende Anhängerschaft für die Neue Literatur und
19 Die 12 Punkte des Kassákschen Programm-Manifests in meiner Rohübersetzung: „[...] 1) Die neue Literatur [...] ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Sie muss in ständigem Kontakt sein mit allen progressiven wirtschaftlichen und politischen Bewegungen der Zeit, und ihre Anführer müssen – den leitenden Personen im Handel, in der Industrie und in der Politik gleich – Leitungspositionen in der Staatsführung beanspruchen [...] 2) Die neue Literatur muss, um ihrer Wichtigkeit entsprechend wirken zu können [...], sich aller konventionellen formalen wie inhaltlichen Bindungen entledigen [...] 3) Die neue Literatur darf keinem Ismus den Fahneneid schwören [...] 4) Die neue Literatur muss mit der Zeit gehen, weltweit agieren und alles reflektieren [...] 5) Die neue Literatur öffnet dem Freiheitswillen alle Türen [...] 6) Die neue Literatur verherrlicht die Schaffenskraft. Sie fördert den freien Wettbewerb der freien Kräfte, sie unterstützt sowohl Reformbestrebungen, als auch die Revolution – ist aber Feind aller Kriege, denn (auch entgegen den Beteuerungen der Futuristen) unterjochen Kriege die Schaffenskräfte auf das Schändlichste. 7) Die neue Literatur darf kein Selbstzweck im Dienste rassischer oder nationaler Ideen sein! 8) Die neue Literatur darf kein Selbstzweck im Dienste der reinen Schönheit sein! 9) Die neue Literatur muss eine aus der Quintessenz des Zeitgeistes entstandene Feuersäule sein! 10) Thema der neuen Literatur ist die Gesamtheit des Kosmos! 11) Die Stimme der neuen Literatur ist die Stimme der zu neuem Selbsbewusstsein erwachten Kräfte! 12) Die neue Literatur verherrlicht die ins Unendliche aufgebrochene Menschheit!“ Kassák (1916): Programm, S. 153–155. 20 Hatvany (1909): Indulás, S. 550–559. 21 Ders. (1911): Irodalompolitika, S. 169–176.
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Kunst zu begeistern. Jetzt hieße es, die literaturpolitische Arbeit mit der gleichen Intensität fortzusetzen. Auch breitere Kreise des Publikums sollten systematisch für eine Rezeption der Gegenwartsliteratur, des Neuen in der bildenden Kunst und der Musik vorbereitet, die Pressearbeit und die Öffentlichkeitsarbeit intensiviert werden. Auch wenn für manche Leser die Ansicht abwegig schien: das literarische Werk und das Kunstwerk seien Produkte, die beworben, die vermarktet werden wollen. Daher sei eine gezielte Markenpflege lebensnotwendig, selbstgenerierte Markenkonkurrenz kontraproduktiv. Dabei verstand Hatvany Endre Ady als seine Leitmarke, und als kontraproduktiv sah er die Vorstellung immer neuer, vielversprechender Talente in der Zeitschrift durch Ernő Osvát, den verantwortlichen Redakteur an. Er wollte möglichst wenige Namen neben Ady sehen, um dessen wirkungsmächtige sozialkritische Dichtung als Mittel zur Durchsetzung seiner vom deutschen Aktivismus mitgeprägten gesellschaftspolitischen Vorstellungen effektiv einsetzen zu können. Letzten Endes setzte sich indes die Gegenseite, die Fraktion der Experimentierfreudigen durch, die ein gesellschaftspolitisches Engangement der Zeitschrift Nyugat ablehnte. Hatvany musste weichen. Hatvany selbst hat den Ausdruck Aktivismus meines Wissens niemals in gedruckter Form verwendet. Vor seiner Emigration war seine Distanz zum auffälliglärmenden, proletarischen Kassák-Kreis doch zu groß und in Wien hielten sie freundliche Distanz zueinander. Hatvany stand der avantgardistischen Literatur und Kunst fern, ohne sie freilich bekämpfen zu wollen. Die gesellschaftspolitischen Aussagen des Kassák-Kreises hielt er für kommunistische Propaganda, deren Agitation durch schrille expressionistische Formeln verbrämt werde. Die unüberbrückbaren Gegensätze zwischen den Standpunkten der ungarischen Aktivisten und der ungarischen KP nahm er nicht wahr, die Unvereinbarkeit von Parteidisziplin und der anarchistisch beeinflussten Idee der Verknüpfung von individueller Freiheit und sozialer Gleichheit des Kassák-Kreises war ihm nicht bewusst. Er sah auch keine Ähnlichkeiten zwischen dem sich gerade entfaltenden intellektuellen Aktivismus in seiner Berliner Jugendzeit und dem praxisorientiereten Aktivismus der Kassák-Bewegung ab 1915. Man würde also meinen, dass die gesellschaftliche Wirkung des Kassák-Aktivismus größer gewesen sein muss als jene sanftere Variante von Hatvany. Aber der Eindruck täuscht. Nach der im Jahre 1926 verkündeten Amnestie des Horthy-Regimes kehrten alle jene Flüchtlinge nach Ungarn zurück, gegen die keine Haftbefehle wegen Strafdelikten vorlagen. Kassák blieb unbehelligt, Hatvany wurde von der Standesjustiz wegen „Schändung der Nationalwürde“ zu anderthalb Jahren Zuchthaus verurteilt; nach neun Monaten Haft wurde die Reststrafe aufgrund seines Gesundheitszustandes zur Bewährung ausgesetzt. Lajos Hatvany (1880–1961) wurde zur Blütezeit des Monarchie-Liberalismus in Ungarn geboren. Die Familie seines Vaters, Sándor Deutsch (ab 1879 Deutsch von Hatvan, ab 1908 von Hatvany-Deutsch, ab 1910 Baron Hatvany-Deutsch, ab 1911 Baron Hatvany) gehörte bereits zur Zeit seiner Geburt zu den reichsten Industriellen- und Bankiersfamilien des Landes. Das Adelsprädikat „von Hatvan“ war ein Verweis auf die große Zuckerfabrik der Familie in der Stadt Hatvan, etwa 60 Kilometer östlich von Budapest. Lajos Hatvany war als ältester Sohn von Sándor formal ab 1916 Gesellschafter der Familienunternehmungen, aber wegen seiner
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Rolle in den bürgerlichen Revolutionen 1918–1919 (an der Räterepublik nahm er nicht Teil, lebte dessen ungeachtet zwischen 1919 und 1927 im Wiener Exil) trennte sich die Familie 1921 in gegenseitigem Einvernehmen mit einer Abfindung von 9% des Vermögens von ihm. Lajos Hatvany hatte allerdings nie vorgehabt, in der Geschäftsleitung mitzuarbeiten. Er studierte an der Universität Budapest Philologie und wurde 1905 zum Doktor der Philosophie promoviert. Parallel dazu war er im Studienjahr 1904/1905 auch an der Berliner Universität eingeschrieben. Berlin war jedoch weniger als Studienort für ihn wichtig, sondern vielmehr als Inspirationsquelle für neue kulturpolitische Ideen. Bei aller Hochachtung für die revolutionäre Tradition der Franzosen – er teilte Heinrich Manns Frankreich-Begeisterung, und dessen Essay Geist und Tat (1911) entsprach genau seinen Vorstellungen – brauchte er etwas Handgreiflicheres. Hatvany war durch seine zahlreichen Paris-Aufenthalte bestens auch mit den neuen literarischen Strömungen vertraut, die zur gleichen Zeit, in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts, seinen erwählten Propagandisten, den Dichter Endre Ady inspiriert hatten. Indes war er nicht auf der Suche nach ästhetischen Neuerungen. Er suchte ein Ausdrucksmittel, eine neue, kräftige Stimme, die die Idee der höchst dringenden kulturellen und darüber hinausgehend der gesellschaftlichen Umgestaltung in Ungarn publikumswirksam durch das Medium der Literatur vermitteln konnte. Hatvany wurde in Berlin einige Jahre früher als Kassák in Budapest auf jene Quellen, jene Bestrebungen aufmerksam, die später in ihrer Gesamtheit als deutscher Aktivismus bekannt wurden und bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eindeutig zeigten, dass es sich dabei um eine Bewegung handelte, die die Intellektuellen und vor allem die gebildete Jugend zu gesellschaftspolitischer Teilnahme motivieren wollte. Hatvany war den sich entfaltenden intellektuell-literarischen, kulturkritischen Aktivismus-Modellen und ihrer Ideologie um 1908–1909 in Berlin begegnet, zu einer Zeit, als selbst in Deutschland die Aktivismus-Vorstellung von Kurt Hiller (Logokratie, die Herrschaft der Vernunft) und die von Ludwig Rubiner (Aktivismus als Ideologie zur Motivierung der Massen) noch nicht voneinander klar unterscheidbar waren. Wolfgang Rothe schreibt im Vorwort zu seiner repräsentativen Auswahl von programmatischen Essays aus den Jahrbüchern Das Ziel (Tätiger Geist) und Die Erhebung,22 dass es in Deutschland an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert solche Erneuerungsideen für das Geistesleben gab, die ab etwa 1909 schon die Charakteristika der erst seit 1915 als Aktivismus bezeichneten kulturradikalen Strömung zeigten. Rudolf Eucken (1846–1926), der idealistische Lebensphilosoph, Verfasser des seinerzeit vielbeachteten Werkes Die Einheit des Geisteslebens in Bewusstsein und That der Menschheit (1888), bezeichnete sein philosophsiches System als Aktivismus.23 Kurt Hiller gab zwar erst Ende 1915 Band I des Jahrbuchs Das Ziel heraus, stellte indes gleich einleitend fest, dass die 22 Rothe (1969): Einleitung, S. 9–12. 23 1908 erhielt Eucken den Nobelpreis für Literatur „auf Grund des ernsten Suchens nach Wahrheit, der durchdringenden Gedankenkraft und des Weitblicks, der Wärme und Kraft der Darstellung, womit er in zahlreichen Arbeiten eine ideale Weltanschauung vertreten und entwickelt hat“, wie es zur Begründung hieß. Ruchniewicz/ Zybura (2007): Die höchste Ehrung, S. 330.
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Vorläuferorganisation, Der Neue Club bereits im Jahre 1909 ihre Tätigkeit aufgenommen hatte. Es gab allerdings nicht nur den linken Aktivismus, ähnliche Bestrebungen existierten ebenfalls im rechten Spektrum. Kurt Pinthus und seine Mitarbeiter waren Representanten des idealistischen Mittelweges. Die Tat, das Organ dieser literarischen Strömung, erschien ab 1909 in Jena im Verlag Eugen Diederichs. Von 1909 bis 1912 wurde Wege zum freien Menschentum im Titelkopf als Ausrichtung bzw. Ziel der Zeitschrift angegeben, zwischen 1913 und 1915 Socialreligiöse Monatsschrift für deutsche Kultur, zwischen 1915 und 1928 Monatsschrift für die Zukunft der Kultur und ab 1928 Monatsschrift zur Gestaltung neuer Wirklichkeit.24 Freilich ist auch in der deutschen Fachliteratur der linke Aktivismus, sind die Laufbahnen von Hiller und Rubiner am besten dokumentiert.25 Rothe schreibt: Dabei lassen sich kaum konträrere Denkstandorte vorstellen als etwa die Hillers und Rubiners, der beiden Häupter des Aktivismus. Hillers Vision einer Regierung der Besten, der Aristoi, des ‚geistigen Typus‘, einer ‚Logokratie‘, sein Entwurf eines neuen ‚deutschen Herrenhauses‘ waren sozialaristokratisch – Rubiners inbrünstiger Glaube an das Volk als eine heilige Masse entsprach ziemlich weitgehend späteren Vorstellungen (etwa Jean Genets) vom ‚heiligen Mob‘.26
Auf Hatvany muss das alles einen ungeheuren Eindruck gemacht haben; weniger die einzelnen Positionen als die euphorische Aufbruchstimmung in den Berliner Künstler- und Intellektuellenkreisen. Noch einmal Rothe: Urplötzlich und isoliert hat es also keinen linken Aktivismus gegeben. Daß wir dennoch die Sache ausschließlich mit diesem verbinden, zeugt lediglich von einem: dem schier beispiellosen Zutagetreten von – im doppelten Wortsinne: reinem – Geist, dem seltenen Anblick einer elementaren Besinnung auf die sittlichen Elemente der Menschheitsgeschichte, endlich von einer [...] in seiner Stärke fast unfaßbaren Eruption seelischer Energie.27
Ein Gutteil der für Hatvany maßgeblichen intellektuellen Energie wurde von Heinrich Mann generiert. Spätestens nach 1905 hatte sich Heinrich Mann vom Ästhetizismus der Jahrhundertwende abgewendet und sich gegen die apolitische und obrigkeitshörige Weltsicht der deutschen Intellektuellen gewandt, deren überwiegende Mehrheit sich – den Modernisten in allen europäischen Ländern vor dem Ersten Weltkrieg ähnlich – allein der Kunst verpflichtet fühlte. Er orientierte sich dagegen an der ungebrochenen revolutionären Tradition des großen Nachbarlandes und widmete den gesellschaftskritisch ausgerichteten französischen Denkern im 18., 19. und 20. Jahrhundert von Jean-Jacques Rousseau bis Émile Zola sorgfältig ausgearbeitete Essays, um auch in Deutschland eine wache Öffentlichkeit zu 24 Es ist mit Sicherheit auszuschließen, dass Kassák durch dieses freireligiöse, bzw. lebensreformerische Organ zur Titelwahl für seine gleichnamige Budapester Zeitschrift inspiriert wurde: Wenn schon ein deutsches Vorbild gesucht wird, dann käme eher Pfemferts Die Aktion (1911– 1932) in Frage. Sie war in Budapest bekannt, Kassák bewarb sie in seinen Blättern, und auch seine Idee während des Ersten Weltkrieges, ein Heft mit künstlerischen und literarischen Werken von Schaffenden der „Feindesländer“ zusammenszustellen, dürfte von Pfemfert inspiriert worden sein. 25 Habereder (1981): Kurt Hiller. 26 Rothe (1969): Einleitung, S. 13. 27 Ebd., S. 11.
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schaffen. Besondere Bewunderung zollte er Zola für seinen beispiellosen Mut und Einsatz zur Rehabilitierung von Alfred Dreyfus. Zolas berühmter offener Brief an Staatspräsident Félix Faure J’accuse…! war am 13. Januar 1898 auf der Titelseite der Literaturzeitschrift L’Aurore von Georges Clemenceau erschienen und verursachte damit einen ungeheuren Aufruhr. Zolas offener Brief gilt bis heute als eine der größten publizistischen Sensationen des 19. Jahrhunderts und wurde zum Wendepunkt in der Dreyfus-Affäre. Der Autor selbst allerdings musste dafür teuer bezahlen, er wurde zu einer Geld- und einer Gefängnisstrafe verurteilt und lebte von 1898 bis 1899 im Londoner Exil. Dreyfus wurde erst im Jahre 1906 vollständig rehabilitiert, Zola starb bereits 1902. Diese ungemein lange, leidenschaftliche, teils gewalttätige Auseinandersetzung zwischen Verfechtern der Demokratie und den Verteidigern der Standesinteressen von Militär und Klerus sorgten für eine erhöhte Transparenz des öffentlichen Lebens, vor allem durch eine explosionsartige Ausbreitung der Presse. Heinrich Mann hielt eine ähnliche Entwicklung auch in Deutschland für wünschenswert, daher entschloss er sich ab Ende Dezember 1909 zu publizistischen Teilveröffentlichungen seiner „Frankreich“-Notizen. Der Entschluss zu solch einer Teilveröffentlichung wurde vielleicht durch einen Brief des befreundeten und gleichgesinnten René Schickele vom 20. Dezember 1909 ausgelöst. Schickele, der Pariser Korrespondent und später Chefredakteur der seit dem 18. September erscheinenden demokratischen (republikanischen) Strassburger Neuen Zeitung war, hatte Heinrich Mann gebeten, an seiner Umfrage mit dem Titel: Sollen die Schriftsteller sich mit Politik beschäftigen? teilzunehmen. Zweck der Umfrage sei allerdings nicht Meinungsforschung, sondern die Politisierung der deutschen Schriftsteller. Die Politisierung Deutschlands sei eine Kulturfrage insofern, weil sie nur von den Schriftstellern angebahnt werden könne, von den Berufspolitikern seien keine neuen Impulse zu erwarten. Heinrich Mann sagte seine Teilnahme zu, er bestärkte Schickele: „Der Haß des Geistes auf den infamen Materialismus dieses ‚Deutschen Reiches‘ ist beträchtlich. Aber wie soll er eine Macht werden? Das ist die schwere Frage. [...] Was wir können, ist: unser Ideal aufstellen, es so glänzend, rein und unerschütterlich aufstellen, daß die Besseren erschrecken und Sehnsucht bekommen. Ich arbeite längst daran.“28 Mann unterbrach mehrmals seine Arbeit an seinem „Frankreich“-Projekt, erst ab November 1910 ist die Weiterarbeit belegbar. „Ihr Ergebnis war der ebenfalls aus Überlegungen, Formulierungen und Textstücken des Notizen-Konvoluts zu „Frankreich“ gespeiste, aber in sich selbständige Essay „Geist und Tat“, der am 1. Januar 1911 in der Zeitschrift Pan erschien.“29 Heinrich Mann war neben Kurt Hiller und Ludwig Rubiner Mitarbeiter der von Alfred Kerr herausgegebenen Zeitschrift Pan, die auch Lajos Hatvany zu ihren Mitarbeitern zählte.30 Pan war eine der wichtigsten Foren des deutschen Expressionismus – in einer Reihe mit den 28 Heinrich Mann an René Schickele, 27.12.1909 zit. n.Mann (2012): Essays und Publizistik, S. 482 (Editorischer Apparat). 29 Ebd., S. 485. 30 Germanese (2000): Pan.
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bekannteren Die Aktion und Der Sturm. Wilhelm Herzog, Mitherausgeber und verantwortlicher Redakteur des Pan, notierte am 25. Dezember 1910 in sein Tagebuch: „Von Heinrich Mann für den PAN das Manuskript seines Essays ‚Geist und Tat‘ erhalten. Das Schönste, was er je geschrieben hat. Ein Manifest des Geistes, der zur Aktivität drängt, der endlich Taten fordert. Will es an die Spitze der Januarnummer stellen.“31 Im selben Heft veröffentlichte Herzog – neben Beiträgen von Frank Wedekind, Alfred Kerr und René Schickele – seinen Beitrag Die kommende Demokratie. Auch Heinrich Mann reagierte mit seiner Schrift auf die sich verschärfenden politischen Auseinandersetzungen in Deutschland. Die Wahlrechtsbewegung gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht war von Januar bis April 1910 zu einer Massenbewegung für ein demokratisches Wahlrecht geworden, mit politischen Streiks der Arbeiter und mit Massendemostrationen trotz Polizeiverbot und Polizeigewalt (z. B. 150.000 Demonstranten in Treptow am 6. März 1910). Aber die Wirkung des Essays war unerwartet langanhaltend, sie setzte sich auch von den jeweils aktuellen politischen Ereignissen entkoppelt fort. Kurt Hiller druckte ihn 1915 im ersten Band seiner Ziel-Jahrbücher als porgrammatisch einleitenden Aufsatz nach; Mann nahm ihn in seine Mitte Dezember 1919 erschienene Essaysammlung Macht und Mensch (ebenfalls als Einleitung) mit Entstehungsdatum 1910 auf, weitere Nachdrucke folgten in verschiedenen europäischen Medien 1920, 1922 und schließlich 1945 in New York. Wenige Tage nach der Erstveröffentlichung, am 5. Januar 1911, schrieb Herzog an Heinrich Mann: Ihr glänzender Aufsatz wird viel bewundert. Ob er im heutigen Deutschland wirkt, ist eine andere Frage. Aus Wien erhielt ich von Stefan Zweig einen begeisterten Brief, der von dem ‚grossartigen‘ Essay spricht und aus dem ich Ihnen die folgenden Sätze zitieren möchte: ‚Gäbe es ein gerechteres und wirklich intellectuelles Empfinden in Deutschland, so müsste dieser Essay von allen deutschen Zeitungen in seiner Gänze reproduziert werden, um zu verhindern, dass er im Käfig des literarischen Interesses eingesperrt bleibt. Es ist ein Meisterwerk der Kombinierung, herrlich in seiner furchtlosen Leidenschaft – ich war selten so hingerissen.‘32
Am 12. April 1912 erklärte Franz Pfemfert in dem Artikel Die Presse: „Da hat Heinrich Mann ein radikales, mutiges, funkelndes Manifest – Geist und Tat – ins Land geschleudert. Wir atmen tief auf: dieses unerhörte Ereignis, der Einbruch der Literatur in die Politik muß, hoffen wir, die Geister Deutschlands aufpeitschen.“33 Dies ist bekanntermaßen nicht oder jedenfalls nicht im erwünschten Umfang eingetreten. Heinrich Manns Kampfaufsatz geißelte die Literaten Deutschlands als Drückeberger im Kampf um die demokratische Umgestaltung.
31 Wilhelm Herzog zit. n. Mann (2012): Essays und Publizistik, S. 546 (Editorischer Apparat). 32 Ebd., S. 549. 33 Pfemfert (1912): Die Presse, S. 453.
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3. HATVANYS WAHL EINES UNGARISCHEN VERKÜNDERS: DER DICHTER ENDRE ADY Genau dieses Programm wollte Hatvany in Ungarn verwirklichen und suchte nach einem literarischen Propagandisten, den er mit publizistischen Mitteln massiv zu unterstützen gedachte. Er meinte diesen Verkünder in der Person des Dichters Endre Ady (1877–1919) gefunden zu haben. Um 1910 entsprach der 30-jährige Hatvany beinahe vollkommen der Beschreibung eines Aktivisten-Künstlers nach Wolfgang Paulsen. Laut Paulsen sei der Künstler in gewisser Sinne auch Politiker, jedoch kein Mittel der Politik, sondern schöpferischer Geist, Politiker einer weltformenden Idee, gleichzeitig ein Liberaler, ein Radikaler und ein Aristokrat. Seine Wunschvorstellung ist eine durch Logokratie und Logokraten gelenkte Demokratie.34 Die Vorstellung einer zu verwirklichenden Logokratie für Ungarn mag Hatvany – als völlig irreal – nicht eingefallen sein, seine Lebenspraxis kann aber als gesamtkünstlerisches Wirken im Interesse des gesellschaftlichen Fortschrittes angesehen werden, im Interesse einer friedlichen Umgestaltung des Landes in liberalem Geiste. Er glaubte an die Vernunft, und war in seinen ästhetischen Ansichten gemäßigt konservativ. Hatvany achtete die mit dem Namen des „Nationaldichters“ Sándor Petőfi (1823–1849) untrennbar verbundene revolutionär, im Geiste der Volksdichtung erneuerte literarische Überlieferung hoch. Petőfi war, Heinrich Mann ähnlich, ein Bewunderer der Französischen Revolution, ein radikaler Gegner der Monarchie und fiel im ungarischen Freiheitkampf gegen Habsburg. Daher nimmt es nicht wunder, dass Hatvany um 1910 und auch in seiner späteren Arbeit als Essayist und Literaturhistoriker die Integration jener Teile der Nationalliteratur, die sich als wertbeständig erwiesen hätten, in den neu entstehenden literarischen Kanon der Moderne betrieb. Zugleich ging es ihm um die aktivistische Durchmischung des in seiner Sicht trägen ungarischen Geisteslebens und deswegen war er auf der Suche nach einem Tat-Menschen mit kräftiger Stimme und durchschlagender Aussagekraft. Anfänglich schien ihm Adys Lyrik im Spiegel seiner an der zeitgenössischen französischen Literatur geschulten Ästhetik unerträglich manieriert und die Person des Dichters ein selbstgefälliger, krakeelender Provinzbarde zu sein. Doch dann kam seine „Bekehrung“. In einem Aufsatz in der gesellschaftskritisch ausgerichteten Budapester Zeitschrift Huszadik Század (20. Jahrhundert, 1909– 1919), neben der Literatur- und Kunstzeitschrift Nyugat das wichtigste Organ des Fortschritts in Ungarn, erklärte Hatvany 1908 die Gründe für seine Wahl Adys zu der bevorzugten Stimme der unaufschiebbaren gesellschaftlichen Umgestaltung: Dies sei vor allem dem eigentümlichen Ton von Adys Dichtung zu verdanken, einer Mischung aus urwüchsigem, mit religiösen Motiven des Protestantismus durchwobenem, pränationalistischem Patriotismus und einer gesellschaftkritischen Motivik in der Formsprache des Symbolismus. Das Leitmotiv vieler Ady-Gedichte könnte in einem Satz aus seinem Mund zusammengefasst werden: ‚Der Teufel sollte dieses hundsgemeine Land holen – wenn ich es bloß nicht so sehr
34 Paulsen (1935): Expressionismus und Aktivismus.
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lieben würde.‘ Und dies ist ein west-orientierter Patriotismus, kein geziertes Fernweh eines Paris-Besessenen. Denn er braucht weder Paris noch den Westen als kulturelle Anregung, er schwärmt nur für den pulsierenden Zauber der Fremdheit, für die Lust am Unbekannten, Geheimnisvollen, Vielversprechenden. In seinem neuesten Gedichtband gibt es ein wunderbares Gedicht mit dem wunderbaren Titel Páris, az én Bakonyom (Paris ist mein Bakony).35
Hier nützt das übersetzerische Können nichts, man könnte verzweifeln, wenn es nicht die tröstliche Gewissheit gäbe, dass es in den kleineren Literaturen Zentraleuropas ebenfalls dieses Phänomen – eine Mischung von sozialem Engagement und symbolistischer Stilmittel – in dieser Form gab.36 So bleibt doch nur der Versuch einer Entwirrung. Bakony ist eine teils gebirgige Hügellandschaft oberhalb des Plattensees. Im 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts dicht bewaldet, diente sie als Geheimversteck, als Erholungsort, als Kommunikationszentrum der Outlaws, der sog. betyár, der heimischen Robin Hoods, das heißt außerhalb des Gesetzes agierender Freunde des Volkes. Den Zauber von Paris und seine Wirkung auf die eigene Person beschwört Ady nicht mit einem autochtonen Bild aus der dortigen historischen Halbwelt herauf (etwa mit einer Villon-Anspielung oder mit Dekadenzpoesie und Rausch), sondern mit einem völlig fremden, nur dem ungarischen Publikum verständlichen. Hatvany versucht dieses verwirrend schillernde Farbspiel, das Aufgehen der Bedeutungseinheiten ineinander mit Umschreibungen wiederzugeben: Ady sei „Ein Bauer-Apollo“, zugleich ein „tränenreicher, kranker, bleicher, müder Troubadour.“ Er habe „die primitive Macht eines Psalmendichters“, seine Dichtung weise prophetische Züge auf, sie klinge wie eine entartete Bergpredigt. Gerade diese langgezogene, dunkel tönende, salbungsvolle, rhetorische Verve macht ihre besondere Kernigkeit, Urwüchsigkeit aus, sie macht die Moderne ungarisch. Bei all seinen Neuerungen ist es diese vertraut schwingende Tonlage, die seine Dichtung sich in unsere stark rhetorisch gefärbte literarische Überlieferung einfügen lässt, es ist seine Dichtung, die die Sprache der Moderne ungarisch ertönen lässt, und ihn einst populär machen wird. Er biegt die überlieferten konservativen Ausdrucksformen zur Verschriftlichung nie ausgesprochener, gar nie gedachter Inhalte zurecht. Für seinen Kampfgesang gegen die Standesherrschaft Fölszállott a páva (Der Pfau schlug ein Rad), wählte er, gleichsam als Verhüllung des revolutionären Inhaltes, die denkbar traditionalste Form.37
Die ersten zwei Zeilen des 1907 erschienenen Gedichtes werden tatsächlich aus einem Volkslied zitiert, auch bei Ady stehen sie in Anführungszeichen: „Fölszállott a páva a vármegye-házra, / Sok szegény legénynek szabadulására.“ Jenes Rad, das der Pfau auf dem Giebel des Komitats-Hauses schlug, ist Feuer, „zur Befreiung der unglücklichen Outlaws“. Die letzten vier Zeilen explizieren dies: „Wird der wilde alte Kerker nicht abgefackelt, / bleiben unsere Seelen weiter im Joch / Wird dem ungarischen Wort kein neuer Sinn gegeben / bleibt im traurigen Dasein des Volkes alles beim Alten“. Hatvany war sich 1908 bereits ganz sicher: „In der ungarischen
35 Hatvany (1908): Egy olvasmány, S. 237. 36 Sturm-Schnabl (1999): Soziales Engagement. 37 Hatvany (1908): Egy olvasmány, S. 234–244.
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Literaturgeschichte wird mit Endre Ady ein neues Kapitel aufgeschlagen. Die Worte formierten sich bereits zur Sturmlinie, wie zur Zeit von Kazinczy [des Jakobiners] oder Petőfi [des Literaten der 1848er Revolution]. Die Revolution ist da.“38 Doch obwohl Hatvany überzeugt war, einen vollständigen Überblick über Adys dichterische Disposition und Möglichkeiten zu haben, irrte er sich, besser gesagt war Ady nicht in der Lage, die hochgesteckten Ansprüche Hatvanys an ihn zu erfüllen. Hatvanys Ady-Begeisterung erlahmte nie. Trotz zahlreicher unangenehmer Konflikte mit dem launischen, unverlässlichen Dichter förderte er tatsächlich die Publikationsmöglichkeiten Adys unverdrossen publizistisch und unterstützte ihn kontinuierlich finanziell. Ady seinerseits versuchte sein Bestes zu geben. Aber trotz des gegenseitigen Wohlwollens kamen sie auf keinen grünen Zweig miteinander. Bis zuletzt verstand Ady nicht wirklich, was Hatvany von ihm wollte. Er war nicht imstande, die Vorliebe Hatvanys für die deutsche Literatur, für die deutsche Presse, für die deutsche Geisteswelt der Gegenwart, für die Aktivisten zu teilen: Auch abgesehen von seiner Antipathie gegen alle -Ismen war er ein bedingungsloser Frankreich-Liebhaber. Und da nützten Erklärungen Hatvanys der Art, wie er sie im Zuge der polemischen Auseinandersetzung mit der populären Nyugat-Vorläuferzeitschrift A Hét (Die Woche) vortrug, wenig zur Überzeugung Adys. Die Franzosen werden nie ein Interesse für das Ausland haben. Von Herder bis Kerr waren es Deutsche, die sämtliche Nationalkulturen der Welt zu verstehen, zu analysieren, zu beurteilen trachteten – und auch in der Zukunft werden es Deutsche sein. Von ihnen wurden Shakespeare, Ibsen oder Dostojewski zu europäischer Bedeutung erhoben. Wollen wir auch nur einen Tropfen unserer Kultur in den Blutkreislauf Europas bringen, müssen wir zuallererst Deutschland impfen. Daher werde ich statt in französische Zeitschriften, wie Die Woche mir empfiehlt, meine Beiträge über ungarische Literatur sehr wohl weiterhin in deutsche Periodika zu platzieren versuchen, sooft mir dazu sich Gelegenheit bietet. Ich erhalte täglich Briefe deutscher Herausgeber und Redakteure, die mir mitteilen, dass mein bruchstückhafter kulturgeschichtlicher Überblick in der Neuen Rundschau für das deutsche Publikum ein unbekanntes Wissensgebiet erschloss. Diese Arbeit muss forgesetzt werden, auch dann, wenn ich dafür die Schelte Der Woche in Kauf nehmen muss.39
Ich kann hier die Spannungen zwischen Ady und Hatvany in der Jahren 1908–1910; die Spannungen und Zerwürfnisse innerhalb der Redaktion der Zeitschrift Nyugat, und zwischen dem Mehrheitsaktionär Hatvany und dem leitenden Redakteur der Zeitschrift im Jahre 1911, die groteskerweise in ein Duell mündeten und das Ausscheiden Hatvanys und seine Rückkehr nach Berlin zur Folge hatten, nicht im Einzelnen darlegen. Ady übte, um die Differenzen zwischen Hatvany und ihm kurz zu fassen, im selbstgesteckten Rahmen Kulturkritik, die allgemein als Beleidigung des Ungarntums aufgefasst wurde. Jedenfalls von denen, die imstande waren, seine ungewöhnliche Verssprache wenigstens ansatzweise zu verstehen. Doch jene armen Outlaws die er beschwor – kurz: das rebellische Volk – gab es damals so nicht
38 Aus Hatvays Kritik der Holnap-Anthologie. Erstpublikation in der Zeitung Pesti Napló vom 23. September 1908. 39 Hatvany (1910): Válaszok, S. 413.
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mehr. Jene Gesellschaftsschicht, die er als Kern und Erbe des wahren, des angestammten Ungarntums ansah, die Bauernschaft, war bereits vor dem Weltkrieg so sehr differenziert, dass sie nie und nimmer mit einer Stimme hätte reden können, und schon gar nicht mit einer Stimme wie die der Ady-Dichtung angeredet werden. Ähnlich borniert war die Ady-Rezeption der Arbeiter-Presse. Sándor Csizmadia, ein seinerzeit hoch angesehener, heute vollkommen vergessener Arbeiterdichter qualifizierte in der Zeitung Népszava (Volksstimme) der Ungarischen Sozialdemokratischen Partei die Dichtung Adys 1909 als bürgerliches Greinen (polgári nyafogás) bzw. Irrenhausdichtung (tébolydaköltészet) ab. Zwar verwahrte sich der Literaturredakteur des Blattes energisch gegen diese Unterstellung, aber die Redaktion blieb geteilter Meinung und debattierte noch wochenlang darüber, ob diese „ultramoderne“ Lyrik der Arbeiterschaft zugemutet werden könne. Für die Bauernwie für die Arbeiterschaft galt gleichermaßen, dass Ady und sein Zielpublikum meilenweit voneinander entfernt waren. Das städtische Bürgertum, das Adys Dichtung nicht nur zu rezipieren, sondern auch zu schätzen vermochte, fiel widerum zahlenmäßig kaum ins Gewicht und war zudem beinahe vollständig vom Bauerntum und von der Arbeiterschaft isoliert. Die Bürger wären zwar für die gesellschaftskritischen Töne der Ady-Dichtung empfänglich gewesen, aber ihre Begeisterung für einen grundlegenden Wandel wurde durch den Kriegsausbruch vernichtet. Die ungarische Gesellschaft schaffte die friedliche Transformation von der Monarchie zur Demokratie nicht. Aladár Schöpflin (1872–1950), vom Anbeginn an einer der herausragendsten Literaturkritiker des Nyugat, bewertete die Turbulenzen um die Zeitschrift, die durch Hatvanys Versuch einer Anwendung des deutschen aktivistischen Ideengutes, durch seinen Versuch einer gezielten Politisierung des Literaturbetriebes generiert wurden, vom Anfang an missbilligend, gab aber seine abschließende Bewertung der Vorgänge erst 1927, anderthalb Jahrzehnte später ab. Hatvany lebte zu dieser Zeit noch im Exil, ließ seinen Rückblick über die Geschichte seiner Schicksalsgemeinschaft mit Ady indes bereits in Budapest publizieren.40 In seiner ausführlichen Rezension des Hatvany-Rückblickes (Ady starb bereits 1919) ging Schöpflin auch auf etwaige Erfolgsaussichten der seinerzeitigen Hatvany-Pläne kritisch ein. Er hielt sich nur kurz bei der Erörterung der Frage auf, ob es im Vorkriegsungarn eine ähnliche Initiative, wie die von Heinrich Mann und von Schickele geforderte Politisierung der deutschen Schriftsteller überhaupt möglich gewesen wäre und beantwortete sie mit einem eindeutigen nein. Hatvany hätte in all den Jahren, zwischen 1908 und dem Ende des Weltkrieges, in denen er den Dichter als einen geistigen Vorkämpfer für die Umgestaltung der ungarischen Gesellschaft aufbauen wollte, Adys scharfe Gesellschaftskritik missverstanden. Diese war zwar sowohl in seiner Dichtung als auch in seiner Publizistik unübersehbar und eindeutig, ging aber über die Beschreibung und die Verurteilung der Missstände nicht hinaus, war mithin Protest geblieben. Ady wollte und konnte kein Programm entfalten, das auch nur teilweise umsetzbar gewesen wäre. Hätte er Hatvanys Ansinnen
40 Ders. (1927): Ady a kortársak közt.
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entsprochen und seinen Ton noch schneidender gestimmt, wäre die Zeitschrift Nyugat mit ihm untergegangen. Beim seinerzeitigen Stand der Dinge wäre nur ein Ergebnis – mit oder ohne Verwirklichung jener redaktionellen Reformpläne, die Hatvany vorgeschlagen hatte – denkbar gewesen: Nyugat wäre nur ein Bruchteil seiner Leserschaft erhalten geblieben, die Gruppe der unvoreingenommenen Kenner. Der Grund war einfach: Ady. Die Masse des Publikums setzte Ady und Nyugat gleich, sah nur den Dichter, zu dessen Verständnis ihm der Weg damals noch versperrt war, den es mit einer beispiellosen Gegenpropaganda zu schmähen galt, den die Potentaten der Politik mit allen Mitteln verhasst machen wollten, selbst István Tisza nahm am Feldzug gegen Ady teil. Dieser künstlich entflammte und immer wieder neu angeheizte Ady-Hass war das größte Hindernis, um Nyugat zu einer in breiten Kreisen erfolgreichen Zeitschrift werden zu lassen.41
Abschließend soll die Frage kurz beantwortet werden, ob die Aktivismen von Hatvany und Kassák von Einfluss waren, ob sie etwas Bleibendes in Ungarn hinterließen. Die Antwort muss wohl lauten: Ja, sie haben beide mit den von ihnen (mit)gegründeten Zeitschriften Nyugat42 und Munka43, und mit dem ganzen Umkreis dieser Zeitschriften – Verlage, Arbeitsgruppen, verschiedene Schulen und Lehrredaktionen – sehr wohl markante, gültige Meilensteine im Kulturleben Ungarns vor allem in der Zwischenkriegszeit gesetzt. Nyugat blieb bis zur Besetzung Ungarns im Zweiten Weltkrieg die wichtigste Zeitschrift der bürgerlich-liberalen, Munka (Arbeit, 1928–1939) der linken (sozialistischen und sozialdemokratischen) Schriftstellergruppen. Sie haben ihrer Leserschaft auch in den immer totalitärer werdenden Jahren – solange es ihnen möglich war – stets und direkt die neuesten Ideen und die besten Arbeiten der europäischen Geisteswelt vermittelt. Ihrem Aktivismus, ihren Ideologien und Theorien war jedoch weniger Erfolg beschieden. Sie mussten sieben (Kassák), bzw. acht (Hatvany) Jahre im Wiener Exil verbringen, beide mussten das Scheitern ihrer jeweiligen Gesellschaftsutopie eingestehen. Kassák fasste dies in einem Satz zusammen: „Die Zeit war uns davongelaufen, ohne dass wir des fröhlichen und rotwangigen Antlitzes des Neuen Menschen angesichtig worden wären.“44 LITERATUR Barki, Gergely / Benesch, Evelyn / Rockenbauer, Zoltán (Hrsg.): Die Acht. A Nyolcak. Ungarns Highway in die Moderne, Wien 2012. Deréky, Pál: Eigenkultur – Fremdkultur. Zivilisationskritisch fundierte Selbstfindung in den literarischen Reisebeschreibungen der Aktivisten Robert Müller und Lajos Kassák. In: Hungarian Studies 17 (2003), 157–170. Ders.: The Reception of Italian Futurism in Hungarian Painting and Literature. In: Günter Berghaus (Hrsg.): International Yearbook of Futurism Studies, Vol. 4, Berlin / Boston 2014, 301–327.
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Schöpflin (1927): Ady és Hatvany. S. 700–705. Kulcsár Szabó (2012): Budapest – Wien – Berlin, S. 25–58. Konok (2004): A Munka-Kör. Kassák (1922): Mérleg és tovább, S. 4.
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EVOLUTION STATT REVOLUTION Rudolf Olden und der geistige Neubeginn 1918/19 Sebastian Schäfer Kann die klassenlose Gesellschaft eine bürgerliche, der Neue Mensch darin ein citoyen nach französischer Tradition sein? Ein derartiges Konzept zumindest scheint der im öffentlichen Leben der Weimarer Republik bekannte Journalist und Pazifist Rudolf Olden nach 1918 verfolgt zu haben. Seine Ideenwelt ist eine (eigentümliche) Mischung aus Verachtung des wilhelminischen Bürgertums (einschließlich seiner Idealgläubigkeit und Ideologiefixierung), dem er selbst entsprach, einerseits und der Vorstellung einer alle Klassen übergreifenden Bürgergesellschaft andererseits. Aus der Beengung der eigenen sozialen Herkunft und Zugehörigkeit entsteht bei Olden unter dem Eindruck der Ereignisse des Ersten Weltkrieges sowie der Novemberrevolution das Bild eines moralisch neu zu gründenden Bürgertums, das keine Klassen mehr kennt und sich dem Staat in seiner republikanischen Verfasstheit verpflichtet fühlt. Alle, so der Kerngedanke dieses politischen Intellektuellen, sollten ‚Bürger‘ der Republik werden. Während andere Zeitgenossen Moderne und Rationalismus aus einem vor 1914 herrührenden und anhaltenden antibürgerlichen Affekt heraus verwarfen und sich dem Faschismus oder Kommunismus zuwandten, neigte Olden umgekehrt zu einem Liberalismus, der den Neuen Menschen im Rahmen des Bürgertums neu erfinden und erziehen wollte. Mit dem Aufstieg totalitärer Regime fand eine Pervertierung der Idee des Neuen Menschen statt, die letztlich auf eine politisch und/oder rassisch motivierte Liquidierung des ‚Alten Menschen‘ hinauslief. Doch zuvor waren die 1920er Jahre von einer Vielfalt im Diskurs um jene Leitidee geprägt, die beispielhaft in Gestalt von Rudolf Olden Humanismus und Menschenrechte nach westlichem Vorbild in den Mittelpunkt rückte. 1. EIN WEG DER ENTFREMDUNG – LEBENSLAGE BIS 1914 Als Rudolf Olden am 14. Januar 1885 in Stettin als drittes Kind aus der Ehe des Schauspielpaares Hans Olden und Rosa Stein hervorging, gehörte seine Familie im Rhein-Main-Gebiet zum Kreis jener, die das kulturelle und politische Leben bereits seit den Revolutionstagen des Jahres 1848 mitprägt hatten. Die väterlichen Vorfahren des jungen Olden, die Familie Oppenheim, repräsentierten das aufstrebende, jüdisch geprägte Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Das scheinbare junge Familienglück sollte aber bald nach Rudolfs Geburt zerbrechen.
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1887 verließ der Vater Hans die Familie. Künftig war es vor allem die Schwester der Mutter, Hedwig Fürstin Liechtenstein, die finanziell und gesellschaftlich die ganze Familie unterstützte. Besonders für den jungen Olden wurde sie zu einer engen Bezugsperson. Sie war es, die ihm anfänglich den Weg in die bessere Gesellschaft ebnen half. Doch konnte das sorgsame Bemühen um die scheinbar bürgerlich gefestigte Existenz nicht darüber hinwegtäuschen, dass Olden schon in jungen Jahren an einem schlechten Gesundheitszustand litt, den er als Makel in einem Umfeld empfand, das körperliche Vitalität verlangte, gerade mit Blick auf die militärische Ausbildung als Möglichkeit gesellschaftlichen Aufstiegs. Wenige Jahre später, nachdem er am 14. Juli 1903 in Freiburg sein Abitur abgelegt hatte, wurde diese Problematik immer drängender. Dabei scheint vor allem sein familiäres Umfeld ihn zu diesem Schritt bewogen zu haben. „Es wird mir nämlich von allen Seiten geraten, schon im nächsten Jahre zu dienen.“1 Olden selbst hegte vielmehr den Wunsch, sein begonnenes Studium der Rechtswissenschaften fortzusetzen, das er im gleichen Jahr aufgenommen hatte. Keineswegs war er ein für das Militärische begeisterter Jüngling gewesen. Den Mut allerdings, sich gegen den von der Familie auferlegten Druck in dieser Angelegenheit zu wehren, brachte er nicht auf. Gleichwohl verlieh er seiner Skepsis Ausdruck: „Warum ich übrigens jetzt dienen soll, kann ich nicht einsehen. Aber nicht mein Wille geschehe, sondern der Eurige.“2 Da ihm der Dienst an der Waffe ohnehin unumgänglich erschien, wollte er seine Dienstzeit in der Armee des Kaisers wenigstens zur Flucht aus ,diesem‘ Deutschland nutzen. Du weisst ja, dass es mein brennender Wunsch ist, durch dies Dienstjahr nach Südwestafrika zu kommen, dort Einblicke in diese aufblühende Kolonie zu bekommen und vielleicht dort irgendwie als Beamter oder anders eine Lebensstellung zu erreichen, zugleich dadurch eben in gänzlich andere Verhältnisse zu kommen, denn je länger ich hier in Preussen lebe, desto mehr sehe ich ein, dass es auf die Dauer meines Bleibens hier nicht hier sein wird. Ich muss, wenn mir das Leben lebenswert sein soll, in freiere, großzügigere Verhältnisse kommen, in denen ich irgendwie eine Stellung haben kann, die mich ausfüllt und in der ich etwas leisten kann.3
In dem „gewohnten deutschen Trott“ fühlte sich Olden nicht mehr aufgehoben. Er war von den gesellschaftlichen Konventionen seiner Zeit eher gelangweilt. Auch in politischer Hinsicht war seine Frustration über die Realitäten des Kaiserreiches deutlich. Olden gab sich der Hoffnung hin, womöglich auch der Illusion, ausgerechnet in den Kolonien sein Freiheits- und Gestaltungsbedürfnis verwirklichen zu können. „Dort drüben hat natürlich auch der Beamte Neuland vor sich, in dem er positives leisten kann.“ Gleiches sah er in Deutschland für nicht mehr realisierbar an. Im heimischen Umfeld betrachtete er seine berufliche Perspektive als nutz- und sinnlos, was ihn in eine tiefe Depressivität abgleiten ließ. Den Alltag beschrieb er
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Rudolf Olden an Rosa Olden, o.D. [1904], EA, EB 79/020. Rudolf Olden an Rosa Olden, 26.06.1905, EA, EB 79/020; Vgl. Rudolf Olden an Rosa Olden, 20.07.1905, EA, EB 79/020. Rudolf Olden an Hedwig Liechtenstein, 09.05.1910, EA, EB 79/020. Hervorh. im Original. Die folgenden Zitate ebd.
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zunehmend als Belastung. In einem Brief an seine Schwester Ilse heißt es: „Der Tagesarbeit eiserne Klammern halten meinen beweglichen Geist wieder umschlossen.“4 Der 23-jährige Olden hinterfragte schließlich seinen eingeschlagenen Lebensweg, der ihn immer mehr in eine Frustration und Sinnkrise getrieben hatte. Statt eine Beamtenkarriere anzustreben, betrachtete er zunehmend die schöne Literatur und die Schauspielkunst als sein „eigentliches Fach“5. Vor allem Heinrich Heine, William Shakespeare, Friedrich Nietzsche und die Schriften Stefan Georges hatten es ihm angetan.6 Mit der Novelle Hildegard von F. und der Romanskizze Abschluß legte Olden schließlich 1913 sogar erste eigene literarische Produktionen vor.7 Ob und wie es mit seiner beruflichen Zukunft als Jurist überhaupt vorangehen könnte, machte er nicht zuletzt von seinem schriftstellerischen Erfolg abhängig. Dabei sollte eine spezifische literarische Begegnung den jungen Rudolf nachhaltig prägen. Über die Schauspielerin Elisabeth Steinrück lernte Olden im April 1911 den bedeutenden Wiener Dramatiker Arthur Schnitzler kennen, der schon bald zu einer engen literarischen wie menschlichen Vertrauensperson für ihn werden sollte. Hierdurch fand Olden zu jener Gruppe der literarischen Moderne, die heute als Jung-Wien bezeichnet wird. In der Literatur und Décadence-Kunst des Fin de Siécle, der sich Olden emotional stark verbunden fühlte und die seine persönlichen Leidenschaften in jungen Jahren wohl am deutlichsten prägte, traf er im Umfeld der Wiener Moderne auf Gleichgesinnte, die genauso wie er ihr Verhältnis zur modernen Welt neu zu bestimmen versuchten. Für den im preußisch dominierten Deutschland aufgewachsenen Olden, verkörperte der Kreis um Schnitzler eine Welt des (nicht nur literarischen) Aufbruchs, in der er die ihn beengenden gesellschaftlichen Konventionen hinter sich lassen konnte. Womöglich war es gerade die Enttäuschung über die Rolle des liberalen Bürgertums in Deutschland, das nach der gescheiterten Revolution von 1848 und durch die Reichseinigung quasi einen Burgfrieden mit dem Bismarck-Reich anstrebte, was ihn für den apolitischen Ästhetizismus Jung-Wiens empfänglich machte. Mag vor allem die Elterngeneration die Aussöhnung mit und die Integration in die herrschenden Verhältnisse in Deutschland seit 1871 gesucht haben, so war dies für die Generation Oldens politisch keine Option, was die Suche nach Alternativen und einem dritten Weg provozierte, um sich in gewisser Weise von politischen Frustrationen und moralischen Konventionen zu befreien und zu emanzipieren. Zudem faszinierte ihn wohl die überschäumende Preisung der Subjektivität und des Individualismus. Dabei war ein Philosoph von besonderer Bedeutung, dessen Kritik der modernen Ideen besonders bewundert wurde, Friedrich Nietzsche. Oldens Lebensweg bis 1914 stellte eine persönliche Identitätskrise dar, die durch die Marginalisierung der liberalen Ideen von 1848 gerade die junge Gene4 5 6 7
Rudolf Olden an Ilse Seilern, 12.01.1911, EA, EB 79/020. Rudolf Olden an Hedwig Liechtenstein, 28.10.1907, EA, EB 79/020. Vgl. Rudolf Olden an Rosa Olden, 03.11.1903; Vgl. ders. an Hedwig Liechtenstein, 23.03.1908; Vgl. ders. an Ilse Seilern, o.D. [1913], EA, EB 79/020. Vgl. Olden (1914): Hildegard, 11 S., Vgl. Olden (o.J.): Abschluß 14 S., EA, EB 79/020-A01.0003.
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ration dem Staat und der Gesellschaft entfremdete. Das, was er persönlich empfunden und erlebt hat, fand er in den literarischen Produktionen von Menschen wieder, die schon bald seine engen Freunde werden sollten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Oldens Identitätskrise stellvertretend für eine im Wilhelminismus sozialisierte jüngere Generation steht: Vom Staat und der Gesellschaft entfremdet, suchte diese Generation Anschluss an Vertreter der literarischen Moderne. Letztlich boten die Werke Jakob Wassermanns für Oldens persönliche Entwicklung das folgenreiche Motiv der Emanzipation von einer „Bourgeoisie, die, müde vom wirtschaftlichen Kampf und unfähig zu innerer Sammlung, übermütig im Besitz, aller Ideale bar sich betäuben“8 wollte, und nach 1918 zurückfand zu Humanität und Nächstenliebe. Er changierte auf der Basis der revolutionären Philosophie Nietzsches zwischen einem Impressionismus der Seele und einem Expressionismus des Menschlichen. 2. DIE ZEITWENDE VON 1918: MENSCHENRECHTE UND GEISTIGE REVOLUTION 2.1 Die Sprachlosigkeit des revolutionären Augenblicks Mit Beginn der revolutionären Umwälzungen von 1918/19 stand für Olden fest, welche neuen staatlichen Strukturen auch geschaffen werden würden, die hässliche Fratze des Militarismus werde darunter immer wieder zum Vorschein kommen. Der sogenannten Revolution traute er nicht, hielt er sie doch von der militärischen Gewalt arrangiert. Die scheinbare staatliche Liberalisierung durch die Ausrufung der Republik diene nur dem Kampf um angenehmere Friedensbedingungen. „Ist Deutschland auch von der Revolution bewegt, erregt, durchpflügt, verändert, es ist doch Deutschland.“9 Die Zeit hätte eines ausführlichen politischen Diskurses im Reichstag bedurft, doch dieser war als Akteur nicht sichtbar, spielte in der politischen Neugestaltung des Reiches in der Wahrnehmung von Olden keine Rolle, was er bedauerte. Nur die Bühne des Parlamentarismus könne dauerhaft die adäquate Form revolutionären Handelns darstellen. Doch sei bereits der Zweck des politischen Neuanfangs ein verfehlter, wenn man ihn einseitig auf die Erzielung eines allein für Deutschland gerechten Friedens bezieht. Die zivile Politik habe sich quasi in diesem Falle vor den Karren des Militärs spannen lassen, das sich seiner Verantwortung zu entziehen suchte. Blickt man noch einmal auf die Ereignisse des Spätsommers und Herbstes 1918 zurück, so war sein Bild durchaus zutreffend. Als der Glaube an den militärischen Sieg des Deutschen Reiches sank, brachen die zuvor verdeckten politischen und sozialen Spannungen mit großer Heftigkeit hervor und mündeten in einer Systemkrise. Die sich langsam abzeichnende
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Wassermann zit. n. Kraft (2008): Jakob Wassermann, S. 142. Olden (1919): Wort in Revolution.
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Niederlage beschleunigte zunächst den Prozess der gezielten Parlamentarisierung, den die Mehrheitsparteien im Reichstag schon im Sommer 1918 einleiteten. Die Oberste Heeresleitung (OHL) sah sich Ende September 1918 gezwungen, den sofortigen Waffenstillstand zu empfehlen und den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson um Annahme des Friedensangebotes zu ersuchen. Dies wurde mit dem sogenannten Parlamentarisierungserlass untermauert, d. h. der neue Reichskanzler Max von Baden konnte sein Kabinett nur unter Einbeziehung einer Mehrheit im Reichstag bilden. Mit dem öffentlichen Bekanntwerden des Waffenstillstandsgesuches am 3. Oktober kannte die kriegsmüde Bevölkerung nur ein Ziel: Um jeden Preis und so schnell als nur irgendwie möglich den Krieg zu beenden. Es wuchsen Zweifel daran, ob die bislang durchgeführten Verfassungsänderungen tatsächlich die Grundlage für einen raschen Friedensschluss sein könnten. Als Wilson immer unverhohlener damit drohte, die Sondierungen über einen Waffenstillstand abzubrechen, wenn die USA weiterhin mit Vertretern des Monarchismus verhandeln müssten, stand eine folgenschwere Kausalität im Raum: Geht der Kaiser, kommt der Frieden. Im Windschatten dieser Entwicklung bereitete die neue Reichsregierung, unbemerkt von der breiten deutschen Öffentlichkeit, eine weitere Verfassungsreform vor. An der fehlenden Wahrnehmung dieses Parlamentarisierungsprozesses war man selbst nicht ganz unbeteiligt. „Denn der Reichstag hätte eine zentrale Rolle spielen müssen – als Forum zur massiven Artikulation der Parlamentarisierungsbestrebungen –, trat aber im Oktober viel zu selten zusammen“, wie Eberhard Kolb bemerkte.10 Das beherrschende Thema blieb die sofortige Beendigung des Weltkrieges durch die Abdankung des Kaisers. Dabei bewirkten die Reformen einen erheblichen verfassungspolitischen Fortschritt. Nur mit dem Vertrauen des Reichstages war der Reichskanzler fortan politisch legitimiert. Seine Amtsführung musste er nunmehr gegenüber dem Parlament verantworten. Rückblickend kam Olden daher zu dem Schluss: „Seinen Zweck hat der Deutsche eisern im Auge, aber die Form, die beredete Umkleidung des Handelns, das Wort vor allem, ist ihm der sich seiner nicht kundig weiß, so sehr Nebensache, daß er dazu neigt, es völlig zu vernachlässigen, ja es zu verachten.“11 Darin unterscheiden sich die Merkmale der deutschen Revolution fundamental von denen der französischen. „Der Franzose ist der Meister der Form.“ So gelang es in Deutschland durch den eingeleiteten Verfassungswandel nicht, die militärische Führung entscheidend zu zähmen, wie letztlich der befohlene Flottenvorstoß in die Nordsee durch die Seekriegsleitung bewies. Das Bedürfnis nach gesellschaftlichem und politischem Wandel fiel nach der Wahrnehmung Oldens dem Verdikt der Zweckmäßigkeit zum Opfer, welches die Militärs diktierten, um den Frieden zu erreichen, ohne mit ihm in Verbindung gebracht zu werden. Parlamentarismus und Republikanismus galten Olden in ihrer Entstehung nicht als Ergebnis von Einsicht und politischem Fortschritt, sondern als friedenspolitisches Feigenblatt. Von einer wahrhaften Revolution (die französische galt als Vorbild) könne nicht die Rede sein. Deren Anspruch
10 Kolb (2009): Die Weimarer Republik, S. 5. 11 Olden (1919): Wort in Revolution. Das folgende Zitat ebd.
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sei es, den Boden für neue Ideen zu bereiten. Das Ereignis von 1918 bleibe national begrenzt und liefere als Revolution kein Beispiel für neue internationalistische Gesellschaftsvorstellungen, wie es die Revolution des Jahres 1789 getan hatte oder wie es die russische vom Oktober 1917 für sich beanspruchte, ohne dass diese für Olden zur Leitfigur wurde. Was setzte er dem entgegen? Worin bestand seiner Ansicht nach der wahre politische Zweck, dem die Revolution zu dienen habe? Das Ziel des Staates sei die Implementierung und Wahrung der Menschenrechte. Einzig deren Deklaration sei als universalistisches Dokument über alle Nationalismen erhaben und könne daher den Boden für einen künftigen friedlichen Internationalismus bereiten. Dies gelte für alle Menschen in gleichem Maße, ohne Unterschied der Nation. Die in der déclaration des droits de l’homme et du citoyen verfassten Grundsätze seien somit die „natürlichen Rechte des Menschen schlechthin. Das Ziel allen politischen Gemeinwesens wurde hier endgültig klargestellt, festgelegt.“12 Es war dieser entschiedene Rekurs auf die Menschenrechte, der Olden von vornherein Abstand vom Sozialismus nehmen ließ. Auf den sozialistischen Einfluss war es zurückzuführen, so Olden, dass sich der Siegeszug der Menschenrechtserklärung im deutschsprachigen Raum so lange verzögert hatte; ein Umstand, der auch die junge Republik weiterhin belastete. „1830 und 1848 hat sie [die Menschenrechtserklärung, Anm. d. Verf.] ihre Rolle gespielt und hat erst ihren Einfluß verloren, als sie von den neuen internationalen Heilsätzen des Sozialismus abgelöst wurde.“ Die Handlungsmaxime des Staates sei definiert durch die unveräußerlich angeborenen Rechte des Menschen. Hier offenbare sich eine grundsätzlich humanistische Gleichheit und Freiheit. Diese zu schützen und zu erhalten bildete für den jungen Kriegsheimkehrer das oberste Gebot jeder politischen Gemeinschaft. Doch für eine Ausgestaltung der Republik nach diesen Grundsätzen, die für Olden nur durch die Stärkung des Parlamentarismus erzielt werden konnte, bestanden äußerst ungünstige Voraussetzungen. Besonders die Einbeziehung der Arbeiter- und Soldatenräte empfand er als eine Hypothek für das zukünftige parlamentarische System. Gewiß, in ihnen wird geredet, und da es ihrer fast überall gibt, kann man annehmen, daß unmäßig viel öffentlich geredet worden ist in diesen Wochen. Was man davon hört, ist viel Gezänk, auch Anderes, aber kein Wort, das bleibt, das irgendwo dauernden Widerhall findet. Und diese übervielen, kleinen Augenblicks-Parlamente können auch kein Boden für solche Worte sein.13
Doch verkannte er anfänglich, dass die Führung der Mehrheitssozialdemokratie nicht gewillt war, die Stellung des Reichstages weiter zu stärken und sich schließlich mit den erreichten Oktoberreformen zufriedengab. Die Spannungen innerhalb des Rates der Volksbeauftragten über die künftige Regierungspolitik wuchs sich Anfang Januar 1919 zu einer veritablen Krise aus. Der Konflikt wurde durch den von der Mehrheitssozialdemokratie befohlenen Truppeneinsatz Ende Dezember in
12 Ders. (1919): Internationalismus. Folgendes Zitat ebd. 13 Ders. (1919): Wort in Revolution. Folgendes Zitat ebd.
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Berlin entfacht. Die Differenzen spiegelten die unterschiedlichen Auffassungen zwischen SPD- und USPD-Vertretern hinsichtlich des Umgangs mit der OHL wider. In der Militärpolitik waren die Gegensätze unüberbrückbar, was letztlich zum Austritt der USPD aus dem Rat führte. Nach der Gründung der KPD wurde der Januaraufstand durch die Regierung mit reaktionären Freikorpseinheiten blutig niedergeschlagen. Diese politische Eskalation riss tiefe Gräben innerhalb des Proletariats auf. Im weiteren Verlauf der Republikgründung suchte die SPD-Führung von nun an immer mehr den Schulterschluss mit dem ehemaligen kaiserlichen Offizierskorps, der Bürokratie und den bürgerlichen Parteien. So dokumentierten die Ereignisse bis Ende Januar 1919 für Olden nur eines: „Die Gabe des Wortes hat auch die Revolution den Deutschen nicht gegeben. Er ist der Alte geblieben, derselbe Deutsche, wie vorher, der schießen, aber nicht sprechen konnte. Wer aber nicht spricht, kann sich nicht verteidigen; er kann seine Gesinnung ändern, aber nicht die Welt von der Aenderung überzeugen.“ Das, was Olden als obersten Zweck der politischen Gesellschaft definierte, bedurfte in seiner Perspektive zusätzlich der Ergänzung durch den Sozialstaat, denn jede Revolution habe auch immer ökonomische Ursachen. Arbeitslosigkeit, Teuerungen und Nahrungsmittelmangel machten zugleich empfänglich für die Versprechungen von ideologischen Demagogen. „So kann man als Grundsatz annehmen, daß ein Land vor der Revolution stets infolge Mangel an genügender Produktion gelitten hat, daß die Staatsleitung außerstande war, die Produktion so zu gestalten und zu verteilen, daß sie allgemeinen Bedürfnissen genügte.“14 In Deutschland stellten schließlich die wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges eine zusätzliche Hürde dar, um politische Stabilität zu erreichen. Revolutionen verschlechtern in der Betrachtung Oldens zunächst die wirtschaftliche Lage. Daran ändert ein bloßer Regierungswechsel eben nichts. Besonders das Bürgertum bekäme dies zu spüren. Für die Arbeiterbewegung seien bereits die wirtschaftlichen Bedingungen vor der Revolution äußerst ungünstig gewesen. Doch diese schwierige Ausgangslage dürfe nicht dazu führen, dass schlussendlich politische Rechte auf Basis der verbürgten Menschenrechte und die Idee einer sozialen Republik gegeneinander ausgespielt werden. Vielmehr waren sie für Olden zwei Seiten ein und der selben Medaille. Gerade für das Bürgertum, davon war Olden überzeugt, würden die Veränderungen in der staatlichen Architektur ökonomische Härten mit sich bringen, die es zu ertragen lernen müsse. Das Recht auf Arbeit und beispielsweise das Recht auf finanzielle Unterstützung durch den Staat im Falle von Arbeitslosigkeit sei eben kein Attentat auf die (bürgerliche) Freiheit, zumal diese ohnehin nur universell gedacht werden kann. Olden befürchtete, dass die von der Regierung durchgeführte Sozialpolitik in Form der Einführung des Achtstundenarbeitstages, der Beibehaltung der im Krieg geschaffenen Neuerungen (Verbindlichkeit von Tarifverträgen, bei Lohnstreitigkeiten staatliche Schlichtung und die Etablierung von Arbeitsausschüssen) oder die Abschaffung des Gesetzes über vaterländischen Hilfsdienst sich nicht als dauerhaft erweisen würden, um eine innergesellschaftliche Befriedung zu
14 Olden (1919): Revolution und Arbeiterbewegung. Folgendes Zitat ebd.
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erreichen. „Wie 1789 und 1848 ist es auch der heutigen Revolution gelungen, die politischen Rechte der Bürger zu erweitern. Der Versuch, die Arbeitsbedingungen zu verbessern, ist noch im Gange, und es ist fraglich, ob bisher erzielte Erfolge Dauer haben werden.“ Soziale Reformen dienen, davon war Olden offenbar überzeugt, dem friedlichen Miteinander in einer Gesellschaft und verhindern eine ideologische Polarisierung. In diesem Bemühen stand er freilich nicht allein, da mit dem Ende des Ersten Weltkrieges die Erkenntnis wuchs, dass es keine Demokratie geben könne, ohne einen bestimmten Grad an gesellschaftlicher Solidarität. Extreme soziale Fragmentierungen und Ungleichheiten stehen der geistigen Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur im Wege. Eine Zusammenführung der liberalen und sozialen Demokratie vertrat nicht zuletzt der erste Reichskanzler der Weimarer Republik, Gustav Bauer. Kollektive Teilhabe durch wirtschaftspolitische Maßnahmen muss verbunden sein mit persönlichen Freiheitsrechten. Im Auftrag des Volkes bedarf es einer gezielten Neuordnung der wirtschaftlichen Machtverhältnisse. Mit einer sozialen Demokratie verband nicht nur Olden die Zuversicht einer gesellschaftlichen Emanzipation und eines neuen Zusammenhalts. Partizipation war das leitende Prinzip für den Auf- und Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Elemente. Politische Gleichberechtigung bedarf einer Entsprechung in der sozialen Realität. Fehle diese, bleibt die Demokratie politisch eine leere Hülle. Besonders aus dem Bereich der Bildung heraus müssten zunächst die Fähigkeiten und Voraussetzungen geschaffen werden, eine demokratische politische Kultur zu stiften, die dann ihre Fortsetzung auf dem Feld der Sozialpolitik findet. „Wir müssen die Waffen der Bildung und der Kenntnis an das ganze Volk verteilen.“ Mit diesen Ideen befruchtete Bauer in seiner ersten Regierungserklärung am 23. Juli 1919 die politische Debatte über den Geist der neuen Demokratie. Ohne sich explizit auf den Kanzler zu berufen, begründete Olden von diesem Punkt aus sein weiteres politisches Denken.15 2.2 Kritik am bürgerlichen Idealismus Pathetisch könnte man die bisherigen Positionen und Stellungnahmen Oldens zu den revolutionären Ereignissen in Deutschland am Ende des Ersten Weltkrieges wie folgt zusammenfassen: Eure Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube! Woran entzündeten sich seine Zweifel an der Aufrichtigkeit und Zweckorientierung der politisch Handelnden? Mit einem Wort: am Idealismus. Schon die Kräfte, die die Revolution arrangierten, wussten dessen Kraft zu nutzen. Der Idealismus dürfe dabei aber nicht in einem philosophischen Sinne verstanden werden. Das Urübel in einem Zeitalter der Ideologien sei „die Absicht und Fähigkeit eines Menschen seine Handlungen nicht nach dem ihm jeweils sich bietenden Vorteil, sondern nach einer allgemeinen, unpersönlichen Idee einzurichten.“16 Die politische Idee lasse den
15 Vgl. Müller (2014): Lebensversuche, S. 75–105. Das Zitat Gustav Bauers ebd., S. 86f. 16 Olden (1919): Gegen den Idealismus. Folgendes Zitat ebd.
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Menschen als Mittel zum Zweck verkommen. Bereits der Krieg sei eine „ideale Angelegenheit“ gewesen. Der Idealismus liege zweifelsfrei in der menschlichen Natur und könne leicht im Sinne einer unpersönlichen Idee, also eines bestimmten Zwecks, missbraucht werden, wobei Zwang dazu häufig gar nicht notwendig sei, was sich für Olden beispielsweise an der großen Zahl der Kriegsfreiwilligen des Jahres 1914 zeigte. Damit zielte er durchaus selbstkritisch auf seine eigene Person. Ende Juli 1914 hält sich der neunundzwanzigjährige Rechtsreferendar in Frankfurt am Main auf. Über die politische Situation schrieb er am 29. Juli an seine Mutter: „Hier glaubt man allgemein an Krieg und hält den Zeitpunkt für sehr günstig für Deutschland.“17 Eines stand für ihn fest: „Wenn Deutschland Krieg bekommt, so denke ich mich doch freiwillig zu stellen, sonst muss ich noch als Landsturm Eisenbahnlinien bewachen, was mir keine sehr würdige Beschäftigung zu sein scheint.“ Diese Vorstellung wurde in wenigen Tagen zur endgültigen Gewissheit, als er am 3. August, nicht ganz ohne Stolz über seinen freiwilligen Eintritt in das Dragonerregiment Nr. 24 in Darmstadt berichtete. Er sei „voller guter Zuversicht, so gefährlich die Situation auch sei.“18 Vor diesem biografischen Hintergrund gab der spätere Olden dem Idealismus – verstanden als kollektiver Habitus und weniger als philosophische Lehre – den entscheidenden Anteil am Ausbruch des Krieges. Diese Grundeinsicht bestätigte sich für ihn auch in der Menschheitsgeschichte, wurde doch bereits im antiken Rom der Idealismus benutzt, um die Massen für den Krieg zu mobilisieren. Der Idealist maße sich an, so Olden weiter, einen bestimmten gesellschaftlichen Zustand, den er für erstrebenswert hält, allgemeingültig für alle Mitmenschen oder gar die gesamte Menschheit zu erklären. Idealismus müsse daher als Utopismus gebrandmarkt werden, suggeriere er doch stets „das Unerreichbare und Unmögliche mit dem Brustton der Überzeugung als nahe bevorstehend“19. Diesen Zwang zur Idealisierung von politischen Zielen beobachtete er auch am Wettbewerb der politischen Parteien. Selbst die demokratischen Parteien mussten sich dieser Logik anpassen. „Politik, die die Kunst des Erreichbaren sein soll, ist eben das Gegenteil.“ Verursacher dieses Mechanismus wäre aber die Gesellschaft selbst, wäre das Individuum, das sich stets gern an Idealen berauscht und nach ihnen urteilt. Daran könne auch die Demokratie zunächst nichts ändern. Denn auf der Ebene des Volkes würden sich diese persönliche Indisposition vielmehr zu einem unersättlichen Hunger der Menge nach Idealen summieren. Insbesondere das liberale Denken sah er aufgrund dieser Logik in Gefahr. Die Parteien des politischen Liberalismus seien die Opfer des in Deutschland besonders ausgeprägten idealistischen Prinzips, auch und vor allem in der Demokratie. „Und während diejenige Gruppe von Politikern, die das direkt Absurde als wünschenswert und in die Tat umsetzbar darstellt, immerhin noch einigen Anhang erringen, ist es das natürliche Schicksal der Mittelparteien, die Vermittlung der Extreme empfehlen, zerrieben zu werden.“ Den Idealismus nahm Olden einerseits als ein Instrument der Mächtigen wahr, andererseits zeige er die menschliche 17 Rudolf Olden an Rosa Olden, 29.07.1914, EA, EB 79/020. Folgendes Zitat ebd. 18 Rudolf Olden an Hedwig Liechtenstein, 03.08.1914, EA, EB 79/020. 19 Olden (1919): Gegen den Idealismus. Die folgenden Zitate ebd.
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Fähigkeit zur Selbstgeißelung. Er sprach den Deutschen in diesem Zusammenhang in gewisser Weise die politische Reife ab, insofern sie sich in ihrem Urteil einzig und allein von Idealen führen ließen. Vor allem an despotischen Regimen verdeutlichte sich für Olden der Zusammenhang zwischen Militarismus und Idealismus. Denn in einem despotischen Herrschaftssystem werde die Armee zum „größten Blendwerk für die Massen“. Die Größe der eigenen Nation werde zum Ideal stilisiert. Das Glück des Landes hänge dann ausschließlich von ihr ab. Ein Sieg der eigenen Armee über eine andere mache die Nation erst in ihrer Größe bedeutsam, letztlich glücklich. Das Bildungssystem förderte diesen Denkmechanismus bisher sogar. Die staatliche Erziehung muss daher als mangelhaft beschrieben werden: „Das Kind nämlich ist absolut unidealistisch, seinem einfachen klaren, sauberen Gefühl ist das Ideal fremd. Und würde den großen Kindern fremd bleiben, wäre nicht jegliche Erziehung auf das unmenschliche und unchristliche bemüht, ein Ideal nach dem andern in die unverdorbene Seele zu pressen.“ Dieser Vorwurf war vor allem auf das Bürgertum als soziale Gruppe gemünzt: Das Bildungsideal des Bürgertums lief für Olden darauf hinaus, „daß es Erkenntnisse von gestern zur Täuschung seiner Kinder mißbraucht. Aus seinem sozialen Standpunkt heraus ist der Bürger blinder Anbeter der Macht, die seine wirtschaftliche Basis schützt, Verehrer des Militarismus.“20 Wenn der Bürger auch einerseits bei Olden zum Träger des Idealismus degradiert wird, bietet er jedoch andererseits die Möglichkeit zur Umkehr. In ihm läge der Keim, aus der Republik einen wahrhaft friedlichen und demokratischen Staat machen zu können. An dieser Stelle nahm Olden auch eine Erweiterung des Begriffs Bürgertum vor. Diesen gelte es nicht nur soziologisch zu definieren. Geistig sah er auch die Arbeiterschaft als im Kern bürgerlich. Sie sei ebenso anfällig für den Idealismus und nicht frei von dem Wunsch nach ökonomischer Teilhabe und Saturiertheit. Die Sozialdemokratie sei geistig und wirtschaftlich längst bürgerlich geworden. „Der Einfluß, den sie im Staate ausübte, die Feinheit der Gliederung und weite Verzweigung ihrer Bestandteile machte sie notwendig konservativ in ihren Bestrebungen, bürgerlich dem Geiste nach.“ Das diente letztlich der gesellschaftlichen Integration, denn hätte sich die deutsche Sozialdemokratie nicht „verbürgerlicht“, betriebe das Bürgertum ihren gesellschaftlichen Ausschluss. Gleiches gelte für die Anhänger des Kommunismus.21 Den Glauben an den politischen Gestaltungswillen des Bürgertums hatte Olden somit, trotz seiner Kritik, offenbar nicht verloren. Entscheidend sei nun die Dichotomie zwischen der revolutionären Tat und dem revolutionären Gedanken. Nur letzterer könne überhaupt die Grundlage für eine wahre Revolution legen, in welcher
20 Ders. (1919): Lob des Bürgers. Alle folgenden Zitate ebd. 21 Ebd.: „Denn radikal kann nur der vom Besitz, von Interesse an Erhaltung ungetrübter, im Altruismus reine Mensch sein. Nur er ist frei von Rücksicht auf sich selbst und auf andere; er allein folgt unbelastet und fruchtlos dem revolutionären Gedanken; darum entrechtet er […]. Dann ist sein Augenblick, und nur ein Augenblick ist ihm zur Tat gegeben! – vorbei, so wird er sich verbürgerlichen oder der Bürger wird ihn verbannen, verschließen, sich vor dem Radikalismus schützen.“
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der Bürger wieder zu seiner Bestimmung zurückfinden kann. Für den Bewusstwerdungsprozess neuen gesellschaftlichen Lebens sei nur der Gedanke konstitutiv. Allein eine Revolution des Geistes könne politischen Fortschritt bringen und die neue Demokratie langfristig stabilisieren. Die revolutionäre Tat diene nur dem Übergang. Sie solle kurzfristig dem revolutionären Gedanken zum Durchbruch verhelfen. „Revolution, deren eigentliches Wesen Geist ist, wird dann vorübergehend, einen Augenblick lang, Handlung, sprengt mit der den Mitteln der feindlichen Gesellschaft angepaßten Taktik der Gewalt deren Bestand und verpufft sofort im luftleeren Raum.“ Die Novemberrevolution und das Bürgertum seien über dieses Stadium jedoch nie hinausgekommen, um eine parlamentarische Demokratie zu errichten, in der allein der Reichstag dem revolutionären Gedanken die Form rechtsstaatlicher Gesetzgebung geben könne. Nachdem das politische System des Monarchismus beseitigt war, hatte das Bürgertum nach Ansicht Oldens an der Aufgabe versagt, die Revolution auf erzieherischem Wege fortzusetzen, weshalb das Parlament auch nicht die ihm zugedachte Rolle einnehmen konnte. Die Aushandlung von annehmbaren Friedensbedingungen, die Abwehr der kommunistischen Gefahr und der Schutz der eigenen ökonomischen Interessen erschienen dem Bürger wichtiger als eine staatsbürgerliche Erziehung und die Überwindung der eigenen politischen Unmündigkeit. Die nach der Zerstörung sich wieder zur positiven Arbeit sammelnden Kräfte bilden die bürgerliche Reaktion nach der revolutionären Tat. Die Arbeitsmittel der Bürgerschaft sind Emsigkeit und Fleiß, das Motiv ihrer Handlungen ist der Trieb zur Erhaltung ihres Lebens, ihr Streben geht dahin, möglichst bald wieder in Bequemlichkeit und Wohlleben, in den Sumpf ihrer Geistesträgheit zu versinken.
Dabei hielt er das Bürgertum aufgrund seiner relativen wirtschaftlichen Unabhängigkeit geradezu für prädestiniert, ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, in dem der Geist der Revolution tatsächlich zivilisierend wirken könne. Doch letzten Endes hatte es der einzelne Bürger nicht mehr selbst in der Hand, erneuernd im Sinne des revolutionären Geistes zu wirken. Stattdessen wies Olden dem Schriftsteller und Dichter diese Funktion zu. Voraussetzung dafür, dass er die Funktion als Träger des revolutionären Gedankens übernehmen kann, sei das Fernbleiben von jeglicher Form der politischen Macht. Dies käme sonst einer Entfremdung seiner „Sendung“ gleich und bringe letztlich sogar eine Gefahr für die Menschheit mit sich. Als eine Art erzieherischer Anarchist sollte er sich der Aufgabe annehmen, ausschließlich ein „Störer, Erneuerer, Erfrischer bürgerlicher Ordnung“ zu sein. Nur die bürgerliche Gesellschaft als Basis des Staates erlaube es dem literarischen Revolutionär auf die Gesinnung der Bevölkerung dauerhaft erzieherisch einzuwirken. „Darum ist es nötig, daß der Bürger, gleichgültig welcher Partei er sich zuschreibt, wieder fest die Leitung der Welt in die Hand nimmt. Dann wieder wird für den Revolutionär des Gedankens seine große Zeit gekommen sein.“ Bei allem Bestreben Oldens, die bürgerliche Ordnung für den Neuaufbau der Weimarer Republik fruchtbar zu machen, blieb er skeptisch, ob dies gelingen würde. Er erinnerte daran, dass sich das deutsche Offizierskorps mehrheitlich aus bürgerlichen Eliten zusammengesetzt hatte, die antisemitisch, konservativ bzw.
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nationalliberal und königstreu waren. Das Grundproblem des Bürgertums im Wilhelminismus war, dies hatte Olden klar erkannt, dass es dem Adel habituell nachgeeifert hatte („von Gesinnung waren sie Junker“22). Dem Heer und der Flotte hatte es unbedingt loyal gegenübergestanden, so wie es Abscheu und Hass gegen Frankreich und die Sozialdemokratie gehegt hatte. Auch an dieser Stelle deutete Olden wieder die bisher verfehlte Rolle des Bildungssystems insgesamt an. Ihm galten z. B. die Universitäten als eine „Pflanzstätte des deutschen Normalbürgers, wie er war, vor allem wie er sein sollte“. Bisher bestünden diese Strukturen fort. Ende Oktober 1919 stellte Olden daher fest, dass weder Krieg noch Revolution an dieser Gesinnung etwas geändert hätten. Der große Krieg, die Revolution sind vorbei. Von den tiefen Spuren, die beide im deutschen Volke zurückgelassen haben, wird viel gesprochen und geschrieben. Tatsächlich ist die politische Struktur des Reiches umgekehrt, auf den Kopf gestellt, die gesellschaftliche besteht. Die große Masse des Bürgertums ist geblieben, was sie war: monarchistisch, militaristisch, antisemitisch.
Die fortwährende Hetze und Gewalt gegen Juden oder die Verweigerung des Gehorsams gegenüber sozialdemokratisch orientierten Vorgesetzten in der Verwaltung bezeugten für ihn, dass eine geistige Revolution nie stattgefunden hatte. Vor allem die Einstellung der akademischen Jugend stimmte Olden nachdenklich. Statt der Demokratie und dem Pazifismus vom Katheder aus den Weg zu ebnen, „klammert sie sich an die Erinnerung der Vergangenheit, in der die Völker Deutschland fürchteten, ohne es zu achten oder zu lieben.“23 Nur unter nationalistischem Vorzeichen sah er die akademische Jugend für die Freiheit Deutschlands eintreten. Dabei verlange doch eigentlich, so Olden weiter, der Kosmopolitismus der akademischen Tradition von den Wissenschaften und deren Vertretern einen Aufschrei des Anstands gegen den kriegslüsternen Revanchismus, der auch in der Welt der Universitäten um sich griff und einen politischen Neuanfang verhindere. Schließlich fordere der Idealismus unter demokratischen Vorzeichen einen tiefgreifenden Wertewandel heraus, den sowohl das Elternhaus als auch die Schulen und Universitäten in ihrer Erziehung als eine neue pädagogische Aufgabe begreifen müssen. 2.3 Die Idee (demokratischer) Volksbildung Die bisher dargestellte Argumentation Oldens ist stärker ein politisches Fragment, als ein in sich geschlossenes System von Antworten auf die gesellschaftlichen Herausforderungen der Jahre 1918/19. Zwar definierte er den Reichstag als eine Institution, auf deren Grundlage das neue Deutschland geschaffen werde müsse, doch traute er den darin verantwortlichen Politikern nicht zu, die wirklichen gesellschaftlichen Defizite zu benennen und schließlich zu beheben, da sie durch falsche politische Zwecke daran gehindert würden. Bei aller Kritik an der Republik fällt auf,
22 Ders. (1919): Deutsche Bürger. Die folgenden Zitate ebd. 23 Ders. (1920): Reaktionären Akademiker.
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dass sich Olden über verfassungs- und staatsrechtliche Fragestellungen im Zuge der Debatte über die Weimarer Reichsverfassung nicht äußerte. Er bekundete im Allgemeinen eher seine Enttäuschung „über die geringe Leistung des jungen parlamentarisch-demokratischen Regimes“24, obwohl er ihm seine grundsätzliche Unterstützung nicht verweigern wollte. So fiel die Führung Deutschlands dem Reichstag wie eine überreife Frucht in den Schoß. Zu ihrer Eroberung hat er so gut wie nichts getan. Die Bekehrung zur parlamentarischen Demokratie ist ausschließlich eine Folge des völligen Versagens aller anderen Machtfaktoren. Bei aller prinzipiellen Anhängerschaft zum demokratischen Prinzip muß aber eins gesagt werden: ist die Demokratie nicht imstande, die schöpferischen Männer aus dem ganzen Volke heraus an die Spitze zu bringen, so ist sie keinen Pfifferling wert.25
So wie sich die Kritik Oldens in Bezug auf die Revolution in Deutschland zunächst auf das am militärischen Idealismus festhaltende Bürgertum manifestierte, so nahm er auch die Schriftsteller von seiner Kritik nicht aus. Denn gerade diese soziale Gruppe sah er dem Trugbild des Kommunismus erliegen. Ein Anschluss bzw. eine Verbindung zur KPD sei opportunistisch und damit unrevolutionär. Opportunismus sollte dem Bürger vorbehalten bleiben. Olden wollte den Dichtern eine klare Absage von der KPD und deren Machtmitteln abringen, sonst käme dies einer Verleugnung ihrer revolutionären Bestimmung gleich. Eine wahrhafte Revolution des Geistes würde unterbunden. Die kommunistische Politisierung lenke vom erzieherischen Anarchismus ab. Unter diesen Bedingungen werde der gesellschaftliche Neuanfang nach Kriegsende nicht erfolgreich enden, da der Mangel an innerer Solidarität zum neuen Staat bzw. der Versuch die Diktatur des Proletariats zu etablieren letztlich keinen festen politischen Bezugspunkt darstellen würden. „Wir haben keine Revolution erlebt, es war auch und ist keine Möglichkeit für den Revolutionär vorhanden, er bedarf einer soliden staatlichen Bindung, um an etwas rütteln zu können, und er fand ein Trümmerfeld, als er aus dem Schützengraben oder der Schutzhaft frei kam.“26 Der literarische Anarchist als Revolutionär bräuchte einen festgefügten Aufbau des Staates, an dem er sich quasi abarbeiten kann. Gegenwärtig fristet er nur sein Dasein in den Resten einer Ordnung, die er nicht einmal selbst zum Einsturz gebracht hatte. Ihm fehle schlichtweg der politische Gegner, der auch ihn bekämpft. Er betreibe im Moment nur einen „Totentanz zwischen den Leichensteinen bürgerlicher Ordnung“. Die kritische Auseinandersetzung, die er mit dem Idealismus führte, ging schließlich u. a. auf die Person Bernard Shaw zurück. Für Olden war der Bezug auf ihn wahrscheinlich in zwei Bereichen besonders relevant. In seiner Kritik gegenüber dem Idealismus spiegelte sich Shaws Feststellung wider, dass die mit gewissen Idealen beladene bürgerliche Erziehung und die damit verbundene Moral den verfassungsrechtlich verbrieften Rechten und Normen z. T. entgegenstehen und sogar unter demokratischen Strukturen zu einem Unterdrückungsinstrument werden können. Die Veränderung der politischen Struktur
24 Ders. (1920): Preußentum und Sozialismus. 25 Ders. (1920): Demokratie. 26 Ders. (1919): Gegen den Revolutionär. Folgendes Zitat ebd.
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erzeuge eben gerade nicht automatisch die Bereitschaft, solche Ideale beiseite zu schieben. Vielmehr müssten gesellschaftliche Wandlungsprozesse unter dem evolutionären Vorzeichen einer neuen staatsbürgerlichen Erziehung stehen, um die Grundlage für ein friedliches Miteinander zu schaffen. Zweitens wendete Olden die Kritik, die Shaw an der ‚romantischen‘ Literatur übte, in ein positives Bild des Literaten als erzieherischen Anarchisten, indem er u. a. den irischen Dramatiker als Vorbild proklamierte, das zur Beseitigung des idealistischen Prinzips geeignet sei und so eine Revolution des Geistes überhaupt erst möglich werden lasse. „Darum mache man lieber gleich den Sprung zu Shaw, zu Lynkeus und Peter Altenberg, die restlos die Auflösung des Programmatischen betreiben.“27 Diese Dimension wurde vermutlich durch eine persönliche Ebene ergänzt, auf der Olden sich angesprochen fühlte. Shaw schilderte den Realisten als eine Figur, die durch den Geist des Widerspruchs geprägt sei. Er habe sich eben in einem Prozess der Selbstfindung von einem vorformulierten Moralsystem gelöst. Vielleicht erkannte Olden in dieser Perspektive seine eigene (politische) Unmündigkeit, die ihn z. B. 1914 zu einem begeisterten Kriegsfreiwilligen hatte werden lassen und offenbarte ihm die gesellschaftliche Scheinwelt, in der er vor Kriegsausbruch wohl selbst zu leben schien. Olden betonte in Form eines evolutionären Reformismus vor allem pädagogische und erzieherische Aspekte einer geistigen Revolution. Mit der Berufung auf die französische Erklärung der Menschenrechte bezeugte Olden seine liberale Geisteshaltung. Dass er dabei nicht eine gezielte theoretische Auseinandersetzung in Form einer geschlossenen Theoriebildung betrieb, ist eher sekundär und vielmehr Ausdruck seiner eigenen politischen Identitätssuche, die auch durch Widersprüche und Defizite gekennzeichnet war. So entbehrten seine Artikel auch nicht eines gewissen Idealismus, wenn er die Revolution durch einen evolutionären Erziehungsprozess zu verlängern suchte, negierte diese Position doch den pragmatischen Handlungsdruck, dem die politisch Führenden in der unmittelbaren Nachkriegszeit ausgesetzt waren. Es zeigte sich eine innere Spannung bei Olden, die aber unausgetragen blieb; und so muteten die Vorstellung von einer Revolution des Geistes, aber auch die Kritik am Primat der Macht und der Prosperität im Bürgertum selbst ‚idealistisch‘ an.28 Unter dem Einfluss des Neukantianismus kam für Olden der Pädagogik eine Schlüsselfunktion zu. Die Pflichtethik Kants muss auf das politische Denken des neuen, republikanisch-demokratisch gesonnenen Individuums transferiert werden. Die Unterordnung partikularer Interessen unter das Gemeinwohl bedarf des permanenten Einübens. Nur über Erziehung können gesellschaftliche Veränderungsprozesse politisch zu einer neuen moralischen Vergemeinschaftung führen.29 Hinter dieser Idee verbarg sich zugleich der Versuch eines Ausgleichs zwischen dem Bedürfnis nach Schutz individueller Menschenrechte durch den demokratisch legitimierten Rechtsstaat und dem Prinzip sozialer Verbundenheit und Solidarität. Diese 27 Ders. (1919): Gegen den Idealismus. 28 Zu idealism und realism bei Shaw: Vgl. Greiner (1977): Frühwerk. 29 Vgl. Pascher (1997): Einführung Neukantianismus, S. 92–103; Vgl. Mahlmann (2010): Rechtsphilosophie, S. 151f.
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Einsicht provozierte quasi die Notwendigkeit einer neuen Erziehung. Die Macht des Revanchismus und Militarismus sei erst dann gebrochen, wenn die Republik auch von einer großen Mehrheit geistig getragen werde. Den Versuch einer praktischen Umsetzung unternahm schließlich Kurt Hiller mit der Gründung von Räten geistiger Arbeiter. Sie galten als Sammelbecken einer linksliberalen oder sozialistisch geprägten Künstler- und Schriftstellerszene, die aber gezielt die Abgrenzung zu radikal-spartakistischen Kreisen suchte. Eine grundsätzliche Modernisierung der Gesellschaft wurde angestrebt. Eine Neugestaltung der ökonomischen Besitzverhältnisse bzw. eine Verstaatlichung der Produktionsmittel blieb dabei aber eher eine sekundäre Forderung. So blieb das Ziel Kurt Hillers, eine „Herrschaft der Geistigen“ zu realisieren. Die dahinterstehende Idee bzw. Konzeption war dabei durchaus vergleichbar mit derjenigen, die Olden formuliert hatte, wenngleich diese von ihm nicht so radikal und eindeutig postuliert worden war. Nach Hiller sollte der Rat der geistigen Arbeiter das Parlament teilweise ersetzen bzw. gerade im Bereich der Bildungspolitik dauerhafte Befugnisse besitzen. Er beantwortete damit gleichzeitig die Frage, die sich Olden wohl nur ungenügend bzw. gar nicht stellte: Wie soll ein durch Literaten formulierter Erziehungsauftrag praktisch organisiert werden? Hiller gab darauf eine eindeutige Antwort und untermauerte nach dem Scheitern verschiedener Rätekonzeptionen mit seiner Vorstellung einer Herrschaft der Funktionseliten die Verleumdung der parlamentarischen Demokratie als „Herrschaft der Minderwertigen“ (E. J. Jung). Die Annahme politischer Gleichberechtigung wurde somit außer Kraft gesetzt: „Hiller sah die Geistigen zur Herrschaft berufen. Er forderte kompetenzorientierte Entscheidung [und] übertrug letztlich die Funktionslogiken der Rechtswissenschaft und Philosophie auf die Sphäre politischer Entscheidungen.“30 So bestimmte schließlich die Elite über den Staatsentwurf, andernfalls würden das Wahlverfahren und das Prinzip der Mehrheitsentscheidung die Demokratie zur „Diktatur der Mittelmäßigkeit“31 herabsinken lassen. Stärker als dies Olden zu benennen wusste, wies Hiller mit seiner Idee auf ein demokratietheoretisches Problem hin: „Ohne unaufhebbare Grund- und Menschenrechte und handelnde Demokraten enthält das Mehrheitsverfahren der Demokratie große soziale und politische Risiken.“32 Beide repräsentierten mit den jeweiligen Konzepten einer neuen geistigen Führerschaft ihre Verwurzelung in der Krisenzeit des Fin de Siècle, die, zumindest im Falle von Olden, maßgeblich seine Jugend und damit seine Stellung zu Politik und Staat geprägt hatte. Dem ‚Vorwurf‘ der Widersprüchlichkeit waren dabei beide ausgesetzt, ließ sich das Modell einer Elitenherrschaft doch autoritär missbrauchen. Sucht man abschließend für den Olden der frühen 1920er Jahre nach einer politischen Charakterisierung, so kann er durchaus als ein, parteipolitisch betrachtet, heimatloser, sozialliberaler Antimilitarist tituliert werden, der durch einen ideengeschichtlichen Eklektizismus geformt wurde.
30 Münzner (2015): Kurt Hiller, S. 112. 31 Hiller zit. n. ebd.: S. 113. 32 Münzner (2015): Kurt Hiller, S. 113f.
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3. FAZIT: EINE NEUE HUMANITÄT UND LIBERALITÄT Obwohl Olden nie explizit von der Schaffung und Herstellung eines Neuen Menschen schrieb, lässt sein Blick auf die revolutionären Ereignisse doch die Sehnsucht nach einer neuen gesellschaftlichen Realität erkennen. Es ging ihm darum einen demokratischen Zukunftsentwurf zu schaffen. Dahinter stand der Wille zu einer kollektiven Erneuerung, die er persönlich bereits vollzogen hatte. Biografisch betrachtet war hiermit seine politische Identitätskrise an ein Ende gelangt, die „Krisenjahre der Klassischen Moderne“33 waren in die Vorstellung einer erstrebens- und schützenswerten Republik gewandelt worden. Vor dem Hintergrund seines journalistischen Wirkens zwischen 1918 und 1933 könnte man ihn als einen exemplarischen Verfechter des Neuen Menschen einordnen, geprägt von einem normativen Politikbegriff, der auf Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit und Moral basierte. Dies war letztlich wiederum höchst idealistisch, was zeigen dürfte, dass Olden selbst weiterhin jener zuvor kritisierte Bürger blieb und weitaus weniger zu dem von ihm geforderten literarischen Anarchisten geworden war. Im Geist der republikanischen Verfassung sollte die Gesellschaft neu erzogen werden, sowohl zu einem innerstaatlichen als auch einen außenpolitischen Frieden. Die Kritik am Idealismus lässt eine Sensibilität für die Gefahren des ideologisierten Neuen Menschen erkennen, der einmal entstanden, zu einer Negierung liberaler Vielfalt führen könne. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken sollte eine demokratische Volksbildung einerseits und literarisch, intellektuell freischwebender Anarchismus andererseits den neu zu schaffenden Menschen unter dem Vorzeichen einer geistigen Revolution endgültig mit der veränderten politischen Struktur des Staates aussöhnen. Vor diesem Hintergrund musste die Entwicklung der letzten Kriegsmonate und ersten Nachkriegsjahre auf Olden wie eine geistig steckengebliebene Revolution wirken. Mit Verweis auf französische (Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen) und angelsächsische (Fabian Society) Denktraditionen zeugt die historische Figur Rudolf Olden vom Verlangen nach einer anderen Humanität, die eben zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv vermittelt bzw. ausgleichend wirkt. Damit grenzte er sich von faschistischen und kommunistischen Spielarten und Facetten des Neuen Menschen ab. Diese Betrachtung fand ihre praktische Anwendung 1924 in der Herausgabe der Wochenschrift „Er und Sie“. Hugo Bettauer und Olden propagierten darin auch eine erotische Revolution. Diese zielte u. a. auf die Strafbefreiung von Homosexualität und die Legalisierung von Abtreibungen sowie die rechtlich-gesellschaftliche Gleichstellung von Mann und Frau.34 Ohne selbst den Entwurf einer sozialen Utopie vom Neuen Menschen in allen einzelnen institutionellen Gegebenheiten zu formulieren, griff Olden das Mittel der Erziehung auf, um die von ihm angestrebte Erneuerung der Gesellschaft zu realisieren. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre diente die geschilderte Imagination durchaus als Vorlage für seine sozialkritischen Positionen, die sich in der Forderung
33 Vgl. Peukert (1987): Weimarer Republik. 34 Vgl. Müller (1988): Journalist und Anwalt, S. 183.
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nach einer Reform des Justizwesens und der Rechtsprechung insgesamt sowie in Gestalt einer paneuropäischen Friedensperspektive für den Kontinent niederschlugen. Hierzu gesellte sich die Forderung nach einer Reform der Wehrverfassung, die Olden für unausweichlich hielt. Die Armee sollte durch Umerziehung republikanisiert werden. Die Berufsarmee alter preußischer Prägung lehnte er ab, da ihre Auslese verfehlt gewesen sei. Vor allem die Offiziere müssten aus allen Teilen der Bevölkerung rekrutiert werden. Eine (geistige) Demokratisierung der Reichswehr verknüpfte Olden mit dem Abbau überkommener Standesdünkel. Als Vorbild dienten die preußischen Reformer des frühen 19. Jahrhunderts. Sie hätten den Menschen in den Mittelpunkt der Staatsreform gestellt. Zu keiner Zeit glitt er jedoch in die Vision einer paneuropäischen Neo-Aristokratie ab, wie sie Richard Coudenhove-Kalergi vertrat. Umso schmerzlicher empfand er die zunehmend nationalistisch politisierte Jugend an den Universitäten. „Während wir in rosigen Träumen schwelgten, Silberstreifen vor den schlaftrunkenen Augen, haben unsere rechts stehenden Nationalen Tag für Tag unsere Schwäche gepredigt, haben die Jugend zum Wehrsport, zur Wehrfreude und Wehrlust aufgerufen.“35 QUELLEN Deutsches Exilarchiv 1933–1945 (DE) Teilnachlass Rudolf Olden, EB 79/020.
LITERATUR Greiner, Norbert: Idealism und Realism im Frühwerk George Bernard Shaws. Die Bedeutung und Funktion der Begriffe in den politischen, ästhetischen und dramatischen Schriften. (Anglistische Forschungen, Bd. 122), Heidelberg 1977. Kolb, Eberhard: Die Weimarer Republik, 7. durchges. u. erw. Aufl., München 2009. Kraft, Thomas: Jakob Wassermann, München 2008. Mahlmann, Matthias: Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, Baden-Baden 2010. Müller, Ingo: Rudolf Olden. Journalist und Anwalt der Republik. In: Blanke, Thomas (Hrsg.): Streitbare Juristen. Eine andere Tradition. (Festschrift Jürgen Seifert zum 60. Geburtstag), BadenBaden 1988, 180–192. Müller, Tim B.: Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien, Hamburg 2014. Münzner, Daniel: Kurt Hiller. Der Intellektuelle als Außenseiter, Göttingen 2015. Olden, Rudolf: Abschluß: Romanskizze, o. D. Ders.: Hildegard von F.: Novelle, o. O. 1914. Ders.: Das Wort in der Revolution. In: Fremden-Blatt, 21.01.1919. Ders.: Der Internationalismus in der Revolution. In: Fremden-Blatt, 26.01.1919. Ders.: Revolution und Arbeiterbewegung. In: Fremden-Blatt, 06.02.1919. Ders.: Versuch gegen den Idealismus. In: Der Friede 2 (1919), Nr. 63, 248–251. Ders.: Lob des Bürgers. In: Der Friede, 2 (1919), Nr. 79, 627–629.
35 Olden (1932): Seelen-Autarkie.
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Ders.: Gegen den Revolutionär. In: Der Friede 2 (1919), Nr. 80, 652–653. Ders.: Der deutsche Bürger. In: Der Neue Tag, 19.10.1919. Ders.: Die reaktionären Akademiker. In: Der Neue Tag, 01.02.1920. Ders.: Preußentum und Sozialismus. In: Der Neue Tag, 28.03.1920. Ders.: Demokratie in Deutschland. In: Der Neue Tag, 04.04.1920. Ders.: Seelen-Autarkie. In: Berliner Tageblatt, 19.08.1932. Pascher, Manfred: Einführung in den Neukantianismus. Kontext-Grundpositionen-praktische Philosophie, München 1997. Peukert, Detlef: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987.
KRITISCHE OBSERVATIONEN
KEINE SPUR VOM ADEL UNSERER NATUR Max Webers Kritik am „Revolutionskarneval“ Christian Marty Es war im Januar 1920, einige Monate nach der Niederschlagung der Münchner Räterepublik, als kurz vor Beginn einer außerordentlichen Sitzung – ein Professor, der sich kritisch sowohl gegen revolutionäre Politiker als auch gegen nationalistische Studenten geäußert hatte, wurde vor den Senat der Universität München zitiert – der Historiker Karl Alexander von Müller zu seinem Kunsthistoriker-Kollegen Heinrich Wölfflin sagte: „Herr Kollege, jetzt wird gleich der nervöseste Mensch der Erde hereingestürmt kommen.“1 Nun – gemeint war Max Weber. Die zwei Herren ahnten, dass dies sowohl der falsche Ort als auch die falsche Zeit war, um mit dem Gelehrten ein ruhiges Gespräch zu führen: In München wirkten die revolutionäre Unruhen nach, die bayerische Staatsspitze kämpfte mit mannigfachen Problemen, zwischen Sozialisten und Reaktionären bestand eine erbitterte Feindschaft und der Mörder des ehemaligen Ministerpräsidenten Kurt Eisner wurde unter dem Applaus eines antisemitischen Mobs begnadigt. Wie ging die Episode weiter? Während der Sitzung tat Max Weber das, was er während seines Münchner Aufenthalts generell machte: Mit halb spöttischem, halb verärgertem Gesicht schoss er gleichermaßen gegen Sozialisten wie gegen Reaktionäre. Sein Ton war so rigide, dass beide, Müller und Wölfflin, bestürzt waren über die Heftigkeit des Weberschen Auftritts. Für Max Weber waren – „von links und rechts“, wie er betonte – „Irrsinnige in der Politik“.2 Weber hatte eine gehörige Portion Verachtung für das revolutionäre München der Nachkriegszeit übrig, nannte dies Treiben höhnisch „Revolutionskarneval“ und sagte in Anbetracht der Lage: „Man sieht nichts als Schmutz, Mist, Dünger, Unfug und sonst nichts anderes.“3 Nun – wieso wählt der Professor diese drastischen Worte? Wie kommt es, dass sich der Denker derart entrüstet? In diesem Aufsatz soll nicht Max Webers Haltung gegenüber den Münchner Geschehnissen der Nachkriegszeit insgesamt rekonstruiert werden, ebenso wenig soll des Zeitkritikers Haltung gegenüber den Sozialisten, gegenüber den Reaktionären und gegenüber allen anderen Akteuren von Relevanz 1 2 3
Zit. nach Baumgarten (1964): Max Weber, S. 648. Max Weber an Friedrich Müller, 30.01.1920. In: Weber (2012): Briefe 1918–1920, 2. Hbd. S. 912. Weber (1988): Deutschlands Vergangenheit, S. 441. Vgl. zur Einleitung auch Radkau (2012): Max Weber, S. 734–736; Kaesler (2016): Max Weber; S. 893–895. Im Weiteren sei betont: Max Weber verwendet für die revolutionären Unruhen in München zig Mal das Wort „Karneval“. Vgl. dazu Radkau (2012): Max Weber, S. 731f.
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untersucht werden. Stattdessen wird hier bloß ein Teil der Weberschen Haltung gegenüber dem „Revolutionskarneval“ analysiert. Insbesondere wird im Folgenden die Webersche Kritik an den führenden Exponenten der Münchner Revolution in Augenschein genommen: Inwiefern kritisiert Max Weber jene Sozialisten? Die Forschung – in richtungsgebender Weise etwa Wolfgang J. Mommsen, in neueren Arbeiten beispielsweise Frank Ettrich – hat mehrfach hervorgehoben, dass Max Weber mit Blick auf zahlreiche Anführer der deutschen Revolution bloße Gesinnungsethiker und keine Verantwortungsethiker entdeckte, dass er dabei eine unsachliche Politik feststellte, dass er eine zukunftsorientierte Politik vermisste, dass ihn dies alles in Rage brachte.4 Dies alles sei in der vorliegenden Arbeit gar nicht in Abrede gestellt. Allein – ich meine, dass diese Art der Politikführung nicht der Hauptgrund für Max Webers Kritik am „Revolutionskarneval“ ist. Ich vertrete die folgende These: Die führenden Exponenten der Münchner Revolution werden von Max Weber insbesondere deswegen kritisiert, weil sie in keiner Weise dem Persönlichkeitsideal des Gelehrten entsprechen. Der Gelehrte hat ein ganz bestimmtes Persönlichkeitsideal – und Personen aus Max Webers Umgebung werden von ihm für gewöhnlich an diesem Ideal gemessen. Genügt jemand Webers Ansprüchen nicht, so wird dies häufig bemängelt, und genau das ist während der Münchner Revolutionszeit oftmals der Fall. Einmal fällt das Diktum: „Liebknecht gehört ins Irrenhaus und Rosa Luxemburg in den Zoologischen Garten.“5 Im Folgenden mache ich drei Schritte. Im ersten Schritt werde ich aufzeigen, was Max Webers Persönlichkeitsideal ausmacht. Im zweiten Schritt werde ich darlegen, wie Weber die maßgeblichen Vertreter der deutschen Revolution an diesem Ideal misst. Und im dritten Schritt werde ich Webers Ausführungen in ihrem historischen Kontext betrachten. Vorwiegend im Verlauf des letzten Schrittes ist es das Ziel, auszuführen, dass Webers Revolutionskritik aus dessen Epoche heraus zu begreifen ist. Max Weber ist in dieser Hinsicht ein typischer Kulturkritiker des Fin de Siècle, dessen Frage lautet: Sind die Anführer der Revolution nicht eigentlich „die letzten Menschen“?6
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Vgl. Mommsen (2004): Max Weber, S. 321–335; vgl. Ettrich (2015): Sozialismus, S. 127–130. Vgl. zu Max Webers Kritik am „Revolutionskarneval“ auch Heins (2004): Max Weber, S. 104. Überhaupt wird Max Webers Kritik am politischen Geschehnissen grundsätzlich unter dem Leitstern der „Verantwortungsethik“ erforscht; vgl. dazu etwa Bayertz (1995): Eine kurze Geschichte, S. 3f. Weber (1988): Deutschlands Vergangenheit, S. 441. Nietzsche (1994): Also sprach Zarathustra, S. 13. Viele Denker der Jahrhundertwende kritisieren ihre Zeitgenossen mit Nietzsche und urteilten, dass diese „die letzten Menschen“ repräsentierten, Menschen, die bloß auf „Glück“ und nicht auf „Größe“ bedacht seien. Vgl. dazu etwa Hennis (1987): Max Webers Fragestellung, S. 167–174.
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1. MAX WEBERS PERSÖNLICHKEITSIDEAL In seiner Antrittsvorlesung – 1895 an der an der Universität Freiburg gehalten – bekundet Max Weber, dass er auf eine „Wissenschaft vom Menschen“ aus ist: „Nicht wie die Menschen der Zukunft sich befinden, sondern wie sie sein werden, ist die Frage, die uns beim Denken über das Grab der eigenen Generation hinaus bewegt [...]. Nicht das Wohlbefinden der Menschen, sondern diejenigen Eigenschaften möchten wir in ihnen emporzüchten, mit welchen wir die Empfindung verbinden, dass sie menschliche Größe und den Adel unserer Natur ausmachen.“7 Diese Leitidee, diese Grundeinstellung, dieses Wissenschaftsideal vertritt der Denker Zeit seines akademischen Lebens. Etliche Jahre nach der Antrittsvorlesung liest er Georg Simmels Darstellung über Friedrich Nietzsche, und dort, wo Simmel mit Nietzsche „die Höhe eines Menschen“ als Bewertungskategorie einführt, notiert Weber mit großer Zustimmung an den Rand: „Ganz richtig!“8 Fürwahr, an dieser Stelle will man wohl wissen, was Max Weber mit „menschliche Größe“, mit „Adel unserer Natur“ und mit „Höhe“ zu bezeichnen pflegte. Wie genau sieht Max Webers Persönlichkeitsideal denn aus? In Webers Werk gibt es keine Stelle, an welcher sich dies ausführlich aufzeigen ließe – wir müssen also mehrere Stellen zusammentragen und dadurch versuchen, Webers Persönlichkeitsideal zu rekonstruieren. Auf den nächsten Seiten soll unter die Lupe genommen werden, was der Gelehrte dazu geschrieben hat, zuvörderst freilich das publizierte Werk, im Weiteren aber auch seine Briefe. Auf diesem Weg lässt sich nachvollziehen, wodurch Max Webers Persönlichkeitsideal charakterisiert ist.9 Eine erste Annäherung an Max Webers Persönlichkeitsideal lässt sich erreichen, indem wir aus einem biographischen Blickwinkel auf dessen Beziehung zum wohl wirkungsreichsten Schriftsteller deutscher Feder aufmerksam machen, eine Beziehung, welche in der Weberforschung für gewöhnlich nur am Rand erwähnt wird – gemeint ist Webers Auseinandersetzung mit Goethe. Weber und Goethe: Das ist das Einfallstor für das Verständnis des Weberschen Persönlichkeitsideals. Wie kommt man zu dieser Ansicht? Ein Blick auf die für unsere Belange relevanten Passagen lässt keinen Zweifel offen: Wenn Max Weber über die „Persönlichkeit“ spricht, dann fällt sehr häufig der Name Goethes. Bei Max Webers Ausführungen zur „Persönlichkeit“ dient Goethe als Stichwortgeber. Diejenigen, die Webers intellektuelles Umfeld kennen, sind über diesen Befund aller Wahrscheinlichkeit nach kaum überrascht: Goethe ist in Deutschland um 1900 der mit Abstand meistgelesene Schriftsteller.10 Marianne Weber hebt in ihres Gatten Lebensbild nur sehr wenige außerfamiliäre Menschen mit einer eigenen Über7 8
Weber (1988): Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, S. 12f. Vgl. das an der Arbeitsstelle der Max-Weber-Gesamtausgabe (MWG) befindliche Exemplar von Simmel (1907): Schopenhauer und Nietzsche, S. 228. 9 Max Webers Persönlichkeitsideal lässt sich vor allem mit Bezug auf die Schrift Der Sinn der „Wertfreiheit“, auf die Abhandlung Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus sowie auf die Vorträge über Wissenschaft als Beruf und Politik als Beruf rekonstruieren. 10 Vgl. Marks (2003): How Russia, S. 110.
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schrift hervor – der „Dichterfürst“ gehört dazu.11 Etliche von Webers Kollegen, so Friedrich Gundolf, Georg Simmel oder Georg Lukács, schreiben eine Biographie über den Dichter – und feiern diesen als „klassischen Menschen“.12 Wen verwundert es da, dass das Gedicht, das von Max Weber am häufigsten zitiert wird, von Goethe stammt: Will Weber die „echte“ Persönlichkeit hervorheben, deren Größe, deren Adel, deren Menschlichkeit, so bedient er sich wiederholt der Goetheschen Urworte über den Dämon. Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, Bist alsobald und fort und fort gediehen Nach dem Gesetz, wonach du angetreten. So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen, So sagten schon Sibyllen, so Propheten; Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt Geprägte Form, die sich lebend entwickelt.13
Dass Max Weber so oft von diesem und ähnlichen Gedichten Gebrauch macht, ist für unsere Frage richtungsweisend. Max Weber verwendet solche Gedichte, das sei nachdrücklich unterstrichen, sehr bewusst; nicht an beliebigen Orten, sondern an jenen Stellen, wo er eben „menschliche Größe“ und „den Adel unserer Natur“ thematisiert. Vornehmlich mit Goethe, aber gelegentlich auch mit Hafis, dem persischen Dichter, der durch Ersteren in die deutsche Leseöffentlichkeit eingeführt wurde, erläutert Weber, was er unter einer Persönlichkeit versteht. Mit Goethe verweist Weber häufig auf das Dämonische als Kennzeichen der Persönlichkeit und mit Hafis kommt er wiederum auf das Leidende als Merkmal der Persönlichkeit zu sprechen. Der Kerze gleich / Aufrecht beharr ich / In meinem Brande / Und wanke nicht. / Der Kerze gleich / Hinschmelz auch ich / In meinem Schmerze, / und hell und heiter, / Wie das der Kerze, / Ist doch ohn Ende / Mein Angesicht. / Ein hoher Geist / Beseelt die Liebe; / Sie kümmert sich / Um Gluth und Flammen, / Um tödtlich heisse, / Die kühne, nicht.14
Max Webers Goethe-Rezeption zeigt sich an etlichen Stellen des Weberschen Werkes; besonders klar etwa an der Schlusspassage von Wissenschaft als Beruf. Max Weber schließt seinen Vortrag bekanntlich mit dem emphatischen Aufruf, der „Forderung des Tages“ nachzugehen: „Die aber ist schlicht und einfach“, so endet die Rede, „wenn jeder seinen Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält.“15 In der Tat – es ist nicht schwer herauszufinden und die Forschung hat es 11 Vgl. Weber, Marianne (1926): Max Weber, S. 164f. 12 Gundolf (1917): Goethe, S. 4. 13 Goethe (1890): Urworte, S. 95. Vgl. dazu etwa Max Webers Gedenkrede auf Georg Jellinek bei Weber (1963): Gedenkrede, S. 13–17, wo Goethes Gedicht über den Dämon zur Charakterisierung des verehrten Freundes dient. 14 Hafis (1906): Eine Sammlung persischer Gedichte, S. 67. Vgl. dazu beispielsweise: Max Weber an Mina Tobler, 12.06.1919. In: Weber (2012): Briefe 1918–1920, 2. Hbd., S. 644, wo Hafis’ Verse als Motto für den Stil der zeitweiligen Geliebten verwendet werden. 15 Weber (1988): Wissenschaft als Beruf, S. 613. Hervorh. im Original.
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einige Male hervorgehoben –, bei diesem Diktum handelt es sich um einen direkten Verweis auf Goethes Gedicht zum Dämon, es handelt sich dabei um einen mit Goethe getätigten Aufruf, zu sein, was man ist – Persönlichkeit zu werden: „So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen, so sagten schon Sibyllen, so Propheten; / Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt / Geprägte Form, die sich lebend entwickelt.“16 Behalten wir Max Webers Goethe-Rezeption im Folgenden im Hinterkopf – sie gibt uns die Richtung an, in welche unsere Ausführungen zu gehen haben. Versuchen wir nun, gewissermaßen vom bisher erarbeiteten Boden aus, näher heranzutreten an Webers Persönlichkeitsideal: Was genau versteht Max Weber unter „menschlicher Größe“? Wir versuchen den Weberschen Persönlichkeitsbegriff auf drei Weisen zu begreifen; zuerst auf eine theoretische Weise, dann auf eine quellennahe Art, schließlich unter Rückgriff auf einige Lebensepisoden aus der Biographie Webers. Beginnen wir also mit dem Theoretischen: Für Max Weber besteht menschliche Größe in der Hauptsache aus zwei Teilen; einerseits aus einem positiven, aktiven, tätigen Element und andererseits aus einem negativen, passiven, entsagenden Element.17 Der positive Teil besteht darin, dem jeweils eigenen Dämon zu gehorchen. Die menschliche Größe folgt dem jeweils individuellen Gott, Wert, Ideal, der jeweils eigenen tiefsten Bestimmung. „So musst du sein / Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt / Geprägte Form, die sich lebend entwickelt.“ Der negative Teil besteht darin, all das, was mit dem Ergriffensein durch den Dämon einhergeht, anzunehmen. Die menschliche Größe nimmt keine Rücksicht auf etwaige Verluste, Kosten, Ängste, sie kämpft selbst bei Schmerzen unentwegt. „Sie kümmert sich / Um Gluth und Flammen, / Um tödtlich heisse, / Die kühne, nicht.“ Beide Seiten, dies ist aus philosophiehistorischer Perspektive schnell zu bemerken, verfügen über eine, wie sich sagen lässt, existenzialistische Note.18 Der große Mensch ist bei Max Weber auf sich selbst zurückgeworfen, er ek-sistiert im alten Sinn des Wortes, steht draußen in der Nacht des Nichts und lebt trotz alldem sein selbstgewähltes, sinnvolles Leben. Dies alles zeigt sich etwas konkreter, wenn wir näher an die Quellen gehen. Das Webersche Persönlichkeitsideal lässt sich gut erfassen insbesondere beim Lesen der Schrift über die Wertfreiheit, der Abhandlung über den Protestantismus oder der schon erwähnten Rede über Wissenschaft als Beruf. Im ersten Text, in der Schrift über die Wertfreiheit, sagt Max Weber mit Goethe, dass es nur einen einzigen Weg gebe, um – „vielleicht!“, wie er hinzufügt – eine „echte Persönlichkeit“ zu werden, und dies sei: „Die rückhaltlose Hingabe an eine Sache, möge dies und die von ihr ausgehende ,Forderung des Tages‘ nun im Einzelfall aussehen, wie sie
16 Vgl. dazu etwa Kadarkay (1994): The Demonic Self, S. 98. 17 Vgl. dazu insbesondere Weber (1988): Der Sinn der Wertfreiheit, S. 494; ders. (1988): Die protestantische Ethik, S. 203; ders. (1988): Wissenschaft als Beruf, S. 591 u. ders. (1988): Politik als Beruf, S. 560. 18 Vgl. dazu Jaspers (1932): Max Weber, S. 76–78.
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wolle.“19 Der Mensch, der dies tue, sei in keiner Weise eine „Einheit“, schreibt Weber, im Gegenteil gehe die „Hingabe“ mit der „Selbstbegrenzung“ einher.20 Im zweiten Text, in der Abhandlung über den Protestantismus, bekundet Max Weber, Goethe habe uns „auf der Höhe seiner Lebensweisheit“ lehren wollen, „dass also Tat und Entsagung einander heute unabwendbar bedingen“.21 „Dies asketische Grundmotiv des bürgerlichen Lebensstils“, setzt Weber dazu, sei „heute die Voraussetzung wertvollen Handelns“ überhaupt – zumindest „wenn er“, der Lebensstil, „eben Stil und nicht Stillosigkeit sein will“.22 Im dritten Text, in Wissenschaft als Beruf, betont Max Weber: „Verehrte Anwesende! Persönlichkeit auf wissenschaftlichem Gebiet hat nur der, der rein der Sache dient. Und nicht nur auf wissenschaftlichem Gebiet ist es so.“23 Weber legt hierbei dar, wie eine „Persönlichkeit“ auszusehen habe, und einem Paukenschlag gleich heißt es diesbezüglich: „Denn nichts ist für den Menschen als Menschen etwas wert, was er nicht mit Leidenschaft tun kann.“24 „Leidenschaft“, dieser Begriff, zig Mal im Weberschen Werk vorzufinden, ist tatsächlich äußerst zentral, so zentral wie „Hingabe“, so zentral wie „Selbstbegrenzung“, so zentral wie die „Tat“, so zentral wie die „Entsagung“: Wer sich einer Sache mit echter Leidenschaft hinzugeben fähig ist, ist für Max Weber ein echte Persönlichkeit, ist für ihn ein echter Mensch – er hat eine Haltung, verstanden im Geiste Goethes.25 Mit Blick auf einige biographische Episoden lässt sich dem Ganzen noch etwas mehr Lebensnähe einflößen. Wir entfernen uns nunmehr vom publizierten Werk und treten hin zum Briefwerk, denn so zeigt sich der Webersche Persönlichkeitsbegriff in anderem Licht. Zunächst erkennt man ein wenig exakter, dass Max Weber mit dem Begriff der „Sache“ stets einen Wert wie Wahrheit bezeichnet und ferner erspäht man ein bisschen gründlicher, dass es beim Weberschen Persönlichkeitsbegriff um das Standhalten geht, darum, sich selbst dann, wenn Vieles dagegenspricht, nicht zu verbiegen. Dies verdeutlich sich gut in Briefen an Magdalene Naumann, an Elsé Jaffe und an den Grafen Hermann von Keyserling. In einem Kondolenzschreiben an die Frau des christlich-sozialen Politikers Friedrich Naumann gibt Max Weber zu verstehen, dass die „Größe“ einer Person nicht darin liege, was diese Person wolle, sondern darin, wie jene Person etwas wolle.26 Naumann verkörpert
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Weber (1988): Der Sinn der Wertfreiheit, S. 494. Ebd. Weber (1988): Die protestantische Ethik, S. 203. Ebd. Weber (1988): Wissenschaft als Beruf, S. 591. Ebd., S. 589. Vgl. zum Stellenwert des Begriffs der Leidenschaft bei Weber auch Radkau (2006): Die Heldenekstase, S. 541–545. Vgl. zu den Begriffen „Hingabe“, „Selbstbegrenzung“, „Tat“ und „Entsagung“ die erste Fußnote von Weber (1988): Die protestantische Ethik, S. 203, wo Weber betont, dass er die Interpretation des Goetheforschers Albert Bielschowsky übernimmt: „Tat“ und „Entsagung“ seien bei Goethe, so findet Weber mit Bielschowsky, aufeinander bezogen. 26 Max Weber an Magdalene Naumann, 27.08.1919. In: Weber (2012): Briefe 1918–1920, 2. Hbd., S. 742.
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nach Weber einen großen Menschen, und groß sei er vorwiegend hinsichtlich seines unermüdlichen Einsatzes für seine unzeitgemäße Glaubensüberzeugung. Im Brief findet man den Satz: „Und unverloren bleibt vor Allem die Tatsache: daß es möglich war, daß ein Mensch sich innerlich behauptete in einer Zeit, die für ihn nicht geschaffen war.“27 In unseren Kontext gehört noch ein weiterer Brief, gemeint ist eine mehrere Seiten lange Zuschrift an Elsé Jaffé von 1907. Max Weber erklärt darin, dass er Otto Gross, den berüchtigten Propagandisten einer normbefreiten Sexualität, nicht ins Archiv für Sozialwissenschaft aufnimmt, denn in einem wissenschaftlichen Blatt habe Weltanschauung nichts verloren. Und sogleich führt Weber aus: „Diese Kritik gilt der konkreten Leistung, – [...] sie gilt gar nicht – dies sei ausdrücklich gesagt – der Person und ihrer Eigenart.“28 Der Gelehrte macht kenntlich, dass er Gross schätzt, so stark, dass er vor dessen „Akosmismus der Liebe“ den Hut ziehen möchte, so stark, dass er „den adligen Zug seiner Gross’ Natur“ sehr wohl erkenne, ja, wenn dieser nur „wagte, zu sein, was er ist, – und was freilich etwas Andres und Bessres ist, als ein Nachtreter Nietzsches.“29 Beschäftigen wir uns noch mit einem dritten Brief Max Webers, und zwar mit einer Epistel an Hermann Graf Keyserling; auch diese ist für uns sehr informativ. Weber würdigt darin eingehend ein Werk Keyserlings. In jenem gäbe es, so meint Weber zu dem Philosophen, „so ausgezeichnete Bemerkungen, die zugleich so völlig Dem [sic] entsprechen, was mir selbst gemäß ist, daß ich dazu kein Wort zu sagen hätte, und nicht minder richtig finde ich die Charakteristik des Begriffes ‚moderner Mensch‘ (S. 6) als eines wesentlich negativ, jedenfalls aber von außen nach Innen [sic] u. nicht umgekehrt determinierten und faßbaren, völlig zutreffend.“30 Und dennoch, betont Weber, gäbe es freilich Individuen, die nicht fremdbestimmt sind, die umgekehrt ihr eigener Gesetzgeber sind. Im Stile zeittypischer Lebensphilosophie schreibt Max Weber: „Es ist für das Leben nicht belanglos, dass es Menschen giebt [...] die uns erleben lassen: ‚daß Menschenwürde der Götterstärke nicht weichen muß‘.“31 Wir sehen: Im Zuge der Auseinandersetzung sowohl mit Webers Publikationen als auch mit seinen Briefen erkennt man, dass er unter „Persönlichkeit“, unter „Größe“, unter „Adel“ tatsächlich einen nicht nur aktiven, sondern auch passiven Charakter versteht: Für Weber ist eine „echte“ Persönlichkeit durch „Leidenschaft“ charakterisiert, durch den Willen, selbst unter Opfern für eine Sache zu leben – „menschliche Größe“, das ist, metaphorisch gesprochen, der heroische Dienst einem „Gott“ gegenüber.32 27 28 29 30
Ebd., S. 743. Max Weber an Else Jaffé, 13.09.1907. In: Weber (1990): Briefe 1906–1908, S. 402. Ebd., S. 402f. Hervorh. im Original. Max Weber an Hermann Graf Keyserling, 21.06.1911. In: Weber (1998): Briefe 1911–1912, 1. Hbd., S. 233. Hervorh. im Original. 31 Ebd., S. 234. 32 Vgl. dazu auch den vieldeutigen und kaum beachteten Brief an Elsé Jaffé vom 24.04.1920. In: Weber (2012): Briefe 1918–1920, 2. Hbd., S. 1030: „In der Tat: man kann nicht ‚gegen Gott‘ leben, im Tag, man kann nur jenes Tristan-Reich aufsuchen – und dann ‚gegen ihn‘ sterben, wenn es Zeit ist und er es verlangt, – darin wird er wie Shylock sein, seien wir sicher, er sucht
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Gewiss drängen sich an dieser Stelle einige Fragen auf, Fragen, welche an dieser Stelle nur annäherungsweise beantwortet werden können. Es ist – so hat nicht zuletzt Christian Schwaabe herausgearbeitet – wohl primär die Frage nach dem Zusammenhang von „Größe“ und „Moral“, die beim Weberschen Persönlichkeitsbegriff von Interesse ist.33 Doch nicht nur das – der Frage Schwaabes lassen sich weitere hinzufügen: Inwiefern ähnelt Max Webers Goethe-Rezeption jener von Gundolf, von Simmel oder von Lukács? Nimmt die Persönlichkeit nach Max Weber am „Kampf der Werte“ teil? Ist die Persönlichkeit bei Max Weber als ein „Idealtyp“ zu bezeichnen? Wir können hier die Antworten auf diese Fragen nur andeuten; es würde im Mindesten einen weiteren Aufsatz benötigen, um dies umfassend zu klären. Darum seien darüber nur einige Worte verloren: Die Kategorie der „Moral“ ist gemäß Max Weber höchst problematisch; nach dem Tod Gottes sieht er „Werte“ weniger als gegeben an denn als etwas, was zu schaffen ist – der große Mensch hat laut ihm „Ideale“ selbst hervorzubringen.34 Goethe wird von sämtlichen der genannten Intellektuellen als heroische Gestalt aufgefasst, als „Genius“, den „nicht das Bedürfnis nach Glück, [...] sondern titanisches Ringen nach Selbstvollendung“ bestimme.35 Nach Max Weber ist das adlige Individuum sehr stark in den Kampf der Werte eingebunden, es ist hineingestellt in eine Situation, in welcher der Einsatz für den einen Wert auf Kosten des anderen Wertes geht, und dabei gelte es, dies „Schicksal der Zeit“ anzunehmen.36 Und ja, zweifelsfrei ist der Webersche Persönlichkeitsbegriff ein „Idealtyp“ – ein „Gedankenbild“, wie Max Weber häufig sagt, welches dazu verwendet wird, um einen empirischen Sachverhalt daran zu messen: Absolute Größe wie absolute Niedertracht existieren bei Weber im Normalfall nicht, im Gegenteil existieren bei ihm üblicherweise Zwischenformen.37 Nun, diese Fragen seien an einer anderen Stelle umfassender beantwortet. Hier genügt es, die wichtigsten Charakteristika von Webers Persönlichkeitsideals aufgezeigt zu haben. Nachfolgend soll nun dargelegt werden, wie Max Weber die Vertreter der deutschen Revolution an seinem Persönlichkeitsideal misst.
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sich die Zeit aus.“ Auch dies „gegen Gott“ ist – wie so viele Stellen, bei denen Max Weber über die Möglichkeiten des Individuums, Persönlichkeit zu werden, spricht – ein direkter Verweis auf Goethe. Vgl. Goethe (1965): Dichtung und Wahrheit, S. 603: „Nemo contra deum nisi deus ipse“. Auf Deutsch svw.: „Niemand kann gegen Gott sein ausser Gott selbst“. Schwaabe: Freiheit und Vernunft, S. 179–188. Weber (1988): Debattenreden, S. 420. Ders. (1926): Max Weber, S. 165. Löwith (1988): Max Webers Stellung zur Wissenschaft, S. 445f. Vgl. Weber (1988): Die „Objektivität“, S. 190–194. „Er [der Idealtyp] ist ein Gedankenbild, welches nicht die historische Wirklichkeit oder gar die ‚eigentliche‘ Wirklichkeit ist, [...] sondern welches die Bedeutung eines rein idealen Grenzbegriffes hat, an welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird.“ Ebd., S. 194.
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2. MAX WEBERS KRITIK AM „REVOLUTIONSKARNEVAL“ „Man sieht nichts als Schmutz, Mist, Dünger, Unfug und sonst nichts anderes.“ Das sind drastische Worte, wie bereits erwähnt. Das zweite Kapitel sei mit einer kleinen Weber-Schelte begonnen: Ich denke – und damit schließe ich an den Weber-Biographen Joachim Radkau an –, dass Max Weber in jener Zeit einige seiner politischen Gegner wohl etwas zu hart anpackte.38 Zuweilen verkannte Weber, dass hinter den Taten und Ideen gewisser Vertreter der deutschen Revolution ernstzunehmende Gedanken standen. Die damalige Verwaltung der Räterepublik pauschal mit, wie der Zeitdiagnostiker einmal behauptete, „schwatzenden Drohnen“ gleichzusetzen, war sicherlich übertrieben.39 Dass Luxemburg „ein Phonograph“ sei, unfähig, auch nur einen einzigen Gedanken selbst zu erschaffen, muss bezweifelt werden.40 Doch auch dieses rabiate Kapitel des Weberschen Denkens will erforscht sein. Ich habe eingangs die These formuliert: Die führenden Exponenten der Münchner Revolution werden von Max Weber vor allem deswegen kritisiert, weil sie in keiner Weise dem Persönlichkeitsideal des Gelehrten entsprechen. Mit anderer Gewichtung ausgedrückt: Die führenden Exponenten der Münchner Revolution verkörpern für Max Weber einen Persönlichkeitstypus, der just dem Gegenteil seines Persönlichkeitsideals entspricht. Ausgehend von dieser These wird nun in diesem Abschnitt versucht, dies so quellennah wie möglich zu belegen. Belegen wir unsere These zunächst mit allgemeinen Nachforschungen. Von Ludo Moritz Hartmann, dem österreichischen Historiker und sozialdemokratischen Politiker, erhielt Max Weber am 31. Dezember 1918 die Aufgabe, ein Gutachten über „Bedenken gegenüber der RäteRegierung“ zu verfassen.41 Weber kam dieser Aufforderung bereitwillig nach und hebt insgesamt neun Punkte hervor. Die RäteRegierung, kritisiert er unter anderem, sei eine Minderheitenherrschaft, sei nicht durch Wahlen legitimiert und werde denselben Fehlern wie eine Spießbürgerdemokratie anheimfallen.42 Nur ist dies nicht alles, was der Gelehrte dazu äußert. Fernerhin wird in Bezug auf die Räteregierung kritisiert – und diese Kritik ist für unsere Belange von großer Bedeutung: dass sie ihrer eigenen Überzeugung zuwider zu feige ist, eine offene Koalition mit bürgerlichen Politikern einzugehen, statt dessen aber unsaubere Elemente ([Hugo] Haase, [Emil] Barth) allzu lange in ihrer Mitte duldete [...], dass sie charaktervolle Leute ([Wilhelm] Solf) ebenso wenig erträgt wie Wilhelm II, [...] dass sie [...] durch das Gewährenlassen solcher Narren wie Adolf Hoffmann und derart pathologischer Naturen wie [Karl] Liebknecht [...] nicht nur den Sozialismus, sondern auch die Demokratie hoffnungslos für lange diskreditiert.43
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Vgl. Radkau (2012): Max Weber, S. 729–734. Weber (1988): Das neue Deutschland, S. 380. Max Weber an Robert Michels, 04.08.1908. In: Weber. (1990): Briefe 1906–1908, S. 618. Max Weber an Ludo Moritz Hartmann, 03.01.1919. In: Weber (2012): Briefe 1918–1920, 1. Hbd., S. 385. 42 Vgl. ebd., S. 385–387. 43 Ebd.
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Beim Lesen dieses Gutachtens lässt sich im Mindesten zweierlei bemerken; so zum einen, dass Max Weber die Vertreter der Räteregierung aus politischen Gründen bemängelt, so zum anderen, dass der Gelehrte die Akteure der Revolutionsregierung aus charakterlichen Gründen abwertet. Es ist dahingehend so – und genau in diesem Punkt unterscheidet sich die hier vorliegende Interpretation von den Interpretationen Wolfgang J. Mommsens oder Frank Ettrichs –, dass bei Weber die politischen Kritikpunkte viel weniger schwer wiegen als die charakterlichen Kritikpunkte. Dies lässt sich unter Hinweis auf ein weiteres Dokument aufzeigen: Als zu Beginn des Jahres 1919, also mitten in den revolutionären Unruhen, Max Weber einen Vortrag zum Thema Der freie Volksstaat halten sollte, erarbeitete er sich einen umfangreichen Stichwortzettel.44 Auf diesen finden sich allerdings kaum Anmerkungen zu Parteiprogrammen oder Vergleichbarem, stattdessen notierte sich Weber auf zwei Seiten, was für „Kategorien“ von Menschen in der gegenwärtigen Politik anzutreffen seien.45 Er macht drei Typen aus. Wir lesen auf dem Stichwortzettel: „1) Pazifistische Schwärmer [...] Politische Kinder! Dilettanten [...]. 2) Arbeitslose und Verelendete [...] Moralisten – schwach [...]. 3) Feiglinge: Barth, Haase [...] Angst vor Bürgertum [...] Pfaffen“.46 Fürwahr, solche Bewertungen von Teilnehmern des „Revolutionskarnevals“ findet der Leser bei Weber zuhauf: Immer wieder ist festzustellen, wie Max Weber mit seiner Kritik auf den Charakter, auf die Art, auf den „Typus“ abzielt – die Vertreter der Räteregierung werden meist mit Verachtung betrachtet. Das eine Mal sagt er zu Marianne Weber: „Diese Regierung wird mich nie brauchen, ich ihr nie dienen können. Sie brauchen Schmeichler und Charakterlose, grade wie die Fürsten. Die Schwätzer und Schreier sind obenauf und der Hass.“47 Das andere Mal schreibt er an seine Ehefrau: „Diese Verpöbelung der ganzen Welt ist ja unerträglich und ein Hohn auf die ,Demokratie‘.“48 Stützen wir unsere These mit weiteren Hinweisen. Auf den letzten Zeilen haben wir gesehen, dass Max Weber in der Hauptsache ein Problem mit dem Charakter, mit der Art, mit dem „Typus“ der führenden Leute der Revolutionsregierung hat. Nun lässt sich die Frage stellen: Was genau bringt den Gelehrten eigentlich dermaßen gegen diese Revolutionäre auf? Wir erarbeiten uns die detaillierte, wenn man so will: Charakter-Kritik, auf zwei Wegen: Teils erinnern wir uns daran, was Max Webers Persönlichkeitsideal ausmacht, teils nehmen wir Bezug auf eines der berühmtesten Werke Webers, ein Werk, welches hier bisher unberücksichtigt geblieben ist – gemeint ist der im Februar 1919 gehaltene Vortrag beziehungsweise im Juli 1919 veröffentlichte Text Politik als Beruf. Wer mit dem Weberschen Persönlichkeitsideal im Hinterkopf das Referat über Politik als Beruf unter die Lupe
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Vgl. Ders. (1988): Der freie Volksstaat, S. 165. Ebd. Ebd. Max Weber an Marianne Weber, 29.11.1918. In: Weber (2012): Briefe 1918–1920, 1. Hbd., S. 330. 48 Ebd., S. 337.
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nimmt, der bemerkt dies:49 Im letzten Drittel der Arbeit entwirft Max Weber gleichermaßen ein Idealbild des Menschen wie ein Idealbild des Politikers – und dieses Idealbild wird vom Gelehrten geradezu als Gegenbild zu den Münchner Revolutionsvertretern inszeniert.50 Der Gelehrte stellt darin vor, wie Politiker sein sollten, und greift dabei auf Politiker aus seinem Umfeld zuweilen explizit, zuweilen implizit als Negativbeispiele zurück.51 Max Weber ist kein Systematiker, dies sollte man sich zuweilen in Erinnerung rufen, doch bezüglich seines Persönlichkeitsideals verfügt er über eine ausgesprochen einheitliche Auffassung. Der „große“ Mensch zeichnet sich ihm gemäß sowohl durch einen tätigen als auch durch einen entsagenden Teil aus; und genauso verhält es sich laut ihm beim großen Politiker. Dies lässt sich in Politik als Beruf ausweisen.52 Zu Beginn des in Rede stehenden Abschnitts wird aufgezeigt, was den aktiven Politiker auszeichnet. Drei „Qualitäten“ seien dabei „entscheidend“: „Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß.“53 Die „Leidenschaft“, die erste Eigenschaft, will Weber verstanden wissen „im Sinne von Sachlichkeit: leidenschaftliche Hingabe an eine Sache, an den Gott oder Dämon, der ihr Gebieter ist.“54 Am Ende dieser Passage wird der passive Teil dargelegt. Es sei „unermesslich erschütternd“, wenn sich jemand „mit voller Seele“ an einen Punkt begebe und mit dem Wissen um allen Verlust feststelle: „Ich kann nicht anders, hier stehe ich.“55 „Das“, und Weber meint damit das bewusst erduldende Leben, „ist etwas, was menschlich echt ist und ergreift.“56 Im Verlauf des Schlussdrittels von Politik als Beruf gibt es eine Vielzahl an Ausführungen zur Person des Politikers; diese Ausführungen ähneln – Albert Salomon hat darauf bereits 1935 aufmerksam gemacht – den Ausführungen zur menschlichen Größe.57 Max Weber skizziert immer wieder Menschen, die sich einer Sache hingeben – und die diese Hingabe im vollen Bewusstsein an das damit einhergehende Opfer erbringen. Wer „die absolute Ethik des Evangeliums“ befolge, sagt Weber einmal, der habe nicht zu spaßen, denn „das evangelische Gebot ist unbedingt und eindeutig: gib her, was du hast – alles, schlechthin.“58 „Der Genius, oder Dämon der Politik“, schreibt Weber ein anderes Mal, „lebt mit dem Gott der Liebe, auch mit dem Christengott in seiner kirchlichen Ausprägung, in einer inneren
49 Dass auch in Politik als Beruf das Webersche Persönlichkeitsideal zum Vorschein kommt, das hat nicht zuletzt Wolfgang Schluchter gezeigt. Vgl. ders. (1996): Handeln und Entsagen, S. 9– 14. 50 Vgl. Weber (1988): Politik als Beruf, S. 545–560. 51 Vgl. ebd., S. 545f., S. 553f. u. S. 558f. 52 Vgl. ebd., S. 545f. und S. 558–560. 53 Ebd., S. 545. 54 Ebd. 55 Ebd., S. 559. 56 Ebd. 57 Vgl. Salomon (2011): Max Webers politische Ideen, S. 79f. 58 Weber (1988): Politik als Beruf, S. 550.
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Spannung, die jederzeit in einen unaustragbaren Konflikt ausbrechen kann.“59 Was das Handeln von solchen heroischen Menschen angeht, dies sei hierbei nachdrücklich festgehalten, so ist es für Max Weber nur zweitrangig, welcher Sache jemand huldigt; ob also jemand mit der Politik oder mit dem Evangelium oder mit was auch immer sein Leben verbringt, ob also jemand mit dem Mittel der Gewalt oder ohne dies Mittel oder wie auch immer taktiert, ist für den Gelehrten Nebensache. Zentral ist für Weber diesbezüglich nur Eines, und dieses Eine macht der Gelehrte immer wieder deutlich. „So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen, / So sagten schon Sibyllen, so Propheten [...].“ „Der Kerze gleich / Aufrecht beharr ich / In meinem Brande / Und wanke nicht.“ Der letzte Satz von Politik als Beruf drückt einen ganz ähnlichen Sachverhalt wie Webers Lieblingsgedichte aus: Nur derjenige, der trotz allem „dennoch!“ zu sagen vermöge, „nur der hat den ,Beruf‘ zur Politik.“60 Und die Münchner Vertreter der Revolution? Sind sie – derartige Menschen? Sind sie – derartige Politiker? Geben sich diese nach Webers Dafürhalten mit Leidenschaft einem Dämon hin? Erbringen sie nach Webers Meinung bewusst ein Opfer? „Nehmen wir getrost die Gegenwart als Beispiel“, meint Weber zum Publikum von Politik als Beruf. 61 Wie steht es um das tätige Leben der Revolutionsvertreter? Das, was Max Weber als „leidenschaftliche Hingabe an eine Sache“ bezeichnet, findet er bei diesen kaum vor. Deren Verhalten ist für Weber allermeist gekünstelt. Sein verstorbener Freund Georg Simmel habe bei solchen Situationen den Begriff „sterile Aufgeregtheit“ benützt, erzählt der Gelehrte, und er selbst wird das Wort daraufhin mehrfach verwenden, um das fehlende Feuer etlicher Politiker anzuprangern.62 Wie steht es um das entsagende Leben der Revolutionsvertreter? „So sage ich offen“, meint Weber mit Verweis auf diese, „dass ich zunächst einmal nach dem Maße des inneren Schwergewichts frage, was hinter dieser Gesinnungsethik steht, und den Eindruck habe: dass ich es in neun von zehn Fällen mit Windbeuteln zu tun habe, die nicht real fühlen, was sie auf sich nehmen, sondern sich an romantischen Sensationen berauschen.“63 Angeprangert wird von Weber mehrfach, dass jene oft von einer gerechten Welt reden, allerdings zugleich zurückscheuen, die schmerzenden Konsequenzen für das jeweils eigene Leben zu ziehen. „Entweder – oder!“, argwöhnt der Gelehrte in einem Brief an den Psychiater Kurt Goldstein gegenüber vielen Politikern, „Entweder dem Übel nirgends mit Gewalt widerstehen, dann aber: – so leben wie der heilige Franz oder die heilige Klare oder ein indischer
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Ebd., S. 557. Ebd., S. 560. Ebd., S. 555. Weber (1988): Politik als Beruf, S. 545 und S. 558. – Vgl. dazu auch Max Weber an Mina Tobler, 15.11.1918. In: Weber (2012): Briefe 1918–1920, 1. Hbd., S. 308: „Das Ganze ist wirklich symbolisch für das Mesquine, welches ,Revolutionen‘ heut unvermeidlich an sich tragen. Echt und relativ erquickend sind nur die ganz schlichten Leute, auch die Revolutionäre, die Arbeiterführer oder dergleichen sind und wirklich arbeiten [...].“ Hervorh. im Orginal. 63 Ders. (1988): Politik als Beruf, S. 559. Hervorh. im Original.
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Mönch oder ein russischer Navordnik [Narodnik]. Alles andere ist Schwindel oder Selbstbetrug.“64 Freilich müssen wir Max Webers Forderungen – sie basieren, wie er selbst ganz genau weiß, wie die Ethik des Urchristentums oder wie die kantische Ethik auf einer „Heldenethik“ – nicht auf den „Realitätssinn“ hin prüfen: Wir möchten an dieser Stelle Webers Angriff auf den Revolutionskarneval vielmehr mit einem letzten Hinweis schließen – dies sei unter Bezugnahme auf eine Schrift politischer Natur getan.65 Beim Lesen der revolutionskritischen Teile des Weberschen Werkes zeigt sich in den meisten Fällen dasselbe: Max Weber misst die Vertreter der Revolution an seinem Persönlichkeitsideal – und er kritisiert sie, weil sie diesem Ideal seiner Überzeugung nach in keiner Weise genügen. Die Revolutionäre der Räterepublik seien, und dieses Diktum steht exemplarisch für die Ablehnung Webers, „Schmarotzer“, wie er vielfach sagt – so zum Beispiel ganz öffentlich in einem Artikel für die Frankfurter Zeitung zu Beginn des Jahres 1919: „Schmarotzer, die nicht für die, sondern von der Revolution leben wollen, d. h. als ,Rote Garde‘ oder als Mitglieder von ,Revolutionskomitees‘ oder als deren Beauftragte sich gegen Leistung von Geschwätz und Spitzeldiensten arbeitslos füttern lassen möchten.“66 Max Weber kritisiert die Vertreter der Revolution – das lässt sich aus dem eben gemachten Zitat deutlich herauslesen – weil diese für ihn weder leidenschaftliche Hingabe noch echte Selbstbegrenzung leisten, weil diese seiner Meinung nach typische Exemplare des modernen Menschen darstellen: Nicht „von Innen her“ bestimmt, wie Max Weber dies vorschwebt, sondern „von Außen her“ bestimmt, lebend mit viel Interesse für äußere Güter, lebend ohne die innere Ergriffenheit, ohne die katilinarische Energie des Glaubens.67
64 Max Weber an Kurt Goldstein, 13.11.1918. In: Weber (2012): Briefe 1918–1920, 1. Hbd., S. 301. Hervorh. im Original. Vgl. dazu auch die Anmerkung von Wilhelm Hennis, der im Geiste Max Webers und mit einem Bilde Erhard Kästners meint, der moderne Mensch entspreche dem „Hund in der Sonne“. Hennis (1996): Max Webers Wissenschaft, S. 87. 65 Vgl. zur „Heldenethik“ insbesondere Weber an Else Jaffé, 13.09.1907. In: Weber (1990): Briefe 1906–1908, S. 399–402. „Man kann alle ,Ethiken‘, gleichviel welches ihr materieller Gehalt ist, dernach in 2 große Gruppen scheiden [...]: ,Helden-Ethik‘ [...] oder [...] ,Durchschnitts-Ethik‘. Mir scheint: nur die erstere Kategorie, die ,Helden-Ethik‘, kann sich ‚Idealismus‘ nennen.“ Hervorh. im Original. 66 Ders. (1988): Deutschlands künftige Staatsform, S. 452. 67 Weber bezieht sich mit ‚katilinarisch‘ auf Catilina, der im antiken Rom als ausserordentlicher Redner galt.Vgl. zur katilinarischen Energie des Glaubens ders. (1988): Diskussionsreden, S. 410. Hier bezeichnet Weber die Sozialdemokratie 1910 als Partei, „in welcher nun das behäbige Gastwirtsgesicht, die kleinbürgerliche Physiognomie so schlechthin beherrschend hervortrat: von revolutionärem Enthusiasmus keine Rede, und ein lahmes, phrasenhaft nörgelndes und klagendes Debattieren und Raisonnieren an Stelle jener katilinarischen Energie des Glaubens, die sie von ihren Versammlungen gewöhnt waren.“
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3. „WEHE! ES KOMMT DIE ZEIT DER VERÄCHTLICHSTEN MENSCHEN“ Das dritte Kapitel lässt sich etwas kürzer als die zwei vorhergehenden Kapitel gestalten. Im Prinzip geht es darum, die präsentierten Gedankengänge Max Webers zu historisieren. Es scheint mir von Wichtigkeit zu sein, aus einem ideengeschichtlichen Blickwinkel heraus zu erkennen, dass die Webersche Kritik einer ganz bestimmten Tradition des Denkens angehört: Dadurch lässt sich diese Kritik besser verstehen, nachvollziehen, erschließen – durch die „historische Rekonstruktion“ lässt sich die „rationale Rekonstruktion“ besser ausführen, wie sich im Anschluss an Richard Rorty sagen lässt.68 Um zu verstehen, in welcher Tradition des Denkens sich das Webersche Werk bewegt, lässt sich auf die Weber-Arbeiten von Wilhelm Hennis zurückgreifen.69 Es ist eine von Hennisʼ Einordnungen der Person Webers, die hier besonders interessiert: Max Weber, sagt er, „war ganz ein Mensch des 19. Jahrhunderts“.70 Das ist überaus treffend. Mit den Fragen, die er stellt, mit den Themen, die er anspricht, mit der Art, wie er auf Kulturerscheinungen blickt: Damit ist Weber ein typischer Repräsentant jenes Säkulums.71 Nun, Max Weber tätigt seine Kritik an den führenden Exponenten der Münchner Revolution – dies sei mit den folgenden Ausführungen genauer erläutert – vor dem Hintergrund einer ganz bestimmten Denkart. Diese Denkart ist im 19. Jahrhundert prominent vertreten – und diese Denkart interessiert sich grundsätzlich für den „Typus Mensch“: Die in Rede stehende Art zu Denken richtet sich prinzipiell auf die „Qualität“, auf die „Beschaffenheit“, auf die „Seele“ des Menschen.72 Wie steht es, so wollen etliche Denker der damaligen Zeit in erster Linie wissen, um die „Qualität“, um die „Beschaffenheit“, um die „Seele“ einer Person? Man hat solche Geistestätigkeit wiederholt als „Wissenschaft vom Menschen“ bezeichnet, und diese Bezeichnung scheint, wenn auch etwas breit, so doch zutreffend.73 Die Repräsentanten dieser Wissenschaft möchten primär herausfinden: Was wird aus dem Menschen, der in die moderne Welt hineingestellt ist? Was sind das für Menschen, die die Erde in der Moderne bevölkern?74 Führt man sich diese Denkart vor Augen, so wird nicht nur offenkundig, wo die Ursprünge von Max Webers Münchner Kritik liegen – es wird auch klar, wie Webers Kritik zu verstehen ist. Alexis de Tocqueville, Fjordor Dostojewski, Friedrich Nietzsche und Max Weber: Das sind Denker, die wesentlich nach dem „Typus“ 68 Rorty (2014): Vier Formen, S. 274. 69 Vgl. Hennis (1987): Max Webers Fragestellung, S. 167–174; ders. (1996): Max Webers Wissenschaft, S. 175–180 u. ders. (2003): Max Weber, S. 55–58. 70 Ders. (1987): Max Webers Fragestellung, S. 189. 71 Vgl. dazu auch Müller (2007): Max Weber, S. 16–18. 72 Hennis (1987): Max Webers Fragestellung, S. 117–120 u. ders. (1996): Max Webers Wissenschaft, S. 20–42. 73 Ebd. 74 Ders. (1987): Max Webers Fragestellung, S. 35: „Was wird – seelisch – aus dem Menschen?“
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gefragt haben. Es ist freilich keine Überraschung, dass die Hauptwerke der genannten Denker in Webers Privatbibliothek stehen und häufig mit positiven Kommentaren, Anmerkungen oder Marginalien versehen sind. Wer jene Werke aus Webers Büchersammlung zur Hand nimmt, der bemerkt: Hier schulte jemand seinen Blick für die Geschehnisse des Lebens.75 Bei diesen Denkern lassen sich ähnliche Grundmotive ausmachen. Tocqueville, Dostojewski, Nietzsche und Weber – diese Wissenschaftler vom Menschen sind nicht dafür bekannt, die moderne Zeit im Allgemeinen und den modernen Menschen im Speziellen durch die rosarote Brille zu sehen. So bemerkt Tocqueville über die Demokratie: „Begegnet man [in der Demokratie] kaum großer Opferbereitschaft, kaum sehr hoher, strahlender und reiner Tugend, so sind dafür die Gewohnheiten geordnet [...]. Das Leben ist nicht sehr glanzvoll, aber sehr behaglich und friedlich.“76 Dostojewski meint mit Sicht auf den Kapitalismus: „Es wird damit enden, daß sie die Menschen ihre Freiheit uns zu Füßen legen und sagen: ,Lieber macht uns zu Knechten, aber macht uns satt.‘“77 Nietzsche nimmt kein Blatt vor den Mund. „Oh ihr Tölpel, ihr anmaassenden mitleidigen Tölpel, was habt ihr da gemacht!“, sagt er über diejenigen, welche in seinen Augen die Macht an sich gerissen haben, „bis endlich eine verkleinerte, fast lächerliche Art, ein Heerdenthier, etwas Gutwilliges, Kränkliches und Mittelmässiges, herangezüchtet ist, der heutige Europäer“.78 Und Max Weber? Nichts ist ihm eine größere Sorge als jenes „Gehäuse“, welches sich während der Moderne nach und nach aufbaut; gemeint ist „das Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft [...], in welche vielleicht dereinst die Menschen sich, wie die Fellachen im altägyptischen Staat, ohnmächtig zu fügen gezwungen sein werden.“79 Ob es soweit kommt? „Dass die Welt nichts weiter als solche Ordnungsmenschen kennt – in dieser Entwicklung sind wir ohnedies begriffen“, bemerkt er an anderer Stelle, „und die zentrale Frage ist also nicht, wie wir das noch weiter fördern und beschleunigen, sondern was wir dieser Maschinerie entgegenzusetzen haben, um einen Rest des Menschentums freizuhalten von dieser Parzellierung der Seele.“80 Gewiss, mit dieser Kontextualisierung sei nicht behauptet, dass Max Weber die Argumentation von Tocqueville, von Dostojewski oder von Nietzsche unverändert in seine Gedankengänge aufgenommen habe; es sei nur gesagt, dass er von Tocqueville, von Dostojewski oder von Nietzsche entscheidende Denkanstöße bekommen hat. Marianne Weber weiß, wovon sie spricht, wenn sie erläutert, dass ihr Gatte einen Anstoß brauche, um zu eigenen Ansichten zu gelangen.81
75 Vgl. dazu die in der Arbeitsstelle der MWG anzufindenden Handexemplare Max Webers von Dostojewski (1901): Die Brüder Karamasow; Tocqueville (1868): De la Démocratie en Amérique u. Nietzsche (1891): Jenseits. 76 Tocqueville (2014): Über die Demokratie in Amerika, S. 361. 77 Dostojewski (1901): Die Brüder Karamasow, S. 57. 78 Nietzsche (2013): Jenseits S. 84. 79 Weber (1988): Parlament und Regierung, S. 332. 80 Ders. (1988): Diskussionsreden, S. 414. 81 Vgl. dazu auch Hennis (2003): Max Weber und Thukydides, S. 91.
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Im Grunde genommen – und dies ist nicht zuletzt bei der Weberschen Revolutionskritik deutlich ersichtlich – geht Max Weber bei seinen Denkbewegungen üblicherweise zweigeteilt vor: In einem ersten Schritt stellt er die Frage, welche die Wissenschaft vom Menschen formuliert, nämlich die Frage nach der Höhe des Menschentums – und in einem zweiten Schritt erarbeitet er sich eine Antwort darauf, und zwar dadurch, dass er das von Goethe inspirierte Persönlichkeitsideal als Messlatte verwendet. Einige der bedeutendsten Größen des 19. Jahrhunderts, so kann man mit Blick auf diese Denkweise sagen, werden von Max Weber rezipiert, und in der Folge bilden diese die Grundmelodie seines Werkes. In der Wertfreiheitsschrift, genau genommen in jener Version der Wertfreiheitsschrift, welche zum ersten Mal im Jahre 1917 abgedruckt worden ist, kann man lesen – und dies zeigt nicht nur exemplarisch, wie eng Max Webers Denken mit der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts verbunden ist, sondern zeigt auch abschließend, von welcher Warte aus der Gelehrte die Münchner Revolution ins Visier nimmt: „Ausnahmslos jede, wie immer geartete Ordnung der gesellschaftlichen Beziehung ist, wenn man sie bewerten will, letztlich auch daraufhin zu prüfen, welchem menschlichen Typus sie, im Wege äußerer oder innerer (Motiv-)Auslese, die optimalen Chancen gibt, zum herrschenden zu werden.“82 Es ist primär diese Fragestellung – und es sind nur sekundär politische, wirtschaftliche oder rechtliche Fragen –, es ist primär diese, in der Wertfreiheitsschrift unmissverständlich formulierte, tief im Denken des 19. Jahrhunderts stehende Fragestellung, von der aus Max Weber die moderne Welt bewertet – und von der aus er die Münchner Revolution kritisiert. RÜCK- UND AUSBLICK Es sei erlaubt, diesen Aufsatz mit zwei kürzeren Bemerkungen zu schließen. Mit der ersten Bemerkung will man einen Hinweis auf einige Denker der Jahrhundertwende geben, mit der zweiten Bemerkung möchte man einen Wink zur Gegenwart machen. Das Erstere ist eher von forschungstechnischer Relevanz, das Zweitere ist mehr von zeitdiagnostischer Bedeutung. Erstens: Die Art und Weise, wie Max Weber den Menschen als Typus zum Gegenstand seines Denkens macht, findet sich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in ganz ähnlicher Form bei vielen anderen Intellektuellen. Weber, dem etwas zu oft eine Sonderstellung zugeschoben wird, ist zumindest in dieser Hinsicht kein Einzelfall – eher ist es andersrum: Die Arbeiten von Simmel, von Ferdinand Tönnies oder von Karl Jaspers – um hier nur einige Namen zu nennen – zeugen von sehr ähnlichen Ideen wie die Weberschen Arbeiten. Es wäre mehrere Untersuchungen wert, zu erforschen, worin genau etwaige Gemeinsamkeiten liegen, worin genau etwaige Unterschiede bestehen – welche verschiedenen Ausprägungen die „Wissenschaft vom Menschen“ damals gehabt hat. 82 Weber (1988): Der Sinn der Wertfreiheit, S. 517.
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Zweitens: Unsere Zeit scheint in vieler Hinsicht ähnliche Konturen vorzuweisen wie die Zeit um 1900; dies wird bekanntlich immer wieder kenntlich gemacht.83 Allein – in intellektuellen Belangen besteht zwischen unserer Zeit und der Zeit um 1900 eine kaum zu überschätzende Differenz. So muss man eine Wissenschaft, die auf die „Qualität“, auf die „Beschaffenheit“, auf die „Seele“ des Menschen abzielt, mit der Lupe suchen. Woher das rührt? Der Hauptgrund für diesen Wechsel ist schnell zu finden: Im Gegensatz zum heroischen Zeitalter ist man in der postheroischen Epoche für die Begriffe, die man für eine Wissenschaft vom Menschen benötigt, kaum empfänglich. Größe? Adel? Höhe? Hingabe? Selbstbegrenzung? Leidenschaft? Nietzsche wusste, dass die „letzten“ Menschen von derlei Worten nichts halten: Bitte, das sind Kindereien; „wir haben das Glück erfunden“, sagen die heutigen Menschen und blinzeln. Wie Max Weber wohl das frühe 21. Jahrhundert bewerten würde? „Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinaus wirft [...]. Wehe! Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen“.84 Vor nichts, vor rein gar nichts graut es Nietzsche mehr als vor der Stunde des „letzten Menschen“.85 Genau die gleiche Angst hat Weber. Mögen diejenigen, die nicht wissen, was „Größe“, was „Hingabe“, was „Selbstbegrenzung“ heißt, mögen diejenigen bloß fernbleiben: Wie Nietzsche, so liebt auch Weber „den, dessen Seele sich verschwendet.“86 Nicht Wirtschaftsmenschen sollen wir sein, sondern Kulturmenschen, das ist Max Webers Überzeugung, Menschen mit Sinn und Geschmack für das Unendliche. Was bedeutet dies für die Gegenwart? Wie wohl würde Max Weber den Menschentyp, der im frühen 21. Jahrhundert „herrschend“ ist, beurteilen? Es ist schon so, dass Max Weber bei den Vertretern der deutschen Revolution vielfach kein Augenmaß bewiesen hat, zweifelsohne! Nichtsdestotrotz bleibt nicht nur die von ihm verfolgte Fragestellung, sondern auch die von ihm gestellte Diagnose meines Erachtens von unübertroffener Aktualität: Der Neue Mensch ist längst geboren, und er wird es stetig von Neuem. Was passiert mit den Menschen, die in die moderne Welt hineingestellt sind? Werden diese Menschen womöglich zu „Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz“?87 Allein die Tatsache, dass mittlerweile kaum mehr irgendwo über „menschliche Größe und den Adel unserer Natur“ nachgedacht wird, legt ja schon mal die Richtung der Antwort nahe. Umso wichtiger, dass die Erinnerung an andere Denkweisen wach bleibt.
83 Vgl. zum Beispiel Ghosh (2016): Max Weber, S. 399f. – Vgl. dazu auch Dahme (1988): Der Verlust des Fortschrittsglaubens. 84 Nietzsche (2010): Also sprach Zarathustra, S. 15. 85 Ebd. 86 Ebd., S. 13. 87 Weber (1988): Die protestantische Ethik, S. 204.
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Weber, Marianne: Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 1926. Weber, Max: Gedenkrede auf Georg Jellinek. In: König, René / Winckelmann, Johannes (Hrsg.): Max Weber zum Gedächtnis. Materialien und Dokumente zur Bewertung von Werk und Person, Opladen 1963, 13–17. Ders.: Das neue Deutschland. In: Ders.: Zur Neuordnung Deutschlands. Schriften und Reden (= MWG I/16). Hrsg. v. Wolfgang J. Mommsen i. Z. m. Wolfgang Schwentker, Tübingen 1988, 379–383. Ders.: Debattenreden. In: Weber, Marianne (Hrsg.): Diskussionsreden auf den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik (1905, 1907, 1919, 1911). Tübingen 1988, 394– 430. Ders.: Der freie Volksstaat. In: Ders.: Zur Neuordnung Deutschlands. Schriften und Reden (= MWG I/16). Hrsg. v. Wolfgang J. Mommsen i. Z. m. Wolfgang Schwentker, Tübingen 1988, 161– 176. Ders.: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik. In: Winckelmann, Johannes (Hrsg.): Max Weber. Gesammelte Politische Schriften, Tübingen 1988, 1–25. Ders.: Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften. In: Winckelmann, Johannes (Hrsg.): Max Weber. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, 489–540. Ders.: Deutschlands künftige Staatsform. In: Winckelmann, Johannes (Hrsg.): Max Weber. Gesammelte Politische Schriften, Tübingen 1988, 448–483. Ders.: Deutschlands Vergangenheit und Zukunft. In: Ders.: Zur Neuordnung Deutschlands. Schriften und Reden (= MWG I/16). Hrsg. v. Wolfgang J. Mommsen i. Z. m. Wolfgang Schwentker, Tübingen 1988, 438–441. Ders.: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Winckelmann, Johannes (Hrsg.): Max Weber. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, 146–214. Ders: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Weber, Marianne (Hrsg.): Max Weber. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1988, 17–206. Ders.: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. In: Winckelmann, Johannes (Hrsg.): Max Weber. Gesammelte Politische Schriften, Tübingen 1988, 306–443. Ders.: Politik als Beruf. In: Winckelmann, Johannes (Hrsg.): Max Weber. Gesammelte Politische Schriften, Tübingen 1988, 505–560. Ders.: Wissenschaft als Beruf. In: Winckelmann, Johannes (Hrsg.): Max Weber. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, 582–613. Ders.: Briefe 1906–1908 (= MWG II/5). Hrsg. v. Rainer M. Lepsius u. Wolfgang J. Mommsen i. Z. m. Birgit Rudhard u. Manfred Schön, Tübingen 1990. Ders.: Briefe 1911–1912 (= MWG II/7, 1. Hbd.). Hrsg. v. Rainer M. Lepsius u. Wolfgang J. Mommsen i. Z. m. Birgit Rudhard u. Manfred Schön, Tübingen 1998. Ders.: Briefe 1918–1920. 1. und 2. Hbd. (= MWG II/10). Hrsg. v. Gerd Krumreich u. Rainer M. Lepsius i. Z. m. Uta Hinz et al., Tübingen 2012.
EUGEN ROSENSTOCK-HUESSYS 9. NOVEMBER 1918 „1918/19 ist wirklich passiert“1 Michael Gormann-Thelen 1. DATUM UND NAME, EREIGNIS UND KALENDER Der jüngste Forschungebericht zur „Revolution von 1918/19“ – Verfasser ist Volker Stalmann – unter dem Titel Die Wiederentdeckung der Revolution von 1918/19 – Forschungsstand und Forschungsperspektiven (2016) sagt einerseits, dass sie noch vor kurzem (2010) als „vergessene Revolution“2 bezeichnet wurde, andererseits, dass sie „seit dem 90. Jubiläum der Revolution“ ,wiederentdeckt‘ werde. Ebenso paradox wird formuliert, sie werde einerseits als ein „Systemwechsel“3 aufgefasst, zum anderen aber scheine diese ,Revolution‘ „aus dem Erinnerungshaushalt der Deutschen nahezu [sic!] verschwunden.“4 Nicht besser könnte das, was Friedrich Engels „die deutsche Misere“5 genannt hat, zum Datum 1918/19 auf den Begriff gebracht werden. Freilich auf einen romantischen, der zwischen Zerrissenheiten, Ohnmächtigkeiten, Undeutlichkeiten und Verblendungen oszilliert. Im öffentlichen Erinnerungshaushalt der Deutschen nach 1945 ist diese ‚Revolution‘ nicht nur kaum erinnerlich, sondern sie ist „nahezu“6 inexistent. Genauer: eine der wichtigsten erinnerungspolitischen Maßnahmen der Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl war die Einführung des Nationalfeiertages datiert auf den 3. Oktober, weil 1990 zum ersten Male ein gesamtdeutscher und freier Bundestag gewählt werden konnte. Wie noch erinnerlich sein wird, verdankt sich diese Maßnahme aber der ,friedlichen Revolution‘ von 1989/90, die wiederum einem 9. November verschwistert war.7 Kohls und der damaligen Parteienmehrheiten Festlegung auf einen 3. Oktober, der in der deutschen Geschichte wohl für ,unver1 2 3
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Rosenstock-Huessy (1997): Judas Ischarioth, S. 46 (zuerst 1932). Stalmann (2016): Wiederentdeckung, S. 521 u. 527. Stalmanns „Systemwechsel“, ebd. S. 521, ist ein begrifflicher und diagnostischer Fehlgriff und weckt ungute Erinnerungen. Dieser zeigt einmal mehr, dass es bis heute keine unumgängliche Untersuchung zur Sprachpolitik der Weimarer Republik gibt. Jean-Pierre Fayes Pionierarbeit Totalitäre Sprachen (1977) konnte durch ihre wenig gelungene deutsche Übersetzung nur bedingt wirken. Stahlmann (2016): Wiederentdeckung, S. 521. Engels (1964): Deutscher Sozialismus, S. 222. Stalmann (2016): Wiederentdeckung, S. 521. Vgl. zu Kalender und Datum des 9. November Thomas Macho (1989): Der 9. November.
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dächtig‘ gehalten wurde, bezieht seinen Sinn einzig und allein aus dem Akt einer Gegen-Datierung eines Datums, nämlich gegen das Datum vom 9. November 1918 und dessen Insistenz der symbolischen Wiederkehr in der deutschen Geschichte. Sprich: der 9. November wurde erinnerungspolitisch einmal mehr für unwürdig und missliebig befunden, schon gar nicht verdiene er gefeiert, geschweige denn öffentlich gedacht und erinnert zu werden! Deutsche Zwiespältigkeit schlägt bis heute selbst in die Wissenschaftsdiskurse immer noch durch. Erinnerungsort? Gedenkoder gar Nationalfeiertag? Topos des Wissenschaftsdiskurses von Vergessen und Gedenken? Bis 1945 war dieses Datum Anlass für einen Graben- und Stellungskrieg mit anderen Mitteln. Alle Gespenster des letzteren blieben virulent. So ist es auch nicht verwunderlich, dass weder die Begriffsgeschichte noch die Geistesgeschichte, weder die politische noch die Ereignisgeschichte in ihrer Forschung eine Klarheit und begriffliche Schärfe gebracht haben. War es überhaupt eine Revolution? Und in welchem Sinne? In welchem Kontext oder gemäß welchen Kalenders? Datum, Namen, Ereignis und Kalender bilden jeweils eine Facette des „Hinterrücksdogmas“8, wie es, in je verschiedener Weise, für den historiographischen Wissenschaftsdiskurs bzw. für den öffentlichen Erinnerungshaushalt dessen, was heute einfach „Deutschland“ genannt wird, als prägend, semantisch leitend („Historische Semantik“), topisch („Erinnerungsort“?) und gedenkwürdig („Nationalfeiertag“ oder wissenschaftlicher Topos) erachtet wird. Um das vielsagende Hinterrücksdogma ausdrücklich zu benennen, genügt der Hinweis auf die ‚Nationalgeschichtsschreibung‘. Neben der strauchelnden begrifflichen Unschärfe dessen, worum es in beiden Diskurstypen – Wissenschaft bzw. kollektivem Gedächtnis einer nationalgesellschaftlichen Öffentlichkeit – eigentlich geht, kommt weiteres hinzu. Die Unschärfe der Zeit, die gemeinhin „Weimar“, „Republik Weimar“, „Bonn ist nicht Weimar“, „interwar period“ oder „The Weimar Moment“ genannt wird. Dies ist das zweite „Hinterrücksdogma“: Welcher Name und welche Zeitfrist soll denn dieser ‚Zeit‘ zuerkannt bzw. zugebilligt werden? Und wie unterliegt man nicht der Rückprojektion eines Heute auf ein Ehemals? Der in der angelsächsischen Forschung beliebte Ausdruck „interwar period“ ist beispielhaft für jene Rückwärtsprojektion. Wie will man einer Geschichtstheologie oder einer Teleologie entgehen? Es ist bis heute für diese Zeit dessen, was Weimarer Republik genannt wird, paradigmatisch, dass man der Frage, was diese Zeit als Zeitkörper konstituiert, aus dem Wege geht. Sagt man ‚interwar period‘ oder ‚Zwischenkriegszeit‘, erkennt man einen Einfluß einer Zukunft dessen, was sich noch nicht ereignet haben kann, auf die Konstitution dieser Zwischenzeit zu. Einen Einfluß der Vergangheit, des Ersten Weltkriegs, auf die Gegenwart der Weimarer Zeit kann niemand leugnen, aber ein Einfluß vom Zweiten Weltkrieg gleichsam schon im Voraus, das bleibt
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Glücklicher Neologismus von Rosenstock-Huessy (1958): Geheimnis, S. 64.
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begründungsbedürftig.9 Und wie steht es mit der befremdlichen, ja unheimlichen Tatsache, dass das Kreativpotential dieser Zeit bis heute national wie international weiterhin seine erstaunlichsten Wirkungen zeitigt? Man denke nur an Philosophie, Künste, Film und andere Medien? Also, eine ausdrückliche „Auseinandersetzung“10 mit Fragen dieser Epoche als Epoche bzw. dieser Zwischenzeit als „Interim“11 steht bis heute jedenfalls in Wissenschaft wie in Gedenkkultur aus. Halten wir fest: Datum, Revolution, Interim und Erinnerungshaushalt (Wann endet die Zeit, die mit dem 9. November 1918/19 anhebt?) bilden Horizonte, die von einem anderen Schauplatz her zu errichten und zu befragen wären.12 Nicht zu vergessen der Status und die Verfassung der Beteiligten selbst. Bei diesen ginge es um den Status als Zeugen und Akteure, als Zeitgenossen und als „Weitersager“13 ihrer (?) Zeit. Mit einem Wort: es ginge auch um den Zusammenhang von Zeitgenossenschaft bzw. Unzeitgenossenschaft oder Zeitungenossenschaft.14 Zusammenhang besagt: wie steht es um die Fragen zu Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, zu Synchronisierung des A- oder AntiSynchronen, des Ana- und Hyperchronen.15 Was fehlt? Das wäre die Frage des ‚neuen Menschen‘ in dieser befremdlichen Epoche ohne Epochalität. Gab es ‚neue Menschen‘, deren Prägestock dieses Datum des 9. Novembers 1918/19 bildet? ‚Der neue Mensch‘ wird andernorts industriell aus dem Nichts zu erzeugen versucht. In der Sowjetunion ab 1917. In Deutschland wird er im expliziten Gegensatz zum Datum dieses Novembers zu formieren versucht; schon von 1918 an, dann aber ab dem 30. Januar 1933. Aber diese Formierung ist dann eine durch (Selbst-)Vernichtung. ‚Der neue Mensch‘ des Nationalsozialismus übertrifft alles bis dahin Vorstellbare von Weltuntergang und 9
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Rosenstock-Huessy beantwortet dieses bis heute unaufgelöste Problem heilsgeschichtlich, freilich nicht im Sinne einer linear unterstellten, auf das Jüngste Gericht zulaufenden christlichen Glaubensgeschichte. Das müsste in einer eigenen Studie gezeigt werden. Vorerst RosenstockHuessy (1956): Des Christen Zukunft, S. 99–195. Dieser Heidegger konnotierende Begriff fällt in den ersten beiden Abschnitten von Stalmanns Forschungsbericht allein vier Mal. Das Denken in Fristen ist nicht identisch mit der Frage nach dem Interim. Rosenstock-Huessy (1964): Die Interim, S. 14–24; ders. (1958): Geheimnis, S. 64–69. Die Frage nach dem Interim, ja, von Geschichte als einer ‚Folge‘ von Interims, bleibt begrifflich zu lösen. Am Besten, so vermutlich, über den Umweg von Freuds Konzeption der Nachträglichkeit. Vgl. Derrida (1976): Die Schrift, S. 302–350. Der andere Schauplatz Rosenstock-Huessys zufolge: „Die Christen haben sich leider den Haushaltsbegriff von den Ökonomen stehlen lassen, und die Theologen haben sich die Abwanderung des Ökonomischen aus der Verkündigung gefallen lassen. Das Wort ‚Haushalt‘ muss aber wieder Glaubensglanz bekommen. Wir müssen die Ökonomie des Glaubens ernst nehmen.“ Rosenstock-Huessy (1988): Friedensbedingungen, S. 109f. Auch: „Gegen den Augenschein des politischen Tageslärms ist die planetarische Ordnung eines Welthaushalts über uns gekommen.“ Ebd., S. 118. Ders. (1963): Die Sprache, S. 295–311. Vgl. Agamben (2009): Nacktheiten, S. 35. Ullmann (1981): Kirchengeschichte, S. 68–78; ders. (1995): Zukunft Aufklärung. Ullmann ist gänzlich wirkungslos geblieben.
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Kains-Mal. Jenseits ist er von Die letzten Tage der Menschheit und Die dritte Walpurgisnacht eines Karl Kraus. 2. EIN UNBEKANNTER ODER WAS HEIßT INKOGNITO Selbstredend rief die Zeit des 9. Novembers 1918/19 neue Menschen ins Leben, jedoch auf gänzlich andere Weise als die Anthropurgie der großen Revolutionen des zweiten Jahrtausends.16 Diese neuen Menschen bildeten sich im Stillen, ja, im Geheimen, im Unscheinbaren oder machten von sich wenig Aufhebens.17 Sie wollten „unabsehbar bleiben“.18 Erst nachträglich wird bewußt werden, dass dank ihnen etwas gesamtgesellschaftlich möglich wurde und sich normativ durchsetzte. Das, was nach 1949 als Sozialstaat aufgebaut wurde, hatte seine Wurzeln in den Taten, Überzeugungen und im Glauben derjenigen, die während der Weimarer Republik unscheinbar tätig waren.19 Dafür steht paradigmatisch der Name eines Unbekannten, auf den hingewiesen werden soll. Selbstredend war der Name nicht immer unbekannt. Ganz im Gegenteil. Der Name wurde unbekannt gemacht, später unbekannt gehalten. Ersteres durch den Nationalsozialismus, der ungezählten Bekannten wie Unbekannten, Namenlosen wie Namen großer Reputation den Namen aberkannte, sie auslöschte oder ins Exil trieb. Zweiteres dann in der Zeit nach dem Nationalsozialismus, in der fast alle dieser Vergessenen und Ausgelöschten namentlich ein zweites Mal vergessen wurden (man erinnert sich ihrer ‚einfach‘ nicht mehr) und die Ausgelöschten keine Erwähnung mehr fanden. Man versagt ihnen, einmal mehr, einen oder ihren Namen.20 Die bis heute staunenswerte Polynomie schöpferischer Kräfte, Namen, Traditionen des Interims, welches mit dem Datum 9. November 1918 einsetzte und – aus der Rückschau – mit dem Januar 1933 offiziös endete, kennt eine langanhaltende, bis ins Heute wirkende Nachgeschichte. Viele dieser Kräfte, Namen und Traditionen sind in den verschiedensten Bereichen – nicht nur in den Wissenschaften – genauer in Ideen- und Geistesgeschichte, Begriffsgeschichte und wissenschaftlichen Fachgeschichten erkundet und erforscht worden.
16 Rosenstock (1931): Revolutionen, S. 66–71. 17 Rosenstock-Huessy (1964): Vom Unscheinbaren, S. 145–150. Nach Rosenstock-Huessy beginnen alle geschichtlich wichtigen Taten unscheinbar im Sinne von Selbstvergessenheit. Ganz anders gleichlautendes Thema bei Heidegger. Dazu Dastur (2002): Dire le temps. 18 Rosenstock-Huessy (1965): Dienst, S. 43. 19 Vgl. Gormann-Thelen (2013): Mad Economics. 20 Rosenstock-Huessys erster Band seiner Soziologie Kräfte der Gemeinschaft (1925), 1956 und 1960 wiederveröffentlicht unter dem Titel Die Übermacht der Räume, beginnt mit dem Kapitel unter dem Titel „Versagen des Namens“ (Neuedition unter dem Titel Im Kreuz der Wirklichkeit 2009). Vgl. auch Rosenstock (1926): Vom Industrierecht, Kap. V.
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Um so mehr berührt, wenn ein Name nahezu vollkommen aus jeder Erinnerung und jedem Gedächtnis herausfällt.21 So erging es (dem Namen von) Eugen Rosenstock-Huessy (1888–1973).22 Das muß Gründe haben. Denn dieser Namensträger, mit dem eine gesamte geistige Arbeitsteilung verwandter großer Namen verbunden ist, war ein brillianter Geist mehrerer Wissenschaften, darüber hinaus mit einer besonderen prophetischen Gabe, was geschichtliche Prozesse angeht, begabt. Dass er aus der späteren Erinnerung – sagen wir nach 1933, dann nach 1945, dann nach 1960 und eigentlich bis heute – herausfiel, hängt mit diesem Datum des 9. November 1918 zusammen, aber auch damit, dass er auf seinen ‚Geist‘ wenig gab. „Der wissenschaftliche Prophet“ – genannt wird Spengler, aber das Weimarer Interim ist ja voller Genien bzw. voller Heerscharen selbstherrlicher Geister – „schaltet sich selbst aus dem Weltzusammenhang aus.“ Und „erfüllst du deine Geniuspflicht, frag ich nach deinem Glauben nicht.“23 Nach Rosenstock-Huessy gilt beides nicht. Der Prophet wird beredt, selbst gegen Gott, durch das Unheil, welches er tiefer als andere durchlebt, und welches ihn beredt macht. Das wahre Genie ist „nicht das letzte Kriterium“ seiner selbst: „And for the mind, genius is the true food. But, my dear friend, genius is not the last criterion. Jesus was a genius who did not care to be one. We must be more than geniuses. Or we will destroy society as the geniuses of the old.“24 Oder mit zwei anderen Sätzen desselben Verfassers: „Wahrheit erregt Haß. Sie ist widerwärtig. Ihr zweiter Satz lautet: Erkenntnisse reifen. Die Zeit lehrt. Nur wer gewartet hat und geharrt, nur der hat ein Recht zu behaupten, er glaube an die Gegenwart des Geistes.“25 Dies macht wirkliches Inkognito aus. Zum Inkognito gehört Selbstvergessenheit.
21 Rosenstocks Zeitgenossen von Weimar wussten warum. Nach 1945 jedoch bediente man sich, ohne die Anregungen zu kennzeichnen. Die verschwiegene Plünderung des Weimarer Kreativpotentials nach 1945 wäre eine lohnende subversive Rezeptionsgeschichte. 22 Das zweite Vergessen seines und vieler anderer Namen kann ziemlich genau datiert werden auf das Ende der 1950er / Anfang der 1960er Jahre. Eine Historiographie dieser Wirkungsgeschichte gibt es in Einzelfällen, aber nicht in Bezug auf diese verschiedenen zeitlichen Verläufe und ihre Verzögerungen bzw. Aufschübe. Man denke etwa an solche ‚Fälle‘ wie die von Raoul Hilberg bzw. dessen störende Anwesenheit bei herrschenden Historikerschulen. 23 Es braucht keine besondere Phantasie, in diesen beiden komplementären Instanzen Präfigurationen wissenschaftlicher Selbstbezüglichkeiten zu erkennen. Man denke nur an Luhmanns systemsoziologische Umschriften in „Beobachter“ erster und zweiter Ordnung. Zum Zitat Rosenstock-Huessy (1964): Der Selbstmord Europas, S. 73 (zuerst 1919). Das Zitat davor ebd. S. 65. „Selbstherrlichkeit“ ist eines der Passworte der Weimarer Zeit. Unausgedeutet blieb Friedrich Hielscher (1926): Selbstherrlichkeit. 24 Rosenstock-Huessy (1945): Envoi, S. 84. Für den Christen Rosenstock-Huessy ist die Berufung auf Jesus keine kontingente Tatsache, sondern eine Erfahrung, die viele mit diesem durch die Zeiten teilen. Auch Glauben ist eine Wissensform sui generis. Dies auch öffentlich immer wieder zu bekunden, hat Rosenstock-Huessy sehr viel Unverständnis und Ärgernisse eingebracht. 25 Ders. (1952): Heilkraft, S. 112.
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Diese Sätze treffen auf ihren Verfasser selbst zu. Konnten sie doch nur dadurch formuliert werden, dass er das, was dieses Datum ihm zuzudenken und zu bezeugen aufgab, also den 9. November 1918 und die Folgen, mit äußerst wachem Sinne durchlebte. Wie nur bei sehr wenigen26 ist seinem Leben, seinem Werk und seinem Handeln dieser 9. November 1918 eingebrannt.27 Er selbst durchlebte den staatlichen und gesellschaftlichen Zusammenbruch von 1918/19 als Totalzusammenbruch aller Ordnungen – auch der eigenen Biographie. Das Datum des 9. November 1918 erfährt er als Datum einer „Metanoia“ – sowohl die seiner Lebensführung wie auch wissenschaftlich.28 Das Alte mußte in all seinen Konsequenzen „entmächtigt“29 werden, um daraus als ein Gewandelter hervorgerufen werden zu können.30 Alles verdichtet er 1938 – in der Zwischenzeit war er in die USA eingewandert – in den Satz „Respondeo etsi mutabor“.31
26 Eugen Rosenstock-Huessy, geb. am 6. Juli 1888, gehört zu der berühmten Generationskohorte der um 1888/89 Geborenen, also zu jenen, deren Signum durch Nietzsches Zusammenbruch bzw. Wahnsinn bestimmt wurde. Generationsgenossen waren etwa Franz Rosenzweig, Ernst Bloch, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein und – Adolf Hitler. Die nächste wichtige Generationskohorte der um 1900 Geborenen trennte von jener die Nichtteilnahme am Ersten Weltkrieg. Zur Generationsanalyse zwischen 1885 und 1933 vgl. ders. (1994): Sieger und Besiegte (zuerst 1933). 27 Dazu Rosenstock-Huessy mit seinen zeitgenössischen Essays, die er im Hochland veröffentlichte. Nachzulesen in: ders. (1964): Sprache, Bd. II, S. 45–200; Rosenstock (1920): Hochzeit. Für Rosenstock war die deutsche Revolution im Gesamtdurchlauf der Revolutionen des zweiten Jahrtausends die Reformation. 28 Vgl. Rosenstock-Huessy (1968): Ja und Nein, S. 76–77; ders. (1975): Impure Thinker, S. 182– 190. Eugen Rosenstock begann unmittelbar nach dem 9. November mit einem „Volkswissenschaft“ betitelten Werk in 5 Bänden, welches ein soziologischer Aufriss der erforderlichen neuen Ordnungen werden sollte. Das Werk blieb Fragment. 29 Ders. (1964): Sprache, Bd. 2, S. 579. Dass Zeiten nicht nur durch Ereignisse hervorgerufen werden, sondern auch Zeiten verbrauchen, um sie zu entmächtigen, ist eine den Wissenschaften fremde Einsicht Eugen Rosenstock-Huessys. Den Hoch-Zeiten entsprechen Zeiten der exauctorisatio. Der Jurist Rosenstock revitalisierte diesen Begriff des Römischen Rechts. Er übersetzt ihn mit ‚Entmächtigung‘. Man könnte sagen: Zeiten der Entmächtigung sind Zeiten der Exauctorisation, der Lossprechung, des Loslassens, kurz der Befreiung vom Fatum, des Einerlei, des Immer-Wieder. Der November 1918/19 und die Folgen waren solche! Da man kein anderes Wort für diese Erfahrungen des Endes und des nötigen Anfangens hatte, benutzte man ein altes Wort. Zu exauctorisatio ders. (1964): Sprache, Bd. 2, S. 579–587. 30 Durch die Zukunft, die ein je spezifisches Geheiß imperativen Charakters zeitigt und bestimmte Träger hervorruft und anspricht. Die Zukunft als „töchterliche“, als Verheißung, hat vokativen Charakter. Beide sind gleichursprünglich; ein Kern der Lehre Rosenstock-Huessys. Ders. (1951): Heilkraft, S. 65–70. 31 Auf Deutsch svw.: „Ich antworte, wenngleich ich mich verändern lassen muss“. Für den Verfasser war dies eine Frucht seines christlichen Glaubens. Kreuzestod und Wiederauferstehung waren ihm keine theologoumena, sondern soziologische Wahrheiten, die zu jeder Zeit individuell und gesellschaftlich jeweils neu gemacht und geteilt werden müssen. Diesen zitierten Satz formulierte er als Passwort für das dritte Jahrtausend. Vgl. Rosenstock-Huessy (1938): Out of Revolution, S. 741–758.
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Eugen Rosenstock-Huessy wuchs in einer Berliner assimilierten jüdischen Familie auf. Er ließ sich 1909 christlich taufen. Er studierte Rechtswissenschaften. 1912 wurde er der jüngste je an der Juristischen Fakultät der Universität Leipzig tätige Privatdozent. Er lehrte Deutsche Rechtsgeschichte und erlangte die venia legendi für Staats- und Verfassungsrecht. Nach Dissertation und Habilitation veröffentlichte er mit 26 Jahren 1914 sein „Professorenbuch“ Königshaus und Stämme in Deutschland zwischen 950 und 1250.32 Schon vor Beginn des Ersten Weltkriegs hatte er aber dieser Karriere seine Absage erteilt,33 beschleunigt wurde diese Entwicklung durch den Ersten Weltkrieg und den Zusammenbruch der Reiche im globalen Maßstab – also nicht nur Österreich-Ungarns, des Deutschen Reiches, auch des Russischen Reiches und des Chinesischen Reiches. Das Datum 9. November 1918 mit seinen Folgen bezeichnet die Implosion des gesamten globalen, auf Reichsstrukturen basierenden Staatensystems.34 Diesem hat Rosenstock bedeutende, bis heute nicht ausgeschöpfte Studien gewidmet.35
32 Siehe Rosenstock (1914): Königshaus. Das Thema der Königswahl seit den Karolingern ist bis heute in der Mittelalterforschung nicht gelöst. Rosenstocks Beitrag, dass es eigentlich um die Frage gehe, wie es in einer von Stämmen bestimmten Welt dazu kommen konnte, dass über diese ein Könighaus samt Ämtern und Verwaltung und Herrschafts- und Gerichtssprache hat errichtet werden können, ist weder aufgenommen noch diskutiert worden. Die geschichtswissenschaftlichen und rechtsgeschichtlichen Arbeiten von Bernd Faulenbach (1982): Der Historiker Eugen Rosenstock-Huessy und Hans Thieme (1989): Eugen Rosenstock-Huessy behaupten nur, das sei allgemeines Wissen dieser Fachwissenschaften. Das Gegenteil ist der Fall! Eine rezeptionsgeschichtliche Arbeit hierzu fehlt. Auch in den biographischen Fakten sind genannte Arbeiten irreführend und falsch. Zu empfehlen ist vorerst Gottfried Hofmann (2014): Eugen Rosenstock-Huessy; vor allem aber Rosenstock-Huessy (1968): Ja und Nein. 33 Ebenfalls zog Franz Rosenzweig, Rosenstocks engster Freund, die gleiche Konsequenz, wenn auch zunächst widerwillig in einem Nachtgespräch, welches beide in der Nacht von Rosenstocks Geburtstag 1913 führten. Rosenzweig durchlitt einen Totalzusammenbruch von Juli bis Oktober 1913. Bei einem Synagogenbesuch zu Yom Kippur desselben Jahres besann er sich auf seine jüdischen Wurzeln, was dann zur Gründung des Freien Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt und nicht zu einer Karriere als Universitätshistoriker führte. Der Erste Weltkrieg machte bei Rosenzweig keine Epoche. Das erwähnte Nachtgespräch, eine amour fou mit Rosenstocks Frau Gritli und der Entschluss zu einer bewusst jüdischen Lebensführung bildeten die krisenhaften Wendepunkte dieses Lebens. Eine Frucht war das berühmte Werk Der Stern der Erlösung (1920) einerseits, der Kampf gegen Amyotrophe Lateralsklerose seit 1921 andererseits. Daraus entstand ein bedeutendes schriftliches Lebenswerk. Alles verdichtet auf ca. 12 Lebensjahre ab 1917. Er starb 1929. 34 Zusammen mit dem Zweiten Weltkrieg könnte man von einer ZirkumInvolution des zweiten Jahrtausends sprechen, also der Ära des langsamen Schwindens der Reiche und des Verbundes der Nationalstaaten. Beides umfasst Rosenstocks Verständnis von „Weltkriegsrevolution“. Dem ersten Millennium ging es nach Rosenstock-Huessy um den Kampf um Gott; dem zweiten Millennium um den Kampf der Welt(en); dem dritten gehe es um einen Kampf um die Einheit des Menschengeschlechts. Vgl. hierzu ders. (1965): Dienst und ders. (1951): Heilkraft sowie ders. (2009): Im Kreuz der Wirklichkeit (zuerst 1925). 35 Man muss sich die zeitgenössische Literatur zum ‚Reich‘ von A. Dempf bis C. Schmitt, von Eric Voegelin bis C. Steding und vielen anderen vor Augen halten. Insbesondere Rosenstocks
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Als Rosenstock nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr in einer der drei Großinstitutionen Staat, Universität und Kirche Karriere machen wollte – man hatte es ihm am 8. November 1918 angeboten,36 er aber lehnte ab, weil alle drei sich durch den Ersten Weltkrieg kompromittiert hatten – „exauctorisierte“37 er diesen Abschied oder Abgang, wie es damals üblich war, auch liturgisch38 durch eine Reihe von Vorlesungen, Vorträgen und Schriften, die allesamt testamentarische Züge zeigten.39 Bevor er neue Antworten zu geben bereit war, mußte der alte Geist aufgegeben werden. Diese Funktionen hatten diese Vorlesungen, Vorträge und Schriften.40 Zieht man alle Schriften Rosenstocks zurate, dann ist ein Grundtenor in immer neuen Wendungen der, dass nach diesem Totalzusammenbruch keine neuen Menschen geboren wurden, sondern dass die gesellschaftlichen Akteure zumeist auf einen gesellschaftlichen, psychischen Zustand regredierten, wie er bis 1914 kennzeichnend war. Wenig neuer Geist, aber fast nur Geisterkämpfe um längst
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‚Dekonstruktion‘ des altägyptischen Reiches ist überhaupt nicht bekannt und gewürdigt worden. Vgl. Rosenstock-Huessy (1964): Sprache, Bd. 2, S. 595–735. Des Weiteren RosenstockHuessy (2009): Im Kreuz der Wirklichkeit. Die Vollmacht der Zeiten, Bd. 2 und 3. Das „Professorenbuch“ von 1914 ist ein Vorläufer. 1. Ruf auf einen Lehrstuhl seiner Leipziger Juristischen Fakultät. 2. Angebot des Herausgebers der führenden katholischen Kulturzeitschrift Hochland als Chefredakteur. 3. Angebot als Unterstaatssekretär, an der Formulierung der Weimarer Verfassung mitzuarbeiten. Vgl. Rosenstock-Huessy (1968): Ja und Nein, S. 76. Vgl. Ebenfalls Rosenstock-Huessy (1975): Impure Thinker, S. 186. Das Angebot, als Unterstaatssekretär an der Ausarbeitung einer neuen Verfassung mitzuwirken, kam von Rudolf Breitscheid, Sozialdemokrat, Mitglied des Deutschen Reichstages, zeitweise Mitsoldat von Rosenstocks Kompagnie. Bis heute gibt es keine Rechtsgeschichte der Exauctorisation! Nur Rosenstock-Huessy betonte die Wichtigkeit der Entmächtigung. So nimmt es kein Wunder, dass deutsche Juristen problemlos von einem Rechtsregime ins andere überwechseln konnten. Dass man hierbei ‚aus Versehen‘ auch ein Unrechtsregime passierte, nahm man billigend (sich selbst gegenüber) in Kauf. Nur den Kollegen des Unrechtsstaates der DDR billigte man es nicht zu. Die wichtigste Einsicht Rosenstocks ist: Entmächtigung bzw. Exauctorisation kostet selbst eine gewisse Zeit. Dies ein Unterfall von Rosenstocks anti-idealistischem Ausgangspunkt: „Denken kostet Zeit“. Das Sich-eines-Amtes-Entkleiden ist ein liturgischer Akt, denn in ihm entsagt man feierlich dessen Würden und Pflichten. Oder unter Protest. Hier überschneiden sich Kanonisches und weltliches Recht. Berühmt geworden, freilich bis heute nicht ins Deutsche übersetzt, obwohl auf Deutsch geschrieben, ist Ernst Kantorowicz’s Studie Laudes Regiae (1946). In seiner Soziologie Im Kreuz der Wirklichkeit (2009) zeigt Rosenstock-Huessy Liturgie (nicht zu verwechseln mit ‚Ritual‘) als geschichtsbestimmende Gewalt – z. B. in der Stiftung von Verfassungen. Seine Abschiedsvorlesung an der Juristischen Fakultät Leipzig im April 1919 war der Deutschen Rechtsgeschichte zwischen dem Jahr 0 und 1919 [sic!] gewidmet. Dass dies keine Nationalgeschichte war, ist klar. Die andere Vorlesung vom 21. Februar 1919 war der Rückgabe seiner venia legendi zu Staats- und Verfassungsrecht gewidmet: „Deutschlands Staatswesen und der Völkerbund“. Letztere in: Ders. (1920): Hochzeit, S. 85–106. Einige dieser politischen Schriften sind abgedruckt in Rosenstock-Huessy (1964): Sprache Menschengeschlechts, Bd. 2, S. 45–197.
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Abgelebtes.41 Die gesellschaftspolitischen Aufsätze Rosenstocks zeigen an Einzelnen, am Habitus von Parteien, Verbänden und Traditionen die phantomatische Insistenz (Wiederaufleben) all dessen, was der Erste Weltkrieg eigentlich liquidert hatte. Die Geisterkämpfe nährten sich von Verleugnungen, Verneinungen und Verwerfungen von Realitäten, denen man nicht gestattete, von der vormaligen Stelle zu rücken.42 Das Datum 9. November 1918 ist auch ein Datum einer weitestgehenden „Apperzeptionsverweigerung“ (Doderer43): Die Tragödie des Jahres 1918 ist die doppelte Hungersnot: keine Brotfrucht für den Tag war da, aber auch keine geistigen Reserven auf weite Sicht. Alle Gedankenmassen des 19. Jahrhunderts sind im Weltkrieg verdampft. Der naive Fortschrittsglaube hatte alle Schätze der Vergangenheit verwertet, benützt, entwertet, ausgebeutet. Als nun der erwartete ‚Fortschritt‘ in den ersten Weltkrieg umschlug, war der Bankerott unvermeidlich. – Keine Fraktion, kein geistiger Bruchteil konnte den Heimkehrern das Gesamtschicksal deuten. So wurde der Mischtrank aus alten Ganzheitsbildern nötig, die eben aufzutreiben waren: Nation, Staat, Reich, Volk, Germanen, Religion. Sie mußten das Schicksal der Kriegsgeneration als Ganzes unangerührt und unbezweifelt stehen lassen – dann war jeder andere Inhalt willkommen als ‚Mythos des 20. Jahrhunderts‘, wie Alfred Rosenberg diesen Mischtrank nennt.44
3. DIE DOPPELZÄSUR VON 9. NOVEMBER 1918 UND 21. JUNI 1919 BZW. VON 1917 UND 1989 Eugen Rosenstock-Huessy hat immer empfunden und auch öffentlich zu sagen gewagt,45 dass der Zusammenbruch und die Neudatierung seiner Biographie mit
41 Wie nur wenige andere hat Rosenstock-Huessy eine bedeutsame Gespensterlehre durch die Zeiten entwickelt, wie insbesondere Dietmar Kamper herausgestellt hat. Vgl. Kamper (1990): Zeit gewinnen. 42 Lacans klassischer Diktum „Das Reale ist das, was immer auf derselben Stelle tritt“ wird nur durch das Wechselwort ‚vormalig‘ noch schlagender. Vgl. Lacan (2006): Der Triumph der Religion, S. 67. Benjamins geschichtsphilosophische Thesen zehren auch noch von den Übermächten jener Tage, die der 9. November 1918 gebären sollte. Rosenstocks zeitdiagnostische Arbeiten sind völlig aus dem allgemeinen und wissenschaftlichen Gedächtnis entschwunden. Sie stellen aber so etwas wie Beiträge zu einer politischen Psychoanalyse der deutschen Gegenwarten (= Interims) dar. 43 Dieser Ausdruck Heimito von Doderer – er fällt in seinem großen Roman Die Dämonen (1956), aber zuvor schon im Briefwechsel mit Gütersloh – artikuliert die Verdrängung eines sexuellen Realen, welches von seinem Politisch-Gesellschaftlichen und deren Ko-Artikulation im Medium der Fiktion nicht abgespalten wird. Vgl. Kleinlercher (2011): Zwischen Wahrheit, S. 276– 290 et passim. 44 Rosenstock (1995): Das Dritte Reich, S. 28 (zuerst 1931); vgl. Rosenstock-Huessy (1995): Judas Ischarioth, S. 47. 45 Ein eigenes Kapitel wäre zu schreiben zu Rosenstocks Zivilcourage und Unerschrockenheit.
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dem 9. November 1918 koinzidiere.46 Dieses Datum bestimmt seine gesamte „Metanomik“, die er verstand als „Lehre von den erschütternden Ereignissen“.47 Meiner Erfahrung nach trifft auf ihn jedoch, was unser Datum angeht, ein Satz von Gustavo Gutiérrez zu: Es gibt Gestalten der Geschichte – wenn auch nur wenige –, die alle Zeitmauern überspringen und Zeitgenossen aller Zeiten und Zeitalter zu werden vermögen. Sie tauchen derat tief in ihre eigene Zeit ein, dass sie in den Gedächtnissen der Vergangenheit länger lebendig bleiben als bloß in anekdotischen Geschichten oder in der Erinnerung einzelner anderer. In ihrem Leben verbinden sie ein starkes Engagement für ihre unmittelbare Gegenwart mit einer starken Zukunftsvision, intensives Tun mit origineller Reflexion und Aufbegehren mit Bündnissen, die den Tod transzendieren.48
Der 9. November 1918 war sein und des Bismarck-Wilhelminischen Reiches Zusammenbruch. Er sah und spürte diesen voraus und verteidigte dennoch bis in die Stunde der Dämmerung die alte Ordnung, obwohl er kein Monarchist war. Sein Horizont war jedoch nicht nur auf den deutschen des Reiches beschränkt, sondern er war schon orientiert auf die kommende Epoche jenseits der Globalisierung.49 Die „Weltkriegsrevolution“, von der der Erste Weltkrieg nur ein Teilereignis war, hatte alle Reiche50 liquidiert. Die katastrophenmorphologische Dynamik der Weltkriegsrevolution wurde von Rosenstock-Huessy „thanatographisch“,51 d. h. vom Ende her, also teleonomisch, erfahren, durchlitten und prophetisch vorweggenommen.
46 Vgl. die zeitdiagnostischen Aufsätze ders. (1964): Sprache, Bd. 2. 47 Vgl. vor allem ders. (1938): Out of Revolution, S. 689–758; ders. (1951) Der Atem des Geistes, S. 95–165; ders. (1958): Geheimnis, S. 36. Zuletzt ders. (1965): Dienst. Große Ereignisse rufen Epochen hervor, die prägend wirken – im Negativen wie im Positiven. Auch geben sie Anlass zu Zeitverzögerungen. Die Präsidentschaft Trumps ist die Gegenreaktion zu 9/11, nämlich die erste ultra-nationalistische Präsidentschaft der USA-Geschichte. 48 Gemünzt auf den Dominikaner Bartolomé de las Casas. Eine Rosenstock-Huessy verwandte Gestalt aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Ivan Illich. Gutierrez (1993): Las Casas, S. 3. 49 Globus und Welt sind zwei Stichworte des zweiten Jahrtausends. Zur Zeit danach gehören Stichwörter wie Erde und Planet. Hierzu Rosenstock-Huessy (1965): Dienst, S. 31–43; 66–72. 50 Was sind Reiche? Reiche sind kosmokratische Großherrschaften, die buchstäblich den Himmel auf die Erde bringen. Auf Chinesisch: „Land der Mitte“ (zhong guo) – des Kosmos. Ich kann hier nicht näher darauf eingehen, nur so viel sei gesagt, dass der Staats- und Verfassungsrechtler Rosenstock dies hauptsächlich an der Zeit zwischen Karl dem Großen bis zu Kaiser Friedrich Barbarossa sowie an dem Reich Altägyptens en detail als eine Geschichtsgröße sui generis aufwies. Das Deutsche Reich Wilhelms II., die österreichische Doppelmonarchie, die Russische Monarchie im Westen, das japanische Reich und das Chinesische Reich im Osten waren Vergangenheit und heraufkam nun eine neue „Ordnung des Erdkreises“, die nichts mit dem Nomos der Erde Carl Schmitts zu tun hat, wie ihn zuletzt Bruno Latour beschwörte. Vgl. Rosenstock-Huessy (1965): Dienst. Diese kommende Epoche nach der Globalisierung beschäftigte Rosenstock-Huessy seit den frühen 1920er Jahren unter der Frage, ob der moderne Kapitalismus noch fähig sei, die gesellschaftliche Basis seiner Reproduktion zu leisten. 51 Ders. (2009): Im Kreuz, Bd. 2, S. 308; ders. (1964): Sprache, Bd. 2, S. 796–903.
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1918 war welt- bzw. universalgeschichtlich noch ein Datum, welches zu diesem Zusammenbruch selbst gehörte, also nationalgeschichtlich überdeterminiert war. Ihm ging ein schon planetarisch bestimmtes Datum voraus, nämlich das Jahr 1917: Zum ersten Mal griffen die Vereinigten Staaten, wenn auch lange widerwillig, auf dem europäischen Kontinent ein.52 Europa war nicht mehr die nette Mitte der Welt. Die USA traten als neuer Hegemon auf. Nach dem Weltkrieg war somit für Rosenstock Versailles kein allein europäisches Datum mehr, sondern ein planetarisches.53 Zudem stellten sich die USA als zukünftiger neuer Hegemon vor. Der diesem widerstreitende Andere machte sich ebenfalls im Jahre 1917 bemerkbar – in der Russischen Oktoberrevolution und ihrem Träger, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Die Oktoberrevolution ist nach Rosenstock ebenfalls nur ein Teilereignis der Weltkriegsrevolution, als ein Ellipsenpunkt auf jenen ihr entsprechenden bezogen, der unter dem Namen des 4. Mai 1919 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking Epoche machen sollte, also der Beginn der Chinesischen Revolution. Während aber die Russische Revolution von der Weltkriegsrevolution provoziert wurde, d. h. als eine Wirkung dieser zustande kam, entzündete sich die Chinesische Revolution innerhalb dieser. Ihre Topologie wurde doppelt bestimmt durch den japanischen Imperalismus, der auf China ausgriff, sowie durch die innerchinesischen Bürgerkriege, die dieser auslöste. Die Chinesische Revolution war durch diese Drei-Einfalt bestimmt. 1917 gab es noch einen dritten Vorstoß, nämlich den der Römisch-Katholischen Kirche und des Stellvertreters Christi, also des Papstes mit seinem Vorschlag für eine Art Gottesfrieden,54 der den Ersten Weltkrieg beendbar machen sollte.55 Das deutsche Ereignis, also der Zusammenbruch des 1870 in Versailles begründeten zweiten deutschen Reiches, vollzog sich mit dem November 1918, wurde aber vorweg vollzogen durch die Absetzung des Reichskanzlers BethmannHollweg im Juli 1917, erzwungen durch die Oberste Heeresleitung von Ludendorff und Hindenburg – de facto ein coup d’état, der auch schon den Kaiser als eigene
52 Rosenstock (1919): Europa und die Christenheit, S. 11–20. 53 Versailles machte u. a. den Nürnberger Internationalen Strafgerichtshof möglich, dann aber auch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Dass Versailles ein planetarisches Datum war, machte Rosenstock klar in seiner Kritik von Spenglers Untergang des Abendlands. Vgl. Rosenstock-Huessy (1964): Sprache des Menschengeschlechts, Bd. 2, S. 74. Für Rosenstock galt ‚planetarisch‘ als gleichbedeutend mit „Gesamthaushalt der Geschichte“. Diese geht, seinem Glaubensverständnis zufolge, über Welt-, Global- und Universalgeschichte hinaus. Spenglers Apriori sind die kosmokratisch begründeten Reiche. 54 Vgl. zu diesem Rosenstock / Wittig (1927/28): Das Alter der Kirche, Bd. 2, S. 25–30. Zu diesem Werk Gormann-Thelen (1999): Die zwei Körper, S. 4–17; Ullmann (1997): Eine ökumenische Soziologie, Bd. 3, S. 353–378. 55 Zudem ist besonders zu erwähnen: 1917 entstanden Sigmund Freuds Arbeiten zu seiner „Metapsychologie“. Zur Bedeutung der Friedensinitiative des Papstes vgl. Rosenstock (1919): Europa und die Christenheit.
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politische Größe ausschaltete.56 Von denen, die diesen betrieben, wurde dann zur Verdeckung nachträglich die Dolchstoßlegende lanciert.57 Im Februar 1919 hielt Rosenstock vor seiner Leipziger Rechtsfakultät die Abschiedsvorlesung „Deutschlands Staatswesen und der Völkerbund“.58 Schon die Frage Kontinuität/Diskontinuität des Staates war auf eigenartige Weise virulent. Der 9. November markiert für den Juristen den Tatbestand, dass an diesem Tage „wir die Staatseigenschaft nur vorübergehend verloren haben“, aber am selben Tag „völkerrechtlich und staatsrechtlich schon wieder ein Staat seien“.59 Für die meisten deutschen Staatsrechtslehrer waren die katastrophischen Wechsel von der Monarchie zur Republik, von der Republik zum Dritten Reich, und dann, nach dessen Zerschlagung von außen, zum Bonner Grundgesetz einfach nur vier Regierungswechsel.60 Heute würde man von vier Gouvernance-Regimen sprechen.61 Rosenstock zufolge aber „haben wir zur Zeit Selbstregierung, aber keine Staatlichkeit“. In dem einzigen heut [Februar 1919!; Anm. d. Verf.] bestehenden Staatssystem aber haben wir nur als Staatslose eine Stelle, deshalb, weil uns die Nation und unsere welthistorische Rolle als zuletzt, erst 1870, Staat gewordene Nation, am Erlebnis der Menscheit, des neuen Bundesvolkes, gehindert hat. Weltgefühl, Weltzusammenhang gewinnen wir erst wieder durch diese Erkenntnis, nicht durch politische Innendekoration.62
An diese „Stelle“ tritt dann die Weimerar Verfassung, die Staatlichkeit selbst aber bleibt bis 1933 schwankend je nach Verfassungsregime. 56 Der engste Freund Rosenstocks Franz Rosenzweig deutete dieses Ereignis so, dass nunmehr „Deutschland nur noch eine bloße Hindenburg und ein einziges Ludendorff“ geworden sei. So Rosenstocks Zeugnis (1965), Dienst, S. 104. Diese Anspielung reicht von den Hunnen und Hünen bis hin zu Luther und die Juden! Ein Kommentar erübrigt sich. Nur die deutsche Historiographie verbucht dieses Datum unter dem Unnamen „Julikrise“. In jenem Jahr erschien Carl Schmitts Schrift zum Belagerungszustand, die wie eine Apologie dieses Putsches erscheint, wozu aber Schmitt immer geschwiegen hat. In seinem – Benjamin zufolge – „besten“ Buch, Die Diktatur (1920), schweigt Schmitt ebenfalls zu diesem Fall. Auf der Spur dieses Schweigens errichtet Schmitt seine Beiträge zu § 48 der Weimarer Verfassung und seine Politische Theologie. Dagegen Rosenstock-Huessy (1936): Heilsgeschichte und Rosenstock (1931): Revolutionen. 57 Zu diesem „Verrat“ der „preußischen Konservativen“ Ludwig Stahl (Pseudonym f. Rosenstock) (1995): Judas Ischarioth (zuerst 1932 im Hochland). 58 Veröffentlicht in Rosenstock (1920): Die Hochzeit des Kriegs. Diese Schrift verhallte nahezu ohne Echo. Der Titel befremdete. „Hochzeit“ im Sinne von engl. „wedding“ ist ein Hebraismus, der sich glücklich mit dem Deutschen und seinem Doppelsinn verbindet. 59 Ebd., S. 86. 60 Also vier intra-systemische Rekonfigurationen. Der Fall Carl Schmitt ist nur ein Beispiel von vielen. Die Kontinuitätshypothese wurde vom Bundesverfassungsgericht immer undiskutierbar vorausgesetzt. Der erbittertste Gegner war der Staats- und Verfassungsrechtler Helmut Ridder (1919–2007). 61 Vgl. etwa Fischer-Lescano / Teubner (2006): Regime-Kollisionen. Für Rosenstock-Huessy der Sündenfall der staatsfixierten Staats- und Verfassungslehre bis zuletzt. Ausführlich hierzu Rosenstock-Huessy (1964): Die Interim des Rechts. 62 Rosenstock (1920): Hochzeit, S. 99.
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Der Versailler Vertrag63 legt dann im Juni 1919 die politsche Außendekoration fest, nämlich die Staatlichkeit als normative Weltordnung der Entente.64 Dieser Zwiespalt von Staat und Verfassung einerseits, Entente qua Versailler Ordnung andererseits, findet dann seine Vollständigkeit durch den vorzeitigen Versuch einer Institution, die ein neues „Weltstaatensystem“ repräsentiert. Das war der Genfer Völkerbund, der eine Konstruktion der Sieger war und blieb und eben den Besiegten ausschloss. Zwar wurde ab 1926 das Deutsche Reich ständiges Mitglied des Völkerbundrates, jedoch gehörten Versailles (Diktatfrieden) und Völkerbund im Affekthaushalt des gesellschaftlichen Imaginären zusammen. Der Widerwillen gegen beide dominierte. Rosenstock hatte aus der Weltkriegsrevolution und aus der Universalität des christlichen Glaubens (der ja zur ersten Menschheitsinstitution65 geführt hatte – zur Römisch-Katholischen Kirche) gefolgert: „Heut ist die Christenheit [sic! Nicht: Christentum] abgelöst von der Menschheit.“ Daraus folgt: „Zum ersten Mal wird das staatliche Indigenat zu schwach gegenüber dem neuen Indigenat, der Zugehörigkeit zum Völkerbund.“66 Anstatt aus nationaler oder nationalistischer Sicht nun den Völkerbund zu bekämpfen, wie es nicht nur Juristen taten, folgert Rosenstock, dass jedes Weltstaatensystem, welches auf dem Staat oder einem Staatenbund beruhe, der neuen Realität der Menschheit oder des Menschengeschlechts nicht gerecht werden kann. Die juristische Staats- und Verfassungslehre machte nach und trotz Versailles und trotz dem totalen Zusammenbruch des Wilhelminischen Reiches und der anderen Reiche einmal mehr weiter, setzte ihre alte absolute, ungeteilte Souveränitätslehre voraus bzw. jagte der Restitution dieser Idee einer vollen Staatlichkeit hinterher bzw. verrannte sich in einer ihrer perversesten Formen: die des Führers. Das war der juristische Beitrag zur Förderung des Nationalsozialismus.67
63 Vgl. kurz und knapp Eberhard Kolb (2005): Der Frieden von Versailles. 64 Zentriert aber auf eine Teilweltordnung, nämlich auf die Stellung des Deutschen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg. Damit konstruiert die Entente eine Weltordnung aus einem Unterfall dieser, genau so wie Spengler es mit dem Untergang Europas gemacht hatte. Rosenstocks Kritik, die längste aller erschienenen, aber bis heute ignoriert, erschien im Hochland und dann wieder in der Hochzeit des Kriegs und der Revolution und zum dritten Mal in RosenstockHuessys Sprachhauptwerk Die Sprache des Menschengeschlechts. Eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen (1963–1964). 65 Dazu die fundamentale Schrift Kirche und Menschheit in Rosenstock / Wittig (1927): Das Alter der Kirche, Bd. 1, S. 107–135. Vgl. auch Ullmann (2002): Wir, die Bürger, S. 163–174 und 204–212. 66 Rosenstock (1920): Hochzeit, S. 102. 67 Die Antwort auf Versailles, im schärfsten Gegensatz zu allem, was Rosenstock, öffentlich sagte und tat, kam postwendend in der (1922) Politische[n] Theologie von Carl Schmitt, die ihre unselige Rolle, nämlich Herzstück einer juristischen Lehre der Gegenrevolution zu sein, noch heute weltweit behält – bis hin zu Agamben und zahllosen anderen, die allesamt die Einbettung in Schmitts Lehre der Gegenrevolution verkennen und unterschlagen. Für Rosenstock bildet deren Prädominanz bis heute eine Verwerfung und ein Substitut: Solcher Souveränitätslehre weiterhin anzuhängen verwechselt diese mit der realen Aufgabe, nämlich ein wirkliches
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Für Rosenstock ist „die Epoche der Staatssouveränität abgeschlossen. Eine Epoche mit entgegengesetztem Vorzeichen hebt an.“68 Für seine Leipziger Kollegen, also für alle deutschen Juristen, die sich an den Dolchstoßlegenden kräftig beteiligten, hält er dann – 1919 – die Forderung bereit: Erklärt sich die gesamte deutsche Staatsrechtswissenschaft wegen ihrer Lehre von der Souvanität für mitschuldig, mitverantwortlich an allem, was geschehen, so leistet sie mehr, als wenn sie ohne jede innere Fühlungnahme mit dem gegnerischen Gedankengang protestiert gegen eine Rückwirkung des Strafgesetzes, wie heut der Aufruf tut, der unter uns umläuft.69
Kurz nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages veröffentlichte er dann „Ehrlos – Heimatlos (Geschrieben nach dem Friedensschluß von Versailles, 1919)“.70 „Aber heute beginnt der Frieden. […] Unser Volk kann nur weiterleben als waffenloses Volk.“71 „Das unbewußte Streben nach der Weltherrschaft“ und die „Reichsgründung mit Versailles 1871“ sind nunmehr „erledigt“.72 „Vom Reichsdasein ist schlechthin nichts mehr übrig.“73 Nach dem Zusammenbruch vom 9. November 1918 „ist der 28. Juni selbst das erste Wort, das in das gestaltlos gewordene Volk hineinfährt. Am 28. Juni wird dies Volk geboren.“74 Jeder müsse „sich selbst in den Schmelztiegel des geistigen Todes hineinwerfen […] er muß sprechen: ich selbst habe den Frieden mitunterzeichnet.“75 „Nur der Geist, der für diesen einen Augenblick seine Entgeisterung erträgt, der sich nicht sträubt, Rohstoff, Volk, ungeistig geworden zu sein, nur der kann aus dem geistigen Tod aufzuerstehen hoffen.“ Jeder, der dies gegen sich gelten läßt, „gibt sich an diesem Tage der ganzen Welt preis. So bekommt dies Datum seinen Sinn.“76 Es ist aber kein Datum der deutschen Nationalgeschichte („Aller Nationalgeist der Deutschen ist tot“77), sondern es ist das „erste universale, weltgeschichtliche Datum. Erst mit ihm tritt das deutsche Volk ganz und gar unter die Gewalt der christlichen Zeit-
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Regierungsregime als Friedensregime herbeizuführen. Rosenstock beklagt, dass gegenüber dem letzteren immer entweder das Kriegsregiment oder das Scheinregieren oder die Fremdherrschaft bevorzugt werde. Die gültige Staats- und Verfassungslehre jeglicher Couleur beachtet diese „gouvernances“ in ihren vielfältigen Kartellierungsweisen nicht. Zu diesen vier Regimen vgl. Rosenstock-Huessy (2009): Im Kreuz der Wirklichkeit, Bd. II, S. 100–133. Zu Rosenstocks Lehre vom Kriegsregiment vgl. seine Breslauer Verfassungsfeierrede (1995): Kriegsheer und Rechtsgemeinschaft, S. 55–77 (zuerst 1932). Rosenstock (1920): Hochzeit, S. 105. Ebd., S. 103f. Die Antwort war, wie der Autor sich noch vierzig Jahre später erinnerte: „Ausgelacht verließ ich die Universität und ‚lernte‘ die Fabriksprache.“ Rosenstock-Huessy (1964): Sprache, S. 115. Hier zit. n. Rosenstock-Huessy (1963–1964): Die Sprache, Bd. 2, S. 85–115. Ebd. S. 88. Ebd. S. 89. Ebd., S. 91. Ebd., S. 94. Ebd. S. 94. Dort auch das folgende Zitat. Ebd. S. 99. Ebd. S. 96.
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rechnung.“78 „Die Revolution [vom 9. November 1919, Anm. d. Verf.] wird als freiwillige Demütigung zum Heilmittel seiner todkranken Seele.“79 Wer solches nicht mitzuvollziehen vermag, so Rosenstock, beschwöre die dunkelsten Kräfte der Deutschen wieder herauf. Ein „Lügenkaisertum“ und ein violenter Antijudaismus würden heraufkommen.80 Rosenstock artikuliert, ziemlich einzigartig zu dieser Zeit, in diesen Stücken öffentlicher Rede alle politischen Affekte, ideologischen Verrantheiten, Gespenster und gesellschaftlichen Mächte, wie sie widerstrebend sich gegen diese weltgeschichtliche Zäsur sträuben. So schonungslos er sie zu artikulieren sucht, so engagiert versucht er mitzuwirken an allen ihm möglichen Formen, Frieden zu instituieren. Er war kein Katechont, sondern, wie er später einmal sagte, ein „Sozialkrieger“,81 der versuchte, friedliche Äquivalente für eine kriegerische, mit sich selbst zerfallene, friedensunwillige Gesellschaft zu stiften.82 Mit dem 30. Januar 1933 war dann jedoch alles vorbei. Jede Möglichkeit eines „Landfriedens“83 war aktiv verwirkt und vertan worden. Der 9. November 1918 wirkte aber als weltgeschichtliches Datum weiter in seiner in den USA verfaßten Denkschrift über die Zukunft Deutschlands nach dem Nationalsozialismus von 1944. Der Titel gibt nun die Losung oder das Paßwort für das, was planetarisch bestimmend werden sollte und immer noch gilt: „Mad Economics or Polyglot Peace“84 bzw. „Friedensbedingungen einer Weltwirtschaft“.85 4. METANOMIK EINER AUTOBIOGRAPHIE Zwanzig Jahre nach dem 9. November 1918 fand Rosenstock-Huessy – er war 1933 in freier Entscheidung in die USA eingewandert – die endgültige Formulierung seiner Antwort auf dieses Datum. Sie wäre „ohne den 9. November nicht möglich
78 Ebd. S. 99. 79 Ders. (1964): Sprache, S. 101. Die Zitate sind entnommen der Schrift „Ehrlos – Heimatlos (Geschrieben nach dem Friedensschluß von Versailles 1919)“, aufgenommen in Rosenstock: (1920): Hochzeit. Wiederaufgenommen in Rosenstock-Huessy (1964), Sprache, Bd. 2, S. 85– 115. Aus dieser Schrift ergibt sich eine Polarität von 9. November 1918 und 28. Juni 1919. Während das erstere Datum Zusammenbruch des Reiches markiert, so das zweite ein Erddatum. Vgl. das Ende meines Aufsatzes. 80 Ders. (1964): Sprache, S. 109. Veröffentlicht unmittelbar nach dem 28. Juni 1919. 81 Ders. (1988): Friedensbedingungen, S. 170. 82 Ders. (1995): Die Seele von William James (zuerst 1942). 83 So Rosenstocks erste Sozialschrift von 1912, wiederabgedruckt in Rosenstock / Picht (1926): Im Kampf, S. 3–9. Er forderte das, was später der Zivildienst wurde. 84 Dies war der Titel einer juristischen Denkschrift, die Eugen Rosenstock-Huessy 1944 zur Frage, wie nach dem Ende des Dritten Reiches mit Deutschland völkerrechtlich zu verfahren sei. Rosenstock-Huessy (1997): Mad Economics, S. 24–68. Vgl. in dieser Denkschrift insbesondere „the author’s record after 1918 is traced.“ Ebd., S. 67. 85 Ders. (1988): Friedensbedingungen, S. 159–180. Eine Paulskichenrede vom 30.1.1959.
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gewesen“86, denn als autobiographischen Moment durchlebte er genau das, was er 1938 zu formulieren wußte: „Respondeo etsi mutabor“ – Ich muss eine Antwort geben, selbst wenn ich als ein gänzlich anderer aus ihr hervorgehe. Die Antwort war ein Bruch mit der Vorkriegswelt und der Eintritt in die durch den Zusammenbruch bewirkten neuen Wirklichkeiten. Diese neuen Wirklichkeiten erzwangen neue Antworten von ihm sowohl als Christ und Gesellschaftsmitglied (Bürger), aber auch als Wissenschaftler und als Gesellschaftsreformer.87 Diese Erfahrungen mit und durch den 9. November 1918 hat Rosenstock ungezählte Male artikuliert, am dichtesten vielleicht in einem Aufsatz, der sich – ich nenne es eine gesellschaftlich-politische Psychoanalyse – mit der Realitätsverleugnung oder –verwerfung der preußischen Konservativen selbstkritisch befaßte. Es war der Moment vor dem ‚Preußenschlag‘, im April 1932: Wir haben damals in unser Inneres mit der Erschütterung dessen hineingeblickt, der ein geliebtes Wesen, ein Stück des eigenen Selbst, beerdigt. Wir haben ehrerbietig die Totenwache bei dem Verblichenen, bei Preußen, gehalten. Aber wir – und ich behaupte, jeder einzelne Preuße einschließlich des Kronprinzen, einschließlich des Herrn von Oldenburg, einschließlich der sämtlichen Stahlhelme – hat am 9. November in seinem Inneren den preußischen Staat geopfert und für das Reich optiert. Eben damit aber verlor das preußische Königtum seinen unbedingten Rang im Herzen des Monarchisten. Aus einer Forderung der angestammten Treue wurde die Staatsform zu einer Frage der Zweckmäßigkeit für die Gesamtnation! Wir alle haben so in unserer Seele die Hohenzollern mitgestürzt, zum Heile des Reiches. Aber die Bataillone, die in das gemalte Gewitter von 1932 hineinmarschieren, verdrängen diese Tatsache. Aus ihren Mauselöchern sind alle jene moralisch Feigen hervorgekrochen, die am 9. November nur Angst, aber keine Selbsterkenntnis gehabt haben, und unter der Führung dieser Feiglinge marschiert eine ahnungslose Jugend in ihr moralisches Langemarck hinein. Wer sich allerdings nicht eingestehen darf, Wilhelm II. mitabgesetzt zu haben, weil er keiner seelischen Erschütterungen fähig ist, in dem rumort der ‚Verrat‘, in dem rumort der ‚Schweinehund‘ von 1918 naturgemäß ohne Ende. Und eine Seele, die ihren schrecklichsten Eindruck verdrängen muß, braucht einen Ersatz. Die preußische Seele, die den 9. November den ‚andern‘ in die Schuhe schieben muß, die von Novemberverrätern statt von dem deutschen
86 Ders. (1997): Judas, S. 46. 87 Diese irreduzible Vierheit von Gleichursprünglichkeiten, die je nach Lebensalter und Lebenslage sich in verschiedenen Maßen verbünden, kann ich hier leider nicht ausführen. Sie lassen hinter sich jeden einzelnen archimedischen Punkt innerhalb und außerhalb der Gesellschaft, ebenfalls lassen sie sich nicht auf eine Beobachter- (oder Beobachter eines Beobachters-)Perspektive reduzieren, ebenfalls nicht auf eine solcher teilnehmender Beobachtung. Es geht um Grade unterschiedlicher gesellschaftlicher Mitwirkung. Als Christ versteht Rosenstock unter Metanomik „die Suche nach der Allgegenwart Gottes in den widersprüchlichsten Strukturen der menschlichen Gesellschaft“ (Rosenstock-Huessy [1988]: Friedensbedingungen, S. 321). Als Gesellschaftsmitglied versteht er darunter „unsere Begeisterung für die Synchronisation der Zeitungenossen“ (ebd.). Als Wissenschaftler, insbesondere als Rechtslehrer, „hat er es mit dem Recht der Gesetzgebung in der Gesellschaft zu tun“ (ebd., S. 320). Und als Gesellschaftsreformer versteht er unter Metanomik die Methode (Rosenstock [1924]: Angewandte Seelenkunde), das Organon, die Epistemologie und die metaethische Haltung, vgl. Rosenstock-Huessy (1988): Friedensbedingungen, S. 320.
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Unglück spricht, diese preußische Seele muß daher den damals ihr auferlegten Schrecken heut aktiv noch einmal bestehen. Und sie tut das in der Form des Verrats! So verlangt es die seltsam genaue Struktur der Seele: Wer es nicht wahrhaben will, daß auch er sich vom Kaiser losgesagt hat, der sagt sich heut dafür – von Hindenburg los. Im Fall Hindenburg kann man das Ungeheuerliche der Felonie, des Verrats, des Traditionsbruchs und der Vernichtung der letzten Autorität zynisch eingestehen. Man sagt Hindenburg und meint den eigenen, im Innern geheim vollzogenen ‚Verrat‘ von 1918. Der ‚Verrat‘ überfällt also heut die Unbußfertigen von damals. […] ‚Die nationale Opposition, einig in ihren Gruppen und Verbänden‘, karikiert in Harzburg die Präambel der Weimarer Verfassung. ‚Verrecken wie ein Hund soll jeder, der die Harzburger Front verrät‘, heißt es in Nachahmung des Scheidemann-Wortes von der verdorrten Hand, und vier Monate später ist diese Front nicht mehr, ganz wie im Juni 1919. […] Man hält eben – wieder in Analogie zu 1918 – das Ende der bestehenden Ordnung für gekommen. Man will nicht die Macht erringen, sondern man schreit so laut wie möglich, um sich und anderen einzureden, es sei die alte Ordnung zusammengebrochen. Nun, 1918 war sie wirklich fertig und zu Ende, obwohl niemand es wünschte. Heut ist der Wunsch der Vater des Gedankens, denn die Reichsgewalt besteht. Sie ist naturgemäß eine bescheidene, aber sie hat immerhin einen dreizehnjährigen, sturmerprobten Bestand aufzuweisen.88
Diese gesellschaftlich-politische Analyse demonstriert, dass in der uneingestandenen Erschütterung vom 9. November und seinen Folgen (und diese betrifft Eliten, Berufe, Institutionen, Verbände, paramilitärische Gruppen, Parteien) sich schon die extremale Gegenreaktion vom 30. Januar 1933 zu artikulieren begann: der besinnungslose Jubel und die willenlose Überantwortung an diejenigen, die ihren „Verrat“ an 1918/19 in „Heil Hitler!“ umbrüllten.89 Rosenstock-Huessy wird diesen „Wahnsinn“ nicht mitmachen. Er bricht mit ihm ausdrücklich am 1. Februar 1933. Er beantragt auf der an diesem Tag stattfindenden juristischen Fakultätssitzung, man möge beschließen, die Universität
88 Ders. (1997): Judas, S. 48. 89 Rosenstocks Analyse folgt genau den (auch zeitlichen) Gesetzen der Paranoia bzw. Psychose, die Jacques Lacan ausarbeiten wird. Schon 1918/19 hatte man unbewusst den uneingestandenen Verrat in sein Gegenteil verkehrt, also in die schrankenlose Zustimmung derer, die während der gesamten Zeitspanne der Weimarer Republik daraus ihren Nutzen zogen und am Ende als deren größte Gewinner legale wie rechtsvernichtende Prämien bezogen, also die Nationalsozialisten. Diese waren selbstverständlich 1918/19 als Partei noch nicht „da“, aber die unbewusste Verkehrung war virulent vom ersten Tag an. Auch die zeitliche Inversion – Rosenstock analysierte sie als „rückwärtsgelebte Zeit“ – ist typisch für eine solche Realitätsverwerfung, die psychotisch-depressiv strukturiert war. Was hier aus der Sicht einer gesellschaftlich-politischen Analyse in äußerster Verkürzung gesagt wurde, spielte sich im Realen ab! Es macht Rosenstocks Analysen so scharfsichtig, daß sie ab 1918 schon begannen, sich Zug um Zug öffentlich zu artikulieren. Seine Zeitgenossen waren nicht seine Zeitgenossen; Rosenstock nannte sie „distemporaries“, also auf Deutsch zugleich „Unzeitgenossen“ und „Zeitungenossen“. Seine Zeitanalysen umfassen mehr als 20 Essays, die er ab 1917 zu publizieren begann. Wer die zeitgenössische Lage nach dem Ersten Weltkrieg überschaut, weiß, dass es nur sehr wenige gesellschaftspolitische Analysen wie die auf der Höhe der Rosenstockschen gab. Bestes Beispiel wäre Rosenstocks ‚Kollege‘ und Jahrgangsgenosse Carl Schmitt.
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wegen „nationaler Revolution“ zu schließen. Das sei das Mindeste. Man kann sich vorstellen, wie die Reaktion ausfiel. Selbstredend ähnlich wie die vom Februar 1919 in Leipzig bei den anwesenden respektablen Kollegen Rechtsprofessoren. Für den Juristen war klar, was dieser Antrag bedeutete, wäre er angenommen worden: die Universität Breslau wegen Konterrevolution90 zu schließen. Rosenstock lehrte keinen Tag im Dritten Reich. Er betrieb, dokumentiert ist dies schon für den April 1933, sein Auscheiden aus Amt und Reichsbürgerschaft.91 Am 9. November 1933 verließ auf dem Dampfer „Deutschland“ Eugen Rosenstock-Huessy als freier Bürger das nunmehr so genannte Dritte Reich in Richtung Vereinigte Staaten von Amerika. Zwei weitere 9. November, ebenso extremal wie die von 1919 und 1933, sollten folgen, dieses Mal 1938 und dann 1989. „Respondeo etsi mutabor“ war der Kernsatz dessen, was Rosenstock-Huessy als Lehre des 9. November 1918 und des 28. Juni 1919 1938 im abschließenden Kapitel seines Werkes Out of Revolution. Autobiography of Western Man „The Metanomics of Society“ nannte. „Respondeo etsi mutabor“ erwidert dem „Cogito ergo sum“ des Descartes und dem „Credo ut intelligam“ des Anselm von Canterbury. Dieses Meta-Axiom bildet, zusammen mit einigen anderen, auf die ich an dieser Stelle nicht eingehen kann, Rosenstock-Huessys Methodologie, Organon und Epistemologie, also das, was er unter „Metanomik“92 zusammenfasst. Mit dem Umbruch von 1918/19 war für Rosenstock-Huessy die Ära des National- oder Einzelstaates vorüber. Nicht dass er seine historischen Funktionen verloren hätte, aber diese hatten sich nun anderen Imperativen ein- und unterzuordnen. Rosenstock-Huessys letzte Werke zeigen dies schon in ihrem Titel an: zum einen Die Sprache des Menschengeschlechts. Ein leibhaftige Grammatik in vier Teilen (1963/64), zum anderen Dienst auf dem Planeten. Über Kurzweil und Langeweile im Dritten Jahrtausend (1965). Beide bleiben vom 9. November 1919 interpunktiert, weisen jedoch über dieses deutsche Datum hinaus. Es gibt jedoch einen wichtigen Nachschlag oder ein bezeichnendes Postskriptum zum 9. November 1918 und den von Rosenstock diagnostizierten „Verrat“. 1956 war in der Reihe Rowohlts Enzyklopädie (herausgegeben von einem mit dem Nationalsozialismus kollaborierenden Wissenschaftler) der Band Verrat im 20. Jahrhundert von der Journalistin Margret Boveri erschienen. In diesem Band werden unterschiedslos als Verräter Personen vorgestellt, die mit Hitler Verrat 90 Konterrevolution = nationale Erhebung bzw. nationale Revolution in der Sprache der Nationalsozialisten. Wie Rosenstock (1931): Revolutionen breit dokumentiert hat, hatten alle großen Revolutionen des zweiten Jahrtausends – Papstrevolution des 11. und 15. Jahrhunderts, deutsche Reformation, Englische Revolution, Französische Revolution und Russische Revolution – jeweils einen besonderen „Totalanspruch“ vertreten, der weder international noch national einschränkbar ist, da diese Revolution in verschiedener Artikulationsweise solche Unterscheidungen wie ‚national‘ oder ‚international‘ erst in der Geschichte als ein Novum erzeugten. 91 In einer im nächsten Jahr erscheinenden englischen Publikation (Introduction to Eugen Rosenstock-Huessy – To an American Reader) werde ich das dokumentieren und genauer ausführen. 92 Vgl. dazu Rosenstock (1924): Angewandte Seelenkunde; Rosenstock-Huessy (1988): In Verteidigung der grammatischen Methode (zuerst 1939).
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begingen oder die gegen diesen Widerstand geübt und hingerichtet worden waren. Andere, die von einem Gericht als Verräter abgeurteilt worden waren, werden nicht unterschieden von solchen, die 1941 als Verräter vom Gericht eines mit den Nazis kollaborierenden Regimes verurteilt worden waren, so etwa General de Gaulle von der Vichy-Regierung, den die Verfasserin aber ‚vergessen‘ hatte. RosenstockHuessy fragt ironisch zurück: „etwa weil er seinen Verfolgern entgangen ist?“ In einem offenen Brief an die Verfasserin fragt Rosenstock-Huessy u. a., weshalb sie „die Großen Verräter“ wie Fegelein, Himmler, Göring, Röhm „übergangen“ hätte. Auch fragt er, weshalb sie das entscheidende ‚Vorspiel‘ für das 20. Jahrhundert nicht einbezogen hätte, nämlich „die Dreyfusaffäre“, die „konstitutiv“ für die Geschichte des Verrats im 20. Jahrhundert gewesen sei: „Hitlers Verrat an den Juden gehört mithin so eng an die Dreyfusaffäre heran, daß sie diese als Vorspiel mit Nutzen herangezogen hätten.“93 Noch unpolitischer sei, dass sie Männer wie „Dietrich Bonhoeffer und Helmuth James von Moltke“ nicht in ihrer Einzigartigkeit anerkenne, sondern gleichsam als „höhere Verräter“. Damit verkenne sie, dass es „in jenem Moment die legitime Gewalt nur in der Form des Illegitimen geben konnte! So waren Helmuth James von Moltke und Dietrich Bonhoeffer im Augenblick ihrer Hinrichtung die legitime deutsche Staatsgewalt, und zwar die einzige.“94 Dank dieser außerordentlichen Legitimität solcher Männer und Frauen hätte es überhaupt nach dem Nationalsozialismus noch Deutsche geben können, hätten Rosenstock-Huessy wie Boveri (sie war auch im Exil) weiterhin deutsche Sprache sprechen und in dieser publizieren können. Einzig deswegen. Das wurde in der Ära nach dem Nationalsozialismus den Deutschen aber nur höchst widerwillig bewußt. In Frankreich hingegen, so Rosenstock-Huessy, wisse man immer, dass „la trahison als Urelement der Politik“95 zu gelten habe. Wie wir heute – 2018 – erleben müssen, ist die Zwiespältigkeit des deutschen 9. November 1918 und des 28. Juni 1919 noch nicht beendet. Die Hydra des Populismus, also des schwärzesten Nationalismus, erhebt wiederum eines ihrer Häupter aus diesem Datum. Er will immer noch nicht wahrhaben, was seit diesem Doppeldatum geschichtliche Wahrheit geworden ist: „Aller Nationalgeist der Deutschen ist tot. Denn die deutsche Geschichte gibt als ein autarkes Ganzes keinen Zusammenhang mehr.“96 „Selbst die Heimat, bis dahin etwas unmittelbar Selbstverständliches, wie das eigene Fleisch und Blut, wird jetzt zum Ausschnitt und Anteil an der Erde.“97 Und:
93 „So sind in der Dreyfus-Affäre von 1894–1908 die zwölf Jahre Schimpf und Schande der deutschen Hitlerei vorexerziert worden.“ Ders. (1964): Sprache, Bd. 2, S. 208. 94 „Der Verrat im 20. Jahrhundert“, in ders. (1958): Geheimnis, S. 64–69. Dieser Brief an Margret Boveri wurde in der Zeitschrift Die Gegenwart. Eine Halbmonatsschrift veröffentlicht (11, 1956, S. 697–700), die von 1945 bis 1958 erschien. 95 Ders. (1958): Geheimnis, S. 66. 96 Ders. (1964): Sprache, Bd. 2, S. 96. 97 Ebd. S. 105.
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„Die Heimat. Sie geht ein in die Ordnung des Erdkreises und als Ausschnitt des Erdkreises empfängt sie der Deutsche aus der Hand des Schöpfers.“98 LITERATUR EUGEN ROSENSTOCK-HUESSY (1888–1973)99 Rosenstock, Eugen: Königshaus und Stämme in Deutschland zwischen 911 und 1250, Leipzig 1914. Ders.: Der Selbstmord Europas. In: Ders: Die Sprache des Menschengeschlechts, Bd. II, Heidelberg 1964, 45–84, zuerst 1919. Ders.: Europa und die Christenheit, Kempten, München 1919. Ders.: Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution, Würzburg 1920. Ders.: Ehrlos – Heimatlos. In: Ders.: Die Sprache des Menschengeschlechts, Bd. II, Heidelberg 1964, 85–115, zuerst 1920. Rosenstock-Huessy, Eugen: Brief an *** [i.e. Eduard Thurnesen]. In: Tumult 20 (1995), 9–15, zuerst 18.2.1920. Rosenstock, Eugen: Angewandte Seelenkunde. Versuch einer programmatischen Übersetzung, Darmstadt 1924. Rosenstock-Huessy, Eugen: Das Versiegen der Wissenschaften und der Ursprung der Sprache. In: Ders.: Die Sprache des Menschengeschlechts, Bd. I, Heidelberg 1963, 655–683, zuerst 1925. Ders.: Im Kreuz der Wirklichkeit. Eine nach-goethesche Soziologie Bd. I: Die Übermacht der Räume. Hrsg. v. Michael Gormann-Thelen, Ruth Mautner, Lie van der Molen. Mit einem Vorwort von Irene Scherer. Mit einem Nachwort von Michael Gormann-Thelen. Verbesserte, vollständige und korrigierte Neuausgabe mit neuem Namens und Sachregister, Mössingen 2009, zuerst 1925. Rosenstock, Eugen. / Picht, Walter: Im Kampf um die Erwachsenenbildung 1912–1926, Leipzig 1926. Ders.: Vom Industrierecht. Rechtssystematische Fragen, Berlin 1926. Ders. / Wittig, Joseph: Das Alter der Kirche. 3 Bde., Berlin 1927–1928 (neu herausgegeben von Fritz Herrnbrück und Michael Gormann-Thelen, Münster 1998). Ders.: Kirche und Menschheit. In: Ders.: Das Alter der Kirche, Bd. I, Berlin 1927, 79–110. Rosenstock-Huessy, Eugen [unter d. Pseudonym Ludwig Stahl]: Das Dritte Reich und die Sturmvögel des Nationalsozialismus. In: Tumult 20 (1995), 16–36, zuerst 1931. Rosenstock, Eugen: Die europäischen Revolutionen. Volkscharaktere und Staatenbildung, Jena 1931. Rosenstock-Huessy, Eugen [unter d. Pseudonym Ludwig Stahl]: Judas Ischariot und die preußischen Konservativen. Zum Auftreten der politischen Doabolik. In: Tumult 20 (1995), 37–54, zuerst 1932. Ders.: Kriegsheer und Rechtsgemeinschaft. Breslauer Universitätsrede, gehalten zur Verfassungs feier der Friedrich-Wilhelms-Universität und der Technischen Hochschule am 23. Juli 1932. In: Tumult 20 (1995), 55–77, zuerst 1932. Ders.: Sieger und Besiegte. In: Mitteilungsblätter der Eugen Rosenstock-Huessy-Gesellschaft, Jg. 1994, 2. Halbjahr, Körle 1994, 28–49, zuerst 1933.
98 Ebd. S. 106. Zu den planetarischen Konstellationen von Heimat, Erde, Welt, Planet vgl. ders. (1965): Dienst, S. 31–43; 66–90. Dort ist bemerkenswert zu verfolgen, wie einschneidend der 9. November 1918 auf Rosenstock-Huessy gewirkt hat. 99 Bis Anfang der 1930er Jahre veröffentlichte Rosenstock-Huessy unter dem Namen Eugen Rosenstock, danach mit dem Zusatz -Huessy. Bei späteren Wiederveröffentlichungen wurde Rosenstock-Huessy verwendet. Die abweichende Namensnennung im Literaturverzeichnis und in den Fußnoten liegt hierin begründet. Anm. d. Hrsg.
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VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN Annamária Biró, Studium der Ungarischen Philologie an der Babeș-Bolyai Universität Cluj/Klausenburg. Lehr- und Forschungstätigkeit zur Aufklärung und zur Romantik, sowie zur Moderne in Ungarn und in Siebenbürgen. Veröffentlichungen zu den deutsch-ungarischen literarischen Beziehungen. Leiterin des Verlags des Siebenbürgischen Museumvereins. Enikő Darabos, Studium der Ungarischen Philologie und Anglistik an der BabeşBolyai Universität Cluj Napoca/Klausenburg. Promotion 2002 an der Attila József Universität Szeged. Derzeit Universitätsdozentin an der Eötvös-Lorand-Universität (ELTE) Szombathely. In Vorbereitung eine Habilitationsschrift über die Korporealität in Péter Nádas’ Prosa. Zuletzt erschienen: Testmetaforák a kortárs magyar irodalomban [Körpermetaphern in der ungarischen Gegenwartsliteratur], Marosvásárhely 2017. Albert Dikovich, Studium der Philosophie, Germanistik und Romanistik an der Universität Wien. Promotionsprojekt zum Thema Deutsche Philosophie und das politische Imaginäre in Mitteleuropa 1918/19. Stipendiat des DFG Graduiertenkollegs „Das Reale in der Kultur der Moderne“ an der Universität Konstanz. Zuletzt erschienen: Die Ungarische Räterepublik 1919 in Lebensgeschichten und Literatur, Wien 2017 (hrsg. mit Edward Saunders). Vratislav Doubek, Studium der Tschechoslowakischen und der Allgemeinen Geschichte sowie der Russischen Sprache und Literatur an der Karls-Universität Prag. Promotion 1998, Habilitation 2005; seit 2014 Professor an der Schlesischen Universität in Opava (Troppau); daneben tätig an der Philosophischen Fakultät der Universität Prag sowie am Masaryk Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik. Michael Gormann-Thelen, Studium der Literaturwissenschaften, Philosophie und Soziologie. Freier Lektor und Herausgeber. Arbeitet z. Zt. an einer drei Bände umfassenden Ausgabe von Schriften des Sprachwissenschaftlers Johannes Lohmann (Band I erscheint im Frühsommer). Christoffer Leber, Studium der Neueren und Neuesten Geschichte, Mittelalterlichen Geschichte und Deutschen Literatur an der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Seit Oktober 2015 ist er Doktorand am Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte der LMU München sowie Kollegiat am dort ansässigen Internationalen Graduiertenkolleg „Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahr-
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hundert“. In seiner Dissertation befasst er sich mit religiös-säkularen Grenzkonflikten um 1900 am Beispiel der Monismusbewegung. Karl-Heinz Lembeck, Studium der Philosophie und Katholischen Theologie, Promotion 1986, Habilitation 1993, seit 1996 Lehrstuhlinhaber für Philosophie I an der Universität Würzburg. Christian Marty, Studium der Geschichte, Philosophie und Medienwissenschaft an der Universität Zürich. Seit 2015 Doktorand am Institut für Geschichte an der Universität Zürich. Titel der Promotionsarbeit: Max Weber. Ein Denker der Freiheit. Katharina Neef, Studium der Religionswissenschaften und der Soziologie. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Religionswissenschaftlichen Institut der Universität Leipzig und am Zentrum für Lehrerbildung der Technischen Universität Chemnitz (Lehrstuhl Ethik/Philosophieren mit Kindern). Nach Arbeiten zur Formierung der Soziologie im Kontext säkularistischer und freidenkerischer Akteure forscht sie momentan zur Diskussion und Etablierung der sog. „Ersatzfächer“ zum schulischen Religionsunterricht. Clemens Reichhold, Studium der Politikwissenschaften und der Philosophie an der Universität Hamburg, anschließend wissenschafticher Mitarbeiter am Lehrstuhl Europa und Moderne ebenda und derzeit Redakteur der Zeitschriften „Mittelweg 36“ und „Soziopolis“. Zuletzt erschien seine Dissertationsarbeit mit dem Titel Wirtschaftsfreiheit als Schicksal. Das politische Denken Friedrich August von Hayeks als de-politisierte Ideologie. Sebastian Schäfer, Studium der Geschichte und Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und Ideengeschichte. Derzeit arbeitet er am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte der TU Chemnitz an seinem Dissertationsprojekt Rudolf Olden (1885–1940): Soldat – Pazifist – Radikaldemokrat. Detlef Siegfried, Studium der Geschichte, Soziologie und Germanistik. 1991 Promotion an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, 2006 Habilitation für Neuere Geschichte an der Universität Hamburg, seit 2011 Professor für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte an der Universität Kopenhagen. Alexander Wierzock, Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und des öffentlichen Rechts. Doktorand der Geschichtswissenschaft am Lehrstuhl für Europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts der Humboldt-Universität Berlin, wo er an seinem Promotionsvorhaben Ferdinand Tönnies: Eine intellektuelle Biografie 1855–1936 arbeitet. Bandeditor der Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe und wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Forschungsprojekt „Die Geschichte der
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Deutschen Gesellschaft für Soziologie als Organisationsgeschichte 1909–1989“ am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Verena Wirtz, Studium der Geschichte, Germanistik und Bildungswissenschaften an der Universität Koblenz-Landau (Campus Koblenz) und an der Washington University in St. Louis, MO (USA). Seit 2014 Doktorandin am dortigen Institut für Geschichte, seit Wintersemester 2017/18 wissenschaftliche Mitarbeiterin. Ihr Dissertationsprojekt zum Prozessbegriff der Ästhetisierung in der Zwischenkriegszeit wird von der Studienstiftung des deutschen Volkes und im Rahmen des von Prof. Dr. Christian Geulen geleiteten DFG-Projekts „Semantische Transformationen im 20. Jahrhundert“ gefördert.
Das Ende des Ersten Weltkriegs, der Untergang der Monarchien und die Revolution bedeuteten nicht nur den Zusammenbruch von Recht und Ordnung: Die Zäsur von 1918/19 war im mitteleuropäischen Kontext auch ein symbolischer Kollaps der überlieferten Ordnungsbegriffe und Sinngebungen, der zur Neuorientierung herausforderte. Es war die Forderung der Stunde, den Menschen auszurüsten für eine ver änderte Wirklichkeit – und zwar in physischer, psychischer und morali scher Hinsicht. In Kunst und Literatur wie auch in Wissenschaft und Politik – auf ganz unterschiedlichen Gebieten also – begann eine Such bewegung nach dem Neuen Menschen. Als Kreuzungspunkt konkurrie render Imaginationen avancierte er zum Zentraltopos des Auf und Um bruchs in Gesellschaft und Politik. Die Spannbreite reicht dabei von Ideen der politischen Romantik, des Pazifismus, der sozialreformerischen Biopolitik und dem Rätekommunismus bis hin zum Liberalismus. Die Autorinnen und Autoren zeigen mit ihren Beiträgen, wie heterogen die Vorstellungen waren, die um diese Menschenerneuerung kreisten, fragen nach ihrer Bedeutung für die Revolutionen in Mitteleuropa von 1918/19 und loten neue Forschungsperspektiven aus.
ISBN 978-3-515-12129-3
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7835 1 5 1 2 1 293
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