Von der Bühne zum Film: Georges Aurics Musik der 1930er Jahre 3515122419, 9783515122412

Der Name des französischen Komponisten Georges Auric ist zwar geläufig, sein Werk und Wirken jenseits einer Verortung in

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German Pages 185 [190] Year 2019

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Table of contents :
INHALT
VORWORT
ABKÜRZUNGEN
BIBLIOGRAPHISCHE ABKÜRZUNGEN
EINLEITUNG
I. WEGE ZUM FILM (1930–1933)
1. COCTEAU, LES SIX UND GEORGES AURIC
2. APOLLINAIRES ESPRIT NOUVEAU
3. ESPRIT NOUVEAU UND MUSIK
4. DIE ALTEN MEDIEN UND DER TONFILM
5. LE SANG D’UN POÈTE (1930)
a. Struktur und Form: Surrealismus und Le sang d’un poète
b. Nachwirkungen
6. À NOUS LA LIBERTÉ (1931)
a. Rhythmus und Bewegung
b. Gesang, Geräusch und Musik
7. ZEITBILDER: COCTEAU – AURIC – CLAIR
II. „LA MUSIQUE POUR LE GRAND PUBLIC“ (1934–1938)
1. KÜNSTLERNETZWERKE
2. DAS KONZEPT DES FRANZÖSISCHEN INTELLECTUEL
3. GENERATIONENFRAGEN
4. JENSEITS DER LEINWAND
a. Romain Rollands Le Quatorze Juillet 1902/1936
b. Le Palais Royal (1936)
5. FILM UND MUSIK 1934 BIS 1938
6. LAC AUX DAMES (1934)
a. Spiel mit Dynamik: Musik innerhalb der Erzählwelt
b. Atmosphärische Verdichtung durch Wiederholung und Variation
c. Produktion und Rezeption
7. FACETTEN VON FILMISCHEM REALISMUS
a. Entrée des Artistes (1938)
b. Dynamisierung von Bildern durch Musik
EPILOG
LITERATUR
PRIMÄRLITERATUR
SEKUNDÄRLITERATUR
VERWENDETE MEDIEN
NOTENAUSGABEN
FILME UND VIDEOS
TONTRÄGER
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Von der Bühne zum Film: Georges Aurics Musik der 1930er Jahre
 3515122419, 9783515122412

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Franziska Kollinger

Von der Bühne zum Film Georges Aurics Musik der 1930er Jahre

Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 82 Franz Steiner Verlag

Franziska Kollinger Von der Bühne zum Film

Bei hef te zu m A rc h iv f ü r Mu si k w i s sen sc ha f t herausgegeben von Albrecht Riethmüller in Verbindung mit Ludwig Finscher, Frank Hentschel, Hans-Joachim Hinrichsen, Birgit Lodes, Anne Shreffler und Wolfram Steinbeck Band 82

Franziska Kollinger

Von der Bühne zum Film Georges Aurics Musik der 1930er Jahre

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 zgl.: Dissertation an der Freien Universität Berlin Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12241-2 (Print) ISBN 978-3-515-12253-5 (E-Book)

INHALT Vorwort............................................................................................................... Abkürzungen ...................................................................................................... Bibliographische Abkürzungen..........................................................................

7 9 9

Einleitung ...........................................................................................................

11

I.

Wege zum Film (1930–1933) ...................................................................... 1. Cocteau, Les Six und Georges Auric .................................................... 2. Apollinaires Esprit nouveau ................................................................. 3. Esprit nouveau und Musik .................................................................... 4. Die alten Medien und der Tonfilm ........................................................ 5. Le sang d’un poète (1930) ................................................................ a. Struktur und Form: Surrealismus und Le sang d’un poète ........ b. Nachwirkungen .............................................................................. 6. À nous la liberté (1931)................................................................... a. Rhythmus und Bewegung .............................................................. b. Gesang, Geräusch und Musik ........................................................ 7. Zeitbilder: Cocteau – Auric – Clair ......................................................

21 21 22 29 33 37 47 59 64 69 77 87

II. „La musique pour le grand public“ (1934–1938)........................................ 1. Künstlernetzwerke ................................................................................ 2. Das Konzept des französischen intellectuel ......................................... 3. Generationenfragen .............................................................................. 4. Jenseits der Leinwand........................................................................... a. Romain Rollands Le Quatorze Juillet 1902/1936.......................... b. Le Palais Royal (1936) .................................................................. 5. Film und Musik 1934 bis 1938 ............................................................. 6. Lac aux dames (1934) ........................................................................ a. Spiel mit Dynamik: Musik innerhalb der Erzählwelt .................... b. Atmosphärische Verdichtung durch Wiederholung und Variation .................................................................................. c. Produktion und Rezeption..............................................................

91 91 102 111 117 122 126 134 145 147 148 151

6

Inhalt

7. Facetten von filmischem Realismus ..................................................... 155 a. Entrée des Artistes (1938) ........................................................ 158 b. Dynamisierung von Bildern durch Musik...................................... 162 Epilog ................................................................................................................. 167 Literatur.............................................................................................................. 173 Verwendete Medien ........................................................................................... 181 Register .............................................................................................................. 183

VORWORT „Quel est ce fantôme qui s’appelle Georges Auric?“ Georges Auric (1979)

Den Anstoß für die vorliegende Arbeit, die im Dezember 2017 vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen wurde, lieferte die Beobachtung, dass Georges Aurics Präsenz als Zeitzeuge in unzähligen Publikationen und in seiner Rolle als Musikkritiker, als sogenanntes Avantgarde-Wunderkind, als Filmmusikkomponist in Europa und Amerika sowie als prominenter Kulturattaché der Nachkriegszeit in einer merkwürdigen Diskrepanz steht zu der beinahe gänzlich fehlenden Auseinandersetzung mit ihm auf wissenschaftlicher Ebene. Den Ursachen für diese Diskrepanz nachzuspüren und sich dem Komponisten und der kulturellen Welt seiner Zeit anzunähern, bildeten den Ausgangspunkt und das Ziel der Auseinandersetzung mit ihm. Von Beginn an unterstützte mich mein Doktorvater Professor Albrecht Riethmüller bei meiner Spurensuche. Seine Offenheit im Umgang mit musikalischen Phänomenen und musikgeschichtlichen Themen prägte nicht nur die Entstehung dieser Arbeit maßgeblich. Seine Neugier motivierte das Entwickeln immer neuer Perspektiven, wo die alten den Kontext zu vereinfachen drohten. Sein Interesse und seine Anteilnahme sorgten für einen immer wieder wachen Blick auf die Gegenstände und auf die Gestalt der Arbeit. Für die Unterstützung ebenso wie für die Möglichkeit der Drucklegung danke ich ihm sehr herzlich. Bei Professor Nils Grosch bedanke ich mich für die bereitwillige Übernahme des Zweitgutachtens und für die Möglichkeit, mein Thema immer wieder im Rahmen unterschiedlicher Veranstaltungen an der Universität Salzburg diskutieren zu können. Für ihre Mitwirkung in meiner Komission und die angeregte Diskussion während der Disputation danke ich PD Dr. Frédéric Döhl, Dr. Peter Jammerthal und Professor Matthias Warstat. Auch den Teilnehmern des Forschungskolloquiums an der FU Berlin sei für Gespräche zu vielen Aspekten der Arbeit gedankt. Durch ihr geduldiges Zuhören, aufmerksames Lesen und interessiertes Nachfragen setzten ferner Professor Nicole Haitzinger, Dr. Thomas Kollinger, Alexandra Lauck, PD Dr. Andreas Sudmann und Volker Trucks wichtige Impulse. Bei Dr. Talel Ben Jemia bedanke ich mich überdies für alle notwendigen Übersetzungen ins Englische. Dr. Colin Roust danke ich für die umstandslose Zusendung seiner unveröffentlicht gebliebenen Dissertationsschrift ebenso wie für einige wesentliche Anmerkungen zu den Quellen. Mareike Lütge danke ich für das sorgfältige und umsichtige Lektorat. Dem Franz Steiner Verlag und insbesondere Katharina Stüdemann sei für die Betreuung der Drucklegung gedankt, dem Förderungsfond Wissenschaft der VG WORT für den gewährten Druckkostenzuschuss.

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Vorwort

Zuguterletzt danke ich meiner Familie und meinen Freunden – durch Eure Anteilnahme und Unterstützung habt Ihr indirekt zum Entstehen dieses Buches beigetragen. Berlin, im September 2018

Franziska Kollinger

ABKÜRZUNGEN ACI AEAR BnF CGT FMP FTOF G. F. F. A INA MPPDA PCF PS SACEM SFIO SMI SNM UCMF UFA UTIF

Alliance du cinéma indépendant Association des écrivains et artistes révolutionnaires Bibliothèque nationale de France Confédération générale du travail Féderation musicale populaire Fédération du théâtre ouvrier de France Gaumont-Franco Film-Aubert Institut national de l’audiovisuel Motion Picture Producers and Distributors Association of America Parti Communiste français Parti Socialiste [vormals SFIO] Société des Auteurs, Compositeurs, et Editeurs de la Musique Section française de l’Internationale ouvrière Société musicale indépendante Société Nationale de Musique Union des Compositeurs de Musiques de Films Universum-Film Aktiengesellschaft [ursprünglich Ufa] Union des théâtres indépendants de France

BIBLIOGRAPHISCHE ABKÜRZUNGEN AfMW HmT MGG2 NGroveD

Archiv für Musikwissenschaft, hg. von Albrecht Riethmüller, Stuttgart: Franz Steiner 2000 ff. Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, hg. von Hans Heinrich Eggebrecht, seit 1999 von Albrecht Riethmüller, Stuttgart: Franz Steiner 1972–2006. Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, 2. Auflg., hg. von Ludwig Finscher, Kassel/Stuttgart: Bärenreiter/Metzler 1994– 2007. (27 Bde.) The New Grove Dictionary of Music and Musicians, hg. von Stanley Sadie, London: Macmillan 2001. (29 Bde.)

EINLEITUNG Quand j’étais là – Als ich dort war – lautet der programmatische Titel der 1979 veröffentlichten Memoiren des Komponisten Georges Auric (1899–1983).1 Die persönlichen Erinnerungen an die Zeit ‚als er dort war‘, sind auf seine Erlebnisse und Begegnungen im Paris der Zwischenkriegsjahre beschränkt und reflektieren entsprechend nur einen kleinen Ausschnitt von Aurics Leben. In den anekdotischen Kapiteln verrät der Komponist zudem kaum etwas über sich selbst – er spricht weder über seine Musik noch über seine ästhetischen Vorstellungen und Ideale. Stattdessen skizziert er ein Panorama der Welt, in der er sich bewegte und gibt einen Einblick in das dichte Beziehungsgeflecht der Künstler2 und ihrer Netzwerke in der französischen Metropole. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Positionierung des Komponisten seitens der Musikgeschichtsschreibung. Konsultiert man den kurzen Eintrag zu Auric in der MGG2, wird man erstaunt feststellen, dass die Jahre zwischen 1930 und 1950 vom Autor sorgsam ausgespart werden.3 Die wenigen selbstständigen Publikationen zu Auric verorten ihn ebenfalls primär innerhalb der 1920er Jahre und stellen seine Tätigkeiten für die Ballets Russes unter der Ägide von Serge Diaghilev heraus.4 Resultierend aus dieser fruchtbaren Kooperation kommt allenfalls noch seine Rolle innerhalb des an Anekdoten reichen Groupe des Six zum Tragen – wobei auch in diesem Kontext stets Aurics Beziehung zu Jean Cocteau im Vordergrund 1 2 3 4

Georges Auric, Quand j’étais là, Paris 1979. Die weibliche sowie genderneutrale Form ist in dieser Arbeit immer mitgemeint. Vgl. Thomas Daniel Schlee, Art. Auric, Georges, in: MGG2, Sp. 1190–1193. Neben Colin Rousts Dissertation Sounding French und Antoine Goléas Biographie Georges Auric existieren nur zwei weitere Studien, die sich explizit mit Auric auseinandersetzen. Im Gegensatz zu Rousts Arbeit sind sie jedoch auf die Jahre vor 1930 bezogen; Aurics Filmmusik spielt entsprechend keine Rolle. Siehe Michael Edward Lee, Georges Auric and the Danced Theatre (1919–1924), PhD Diss. University of Southern California (1993) sowie Ann Corrigan, The Songs of Georges Auric, DMA Thesis University of Cincinnati (1995). Neben diesen Studien ist Auric Bestandteil von Arbeiten zu den Six, Erik Satie oder Jean Cocteau; des Weiteren fehlt sein Name in kaum einer Abhandlung zum Musikleben der 1910er und 1920er Jahre in Paris. Siehe beispielsweise Evelyn Hurard-Viltard, Le Groupe des Six, ou le matin d’un jour de fête (1987); Jean Roy, Le Groupe des Six (1994), Nancy Perloff, Art and the Everyday (1991); James Harding, The Ox on the Roof (1972). Auch Publikationen zu heute namhaften Zeitgenossen und Freunden enthalten teilweise einzelne Abschnitte beziehungsweise Artikel zu Auric wie der von Josiane Mas edierte Sammelband, der 1999 aus einer Konferenz zu Poulenc und Auric resultierte. Von den 13 Artikeln befassen sich lediglich zwei explizit mit Auric, vgl. Josiane Mas, Centenaire Georges Auric – Francis Poulenc (2001). Neben den Artikeln enthält der Band jedoch auch ein umfassendes Werkverzeichnis. 2013 erschien zudem der Werkkatalog von Carl Schmidt (Hg.), The Music of Georges Auric. Bereits 2009 veröffentlichte Schmidt eine Edition von Aurics publizierten Artikeln und Kritiken: Writings on Music by Georges Auric / Écrits sur la musique de Georges Auric. Im deutschsprachigen Raum ist diese Arbeit die erste, die sich dezidiert mit Auric auseinandersetzt.

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Einleitung

steht, während sein musikalisches Œuvre dem Ziel untergeordnet wird, jenem Zusammenschluss heterogener Komponisten musikalische und ästhetische Kongruenz nachzuweisen.5 Eine Reflexion von Aurics Karriere jenseits dieses Kontextes findet erst wieder für die Jahre nach 1950 statt, in denen er zahlreiche öffentliche Ämter in der Pariser Kulturlandschaft bekleidete und zu einem integralen Bestandteil des Pariser Establishments avancierte.6 Die Untersuchung des musikalischen Werkkorpus dieser späten Jahre steht noch gänzlich aus.7 Anstatt der bisherigen Zweiteilung Folge zu leisten und den Komponisten wahlweise als Repräsentant der Vorkriegs-Avantgarde oder als Administrator des Musikbetriebs nach dem Zweiten Weltkrieg darzustellen, fokussiert die vorliegende Arbeit die historische und ästhetische Leerstelle der 1930er Jahre. Auf diese Weise tritt ein Schiefstand innerhalb der Musikgeschichte zu Tage, dessen weitreichende Folgen am Beispiel von Auric anschaulich gemacht werden können. Spezifische Darstellungen des Jahrzehnts fehlen weitgehend, was erstaunlich ist mit Blick auf die zahlreichen technischen Neuerungen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die auch auf die musikalische Welt einwirkten.8 Stattdessen sind in einschlägigen Publikationen Parameter wie Stagnation und die Rückbesinnung auf Vorheriges präsent. Deborah Mawer konstatiert in ihrem Artikel „Dancing on the Edge of the 5

6

7 8

Bis heute ist die ästhetische und künstlerische Beziehung der Six zu Cocteau und Satie Gegenstand unterschiedlicher Forschungsarbeiten. Diese Debatte wird in der vorliegenden Arbeit bewusst ausgeklammert zu Gunsten einer Perspektivierung, die darauf abzielt, zwar den Zusammenschluss der Komponisten zu berücksichtigen, jedoch nicht das Bild einer ästhetischen und/oder künstlerischen Union zu bekräftigen, die auf Cocteaus Idealen und/oder Saties Kompositionsmerkmalen fußt. Vielmehr wird der Begriff der Gruppe im Sinne eines Zusammenschlusses verstanden, um einerseits auf die musikalische Diversität der Six zu verweisen und andererseits zu verdeutlichen, dass außermusikalische Aspekte (Vermarktung und ökonomische Stärke, gesellschaftliche und politische Positionierung und Popularisierung usf.) sowohl von den Six als auch von Cocteau und außenstehenden Zeitgenossen ausschlaggebend waren für eine weitreichende Etablierung der Benennung der sechs Nouveaux jeunes (Erik Satie) als Groupe des Six. Zur Entstehung und Problematik des Groupe des Six siehe beispielsweise Helmut Kirchmeyer, Ideologische Reflexion und musikgeschichtliche Realität, in: AfMW 63/4 (2006). Zur Debatte um den Kollektiv- und Gruppenbegriff in Bezug auf die Six unter Berücksichtigung künstlerischer und ästhetischer Inhalte siehe Katja Bethe, Gemeinschaftliches Komponieren in Frankreich (2016), insbesondere Teil 1 der Studie. 1951 wurde Auric zum Präsidenten der SACEM gewählt, ein Amt, das er bis 1978 inne hatte. Bis zu seinem Tod war er überdies Ehrenpräsident der Vereinigung. Ab 1956 war er zudem Präsident der Académie du cinéma. Von 1962 bis 1968 leitete er die Réunion des Théâtres Lyriques Nationaux (Opéra National de Paris und Opéra-Comique) und brachte in dieser Funktion 1964 erstmals Alban Bergs Wozzeck auf die französische Opernbühne. 1962 wurde er in die Académie des Beaux-Arts gewählt und 1967 zu deren Präsident ernannt. Einen ersten Schritt in diese Richtung unternimmt Colin Roust, dessen Biographie des Komponisten voraussichtlich Ende 2018 bei Oxford University Press erscheint. Mit dem Tonfilm ist nur ein Parameter benannt; das Radio und allgemeiner die Möglichkeit der technischen Reproduzierbarkeit von Musik sind weitere strukturverändernde Errungenschaften, deren Auswirkungen die 1930er Jahre prägten, da die technische Weiterentwicklung nun eine umfassendere Nutzung und die Etablierung der neuen Medien in der gesamten Gesellschaft ermöglichte. Für eine vorwiegend auf Deutschland bezogene Perspektivierung und detaillierte Darstellung jener Umstände vgl. Michael Custodis / Albrecht Riethmüller, Die Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert: 1925–1945, S. 14 ff.

Einleitung

13

Volcano“: French Music in the 1930s, dass das Fehlen einer eindeutigen musikalischen Identität im Frankreich der 1930er Jahre ursächlich ist für die Retrospektive, die heute von dieser Periode gezeichnet wird. Als Bindeglied zwischen den années folles und den Jahren des „post-war radicalism“9 bilden jene zehn Jahre eine Klammer zwischen den skandalösen, experimentellen 1910er und 1920er Jahren und der Nachkriegszeit, die, so Mawer, jedoch keinen eigenen Inhalt habe und dem heutigen Betrachter bisweilen leer erscheine.10 Dieser Sichtweise entspricht auch die Konstruktion ästhetischer Identitäten als Ergebnis einer zunehmenden Politisierung und Ideologisierung der Künstler durch den Front populaire ab Mitte der 1930er Jahre, wie sie von den Studien vorgenommen wird, die sich auf die Regierungszeit des Bündnisses (1936–1938) beschränken.11 Versucht man Ursachen für die Vernachlässigung der 1930er Jahre einerseits und die Darstellung ästhetischer Werte als Folgeerscheinung der kulturpolitischen Leitlinien des Front populaire andererseits zu finden, erweist sich ein Blick auf den Beginn des Jahrzehnts als hilfreich. Die diagnostizierte Ereignislosigkeit in der kulturellen Welt lässt sich auf die Ignoranz gegenüber den wesentlichen Neuerungen zurückführen, die letztlich einen umfassenderen Wandel in den Künsten bedingten: die zunehmende Technisierung und Medialisierung der Lebenswelt, die sich durch das Radio und die Tonträgerindustrie dynamisierte und mit dem Tonfilm zu Beginn der 1930er Jahre mit einer weiteren Neuerung konfrontiert wurde.12 Die Darstellung von Auric in der Musikgeschichte bildet diesen Umstand ab: Auch hier markiert den Beginn der 1930er Jahre wenn nicht eine Grenze, so doch ein Einschnitt in der ohnehin fragmentarischen Rezeptionsgeschichte. Kompositionsgeschichtlich folgte auf die umtriebigen 1910er und 1920er Jahre die Klaviersonate F-Dur (1930– 1931), die den Zeitgenossen missfiel und – so die gängige musikhistorische Interpretation – die Abkehr Aurics von der ,absoluten Musik‘ zur Folge hatte. Mit der Besprechung dieses letzten ‚avantgardistischen‘ Meilensteins des jungen Komponisten wird die Reflexion über ihn unterbrochen und erst zwanzig Jahre später fortgesetzt. Die Auswirkungen dieser Verortung sind offensichtlich: Zwar reflektiert sie Aurics vermeintliche kompositorische Entwicklung vom Avantgarde-Wunderkind Vgl. Deborah Mawer, Dancing on the Edge of the Volcano, S. 249. Vgl. ebd. Siehe beispielsweise Pascal Ory, La Belle illusion sowie Christopher Moore, Music in France and the Popular Front. Eine der wenigen Ausnahmen ist Jane Fulchers The Composer as Intellectual, das zeitlich weiter gefasst ist (1914–1940) und überdies ausführlich auf Auric eingeht sowie Julian Jacksons The Popular Front in France. 12 Die Begriffe Tonfilm und Film werden in dieser Arbeit synonym verwendet. Gemeint ist immer der Tonfilm. Der Terminus Filmmusik bezieht sich hier entsprechend ebenfalls auf den Tonfilm. In Frankreich lässt sich bereits ab Mitte der 1920er Jahre eine Tendenz erkennen, die zumindest von den technischen Neuerungen nur profitierte: die Hinwendung zum medien-allumfassenden monumentalen Spektakel – Poulencs choreographisches Konzert Aubade (1929) oder Paul Claudels Theaterstück Soulier de Satin (1929), dessen Aufführung mehrere Tage dauerte, legen davon Zeugnis ab. Arthur Honegger komponierte 1943 eine Bühnenmusik zu Soulier de Satin, die später wiederum von Pierre Boulez bearbeitet wurde. Vgl. Martin Zenck, Pierre Boulez und seine Arbeiten für die Compagnie Renaud-Barrault, S. 373 f. Für den Hinweis auf diese Publikation danke ich Dr. Julia H. Schröder. 9 10 11

14

Einleitung

zum Mainstream-Komponisten, allerdings berücksichtigt sie nicht die strukturellen Veränderungen in der musikalischen Welt, auf die er mit der bewussten Hinwendung zur Filmmusik reagierte. Der Medienwechsel, der sich bei Auric 1930 mit seiner Musik zu Cocteaus Film Le sang d’un poète feststellen lässt, ist somit nicht als Konsequenz einer Abwendung von vorherrschenden Kompositionsstrategien zu verstehen, sondern als Hinwendung zu den neuen Möglichkeiten des musikalischen Materials, mit denen vielfältig umgegangen werden konnte und musste.13 Dass Auric auch nach 1930 immer noch ‚dort war‘ und seine Komponistentätigkeit ebenso vielfältig blieb wie in den 1910er und 1920er Jahren14, verkommt zur Marginalie vor dem Hintergrund der rasch wachsenden Zahl an Filmmusiken, denen er sich nun vorrangig widmen sollte. Die Vernachlässigung jener Werke und die beständige Suche nach Gründen, die eine auf das Komponieren von Filmmusik fokussierte Persönlichkeit wie Auric dennoch als musikhistorisch relevant legitimieren, sind Kennzeichen und Hauptbestandteil der Auseinandersetzung mit dem Komponisten auf wissenschaftlicher Ebene.15 Die Gründe für das Ausklammern des Großteils von Aurics Werkkorpus lassen sich an zwei Tendenzen rückbinden: Obwohl sich die Filmmusikforschung in der Musikwissenschaft etablieren konnte, ist die Einzeldarstellung des Komponisten in der Musikgeschichtsschreibung gekennzeichnet von einer Aufspaltung des Werkkorpus, in der die Filmmusiken entweder gar keine oder eine untergeordnete Rolle spielen oder aber ausschließlich betrachtet werden und somit wieder eine isolierende Einordnung der Person als Filmmusikkomponist vornehmen. Dasselbe lässt sich auch in Bezug auf die Bühnenmusiken feststellen. Eine Verknüpfung unterschiedlicher Gattungen, die beispielsweise durch die Ermittlung übergeordneter Kompositionsstrategien erfolgen könnte, steht noch aus und verweist auf die immer noch notwendige Rehabilitation audiovisueller Darbietungsformen innerhalb der Musikhistoriographie. Überdies lädt der zeitgeschichtliche Kontext die Musiken auf, wodurch wiederum eine beliebige Zuschreibung zu dem einen oder anderen ideellen Konzept begünstigt wird. Wie kontrovers dementsprechend der Blick auf Auric und sein Œuvre ist, dokumentieren die wenigen Publikationen und knappen Lexikoneinträge: Das Bild des avantgardistischen Wunderkindes steht neben dem Porträt des politisch engagierten systemkonformen Erziehers, dem des verkannten Genies, dessen Instrumentalwerke aufgrund kulturpolitischer Distinktionen in Vergessenheit gerieten oder auch neben dem des Schriftstellers, der als brillanter Handwerker seine Auftraggeber und Protégés zufrieden stellte.16 13 14

15 16

Vgl. Albrecht Riethmüller, Einleitung, in: ders. (Hg.), Die Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert: 1925–1945, S. 13–17. Zu neuen Genres, die im Zuge der Etablierung des Rundfunks entstanden siehe u. a. Nils Grosch, Die Musik der neuen Sachlichkeit (1999). Beispielsweise entstehen mit den Balletten La Concurrence (1932) und Les Imaginaires (1933) weiterhin bemerkenswerte Ballettmusiken, ebenso wie zahlreiche Instrumental- und Vokalkompositionen. Vgl. das umfassende Werkverzeichnis von Josiane Mas in dies. (Hg.), Centenaire Georges Auric – Francis Poulenc, S. 287–336. Lediglich Colin Roust geht in seiner Dissertation erstmals explizit auf die Filmmusiken ein. Vgl. Colin Roust, Sounding French. Siehe beispielsweise die Lexikonartikel zu Auric in der MGG2 und im NGroveD sowie zum didaktischen Impetus vor dem Hintergrund der Kulturpolitik des Front populaire Colin Roust,

Einleitung

15

Diese lückenhafte Rekonstruktion ist folgenreich: Neben der Vielzahl an Musiken, die vor diesem Hintergrund in Vergessenheit geraten, erfahren auch Aurics Äußerungen zu ästhetischen Fragestellungen nur am Rande Beachtung. Tatsächlich fehlt sein Name in kaum einer Publikation zu heute namhaften Persönlichkeiten wie Jean Cocteau, Arthur Honegger oder Darius Milhaud. Und auch in Überblicksdarstellungen zum französischen Kulturleben fungiert er als viel zitierter Zeitzeuge. Eine Auseinandersetzung mit seinen Aussagen zu zeitgenössischen Fragestellungen steht allerdings noch aus, da sich ein Großteil dieser Quellen auf audiovisuelle Darbietungsformen und deren Potential bezieht oder die strukturellen Veränderungen thematisiert, die aus der Reformierung des Kulturbetriebs unter dem Front populaire resultierten. Von den vielen Artikeln und Kritiken, die er in den 1930er Jahren für Blätter wie die Revue musicale, Paris-Soir, Marianne oder Les Nouvelles littéraires verfasste, widmen sich zahlreiche Beiträge explizit ästhetischen Phänomenen: dem Begriff des Klassischen und dem des Neoklassizismus, dem neuen Medium Tonfilm und dessen Potential, den Entwicklungen im Theater- und Ballettbetrieb ebenso wie den neuen Tönen, die beispielsweise Olivier Messiaen in jenen Jahren anschlug und die der Ästhetik der Einfachheit diametral entgegengesetzt waren, wie sie sein eigener musikalischer Freundeskreis der Six und dessen ‚Ziehväter‘ (Satie und Cocteau) propagiert hatte. Dieses Themenspektrum deutet bereits an, was sich mit Blick auf Aurics musikalische Betätigungen in den 1930er Jahren bestätigt: Entgegen der musikgeschichtlichen Darstellungen fand nicht etwa eine Zäsur im Gesamtwerk statt. Vielmehr wird offensichtlich, dass Auric die von ihm präferierten Genres der Ballettund Bühnenmusik um die ersten Filmmusiken erweiterte. Der viel diagnostizierte plötzliche Wandel des Komponisten, der sich sowohl auf den Medienwechsel als auch auf eine vermeintliche politisch-ideologische Neuausrichtung bezieht, ist vor diesem Hintergrund nicht mehr nachvollziehbar und verlangt nach einer neuerlichen Analyse. Durch die Fokussierung auf Disziplinen übergreifende Kollaborationen kann zudem die Vorstellung von den 1930er Jahren als einem lethargischen Jahrzehnt korrigiert werden. Dabei erweist sich insbesondere die Erörterung ästhetischer Ideale und Denkfiguren als wegweisend, die für alle Künste geltend gemacht wurden und die Erweiterung des Ästhetikbegriffs um die Dimension der Rezeption dokumentieren. Zudem treten die vielfältigen Beziehungskonstellationen zu Tage, die letztlich eine Neujustierung des Kulturbetriebs durch den Front populaire erst ermöglichten. Auric figuriert vor dem skizzierten Hintergrund als Seismograph für die disparaten Entwicklungen seiner Zeit, indem er die verschiedenen Diskurse zum einen als Beobachter registrierte und dokumentierte und zum anderen grundlegende Strukturveränderungen für seine Kompositionspraxis und die Vermittlung seiner Werke nutzte. Diese doppelte Funktion, Beobachter und gleichzeitig Bestandteil ein und derselben Welt zu sein, ist außerdem unmittelbar mit einem Aspekt verknüpft, der sowohl für die Musik als auch für ihren Komponisten bezeichnend Sounding French. Vgl. außerdem Jeremy Drake, Georges Auric et les écrivains, S. 23–38; André Boucourechliev, Art. Auric, Georges, in: NGroveD, S. 187–188; Thomas Daniel Schlee, Art. Auric, Georges, in: MGG2, Sp. 1190–1193.

16

Einleitung

ist: die Offenheit im Umgang mit Formen, Gattungen, Themen und Motiven sowohl auf musikalischer Ebene als auch in gesellschaftlichen Kontexten. Diese Offenheit als Ausgangspunkt begriffen, ermöglicht wiederum eine Perspektivierung des Komponisten in den 1930er Jahren, die jenseits von Dichotomien und Zuschreibungen wie Avantgarde/Mainstream, Kunst/Unterhaltung, Revolution/Renovation, Nationalismus/Sozialismus angelegt ist. METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN Der für diese Arbeit gewählte Zugang resultiert zum einen aus dem gegenwärtigen Forschungsstand zu Auric und zum anderen aus der Perspektivierung von Musik innerhalb historischer Kontexte, die die Koexistenz unterschiedlicher Erscheinungsformen – sowohl im Einzelwerk von Komponisten als auch in der Reflexion spezifischer Zeiträume – als Voraussetzung annimmt und als Spannungsfeld begreift. Demzufolge steht weder ‚nur‘ die Künstler-Biographie noch ‚nur‘ der Werkkorpus im Vordergrund. Stattdessen wird eine Verknüpfung beider Dimensionen angestrebt, die an Auric exemplifiziert wird. Damit dieses Experiment gelingen kann, ist es notwendig, die ästhetischen, personellen und historischen Bezugssysteme zu dechiffrieren, innerhalb derer sich der Komponist bewegte. Darüber hinaus muss aber auch eine Reflexion der ermittelten Sachverhalte auf Basis ästhetischer Überlegungen stattfinden, die die besondere Verfasstheit audiovisueller Darbietungsformen berücksichtigen. Ähnlich wie erst aus dem Spannungsfeld von Persönlichkeit und Werk Rückschlüsse auf den Komponisten gezogen werden können, erlaubt auch nur die Analyse der Musik in ihrem Zusammenspiel mit der visuellen und inhaltlichen Ebene, Aussagen über die strukturelle Anlage und die Wirkungsweise auditiver Elemente zu treffen. Die Analyse der Film- und Bühnenmusik erfolgt aus diesem Grund immer in Kombination mit der Darstellung der jeweiligen Situation im Film oder auf der Bühne.17 Des Weiteren ist die Erschließung der Arbeitsweise und des Produktionskontextes maßgeblicher Bestandteil der Untersuchungen. Dadurch wird der Rahmen der gegenwärtigen Auric-Rezeption überschritten, die sich in erster Linie mit der noch ausstehenden Darstellung von Biographie und Werkkorpus unter besonderer Berücksichtigung der Filmmusik beschäftigt, um eine Grundlage für weitere Forschungen zu dem Komponisten zu schaffen.18 Dass diese Arbeit nicht zu unterschätzen ist, liegt auf der Hand; dennoch birgt eine solche Aufarbeitung durch ihren Anspruch auf grundsätzliche Gültigkeit die Gefahr, vermeintliche Entwicklungslinien zu konstruieren, die sich lediglich an der Komponistenbiographie orientieren und auf diese Weise Einteilungen des Gesamtwerks vornehmen, die sich in einem 17

Sofern nicht abweichend gekennzeichnet sind alle Notenbeispiele dieser Arbeit Transkriptionen der Autorin. 18 Siehe hierzu die Skizzierung des Forschungsvorhabens von Colin Roust in ders. Sounding French, S. 263 ff. Siehe außerdem den Werkkatalog von Carl Schmidt (Hg.), The Music of Georges Auric, Vol. I–IV sowie dessen Edition der Schriften ders. (Hg.), Écrits/Writings, Vol. I–IV.

Einleitung

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größeren Kontext als obsolet erweisen. Auf dieser Basis stellt Colin Roust beispielsweise eine lineare Entwicklung von Aurics Filmmusik fest, die parallel zu den „shifts in his personal politics“ verlief.19 Die Konsequenzen die er aus dieser Einordnung für Aurics Karriere nach 1945 zieht, machen die Problematik dieser teleologischen Zuschreibung deutlich, denn „the later film music simply cannot be organized into such a historical construction.“20 Obwohl Roust im weiteren Verlauf seiner Ausführungen darlegt, dass Aurics Musik sowohl für den Film als auch für die Bühne und das Konzert eine Vielzahl ästhetischer Modelle repräsentiere und sich durch eine große Vielfalt in der Wahl der Genres auszeichne, nimmt er den Wechsel nach 1945 als gegeben an. Die Tatsache, dass Aurics frühe Filmkarriere in den 1930er Jahren auf Frankreich beschränkt war und er erst nach 1945 mit britischen, amerikanischen, deutschen und italienischen Filmemachern und Produktionsfirmen kooperierte, nimmt Roust schließlich zum Anlass für sein dualistisches Fazit: „If the early part of Auric’s film career can be best described as ‚nationalist‘, then the latter part is surely best described as ‚cosmopolitan‘.“21 Damit lässt er jedoch wesentliche Zusammenhänge außer Acht, die Aurics Karriere mitbestimmten und seinen Weg determinierten: die Verfasstheit der französischen Filmindustrie, das Netzwerk des Komponisten aus dem sich die Kompositionsaufträge generierten, Aurics Sozialisation im Paris der 1910er und 1920er Jahre, die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen ab Mitte der 1930er Jahre, die neben der ideologischen Doktrin des Front populaire vor allem auch strukturelle Veränderungen mit sich brachten, und die sich wiederum auf den gesamten Kulturbetrieb und die einzelnen Protagonisten auswirkten. Begreift man Aurics Musiken im Kontext ihrer Zeit und in der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen, ergibt sich ein Bild, das nicht durch Brüche oder Zäsuren gekennzeichnet ist. Vielmehr erweist sich als Distinktionsmerkmal auf ästhetischer Ebene ein die Künste verbindender Impetus, der sich aus einer ideellen Haltung des Komponisten speist und in einem spezifischen Zugang zum musikalischen Material und zu gesellschaftlichen Formationen aufgeht und deshalb nicht auf einzelne Bestandteile des Werkkorpus oder eine Lebensphase beschränkt ist. STRUKTUR UND AUFBAU Die vorliegende Arbeit begegnet Auric primär auf der Basis seiner Bühnen- und Filmmusiken, die eine Schlüsselrolle hinsichtlich der Entwicklungen in den Künsten während der 1930er Jahren einnehmen, allerdings sowohl seitens der Musikwissenschaft als auch von der Theater- und Filmwissenschaft gegenwärtig kaum berücksichtigt wurden und werden. Weiters findet eine dezidierte Auseinandersetzung mit Aurics schriftsprachlichem Œuvre statt, die sowohl den ästhetischen Fragestellungen jener Jahre auf den Grund geht als auch die Rahmenbedingungen ausdifferenziert, die die Musikproduktion der 1930er Jahre prägten. Die Erforschung 19 20 21

Vgl. Colin Roust, Sounding French, S. 262. Ebd. Ebd., S. 263.

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von Filmmusik als soziale und kulturelle Erscheinung dient letztlich auch dazu, ihre Bedeutung im diskursiven Kontext von Machtprozessen und Ideologien zu erschließen. Dementsprechend sind die Analysen stets an die Darstellung der ökonomischen, politischen und strukturellen Zusammenhänge gekoppelt, in die die Filme eingebunden sind. Durch den Rückgriff auf zahlreiche Primärquellen aus den 1930er Jahren wird schließlich auch das Spannungsfeld ästhetischer Themenkomplexe ersichtlich, in dem sich die Zeitgenossen bewegten. Die Position der Musik innerhalb dieses dichten Gefüges lässt sich auf diese Weise erschließen. Der erste Teil widmet sich den Motivationen, die hinter Aurics Fokussierung auf Bühnen- und Filmmusik stehen und bereits in ästhetischen Programmen der 1920er Jahre angelegt sind. Im Vordergrund steht neben der Ausdifferenzierung der ästhetischen Ideale die Bestimmung der Positionen, die Auric innerhalb der unterschiedlichen Gruppierungen einnahm. Auf diese Weise werden ästhetische Vorstellungen in Beziehung gesetzt zur Lebenswelt und -zeit des Komponisten. Während die ersten drei Kapitel mit der Konzentration auf Cocteau, die Six und Guillaume Apollinaires Esprit nouveau scheinbar die Vorboten zu den Entwicklungen in den 1930er Jahren thematisieren, steht im Anschluss mit Le Sang d’un poète (1930) der erste Film im Zentrum, für den Auric die Musik schrieb. Die Rückschau der drei vorherigen Kapitel erweist sich bereits an diesem Punkt als Notwendigkeit, die die Schnittstelle zwischen den thematischen Schwerpunkten hervortreten lässt: das persönliche Netzwerk des Komponisten, das mit Cocteau als Regisseur und Drehbuchautor und dem Ehepaar Noailles als Geldgeber des Films auf die enge Verzahnung von Lebenswelt und Wirken verweist. Die Produktionsbedingungen, die ebenfalls beleuchtet werden, veranschaulichen wesentliche Aspekte, die dem Komponieren von Filmmusik zu Grunde liegen. Wie konkret die Vorstellungen von einer idealen Arbeitsweise für den Film bereits 1930 waren, zeigt das vierte Kapitel. Hier wird das Wort dem Autor Auric überlassen, um die Bezüge zu den ästhetischen Konzepten aufzuzeigen, die in der Rückschau hervortraten und die Rezeption des ersten Cocteau-Films um die Perspektive des Komponisten ergänzen. Im Anschluss steht die exemplarische Analyse der Filmmusik im Vordergrund, da ihr Einsatz einerseits aufschlussreich ist für die Arbeitsweise an Le sang d’un poète und andererseits die von Auric formulierten Ideale hinsichtlich ihrer Übersetzbarkeit in eine kompositorische Praxis beleuchtet werden können. Die Verzahnung von technischen und ästhetischen Proklamationen, die über die Analyse der Bild-Ton-Beziehungen im Film demonstriert werden, lenkt das Augenmerk auf das Phänomen des Surrealismus, das im Fokus des nächsten Kapitels steht. Die Titulierung von Le sang d’un poète als surrealistischer Film wird hier ebenso in Frage gestellt wie die Möglichkeit einer surrealistischen Musik. Die Bezüge von Auric und Cocteau zu diesem Phänomen werden auf zwei Ebenen ausdifferenziert: erstens historisch hinsichtlich ihrer Verbindungen zu der Bewegung um André Breton und zweitens ästhetisch mit Blick auf das Konzept des sur-réalisme von Guillaume Apollinaire. Auch hier ergänzt die exemplarische Analyse der Musik die theoretischen Ausführungen und erörtert insbesondere das Potential der auditiven Elemente als strukturstiftende Parameter im Film.

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Die Rekonstruktion der Rezeptionsgeschichte dient schließlich dazu, Auric in seinem Umfeld zu lokalisieren und Bezüge zwischen seiner eigenen Retrospektive auf die Arbeit an diesem Film und seinen Vorstellungen eines gelungenen Arbeitsprozesses herzustellen. Diese Kontextualisierung leitet direkt zum sechsten Kapitel über, das sich mit dem zweiten Film auseinandersetzt, zu dem Auric die Musik beisteuerte. Am Beispiel von À nous la liberté (1931) diskutiert diese Passage Tendenzen, die bestimmend für die 1930er Jahre werden sollten. Dabei steht neben der Herausarbeitung ideeller Parameter in der Filmhandlung die theoretische Auseinandersetzung des Regisseurs René Clair mit dem Medium Tonfilm im Zentrum, um die Motivation hinter den Idealen auch auf ästhetischer Ebene nachzuvollziehen. Daraus lassen sich wiederum Schlussfolgerungen für den Umgang mit dem Filmton ableiten, die Aurics Handhabe des musikalischen Materials bedingen und plausibel machen. Die Einordnung der Ergebnisse der vorherigen Kapitel in einen kulturgeschichtlichen Zusammenhang beschließt den ersten Teil und verweist auf das bestimmende Ideal der Folgejahre, das mit der Phrase „La musique pour le grand public“ („Musik für die breite Öffentlichkeit“) programmatisch zusammengefasst ist. Der zweite Teil der Arbeit fokussiert die Jahre unmittelbar vor und während der Regierungszeit des Front populaire. Hier steht nun insbesondere Aurics kulturpolitisches Engagement zur Disposition, das mittlerweile zwar auch seitens der Forschung Beachtung gefunden hat, allerdings noch nicht dezidiert auf Bezüge zu vorher ausgebildeten Idealen und bereits etablierten Strukturen und Netzwerken untersucht worden ist. Anstelle einer Unterteilung von Aurics Biographie in eine Zeit vor und eine davon losgelöste Phase während des Front populaire schlägt diese Arbeit eine Verschränkung der Perspektiven vor, die Aurics Engagement auch jenseits der Beschreibung seiner kulturpolitischen Aktivitäten beleuchtet. Der vermeintliche Sinneswandel des Komponisten unter dem Eindruck der neuen Regierung kann auf diese Weise begründet werden. Die plakative Forderung einer Musik für großes Publikum erweist sich vor diesem Hintergrund als Knotenpunkt zwischen zeittypischen Denkfiguren und ästhetischen Idealen, die für die kulturpolitische Doktrin des Front populaire nutzbar gemacht wurden. Entsprechend bildet die präzise Darstellung von Aurics Umfeld den Schwerpunkt dieses Teils der Arbeit. Auf die Skizzierung der Musikwelt und die Kontextualisierung der Klaviersonate F-Dur folgt die Dechiffrierung des Beziehungsgeflechts anhand verbindender Merkmale der Protagonisten, die auf ein Netzwerk hindeuten, das sich nicht aufgrund gemeinsamer politischer Ideale formierte. Vor diesem Hintergrund erörtert das nächste Kapitel die Motivationen der Künstler, die hinter einer Beteiligung an den Regierungsprojekten und einer Einbindung in die Institutionen der Regierung standen. Diese Entschlüsselung erweitert den Blick auf Aurics Engagement um eine pragmatische Dimension, die in der Forschung noch nicht berücksichtigt ist. Fundiert wird dieser pragmatische Zugang mit Blick auf Romain Rollands Le Quatorze Juillet (1902/1936), das im Zentrum der folgenden Ausführungen steht. Als einziges Theaterprojekt des Front populaire an dem Auric als Komponist mitwirkte, ist es sowohl hinsichtlich ästhetischer Implikationen als auch mit Blick auf die kulturgeschichtliche Einordnung des Komponisten relevant.

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Die Engführung der Rezeptionsgeschichte mit einer Analyse von Aurics Beitrag Le Palais Royal dient anschließend neben der Herausarbeitung möglicher Kompositionsstrategien auch der Erörterung des Arbeitsprozesses an dem Gemeinschaftsprojekt, der vor allem den Aspekt des Kollektiven in Bezug zur Ideologie des Front populaire setzt und Rückschlüsse auf Aurics Forderung nach einer Musik „pour le grand public“ erlaubt. Die Perspektivierung von Projekten, die nicht in einem direkten Bezug zum Front populaire stehen, erfolgt durch die Fokussierung auf die Filme, an denen Auric zwischen 1934 und 1938 mitwirkte. Die Rekonstruktion struktureller Veränderungen im Filmbetrieb erfolgt im fünften Kapitel, um den Komponisten innerhalb der Filmwelt verorten zu können. Dabei wird die Perspektive der Filmemacher mit der Sichtweise der Filmmusikkomponisten gekoppelt. Auf diese Weise kann auch das komplexe Gefüge der Filmindustrie als struktureller Rahmen der französischen Filmwelt der 1930er Jahre näher beleuchtet werden. Anhand der Filmmusiken zu Lac aux dames (1934) und Entrée des artistes (1938) werden abschließend dominante ästhetische Ideale und theoretische Konzepte des Filmdiskurses hinsichtlich ihrer Übertragung in eine als spezifisch angenommene Filmsprache reflektiert. Die Wahl dieser beiden Beispiele erfolgte aufgrund des jeweiligen Produktionskontextes. Beide Filmmusiken sind Resultate aus Aurics fruchtbarster Kooperation der 1930er Jahre: seiner Zusammenarbeit mit dem Regisseur Marc Allégret. Ferner steht mit Lac aux dames ein Film zur Disposition, der Attribute einer Filmsprache vorweg nimmt, die wenige Jahre später zum Aushängeschild der ‚jungen französischen Schule‘ werden sollte und die sich insbesondere auch im Einsatz der Filmmusik zeigt. Trotz seiner ungewöhnlichen Gestaltung war der Film ein absoluter Publikumserfolg. Den Ursachen für die positive Evaluierung durch die Zeitgenossen auf den Grund zu gehen und die Auswirkungen für die Entwicklung einer Film(musik)ästhetik zu rekonstruieren, die unter dem Schlagwort des Poetischen Realismus auch die Retrospektive auf die 1930er Jahre der Filmgeschichte bis heute dominiert, ist Aufgabe und Ziel dieses Teils der Studie. Daran anschließend steht die Ausdifferenzierung eines filmtheoretischen Realismus-Konzepts und die Gegenüberstellung zu den Idealen des Front populaire im Vordergrund. Die ästhetische Programmatik wird am Beispiel von Entrée des artistes veranschaulicht und auf ihr Potential hinsichtlich der auditiven Ebene des Films befragt. Der beschließende Epilog greift das Spannungsfeld von Ästhetik und Historik auf, indem er sukzessive zum Ausgangspunkt zurückführt und die Konsequenzen einer ganzheitlichen Musikgeschichtsschreibung und deren Potential am Beispiel von Auric aufzeigt.

I. WEGE ZUM FILM (1930–1933) 1. COCTEAU, LES SIX UND GEORGES AURIC Als Widmungsträger von Jean Cocteaus Le coq et l’arlequin wurde Auric von dem selbsternannten spirituellen Führer der Six (Cocteau) schnell als Personifikation von dessen ideologischem Dogma inszeniert – genauso wie dieser auch Erik Satie zum Prototypen seines Ideals einer genuin französischen Musik stilisierte.1 Gleichzeitig war er in der surrealistischen Bewegung um André Breton aktiv, schon bevor diese sich als Surrealisten in der Öffentlichkeit formieren sollten. Die Offenheit gegenüber unterschiedlichen Gruppierungen führt mitunter dazu, dass Aurics ästhetische Basis primär in der Heterogenität des Groupe des Six gesucht wird und je nachdem, welche Tendenz favorisiert werden will, mal der eine, mal der andere Schwerpunkt ins Licht rückt.2 Sinnvoller als die Spuren einer vermeintlichen Ästhetik zu verfolgen und die Diversität der Ansätze zu unterschlagen, die sich bei dieser Spurensuche herauskristallisieren, scheint es, sich mit möglichen Ursachen dieser Vielfalt und Diskrepanzen auseinanderzusetzen. Das Panorama, das sich auf diese Weise skizzieren lässt, zeigt, dass für eine ästhetische Verortung ein In-Beziehung-Setzen des Komponisten zu seiner Zeit notwendig ist. Hieraus ergibt sich, dass die vielfältigen und zum Teil widersprüchlichen Bezüge durch den Umstand bedingt sind, dass Auric sowohl mit der ‚alten‘ als auch mit der ‚neuen‘ Welt vertraut war und sich die Komplexe Tradition/Innovation, national/universal nicht etwa ausschließen, sondern koexistieren und sich alle Bestandteile zu jeder Zeit dynamisch zueinander verhalten. ‚Alt‘ und ‚neu‘ werden in der ästhetischen Debatte, die Auric führte, vor allem durch die drei Themenfelder Esprit nouveau, Surrealismus und die Diskussion des Klassischen umfasst. Deutlich wird, dass Aurics Zugang mehr von der Auseinandersetzung mit diesen Bereichen geprägt war, als von der Aneignung der ihnen inhärenten Ideologien. Inwiefern hieran eine ästhetische Haltung des Komponisten abgelesen werden kann, bleibt offen zugunsten einer Perspektivierung, die darauf abzielt, die Auseinandersetzung an sich bereits als ästhetisches Konzept zu begreifen.

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Léon Bloy führte Auric in jene Kreise ein. Auric kannte den Schriftsteller durch Ricardo Viñes. Anne Liebe arbeitet in ihrem Artikel insbesondere die Konfrontation von Cocteau und den Surrealisten heraus, die sich bei André Breton zur Ablehnung aller Personen steigerte, die sich um Cocteau gruppierten (beispielsweise Satie oder die Six). Vgl. Anne Liebe, Der Surrealismus und die Musik, S. 138.

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I. Wege zum Film (1930–1933)

2. APOLLINAIRES ESPRIT NOUVEAU Am 26. November 1917 hielt Guillaume Apollinaire im Théâtre du Vieux-Colombier seinen Vortrag L’esprit nouveau et les poètes.3 Das Publikum bestand aus Pariser Intellektuellen und Bewunderern des Dichters, darunter André Breton und Louis Aragon. Auch Auric zählte zu den Zuhörern; seit er Apollinaire nach dessen Rückkehr von der Front 1916 kennengelernt hatte, assistierte er ihm bei dessen Vorträgen.4 In seinen Memoiren Quand j’étais là bemerkt Auric in Bezug auf den von Apollinaire ausgerufenen Esprit nouveau: „Tout l’avenir était là et c’est Apollinaire, au sein du présent que nous étions en train de vivre, qui ouvrait l’avenir et celui-là même du surréalisme […] en même temps je prolongeais mon approche de ‚l’Esprit nouveau‘.“5

Diese Bemerkungen zum ‚neuen Geist‘ zeigen, dass Apollinaire mit seinem Vortrag einen Emanzipationsprozess in Gang setzte, der es den Nouveaux jeunes6 erlaubte, unter dem Deckmantel des Esprit nouveau ein Kunstverständnis auszuprägen, das sich dem etablierten Kunstbetrieb sowie den unterschiedlichen polarisierenden ,Schulen‘ entzog und die Stoßrichtung vorgab, die nicht nur die literarische Welt nachhaltig verändern, sondern schon wenig später in der Bewegung der Surrealisten um André Breton auf die breite Öffentlichkeit wirken sollte. Vier Jahre später ging Satie in seinem Vortrag über die ‚Six‘ (1921) dezidiert auf Apollinaires Ausführungen ein, indem er auf die ästhetische Zugehörigkeit der Six zum Esprit nouveau Apollinaires verwies.7 Diese Zugehörigkeit gelte, so Satie, allerdings nicht für alle, sondern nur für Auric, Poulenc und Milhaud, die in ihren Werken das realisieren, was der Esprit nouveau primär bedeute: „eine Rückkehr zur klassischen Form – mit einer modernen Empfindung.“8 Diese moderne Empfindung beinhaltet das, was Apollinaire als „die stärkste neue Triebfeder“ bezeichnete: die Überraschung.9 Diese Überraschung äußere sich, so Satie, bei den drei Komponisten in deren Spontaneität, schöpferischer Kraft und Kühnheit.10 Indem sie die Existenz des Neuen aus dem Geist der Überraschung 3

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Erstmals abgedruckt wurde der Vortrag im Mercure de France am 1. Dezember 1918. Im Folgenden wird sowohl die Version benutzt, die in der kritischen Ausgabe der Schriften von Pierre Caizergues und Michel Décaudin enthalten ist als auch die deutsche Übersetzung von Marie Philippe und Hermann Dommel. Vgl. Jeremy Drake, Georges Auric et les écrivains, S. 30 f. Georges Auric, Quand j’étais là, S. 93 f. Die Bezeichnung Les Nouveaux jeunes prägte Satie. Hierunter firmierten seit dem ersten gemeinsamen Konzert am 6. Juni 1917 sowohl einige Mitglieder des späteren Groupe des Six als auch einige Künstler und Literaten wie Blaise Cendrars oder Guillaume Apollinaire, die dem Umfeld von Parade nahestanden. Vgl. Nancy Perloff, Art and the Everyday, S. 2 f. „In ihrer Ästhetik gehören die ‚Six‘ dem ‚Esprit Nouveau‘ an. Aber nur einige der ‚Six‘, nicht alle.“ Erik Satie, Vortrag über die ‚Six‘, S. 291. Ebd., S. 292. Satie weist die übrigen drei (Durey, Honegger und Tailleferre) als „reine Impressionisten“ aus, weil diese sich um die „Konventionen der Schule“ sorgten und um „erprobte harmonische Formen“. Ebd., S. 293. Guillaume Apollinaire, Der neue Geist, S. 83. Vgl. Erik Satie, Vortrag über die ‚Six‘, S. 293.

2. Apollinaires Esprit nouveau

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beschwört, ebnet Apollinaires Ästhetik der ideellen Grundhaltung der Six den Weg, denn das Neue könne, so Apollinaire, existieren, „ohne ein Fortschritt zu sein.“11 Diese Perspektive deckt sich mit einem Aspekt von Aurics musikalischem Schaffen und widerspiegelt zugleich das skizzierte historische Panorama: die Hinwendung zu neuen medialen und künstlerischen Formen, ohne jedoch zwangsläufig bereits vorhandene Kompositionsstrategien negieren zu wollen. Damit reagieren die Six bereits auf die strukturellen und materiellen Veränderungen und Erweiterungen innerhalb der Gesellschaft, reflektieren jene Verbindungen gleichermaßen im eigenen Schaffen und machen sie in einem weiteren Kontext nutzbar. Hier artikuliert sich zweifellos auch die Ambiguität, die charakteristisch für diese junge Generation ist: Im Umgang mit Tradition und Innovation, Nationalismus und Universalismus scheint eine Haltung auf, die sich dadurch auszeichnet, dass sie den Werken der Älteren ebenso wie Werken einer neuen Zeit sowohl mit Wohlwollen als auch mit Abneigung begegnen.12 Daneben sind viele Komponisten innovativen Kompositionsformen und -techniken gegenüber aufgeschlossen, wenngleich diese Aufgeschlossenheit im Zwiespalt steht zu der Forderung einer national-spezifizierenden Kunst. Diese Mehrdeutigkeit weist zum einen darauf hin, dass das Bild, welches Cocteau und Henri Collet von den Six zeichneten und das sich als vorherrschendes Bild in der Musikgeschichte etabliert hat, brüchig ist und einer neuerlichen Betrachtung bedarf. Zum anderen tritt die ästhetische Diversität der jungen Komponisten zu Tage und in diesem Zusammenhang schließlich auch ihr spezifisch anderes Verständnis von Nationalismus, das sich von dem der vorherigen Generationen abhebt. Wenn Satie 1921 die drei Komponisten Auric, Milhaud und Poulenc in die Nähe der Ästhetik des Esprit nouveau rückt, so geschieht dies noch aus einer anderen Intention, die auch die Teilung der Gruppe in die beiden Dreiergrüppchen Impressionisten und Neu-Geistige erklären kann. Satie hielt seinen Vortrag über die ‚Six‘ drei Jahre nach der Veröffentlichung von Cocteaus Pamphlet Le coq et l’arlequin und vier Jahre nach der skandalösen Uraufführung von Parade. In dem Programmheft beschrieb Apollinaire das Ballet-réaliste unter dem Titel Parade et l’esprit nouveau als „eine Art Sur-Realismus“13 und stellte das Potential für die Manifestationen des Neuen Geistes heraus, den er in jenem Stück vergegenwärtigt sah.14 11

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Guillaume Apollinaire, Der neue Geist, S. 82. Den Begriff des Fortschritts verstand Apollinaire in diesem Zusammenhang als Begriff des „ewigen Werdens“, den er als „Messianismus“ ablehnte und dessen Existenz er negierte. In einem anderen Verständnis, nämlich als Verbindungen des Menschen mit der Natur, aus denen dann „diese neuen Kunstwerke des Lebens“ entstehen, billigte er dem Fortschritt eine Existenz zu. Vgl. ebd. Laut Jens Rosteck teilten alle Six eine Begeisterung für den Wiener Schönberg-Kreis. Vgl. Jens Rosteck, Von „sinnlicher Süsse“ und „spröden Wundern“, S. 303 ff. Ornella Volta, Satie/Cocteau, S. 44. Als Esprit nouveau determinierte Apollinaire in seiner Programmnotiz die Verwendung innovativer musikalischer Technik in Verbindung mit aktuellen Strömungen der Malerei – hier mit dem Kubismus von Picasso – und ebnete Cocteaus Übertragung der Esprit nouveau-Ästhetik auf die Musik somit bereits den Weg. Vgl. Nancy Perloff, Art and the Everyday, S. 114 sowie Alan M. Gillmor, Erik Satie, S. 197 f. Die Idee des Neuen Geistes verkörperte vor allem das Tableau des Stücks, eine Gegenwart unter Berücksichtigung bereits vergangener Realitäten und scheinbaren Realitäten zeitgleich

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I. Wege zum Film (1930–1933)

Mit Parade entstand zudem eine Produktion, die erstmals eine neue Art der Verbindung unterschiedlicher Künste in einem Projekt realisierte. Im Gegensatz zum Gesamtkunstwerk wagnerscher Prägung wurde eine Ent-hierarchisierung aller beteiligten Disziplinen forciert. Durch die Zusammenarbeit voneinander unabhängiger Künstler entstand ein Kunstwerk, das als Synthese der Künste den Beginn eines neuen Kunstverständnisses markierte. Eben dieses begegnet schließlich auch in Saties Vortrag über die ‚Six‘: Indem er darauf hinweist, wie unterschiedlich die künstlerischen Charaktere seiner jungen Freunde seien, sie als „aus gegensätzlichen Temperamenten heraus geboren“15 beschreibt, greift er jenes Gedankengut auf und propagiert es dadurch, dass er die Gruppierung als „praktische Verwirklichung eines aufrechten freien Denkens unter Künstlern – unter wahrhaft unabhängigen Künstlern“16 charakterisiert, deren Impetus „die stille Anerkennung der Ausdrucksfreiheit für alle“17 sei. Damit festigt er die Verknüpfung der Six mit der Ästhetik des Esprit nouveau (und dessen Ursprung in der Produktion von Parade). Mit der Betonung eines Kollektivgedankens, der dem Einzelnen Freiheit im Denken und Individualität zugesteht und zugleich die Zeichen der Zeit anerkennt, stellt Satie eines der wesentlichen Merkmale von Apollinaires Ansatz heraus: die Verortung des Künstlers in der Welt als unbedingter Teil ebendieser. Dieser Ansatz findet seinen Niederschlag in der Aussage, die modernen Dichter seien „Schöpfer, Erfinder und Propheten“, die „verlangen, daß man prüft, was sie sagen zum höchsten Wohl der Gemeinschaft, zu der sie gehören“.18 Mit der Spaltung der Gruppe in die drei Impressionisten Durey, Honegger und Tailleferre und die anderen drei Komponisten, die der Ästhetik des Esprit nouveau zugedacht werden19, argumentiert Satie zugleich subtil gegen die zu jener Zeit vorherrschende Auffassung, die seien eine Komponistenschule, die eine ästhetische Auffassung teile und in direkter Nachfolge und Nachahmung ihrer kreativen Fürsprecher Cocteau und Satie stünde.20 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass er den Impressionismus nicht abwertet, sondern den Begriff direkt auf den ihm

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mit theatralen Mitteln abzubilden und somit die verschiedenen Zeitstränge parallel ablaufen zu lassen und zueinander in Beziehung zu setzen. Damit wird letztlich das scharfe Bild einer modernen Welt entworfen, die die reale Lebenswelt aller am Projekt Beteiligten abbildet – repräsentiert und nicht idealisiert. Erik Satie, Vortrag über die ‚Six‘, S. 293. Ebd. Ebd. Guillaume Apollinaire, Der neue Geist, S. 85. „Für mich bedeutet der Esprit nouveau vor allen Dingen eine Rückkehr zur klassischen Form – mit einer modernen Empfindung. Genau dieser Empfindung werden Sie bei einigen der ‚Six‘ begegnen. Georges Auric, Francis Poulenc, Darius Milhaud. Was die übrigen drei ‚Six‘ anbelangt, Louis Durey, Arthur Honegger, Germaine Tailleferre, das sind reine Impressionisten.“ Erik Satie, Vortrag über die ‚Six‘, S. 292. Saties Ablehnung jeglicher Schulbildung und seine Fürsprache für einen freiheitlichen Umgang mit Kunst wird deutlich in einer Stellungnahme zu Debussy von 1920: „I never attack Debussy. It’s only the Debussyites that annoy me. THERE IS NO SATIE SCHOOL. Satieism could never exist. I would oppose it. There must be no slavery in art. I have always tried to throw followers off the scent by both the form and content of each new work.“ Erik Satie, zit. nach Glenn Watkins, Soundings, S. 268 [Hervorhebungen im Original].

2. Apollinaires Esprit nouveau

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immanenten Gehalt anwendet und sich nicht auf die ästhetische Strömung bezieht, indem er konstatiert: „Daran [an der Zugehörigkeit von Durey, Honegger und Tailleferre zum Impressionismus] gibt es nichts auszusetzen. Ich selbst bin – vor dreißig Jahren – fürchterlich impressionistisch gewesen. Die moderne Empfindung war – damals – impressionistisch. Sie lebte von Impressionen.“21

Diese Aussage führt nicht nur die polarisierende Debatte um Impressionismus und Expressionismus ad absurdum, die in jenen Jahren noch immer geführt wurde, sondern verweist auch auf Cocteau und den von ihm konstruierten Typus eines ‚französischen‘ Komponisten, den er in Le coq et l’arlequin zur Gallionsfigur seines Ideals einer ‚französischen Musik‘ – einer Ars Gallica22 – erhob und zu dessen Prototyp er Satie machte. Cocteau wollte die französische Musik vor allem von dem Einfluss der deutschen Musik befreien. Dementsprechend sollten zunächst Vorbilder gefunden werden, die sowohl national als auch künstlerisch dem deutschen Bild entgegengesetzt waren.23 Im Laufe der Zeit kristallisierte sich neben der Gegenüberstellung der beiden Nationen eine weitere Dimension heraus: die Generierung eines neuen Musikideals, das sich gegen alle veralteten Formen und Ausdrücke richtete – konkret also gegen die romantische Musik, gegen Wagner sowie in genau demselben Maß gegen Debussy, der als Vertreter des Impressionismus einer modernen Musik ebenso im Weg stand wie Wagner ihm im Weg gestanden hatte. Wesentlich ist, dass sich die Kritik am Impressionismus und an der Musikästhetik Wagners nicht gegen die Werke der Komponisten richtete, sondern vor allem gegen die Schule machenden ästhetischen Konzepte, die der Erfolg nach sich zog. Insofern muss Cocteaus Absage an alles Veraltete eher als Absage an den französischen wagnérisme und in der 21 22

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Ebd. Ars Gallica meint eine genuin französische Kunst, die sich jeglichem fremden, insbesondere aber dem deutschen Einfluss versagt. Für die folgenden Ausführungen zu Cocteaus Ideal einer genuin französischen Musik und Saties Rolle in diesem Bezugssystem siehe auch Franziska Kollinger, Satie’s Parade (1917), S. 14 ff. Auch die Diskussion um Nationalismus und Universalismus, die Auric prägte, beinhaltete immer noch die Gegenüberstellung von Frankreich und Deutschland. Das Bedürfnis nach Abgrenzung gegenüber Deutschland steigerte sich mit dem aufkommenden Faschismus in den 1930er Jahren erneut. Die nationalistisch motivierten Ideale, die Apollinaire 1917 formulierte und die Cocteau ein Jahr später in Le coq et l’arlequin auf die Musik übertrug, entwickelten sich zu Beginn der 1930er Jahre unter der Flagge des Antifaschismus zu wirksamen Waffen gegen Nazi-Deutschland. Entsprechend wurden sie sowohl von linkspolitisch engagierten Intellektuellen und Künstlern als auch von primär nationalistischen und patriotischen Verfechtern der Republik ge- und benutzt. Vgl. Jane Fulcher, The Composer as Intellectual, S. 46 ff. Für eine detaillierte Darstellung der Ursachen einer Stilisierung der Kunst zur Ars Gallica siehe Geneviève Bernard-Krauss, Nationalismus und Internationalismus in Frankreich von 1870 bis zum zweiten Weltkrieg, in: Revista de Musicologìa 16/1 (1993). Zu den nationalistischen Tendenzen der Zeit siehe Romain Rolland, Die Erneuerung: Skizze über die musikalische Entwicklung in Paris seit 1870 (1925). Der Essay erschien in dem Band Musiker von heute (frz. 1908 unter dem Titel Musiciens d’aujourd’hui) zusammen mit Portraits verschiedener Musiker. Gemeinsam mit dem Beitrag Französische und deutsche Musik dokumentiert er kontemporäre Entwicklungen des Musiklebens in Frankreich und Deutschland.

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I. Wege zum Film (1930–1933)

Folge auch an den sogenannten debussyisme verstanden werden, und weniger als Kritik an den Kompositionen von Wagner und Debussy.24 Abgelehnt werden all jene, die den beiden Komponisten nacheifern und in Cocteaus Augen eine Kunst hervorbringen, die keinen Eigenwert mehr besitzt und den individuellen Charakter eines Kunstwerks hinter dem Modellcharakter der großen Vorbilder verschwinden lässt.25 Entsprechend war Satie für Cocteau aus zwei Gründen der ideale Repräsentant seiner Forderungen, weil er sich erstens bereits durch seine persönliche Biographie dem Vorwurf versagte, in der Folge einer Schule zu stehen und zweitens die Prämisse für Cocteaus Vorstellung einer neuen französischen Musik durch seine Reduktion der künstlerischen Mittel vordergründig erfüllte. Cocteau forderte eine Musik, die formbetont und schlicht ist. Das heißt, dass die harmonische Anlage auf der Melodielinie basiert und die Konstruktion der Musik – ihre geplante Form – Vorrang vor dem Assoziativ-Naturhaften hat. In dieser Gegenüberstellung von Harmonie und Melodie, von Konstruktion und Naturhaftigkeit zog Cocteau die Parallele zu aktuellen Entwicklungen in den bildenden Künsten und forderte mit der neuen Simplizität eine Abkehr von der Vorstellung einer Kunstreligion, wie sie von der vorherigen Generation intendiert wurde.26 In dieser Abkehr von der ‚hohen‘ Kunst findet sich die Rechtfertigung von Einfachheit und der Einbezug trivialer Musik als integraler Bestandteil von und in Musik. Theo Hirsbrunner argumentiert, dass dieses Hervorheben der ‚minderen‘ Kunst jedoch wiederum eine gängige Haltung der gesamten jungen französischen Generation gewesen sei und es bereits zu der Reduktion der künstlerischen Mittel gekommen war, die Cocteau 1918 forderte. Cocteau konstatiere „nur eine Tendenz, die längst die Oberhand gewonnen hatte“.27 Das Ideal einer Kunst um der Kunst willen (L’art pour l’art), wie sie die Symbolisten forderten, wurde abgelöst von einer ästhetischen Haltung, die sich dem Alltäglichen zuwenden wollte.28 Die Stilisierung von Satie durch Cocteau kann allerdings nicht auf musikalische Parameter in Saties Kompositionspraxis zurückgeführt werden. Vielmehr wird deutlich, dass Satie eher als Exempel denn als Prototyp für ein abstraktes Model diente, da er sich aufgrund seiner Individualität nicht zum Prototyp eignete. Für Cocteau stellte er den Idealtypus eines Komponisten dar, weil er ihn vielfältig stilisieren konnte und

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Der debussyisme wurde in Anlehnung an den Begriff wagnérisme geprägt, der die Begeisterung der Franzosen für die Werke des deutschen Komponisten ausdrückte. Gemeint ist aber vor allem das Nacheifern und Reproduzieren der musikalischen Eigenheiten und kompositorischen Techniken. Vgl. Martin Geck, Art. Wagner, Richard, in: MGG2, Sp. 345 f. Siehe zu Saties Bedeutung für Le Coq et l’arlequin insbesondere auch in Hinblick auf Parade Franziska Kollinger, Saties Parade (1917) als Entwurf einer neuen französischen Musik? in: AfMW 71/1 (2014). Vgl. Franziska Kollinger, Satie’s Parade (1917), S. 17. Theo Hirsbrunner, Die Musik in Frankreich im 20. Jahrhundert, S. 89. Franziska Kollinger, Satie’s Parade (1917), S. 17. Siehe außerdem zur Trivialmusik und zur Bedeutung von ‚trivial‘ im 19. Jahrhundert u. a. Carl Dahlhaus (Hg.), Studien zur Trivialmusik des 19. Jahrhundert, Regensburg 1967, darin ders., Trivialmusik und ästhetisches Urteil sowie Tibor Kneif, Das triviale Bewusstsein in der Musik.

2. Apollinaires Esprit nouveau

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ihn so facettenreich erscheinen ließ, dass sich unterschiedlichstes Publikum mit Satie – und damit wiederum mit Cocteau und seiner Haltung – identifizierte.29 In Hinblick auf die sechs Komponisten der Six setzt sich ein ähnliches Bild zusammen: Wie Jane Fulcher mit Bezug auf Robert Wohl herausstellt, gehörten sie einer Generation an, die sich in der Wahrnehmung des Krieges fundamental von der vorherigen unterschied: Der Krieg stellte für sie nicht mehr einen Anlass zur Bestätigung der existenten Kultur dar, sondern die Möglichkeit einen radikalen kulturellen Umschwung in Gang zu setzen, da sie in dem Bewusstsein lebten, dass sich die Welt, zu der sie nun gehören würden, in allen Facetten – kulturell, sozial und politisch – von der vorherigen unterscheiden sollte.30 Ebenso wie Satie lehnten sie primär die Einschränkungen ab, denen die Künstler während des Krieges unterworfen waren, und in der Folge die ästhetische Legitimierung spezifischer Parameter und Formate, die sich daraus ergaben. Aus diesem Sachverhalt resultiert die Vieldeutigkeit, die sich in Bezug auf das Verhältnis von Tradition und Innovation ergibt: abgelehnt wurde nicht etwa der Gebrauch traditioneller Formen und Techniken per se, stattdessen wurde eine andere Art der Verwendung jener Techniken forciert, die sie alle durch ihre musikalische Ausbildung in den dominierenden Institutionen vor dem Krieg erlangt hatten, konkret also: eine Verknüpfung jener traditionellen mit innovativen und populären Stilmitteln, mit denen sie sich ebenfalls identifizierten – als Verbindung und Öffnung der alten hin zur neuen Welt.31 Indem Satie in seinem Vortrag mit Blick auf die Six die Individualität des Einzelnen betont, verweist er direkt auf Cocteau und konterkariert den nationalen Ton in Le coq et l’arlequin, um zu verdeutlichen, dass das ‚Neue‘ weder national noch musikalisch konnotiert ist, sondern eine neue Sicht auf das Alte für einen neuen (Zeit-)Geist ausschlaggebend ist – und damit auch für den von Apollinaire formulierten Esprit nouveau. Dass Satie in seinem Vortrag über die ‚Six‘ nicht ein einziges Mal Cocteaus Namen erwähnt, unterfüttert die subtile Spitze, die Satie gegen Cocteau setzt, indem er die Ästhetik der Gruppe ausschließlich aus dem Gedanken von Apollinaires Esprit nouveau heraus argumentiert. Apollinaire, der zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben war, wird durch Satie zum „einzigen und wahren Begründer des Esprit nouveau“32. Deutlich wird, dass der Aspekt des Nationalen, der in Apollinaires Vortrag und in Cocteaus Schrift gleichermaßen hervortritt, die Entstehungszeit der Texte während und unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs dokumentiert.33 Dabei scheint vor allem ein Gesichtspunkt verantwortlich zu sein für die Argumentation der Verfasser: Die Betonung des Nationalen garantierte eine größere Aufmerksamkeit. Damit konnte der notwendige Bruch mit der Vergangenheit vollzogen werden, 29 30 31 32 33

Franziska Kollinger, Satie’s Parade (1917), S. 19. Vgl. Jane Fulcher, The Composer as Intellectual, S. 154. Vgl. ebd., S. 155. Ornella Volta, Satie/Cocteau, S. 47. Diese nationalistischen Äußerungen waren mitunter ausschlaggebend für die Kritik, die der Wortführer der Surrealisten und ehemalige Freund von Apollinaire, André Breton, an jenem Manifest übte. Breton verstand die von ihm geprägte Strömung des Surrealismus als internationale Bewegung, die nicht durch Ländergrenzen oder dergleichen beschränkt werden dürfe.

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I. Wege zum Film (1930–1933)

der aufgrund der Kriegsschrecken unabdingbar geworden war und die Notwendigkeit des Neuen legitimierte.34 Zugleich trug der Nationalismus, den Apollinaire seinem Esprit nouveau angedeihen ließ, multinationale Züge. Apollinaire stellt gleich zu Beginn heraus, dass Nationalität eine Grundvoraussetzung für Vielfalt sei, denn nur aus den ethnischen und nationalen Verschiedenheiten entstehe jene „varieté“ literarischer Ausdrucksweisen, die bewahrt werden müsse.35 Die Gültigkeit, die Apollinaires Ästhetik in den Zwischenkriegsjahren und darüber hinaus besaß, lässt sich letztlich aus deren immer noch währenden Aktualität erklären: Das Nationale als Mittel zum Zweck verliert an Gewicht zugunsten einer Betonung des Individuellen respektive der Ablehnung institutionsgebundener Komposition und der Verweigerung gegenüber jeglicher Form von Schulbildung oder musikalischer Vereinheitlichung. Diese Auffassung bildet sich in den multinationalen Künstlerkollektiven und -netzwerken ab und spannt den Bogen zu einer weiteren Sichtweise auf die Kunst, die sich insbesondere in multimedialen Projekten und Formaten abzeichnet und in den 1920er Jahren konzeptionell perfektioniert wurde beispielsweise durch die Einbeziehung neuer Technologien in die Kunstproduktion: die Auffassung von Kunst und Musik als Bestandteil des Lebens.36 Apollinaire wies bereits 1917 auf die tragende Bedeutung hin, die den neuen Techniken und medialen Neuerungen zukam und deutete diese positiv aus.37 Überdies veranschaulichte er unmissverständlich die Multiperspektivität seines Konzepts, indem er formulierte: „Der neue Geist ist vor allem ein Feind des Ästhetizismus, der Formeln und jedes Snobismus. Er kämpft für das klare Verstehen seiner Zeit und für die Eröffnung neuer Augenblicke auf das äußere und innere Universum […] Der neue Geist ist der Geist der Zeit selbst, in der wir leben. Einer an Überraschungen trächtigen Zeit. Der neue Geist wird sich voller Vehemenz in der Literatur, in der Kunst und in allen uns bekannten Dingen kundtun.“38

In dieser Multiperspektivität findet sich schließlich auch Aurics Auffassung von Kunst und Leben wieder: Erstens zeitigt sein eigenes Schaffen über seine gesamte Lebenszeit ein die Künste verbindender Impetus. Die Arbeit in zahlreichen Künstlerzirkeln und Kooperationen und die Wahl des hybriden Mediums Film erfolgte weder zufällig noch ausschließlich aus ökonomischen Gründen, sondern aufgrund des Bedürfnisses nach einer Kollaboration unterschiedlicher Beteiligter an einem Kunstprodukt und nach einem Zusammenwirken diverser Strömungen, um letztlich das bestmögliche Ergebnis für das entstehende Werk erzielen zu können. 34

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Jane Fulcher widmet ein Kapitel ihrer umfangreichen Studie Cocteaus Taktik, musikalische Neuerungen über nationale Argumente zu legitimieren. Vgl. Jane Fulcher, The Composer as Intellectual, S. 162–166. Zur Abkehr von den Kriegsschrecken und dem Bruch mit Vergangenem in den Künsten vgl. Nancy D. Hargrove, The Great Parade, S. 84. Vgl. Guillaume Apollinaire, Der neue Geist, S. 79. Diese Auffassung ist dem Ideal einer Kunst um der Kunst willen entgegengesetzt. In Parade wird diese Auffassung erstmals ausgedrückt. Nach dem Ersten Weltkrieg entstand als prominentes Beispiel Saties Musique d’ameublement (1917–1923) aber auch Filme wie Un chien Andalou (1929) oder Le sang d’un poète (1930) widerspiegeln dieses Ideal. Vgl. Guillaume Apollinaire, Der neue Geist, S. 78 f. sowie S. 87. Ebd., S. 87.

3. Esprit nouveau und Musik

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Zweitens entsprach der nationale Ton in Apollinaires Vortrag Aurics Auffassung, dass Künstler ebenso wie Dichter und Philosophen immer Ausdruck eines Milieus seien und sich somit auch die künstlerischen Werke erst durch eine distinkte Sprache akzentuieren ließen und ihre Struktur erlangen würden.39 Aurics enge Verbindung mit der Pariser Avantgarde der Zwischenkriegsjahre und insbesondere seine Beziehung zu Cocteau fundieren diese Vorstellung noch auf einer weiteren Ebene: Die Propagierung eines vermeintlichen französischen Charakters in der Kunst entsprang dem Bedürfnis, die Essenz einer französischen Tradition zu identifizieren. Diese Suche nach definierbaren Elementen des Traditionellen äußert sich beispielsweise in Aurics Auseinandersetzung mit dem nationalistischen Text Philosophie du goût musical, die der rechtspolitisch gesinnte Autor Pierre Lasserre veröffentlicht hatte. In seiner Diskussion des Textes konstatiert Auric, dass die ‚wahre‘ französische Tradition in der Musik nicht eindeutig zu definieren sei und widmet sich anschließend der Frage, warum sie in den Diskursen dennoch Fortbestand hätte.40 In dieser Argumentation zeigt sich, dass Auric – entgegen des Bildes, das durch Cocteaus Le coq et l’arlequin entstand – weder dem Dogma Cocteaus folgte, noch eine konträre und wiederum politisch aufgeladene ästhetische Position einnahm. Vielmehr wird deutlich, dass er sich primär mit unterschiedlichen intellektuellen Fragestellungen und ästhetischen Komplexen seiner Zeit auseinandersetzte, die durchaus komplementäre ideologische und ideelle Konzepte verfolgen durften und in ihrer Diversität die Vielgestaltigkeit seiner eigenen Lebenswelt reflektierten. Hieraus erklärt sich die Themenvielfalt seiner Schriften und die Offenheit im Umgang mit politisch und gesellschaftlich konträren Gruppierungen sowie die oftmals widersprüchlichen Aussagen zu einzelnen Fragestellungen. 3. ESPRIT NOUVEAU UND MUSIK Die Verbindung von Auric zur Ästhetik des von Apollinaire geprägten Esprit nouveau lässt sich auf einer historisch-theoretischen Ebene nachvollziehen. Ausgehend von der Annahme, Cocteau habe wesentliche Elemente von Apollinaires Modell auf die Musik übertragen, weil dies, wie Ornella Volta herausgearbeitet hat, das einzige Betätigungsfeld gewesen sei, das von Apollinaire vernachlässigt worden war41, und zusätzlich die Beziehungen zwischen Apollinaire und Auric sowie zwi39

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Zu Apollinaires Auffassung vgl. ebd., S. 79. Folgt man Colin Roust, zeigt sich diese Ansicht bereits zu Beginn des Ersten Weltkriegs unter anderem in einigen Briefen aus dem August des Jahres 1914, die Auric an seinen Freund Henri-Pierre Roché richtete. Diese ließen zudem eine idealisierte Sichtweise auf Nordamerika (und insbesondere auf New York) als dem gelobten Land offenbar werden. Vgl. Colin Roust, Sounding French, S. 21 f. Aurics Beziehung zu HenriPierre Roché, der Frankreich bereits 1916 verließ und in New York blieb, verdient noch eine nähere Aufarbeitung. [Die Briefe sind einsehbar im Harry Ransom Humanities Research Center der University of Texas, Austin, Carlton Lake Collection.] Vgl. Jane Fulcher, The Composer as Intellectual, S. 175. Ornella Volta, Satie/Cocteau, S. 50. Volta reflektiert in ihrer Arbeit die Gründe für diese Hinwendung zum musikalischen Milieu und erklärt sie unter anderem durch den Umstand, dass

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I. Wege zum Film (1930–1933)

schen Cocteau und Auric reflektierend, ergibt sich folgendes Bild: Cocteaus Gedanken zu einer französischen Musik, die einer unabhängigen (nicht-institutionsgebundenen) Ästhetik folgt und sich jeglichem fremden Einfluss versagt, lassen sich auf drei wesentliche Momente und deren Fürsprecher zurückbeziehen. Erstens Erik Satie, der als Pionier den anvisierten französischen Stil umsetzte und von der deutschen Romantik des 19. Jahrhunderts ebenso befreite wie von verklärenden impressionistischen und verstörenden expressionistischen Tönen. Zweitens Igor Stravinsky, der in jenen Jahren musikalisch genau das umsetzte, was Cocteau 1918 als Merkmale einer neuen französischen Musikästhetik klassifizieren sollte: Polytonalität und eine ausgeprägte Rhythmik im Sacre du Printemps (1913) sowie die Einbeziehung von Elementen aus dem Bereich der Unterhaltungsmusik, die Reduktion des Orchesterapparats sowie die Erweiterung des Tonraums und ein veränderter Umgang mit dem musikalischen Material in L’histoire du soldat (1917). Drittens Auric, der als Stellvertreter der jungen Generation zum Exempel statuiert wurde für eine Musik, die unter der Phrase „Musique à l’emporte-pièce“42 firmierte und mit der die lebhafte und ‚bissige‘ Musik gemeint war, die in den 1920er Jahren primär mit den Klängen der Industrialisierung und Technisierung der Lebenswelt assoziiert wurde. Diese ideologische Interpretation der in der Musik wirksamen Parameter durch Cocteau spiegelt vor allem die Verhältnismäßigkeiten innerhalb der kulturellen Landschaft Frankreichs nach dem ersten Weltkrieg wider.43 Cocteau selbst sagte sich 1929 von der Ästhetik der Six los. Unter dem Eindruck einer neuerlichen Be-

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Cocteau sich von Apollinaire in seinem eigenen Erfolg behindert sah, da Apollinaire vor und während des Ersten Weltkriegs die literarische und künstlerische Welt für sich einnahm. Dementsprechend musste er sich abgrenzen, um selbst in den Vordergrund treten zu können. Mit der Hinwendung zur Musik widmete sich Cocteau von nun an einem Bereich, den Apollinaire selbst nicht frequentierte und auch nicht frequentieren wollte. Auric fasste dies folgendermaßen zusammen: „Apollinaire, lui n’était pas musicien. Il était le premier à le reconnaître.“ Georges Auric, Quand j’étais là, S. 93. Paul Collaer, Darius Milhaud, S. 20. Die Phrase rekurriert auf das französische Wort emportepièce, das als Substantiv Ausstechformen und auch Stanzen bezeichnet. Louis Vauxcelles fasste die musikalische Gleichung der Six und deren vermeintlich anti-impressionistischen Charakter dementsprechend zusammen, indem er in der Zeitschrift Les feuilles libres feststellte, dass „Cocteau und die Six dem debussyistischen Wogen mit ihrer trockenen, konturenscharf gestanzten Musik widersprechen.“ Louis Vauxcelles, zit. nach Ornella Volta, Satie/Cocteau, S. 56. Bezeichnenderweise betitelte Germaine Tailleferre ihre Memoiren Mémoires à l’emporte-pièce (1974). Sie erschienen erst 1986 posthum in der Revue internationale de musique française. Auch Henri Collets Positionierung der Six als Gruppe trägt von Beginn an nationalistische Züge. Wie Robert Shapiro in seiner Monographie über Germaine Tailleferre herausarbeitet, verortet er die Six durch die Analogiebildung zu den sogenannten russischen Fünf dezidiert national: Er versetze dadurch „das Aufleben einer neuen und eigenständigen französischen Musik deutlich in das Feld des musikalischen Nationalismus“ und schlussfolgert: „In einem Land, das sich nach einer neu definierten Identität sehnte, wurde diese Vorstellung einer einzigartigen französischen Musik zu einem Lauffeuer, und diese Gruppierung auf dem Papier von fünf Männern und einer Frau wurde über Nacht zur Berühmtheit.“ Robert Shapiro, Germaine Tailleferre, S. 6, zit. nach Ursula Anders-Malvetti, Art. Germaine Tailleferre, in: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, o. S.

3. Esprit nouveau und Musik

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gegnung mit Stravinsky äußerte er auf der Jubiläumsfeier der Six im Théâtre des Champs-Élysées, dass man ihn zum Wortführer gemacht habe für eine Bewegung, die seiner eigenen ästhetischen Empfindung nicht entspräche. Zudem habe man ihn gezwungen „gegen meinen eigenen Geschmack anzukämpfen“, da sie ihm – zu Gunsten der Etablierung einer neuen ästhetischen Ordnung – abverlangte, „mich jener Atmosphäre der Erhabenheit zu enthalten, ohne die ich nicht leben kann“, denn „die ästhetische Erwiderung auf mein Verlangen war in Wahrheit L’histoire du soldat von Strawinsky.“44 Dass eine Aussage wie die „Atmosphäre der Erhabenheit“45 eher mit Attributen der Romantik assoziiert werden kann, L’histoire du soldat jedoch anti-romantisch konnotiert ist, spielte für Cocteau scheinbar keine Rolle. Vielmehr wird deutlich, dass er Stravinskys Kompositionen von den Entwicklungen nach dem Ersten Weltkrieg abgrenzt und letztlich eine zeitliche Zäsur vornimmt, die mehr vom Zeitgeschehen, denn durch musikalische Inhalte geprägt ist. Sowohl die ideologische Aufladung der Musik als auch ihre Verzweigung mit den kulturellen, sozialen und politischen Umständen der Zeit demonstriert die Vieldeutigkeit jener Epoche des Jahrhundertbeginns und der Zwischenkriegszeit, die sich in den Künsten durch eine Vielfalt an parallel existierenden und miteinander in den Dialog tretenden Kunstgattungen abzeichnete und Auric und seinen Zeitgenossen und Freunden, namentlich den Nouveaux jeunes und der sich daraus konstituierenden späteren Gruppe der Six eine derartige Fülle der Stilmittel, wie sie sich auch bei Auric darbietet, erst ermöglichte. Dass dabei eine Gleichsetzung von im Kunstwerk spürbaren Konsequenzen einer Ideologie und der ideologischen Positionen der Künstler selbst stattfindet, ist offensichtlich.46 Deutlich zeichnet sich in Aurics Kompositionen der 1930er Jahre eine betont antiromantische Attitüde ab, die vor allem in der Einwebung populärmusikalischer Elemente in massiv gearbeitete Tonsätze hörbar wird sowie in der formalen Anlage der Kompositionen, die eine Aneinanderreihung einzelner Bausteine gegenüber einer sich entwickelnden Struktur bevorzugen. Die dissonante Schärfung konventioneller (tonaler) Bestandteile ist ein weiteres Element, das sich sowohl in den Balletten als auch in der Instrumental- und Filmmusik beständig wiederfindet. Aus diesem Tableau musikalischer Parameter lässt sich ein wesentlicher kompositorischer Ansatz Aurics ableiten: die Verwendung musikhistorisch assoziierbarer Topoi, die aus ihrem angestammten Kontext gelöst und dergestalt abgewandelt sind, dass eine Zuordnung durch den Rezipienten nicht mehr erfolgen kann. Stattdessen werden die bekannten Formeln aus einer anderen Perspektive beleuchtet, präsentieren sich dem

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Vgl. Jean Cocteau, Conférence sur le groupe des Six, Erik Satie et Igor Strawinsky (Théâtre des Champs-Élysées, 11. Dezember 1929), zit. nach Ornella Volta, Satie/Cocteau, S. 77. Ebd. Ornella Volta weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass eine Erneuerung um die Jahrhundertwende nicht anders stattfinden konnte denn als kollektive Bewegung. Sie konstatiert, dass eine künstlerische Revolution nur als Ergebnis einer Bewegung vorstellbar war, die ein geistiges Oberhaupt / einen Theoretiker hatte, in dessen Gefolge die Künstler die jeweilige Ideologie umsetzten und vice versa. Vgl. Ornella Volta, Satie/Cocteau, S. 41 f.

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I. Wege zum Film (1930–1933)

Hörer aus einem verschobenen Blickwinkel und eröffnen damit schließlich einen anderen Kontext als den vormals etablierten.47 Dass Auric damit den Prämissen des Esprit nouveau folgt und auch noch die Technik der Montage und Collage voneinander unabhängiger Bausteine musikalischen Materials realisiert, wie sie von Satie ab den späten 1910er Jahren propagiert wurde, ist ersichtlich. Satie fasste den neuen Geist als „Rückkehr zur klassischen Form mit einer modernen Empfindung“48 zusammen – genau das setzt Auric mit der De-Konstruktion und Re-Kontextualisierung musikalischer Topoi in seinen Kompositionen um. Dabei teilen alle Werke eine kompositorische Voraussetzung: den Kontrast, dessen Prinzipien als Idee dem Werk vorangestellt sind. Diese Voraussetzung macht Aurics Vorliebe für Bühnen- und Filmmusik auf einer ästhetischen Ebene plausibel und kann die Vielfalt im Umgang mit dem musikalischen Material ordnen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Auric das Potenzial dieses Tableaus für den Film erkannte: Nicht nur die Montage der einzelnen Bilder zu einer dynamischen Bilderfolge, sondern insbesondere auch die Aneinanderreihung musikalischer Sujets, die autonom existieren und in der Zusammenschau den Soundtrack ergeben, dürften die Komposition eigenständiger musikalischer Bausteine befördert haben, die keines erzählenden, sich entwickelnden Gestus bedürfen und die Hörerwartung durch das bewusste Entlehnen tradierter Gewohnheiten irritieren. Dies spiegelt einen weiteren wesentlichen Gesichtspunkt der Ästhetik des neuen Geistes auf musikalischer Ebene: das Überraschungsmoment, das letztlich den Fortschrittsgedanken als einen Entwicklungsgedanken verneint. Diese Eigenschaft grenzt nach Apollinaire den Esprit nouveau von allen vorherigen literarischen und künstlerischen Bewegungen ab.49 In dieser Negation steckt vor allem die Verneinung gegenüber einer Gleichsetzung von Entwicklung und Fortschritt, der sich auch auf die Musik übertragen lässt. Als bewusste Verneinung eines Entwicklungsgedankens, der die musikalische Struktur bestimmt, lässt sich die Kürze als Merkmal vieler Stücke zu Beginn des 20. Jahrhunderts herausstellen.50 Außerdem die Bemühungen verschiedener Komponisten, die traditionellen Formschemata aufzubrechen, denen ein Entwicklungsgedanke inhärent ist und nicht zuletzt die Destruktion eines groß angelegten harmonischen Gefüges durch die Erweiterung des Tonraums. All diese kompositorischen Interpretamente finden sich in Aurics Werken: Für die Erweiterung des Tonraums kann stellvertretend die Klaviersonate F-Dur genannt werden, in den Calligrammes zeigt sich der Aspekt der Kürze am Deutlichsten. In den Filmmusiken werden schließlich alle Parameter aufgegriffen und darüber hinaus gänzlich neue (Bewegungs-)Strukturen und Materialien (Geräusche, Dialog und Musik) etabliert.

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Vgl. hierzu beispielsweise das Stück Le Palais Royal aus Le Quatorze Juillet von Romain Rolland (1931) oder die Sonate in G-Dur für Violine und Klavier (1936). Erik Satie, Vortrag über die ‚Six‘, S. 292. Vgl. Guillaume Apollinaire, Der neue Geist, S. 83. Zum Phänomen der Kürze in der Musik des 20. Jahrhunderts siehe beispielsweise Simon Obert, Musikalische Kürze zu Beginn des 20. Jahrhunderts (2008).

4. Die alten Medien und der Tonfilm

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4. DIE ALTEN MEDIEN UND DER TONFILM Aurics erste Filmmusik entstand zu Cocteaus Le sang d’un poète – jenem Film, der 1931 unmittelbar nach Luis Buñuels L’Âge d’Or (1930) produziert wurde und wie dieser von Charles und Marie de Noailles finanziert worden war.51 Hier lassen sich bereits wesentliche Zusammenhänge aufzeigen, die die Interpretation des Films und dessen Musik bis heute prägen: Das Entstehungsjahr verweist auf die Produktionsbedingungen auch hinsichtlich der akustischen Gestaltung. Der Film wurde weitgehend stumm gedreht, was primär auf die noch sehr begrenzten technischen Möglichkeiten zurückgeführt werden kann, die erst in den folgenden Jahren einen Quantensprung machen sollten.52 Ein weiterer Aspekt ist die Finanzierung durch einen (privaten) Mäzen. Dieser Gesichtspunkt bildet auch im Bereich des neuen Mediums Tonfilm noch jene Strukturen ab, die für die Theater-, Ballett- und Kunstproduktion einer vergangenen Epoche stehen. Nicht zuletzt sorgten die Noailles dafür, dass Le sang d’un poète erst im Januar 1932 öffentlich gezeigt wurde, obwohl der Film bereits im Vorjahr fertig war. Und auch inhaltlich nahmen sie Anpassungen vor: Nach einer privaten Sichtung kurz nach der Fertigstellung forderten sie von Cocteau, die Schlussszene komplett zu ersetzen. Die Gründe für das Intervenieren des Ehepaars waren rein privater Natur. Nachdem L’Âge d’Or Ende 1930 einen Skandal ausgelöst hatte und mit einem Aufführungsverbot belegt worden war, sollte eine erneute Provokation vermieden werden. In der Folge zogen sie Le sang d’un poète vorerst zurück. Diese Umstände bilden die Abhängigkeits- und Machtverhältnisse ab, denen auch experimentierfreudige Kreise wie jene um die Noailles, Buñuel oder Cocteau unterlagen. Ferner zeigen sie auf, dass auch im Bereich des neuen Mediums Tonfilm trotz aller Experimentierfreude der Fokus auf der Publikumsreaktion lag – sei es seitens der Geldgeber oder einer breiteren Öffentlichkeit. Letztlich ermöglichten jene Mechanismen die Instrumentalisierung der Werke im Sinne politischer Parteinahmen, wie sie nur wenige Jahre später auch in Frankreich mit der Kulturpolitik des Front populaire praktiziert werden sollte. Die von privaten Financiers dominierte Welt, wie sie sich noch bei Le sang d’un poète darstellte, wurde zunehmend abgelöst von einem Kulturbetrieb, der mehr und mehr von staatlichen Subventions- und Finanzierungsprogrammen durch51

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Das Entstehungsdatum divergiert in nahezu allen Quellen. Vielfach ist das Jahr 1930 angegeben, was jedoch unwahrscheinlich ist, da Cocteau mitunter vorgeworfen wurde, er habe sich an Buñuels L’âge d’Or orientiert, den er im Rahmen einer privaten Ausstrahlung bereits sehr früh gesehen haben soll. Auric selbst nennt in einem Interview mit Stéphane Audel aus dem Jahr 1955 ebenfalls ein späteres Datum, nämlich „zweifellos“ das Jahr 1931 und spricht von mehreren privaten Aufführungen. Die große öffentliche Vorführung fand schließlich im Rahmen einer Gala am 20. Januar 1932 im Théâtre du Vieux-Colombier statt. Vgl. Georges Auric, zit. nach Malou Haine, Quatre entretiens inédits III, S. 36. Die qualitative Beschränkung der tontechnischen Möglichkeiten schlug sich ab Ende der 1920er Jahre insbesondere in der öffentlich geführten Debatte um Stumm- und Tonfilm nieder, und damit zusammenhängend in der Diskussion um Theater und Film, die vor allem auf eine Hierarchisierung der beiden Medien fokussiert war und Rekurse des Films auf das Theater vor allem hinsichtlich der Techniken und Inhalte betonte.

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I. Wege zum Film (1930–1933)

setzt war. Im Bereich des Films dominierte die rasch wachsende Zahl an Produktionsfirmen, die zu Beginn der 1930er Jahre noch primär an der technischen Weiterentwicklung des Tons interessiert waren und national wie auch international agierten.53 Diese Verschiebung von der privaten in eine zunehmend öffentliche ökonomische Sphäre wirkte sich notwendigerweise auch auf die Produktionen selbst aus. Gedreht wurde, was finanziert werden wollte – das, wonach die Masse, das Publikum verlangte. Experimentellere Filme, zu denen auch Le sang d’un poète und L’Âge d’Or gezählt werden können, wurden im Laufe der 1930er Jahre zunehmend durch Filme ersetzt, die einen größeren Rezipientenkreis anzogen. Das verweist zunächst auf einen wesentlichen Unterschied von Theater-, Ballett- und Tonfilmproduktionen. Während die Bühnen zu Beginn der 1930er Jahre noch primär ihren Status erhalten wollten, wurde der Tonfilm bereits von Anfang an dazu genutzt, ein breites Publikum anzusprechen – sowohl über soziale und gesellschaftliche als auch über regionale Grenzen hinweg. Die Affinität anderer Künste zum Medium Film kann entgegen vieler Darstellungen in der Forschungsliteratur zur Frühzeit des Films in Frankreich nicht abgestritten werden.54 Wenn Sabine Lenk etwa noch 1989 in Bezug auf den Stummfilm eine ,gefühlte Konkurrenz‘ der alten Medien mit dem Film sieht55 und in der Rede von der Konkurrenz das Hauptargument gegen ein Medium ausmacht, das sich schnell ein breites Publikum erschloss und Jean Kiehl 1951 jene Diskursivierung auch mit der Entwicklung des Tonfilms fortgesetzt sieht56, gerät ein Moment in Vergessenheit, das gerade die Entwicklung des französischen Films der 1930er Jahre wenn nicht gestaltete, so doch erheblich prägte: das Interesse französischer Künstler und Intellektueller am Kino, das seit der Frühzeit des Films nachgezeichnet werden kann und auch dem Tonfilm schon früh zu Prestige verhalf.57 Auf ästhetischer und struktureller Ebene lassen sich entsprechend ähnliche Tendenzen in allen Bereichen feststellen, die spätestens Mitte der 1930er Jahre in die umfassenden 53

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Ein Beispiel für die Entwicklung dieser bis heute gültigen ökonomischen Strukturen des Filmmarktes ist die deutsche Filmverleih- und Vertriebsgesellschaft Tobis, die primär ihre neue Technik zur Tonaufzeichnung und -synchronisation gewinnbringend vermarkten wollte. Bereits zu Beginn der 1930er Jahre gestaltete sie von Deutschland ausgehend auch den französischen Markt durch zahlreiche Produktionen. Die Monopolisierung der Branche durch wenige große Konzerne war in der Anfangszeit des Tonfilms noch nicht geschehen. Speziell in Frankreich koexistierten zahlreiche kleine Produktionsfirmen, die ausreichend Spielraum boten, mit dem neuen Medium zu experimentieren. Entsprechend vielfältig sind die Resultate im Bereich des Films in jenen Jahren. Siehe zur Diskussion über die Beziehungen von Film, Theater und Literatur in Frankreich und deren historischer Verortung Dirk Naguschewski / Sabine Schrader (Hg.), Kontakte, Konvergenzen, Konkurrenzen. Film und Literatur in Frankreich nach 1945 (2009). Vgl. Sabine Lenk, Théâtre contre Cinéma, Die Diskussion um Kino und Theater vor dem Ersten Weltkrieg in Frankreich (1989). Vgl. Jean Kiehl, Les ennemis du théâtre. Essai sur les rapports du théâtre avec le cinéma et la littérature, 1914–1939 (1951). Vgl. Dirk Naguschewski / Sabine Schrader (Hg.), Kontakte, Konvergenzen, Konkurrenzen, S. 8.

4. Die alten Medien und der Tonfilm

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Reformbestrebungen des Front populaire münden und die alten Medien ebenso wie den Tonfilm nachhaltig prägen sollten.58 In den Debatten der einzelnen Kunstformen zeigt sich ein erstaunlich einvernehmliches Bild, das sich programmatisch zusammenfassen lässt: Strukturell wurde eine dezentralisierte Ausrichtung des Kulturbetriebs angestrebt, was sich beispielsweise in den Tourneen von Ensembles wie den Ballets Russes de Monte Carlo59 ausdrückte, aber auch in dem Verlassen der Theater- und Konzerträume, wie es die Agritprop-Truppe Groupe Octobre60 praktizierte; weiters in der Erschaffung neuer Aufführungsorte in der Provinz. Inhaltlich lässt sich auch zu Beginn des neuen Jahrzehnts vermehrt eine Bezugnahme auf klassische Stoffe, Themen und Motive erkennen. Der Rückgriff auf antike Mythen sollte dabei jedoch nicht ein Abbild der jeweiligen Vorlage hervorbringen, sondern diese grundlegend neu interpretieren. Le sang d’un poète ist ein Beispiel für diese Tendenz. Als erster Teil von Cocteaus Orpheus-Trilogie zeigt der Film einen individuellen Zugang zum und Umgang mit der Sage von Orpheus und Eurydike.61 Eine weitere Tendenz ist die Hinwendung zum Fantastischen oder Grotesken, um Gedanken und Gefühle zu übermitteln. Alle Punkte zielen auf eine Erneuerung ab, die aufgrund der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen sowie politischen Lage unabdingbar geworden war. Bemerkenswert ist, dass sich alle genannten Forderungen auch in der Musikwelt jener Jahre erkennen lassen – und zwar in den Strömungen, die unter den eingangs erwähnten Schlagworten Esprit nouveau, Surrealismus und (Neo-)Klassizismus firmierten. Deutlich wird nun, dass diese Begriffe nicht im Bereich ästhetischer Ideen angesiedelt sind. Vielmehr entwickelten sie sich aus einem gesellschaftlichen und politischen Impetus heraus zu Schlagworten für die Forderung nach einer Neuordnung der musikalischen Welt. Jens Rosteck erkennt in diesen Tendenzen den „essentiellen Paradigmenwechsel“62 des frühen 20. Jahrhunderts: das Infragestellen des Werkcharakters. Dieses Infragestellen bezieht sich sowohl auf tradierte Werkvorstellungen als auch auf den Werkbegriff selbst und wirkt sich auf das Selbstverständnis der Komponis58 59

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Zur Entwicklung des französischen Theaters in der Zwischenkriegszeit siehe beispielsweise David Bradby, Modern French Drama, S. 1–15. Die Schreibweise im Plural widerspiegelt die Nähe zu Serge Diaghilevs Ballets Russes. Mit Léonide Massine, der die künstlerische Leitung 1938 übernahm, wendete das Ensemble den Namen ins Singular zu Ballet Russe de Monte Carlo. Daneben sind weitere Variationen des Namens gebräuchlich wie Original Ballet Russe oder Ballets Russes de Colonel de Basil. Siehe zur Geschichte und Namensgebung beispielsweise Vicente García-Márquez, The Ballets Russes: Colonel de Basil’s Ballets Russes de Monte Carlo 1932–1952, New York 1990. Der Groupe Octobre formierte sich 1930 um Jacques Prévert und wurde gefördert von der Fédération du théâtre ouvrier de France (FTOF). Das Konzept, ein Theater außerhalb institutionalisierter Theaterräume zu schaffen, fiel unter dem Front populaire der Forderung nach Kultur für die Massen zum Opfer. Die damit verbundenen groß angelegten Produktionen sollten die Einheit und Geschlossenheit der Gesellschaft demonstrieren. Vgl. David Bradby, Modern French Drama, S. 11 f. Die beiden anderen Teile sind Orphée (Frankreich 1950) und Le Testament d’Orphée (Frankreich 1960). Auch für diese beiden Filme komponierte Auric die Musik. Jens Rosteck, Art. Ibert, Jacques, in: MGG2, Sp. 589; ders., Art. Schmitt, Florent, in: MGG2, Sp. 1468.

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I. Wege zum Film (1930–1933)

ten aus. Auch wenn Rostecks Ausführungen relativ allgemein gehalten sind und beispielsweise die Dimension der Rezeption nicht berücksichtigen, so machen sie doch deutlich, dass die musikgeschichtliche Fokussierung auf die Komponistenpersönlichkeit spätestens für diesen Zeitpunkt an ihre Grenzen stoßen muss.63 Katja Bethe pflichtet Rostecks Einschätzung bei und konstatiert als Folge der Veränderungen eine Zunahme gemeinschaftlich komponierter Werke in Frankreich, die durch die Ablehnung eines „quasi-religiösen Charakters“ von Kunstwerken begünstigt wurden und einen eher handwerklich geprägten Komponistenbegriff forcierten.64 Auch wenn sich Bethe ausschließlich auf Bühnen- und Instrumentalmusik konzentriert und Filmmusik nicht berücksichtigt, lässt sich ein Aspekt ihrer Argumentation auch direkt auf die Komposition von Tonfilmmusik übertragen: die Dimension des Nutzbarmachens musikalischen Materials. Die Betonung der Funktionalität von Musik resultiert aus der veränderten Vorstellung des Komponisten, der nicht mehr als individuelles Genie wahrgenommen werden will, das Kraft seiner Inspiration Kunst-Werte erschafft. Damit ist die Basis für filmisches Komponieren gleich auf zwei Ebenen angelegt. Erstens auf der musikalischen Ebene, die im Bereich der Tonfilmkomposition in jenen Jahren von einem veränderten Umgang der Komponisten mit dem musikalischen Material geprägt ist, was sich in den verschiedenen Kompositionstechniken zeigt: die Montage und Collage heterogener Elemente, die keine Entwicklung forcieren und insofern eine Aneinanderreihung einzelner kurzer Elemente ermöglichen. Ebenso die Verfremdungstechniken, die sich beispielsweise in der Weiterverarbeitung und Verfremdung von Stilen vergangener Epochen darstellen und aufzeigen, dass Musik nutzbar und damit ent-wertet/ent-hierarchisiert werden kann. Zweitens auf der Produktionsebene, auf der die Entstehung des Tonfilms als kollektiver Prozess aller Beteiligter begriffen wird. Das entspricht dem ‚neuen‘ Werkbegriff und beeinflusst auch das Selbstverständnis der Komponisten in Bezug auf die Komposition von Filmmusik positiv. Somit ist ein Resultat des von Rosteck aufgezeigten Paradigmenwechsels die Hinwendung und Öffnung der musikalischen Welt hin zur Filmmusik. 63

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Siehe zu einer dezidierten Auseinandersetzung mit dem Phänomen und seinen Auswirkungen bezogen auf den deutschsprachigen Raum Nils Grosch, Die Musik der Neuen Sachlichkeit (1999). Groschs Einschätzungen und Ergebnisse lassen sich auch auf Frankreich übertragen, wo sie zudem umfassender, für den Großteil der musikalischen Welt, Geltung beanspruchen können. Vgl. Katja Bethe, Gemeinschaftliches Komponieren in Frankreich, S. 78 f. In Bethes Studie steht der Begriff der Kollektivkomposition im Zentrum, was die Fokussierung auf die Regierungszeit des Front populaire plausibel macht, da dieser kollektive Kunstprojekte explizit förderte. Allerdings bezieht sich die Autorin lediglich auf Bühnen- und Instrumentalwerke jener Jahre. Die Frage, warum es aus den Jahren zwischen 1930 und 1935 kaum gemeinschaftlich komponierte Werke gibt, vorher und nachher jedoch eine sehr große Anzahl, ließe sich auch mit dem Aufkommen des Tonfilms beantworten. Durch das Interesse vieler Komponisten am Film und an der Komposition von Filmmusik schwand zeitweise das Bedürfnis, die altbekannten Formate zu bedienen. Diese Argumentation setzt notwendigerweise einen Kollektivbegriff voraus, der etwas weiter gefasst ist und sich nicht nur auf Komponisten beschränkt. Das wiederum ist insbesondere im Zusammenhang mit einer Rückschau auf die 1920er Jahre legitim, da jene Gemeinschaftskompositionen vielfach als multimediale Kunstwerke in Szene gesetzt wurden und ein rein musikalisch erfahrbares Werk nicht zwangsläufig der Ausgangspunkt der Arbeiten war.

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5. LE SANG D’UN POÈTE (1930) Mit Le sang d’un poète liegt ein Film vor, der in vielerlei Hinsicht eine Sonderrolle einnimmt.65 Folgt man Aurics eigener Aussage in einem bisher wenig beachteten Interview, das er mit Stéphane Audel im Jahr 1955 führte, fragte Charles de Noailles den Komponisten während eines Aufenthalts in seinem Haus in Hyères, ob es nicht interessant für ihn wäre, gemeinsam mit seinem Freund Cocteau ein Werk für das Kino zu schreiben. Auric war begeistert und nahm das damit verbundene Finanzierungsangebot an: „[…] et le vicomte de Noailles m’a posé une question, il m’a dit, bien: ,Est-ce que ça ne vous intéresserait pas, avec votre ami Jean Cocteau, de tenter d’écrire pour le cinéma un ouvrage?‘ Et je dois vous dire que, spontanément, je lui ai répondu: ,Mais comment donc, et avec quelqu’un comme Cocteau, ça va être évidemment une aventure du plus grand intérêt‘.“66

Colin Roust und Robert Shapiro beziehen sich auf jeweils andere Quellen und erweitern diese Informationen um einen nicht unwesentlichen Punkt, nämlich, dass Auric gegenüber Charles de Noailles seinen Wunsch äußerte, Musik zu einem animierten Film komponieren zu wollen und nur mangels geeigneter und technisch versierter Mitarbeiter letztlich doch ein Realfilm entstanden sei.67 Folgt man wiederum Aurics eigenen Worten wird die Vorgeschichte noch um eine weitere Information bereichert, wenn Auric sein Gegenüber wissen lässt: „C’est dans ces conditions que nous avons écrit, Cocteau et moi, d’abord le scénario, et ensuite nous avons réalisé l’œuvre qui s’est appelée Le sang d’un poète.“68

Diese Aussage ist insbesondere für die Rekonstruktion des Arbeitsprozesses von Bedeutung und verschiebt die bisherige Einschätzung, die sowohl in den Arbeiten zu Cocteau als auch in den Reflexionen über Auric hervortritt. Indem Auric sich als aktiver Part in den Entstehungsprozess einbringt, wird die herkömmliche Lesart des

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Ursprünglich war der Film mit La vie d’un poète betitelt, wurde jedoch aufgrund eines gleichnamigen Werks von Gustave Charpentier umbenannt. Die 1913 an der Opéra comique uraufgeführte Oper Julien ou La Vie du poète basiert auf Charpentiers Symphonie La Vie du poète (1892). Der Filmtitel taucht in den Quellen sowohl als La Vie d’un poète auf als auch als La Vie du poète. Auric selbst benutzt stets La Vie d’un poète. Die deutsche Übersetzung des späteren Titels Das Blut eines Dichters verzerrt Cocteaus Benennung, da das französische poète nicht zwangsläufig mit dem deutschen Wort Dichter gleichzusetzen ist. Cocteau wies immer wieder darauf hin, dass in seinem Verständnis ein poète in verschiedenen Bereichen künstlerisch tätig sei und praktizierte diese universale Auffassung zeitlebens selber. In dieser Arbeit werden die Begriffe poète und Dichter synonym verwendet und folgen der cocteauschen Auffassung. Georges Auric, zit. nach Malou Haine, Quatre entretiens inédits III, S. 36. Der Film wurde von dem Mäzenenpaar mit einer Million Francs gefördert. Vgl. Colin Roust, Sounding French, S. 43; Robert Shapiro, Georges Auric, in: ders. (Hg.), Les Six, S. 128. Dass Auric zumindest in den 1930er Jahren ein großes Interesse daran hatte, für animierte Filme zu komponieren, geht auch aus seiner Zusammenarbeit mit Alexander Alexeieff und Claire Parker hervor. 1938 schrieb er die Musik zu zwei Kurzfilmen des Paares, Huilor und Les Oranges de Jaffa, die leider nicht mehr verfügbar sind. Vgl. Carl Schmidt, The Music of Georges Auric III, S. 845 f. Georges Auric, zit. nach Malou Haine, Quatre entretiens inédits III, S. 37.

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Films als cocteauscher Alleingang wiederlegt. Dies hat wiederum auch Auswirkungen auf die Einordnung von Aurics Komposition zum Film. Colin Roust stellt heraus, dass zu Beginn des Produktionsprozesses jene enge und gleichberechtigte Zusammenarbeit vorgeherrscht zu haben scheint, die Auric in seinen Stellungnahmen und Kritiken in den Zeitschriften Le Film und Les nouvelles littéraires bereits vor 1930 für den Film einforderte.69 Wie konkret seine Vorstellungen bezüglich eines gelungenen Arbeitsprozesses waren, geht aus einem Artikel für die Zeitschrift Marianne von 1935 hervor. Hier äußert sich der Komponist dezidiert zu Musik für den Tonfilm. Er kritisiert deutlich die Verwendung präexistenter Musiken, weil sie für ihn durch ihre Beliebigkeit kein adäquates Mittel zur Illustration der bewegten Bilder darstellen, sondern im Gegenteil das Geschehen auf der Leinwand zuweilen „absurde“ und „parfois pittoresque“ erscheinen lassen und oftmals von einer „qualité inévitablement douteuse“ seien.70 Diese Kritik macht deutlich, dass Auric für die Musik in dem neuen Medium Funktionsmöglichkeiten ausmachte, die jenseits von Stimmungserzeugung oder -verstärkung lagen. Er geht noch weiter, indem er konstatiert, „[…] ce qu’un spectateur de 1935 imaginera le plus difficilement, c’est la singulière atmosphère musicale dans laquelle nous allions si volupt[u]eusement nous plonger.“71

Damit verdeutlicht er sein Anliegen, dass Musik spezifisch zum Film komponiert werden solle. Gleichzeitig appelliert er an alle Filmschaffenden – und dazu zählt er auch den Komponisten von Filmmusik –, dass diese sich bewusst werden sollen, dass das Ergebnis eines gelungenen Zusammenspiels von Musik und Film nur aus der engen Zusammenarbeit aller am Film beteiligten ‚Handwerker‘72 resultieren könne: „Celle-ci, en effet, n’est-elle pas basée – pour finir en dénonçant le malentendu du cinéma sonore – sur la plus étroite collaboration des artisans d’un film. Ce miracle d’ingéniosité qu’est un dessin de Disney, il n’est pas interdit de le demander à tel excellent metteur en scène et à son ‚équipe‘.“73

Zum Vorbild deklariert er hier jene Zusammenarbeit, wie sie die Disney-Studios praktizierten. Auch in Bezug auf den Ton klingt die Faszination und Begeisterung für Cartoons an, wenn Auric ausführt: „Les Silly Symphonies, les commentaires de Mickey: voilà le plus authentique de ce qui nous a été présenté depuis l’invention du ‚sonore‘.“74 69

Roust bezieht sich hier auf insgesamt drei Artikel aus den 1910er und 1920er Jahren; insbesondere die Stellungnahme Aurics in der Umfrage der Zeitschrift Le Film aus dem Jahr 1919 liegt seinen Ausführungen zugrunde. Vgl. Colin Roust, ‚Say it with Georges Auric‘, S. 136. 70 Vgl. Georges Auric, La Musique au cinéma (1935), zit. nach Carl Schmidt, Écrits/Writings II, S. 540. 71 Ebd. 72 Die deutsche Übersetzung ,Handwerker‘ greift zu kurz. Etwas prägnanter wäre der Begriff ‚Kunsthandwerker‘, wobei hier das Mechanische und Funktionale, das dem französischen artisan auch innewohnt, nicht eindeutig zum Ausdruck kommt. 73 Ebd., S. 542. 74 Ebd. Der Einfluss von Cartoons auf die Intellektuellen der Zeit war immens, da sie von der totalen Freiheit der Vorstellungen fasziniert waren. Wie Michel Chion herausstellt, ist in den

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und im weiteren Verlauf für die Übertragung der Technik der animierten Filme auf Realfilme plädiert, indem er am Beispiel von Les Joyeux Garçons (1934) herausstellt, dass dies freiwillig oder unfreiwillig bereits geschehen sei: „Et si certains films comme Les Joyeux Garçons, qu’on peut voir en ce moment, retiennent par moments le musicien, c’est qu’ils empruntent alors – volontairement ou involontairement – à la technique du dessin animé.“75

Aurics Aussagen widersprechen sich insofern, als dass er sich auf der einen Seite gegen die Verwendung präexistenter Musik im Film ausspricht, auf der anderen Seite jedoch ausgerechnet Vorbilder wählt, die explizit mit präexistenten Musiken arbeiten – nämlich die Silly Symphonies (1929–1939) und andere Cartoons jener Jahre. Dieser Widerspruch veranschaulicht die Reichweite der Debatte um Tonund Stummfilm: Auric kritisiert die Verwendung jener Musiken in der Art und Weise, wie sie für den Stummfilm praktiziert wurde, da eine Interaktion von Musik und Bild dort nur bedingt stattfindet. Die Musik hat keine eigene Bedeutung im Zusammenspiel mit dem Geschehen auf der Leinwand, sondern dient der Untermalung der Bilder und dem Nachzeichnen der Handlung, was letztlich die Hierarchisierung von Bild und Ton zur Folge hat: Die Musik ist dem Bildgeschehen untergeordnet. In den Cartoons wird diese Hierarchie hingegen aufgehoben. Die Bilder folgen mitunter auch dem musikalischen Geschehen, sie erweitern die Musiksprache um die Bildsprache und generieren auf diese Weise eine Semantik, die sich gleichermaßen aus der visuellen und der auditiven Ebene speist.76 Schließlich geht er auf die wesentliche Rolle ein, die dem Produzenten bzw. der Produktionsfirma zukommt und verdeutlicht, dass ohne eine gelungene Kollaboration mit dieser Instanz ‚gar nichts‘ möglich sei: „il leur faut à leur tour la collaboration du ‚producteur‘, de la maison de production qui va ‚lancer‘ leur film. Sans cette collaboration rien n’est, hélas, possible.“77

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Cartoons der frühen 1930er Jahre wie Betty Boob, Looney Tunes oder Flip the Frog vor allem bemerkenswert, dass die Figuren auf allen möglichen Gegenständen musizieren, oder die Gegenstände selbst Musik machen, beispielsweise ein Gebiss, das als Klaviatur dient oder singende Pflanzen; die ganze Welt wurde zum Instrumentarium, um jeden und alles zum Tanzen zu bringen. Vgl. Michel Chion, Film, a Sound Art, S. 39. Zum Zusammenspiel von Bild und Ton in den frühen Cartoons siehe beispielsweise Saskia Jaszoltowski, Animierte Musik – Beseelte Zeichen. Tonspuren anthropomorpher Tiere in Animated Cartoons (2013); Daniel Goldmark, The Cartoon Music Book (2002); Irene Kletschke, Klangbilder: Walt Disneys „Fantasia“ (1940) (2011) sowie für einen Überblick über die Forschungsliteratur zu Zeichentrickfilmmusik insgesamt die Arbeitsbibliographie Musik im Animationsfilm, zusammengestellt von Hans J. Wulff und Ludger Kaczmarek [Stand: Januar 2016, online abrufbar unter http:// berichte.derwulff.de/0164_16.pdf (07.09.2018)]. Georges Auric, La Musique au cinéma (1935), zit. nach Carl Schmidt, Écrits/Writings II, S. 542. Mit der Technik des Mickey-Mousing wird das Leinwandgeschehen punktgenau von Musik begleitet. Die Exaktheit mit der die Musik die Bewegungen synchron nachzeichnet, hebt allerdings auch diese Technik, bei der die Musik dem Bild folgt, deutlich von der musikalischen Begleitung in den Stummfilmen ab. Georges Auric, La Musique au cinéma (1935), zit. nach Carl Schmidt, Écrits/Writings II, S. 542.

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Aus diesem Plädoyer für Filmmusik lassen sich wesentliche Bezüge zu Aurics Gedanken über Musik ableiten. Ausgangspunkt seiner Ausführungen ist die Forderung nach einer Musik, die konkret zum Film komponiert wird. Dieser Forderung liegt der Wunsch nach einer Auflösung von etablierten Strukturen und Hierarchien in der Musik zugrunde. Auric befürwortet die Funktionalisierung von Musik. Damit legitimiert er die Verwendung jedes musikalischen Materials und wirbt letztlich für ein ergebnisorientiertes Arbeiten, für das die Komponistenpersönlichkeit unerheblich ist. Anschließend propagiert er die enge und gleichberechtigte Kooperation aller am Film beteiligten Kräfte. An dieser Stelle bringt er einen Begriff ins Spiel, der den Ausgangspunkt seiner Argumentation widerspiegelt: den artisan. Folgt man der französischen Definition, ist ein artisan ein „I. Travailleur indépendant, qui justifie d’une qualification professionnelle et d’une immatriculation au répertoire des métiers pour l’exercice, à son propre compte, d’une activité manuelle. II. „Personne qui pratique un métier manuel selon des normes traditionnelles.“78

Zentral ist das handwerkliche und funktionale Moment, das in dem Begriff angelegt ist. Wesentlich ist auch die Abgrenzung zu ungelernten Kräften / einfachen Arbeitern, das mit der deutschen Qualifikation des Meisters übereinstimmt. Als zusätzlicher Punkt scheint die Betonung der Selbstständigkeit/Unabhängigkeit auf. Ein weiteres Merkmal ist der Bezug zur Tradition, mit dem hier vor allem erlernte und weitergegebene (Arbeits-)Techniken gemeint sind. All diese Bestandteile des Terminus reflektieren Aurics Nähe zu Apollinaires Esprit nouveau und verweisen auf das dort angelegte Modell eines neuen Verständnisses von Kunst und Künstler.79 Auch die intensive Auseinandersetzung des Komponisten mit der Produktionsweise und Technik von animierten Cartoons geht aus dem Artikel hervor. Wie gesehen dienen ihm die Trickfilme mehrfach als Beispiele oder Vorbilder sowohl für die Arbeitsweise während der Produktion als auch für das Zusammenspiel von Ton und Bild. Dies ist insbesondere in Hinblick auf Aurics erste Filmmusiken von Bedeutung: Sowohl in Le sang d’un poète als auch in À nous la liberté wandte er Verfahren an, die charakteristisch für die ersten Sound-Cartoons sind. In Le sang d’un poète weckt bereits die Vorspannmusik Assoziationen zu Disneys Silly Symphonies und anderen populären Streifen jener Jahre, was mitunter in der Wahl der Instrumente und der rhythmischen Anlage begründet liegt. Die Entscheidung für eine übersichtliche Besetzung ohne Streicher – Auric verglich sie selber mit ‚einer Art Dorfkapelle‘ – hatte jedoch pragmatische Gründe, die den damals beschränkten technischen Möglichkeiten geschuldet waren.80 Während auf der Leinwand der Filmtitel erscheint, setzt die Musik abrupt in der Trompetenstimme ein, die auftaktig eine in Sechserfolgen angelegte Umspielung eines sich wiederholenden Einzeltons intoniert, den weitere Bläser jeweils verstärken. Diese Umspielung wird abwechselnd von den tieferen Holz- und den höheren Blechbläsern dargeboten, sodass ein Dialog zwischen den beiden Instrumentengruppen entsteht. Diese Figur mündet in ein unisono der Blechbläser, die 78 79 80

[o. A.] Art. Artisan, artisane, in: Dictionnaire français Larousse online, o. S. Vgl. Kapitel I.2 und I.3 sowie zu einem Paradigmenwechsel in den Künsten Kapitel I.4. Vgl. Colin Roust, Sounding French, S. 44.

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eine Tonfolge spielen, die in ihrer Signalwirkung an eine Fanfare erinnert. Die Figur verläuft aufwärts vom Grundton zur Quinte und wieder zurück zur Terz, um von dort wieder schrittweise zum Grundton zurückzukehren. Diese erste Sequenz bildet zunächst den Auftakt für die kurze Walzerfigur, die sich anschließt. Den Rhythmus geben nun die Holzbläser vor, wobei auch hier wieder der Ton auf der ersten Zählzeit verstärkt und somit der Rhythmuswechsel betont ist – diesmal von der Trompete. Anschließend wiederholt sich die Anfangssequenz. Nachdem der Einzelton fünf Mal erklungen ist, setzt eine Piccoloflöte die Sequenz zunächst fort, indem sie das Ostinato der Bläser zweimal komplett wiederholt und schließlich eine Quinte höher schließt.81 In diesem Moment erfolgt auf der Leinwand der erste Bildwechsel vom Filmtitel zu den Namen der Darsteller. Dem hohen Schlusston der Piccoloflöte folgt die Flöte, die deren letzte Sequenz als Echo repetiert; gleichfalls die anderen Stimmen, die in derselben Weise einsetzen. Die gesamte Echo-Passage ist zusätzlich angereichert durch perkussive Klänge. Diese beiden Attribute – das Echo, das eine dramatische Entwicklung hin zu einem potentiellen Finale vermittelt und die Anreicherung des Klangs durch perkussive Effekte – wecken Assoziationen zu Trickfilmmusiken, in denen ähnliche Verfahren angewendet werden, um das Bildgeschehen zu dramatisieren. Die Echo-Sequenz geht mit einem Paukenschlag und einem Tusch auf dem Becken zu Ende, der allerdings keinen Motivwechsel zur Folge hat, sondern wieder in die Fanfarenfigur des Anfangs überführt. Diese erklingt zwei Mal erneut im unisono von den Blechbläsern, geteilt von einem erneuten Paukenschlag mit Tusch.82 Abschließend spielen alle Stimmen wie zu Beginn die kurze Walzerfigur. Dazu erscheint auf der Leinwand der Schriftzug „Spectacle, montages et commentaires de Jean Cocteau“83, woraus ersichtlich wird, dass Cocteau alleinverantwortlich für den Filmschnitt war. Aus der Walzerfigur heraus entwickelt sich nun das Ende der Episode, das aus einer aufsteigenden fünftönigen chromatischen Linie besteht und das alle Stimmen gleichzeitig und legato spielen.84 Diese aufsteigende Linie erzeugt erneut Allusionen, insbesondere zu einleitenden Passagen von Trickfilmen, auf die dann beispielsweise der konkrete Einsatz der Handlung folgt oder mit denen ein Wechsel des Schauplatzes angekündigt wird. Die gesamte Episode dauert insgesamt 30 Sekunden und zeichnet sich durch den transparenten Klang der Bläsergruppen aus, die nur in den Walzersequenzen zusätzlich von einer Bassstimme unterstützt werden, die das Klangbild fundiert und insgesamt einen volleren und wärmeren Höreindruck erzielt. Zugleich fungiert sie hier als Strukturgeber, die den vorwärtstreibenden Rhyhmus im 3/4-Takt betont. Ein weiterer Effekt, der sich vor allem aufgrund der Präsenz der Blechbläser und der Piccoloflöte einstellt, ist die Verknüpfung mit musikalischen Mustern, die einem militärischen Kontext zugeordnet werden können. Dazu trägt einmal die von den Trompeten intonierte Fanfarenfigur bei, außerdem das schnelle Tempo und 81 82 83 84

Le sang d’un poète, Min. 00:23–00:37. Ebd., Min. 00:38–00:50. Ebd., Min. 00:53. Ebd., Min. 00:52–00:53.

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schließlich die von Paukenschlag, Tusch und Piccoloflöte geprägte Sequenz. Trotz der Walzerfigur und den umspielenden ostinaten Pattern entsteht auf diese Weise ein Klangbild, das sich durch harte Wechsel zwischen den einzelnen Abschnitten auszeichnet und mit der Dominanz der Bläsergruppen – insbesondere der Blechbläser – und der durchgehenden Betonung der ersten Zählzeit einen fast marschartigen Charakter annimmt, auch wenn die einzelnen Bestandteile für sich genommen dies nicht widerspiegeln.85 Auf das erste Motiv folgt nun ein neues, das in keinem Zusammenhang mit dem ersten steht und von Cocteau offensichtlich gesetzt wurde, um einen Bruch mit der einleitenden Musik zu provozieren. Während im Bild immer noch der Vorspann mit der Aufzählung weiterer Beteiligter zu sehen ist, erklingt eine ausgedehnte melodische Phrase, die von einem Flötensolo eingeleitet und dann um eine weitere Flöte ergänzt wird, die die zweite Stimme übernimmt. Mit der Wiederholung der Tonfolge wechselt das Bild und geht vom Vorspann zur Einleitung über, während die Flötenmelodie fortgesetzt wird.86 Tempo und Rhythmus dieses neuen Abschnitts stehen in Kontrast zu der Musik des Anfangs: Das langsame Spiel der Flöten zeichnet sich durch die solistische Interpretation aus, die keine eindeutige rhythmische Struktur erkennen lässt, sondern auf die Betonung des Klangs abzielt. Eine strukturierende Bassstimme oder eine Unterstützung durch Schlagwerk fehlt, sodass die Phrase von dem Interagieren der beiden Instrumente dominiert wird. Im Vordergrund steht die Differenzierung der Nuancen des Klangs und die Verschmelzung der beiden Stimmen miteinander, mit dem Ziel, neue Klangflächen entstehen zu lassen, während Taktschemata verschleiert und bisweilen aufgehoben werden. Das Klangbild erinnert an jene französischen Kompositionen für Flöte solo, wie sie beispielsweise Debussy mit Syrinx (1913) hervorbrachte. Das ist insofern erstaunlich, als Auric von Cocteau für die Forderungen in Le coq et l’arlequin als Statthalter installiert wurde. Cocteau sprach sich eindeutig gegen die Musik Wagners, aber ebenso deutlich gegen die der Impressionisten um Debussy aus. Deutlich wird, dass die dort kritisierten Attribute nicht in der Musik selbst verortet werden können; offenbar stand eher die Einwebung in einen ideologischen Kontext im Vordergrund. Die Verwendung der tradierten kompositorischen Mittel in der Musik zu Le sang d’un poète ist demzufolge kein Widerspruch zu der Haltung, die Auric in den 1910er Jahren einnahm. Vielmehr geht aus diesem Zusammenhang hervor, dass auf theoretischer Ebene musikalische Idiome instrumentalisiert und zweckentfremdet wurden mit dem Ziel, ästhetischen und/oder politischen Programmen zuzuspielen. Daneben zeigt sich, dass Auric als Komponist keine Hemmungen hatte, auch vorbelastete musikalische Parameter für seine Werke zu nutzen und deren Bedeutungskontext somit zu verschieben, zu erweitern und in letzter Konsequenz zu erneuern. Dies entspricht wiederum der Vorstellung des Nutzbarmachens

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Giusy Basile stellt fest, dass verschiedene Stiltypen die Filmmusik der 1930er Jahre dominierten. Neben anderen nennt sie den Style militaire, der sich durch die Integration marschartiger Rhythmen auszeichnet. Sie legt dar, dass diese Stiltypen parallel existierten und sich alle aus der populären Musik Frankreichs ableiteten. Vgl. Giusy Basile, Le chanson au cinéma, S. 243. Le sang d’un poète, Min. 00:54–01:30.

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von Musik und Klang, die programmatisch für Aurics Musikverständnis ist und keiner bestimmten ästhetischen Programmatik oder Ideologie zu folgen scheint. Dass Auric am Filmschnitt nicht mehr beteiligt war, geht sowohl aus dem Vorspann hervor als auch aus einigen Äußerungen von Auric zu Le Sang d’un poète. Deutlich drückte der Komponist seine Unzufriedenheit hinsichtlich der fehlenden finalen Zusammenarbeit mit Cocteau aus.87 In der Postproduktion setzte Cocteau – ohne Rücksprache mit Auric zu halten – Ton und Bild nach seinem eigenen Ermessen neu zusammen. Die ursprüngliche Anordnung der einzelnen musikalischen Einheiten löste er auf zugunsten einer neuerlichen Zusammensetzung, die seinen individuellen Vorstellungen entsprach.88 Dieses Verfahren nannte Cocteau synchronisme accidentel.89 Sein Ziel war es, eine totale Synchronisation von Bild und Musik zu vermeiden, da diese eine überflüssige Anhäufung der immer gleichen Ausdrücke, ein Pleonasmus, sei. Dadurch würde das Zusammenspiel der Instrumente verhindert. Stattdessen propagierte er eine ‚gestörte Synchronisation‘, um eine größere Zufälligkeit im Zusammenspiel von Bild und Ton zu generieren. Allerdings stellte er fest, dass dies nicht vollständig gelingen konnte, da anstelle der erwünschten Irritationsmomente unabsichtlich neue Synchronisationspunkte erzeugt wurden und die deplatzierten Musiken wirkten, als seien sie extra für die neuen Szenen geschrieben worden, die sie nun begleiteten.90 Auric, der seine Partitur nach eigener Aussage als Symphonie konzipierte, konnte mit dem Verfahren der ‚gestörten Synchronisation‘ entsprechend wenig anfangen, wie aus dem folgenden Zitat hervorgeht: „Je conçus la partition comme une symphonie, ce qui était ambitieux, trop, peut-être, du point de vue de l’union de la musique et de l’image. Déjà, a cette époque, Cocteau pratiquait le ,synchronisme accidentel‘, qui me donna des sueurs froides.“91 87 88

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Vgl. Colin Roust, Sounding French, S. 44. Ähnlich verhielt es sich schon in der Zusammenarbeit von Satie und Cocteau an dem Ballett Parade (1918). Zusätzlich zu Saties Musik montierte Cocteau Geräusche, die letztlich als (erwünschte) provozierende Effekte wahrgenommen wurden und maßgeblich zu der Skandalisierung des Balletts seitens des Publikums beigetragen haben. Angeregt wurde er von einem Experiment, das Erik Satie gemeinsam mit der Tänzerin Valentine de Saint-Point durchführte. In Les Pantins dansant (1913) erarbeiteten sie jeweils ein unabhängiges Werk auf Grundlage eines Gedichts der Tänzerin. Entsprechend waren Musik und Choreographie nicht aufeinander bezogen, stattdessen waren beide als Ausdruck der Ideen des Gedichts konzipiert. Erst bei der Premiere des Stücks wurden beide Teile schließlich miteinander kombiniert. Cocteau vollzog ein ähnliches Verfahren in seinem Ballett Le Jeune homme et la mort (1946), in dem er eine Choreographie passend zu einer Jazz-Begleitung konzipieren ließ. Kurz vor der Aufführung tauschte er die Jazz-Partitur gegen eine Passacaglia von Bach aus. Vgl. Colin Roust, Sounding French, S. 62. Vgl. Jean Cocteau, Entretiens autour du cinématographe, S. 79. Georges Auric zit. nach Max Pinchard, Georges Auric et la musique de film, S. 46. Die Partitur zu dem animierten Film Les oranges de Jaffa (1938) ist verschollen, allerdings existiert eine symphonische Suite aus dem Jahr 1939, die ebenfalls den Titel Jaffa trägt. Über den Zusammenhang zwischen der Suite und dem Film kann aufgrund der Quellenlage nur spekuliert werden. Möglicherweise hat Auric jedoch auch für diesen Film eine Form gewählt, die sich eines tradierten musikalischen Formschemas bediente – ähnlich wie ihm bei Le sang d’un poète nach eigener Aussage die Symphonie als Gerüst diente.

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Erstaunlich ist dennoch, wie sich die einzelnen Einheiten in den neuen Schnitt einpassen und je eigene Effekte generieren. Die ursprüngliche Anordnung der einzelnen Bestandteile kann jedoch nicht mehr nachvollzogen werden und auch die Großform, die Auric komponiert haben will, ist durch Cocteaus Verfahren aufgelöst. Aussagen über das Zusammenspiel von Bild und Ton basierend auf Aurics Handhabe des Materials können somit nicht getroffen werden. Allerdings lassen sich auch aus der finalen Version des Films musikalische Zusammenhänge dechiffrieren, die Aufschluss über die strukturelle Anlage der Komposition geben. Eine englischsprachige Schrifttafel, die zu Beginn des Films eingeblendet wird, verweist darauf, dass der Film als Zeichenfilm konzipiert war. Cocteau widmete Le sang d’un poète vier Malern, die in ihren Werken Insignien und Enigmen darstellten:

Abbildung 1: Schrifttafel in Le sang d’un poète, Min. 02:09.

Die darauffolgende Einstellung, die den Rahmen des Films bildet und einen in sich zusammenfallenden Fabrikschornstein zeigt, unterstützt die vorangegangene Einblendung. Dem Einstürzen gehen die Worte des Autors (Cocteau) voraus, der die erste Episode ankündigt: „Première épisode: La main blessée ou les cicatrices du poète“.92 Die Arbeit mit Schrifttafeln, die während des gesamten Films immer wieder eingeblendet werden, das weitgehende Fehlen von (hörbaren) Dialogen zwischen den Akteuren sowie der extensive Einsatz von Musik reflektieren die Stummfilmästhetik der vergangenen Jahre. Die Experimentierfreude der Macher zeigt sich weniger in der visuellen Anlage des Films, sondern vor allem in der Behandlung der Geräusche, die primär zur Erzeugung dramatischer Effekte eingesetzt werden. Die Funktion der Musik geht ebenfalls aus einer Einblendung zu Beginn des Films hervor, in der zudem Form und Inhalt zusammengefasst sind (Abbildung 2). Die Konzeption als Zeichenfilm sowie der Aufbau, der aus vier eigenständigen Episoden besteht, lassen schließlich auch die Anlage der Musik schlüssig erscheinen. Der Zeichencharakter auf der visuellen Ebene wird durch den weitgehenden Verzicht auf gesprochene Dialoge und mit der Betonung von Geräuschen multipliziert. Die

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Le sang d’un poète, Min. 02:20.

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Abbildung 2: Schrifttafel in Le sang d’un poète, Min. 01:55.

Rolle des Poeten reflektiert dabei Cocteaus Auffassung, dass dieser nicht auf Sprache festgelegt sei, sondern sich allen Kunstformen zuwenden müsse.93 Der Anteil der Musik im Film entspricht mit circa 90 Prozent noch dem der Stummfilmpraxis. Durch den bewussten Einsatz von Stille, der zur Zeit des Stummfilms noch nicht möglich war, verschiebt sich jedoch auch die Wahrnehmung der musikalischen Anteile. Trotz des hohen Musikanteils entsteht nicht der Eindruck einer durchlaufenden, permanenten musikalischen Untermalung – ein Resultat aus dem Wechselspiel von Musik und Stille. Entsprechend kann die Musik gezielter eingesetzt werden, um beabsichtigte Wirkungen der Bilder zu ermöglichen und den Film überdies zu strukturieren. Die wesentliche Neuerung ist im Fall von Le sang d’un poète folglich die Interaktion von Filmbild und Filmmusik, was die Komposition einer speziellen Filmmusik rechtfertigt und notwendig macht. Mit Blick auf die Gesamtanlage fällt auf, dass dieselben musikalischen Einheiten in unterschiedlichen Episoden verwendet werden. In der ersten Episode setzt mit dem Eintreten des Besuchers, der im Stil Ludwig des XV. gekleidet ist, erneut die erste musikalische Einheit des Vorspanns ein – zunächst in eine höhere Tonart transponiert und durch dissonante Schärfungen in den Blechbläsern angereichert, darauffolgend als genaue Repetition der Sequenz.94 Die erste Szene des Films, in welcher der Dichter, durch eine Perücke ebenfalls als Zeitgenosse Ludwig des XV. erkennbar, ein Gemälde erstellt, ist mit derselben Musik versehen, die zu Beginn der letzten Episode das Kartenspiel von Lee Miller und ihrem Kompagnon begleitet.95 Zu dem Bild des sterbenden Jungen in der dritten Episode ertönen in einem synkopierten, schleppenden Rhythmus getragene, tiefe Klarinettenklänge, die jeweils auf der halben Zählzeit von einem dazu dissonanten, schrillen und lang ausgehaltenen Holzbläserton ergänzt werden und chromatisch aufsteigend Spannung 93 94 95

Diese universelle Auffassung des poète geht auf die zeitgenössische Definition des Begriffs poésie zurück, der sich nicht nur auf die Dichtung bezog, sondern „das Schöpferische in der Kunst überhaupt“ meinte. Gustav Vriesen, zit. nach Ricarda Wackers, Dialog der Künste, S. 92. Le sang d’un poète, Min. 04:28–05:04. Ebd., Min. 03:50–04:20, dazu korrespondierend Min. 36:20–36:50.

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erzeugen.96 Diese klanglich höchst ungewöhnliche Sequenz ertönt bereits in der zweiten Episode zunächst immer dann, wenn sich der Dichter im Flur des Hotels von Tür zu Tür bewegt. Die charakteristischen schreienden Holzbläserklänge fehlen hier anfangs, die dominant rhythmisierte Melodie der Klarinetten ist im Tempo beschleunigt und solistisch vorgetragen.97 Beim zweiten Einsatz ist die Melodie durch eine lyrische Holzbläserphrase ersetzt.98 Erst beim dritten Erklingen in der Episode ist die Entwicklung hin zu der charakteristischen Sequenz abgeschlossen, die sich durch die hohen Holzbläserklänge auszeichnet. Nach fünfmaliger Wiederholung des schrillen Tons übernimmt eine Klarinette die lyrische Phrase der Flöten während die Holzbläser das rhythmisch synkopierte Muster intonieren.99 Am Ende der ‚Flugstunde‘ setzt das Motiv erneut ein. Die charakteristischen Anfangsklänge werden jedoch nicht wie in der dritten Episode abgebrochen, sondern mehr und mehr verlangsamt, bis die Sequenz schließlich mit dem höchsten ausgehaltenen Holzbläserton endet.100 Die Zusammengehörigkeit der Muster wird sowohl aus der instrumentalen als auch aus der rhythmischen und melodischen Gestaltung ersichtlich, die die einzelnen Motive deutlich voneinander unterscheidet. Anders als im Fall einer leitmotivischen Gestaltung werden Sequenzen aber nicht einfach wiederholt. Vielmehr ist erkennbar, dass Aurics Komposition aus einzelnen kurzen Musikstücken besteht, die von Cocteau auseinandergenommen und über den gesamten Film verteilt neu zusammengesetzt werden.101 Somit koexistieren sie ähnlich wie die Episoden, die wiederum genauso aneinandergereiht sind, wie die einzelnen Bilder, aus denen sie sich zusammensetzen. Dieses Verfahren der Montage, bei dem heterogene Elemente scheinbar ohne unmittelbar ersichtliche Zusammenhangsbildung nebeneinander stehen, wird sowohl in den Einzelbildern angewendet, aus denen sich die Episoden zusammensetzen als auch auf der nächstgrößeren Ebene, in der Reihung der Episoden selbst. Die Musik fungiert nicht etwa nur als untermalende oder unterstützende Beigabe, sondern spiegelt die Idee des Films wider, in der die Allegorie als zentrales strukturelles Element aufscheint. Aurics Musiken sind in Bruchstücke zerlegt und werden unabhängig von den einzelnen Episoden gleichermaßen zu jeweils anderen Bildern und jeweils anderen musikalischen Sequenzen über die gesamte Filmdauer montiert. Dadurch entsteht auch auf der auditiven Ebene jene Abfolge von Metaphern, die konstitutiv für die Allegorie ist. Da Cocteau alleinverantwortlich für den Schnitt war, stellt sich die Frage, ob dieser Zusammenhang auch in der Anlage der Musik wiedergefunden werden kann. Zu nennen wären die zahlreichen Verweise, die Auric in seiner Partitur setzt. Die Anspielungen auf die Trickfilmmusiken aus Amerika oder der Einsatz vorbelasteter 96 97 98 99 100 101

Ebd., Min. 33:06–33:30. Ebd., Min. 15:28–16:00. Ebd., Min. 16:57–17:18. Ebd., Min. 19:15–19:50. Ebd., Min. 21:33–22:15. Aurics Zeitgenosse, der ebenfalls aus Südfrankreich stammende Maurice Jaubert (1900–1940), komponierte für seine Filmmusiken gleichfalls einzelne, in sich geschlossene Musik-Szenen. Deren jeweilige Individualität generiert eine Art Suitencharakter.

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Stilmittel wie die individuelle Klangfarbenbehandlung in der Flötensequenz zu Beginn des Films sind zwei Beispiele, die darauf hindeuten, dass auch Auric eine Verweisebene forcierte, die er jenseits von direkten Zitaten anlegte. In dieser Verfahrensweise ist die bewusste Verfremdung und Dekontextualisierung tradierter musikalischer Mittel angelegt, die sich als Resultat einer Ästhetik des neuen Geistes darstellt, wie sie von Apollinaire propagiert wurde und die nicht zuletzt zwischen alten und neuen kompositorischen Prinzipien vermittelt. Gleichermaßen ist mit der Auflösung etablierter Bezugssysteme eine Verbindung zum ästhetischen Programm der Surrealisten gegeben, das im Zentrum der folgenden Ausführungen steht. a. Struktur und Form: Surrealismus und Le sang d’un poète Als „conscious hallucination“102 charakterisierte Jean Goudal in seinem Artikel Surréalisme et cinéma (1925) das Medium Film und beschrieb damit das Zusammenführen von Gegensätzen, das auch die Surrealisten in ihren Forderungen an das Leben und die Kunst formulierten. Die Verknüpfung von Traum und Realität als Möglichkeit, um zu einer absoluten Realität zu gelangen – „une sorte de réalité absolue, une surréalité […]“103 –, war eines der zentralen Anliegen, die André Breton 1924 in seinem surrealistischen Manifest formulierte. Filme vermitteln zwischen diesen prinzipiellen Gegensätzen auf verschiedenen Ebenen. In ihnen gelingt das Zusammenspiel von Virtualität und Aktualität und die Koppelung von Wahrgenommenem und Imaginiertem, indem sie die Gesetze von zeitlichen Abläufen, räumlichen Verhältnissen und physischen Zusammenhängen außer Kraft setzen, sie durcheinander bringen und damit die Grenze verwischen zwischen dem, was als gegeben angenommen und dem, was als bloße Vorstellung imaginiert wird. Dadurch kreieren sie einen Zwischenraum des Möglichen, der die 102 Jean Goudal, Surréalisme et cinéma, zit. nach Richard Abel, French Film Theory and Criticism I, S. 355 [Hervorhebung im Original]. 103 André Breton, Manifeste du surréalisme, S. 24 [Hervorhebung im Original]. Der Begriff surréalisme erschien erstmals im Programm zu dem Ballett Parade (1917); wenig später im selben Jahr veröffentlicht derselbe Autor, Guillaume Apollinaire, sein Drama Les mamelles de Tirésias (1917), versehen mit dem Untertitel „Drame surréaliste“. In seinem Vorwort zu Les mamelles de Tirésias spezifizierte Apollinaire seine Definition eines ‚Über-Realismus‘ und stellte fest, dass der Surrealismus die virtuelle Realität sei, die durch eine Kunst generiert werde, deren extrem diskrepante Varianten von Erfahrung mehrere Sinnesorgane zur gleichen Zeit ansprechen. Apollinaires Verständnis des Begriffs steht im Gegensatz zu Bretons Definition, weshalb die Spaltung der Gruppe aufgrund der Diskussion um den ‚wahren‘ Surrealismus unumgänglich wurde. Apollinaires Idee lässt sich allerdings schon in seinem auf die Malerei bezogenen Konzept des Orphismus erkennen. Die grundlegende Denkfigur einer Synthese der Künste sollte Apollinaire in allen nachfolgenden Konzepten (Esprit nouveau und Surrealismus) beibehalten und ausdifferenzieren. Vgl. Ricarda Wackers, Dialog der Künste, S. 67 ff. Volker Roloff weist darauf hin, dass Cocteau ebenso wie Apollinaire und Alfred Jarry in seinen Filmen an die Theatralität und Visualität von Mythen erinnere und versuche, sie im Sinne des Surrealismus zu ‚farcieren‘. Vgl. Volker Roloff, Cocteaus Theaterfilme, S. 159 f.

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Zuschauenden in ihren Vorstellungen irritiert und den Blick auf ihre Realität – dauerhaft – verändern kann. Verfahren und Techniken, die zum Spiel mit den Möglichkeiten befähigen, sind das Prinzip der Montage und das Vermögen der Kamera, die Perspektiven zu verändern. Die Kamera lenkt den Blick des Zuschauers und seine Wahrnehmung des Dargestellten. Indem das Objektiv Gegenstände, Personen und Räume isoliert, rahmt oder ausschneidet, präsentiert es dem Rezipienten eine durch den Regisseur fremdbestimmte Sichtweise. Dabei ist irrelevant, ob das, was durch die Kamera an den Zuschauenden herangetragen wird tatsächlich realistisch ist: Es erscheint dem Publikum sinnvoll, weil es im Filmraum und in der Dramaturgie des Films Sinn macht. Die Realität, die durch die Perspektive der Kamera bereits verfälscht wird, erfährt durch die Bearbeitung des Bildmaterials im Schnitt und in der Montage eine weitere Verfremdung: Die Bilder werden zusammengesetzt, je nachdem wie es der Film verlangt. Entsprechend können die Protagonisten binnen weniger Sekunden Orte wechseln oder auch neue Orte erschaffen, indem sie beispielsweise einen Pariser Prachtboulevard entlangschlendern, während im Hintergrund der Ozean sichtbar wird: Paris am Meer. Physikalische Gesetze und geographische Verhältnisse sind außer Kraft gesetzt, dennoch erscheint dem Zuschauer die Lage schlüssig. Le sang d’un poète ist als Episodenfilm angelegt, in dem die einzelnen Szenen eine Zusammenschau auf den Poeten und seine individuellen Wahrnehmungen bilden. Die Zuordnung des Films zum Surrealismus, die primär aufgrund der Bilder vorgenommen wurde, wies Cocteau stets zurück und entsagte „der gewollten Zurschaustellung des Unbewußten.“104 Stattdessen verbürgte er sich in seinem Vorwort von 1946 gegen eine Deutung als surrealistisch: „Das Blut eines Dichters nimmt weder zu Träumen noch zu Symbolen Zuflucht. Was die Träume angeht, so ahmt er eher deren Mechanismus nach und läßt den Erinnerungen freie Hand, sich nach Belieben zu verknüpfen oder auszuschweifen. Was die Symbole betrifft, so weist der Film sie schlicht zurück und ersetzt sie durch Akte oder Allegorien dieser Akte, die der Zuschauer als Symbole auslegen darf, wenn es ihm beliebt.“105

Cocteau reagierte mit dieser Äußerung jedoch primär auf die Bewegung der Surrealisten um André Breton, der ihn zeitlebens ächtete und öffentlich diffamierte.106 Die vorwiegend politisch und sozial agierende Gruppierung um Breton entzweite sich in den 1930er Jahren mehr und mehr. Das Schwanken zwischen künstlerischer Avantgarde und politischen Zielen sowie die Frage, wie ästhetisch angemessen auf Faschismus und Krieg zu reagieren sei, standen im Vordergrund des Konflikts innerhalb der Bewegung. In welchem Maß gesellschaftliche und politische Distinkti104 Jean Cocteau, Das Blut eines Dichters, Vorwort von 1946, S. 11. 105 Ebd., S. 12. 106 Die Antipathie, die Breton Cocteau entgegenbrachte, hatte verschiedene Ursachen. Bretons offen ausgelebte Homophobie sowie Cocteaus medienwirksame Selbstinszenierung (die Breton verabscheute) sind nur zwei der zahlreichen Gründe. Der Autor des surrealistischen Manifests sprach Cocteau überdies jegliche Begabung für Literatur ab und positionierte sich in der Öffentlichkeit klar in Opposition zu ihm. Siehe zu Breton und Cocteau auch den Artikel Breton contre Cocteau. L’Or du temps contre l’air du temps von Philippe Lançon, der im November 2003 im französischen Satiremagazin Charlie Hebdo erschien.

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onen die Produktion und Interpretation der Werke selbst lenken, lässt sich am Beispiel der Surrealisten zeigen. Die Vermischung von äußerer Wahrnehmung und einer ideologisch eingefärbten Interpretation der Kunstwerke ergibt sich mitunter aus dem ästhetischen Programm der Bewegung, das darauf abzielte, über die Künstlichkeit der Szenerie ein stilisiertes Gebilde zu entwerfen, das dem Zuschauer seine eigene Realität vor Augen führen sollte, ohne sie konkret anzusprechen. Daraus resultiert wiederum das Vermögen zwischen Kunst, Gesellschaft und Politik vermitteln zu können, da hierfür notwendige Kommunikationsfaktoren in der Werkstruktur angelegt sind. Dass die von Breton geforderte Über-Realität nicht gleichzusetzen ist mit Unwirklichkeit, veranschaulicht Anne Liebe, wenn sie darauf hinweist, dass die Surrealisten neben Techniken wie der écriture automatique107 auch eine neue Sicht auf das Objekt forderten, die „weiter sehen will als dies in einer bloß vordergründigen und schnellen Betrachtung der Wirklichkeit geschieht.“108 Bretons Aussagen folgend erörtert sie, die Konsequenz dieser erweiterten Sicht sei es, aus „Konventionen, Gewohnheiten und Bequemlichkeiten auszubrechen und möglicherweise zu einer ‚inneren Revolution‘ oder gar revolutionären Tat hin vorzuschreiten.“109 Der politische Impetus dieser Aussagen ist offensichtlich und entschlüsselt den Surrealismus als eine Bewegung, deren Programm auf eine Umstrukturierung des ästhetischen Diskurses abzielte – unabhängig von einzelnen Kunstrichtungen oder den Werken selbst. Darüber hinaus wird deutlich, dass Aussagen darüber, ob ein Werk surrealistisch ist, nicht anhand spezifischer Merkmale getroffen werden können. Vielmehr zeigt sich, dass mögliche Verbindungen mit der Zusammensetzung der Gruppe um Breton zusammenhängen – und aus diesem Grund eine Suche nach beispielsweise surrealistischer Musik, wie sie Anne Liebe vorschlägt, ins Leere laufen muss. Bezieht man diesen Kontext in die Überlegungen ein und fokussiert sich ausschließlich auf das Programm, lässt sich allerdings erkennen, dass eine Nähe der Surrealisten zur Musik theoretisch ebenso wahrscheinlich ist wie zu allen anderen Kunstrichtungen. Keinesfalls kann wegen Bretons grundsätzlicher Ablehnung angenommen werden, dass sich Musik und surrealistische Forderungen generell ausschließen würden.110 Lediglich die Ebene der Diskussion wird von einer am Objekt ausgerichteten auf eine abstraktere und allgemeinere gehoben. Aurics Beziehung zu der Gruppierung um Breton macht dies evident: Auric stand dem Kreis bereits in dessen Anfängen nahe. 1919 verfasste er zwei Artikel für die Zeitschrift Littérature, die von Louis Aragon, André Breton und Philippe Soupault herausgegeben wurde. In den 1920er Jahren distanzierte er sich als einer der ersten auf dem Congrès de Paris von Dada. In den 1930er Jahren war er schließlich 107 Mittels der écriture automatique sollen „Prozesse des Unbewussten“ in der Sprache festgehalten werden können. Ziel ist es, die Poesie „von den Vorgaben sinnhafter Rede“ zu befreien. Vgl. Achim Geisenhanslüke, Art. Écriture automatique, in: Metzler Lexikon Literatur, S. 175 f. 108 Anne Liebe, Der Surrealismus und die Musik, S. 137. 109 Ebd. 110 Zu Bretons Verweigerung gegenüber Musik und seiner selbst diagnostizierten amusie siehe Anne Liebe, Der Surrealismus und die Musik, S. 134.

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der einzige Komponist, der nach Bretons Zerwürfnis mit Satie weiterhin von den Surrealisten akzeptiert wurde und dies trotz seiner Zusammenarbeit mit Cocteau.111 Anne Liebe weist darauf hin, dass diese Akzeptanz gegenüber Auric sich durch den Umstand begründen ließe, dass Breton in Auric mehr den Kritiker denn den Musiker gesehen habe, so wie er Satie eher als Satiriker begriff denn als Komponist.112 Durch diese Sichtweise rücken sowohl Satie als auch Auric in die Nähe des auf die Sprache fixierten surrealistischen Programms, ohne dies selber zu forcieren oder ihre Werke entsprechend legitimieren zu müssen. Die Ignoranz der Surrealisten gegenüber den anderen Mitgliedern der Six kann als unmittelbare Folge des Zerwürfnisses von Breton und Satie aufgefasst werden, da der Wortführer der Surrealisten sich nicht nur von dem Komponisten, sondern auch von allen seinen Bewunderern lossagte.113 Diese Konstellationen offenbaren die enge Verzahnung zwischen den einzelnen Gruppierungen im Paris jener Jahre und zeigen, wie nahe sich auch als Kontrahenten in die Annalen eingegangene Persönlichkeiten zumindest zeitweise standen. Dabei erweisen sich die diversen Bewegungen wie die Surrealisten, Dadaisten und die Six oftmals als ideell durchaus kongruent oder einander nahe stehend, was sich auch aus ihrem gemeinsamen Ursprung als integraler Bestandteil der Pariser Avantgarde nach dem Ersten Weltkrieg erklärt. Die anhaltende Beziehung, die Auric zu den Surrealisten unterhielt auf der einen und Cocteaus Ablehnung einer Vereinnahmung seines Films durch ebendiese auf der anderen Seite veranschaulichen außerdem, dass nicht der individuelle künstlerische Ausdruck, sondern gemeinsame ästhetische Ideale sowie gesellschaftliche und politische Verhältnisse die Entwicklungen des kulturellen Lebens maßgeblich prägten und bestimmten. Auch die Tatsache, dass unterschiedliche Gruppierungen unterschiedliche Kunstrichtungen als Ausdrucksmittel ihrer theoretischen Ideale wählten, ist zunächst nicht weiter erstaunlich. In der Vielfalt der Genres und Erscheinungsformen erinnern jene Jahre eher an den Stilpluralismus, der Frankreich um die Jahrhundertwende und bis zum Ersten Weltkrieg dominierte. Ein Vergleich mit oder eine Übertragung von Stilmerkmalen einer Kunstrichtung auf eine andere – wie es beispielsweise im Fall des Impressionismus in der Musik geschah – ist auch in Hinblick auf die Suche nach vermeintlichen Charakteristika eines Surrealismus wenig sinnvoll. Will man eine Begrenzung einzelner Werke bezüglich ihrer Gestaltung vermeiden, scheint es effektiver, die Vermittlung der Ideen über die Werke in den Fokus zu rücken. Verknüpft man den Begriff sur-réalisme dementsprechend direkt mit Guillaume Apollinaires Idee, die er im Vorwort zum Ballett Parade formulierte und wenig später in seinem Drama Les mamelles de Tirésias ausdrückte, kann er in seinem 111 Vgl. ebd., S. 137. 112 Vgl. ebd., S. 138. 113 Vgl. ebd. Ein weiterer Aspekt dürfte die breite Akzeptanz der Six in der Pariser Öffentlichkeit gewesen sein, die sich mit den politischen Implikationen des Front populaire noch intensivierte. Von einer Gruppierung die fest in den Avantgarde-Zirkeln der 1920er Jahre verankert war, entwickelten sich die Six mehr und mehr zu einer populären Formation, die sich ganz im Sinne der damaligen Kulturpolitik ein immer breiteres Publikum erschließen wollte. Dabei strebten sie insbesondere die Überschreitung der Grenze zwischen einer vermeintlichen Hochund der sogenannten Populärkultur an und waren omnipräsent in der Pariser Musik-, Theater-, Opern- und Ballettszene.

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Ursprung begriffen werden. Er zielt auf die Vereinigung einer Vielzahl künstlerischer Formate und Medien ab, die ihre Individualität in der Zusammenschau nicht einbüßen.114 Die Qualität dieser Verbindung der einzelnen Ebenen und Elemente in einem Kunstwerk ist wiederum im Wort selbst angelegt: Aus dem Interagieren künstlerischer Ausdrucksebenen ergibt sich eine Zusammenschau unterschiedlicher Auffassungen von Realität, die dem Betrachter eine multidimensionale Vorstellung – eine Über-Realität – suggeriert. Mit der Entkoppelung von Struktur und Funktion im Dargestellten ist ein weiterer wesentlicher Aspekt der surrealistischen Idee benannt. Das was abgebildet werden will, wird nicht mehr über das Erscheinungsbild der beteiligten Elemente transportiert, sondern über die Funktion, die jene Elemente einnehmen. Die Konsequenz ist offensichtlich: Nicht nur das konkrete Geschehen wächst über ein bloßes Abbilden und Darstellen hinaus. Weiters werden alle konventionellen Bindungen aufgelöst, mit denen die Elemente auf einer semantischen Ebene gemeinhin assoziiert werden. Hierin artikuliert sich das Potential der ursprünglichen Idee des surréalisme im Sinne Apollinaires: Durch die Destruktion tradierter Gewohnheiten und das Offerieren eines Spektrums an Möglichkeiten der Interpretation kann der Rezipient eine ästhetische Erfahrung machen, die die Realität in der Scheinwelt offenbar werden lässt. Damit erweitert sich der persönliche Horizont, der sich aus der je subjektiven Lebenserfahrung der Zuschauenden generiert. Persönliche Erfahrungen treten hinter dem Erfahren unzähliger Möglichkeiten zurück und werden innerhalb der eigenen Lebenswelt marginalisiert zugunsten einer künstlich erzeugten Topographie der Welt. Die Struktur von Le sang d’un poète stellt diese Idee exemplarisch aus. Insbesondere die Montage verleiht dem Film seine spezifische Aussagekraft. Aus ihr heraus generiert sich seine Dynamik, die wesentlich von einem extrem langsamen Tempo bestimmt ist. Die Musik nimmt hierbei eine Schlüsselfunktion ein. Ebenso wie die Kamera vollzieht sie in Le sang d’un poète einen Perspektivwechsel. Der Ton reagiert nicht etwa auf die Drosselung des Tempos in den Bildern, sondern erweitert das Filmbild um eine unabhängig verlaufende Zeit, die über weite Strecken weder mit den Schnitten noch mit dem Tempo der einzelnen Szenen korrespondiert. Der Filmrhythmus bildet sich entsprechend nicht aus der Aneinanderreihung der Bilder selbst, sondern aus ihrer Verknüpfung mit dem Ton, der die Zwischenräume auffüllt, die sich durch die Montage ergeben. Michel Chion definiert den Effekt, den Musik auf den Filmrhythmus hat, als temporalisation (Verzeitlichung).115 Damit beschreibt er das Phänomen, dass der Ton den Bildern „die Dauer gibt, die sie nicht selbst in sich besitzen.“116 Als logische Konsequenz orientiere er die Bilder in der Zeit und kann ihnen also einen „Charakter des Wartens, der Progression, des Fortschreitens, des unmittelbar Bevorstehenden, etc. verleihen.“117 Im Gegensatz zu den Musiken, die während der Vorführung von 114 Zu Apollinaires Vorstellung eines neuen Theaters, in dem die Künste „coextensive but multiplanar“ sind siehe Daniel Albright, Untwisting the Serpent, S. 246 ff. 115 Vgl. Michel Chion, L’Audio-Vision, S. 13 ff. [In der deutschen Übersetzung S. 177.] 116 Michel Chion, Audio-Vision, S. 177. 117 Ebd.

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Stummfilmen ertönten, ist die Zeit im Tonfilm fixiert – sie ist unveränderbar. Die Musik kann nicht etwa in verschiedenen Tempi interpretiert werden, sondern ist unmittelbar mit dem Geschehen auf der Leinwand verknüpft. Dies macht die Notwendigkeit von spezifisch für den Film komponierter Musik plausibel. Diesem Ansatz folgend steht die Funktionalisierung von Musik in Le sang d’un poète in unmittelbarer Nähe zu jenen Ansprüchen, die die Surrealisten an Kunst und Werke stellten. Ähnlich wie in Saties Musique d’ameublement Musik als Projektionsfläche fungiert und damit den Klang zum Objekt erklärt, liefert Aurics Komposition eine Klangfläche auf die das Bildgeschehen projiziert wird. Der Vorspann bestätigt diese Funktionalisierung in einem Satz, der die Aufgabe des Musikers definiert: „Le musicien soulignera les bruits et les silences.“118 Diese kurze Phrase veranschaulicht die Handhabe der Musik im Film, die insbesondere in der zweiten Episode deutlich hervortritt. Während die Szenen in den Hotelzimmern durch Geräusche oder den gezielten Einsatz von Stille akustisch aufgeladen sind, erklingen Aurics Kompositionen in allen Einstellungen, die den Poeten im Korridor zeigen. Dieses Wechselspiel wiederholt sich bis zum letzten Bild und wird erst am Ende der Flugstunde durchbrochen. Die Bilder aus den Hotelzimmern kennzeichnet vor allem ihr statischer Charakter. Als Momentaufnahmen sind sie nahezu unbewegt beziehungsweise stark verlangsamt. Durch die Zusammensetzung dieser Bilder mit den Einstellungen vom Korridor schlussfolgert der Zuschauer, dass es sich um den Blick des Dichters durch die diversen Schlüssellöcher der Zimmer des Hôtel des Folies-Dramatiques119 handelt. Das jeweilige Enden der akustischen Phrasen korrespondiert mit dem Verharren und Innehalten des Dichters, der auf diese Weise zum Beobachter wird.120 Dieses Beispiel illustriert, dass die Musik genauso wie die Kamera den Blick des Zuschauers lenkt. Daneben definiert sie in letzter Konsequenz den Rhythmus des Films, indem sie die einzelnen Einstellungen in der Zeit festsetzt. Der Verlauf und das Zusammensetzen der Bilder durch Schnitt und Montage, die als Generator filmischen Rhythmus’ angenommen werden, müssen mit dem Tonfilm überdacht und entsprechend um diese Funktion der akustischen Ereignisse erweitert werden. Die im Vorspann des Films benannte Aufgabe des Musikers, sowohl die Geräusche als auch die Stille zu ,unterstreichen‘, ist erst vor diesem Hintergrund ver-

118 Jean Cocteau, Le sang d’un poète, S. 15 bzw. im Film die englischsprachige Schrifttafel „The musician will underline the noises and silences“, Le sang d’un poète, Min. 01:54. Vgl. Abbildung 2, S. 45 in dieser Arbeit. 119 In der deutschen Werkausgabe wird darauf verwiesen, dass Cocteau mit dem Hôtel des FoliesDramatiques in Anlehnung an das Revue-Theater Folies-Bergères eine „Revue des Wahnsinns“ inszenieren wollte. Ebenfalls naheliegend ist allerdings die Ableitung des Namens vom Pariser Théâtre des Folies-Dramatiques, das um die Jahrhundertwende vor allem als Operetten-Spielstätte diente und im 20. Jahrhundert schließlich in ein Kino und in den 1930er Jahren dann zum Tonfilmkino umgewandelt wurde. Vgl. Jean Cocteau, Das Blut eines Dichters, S. 32. 120 Voyeurismus als Thema in Le sang d’un poète sowie als charakteristischer Topos in Cocteaus Œuvre ist insbesondere von medienwissenschaftlicher Seite vielfach aufgegriffen worden. Siehe beispielsweise Volker Roloff, Cocteaus Theaterfilme oder ders., Le Scénario Freud, in: ders. und Michael Lommel (Hg.), Sartre und die Medien (2008).

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ständlich: Als drittes Auge fungiert die Musik ebenso wie alle anderen visuellen und akustischen Elemente des Films erkenntnisgenerierend. Zudem verknüpft sie die Effekte, die durch Geräusche und Stille entstehen, mit dem Bildgeschehen. Aufgrund des Fehlens einer linearen Handlung und einer chronologischen Abfolge von Ereignissen rhythmisieren und dynamisieren primär die musikalischen Ereignisse den Film, indem sie die Bilder in einen zeitlichen Verlauf setzen. Die strukturelle Anlage der Komposition illustriert die Motorisierung der Bilder durch Musik. Auric wies darauf hin, dass er seine Partitur als Symphonie konzipiert habe, allerdings ging er nicht darauf ein, auf welche Weise er mit dem Formschema umging. Um die Architektur der Filmmusik nachvollziehen zu können, muss der Film in seiner Gesamtheit betrachtet werden, weil durch die Postproduktion die ursprüngliche Anordnung der musikalischen Ereignisse nicht mehr nachvollziehbar ist. Da die einzelnen Sequenzen ähnlich wie die Filmbilder in ihrer Gestalt sehr unterschiedlich sind, ist es aber möglich, Zusammenhänge zu dechiffrieren, die zumindest Aufschluss über ihren Aufbau geben können. Aurics Klangflächen heben insbesondere einen musikalischen Parameter hervor: die Zeitlichkeit. Während beispielsweise in Saties Musique d’ameublement die blockartige Bauweise und lineare Aneinanderreihung der Sequenzen den Eindruck des Statischen hervorrufen, vollzieht sich die charakteristische Anlage von Aurics Musik über die Verflechtung der kurzen Motive miteinander. Zwei Merkmale sind in diesem Zusammenhang besonders auffällig: der Umgang mit periodisierenden Elementen wie Ostinati und Wiederholungen sowie zahlreiche Wechsel in Tempo und Dynamik. Ein Beispiel findet sich in der ersten Episode. Es beginnt während der Poet sein Gemälde erstellt und endet mit dem Klopfen seines Kameraden an der Zimmertür. Die Musik dieser Sequenz ist von einer kurzen Melodielinie dominiert (Figur a), die beständig wiederholt und von verschiedenen Stimmen wiedergegeben wird. Eingeleitet von einem aufsteigenden G-Dur Arpeggio steht sie im 6/8-Takt.

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Abbildung 3: Figur a, Le sang d’un poète, Min. 03:06–04:18.

Insgesamt erklingt diese Figur drei Mal vollständig – jeweils einmal wiederholt – sowie ein Mal zusätzlich von Trompeten akzentuiert und ohne Wiederholung. Das G-Dur Arpeggio dominiert das Klangbild, sodass jene Klangfolge als ostinate Figur erscheint, die kontinuierlich umspielt wird. Die Instrumentation mit Xylophon und Klavier unterstützt den luziden, verspielten Klangeindruck, der durch den Einsatz einer Ratsche und anderem Schlagwerk noch betont wird. Auf diese erste Figur folgt jeweils eine Phrase, die rhythmisch und melodisch abweicht, sich jedoch ebenfalls aus ostinaten Pattern zusammensetzt.

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Abbildung 4: Figur b, Le sang d’un poète, Min. 03:06–04:18.

Die erste Figur bildet eine Art Refrain, der eine Entwicklung einleitet oder als Vorverweis dient. Die im Wechsel dazu gesetzten ‚Strophen‘ (Figur b) werden in den Sequenzen, in denen sie aufscheinen, jeweils weiter entwickelt. Dabei dienen sie scheinbar nicht dazu, ein bestimmtes Schema (beispielsweise die Reprise) zu erfüllen. Durch die Kürze und das Fehlen sich entwickelnder Konturen, das sich aus der repetitiven und ostinaten Anlage ergibt, werden sie von den Rezipienten nicht als Wiederholung wahrgenommen und können somit auch nicht direkt auf vorher Geschehenes verweisen. Der rotierende Klangeindruck, der sich aus den Umspielungen ergibt, sorgt auch dafür, dass die Musik nicht als fortschreitend oder sich entwickelnd wahrgenommen wird. Durch die strukturelle Anlage entsteht ein in sich geschlossenes Klangbild, das trotz schnellen Tempos und differenzierter Dynamik das Bildgeschehen nicht beschleunigt, sondern zu verharren scheint. Die vielen Wechsel in der dynamischen Gestaltung und die wechselnde Anordnung der einzelnen Stimmen wirken sich gleichfalls deutlich auf die Gesamtstruktur aus. Die unterschiedlich gestalteten Phrasen lösen sich nicht einfach ab, wie dies bei einer bloßen Aneinanderreihung von blockartig angelegten Strukturen der Fall wäre. Sie interagieren miteinander, indem sie parallel erklingen und mal die eine Stimme untermalt, während die andere im Vordergrund steht und umgekehrt. Dadurch entsteht ein räumliches Klangbild, das sich durch Vorder- und Hintergrund auszeichnet und den Begriff der Klangfläche nachvollziehbar macht. Dies wird auch deutlich, wenn man den erneuten Einsatz der Sequenz aus der ersten Episode in der vierten, mit „La Profanation de l’hostie“121 betitelten, betrachtet.122 Das Kartenspiel zwischen dem Poeten und einer Frau, die aussieht wie die Statue (Lee Miller), findet auf dem Hof statt, der in der dritten Episode Schauplatz einer Schneeballschlacht zwischen Schülern ist. Ein bei der Schlacht schwer verletzter Junge liegt noch immer am Boden; neben ihm ist nun ein Spieltisch aufgebaut. Am Sockel, auf dem zuvor die Statue thronte (Abbildung 5), lehnt nun jener Mann in Kostümierung Ludwig des XV., der als Kamerad des Poeten bereits aus der ersten Episode bekannt ist; diesmal trägt er zusätzlich eine schwarze Augenmaske (Abbildung 6). Über dem Tisch hängt ein Kronleuchter, der den Kommentar des Autors „Die Stadt zeigte sich besonders an diesem Abend in großer Eleganz“

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121 Cocteau wies in seinem Vorwort von 1946 darauf hin, dass der Titel [dt. „Die Entweihung der Hostie“, Übersetzung FK] einem Gemälde von Paolo Uccello entlehnt ist, das in einer Ausstellung italienischer Kunst in London zu sehen war. Vgl. Jean Cocteau, Le Sang d’un poète, S. 65. 122 Le sang d’un poète, Min. 36:20–37:18.

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Abbildung 5: Le sang d’un poète, Min. 28:53.

Abbildung 6: Le sang d’un poète, Min. 36:22.

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(„La cité justement était ce soir-là d’une grande élégance“123) illustriert und gleichzeitig die Widersinnigkeit dieses Ausspruchs in Anbetracht des schwer verletzten, am Boden liegenden Jungen zum Ausdruck bringt. Die Passage aus der ersten Episode erklingt, allerdings in umgekehrter Reihenfolge.124 Im Tempo etwas verlangsamt und angereichert durch allerlei Schlagwerk dominiert sowohl in der ersten Passage (Figur b) als auch im darauffolgenden Mittelteil (Figur a) das Klavier die Partie. Während sich in der ersten Episode aus dem Wechselspiel von Figur a mit den jeweils anschließenden differierenden Mittelteilen eine Liedstruktur mit Figur a als Refrain ergibt, wird die Sequenz an dieser Stelle des Films durch ein Pausenklingeln unterbrochen und kurze Zeit später fortgesetzt. Diesmal macht allerdings die zweite Figur (Figur b) den Anfang, wie schon in der ersten Episode von Blechbläsern intoniert und gefolgt von Figur a. Nach einer kurzen Unterbrechung durch die Protagonistin („Vous étes un homme perdu“125) erklingt Figur a abermals, wird einmal wiederholt und beendet die Szene.126 Ebenso wie in der ersten Episode bildet die Phrase durch ihre ostinaten und sich beständig wiederholenden Pattern ein Äquivalent zu den langsam bewegten Bildern. Anstatt also den Verlauf des Leinwandgeschehens zu dokumentieren oder nachzuzeichnen, unterstützt die Musik den statischen Gesamteindruck durch das Spiel mit dem Tempo und die strukturelle Anlage der einzelnen Elemente. Die Umkehrung der Reihenfolge in der vierten Episode hat außerdem zur Folge, dass der Abschnitt nicht automatisch als wiederkehrend wahrgenommen wird. Getreu dem Motto ‚verwandt aber anders‘ fungiert er nicht als Reprise geschweige denn als leitmotivisch assoziierbares Thema, sondern wirkt trotz des neuerlichen Einsatzes eigenständig und unabhängig. Die Musik wird offenbar nicht dazu eingesetzt, Charaktere oder einzelne Szenen zu kennzeichnen, sondern um im Zusammenspiel mit den Bildern eine je spezifische Atmosphäre zu generieren. Insbesondere die dritte Episode demonstriert dies und veranschaulicht auch die Dynamik von Film und Musik.127 Die titelgebende Schneeballschlacht, bei der die Statue fast gänzlich zerstört wird, unterscheidet sich von den anderen Sequenzen durch ihr hohes Tempo. Das musikalische Geschehen steht dazu in starkem Kontrast. Eingeleitet von einem Flötentremolo erklingt zunächst eine von Blechbläsern intonierte Trauermarschphrase.128 Bereits wenig später wird diese Figur von einem Ostinato in den Holzbläserstimmen abgelöst.129 Diese beiden Phrasen erklingen abwechselnd und jeweils zwei Mal, wobei die einzelnen Stimmen je unterschiedliche Rollen einnehmen, während das Marschmotiv äquivalent zu seinem ersten Erklingen ist. Währenddessen tobt auf der Lein123 124 125 126 127

Ebd., Min. 34:49–34:54. Ebd., Min. 34:55–35:18. Ebd., Min. 36:59. Ebd., Min. 37:07–37:18. Diese Episode ist gut geeignet für eine Analyse der in der Musik wirksamen dynamischen Parameter, da hier ein zusammengehöriger Abschnitt benutzt wird. Gleichwohl können aufgrund von Cocteaus Montage natürlich keine Aussagen über die ursprüngliche Zugehörigkeit der Musik zur Szene getroffen werden. 128 Le sang d’un poète, Min. 30:15–30:53. 129 Ebd., Min. 30:53–31:21.

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wand die Schlacht. Unterbrochen wird die leidenschaftliche Auseinandersetzung von einigen Momentaufnahmen, die einzelne Szenen einfangen und entsprechend im Tempo gedrosselt sind: die blutenden Knie eines Schülers (Abbildung 7) oder der Versuch zweier Jungen, ihren Mitschüler durch das Ziehen an seinem Schal zu strangulieren (Abbildung 8).

Abbildung 7: Le sang d’un poète, Min. 31:23.

Der Kontrast, der sich aus der Kombination von den rasch bewegten Bildern und der getragenen Musik ergibt, intensiviert die Wirkung der Szene und illustriert die Grausamkeit der Jungen im Umgang miteinander auch über den Ton. Dieser Effekt ist jedoch allein auf die Postproduktion durch Cocteau zurückzuführen und unterliegt entsprechend dessen Prämisse, den Rhythmus des Films durchzuhalten und das extrem langsame Tempo zu betonen.130 In Bezug auf die Struktur von Aurics Musik kristallisiert sich eine Besonderheit heraus: Durch die Wechsel in Dynamik und Tempo entsteht ein Muster, das letztlich eine Struktur offenlegt, die mehr aus Bewegungsformen denn aus spezifischen Klangfolgen resultiert. Die kontrastierende Wirkung, die grundlegend für die Generierung des dynamischen Wechselspiels ist, speist sich nicht aus einer grundsätzlich divergierenden Gestaltung der Figuren – beispielsweise in der rhythmischen Anlage oder in der Instrumentation –, sondern entfaltet sich über den Zusammenklang aller musikalischen Elemente, die in unterschiedlichen Tempi gesetzt sind. 130 Vgl. Jean Cocteau, Das Blut eines Dichters, Vorwort von 1946, S. 12.

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Abbildung 8: Le sang d’un poète, Min. 32:11.

Hier wird deutlich, dass der Zuschauer über die Musik mit dem zeitlichen Verlauf konfrontiert wird. Die sich weiter entwickelnden kurzen Motive und der Umgang mit periodisierenden Elementen sowie die kontrastierende Gestaltung der einzelnen Sequenzen, lassen auf eine mehrteilige Anlage schließen wie sie auch die Symphonie kennt. Die Struktur der einzelnen musikalischen Ereignisse wird davon jedoch nicht wesentlich berührt – die Dynamik generiert sich auch innerhalb der Sequenzen und nicht primär aus einer formalen Anlage heraus, die erst aus der Partitur ersichtlich werden würde. Diese Eigenständigkeit der Sequenzen und ihr kontrastierender Charakter verstärkt sich durch die Behandlung der Musik, wie sie Cocteau im Sinne seines Konzepts des synchronisme accidentel vornahm. Bei aller Unterschiedlichkeit der Episoden sowohl auf der visuellen als auch auf der akustischen Ebene ergibt sich dennoch ein harmonisches Gesamtbild. Dies resultiert nicht aus dem Einsatz von Leitmotiven oder anderen zusammenhangstiftenden Parametern, sondern aus dem Rhythmus des Films. Dieser ist wesentlich von dem Vermögen der Musik geprägt, Klangräume für das Bildgeschehen zu offerieren und auszugestalten, anstatt als Kommentar zu fungieren oder einer Erzählstruktur Folge leisten zu müssen. Darüber hinaus lässt Cocteau durch das Zusammensetzen im Sinne seiner Montagemethode Passagen der musikalischen Sequenzen aufeinanderprallen, kontrastieren oder miteinander interagieren. Dadurch lösen sich ursprünglich vorhandene Bindungen auf. Der Eindruck einer unabhängigen, für sich stehenden Musik wird ganz im Sinne des Episoden-Konzepts des Films gestützt. Letztlich entsteht

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durch die Anlage der musikalischen Sequenzen als selbstständige Klangflächen ein insgesamt statisch wirkendes Gefüge, das den Episoden-Charakter und damit die formale Anlage des Films betont und die Idee einer Objektivierbarkeit von Klang aufscheinen lässt, die sich mit der ästhetischen Forderung der Surrealisten nach einer neuen Sicht auf das Objekt verbinden ließe. Volker Roloff thematisiert die Durchdringung von Cocteaus Film mit surrealistischen Ideen auf inhaltlicher Ebene, indem er darauf hinweist, dass Cocteau den antiken Orpheus-Mythos in Le sang d’un poète neu zusammensetze und dadurch eine „Farcierung und Surrealisierung“131 erziele. Der Mythos werde letztlich in eine groteske Farce verwandelt, weil Cocteau die Dramatik der antiken Mythen veranschauliche, sie rekonstruiere und gleichzeitig in grotesker Weise wieder auflöse.132 Diese „‚Farcierung‘ der Mythen“ sei jedoch „nicht nur, wie bei vielen Vorläufern, eine Form der Banalisierung oder Trivialisierung antiker Mythologie, sondern vor allem die ironische Auflösung ursprünglicher Bedeutungen, eine Verweigerung des Sinns, die den Zuschauer irritieren soll.“133

Roloffs Analogiebildung zur Programmatik der Surrealisten auf inhaltlicher Ebene entspricht jenem Bild, das sich auch aus der Untersuchung der strukturellen Anlage des Films ergibt. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit einer Abgrenzung von ästhetischer Idee und programmatischer Bewegung und verweist wiederum auf die Ähnlichkeit der Ideale an sich divergierender Gruppierungen. Zugleich zeigt sich allerdings, dass die Ignoranz der gesellschaftlichen Kontexte gerade im Fall Cocteau – Breton zu Zuordnungen führen kann, die den ideellen Kontext verkürzen. Cocteau wird von Roloff als Surrealist perspektiviert und in einer Linie mit Roger Vitrac, René Clair oder Jacques Prévert gesehen. Rückgriffe auf traditionelle Theatergattungen und -konventionen werden unter diesem Dogma subsumiert, jedoch nicht in Bezug zu der spartenübergreifenden Diskussion um ‚das Klassische‘ in der Kunst in den 1920er Jahren gesetzt und schließlich auch nicht für eine transdisziplinäre Betrachtung der Werke nutzbar gemacht. Auch Cocteaus poésie-Begriff und damit sein universeller Zugang zu diversen Medien und Kunstformen wird durch die rigide Zuschreibung von Ideologemen negiert. Le sang d’un poète als surrealistischen (Theater-)Film zu deklarieren und entsprechend in Aurics Komposition eine surrealistische Musik zu vermuten, hieße, ein ästhetisches Programm zur Methode zu erklären und die Umstände der Produktion ebenso wie den historischen Kontext zu ignorieren. b. Nachwirkungen Bereits im Jahr 1930 erschienen einige Kritiken und Artikel zu Le sang d’un poète, die auf eine Aufführung für Vertreter der Pariser Kunstszene und Protagonisten der Presse zwei Jahre vor der offiziellen Premiere hinweisen. Dass in der 131 Volker Roloff, Cocteaus Theaterfilme, S. 167. 132 Vgl. ebd., S. 168 f. 133 Ebd.

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I. Wege zum Film (1930–1933)

Vogue ein mehrseitiger Artikel zum Film mitsamt einiger Bilder vom Dreh publiziert wurde, deutet einerseits auf die gute Vernetzung Cocteaus in der Pariser Gesellschaft hin und bestätigt andererseits Vermutungen, dass auch die als private Erstaufführung deklarierte Vorpremiere des Films, die 1930 stattfand, eine wesentlich breitere Öffentlichkeit erreichte als vielfach angenommen.134 Noch unter seinem ursprünglichen Titel La Vie d’un poète geführt, besprechen Zeitschriften wie Le Figaro und La Revue musicale insbesondere auch die Rolle der Musik. Während der Film insgesamt kontrovers diskutiert wurde, ist die Kritik in Hinblick auf Aurics Komposition durchweg wohlwollend. Im Zentrum der positiven Berichte steht primär der Bezug zum Medium Tonfilm und in diesem Zusammenhang die Bedeutung von Aurics Technik für die Komposition von Filmmusik. Beispielsweise attestiert ihm der Autor eines Artikels in der Comœdia im November 1930 die Konzeption einer neuen instrumentalen Technik und konstatiert, dass die Musik der erste Soundtrack der Avantgarde sei.135 Paul Gilson veröffentlichte in der Zeitschrift Ami du peuple Ende Oktober 1930 eine Kritik, in der er herausstellt, dass Aurics Musik nicht nur „les bruits et les silences“ umrahme, sondern „pénètre, accompagne, augmente la vie même du film“.136 Damit weist er der Musik nicht nur diverse Funktionen im Film zu. Er hebt überdies auf ihre spezifische Gestaltung ab, indem er die Autonomie der klanglichen Elemente betont und verdeutlicht, dass sie den Rhythmus des Filmes maßgeblich vor- und mitbestimmt.137 André Cœuroy geht in seinem Artikel für die Revue musicale im Januar 1931 konkret auf die veränderte Handhabe der Musik durch Auric ein. Nachdem er kurz die Schwierigkeit des Kompositionsvorhabens thematisiert, die sich aus der ideellen Anlage des Films speise, fasst er Aurics Vorgehen folgendermaßen zusammen: „Auric a tourné la difficulté en créant un décor sonore bien découpé, très intelligent lui aussi, parfois même émouvant, en lignes nettes qui ne se perdent pas dans la minutie des détails à double ou triple entente dont le film est parsemé.“138

Er stellt fest, dass Aurics Komposition die erste seit der Erfindung des Tonfilms sei, die ganz den Gesetzen der phonogénie folge: „Et, pour la première fois depuis que le film sonore existe, nous avons entendue une musique qui fût de bout en bout écrite sous les lois mêmes de phonogénie. Les instruments et les 134 Siehe [o. A.] La Vie d’un poète … premier film de Jean Cocteau, in: Vogue (Oktober 1930), o. S. Cocteau war unter anderem als Illustrator für die Vogue tätig, die in jenen Jahren ein wesentliches Organ der Modewelt war. Sein Kontakt zu Coco Chanel führte mitunter zu der Vermutung, dass diese die Kostüme für Le sang d’un poète entworfen habe. In den Filmcredits gibt es allerdings keinen Hinweis auf eine Mitarbeit der Designerin. Siehe zu Cocteaus Verbindungen zur Pariser Modewelt Amber Butchart, The Fashion of Film (2016). 135 Vgl. [o. A.] ‚La Vie du Poète‘ de Jean Cocteau et Georges Auric (1930), zit. nach Carl Schmidt, The Music of Georges Auric III, S. 773. 136 Paul Gilson, Avant la présentation de … la Vie d’un poète (1930), zit. nach Carl Schmidt, The Music of Georges Auric III, S. 773. 137 Vgl. ebd. 138 André Cœuroy, Le Film Sonore: ‚La Vie d’un poète, de Cocteau-Auric‘ (1931), zit. nach Carl Schmidt, The Music of Georges Auric III, S. 774.

5. Le sang d’un poète

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registres non phono-géniques ont été impitoyablement écartés. Il en résulte une pertinence musicale à laquelle aucun des musiciens qui ont déjà travaillé pour cette nouvelle forme d’art n’avait pu encore atteindre.“139

Mit der phonogénie bringt Cœuroy einen Begriff ins Spiel, der die Debatte um den Ton im Film in den späten 1920er Jahren maßgeblich mitbestimmte und der mitunter die Eignung eines Klangs beschreibt, Objekt einer phonographischen Aufnahme sein zu können.140 Cœuroys Einschätzung geht eindeutig auf die Vorstellungen zurück, die Jean Epstein mit der Einführung des Begriffs phonogénie in die Debatte um den Tonfilm forcierte. Tatsächlich definierte Epstein mittels der Bezeichnung eine zur Kamera äquivalente Funktionsweise für den Klang. Richard Abel fasst Epsteins Vision zusammen: „Not only, he [Jean Epstein] argued should the camera regain its mobility, in order to investigate the real world, but the microphone, too should have an equal degree of mobility.“141

Er war der Auffassung, dass Kamera und Ton unabhängig voneinander sein aber denselben Grad an Mobilität aufweisen sollten. In diesem Zusammenhang kann phonogénie als gefilmter Ton verstanden werden, äquivalent zur photogénie, dem gefilmten Bild.142 Diese Mobilität des Klangs wollte Epstein mit denselben Mitteln erreichen, die auch die Kamera nutzte: „It’s across the sound fields of the vast world that we must spread our microphones, searching the expanses with sound-sticks and selective filters.“143 Auf diese Weise könne sich, so Epsteins Vision, der Klang im Sinne einer „phonogénie of film sound“ als „transformation of reality by means of the audio recorder“ etablieren und damit als Äquivalent zur weithin akzeptierten und von Louis Delluc begründeten photogénie des Filmbildes fungieren.144 Cœuroy stellt schließlich fest, dass in Aurics Musik alle Elemente, die nicht „phono-génique“ (phonogen) seien, schonungslos zurückgewiesen werden. Daraus folge eine musikalische Relevanz, die noch kein Musiker, der schon für die neue Kunstform gearbeitet hat, erreicht habe.145 Alle Rezensionen fokussieren die technische Ebene der musikalischen Anlage und verweisen damit auf die dominierende Debatte um die Möglichkeiten des Tonfilms, die Anfang der 1930er Jahre geführt wurde. Unter anderem lässt sich hieran ablesen, dass der Beginn des Jahrzehnts noch deutlich von dem Verlangen nach der Generierung einer filmspezifischen Ästhetik sowie durch die Konkurrenzierung von Bühne und Film geprägt war.146 139 Ebd. 140 Vgl. zur Debatte um die Entstehung einer Filmästhetik Richard Abel, French Film Theory and Criticism II, S. 5–37. Insbesondere die Auswahl an theoretischen Texten, die an den historischen Überblick anschließt, zeigt auf, mit welcher Vehemenz und in welcher Vielfalt filmtheoretische Debatten in Frankreich geführt wurden und inwiefern Filmästhetik und Filmkritik essentielle Bestandteile des Kunstdiskurses jener Jahre waren. 141 Richard Abel, French Film Theory and Criticism II, S. 10. 142 Vgl. Susan Hayward, French national cinema, S. 142. 143 Jean Epstein, zit. nach Richard Abel, French Film Theory and Criticism II, S. 10. 144 Ebd. 145 Vgl. André Cœuroy, Le Film Sonore: ‚La Vie d’un poète, de Cocteau-Auric (1931), zit. nach Carl Schmidt, The Music of Georges Auric III, S. 774. 146 Zur Konkurrenzierung von Bühne und Film siehe Kapitel I.4 dieser Arbeit.

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I. Wege zum Film (1930–1933)

Cœuroy stellt in seiner Rezension genau jene Aspekte der Komposition positiv heraus, die – neben anderen – dazu führten, dass sich Auric im Nachhinein von Le sang d’un poète distanzierte. Durch die Einschränkungen, die sich aus den technisch begrenzten Möglichkeiten für die Komposition ergaben, konnte Auric weit weniger frei gestalten als er es von seinen Arbeiten für die Bühne gewohnt war. Das Hervorheben bestimmter Instrumente oder subtile Klangfarbenänderungen konnten der damaligen Technik nicht standhalten und wurden eliminiert oder blieben zumindest unberücksichtigt. Diese Umstände sorgten notwendigerweise für eine Anpassung der Komposition an die vorgegebenen Bedingungen seitens des Komponisten. Auric fasst seine Erfahrungen folgendermaßen zusammen: „De ce moment date vraiment pour moi la découverte du cinéma, de ce qu’y pouvait apporter et tenter un musicien. Jusque là, en effet, je n’en avais qu’une connaissance assez imparfaite, malgré ma collaboration au Sang d’un Poète de Jean Cocteau. Les moyens techniques d’enregistrement étaient fort différents de ce qu’ils sont devenus depuis et je me sentais toujours redoutablement embarrassé … ,L’ingénieur du son‘, personnage essentiel, nous semblait alors beaucoup plus redoutable qu’il ne l’était en réalité. Avant même d’entreprendre mon travail, j’étais convaincu que toutes sortes de contraintes devaient être observées: cet instrument s’enregistrait mal, cet autre, au contraire, devait être choisi sans hésiter; tel ,aigu‘ ne ,sortirait‘ jamais et telles ,basses‘ allaient être sacrifiées, si l’on ne tenait rigoureusement compte des consignes de nos techniciens.“147

Aus dieser Schilderung geht hervor, wie sich die mangelhafte Entwicklung der Technik auf die Produktion niederschlug. Zum einen wird deutlich, wie eng der Komponist mit den jeweiligen Technikern kooperieren musste, was sich notwendigerweise auch auf den Kompositionsprozess als solchen auswirkte, wenn der Komponist die Kontrolle über das Resultat behalten wollte. Zum anderen zeigt sich, dass in der konkreten Umsetzung der Musik für die Leinwand die Eignung der musikalischen Elemente für die phonographische Umsetzung ausschlaggebend war und nicht die musikalischen Elemente als solche entscheidend für deren Verwendung gewesen sind. Dass dies nicht ohne Folge für Aurics Kompositionsweise bleiben konnte, ist nachvollziehbar. Die Fokussierung auf strukturelle Parameter sowie auf sangbare Melodien kann als Resultat dieses begrenzten Spektrums an Möglichkeiten in der tonalen Gestaltung gewertet werden und gleichfalls als Konsequenz aus dem kollektiven Arbeitsprozess, der die Kompromissbereitschaft des Komponisten ebenso herausforderte wie den weitgehenden Verzicht auf eine differenzierte Gestaltung der Klangnuancen. Ein weiterer Gesichtspunkt für die kritische Haltung, die Auric gegenüber dem Film rückblickend einnahm, ist die Beschränkung auf ein sehr begrenztes Publikum, die sowohl über die Form als auch über den Inhalt forciert wurde: „[…] c’était tout de même un ouvrage très particulier, comme forme, et limité à un public – surtout à cette époque – très réduit. Et très peu de gens, lorsqu’il a été tourné, très peu de gens l’ont vu.“148

147 Georges Auric, Vorwort zu Jacques Bourgeois, René Clair, zit. nach Colin Roust, Sounding French, S. 79. 148 Georges Auric, zit. nach Malou Haine, Quatre entretiens inédits III, S. 37.

5. Le sang d’un poète

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Diese Aussage veranschaulicht den wesentlichen Unterschied zwischen Cocteaus Zugang zum und Aurics Auffassung vom neuen Medium. Während ersterer sich deutlich von der Idee abgrenzt, Kunst müsse sich an die Welt und die Menschen richten und stattdessen – wie in Le sang d’un poète – die eigenen inneren Konflikte lösen, propagiert Letzterer in Bezug auf den Tonfilm die Notwendigkeit, dass der Künstler vor allem verstanden und von einer immensen Menschenmenge angenommen werden müsse: „[…] il impose à un artiste cette nécessité d’être compris, d’être admis par une immense foule; mais ceci ne veut pas dire que, pour être admis par cette immense foule.“149

Immer wieder kommt Auric in Artikeln und Interviews auf diesen Zusammenhang zu sprechen. Beispielsweise berichtet er von seinem ersten beruflichen Treffen mit René Clair anlässlich der Vorbereitungen zu À nous la liberté. Der Regisseur, den Auric bereits als Journalist vor 1918 und aus der Zusammenarbeit mit Satie an Entr’acte (1924) in den 1920er Jahren kannte, erklärte ihm während dieses Treffens, dass das Kino keine Sache wäre, die an Intellektuelle adressiert sei oder an ausgewählte Künstler, sondern sich an eine große Menschenmenge richte. Auric unterstreicht, dass er nach diesem Gespräch nie wieder vergaß, sich an diese große Masse zu richten und nicht an seine ‚kleinen Kameraden‘.150 Diese Äußerungen machte er jedoch erst 1955 – die Reflexion über Le sang d’un poète sowie die Einordnung des Films fand also rückwirkend statt. Folglich unterliegen seine Aussagen, in denen er kontinuierlich seine Absicht betont, für ein großes und heterogenes Publikum schreiben zu wollen, dem Bestreben, seine Werke nachträglich insgesamt in eine bestimmte Perspektive zu rücken. Mit der Betonung dieses Ideals, das Auric zunehmend als maßgebliches Motiv für seine Hinwendung zum Tonfilm installiert, gerät die Musik selbst sowie das Genre Filmmusik zur Nebensache. Auric kultiviert seine Vorstellungen bereits in der Filmmusikdebatte, an der er aktiv partizipierte. Die Konsequenzen für seine eigenen Kompositionen und deren Rezeption ergeben sich schließlich aus diesem Panorama. Über die Installierung der Vorstellung einer idealen, weil universellen Musik legitimiert er seine Hinwendung zu seinem neuen Tätigkeitsfeld, ohne Gefahr zu laufen, dass seine Aktivitäten in diesem Bereich abgewertet werden. Auf diese Weise vermeidet er sowohl die Unterstellung einer ökonomischen Motivation als auch die Zuschreibung bestimmter ästhetischer Vorstellungen. Dadurch umgeht er die Festlegung auf eine Branche ebenso wie auf einige wenige Genres und bewahrt sich stattdessen die Möglichkeit, vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten zu nutzen und immer wieder neu mit ihnen umzugehen.

149 Ebd., S. 39. 150 „Alors il [Clair] m’a fait un grand discours que je n’ai jamais oublié, pour m’expliquer que le cinéma était une chose qui s’adressait non pas à des intellectuels, à des artistes choisis, mais à une foule immense, qu’il était bien entendu que je ne devais jamais oublier que je m’adressais à cette immense foule et pas du tout à mes petits camarades …“ Ebd.

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I. Wege zum Film (1930–1933)

6. À NOUS LA LIBERTÉ (1931) Während sich die Rezeption von Le sang d’un poète wie gesehen auf ein scharf konturiertes Umfeld beschränkte, war René Clairs À nous la liberté von vornherein als Film konzipiert, der sich an eine große Öffentlichkeit richten und einfach zugänglich sein sollte. Auric machte sein Ideal einer Erweiterung der Zielgruppe nicht ohne Grund an der Zusammenarbeit mit Clair an ebendiesem Film fest, da die anvisierte Zugänglichkeit hier sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der strukturellen Ebene forciert wurde. Die Kontextualisierung des Filminhalts verweist bereits auf ideelle Parameter, die in die Handlung integriert sind. Darüber hinaus ist es sinnvoll, die theoretische Auseinandersetzung des Regisseurs mit dem Medium Tonfilm näher zu beleuchten, um die Motivation hinter dem forcierten Ideal auch auf ästhetischer Ebene dechiffrieren zu können. Hieraus lassen sich Schlussfolgerungen für den Umgang mit dem Filmton ableiten, die wiederum konstitutiv für Aurics Handhabe des musikalischen Materials sind. Mit À nous la liberté setzte Clair seine Reihe der ersten erfolgreichen Tonfilme fort, nachdem er mit Sous les Toits de Paris (1930) und Le Million (1931) bereits internationale Anerkennung erlangt hatte. Die Geschichte um die beiden Kleinkriminellen Émile und Louis bildet nicht nur das soziale Gefälle der Zeit ab, sondern zeichnet die Dystopie eines entmenschlichten, maschinengesteuerten Alltags, in dem Persönlichkeit und individuelle menschliche Bedürfnisse hinter zunehmender Industrialisierung und Kommerzialisierung verschwinden.151 Die Handlung ist vergleichsweise simpel: Beide Protagonisten planen ihre gemeinsame Flucht aus dem Gefängnis, die zunächst aber nur Louis gelingt. Dieser schafft in Freiheit den gesellschaftlichen Aufstieg, ist aber bald darauf wieder dem Diktat seines neuen Lebens unterworfen und wird schließlich durch Émile mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Seinen neu errungenen Status verliert er, um letztlich mit seinem ehemaligen Kompagnon außerhalb der Gesellschaft in ein wirklich ‚freies‘ Leben zu gehen.152 Indem Clair zahlreiche Ingredienzen des Taylorismus aufgreift und karikiert, kritisiert er die von Frederick Winslow Taylor propagierte Systematik und wendet sich allgemein gegen die Aufteilung in geistige und körperliche Arbeit und im Besonderen gegen die Einteilung der Arbeitsabläufe in kleinste repetitiv-monotone Einheiten, die zwar die Effizienz der Produktion steigern, jedoch die damit verbun151 Susan Hayward bemerkt, dass eine Vielzahl französischer Filme zu Beginn der 1930er Jahre die disparate Stimmung jener Zeit reflektieren. Die Inhalte kreisen um die dominierenden gesellschaftlichen Themen: die Weltwirtschaftskrise, die ab 1931 auch Frankreich erreichte, dadurch bedingt die zunehmende Arbeitslosigkeit, gekoppelt mit der Immobilität der Regierung. Diese Faktoren verstärkten jene Ängste, die bereits vor dem Zusammenbruch der Weltwirtschaft in der Gesellschaft angelegt waren und mit der Krise wieder ausbrachen: die Angst vor einem Verlust der gesellschaftlichen Ordnung und damit verbunden des eigenen sozialen Status’, die insbesondere die Gewinner der Revolution betraf, die den Bolschewismus und eine Diktatur gleichermaßen fürchteten. Vgl. Susan Hayward, French National Cinema, S. 124 f. 152 Das Drehbuch erschien 1968 in der Zeitschrift L’Avant-Scène Cinéma. Vgl. René Clair, À nous la liberté, in: L’Avant-Scène Cinéma 86 (November 1968), S. 25–62.

6. À nous la liberté (1931)

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dene physische und geistige Überlastung der Arbeiter nicht berücksichtigen. 1952 fasste der Regisseur die Programmatik seines Films rückblickend zusammen: „[In À nous la liberté] wollte ich gegen die Maschine kämpfen, die den Menschen versklavt hat, anstatt ihn – wie es sein müßte – glücklicher zu machen […] Der Film richtet sich gegen die Idee der Heiligkeit der Arbeit, wenn die Arbeit aufhört, interessant und individuell zu sein. Ich glaubte, daß die von mir bereitete bittere Pille sich leichter schlucken läßt, wenn sie in Unterhaltungsmusik verpackt wird.“153

Er benennt hier eine wesentliche Komponente des Films: den Einsatz von Unterhaltungsmusik. Der gezielte Einsatz von Liedern, komponierten Geräuschen und Filmmusik lässt auf eine Vormachtstellung der Musik im Film gegenüber dem gesprochenen Wort schließen. Dies wird durch den extensiven Einsatz von auditiven Elementen dokumentiert, der über weite Strecken dominiert, während gesprochene Dialoge nur äußerst sparsam eingesetzt und zudem Musik und Dialoge selten gleichzeitig zu hören sind. Für diese Gewichtung sind zwei Aspekte ausschlaggebend. Zweifellos lassen sich sowohl aus der visuellen als auch aus der akustischen Ebene des Films Elemente destillieren, die auch in den Stummfilmen der 1920er Jahre aufscheinen. Der extensive Gebrauch von Musik und Geräuschen ist eines dieser Destillate und mag – ebenso wie das Vermeiden von einem gleichzeitigen Erklingen von Dialog und anderen akustischen Parametern – auch dem technischen Stand Anfang der 1930er Jahre geschuldet sein, der noch immer damit rang, das gesprochene Wort in den Film zu integrieren. Weiters war Clair, im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, die das Ersetzen von synchronisiertem Sound durch Dialoge begrüßten, noch einer Ästhetik verpflichtet, die die Stummfilmzeit porträtiert. Im Mai 1929 räsonierte Clair über den Tonfilm: „Wir Stummfilmgetreuen wollen uns der tönenden Invasion nicht länger verschließen. Machen wir gute Miene zum tönenden Spiel. […] – Einen Ausweg sehe ich zum Beispiel im Tonfilm ohne Dialog. Vielleicht lässt sich durch ihn die Gefahr noch bannen. Man könnte sich doch vorstellen, daß die das Filmband begleitenden Geräusche und Klänge die Masse so sehr unterhielten, daß sie auf den Dialog verzichtete. So könnte man ihr eine der Bilderwelt weniger abträgliche Illusion der Wirklichkeit verschaffen. Das Publikum dürfte dieser Lösung jedoch kaum freiwillig zustimmen.“154

À nous la liberté bildet gemeinsam mit Sous les Toits de Paris und Le Million den Auftakt zu seinem Beitrag im Tonfilmzeitalter, sowohl in Bezug auf die Nutzung des neuen Experimentierfeldes der akustischen Möglichkeiten als auch hinsichtlich der visuellen Darstellung. Letzteres lässt sich insbesondere an der Art der Verkörperung der Figuren durch die Schauspieler ablesen, die sich weitaus intensiver mimisch und gestisch artikulieren, als dass sie sich der Sprache bedienen. Neben den offensichtlichen Anleihen an die Stummfilmpraxis der 1920er Jahre erklärt sich die strukturelle Anlage des Films allerdings auch aus der ästhetischen Auffassung des Regisseurs, die in zahlreichen Aussagen dokumentiert ist und vor

153 René Clair, zit. nach Jerzy Toeplitz, Geschichte des Films 2, S. 177. 154 René Clair, Vom Stummfilm zum Tonfilm, S. 94.

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I. Wege zum Film (1930–1933)

allem in der öffentlichen Debatte um Theater und Tonfilm zum Ausdruck kommt, die er mit Marcel Pagnol führte.155 Im Gegensatz zu Pagnol beharrte Clair auf einer grundsätzlichen Mediendifferenz von Theater und Film und verurteilte den Theater-Film à la Pagnol als „théâtre en conserve“, „théâtre filmé“ oder „théâtre photographié“.156 Für Pagnol hingegen stellte der Tonfilm die Möglichkeit dar, das Theater mit anderen Mitteln fortzusetzen, es wiederzubeleben und auf diese Weise das „théâtre de demain“ zu begründen – das Theater von morgen.157 Inwiefern der Tonfilm diese Chance offeriert, führte Pagnol 1930 in einem Artikel in der Zeitschrift Le Journal aus.158 Der Tonfilm ermögliche Autoren in dem Sinne gehört und gesehen zu werden, wie sie es vorsehen würden. Aufgrund der Perspektivierung des Dargestellten durch Kamera und Mikrofon sei es nun endlich möglich, dass alle Zuschauer dasselbe Stück sähen und nicht wie zuvor abhängig von ihrer Position im Zuschauerraum seien. Das Individuum, das vom Schriftsteller angesprochen würde, könne nun endlich auch als Individuum erreicht werden: „every spectator would hear the actors words just as the little round box hears them when they are recorded; in a cinema hall there aren’t a thousand spectators, there is only one.“159

Diese zunächst grundsätzlichen Beschreibungen technischer Neuerungen münden am Ende des Artikels in eine Fokussierung auf deren Potential für die Inszenierungen und einen Appell an die Autoren, das neue Medium zu nutzen: „Here’s everything this marvelous discovery offers us: we can now leap over the footlights, turn every which way on the stage, tear down all the walls of the theater, break up or fragment 155 Unter der Phrase „films sonores versus films parlants“ dominierte die Auseinandersetzung die einschlägige Presse zu Beginn der 1930er Jahre. Colin Roust erörtert den damaligen Konflikt, indem er den wesentlichen Unterschied des einen gegenüber dem anderen Format herausarbeitet und feststellt, dass beide Kategorien von den unterschiedlichen Parteien jeweils für das kritisiert wurden, wofür sie das jeweils andere Lager schätzte. In Bezug auf die films sonores meint dies die Reduzierung des Kinos auf „song-and-dance routines“, hinsichtlich der films parlants die Reduzierung des Kinos auf „filmed plays“. Colin Roust, Sounding French, S. 52. 156 Vgl. zum Theoriestreit zwischen Pagnol und Clair ausführlich Daniel Winkler, Marcel Pagnol auf dem Weg vom Theater zum Film, S. 133 ff. 157 Pagnols Annahme liegt die Auffassung zugrunde, dass es die Aufgabe des Tonfilms sei, „d’imprimer, de fixer et de diffuser le théâtre“ während es die Aufgabe des Stummfilms gewesen sei „d’imprimer, de fixer et de diffuser la pantomime“. Marcel Pagnol, Cinématurgie de Paris (1933), zit. nach Daniel Winkler, Marcel Pagnol auf dem Weg vom Theater zum Film, S. 138. Richard Abel fasst die Position des Dramatikers folgendermaßen zusammen: „First of all, film was not a medium of artistic invention or original creation. Rather it was a ,minor art‘ of recording and communicating or disseminating a work of art already conceived beforehand, primarily for the stage. Consequently the playwright was the true author of a film. Sustained verbal language or dialogue was the prime mode of discourse, and the ,language‘ of the silent cinema had to be abandoned or subordinated to speech. […] The director, cameraman, and others were merely technicians in the service of the playwright and his text and the spectacle of the stage actor.“ Richard Abel, French Film Theory and Criticism II, S. 17. 158 Vgl. Marcel Pagnol, Le film parlant offre à l’écrivain des ressources nouvelles (1930), in englischer Übersetzung erschienen in Richard Abel, French Film Theory and Criticism II, S. 55. 159 Marcel Pagnol, Le film parlant offre à l’écrivain des ressources nouvelles (1930), zit. nach Richard Abel, French Film Theory and Criticism II, S. 56.

6. À nous la liberté (1931)

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the decor or the actor … For the first time, dramatic authors will be able to achieve works which neither Molière, nor Racine, nor Shakespeare had the means even to attempt.“160

Durch Clairs Reaktion auf diesen Artikel in der Zeitschrift Pour Vous erschließt sich die Dimension des Konflikts zwischen Theater- und Filmemachern und die Tragweite der Rivalität von Bühne und Leinwand. In Les Auteurs de films n’ont pas besoin de vous hebt Clair zunächst Pagnols Unkenntnis über das Medium Film und insbesondere den Stummfilm hervor, um sich im weiteren Verlauf deutlich gegen eine Vereinnahmung des Mediums Tonfilm durch die Theatermacher auszusprechen. Er kritisiert insbesondere Pagnols Ignoranz gegenüber Filmautoren, wenn er herausstellt: „we thus learned that the cinema had been nothing up to today, but would become something when its ,intellectual‘ control belonged to the authors of plays, novels, or alexandrines – to every imaginable author except film authors.“161

Clairs Kritik zeigt auf, in welchem Maß sich die Institutionalisierung der Künste auch auf das neue Medium auswirkte. Gleichzeitig wird plausibel, dass seine Äußerungen weit mehr sind als die Reaktion eines die Arroganz der ‚alten‘ Medien anprangernden Filmemachers. Indem er für die Anerkennung der Regisseure als Filmautoren plädiert, propagiert er zugleich seine Vorstellung vom Tonfilm als einem gänzlich neuen Medium, das entsprechend einen gänzlich neuen Zugang erfordere: „The talking picture will survive only if the formula suitable to it is found, only if it can break loose from the influence of the theater and fiction, only if people make it something other than an art of imitation. […] This new form of expression needs new man. […] The profession of film author demands at least a technical apprenticeship, for which the putting together of oneact or three-act plays demands no equivalent. It is a thankless and difficult task, in which love for new things and a certain taste for adventure are indispensible for anyone who wants to bear the disappointments every film brings to an honest author.“162

In dieser Auseinandersetzung zeichnet sich bereits das ab, was sich nur wenig später als Spezifikum von Clairs Tonfilmen erweisen sollte: eine neue Konzeption, die darauf abzielt, die Hierarchisierung von Dialog, Musik und Geräusch aufzuheben, um stattdessen eine Gleichberechtigung aller im Film vorkommenden akustischen Mittel zu etablieren.163 Das heißt in letzter Konsequenz, dass auch eine Dominanz von Musik gegenüber den anderen Bestandteilen des Films negiert wird. Diese 160 Ebd., S. 57. 161 René Clair, Les Auteurs de films n’ont pas besoin de vous (1930), zit. nach Richard Abel, French Film Theory and Criticism II, S. 58. 162 Ebd., S. 58 f. [Hervorhebung im Original] Bereits in den 1920er Jahren verfasste Clair zahlreiche Artikel, die sich kritisch mit dem Diskurs Theater – Film auseinandersetzten. Siehe hierzu sowie zu seiner Filmästhetik im Allgemeinen René Clair, Réflexion faite, Paris 1951. 163 Diese Forderung ist Clairs theoretischer Reflexion seiner Zeit verhaftet: Da der Tonfilm in der Lage war, die akustische Umwelt direkt abzubilden, stand die Musik zur Disposition. Als unlogisch bis sinnlos erschien ihr Einsatz im Tonfilm den Zeitgenossen, da sie – anders als das gesprochene Wort oder das Geräusch – kein genuiner Bestandteil der abzubildenden Welt war. Vgl. zu dieser Kontextualisierung und der zentralen Frage des damaligen Diskurses, ob und wenn ja, welche Art von Musik der Tonfilm benötige, Claudia Gorbman, Unheard Melodies, S. 53–69.

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Konzeption steht in Kontrast zu den Adaptionen von Bühnenstücken ebenso wie zu den theaterhaften Darbietungen von Varieté- und Opernsängern im Film. Clair fordert stattdessen eine Verschränkung von Stumm- und Tonfilmästhetik, die sich unter anderem in der differenzierten Gestaltung der auditiven Ebene des Films ausdrückt. In À nous la liberté ist dieses Ideal ganzheitlich umgesetzt. Daneben sind auch inhaltlich Allusionen zu Musik und Musikindustrie gegeben: Nachdem Louis die Flucht aus dem Gefängnis gelungen ist, eröffnet er zunächst einen Grammophon- und Schallplattenladen. Später wird er Direktor einer Phonographenfabrik, in der sein Zellengenosse Émile nach gelungener Flucht Arbeit findet. Während inhaltlich sozialkritische Themen der Zeit aufgegriffen werden, die die Lebenswelt der Zuschauer reflektieren, entspricht der Film strukturell scheinbar einem Musikfilm, der zwischen Operette, Musikkomödie und Vaudeville changiert. Der seltsame Querstand, dass insbesondere im frühen Tonfilm sehr viel musiziert und gesungen wurde, lässt sich für den französischen Kontext insbesondere aus der Reflexion über die Funktionalität der Musik im Film nachvollziehen. Im Gegensatz zum Musikfilm widmen sich Clairs Filme, die oftmals ebenfalls diesem (dem Musiktheater verhafteten) Genre zugeordnet werden, vor allem der Frage, ob und inwieweit die Bildsequenzen an musikalischen Formverläufen orientiert sein können. Der dramaturgische Aspekt scheint insbesondere in Bezug auf Sous les toits de Paris zweitrangig. Die Handlung wird durch den Einsatz und die Darbietung von Musikstücken nicht unterbrochen, vielmehr sind Lieder, komponierte Geräuscheffekte und Tanzsequenzen als strukturgebende Elemente eingebunden. Die Musik, die Auric für À nous la liberté komponierte, bildet zusammen mit allen anderen akustischen Erscheinungen, die er entwarf, einen Klangteppich zu den Bildern, der allerdings in verschiedene Kontexte verwoben ist. Die musikalischen Parameter reichern die Bildebene also nicht an, sondern erweitern oder bedingen sie erst – in ihnen ist Clairs Subtext angelegt, der unmissverständlich gesellschaftliche Entwicklungen kritisiert und dem Zuschauer moralisierend den richtigen Weg weisen möchte. Auf diese Weise gelingt Clair eine Verknüpfung der realen (thematischen) Sphäre mit der strukturellen Anlage des Films auf akustischer Ebene. In letzter Konsequenz konstruiert er eine neue Filmwirklichkeit. Diese Filmwirklichkeit ist in sich durchaus logisch, fungiert jedoch nicht als Spiegelung der wirklichen Welt, sondern eher als Metapher oder Gleichnis zu dieser.164 Vor diesem Hintergrund wird die musikalische Gestaltung plausibel: Die von Auric komponierten Geräusche sind ein Resultat ebenso wie die Rhythmisierung der Bilder durch Musik und der Einsatz von Liedern zur Illustration innerer Monologe und inhaltlicher Zusammenhänge. Um die Verzahnung von Filmtheorie und -praxis in À nous la liberté zu veranschaulichen, beleuchten die nun folgenden Ausführungen die Beziehungen zwischen musikalischem Rhythmus, Bewegung, Bild und Handlung im Film. Anschließend wird die Funk164 Das Szenenbild von Lazare Meerson interagiert sowohl mit der inhaltlichen als auch mit der strukturellen Anlage des Films und dient somit ebenfalls als Vergleichsfolie für die Wirklichkeit, ohne diese konkret abbilden zu müssen. Meerson wurde für seine Arbeit in À nous la liberté 1932 für den Oscar nominiert.

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tionsweise der Geräusche und Lieder näher untersucht, mit dem Ziel, Aurics Kompositionsstrategien in Hinblick auf Sprache und Effekte zu rekonstruieren. Auf Basis der Analysen wird die Filmpraxis mit den theoretischen Ausführungen in der Diskussion um die Ästhetik des Tonfilms enggeführt, um abschließend den übergeordneten ideellen Horizont der Konzepte sichtbar zu machen. a. Rhythmus und Bewegung Oftmals wurde À nous la liberté mit Charlie Chaplins Film Modern Times (1936) verglichen.165 Tatsächlich ist die Ähnlichkeit der beiden Streifen frappierend; die Wahl des Sujets ist eine dieser Analogien, die sich allerdings aus der Zeitbezogenheit des Themas ergibt. Charlie Chaplin gerät in Modern Times in das Räderwerk einer Maschine und droht, von ihr verschlungen zu werden. Damit rückt jene Thematik ins Bild, die Clair fünf Jahre zuvor mit seinen Bezügen zum mechanisierten, maschinengesteuerten Alltag der Insassen in Gefängnis und Fabrik in Szene setzte: das Verschwinden des Individuums hinter zunehmender Fremdbestimmung, die sich aus der umfassenden Technisierung, Dynamisierung und Automatisierung des alltäglichen Lebens und der Arbeitswelt ergibt. Neben diesem thematischen Bezugspunkt ist es die Gestaltung der Szenen und Gags, die beide Filme verbindet – insbesondere die letzte Szene sei an dieser Stelle genannt. Hier dominiert das Komische, das sich nicht über die Sprache artikuliert, sondern in der Gestik und Mimik der Darsteller ausdrückt. Aus dieser Anlage ergibt sich für À nous la liberté ein stilistisches Tableau, das zum einen Clairs Aussage widerspiegelt, 165 Die deutsche Filmproduktionsgesellschaft Tobis, die René Clairs Film produzierte, bezichtigte Chaplin sogar des Plagiats und der Nachahmung an À nous la liberté und forderte ihn auf, den Film zurückzuziehen. Nach einem jahrelangen Rechtsstreit zahlte Chaplin der Tobis schließlich eine Entschädigung, widersagte aber weiterhin allen Vorwürfen. Tatsächlich scheint ein anderer Gesichtspunkt wesentlicher gewesen zu sein als das angebliche Plagiat. 1936, als Chaplins Modern Times auf die Leinwand kam, stand die Tobis als zweitgrößte Filmproduktionsfirma nach der UFA bereits unter dem Einfluss von Joseph Goebbels. Ihr Direktor wurde dementsprechend Goebbels Freund Helmut Schreiber, auch wenn sie offiziell noch bis 1942 – bis zur endgültigen Gleichschaltung durch die Nationalsozialisten – als selbstständiges Unternehmen firmierte. Die Tobis war für die neuen Machthaber insbesondere interessant, weil sie mit der Vereinnahmung der Firma erstens ihren Propagandaapparat ausbauen und zweitens die bereits gleichgeschaltete UFA von ihren Konkurrenten befreien konnte. Die 1934 begonnene und 1939 abgeschlossene Umbildung der Tobis in eine sogenannte ‚reichsmittelbare Firma‘ stellte Goebbels’ gelungenen ersten Versuch einer von der Öffentlichkeit gänzlich unbemerkten feindlichen Übernahme einer Filmgesellschaft dar. Es ist also nicht verwunderlich, dass die Tobis die äquivalente – weil zeitbezogene – Themenwahl der Regisseure als Vorwand nahm, um Chaplin auf dieser Ebene den Kampf anzusagen. Clair distanzierte sich von den Vorwürfen der Tobis an Charlie Chaplin und erklärte öffentlich, dass er Anleihen an seinen Film, sofern sie vorhanden sein sollten, als Hommage des großen Filmemachers an ihn selbst verstünde und sich geehrt fühle. Clairs Bewunderung für Chaplin geht aus zahlreichen Artikeln hervor. Vgl. beispielsweise René Clair, Refléxion faite oder ders., Vom Stummfilm zum Tonfilm. Auch Auric outet sich in seinen Memoiren als Bewunderer des Filmemachers, vgl. Georges Auric, Quand j’étais là, S. 153 f.

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eine ‚bittere Pille‘ sei unterhaltsam verpackt leichter zu schlucken, zum anderen lassen sich drei wesentliche Parameter herauslesen, die auch auf die Funktion von Musik und Klang im Film verweisen: erstens die Reflexion von Musik als Zeitkunst, die nach 1900 bestimmend wurde für den musikalischen Diskurs und eine Fokussierung auf rhythmische Modelle und Bewegung auslöste, die mit dem Film eine weitere Ausdifferenzierung erfuhr.166 Zweitens das Attribut der Masse, das in Wechselwirkung zum Topos des Fragmentarischen steht und sowohl die Rezeption als auch die Ebene der Produktion prägt. Drittens die Doppeldeutigkeit in der Reflexion der aktuellen Entwicklungen, die den Menschen einerseits als Opfer dieser Entwicklungen, andererseits als Konstrukteur ebendieser erscheinen lässt. Alle drei Idiome lassen sich in Bezug zu musikalischen Attributen setzen. Mit einem Musikanteil von über 80 Prozent entspricht À nous la liberté dem, was Clair in seinen Reflexionen über den Film rückblickend dem französischen Film attestierte: „Der französische Film schien Pagnols Postulat weit voraus zu sein. Auch den Bühnenfilm hinter sich zurücklassend entwickelte er sich zu etwas, wofür keine Sprache einen Namen hat: zu illustriertem Ton.“167

Bereits 1929 formulierte er eine Strategie, die als Alternative zum Sprechfilm seine Vorstellung von einer autonomen Ästhetik ausdrückt, die sich tradierten Konventionen in den Künsten entsagt: „Und doch wäre es möglich, sich des Tons zu bedienen, ohne auf die Vorteile des Stummfilms zu verzichten. Der gesprochene Text könnte an Stelle eines Zwischentextes treten und nur als Hilfsmittel benutzt werden. Ich stelle mir einen bündigen neutralen Text vor, der keinerlei visuelle Opfer erforderte.“168

Diese Aussage bildet den hohen Stellenwert ab, den das gesprochene Wort in den frühen Tonfilmen einnahm, weshalb auch die Debatte um Theater und Film konsequent weitergeführt wurde.169 In Clairs Strategie formte sich jenes Ideal einer Verschränkung von Stumm- und Tonfilmästhetik aus, das schließlich in À nous la liberté weiter verfolgt wurde und seinem Postulat vom illustrierten Ton Konturen verlieh.

166 Zur Diskussion des Themas Rhythmus im Filmbild sowie zur gesamtgesellschaftlichen Kontextualisierung siehe beispielsweise Robin Curtis / Marc Glöde, Haptische Rhythmen: Visuelle Intervalle in der rhythmischen Wahrnehmung (2005) oder auch Wilhelm Seidel, Rhythmus. Eine Begriffsbestimmung, Darmstadt 1976. Einen kursorischen Überblick über den theoretischen Diskurs seit Beginn des 20. Jahrhunderts bietet beispielsweise Peter Röthig, Beiträge zur Theorie und Lehre vom Rhythmus, Schorndorf 1966. 167 René Clair, Vom Stummfilm zum Tonfilm, S. 111. 168 Ebd., S. 103. Die Zwischentitel des Stummfilms hatte Clair vielfach als überflüssig und störend angeprangert. 169 Entsprechend wurde der frühe Tonfilm auch mit dem Begriff Sprechfilm belegt. Der Terminus verweist auf die Tatsache, dass der Ton während der Aufführungen von Filmen im Kino selbstverständlich war. 1932 wendete Rudolf von Arnheim die Bezeichnung abwertend auf jene Filme an, die allein die gesprochene Sprache als künstlerisches Ausdrucksmittel einsetzten. Vgl. James zu Hüningen, Art. Sprechfilm, in: Lexikon der Filmbegriffe, o. S.

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Die Themen des Films sind dem Publikum durch ihre Zeitbezogenheit vertraut und leicht zugänglich. Seine Logik resultiert allerdings nicht aus semantischen Zusammenhängen, sondern wird über formale Bezüge hergestellt. Damit rückt jenes Moment ins Zentrum, das bezeichnend für den Kunstdiskurs der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist: der Rhythmus. An die Stelle der Entwicklung von Motiven und Themen treten Verfahren wie die Montage und Improvisation. Allen gemein ist das Fehlen eines Endpunkts. Sie entwickeln sich nicht mehr zu einem Punkt hin, sondern stellen sich als eine Aneinanderreihung von Momenten dar, die zwar aufeinander bezogen sein können, jedoch ohne narrativen oder dramaturgischen Entwicklungsstrukturen zu folgen. Stattdessen bestimmt das Anordnen – das Montieren – jener Sequenzen die dramaturgische Anlage. Diese ästhetische Neuausrichtung, die sich seit Beginn des Jahrhunderts herausbildete und auf zahlreiche Kunstrichtungen wirkte, wird als Technik beschreibbar, wenn man sie auf Clairs Tonfilmideal bezieht. Mechanik, Vitalität und Kraft als bestimmende Paradigmen des neuen Jahrhunderts werden durch die Fokussierung auf den Rhythmus auch in den Künsten ausgedrückt. Mit Bezug auf Stravinskys Bühnenwerke betont Monika Woitas, dass „rhythmusbasierte Kompositionen ebenso wie die Nummern einer Revue grundsätzlich offen“ seien und nennt die zahlreichen Gestaltungsmöglichkeiten, die sich aus dieser Genese ergeben: „sie können umgruppiert oder erweitert werden, sich wiederholen, jederzeit abbrechen.“170 Diese Beobachtung verweist auf einen wesentlichen Aspekt des filmischen Rhythmus: das Fragmentarische, das sich im Filmbild äußert, indem die Kamera bestimmt, was gezeigt und welche Perspektiven vom Zuschauer eingenommen werden. Dieser Aspekt verdeutlicht außerdem die symbiotische Beziehung, die Ton und Bild eingehen, da der Film als eine Abfolge einzelner Sequenzen zu verstehen ist, die nur durch die technische Beschleunigung in einen Bewegungsfluss versetzt werden und erst dadurch einen flüssigen Ablauf suggerieren. Aurics Musik zu À nous la liberté lässt sich in diesen Kontext einordnen: Die Partitur gestaltet sich als Potpourri musikalischer Fragmente, die über die gesamte Filmdauer repetiert und variiert werden. Eine Vielzahl der Motive basiert dabei auf Modellen wie Marsch, Walzer, Foxtrott oder Tango – allesamt beliebte Genres der Pariser Unterhaltungskultur. Sie alle rekurrieren auf einen motorischen Impuls: Gehen oder Tanzen. Ein weiteres Charakteristikum sind die Verfolgungsszenen, die als integrale Bestandteile von Clairs Stummfilmen vielfach noch in seinen ersten Tonfilmen aufscheinen. In À nous la liberté haben insgesamt neun Szenen dieses Stummfilm-Klischee zum Gegenstand. Sie alle sind von einer Musik grundiert, die dem entspricht, was Colin Roust als „silent film music“171 definiert. Gemeint ist die dynamische Musik, die Bewegungen im Bild nachzeichnet. Roust hebt vor allem die melodische und dynamische Struktur dieser Episoden hervor, wenn er für die insgesamt vier musikalischen Themen dieser Szenen einen Aufbau in „call-and-response fashion“172 ausmacht, in dem sich Solo- und Tutti-Passagen 170 Monika Woitas, Sprache, Rhythmus und Bewegung, S. 245. 171 Colin Roust, Sounding French, S. 61. 172 Ebd., S. 62.

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abwechseln. Er verweist ferner auf die Typologisierung dieser Sequenzen indem er einem Brief von Auric eine Kompositionsanweisung an einen seiner Ghostwriter entnimmt, aus der die wesentlichen Eigenschaften und die Etablierung des Verfolgungsmotivs auch auf kompositorischer Ebene hervorgehen: „Donc, musique du style ,poursuite‘, avec ,tuttis‘ et, surtout dans le N° VII, vers la fin, le maximum d’intensité sonore.“173 Zum einen reflektieren diese Ausführungen die Nähe des Films zum Stummfilm der Vorjahre und verweisen auf die Realisierung von Clairs Tonfilmideal, ein Hybrid, der sich aus der Verschränkung von Stumm- und Tonfilmästhetik generiert. Zum anderen scheint auch hinsichtlich der Verfolgungsszenen jenes Bezugssystem auf, das über diesen Ansatz hinaus weist: die Rückführung der musikalischen Konstruktion auf den Topos der Bewegung. Zwei Szenen veranschaulichen dies besonders deutlich, gleichzeitig demonstrieren sie die Choreographie von Musik und motorischer Aktion im Bild. Louis Flucht aus dem Gefängnis zu Beginn des Films, an die sich die erste Hetzjagd anschließt, wird eingeleitet von einem dreitönigen synkopierten Auftakt der Blechbläser. Nachdem die Bassstimme im Anschluss daran über zwei Takte den zugrundeliegenden 4/4-Takt vorgibt, setzt das Saxophon ebenfalls auftaktig mit einer ostinaten Achtel-Figur ein. Diese Figur erklingt insgesamt vier Mal und wird bei jedem Einsatz um ein weiteres Instrument ergänzt. Tonal aufsteigend illustriert sie das visuelle Geschehen: Louise erklimmt hier – noch unentdeckt – die Mauer des Gefängnisses. Oben angekommen endet das Motiv im Tutti der Bläserstimmen.

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Abbildung 9: Einleitung der Flucht aus dem Gefängnis, À nous La Liberté, Min. 08:20–08:40.

Mit zwei kurzen Pfiffen aus einer Trillerpfeife und dem Schrillen des Alarms beginnt darauf folgend die eigentliche Flucht. Die ostinate Figur des Tenorsaxophons erklingt nun in doppeltem Tempo und bildet das Fundament für die Piccoloflöten, die unmittelbar mit ihrem dreitaktigen Motiv einsetzen, das von der Bassstimme fortgeführt wird, um im Anschluss erneut in tieferer Lage von der Solo-Trompete aufgegriffen zu werden. Dieses Motiv ist ein Ausschnitt aus dem Titellied À nous la liberté. Die ersten zwei Zeilen des Refrains, denen eigentlich der Text „Mon vieux copain, la vie est belle / Quand on connaît la liberté“ zugrunde liegt, erklingen während der Flucht in einer stark beschleunigten, instrumentalen Version. Während des

173 Georges Auric, zit. nach Colin Roust, Sounding French, S. 64. Roust erläutert, dass Auric in den späten 1940er Jahren oftmals gleichzeitig an mehreren Filmen arbeitete. Wenn das Arbeitspensum zu hoch wurde, engagierte er Tibor Harsányi, um einige Sequenzen von ihm schreiben zu lassen. Erstmals arbeiteten sie zusammen als Harsányi Aurics Oper Sous le masque (1927) orchestrierte. Vgl. ebd.

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weiteren Verlaufs der Szene wird das Motiv durchgehend von unterschiedlichen Instrumenten und in variierten Tonhöhen repetiert und umspielt.174

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Abbildung 10: Musikalisches Motiv der Fluchtszene, À nous La Liberté, Min. 08:46–10:05.

Der Marsch ist im Film vor allem an die Themen Freiheit und Freundschaft gekoppelt und entsprechend eng mit den beiden Protagonisten Émile und Louis verknüpft. In zahlreichen Variationen wird er über die gesamte Filmdauer repetiert und variiert. Auf diese Weise konturiert er den Film motivisch und verweist auf die vielfältigen Vorstellungen von Freiheit, die Clair auf visueller Ebene vorstellt.175 In beiden Szenen wird der grundierende Rhythmus in der Bassstimme akzentuiert, indem er zunächst solo eingeführt wird und die betonten Zählzeiten im weiteren Verlauf akustisch verstärkt werden, beispielsweise durch den Einsatz von Schlagwerk oder weiterer Instrumente. Die Verknüpfung unterschiedlicher musikalischer Sequenzen findet ebenfalls über den jeweiligen Rhythmus statt. Der Marschrhythmus des Titelliedes wird durch das Marschieren der Gefangenen und Wächter bereits zu Beginn des Films vorbereitet, das ohne Musik und Dialog in Szene gesetzt ist. In der Vorbereitung der Flucht ist er durch das Titellied vernehmbar, das die Protagonisten flüsternd vortragen und das hier bereits instrumental begleitet und durch Schlagwerk angereichert ist.176 In der anschließenden Einleitung zur Fluchtszene wird das zugrunde liegende rhythmische Motiv von der Bassstimme vorgegeben und auf der betonten Zählzeit verstärkt. Der regelmäßige Marschrhythmus steht hierbei in Kontrast zur ostinaten Figur des Solo-Saxophons. In der Fluchtszene ist der Marschrhythmus schließlich als dominante motivische Figur gesetzt, die beständig repetiert und in verschiedenen Tonhöhen und von unterschiedlichen Instrumenten wiedergegeben und umspielt wird und das musikali174 Während Louis die zweite Mauer erklimmt, kristallisiert sich endgültig heraus, dass es Émile nicht mehr gelingen wird, seinem Kompagnon zu folgen. Entsprechend wird das OstinatoMotiv nun tonal abwärts geführt. Ihm voraus geht außerdem eine chromatisch absteigende Linie, die von den Holzbläsern intoniert wird. Während die Wächter Émile abführen und Louis seine Flucht fortsetzt, wird es abermals wie zu Beginn aufwärts geführt und gewinnt an Dynamik, um mit Louis’ Verlassen des Geländes letztlich in einem Tutti aller Instrumente zu kulminieren, welches das vorläufige Ende der dramatischen Szene markiert. 175 Clairs Bilder setzen dieses kompositorische©Prinzip ebenfalls um. Ihnen liegt ein Thema zugrunde (beispielsweise das Gefängnis), das zunächst vorgestellt wird, um dann in unterschiedlichsten Varianten über die gesamte Filmdauer wiederholt zu werden. 176 À nous la liberté, Min. 06:40–08:10.

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sche Geschehen dominiert.177 Die Ostinato-Figur des Saxophons stellt das zweite rhythmische Modell dar, das über mehrere Szenen hinweg eingesetzt ist und auf diese Weise zum Bindeglied avanciert. Eingeführt wird es in der Einleitung der Flucht, um schließlich in der Fluchtszene in einer diminuierten Variante das rhythmische Fundament für alle anderen tonalen Ereignisse zu bilden.178 Bezeichnend für diese ersten Szenen des Films ist das Spiel mit rhythmischen Modellen. Auric generiert über die vielfältige Gestaltung des Rhythmus eine abwechslungsreiche Musik, die jedoch immer auf den Ursprung des jeweiligen rhythmischen Musters rekurriert und trotz divergierender Tempi und den dazu korrespondierenden Bewegungen im Bild dieselbe rhythmische Basis hat: das Gehen. Dem Geschehen auf der Leinwand entsprechend tritt mal der Marschrhythmus selbst in den Vordergrund, mal die Ostinato-Figur des Saxophons. Beiden Modellen ist ihr spezifisches Bewegungspotential eigen, das sich vor allem in der Gleichmäßigkeit der Struktur artikuliert und durch das konsequente Repetieren den Zuschauer durch die Szenen leitet. Vom Marschieren der Gefangenen über das Erklimmen der Mauer hin zur eigentlichen Flucht werden die Bewegungsmodi (Marschieren, Klettern, Laufen) durch die Musik zueinander in Beziehung gesetzt. Die Reduktion auf ein zugrunde liegendes Bewegungsmuster ermöglicht dabei erstens die Vernetzung unterschiedlicher rhythmischer Modelle und damit die Strukturierung von Zeit im Film und motiviert zweitens die Bewegung im Bild. Entsprechend bestimmt nicht die Dramaturgie der Handlung den Rhythmus des Films. Vielmehr illustriert die Musik das Geschehen und überträgt außerdem die strukturelle Anlage des Filmbildes auf die akustische Ebene. Dieser Transformationsprozess bildet die wechselseitige Beziehung von Filmbild und -klang exemplarisch ab. Das durch Schnitt und Montage erzielte visuelle Muster zeichnet sich durch den Zusammenprall einzelner Fragmente aus: Die Struktur, die sich aus den Perspektivwechseln, diversen Einstellungen und Detailansichten generiert, wird von der Musik gespiegelt. Die Konstruktion des Filmbildes erschließt sich dem Zuschauer entsprechend auch über die Dimension des Klangs, der sich ebenso wie die Bilder nicht linear entwickelt, sondern aus einzelnen Zellen montiert ist. Vice versa zeigt sich die rhythmische Konstruktion der Musik auch über das Filmbild: Das visuelle Fragment findet seine Entsprechung im akustischen und umgekehrt. Bild und Musik bilden eine Einheit, weil der Rhythmus die Handlung dominiert. Im Zusammenspiel mit den motorischen Aktionen der Darsteller entsteht zudem eine Choreographie zwischen Bild- und Musikgeschehen, die jenseits von der inhaltlichen Ebene des Films angesiedelt ist.179 Nach seiner erfolgreichen Flucht 177 Zudem ist das Motiv hier ebenfalls akzentuiert: Die Klanghölzer sind zum einen in derselben Funktion beim erstmaligen Erklingen des Liedes genutzt worden, zum anderen imitieren sie den transparenten Klang des Klackerns von Holzpantinen in den Gefängnisszenen. 178 À nous la liberté, Min. 08:10–10:05. 179 Die Lenkung des dramaturgischen Verlaufs über das Organisationsprinzip Rhythmus konstatiert Erika Fischer-Lichte auch für das Theater, dies allerdings insbesondere seit den 1970er Jahren. Vgl. Erika Fischer-Lichte, Rhythmus als Organisationsprinzip von Aufführungen, S. 237. Zum Bezugsfeld Rhythmus – Körper – Musik in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts siehe Sabine Meine / Katharina Hottmann, Puppen, Huren, Roboter. Körper der Moderne in der Musik zwischen 1900 und 1930 (2005) sowie zu vielfältigen Perspektivierungen

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aus den Gefängnismauern sind Louis seine Verfolger dicht auf den Fersen. Panisch rennt er in einen Fahrradfahrer hinein, der daraufhin stürzt. Louis nutzt die Gunst der Stunde als er sieht, dass ihm ein Auto folgt und schnappt sich das Rennrad, um seine Flucht beschleunigt fortsetzen zu können. Die anschließende Verfolgungsszene – Louis rasante Fahrradfahrt – wird musikalisch durch den Choeur des poursuivants gestaltet.180 Der Chorus wird dabei immer dann unterbrochen, wenn sich Louis nach seinen Verfolgern umdreht. Auf diese Weise entsteht ein Wechselspiel zwischen dem agilen, synkopierten Rhythmus des Chorus und den rhythmisch statischen Partien, die von Saxophon, Trompete und Trommelwirbeln umgesetzt werden.

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Abbildung 11: Choeur des poursuivants, À nous La Liberté, Min. 10:10–10:40.181

Die Instrumentation der Episode sowie die rhythmische Akzentuierung durch Ratschen und Lyra evozieren denselben rhythmischen Duktus, der auch aus den vorherigen Szenen bekannt ist. Die gesangliche Interpretation durch einen Männerchor sowie die Textierung des Chorus lassen ebenso wie der Marsch À nous la liberté Revolutionsgesänge assoziieren, während aus der metrischen Gestaltung des Textes ein Schema erkennbar wird, das durch die Einbettung in das Filmbild weniger deutlich aufscheint: der Abzählreim.182 Insbesondere die Wiederholungsstruktur und das Reimschema der Verse sowie die Setzung von Anaphern evozieren diesen Eindruck:

und Konzeptionen von Rhythmus allgemein Christa Brüstle [u. a.] (Hg.), Aus dem Takt. Rhythmus in Kunst, Kultur und Natur (2005). 180 À nous la liberté, Min. 10:10–10:40. 181 Um die rhythmische Anlage abzubilden, ist der Choeur des poursuivants hier als RhythmusNotation dargestellt. Die Transkription orientiert sich an Colin Rousts Übertragung in ders., Sounding French, S. 63. Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang außerdem Rousts Anmerkung zur nachträglichen (Um-)Textierung des Chorus. Vgl. ebd. 182 Aurics À nous la liberté etablierte sich im Nachhinein tatsächlich als Revolutionsgesang, der heute noch von einschlägigen Organisationen wie dem Toulouser Chor Canaille du midi als Revolutionsgesang interpretiert wird. Siehe beispielsweise das Repertoire auf der Website des Chores [online abrufbar unter http://canailledumidi.free.fr/?-Repertoire- (07.09.2018)].

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I. Wege zum Film (1930–1933) Regardez-le, le voici / C’est lui, mon ami, c’est lui! Rejoignez-le, par ici / C’est lui, mon ami, c’est lui! Ça sera bientôt fini / Vas-y mon ami, vas-y! Nous arrivons mon ami / Ça sera bientôt fini! Il arrive, le voici / C’est le vainqueur! Gloire à lui!

Was für den Zuschauer offensichtlich ist und der Text bereits intendiert, wird Louis erst wesentlich später klar. Als er in eine Menschenmenge fährt, die ihm zujubelt und ihn beglückwünscht und kurz danach weitere Fahrradfahrer eintreffen, geht ihm auf, dass er soeben an einem Radrennen teilgenommen und dieses gewonnen hat. Die vermeintlichen Verfolger sind nicht etwa Gefängniswächter, die ihm auf den Fersen sind, sondern ihn anfeuernde Fans, die das Rennen im Auto begleiten und den Männerchor als Interpreten im Filmbild verankern. Das rhythmische Changieren zwischen dem agilen Chorus und den instrumentalen Ruhepunkten während der Fahrt setzt das stilistische Frage-Antwort-Spiel, das Colin Roust für die Kompositionspraxis der Stummfilmmusik ausmacht, auf der rhythmischen Ebene um.183 Darüber hinaus entsprechen Louis’ Bewegungen dem synkopierten Rhythmus, der dem Gesang zugrunde liegt. Die Gestik der Darsteller reflektiert wiederum die gesungenen Worte. Das Ganze kulminiert in der Zieleinfahrt, in der das Winken des Publikums auf den musikalischen Rhythmus abgestimmt ist. Das motorische Moment des Fahrens, das bis dahin mit dem Gesang verbunden wurde, kann auf diese Weise in die anschließende Aktion überführt werden. Das Potential dieser Transformationsprozesse, die durch die Fokussierung auf den Rhythmus ermöglicht werden, erschließt sich, wenn man den erneuten Einsatz der musikalischen Sequenz am Ende des Films betrachtet. Zum Bild fliegender Zylinder und Geldscheine erklingt erneut der Choeur des poursuivants, diesmal instrumental und in einer beschleunigten Variante, die mit den umherfliegenden Objekten und umherrennenden Menschen korrespondiert.184 Die Dynamisierung wird durch das erhöhte Tempo sowie das Aussetzen der rhythmischen Ruhepunkte erzielt. Die Darsteller sind in zwei Gruppen aufgeteilt, Arbeiter und Funktionäre, die durch ihre Kleidung erkennbar sind. In diesen Gruppen rennen sie geschlossen als Masse durch das Bild. Das aberwitzig hohe Tempo der Musik illustriert die Dynamik des Bildes. Die repetitive Grundstruktur des Chorus tritt durch das Fehlen der Ruhepunkte klar hervor und reflektiert die organisierte und exakte Bewegung der zwei Gruppen. Entsprechend geht Aurics Musik über die Interpretation als Stummfilmklischee Verfolgungsjagd hinaus. Seine Kompositionen verweisen durch ihre Bauweise aus kleinsten repetitiven Einheiten auf die übergeordneten Themen des Films: Mechanisierung, De-Individualisierung und Automatisierung. Wesentlich ist, dass jegliches musikalisches Material – Lieder, Geräusche und instrumentale Passagen – auf diese Weise konstruiert ist und sich die Dynamik des Films nicht aus einem melodisch-harmonischen Verlauf ergibt, sondern aus dem grundierenden Rhythmus, der Bild und Ton zueinander in Beziehung setzt. Der Topos der planvollen und exakten Konstruktion ist im Film umgesetzt und veranschaulicht die Nähe von Auric und Clair zu den ästhetischen Idealen der 183 Vgl. Colin Roust, Sounding French, S. 62. 184 À nous la liberté, Min. 1:19:41–1:20:09.

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künstlerischen Avantgarde der 1920er Jahre. In dem Anspruch, Inspiration durch Konstruktion zu ersetzen, ist eine weitere Denkfigur verankert, die in Aurics Kompositionstechnik durchscheint und in À nous la liberté realisiert wird: Der Gegensatz von Ordnung und Chaos, der sich im Rückgriff auf simple und klare Strukturen und Regelhaftigkeit ausdrückt und in Gegensatz zum dionysischen Kunstideal des 19. Jahrhunderts steht aber auch in Kontrast zu den improvisierten Musiken der Filmorchester der Stummfilmzeit. Die Aktualität dieser Denkfigur speist sich jedoch auch aus einem unmittelbaren thematischen Zeitbezug, der insbesondere in Filmen wie Chaplins Modern Times oder Clairs À nous la liberté hervortritt: die Mechanisierung und Technisierung der Arbeits- und Lebenswelt, die den Menschen jedoch nicht als ein Opfer seiner Errungenschaften darstellt, sondern als verantwortlichen Erfinder und maßgeblichen Konstrukteur ebendieser.185 Aus diesem Zugang erklärt sich die Architektur des Films: Wenn Louis gegen Ende verlauten lässt „Organisation et progrès, voilà notre devise“186, so ist dies vordergründig inhaltlich begründet. Ebendieser Ausspruch wird in der strukturellen Anlage des Films karikiert und reflektiert. Er potenziert auf diese Weise Clairs Kritik an den bestehenden Konventionen. b. Gesang, Geräusch und Musik Vergleicht man Clairs erste Tonfilme – Sous les toits de paris, Le Million und À nous la liberté – miteinander, lässt sich feststellen, dass alle drei musikalische Unterhaltungsformen in Szene setzen. Sous les toits de Paris bildet die Pariser Alltagswelt mit ihren Straßensängern ab und zeichnet ein Bild, das Unterhaltung noch jenseits von Massenunterhaltung darstellt: Paris als überschaubare Metropole in deren Straßen und Cafés sich die Bewohner verlustieren und musizieren. In Le Million sind Music-Hall und Opéra comique ins Bild gesetzt und portraitieren die 185 Mit den Abstraktionsprozessen in den Künsten nach 1900, die sich in der Musik ebenso wie in der Malerei, im Theater und in der Architektur in der Reflexion und Reduktion des jeweiligen Materials – Rhythmus und Ton – ausdrückten, gehen Prozesse der Depersonalisierung bishin zur Dehumanisierung (die Identifikation des Menschen mit der Maschine) einher. Diese Prozesse sind in zeittypischen Manifestationen von Bewegungen wie den Futuristen formuliert und werden sowohl wohlwollend als auch kritisch insbesondere in Bühnenstücken wie Oskar Schlemmers Triadischem Ballett (UA 1922), Karel Čapeks Roboterdrama R. U. R (Rossum’s Universal Robots) oder in Friedrich Kieslers elektromechanischen Bühnenbildern umgesetzt. Der Titel von Čapeks Stück etablierte das Wort Roboter als Bezeichnung für eine dem Menschen täuschend ähnlich sehende Maschine (vergleichbar dem heutigen Androiden). Überdies ist die lautschriftliche Adaption des tschechischen Wortes rozum im Namen Rossum gesetzt; es bedeutet im Deutschen Vernunft oder Verstand. Siehe für eine Kontextualisierung der Re-theatralisierungsbestrebungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und den damit zusammenhängenden Abstraktions- und Depersonalisierungprozessen im Theater Anke Bosse, Abstraktion und Depersonalisierung. Zum Begriff der Retheatralisierung (Georg Fuchs) und dem Versuch, den Körper und seine Bewegungsmöglichkeiten in das Theater zu re-integrieren siehe beispielsweise Hanno Ehrlicher, Überholte Körper? Mensch und Mechanik im Avantgardefilm der 20er Jahre, in: Michael Lommel [u. a.] (Hg.), Französische Theaterfilme, S. 185–214. 186 À nous la liberté, Min. 1:12:29.

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zunehmende Kommerzialisierung von Unterhaltung und damit zusammenhängend das wachsende Interesse der Bevölkerung an Formaten des Massenentertainments. In À nous la liberté nehmen der Phonograph und die Phonographenindustrie eine zentrale Rolle ein. Insofern man die Filme auf dieser inhaltlichen Ebene miteinander in Beziehung setzt, zeichnet Clair in dieser Trilogie die Entwicklung des „vocal entertainment“ nach und postuliert den Film als alleinigen Erben der dort portraitierten Formen von Unterhaltung, so Dudley Andrew und Steven Ungar.187 Vor diesem Hintergrund überrascht es wenig, dass eine Vielzahl von Liedern im Film eingesetzt sind, von denen vier als Reduktion für Klavier und Gesang und als Ausgabe für Gesang solo im Verlag Max Eschig erschienen.188 Diese für den Hausgebrauch gedachten Editionen umfassen den Marsch À nous la liberté, den Walzer Viens, toi qui m’aimerais, den Tango nocturne sowie den Magic-Park Fox-Trot.189 Die Vermarktung von Filmsongs in einem von der deutschen Tobis produzierten Film ist ein Jahr nach dem Erfolg von Die Drei von der Tankstelle (1930) wenig erstaunlich. Allerdings muss die Bedeutung des Liedes im Film für den französischen Kontext auch jenseits von ökonomischen Bestrebungen seitens der Produzenten betrachtet werden. Folgt man Kelly Conways Ausführungen, ist die Einbindung von Liedern und deren Interpreten im französischen Film der 1930er Jahre ein Phänomen, das sowohl den Film als auch die populäre Musik nachhaltig prägte. Anhand einer Discographie der Bibliothèque nationale eruiert sie, dass in einem Langspiel187 Vgl. Dudley Andrew / Steven Ungar, Popular Front Paris and the Poetics of Culture, S. 189. Der Straßensänger aus Sous les toits de Paris weicht den Shows der Café-Concerts und Variétés. Diese werden wiederum von den großangelegten Shows der Music-Halls verdrängt, die ihrerseits mit dem Tonfilm konkurrieren und durch das neue Medium schließlich eine Neuausrichtung erfahren, jedoch nie wieder ihre alte Größe erlangen und in den 1930er Jahren mehr und mehr verdrängt werden und nur noch einem kleinen Kreis zugänglich sind. Vgl. ebd. 188 Alle Lieder sind speziell für den Film entstanden. Die Texte stammen von Clair, während die Vertonung Auric verantwortete. Auric war zu jener Zeit kein Neuling auf dem Gebiet der Liedkomposition und Textvertonung; 1929 erschienen bei Gallimard seine Six poèmes de Paul Éluard, daneben veröffentlichte er eine Vielzahl an Chansons, die oftmals stilistische Parameter der Unterhaltungskultur aufgriffen, insbesondere der Music-Halls und Café-Concerts oder rhythmische Modelle populärer Modetänze adaptierten. Dieser selbstverständliche Umgang mit der Populärkultur seiner Zeit resultiert aus Aurics Nähe zu Music-Hall, Variété und anderen Formen der Pariser Unterhaltungskultur, die er mit seinem Freundes- und Bekanntenkreis in Paris teilte. Siehe zu Aurics Vertonungen beispielsweise Peter Jost, Les mélodies de Georges Auric et de Francis Poulenc. Zu Cocteaus Einfluss auf den jungen Komponisten insbesondere hinsichtlich der Unterhaltungskultur der 1920er Jahre siehe Ornella Volta, Auric / Poulenc / Milhaud l’école du Music-Hall selon Cocteau. 189 Vgl. Carl Schmidt, The Music of Georges Auric III, S. 780 f. Eine Werbebroschüre des Films gibt Auskunft darüber, dass alle vier Lieder als Audio-Einspielungen im Handel zu erwerben sind. Vgl. Colin Roust, Sounding French, S. 54. Der Werkkatalog führt im Gegensatz zu Roust lediglich die Einspielung des Walzers Viens, toi qui m’aimerais auf. Vgl. Carl Schmidt, The Music of Georges Auric III, S. 790. Es ist denkbar, dass die Ankündigung in der Werbebroschüre aus Marketinggründen erfolgte, die Umsetzung letztlich jedoch nicht zustande kam. Clair entfernte für die Neufassung des Films 1950 die Szene, in der Émile im Blumenfeld erwacht und die des streitenden Liebespaares. Entsprechend sind der Magic-Parc Fox-Trot und der Tango nocturne in der endgültigen Version nicht mehr enthalten. Die fehlenden Szenen sind in der DVD Edition der Criterion Collection als special features enthalten.

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film durchschnittlich drei Lieder zu Gehör gebracht wurden.190 Ihr extensiver Einsatz in Filmen, die keine Genres wie die Operette zum Gegenstand hatten oder als Repräsentationsplattform für Sänger dienen wollten, sei dem Umstand geschuldet, dass der französische Film der frühen 1930er Jahre „absorbed performers and performance styles from live popular entertainment such as the music hall.“191 Damit benennt Conway ein wesentliches Signum, das zum einen erhellend ist für das Bezugsfeld Lied – Film – Kino und zum anderen Aufschluss geben kann über die Verwendung der Lieder in À nous la liberté. Im Gegensatz zu den ersten beiden Filmen greift der Letzte weder auf den stilisierten Topos Paris zurück noch auf Formate der öffentlichen und damit gemeinschaftlichen Unterhaltung. Anstelle der vielfältigen Formen von Massenunterhaltung rückt mit dem Phonographen ein Motiv ins Bild, das einen weiteren Aspekt der Veränderungen vor Augen führt: den Einzug des Öffentlichen in den privaten Raum und damit verknüpft, die Mobilisierung der Menschen über lokale, gesellschaftliche und soziale Grenzen hinweg.192 Dieser Gesichtspunkt beleuchtet auch die Karriere von Liedern im Film und begründet unter anderem auch den Rückgang der Unterhaltungsetablissements in den 1930er Jahren. Aufgrund der Möglichkeit der ortsungebundenen Verbreitung der Lieder durch Radio und Schallplatte stellte der Film aus ökonomischer Sicht auch für die Interpreten ein lukrativeres Geschäft dar, weshalb die Größen der Unterhaltungsbranche mehr und mehr zum Film abwanderten. Sukzessive wurden zudem zahlreiche Veranstaltungsorte in Kinos umgewandelt, um der steigenden Nachfrage der Bevölkerung nach Filmen gerecht werden zu können.193 Schließlich entwickelte sich durch das Verfügbarmachen von Musik auf Tonträgern und im Rundfunk ein gänzlich neuer Modus des Musikerlebens. Neben Musik-als-Praxis und Musik-als-Ereignis entstand das Ideal einer Musik, das insbesondere auf den Konsum in den eigenen vier Wänden abhob und die Vorstellung von Musik als Soundtrack zum Alltag umsetzte.194 190 In den Produktionen, die sich auf einen Sänger fokussierten oder als Operetten-Adaption konzipiert wurden, waren es logischerweise wesentlich mehr. Conway konstatiert für diese Formate bis zu 16 Lieder. Vgl. Kelley Conway, Flower of the Asphalt, S. 134 f. Conway bezieht sich auf die Discographie von Giusy Basile und Chantal Gavouyère, La Chanson française dans le cinéma des années trente: Discographie (1996). 191 Ebd., S. 135. 192 Auch die Mechanismen und Strategien des Rundfunks sind an dieser Stelle mitzudenken. Zur Geschichte des Hörfunks und Fernsehens in Frankreich siehe beispielsweise Christian Brochand, Histoire générale de la radio et de la télévision en France. Tome I. 1921–1944 (1994). 193 Während die Kinos aufgrund ihrer Popularität immer zahlreicher und günstiger wurden und somit zum neuen massenkompatiblen Organ heranwachsen konnten, mussten die alten Institutionen, die vormals für Massenunterhaltung im Sinne einer für jeden erschwinglichen Unterhaltung standen, ihre Strategie dem Markt anpassen. Die Konsequenz waren Preiserhöhungen und ein Programm, das sich vom Kino emanzipierte, indem es vor allem das zeigte, was in den Filmen aufgrund der Zensur nicht gezeigt werden durfte. Clairs Produktionen stellen auch in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar – er beschäftigte beispielsweise keine Stars. Vgl. zur Veränderung der französischen Unterhaltungskultur Dudley Andrew / Steven Ungar, Popular Front Paris and the Poetics of Culture, S. 206 ff. 194 Ein Vorbote dieses neuen Modus ist die funktionsorientierte Musik, die nach dem Ersten Weltkrieg entstand. Insbesondere Saties Musique d’ameublement (1917–1920) stellt das Konzept

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À nous la liberté spiegelt diese Denkfigur, indem der Film den Topos Masse zentral setzt und auf drei verschiedenen Ebenen reflektiert: erstens inhaltlich in der Thematisierung von Fließbandarbeit mit all ihren Konsequenzen und dem Phonographen als Symbol für Massenkultur. Zweitens visuell in den Massenchoreographien der Fabrik- und Gefängnisszenen und drittens ideell durch das Medium Tonfilm, das unter anderem aufgrund der hohen Produktionskosten darauf ausgerichtet war, einem möglichst großen Publikum gerecht zu werden. Insbesondere der letzte Aspekt veranschaulicht die Vehemenz, mit der sich Clair von tradierten Formen der Unterhaltungskultur abgrenzt. Theater und Oper werden von ihm in eine Sphäre verschoben, die den Eliten vorbehalten ist, während der Film als Statthalter einer Populärkultur positioniert wird, zu der alle Gesellschaftsschichten Zugang haben. Dieses Ideal einer universal gültigen und verfügbaren Kunst manifestiert sich in dem Ausspruch einer Musik für alle, wie sie von Auric und der zeitgenössischen Presse gefordert wurde. Aus diesem Panorama lassen sich Tendenzen ableiten, in denen strukturelle Eigenschaften hervortreten, die letztlich auch Aufschluss über die Rolle von Musik im Film geben können. Die Lieder erfüllen in À nous la liberté spezielle Funktionen, die weniger über den Text als vielmehr über Aurics Musik zum Ausdruck kommen. Ebenso wie die Textierung, die auf eine gesangliche Interpretation abzielt, verweist ihr wechselnder Einsatz – in- oder außerhalb der Filmwirklichkeit – auf den narrativen Impetus, der in ihnen angelegt ist. So ersetzen sie beispielsweise das gesprochene Wort und fungieren als Kommentar, der über den (gesungenen) Text die Handlung anzeigt und plausibel macht – vergleichbar mit dem Chor im antiken Drama. Während Louis vor seinen vermeintlichen Verfolgern wegradelt, singt der Männerchor „Ce sera bientôt fini“ („Dies wird bald vorbei sein“) und suggeriert dem Zuschauer auf diese Weise, dass Louis Fluchtversuch bald ein Ende finden wird – ob gelungen oder nicht bleibt offen. Der Überraschungseffekt, der sich mit der Zieleinfahrt einstellt, wird über die Erwartungshaltung generiert, die der Text evoziert.195 Der Marsch À nous la liberté taucht im Film wiederum in unzähligen Variationen über die gesamte Filmdauer auf. Die eingängige Melodie gepaart mit dem Marschrhythmus klassifiziert das Stück als prägnantes Motiv, das nicht unbedingt eines Textes bedarf, um seine Wirkung zu entfalten. Vielmehr ergibt sich diese aus der Kombination mit dem Filmbild. Die Variationen beruhen nicht auf einer veränderten melodischen oder rhythmischen Anlage, sondern betreffen die instrumentale Gestaltung, das Tempo und die Dynamik. Weiters wird der Refrain auch losgelöst von den Strophen gesetzt und umgekehrt und sowohl rein instrumental interpretiert als auch instrumental und vokal oder a capella dargeboten.

einer Musik aus, die als Kulisse fungiert. Dies wird bereits über die Titel der einzelnen Stücke des Zyklus transportiert: Akustische Fliesen (Carrelage Phonique), Tapete aus Schmiedeeisen (Tapisserie en Fer Forgé), Wandbehang für ein Chefbüro (Tenture de Cabinet Préfectoral) oder Industrielle Klänge (Sons industrielle). Der letzte Titel widerspiegelt zudem den starken Zeitbezug der Stücke. 195 À nous la liberté, Min. 10:04–10:55.

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Anders als Leitmotive, die an Charaktere gebunden sind und ihr Wiedererkennungspotential primär durch ihre Unveränderlichkeit und spezifische Zuordnung entfalten, ist der Marsch in verschiedene thematische Kontexte eingewoben und nicht rollengebunden. Die Zergliederung des Stücks in einzelne Bestandteile – Strophe oder Refrain oder Fragmente dieser Teile – wird bereits aus der kompositorischen Anlage heraus ermöglicht. Aufgrund des prägnanten rhythmischen Fundaments und der eingängigen, repetitiven Melodie ist es möglich, einzelne Abschnitte aus dem Lied herauszulösen, ohne dessen Charakter zu verwirken. Gleichzeitig tritt durch die Prägnanz der musikalischen Gestaltung die Textierung in den Hintergrund.196 Entsprechend variabel ist der Einsatz des Liedes im Film. Generell steht es für die Themen Freundschaft und Freiheit. Den verschiedenen Vorstellungen von Freiheit entsprechen die vielen Variationen des Marsches. Der Text greift wiederum jenes freiheitliche Ideal auf, das im Subtext des Films angelegt ist und über die Filmrealität hinausweist: Freiheit jenseits eines (kapitalistischen) Gesellschaftssystems und jenseits jeglicher Konventionen: La liberté, c’est toute l’existence / Mais les humains ont crée les prisons. / Les règlements, les lois, les convenances / Et les travaux, les bureaux, les maisons. / Ai-je raison? Alors disons: Mon vieux copain, la vie est belle / Quand on connait la liberté! / N’attendons plus partons vers elle / L’air pur est bon pour la sante! / Partout si l’on en croit l’histoire / Partout on peut rire et chanter, / Partout on peut aimer et boire / À nous, à nous la liberté! Pourquoi faut-il se compliquer la vie / Pour de l’argent se faire des cheveux / Alors qu’on peut suivre sa fantaisie / Quand on est libre, on fait tout ce qu’on veut. / On vit heureux selon ses vœux. Mon vieux copain, la vie est douce / Vivons comme vivent les fleurs. / Ne pas en fiche une secousse / C’est le vrai secret du bonheur. / Partout si l’on en croit l’histoire / Partout on peut rire et chanter, / Partout on peut aimer et boire / À nous, à nous la liberté! Il ne faut pas penser au mariage / Quand on est fait pour courir les chemins / En attendant d’être assagis par l’âge / Contentons-nous d’amours sans lendemain. / C’est le destin mon vieux copain. Mon vieux copain, la vie est ronde / Les femmes vont de tous côtés. / Quand nous verrons le bout du monde / Il sera temps de s’arrêter. / Partout si l’on en croit l’histoire / Partout on peut rire et chanter, / Partout on peut aimer et boire / À nous, à nous la liberté!197

Aurics Musik ist aufgrund ihrer kompositorischen Anlage nicht nur als Vertonung von Clairs Text verwendbar, sondern wird – fragmentiert und/oder variiert – als musikalischer Baustein innerhalb des Films eingesetzt und geht auf diese Weise 196 Dies wird schon durch die Verwendung des Marsches im Vorspann deutlich. Hier erklingt er in einer instrumentalen Version als Medley mit dem Walzer Viens toi qui m’aimerais. Die semantische Konnotation bleibt dem Zuschauer also zunächst verborgen. 197 Die Allgemeingültigkeit des Textes ebenso wie der musikalische Gestus des Marsches ist letztlich dafür verantwortlich gewesen, dass À nous la liberté jenseits seines filmischen Kontexts Berühmtheit erlangte und vielfach interpretiert wurde und wird. Insbesondere in linkspolitischen Gruppierungen und Protestbewegungen avancierte es zu einem wichtigen Widerstandslied. Ähnlich verhält es sich mit dem Walzer Viens toi qui m’aimerais, der als Liebeslied jenseits des Films weit verbreitet ist.

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über eine Existenz als bloße Gesangsnummer hinaus. Diese Eigenschaft teilen die vier veröffentlichten Lieder. Sie unterscheiden sich damit von jenen, die aufgrund ihres Textes unmittelbar an die Filmhandlung geknüpft sind. Die Vormachtstellung des rhythmischen Fundaments gegenüber den anderen Bestandteilen der Komposition ermöglicht überdies die Flexibilität des Einsatzes und verweist ferner auf einen ästhetischen Impetus, der in der Architektur des Stücks angelegt ist und sich in dem Widerspruch des maßvollen, regelmäßigen und kontrollierten Marschrhythmus mit dem Text artikuliert, der freiheitliche Ideale propagiert. Das Lied, das in der Szene erklingt, in der Émile als potentieller Arbeitnehmer in der Fabrik vorstellig wird, ist unmittelbar mit der Handlung verknüpft und offenbart jene symbolische Dimension der Musik, die auch im Marsch angelegt ist, wobei sich in diesem Beispiel die textuelle und die musikalische Ebene entsprechen und nicht in Opposition zueinander gesetzt sind. Émile befindet sich mit anderen Männern im Rekrutierungsbüro der Phonographenfabrik. Im Raum ertönt das Lied Vous qui désirez un emploi in Dauerschleife, das sich durch die nasale Stimmfärbung sofort als Tonaufnahme zu erkennen gibt.198 Der Text ist eine Handlungsanweisung an die Männer und wird entsprechend sowohl von den Protagonisten im Filmraum als auch von den Zuschauern im Kinosaal gehört: Vous qui désirez un emploi / Dites-nous votre nom, votre âge / Marquez l’empreinte de vos doigts / Retournez-vous et marchez droit! / Nous vous don-ne-rons de l’ou-vrage!

Dem Text entsprechend entsteht eine Choreographie, die insbesondere durch die Zeile „Retournez-vous et marchez droit“ anschaulich wird. Während seine Mitbewerber den Anweisungen des Tonbands widerstandslos folgen, muss Émile von einem Wachmann ermahnt werden, der ihn in die vorgegebene Ordnung integrieren möchte. In dem kurzen gesprochenen Dialog, der sich aufgrund von Émiles Widerspenstigkeit zwischen den beiden entspannt, tritt die Zwanghaftigkeit dieser vorgegebenen Ordnung deutlich hervor: Émile möchte gehen. Auf die Frage des Wachmanns wohin er wolle, antwortet er, dass er den Raum verlassen möchte, woraufhin dieser erwidert, ob er denn nicht wisse, was er wolle. Nach dieser Aussage erklingt erneut der Anfang des Liedes mit der Textzeile „Vous qui désirez un emploi“, zeitgleich dazu betritt Jeanne den Raum, in die sich Émile sofort verliebt. Neben der unmissverständlichen Mimik wird der semantische Gehalt in der Szene durch die Musik anschaulich: Émile gibt seinem Wunsch nach Arbeit statt, allerdings aufgrund des höheren Ziels, Jeanne wiedersehen zu können. Dafür ist er bereit, sich erneut einem zwanghaften System zu unterwerfen. Anders als im Gefängnis trifft er die Entscheidung für eine Reglementierung durch andere diesmal jedoch selbst. Neben diesem direkt in der Handlung zu verortenden Bezug von Lied(-text) und Aktion ist hier eine weiterreichende Dimension der Musik im Film erkennbar. 198 À nous la liberté, Min. 24:48–26:00. Die Titel der unveröffentlichten Lieder sind Clairs Entwurf der Liedtexte entnommen, der in der BnF im Nachlass René Clair einsehbar ist. Vgl. À nous la liberté!: Paroles des chansons, BnF, Département des Arts du Spectacle, Fonds René Clair [4-COL-84].

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Die Topoi Reglementierung, Organisation, Mechanisierung und Zwang sind an Lied und Liedtext und damit an Musik gekoppelt, während Individualität, Subjektivität und Natürlichkeit von Émile als renitentem Darsteller verkörpert werden. Die musikalische Gestaltung entspricht dieser Zuordnung: Die repetitive Grundstruktur des Liedes betont die mechanische Dimension der Musik ebenso wie die pausenlose und invariable Wiederholung des kurzen Stücks über die gesamte Dauer der Szene. Die bewusste Verfremdung der Gesangsstimme entspricht dem intendierten künstlich-maschinellen Charakter außerdem. Während die Aktionen der anderen Arbeiter von der Musik organisiert sind, stört Émile durch seine Mimik, Gestik und Bewegung den vorgegebenen Ablauf. In beiden Beispielen erzeugt die Musik einen Subtext, der vom Zuschauer identifiziert werden soll. Als in Klang gesetztes Regelwerk symbolisiert sie den Duktus des Mechanischen, Zwanghaften und Kontrollierten und fungiert somit als Symbol für den thematischen Horizont von À nous la liberté. Während der Marsch auch ohne das Filmbild seine Geschichte erzählen kann, ist die Vorstellung, das Publikum würde zu Hause Vous qui désirez un emploi anstimmen, zumindest amüsant. Ebenso vermittelt sich der ironische Gehalt des Chant de la prison nur in der Verbindung von Männerchorus und Bild. Es zeigt sich, dass die Handlung anders als im Operetten-Film, Film-Musical oder Vaudeville nicht durch die Gesangseinlagen unterbrochen wird, sondern mit ihnen verflochten ist. Auch der Filmrhythmus wird nicht von Musiknummern bestimmt. Vielmehr bilden Handlung und gesungenes Wort eine Einheit, während Kamera und die anderen Bestandteile der Tonspur – Geräusch und Musik – den Topos der Bewegung transportieren und den Rhythmus des Films definieren. Durch diese strukturelle Anlage gibt Clair dem gesprochenen Wort nur marginal Raum und setzt seine ästhetische Losung von dessen Überflüssigkeit im Film um. Diese Überflüssigkeit ist auch in den wenigen zumeist improvisierten Dialogen angelegt. Sie werden primär als Effekte eingesetzt, um das visuell Dargestellte beispielsweise durch einen kurzen verbalen Schlagabtausch, eine Nonsens-Konversation oder Ähnliches zu betonen, transportieren aber keine für die Handlung oder den thematischen Impuls des Films relevanten Informationen und sind also weder symbolische Bedeutungsträger wie der Phonograph noch Informationsträger wie die Lieder. Stattdessen verstärken sie die Aussagekraft und Wirkung von Bild und Musik, indem sie die dort angelegten Intentionen verdoppeln. Indem Clair also die Bedeutung des gesprochenen Wortes für die Vermittlung von Inhalten und Informationen entkräftet, stützt er seine These vom Tonfilm als einem Medium, das in Opposition zur Sprechbühne des Theaters steht und sich in letzter Konsequenz dem gesprochenen Wort verweigern müsse, um sich emanzipieren zu können und nicht als Fortsetzung des Theaters im Sinne eines „théâtre de demain“ (Pagnol) sein Potential einzubüßen. Hier zeigt sich besonders deutlich, inwiefern die ideologische Dimension der Ästhetik und damit eine geistige Haltung auf die Gestaltung der Kunstwerke selbst einwirkt: dass auch gesungene Sprache zunächst einmal Sprache ist, der dasselbe Zeichensystem zugrunde liegt – nämlich der Text – , ignoriert Clair in seinen theoretischen Reflexionen ebenso wie in der Praxis zugunsten der von ihm propagierten Abgrenzung gegenüber dem Theater,

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die den Versuchen einer Re-Theatralisierung durch das Medium Film widerspricht, wie sie unter anderem Marcel Pagnol vorschwebte.199 Der Perspektivwechsel, der sich im Film mit der Möglichkeit einer Synchronisation von Bild und Ton vollzog, führte letztlich nicht nur zu einer differenzierteren Gestaltung von Musik und Bild, sondern zu einer neuen Sicht auf die Welt. Während Filme bis Ende der 1920er Jahre noch versuchten, den Menschen und seine Umgebung in Gänze zu dokumentieren und festzuhalten, veränderte sich diese Sichtweise mit Beginn der 1930er Jahre. An die Stelle umfassender Gesamtschauen auf Metropolen und Menschen200 traten Filme, die einzelne Facetten aufgriffen und diese durch die Möglichkeiten der Kamera vielseitig perspektivierten. Dieser Verschiebung entspricht die strukturelle Anlage: Die Segmentierung in szenische Einheiten ersetzt die Gliederung in Handlungseinheiten und bestimmt die Wahrnehmungsperspektive des Films. Der Segmentierung auf der visuellen und inhaltlichen Ebene entspricht wiederum auch die Segmentierung seitens der Musik. Mit dieser veränderten Perspektivierung einher geht die differenzierte musikalische Gestaltung der Filme, die Clair rückblickend zusammenfasst: „Zu Beginn der Tonfilmära bediente man sich der ganzen Tonklaviatur, die das Mikrophon wiedergab. Bald merkte man jedoch, daß die simple Kopie der Wirklichkeit einen ganz unwirklichen Eindruck vermittelte und Töne ebenso sorgfältig ausgewählt sein wollen wie Bilder.“201

Clair reflektiert hier nicht nur über die Umstrukturierung der verschiedenen gestalterischen Sphären im Film, sondern verweist zugleich auf deren Vermittlungspotential. Dadurch rückt ein gemeinsamer Nenner von Musik und Bild in den Fokus der Betrachtung, der die dezidierte Gestaltung aller Elemente erst notwendig macht: die Gestik. Die Gestik als Primat macht wiederum zweierlei deutlich. Zum einen wird klar, dass der Film einer gestisch geprägten Szenerie, wie sie das Ballett kennt, näher steht als der Sprechbühne.202 Darüber hinaus wird mit dem Gestischen wieder auf das Moment der Bewegung verwiesen, das sich unter anderem im Rhythmus artikuliert und Bild und Musik verbindet, denn nur durch ein Zusammenwirken von Musik als Motor der Bewegung und Bild als Weiterführung dieser intendierten Bewegung kann die Reflexion von bewegten Bildern wie sie der Film realisiert, authentisch wirken. Ferner ist mit der Gestik der Topos des Verweisens, des Zeigens angesprochen, der Filmen inhärent ist. Damit rückt ein weiteres Element der akustischen Sphäre aufs Tableau: Das Geräusch, das aufgrund seines Wirkungspotentials als Signal, Effekt oder Symbol in einen Dialog tritt mit der visuellen wie auch

199 Zur europaweiten Bewegung, die um 1900 entstand, um das Theater als eigenständige Kunst wiederzubeleben siehe Anke Bosse, Abstraktion der Bühne und Depersonalisierung, S. 65. 200 Als Beispiele wären hier Stummfilme wie Walter Ruttmanns Sinfonie einer Grossstadt (1927) und Melodie der Welt (1929) zu nennen sowie Dsiga Wertows Der Mann mit der Kamera (1929). 201 René Clair, Vom Stummfilm zum Tonfilm, S. 95. 202 Hanns Eisler und Theodor W. Adorno führten in ihrer erstmals 1947 unter dem Titel Composing for the Films in Amerika publizierten Schrift das Beispiel gefilmter Theaterdialoge an, um die Distanz dieser medialen Ausformungen zueinander zu verdeutlichen. Die deutsche Ausgabe veröffentlichte Hanns Eisler 1949 unter dem Titel Komposition für den Film in Ostberlin.

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mit allen anderen Bestandteilen der akustischen Sphäre und nur im Zusammenspiel seine Wirkung entfalten kann. In À nous la liberté fungieren die Geräusche als Statthalter für die Klänge der Alltagswelt. Nahezu alle Geräusche, die ursprünglich naturalistischen Quellen entstammten, wurden in der Postproduktion durch Musik von Auric ersetzt.203 Welche Wirkung diese stilisierte Geräuschkulisse auf die Zuschauer ausübte, macht eine Kritik zum Film in der London Times deutlich, in der es heißt: „In the use of sonority M. Clair has also advanced since his last production [Le Million]. Conversation has been reduced to the barest minimum and does little more than take the place of the old-fashioned caption, while a selection of significant sounds has been welded into M. Georges Auric’s admirable music, so as to form with it an indivisible whole, which seems to accompany the picture as inevitably as the music of [Arthur] Sullivan accompanies the words of [William Schwenck] Gilbert.“204

Diese Beobachtung reflektiert das, was Clair bereits 1929 in Bezug auf den Einsatz von Toneffekten am Beispiel des britischen Film-Musicals Broadway Melody (1929) konstatierte, indem er für den sparsamen Einsatz von Toneffekten plädierte, die er in dieser Produktion im besten Sinn realisiert sah. Anhand zweier Szenen zeigt er auf, was Geräusche im Tonfilm leisten können und resümiert, dass diese Beispiele veranschaulichten, wie der Ton im richtigen Augenblick das Bild ersetze.205 Der maßvolle und durchdachte Einsatz von Effekten auf der einen und die Ersetzung des Bildes durch den Ton auf der anderen Seite entsprechen wiederum dem, was in der filmästhetischen Debatte zu Beginn der 1930er Jahre sowohl in Frankreich als auch im Ausland von Filmtheoretikern wie Béla Balasz und Rudolf Arnheim oder Komponisten wie Kurt Weill diskutiert wurde und die sukzessive Weiterentwicklung dessen darstellt, was Sergeij Eisenstein, Wsewolod Pudowkin und Grigori Alexandrow 1928 in ihrem Manifest zum Tonfilm anmahnten: die unbedingte Vermeidung eines Parallelismus von Bild und Ton und stattdessen die kontrapunktische Verwendung des Tons in Bezug zum Bild, um eine „überflüssige Verdopplung der Wirklichkeit“206 zu vermeiden. Clair entspricht diesen Forderungen, wenn er feststellt: „Die besten Ton- und Sprecheffekte werden durch den abwechselnden Gebrauch von Bild und Ton erzielt, nicht durch deren Gleichzeitigkeit. Vielleicht ist diese erste sich aus dem Chaos lösende Regel eines der technischen Axiome von morgen?“207

203 Zahlreiche dieser Effekte spezifizierte Clair in seinem Drehbuch. Colin Roust nennt beispielsweise die Geräuschkulisse während der Arbeit am Fließband oder Motorengeräusche von Autos. Außer den Trillerpfeifen der Gefängniswächter und Fabrikaufseher und den Schritten der marschierenden Gefangenen und Arbeiter wurden alle ursprünglich vorgesehenen Geräuscheffekte durch komponierte Klänge ersetzt. Vgl. Colin Roust, Sounding French, S. 53. 204 [o. A.] M. René Clair’s New Film, in: London Times (29. Dezember 1931), zit. nach Carl Schmidt, The Music of Georges Auric III, S. 788. 205 Vgl. René Clair, Vom Stummfilm zum Tonfilm, S. 98 f. Clair sah den Film im Mai 1929 während eines Aufenthalts in London, der durch mehrere Briefe belegt ist. 206 Peter Moormann, Musik und Geräusch im frühen Tonfilm, S. 56. 207 René Clair, Vom Stummfilm zum Tonfilm, S. 99.

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In Bezug auf die Geräusche ist neben dem Aspekt der Un- bzw. Gleichzeitigkeit von Bild und Ton jedoch vor allem die Ausgestaltung der Elemente durch den Komponisten relevant. Wenn Clair in À nous la liberté beinahe alle Geräusche durch komponierte Klänge ersetzen lässt, hat dies zumindest zwei Gründe. Erstens differierte die Qualität von aufgenommenen naturalistischen Geräuschen aus der Umgebung erheblich zu jenem Klangkorpus der eingespielten Filmmusik, weshalb eine Einspielung von Geräuschen die Qualitätsunterschiede kaschieren konnte. Zweitens entspricht die Stilisierung der Geräusche dem, was der Regisseur hinsichtlich der Illusion von Wirklichkeit für den Film fordert, wenn er nach einer „der Bilderwelt weniger abträglichen Illusion der Wirklichkeit“208 verlangt. Die Nachbildung von Geräuschen mit orchestralen Mitteln ist bereits im späten Stummfilm zu beobachten. Béla Balasz erörterte in diesem Zusammenhang 1930, dass die rhythmische Prägnanz von Geräuschen eine „fließende ‚Tonüberblendung‘ zur Musik des Orchesters“ ermögliche und vor allem der „Originalrhythmus des Geräusches adaptiert werde“.209 Dieser Einschätzung entspricht Aurics Handhabe des Materials. Wenn die Arbeiter das Gelände der Phonographenfabrik betreten, bedienen sie große Zähler, die an den Eingangstoren angebracht sind, um ihren Arbeitsantritt anzuzeigen. Nacheinander treten sie an die Apparaturen und betätigen eine Kurbel. Der ganze Prozess dauert wenige Sekunden und wird über die Musik anschaulich gemacht, die aus einem dreitönigen Motiv der Holzbläser besteht, gefolgt von einer Antwort auf die drei Töne in den Blechbläserstimmen. Zwischen dem Motiv und seiner Beantwortung wird die Triangel geschlagen, um das Bedienen der Kurbel durch die Arbeiter anzuzeigen.210 Die musikalische Imitation des Vorgangs entfaltet ihre Wirkung aufgrund der Kürze des Motivs und der Monotonie, die durch die simple Klang- und Rhythmusstruktur und die Wiederholung hervorgerufen wird. Im Sinne einer kontrapunktischen Behandlung von Bild und Ton lässt sich feststellen, dass die in der Theorie lancierte Asynchronität zum einen durch Verfremdungseffekte und zum anderen durch die Montage von verschiedenen Klangelementen erzielt wird: Während die Gefangenen zu Beginn des Films Holzpferde produzieren, singen sie den Chant de la prison.211 Dieser wird angereichert durch die Imitation des Geräusches, das erklingt, wenn sie mit dem Hammer wahlweise auf den Korpus oder die Beine der Pferde schlagen, um diese zu befestigen. Der Chorus ist von einer Geräuschkulisse begleitet, die vorgibt, jene zu sein, welche die Arbeiter am Fließband erzeugen. Sie entspringt keiner realen Quelle, sondern ist von Klanghölzern inszeniert und korrespondiert rhythmisch mit dem Gesang. Anders als im Stummfilm folgt hier nicht die Musik der Bewegung im Bild, sondern die visuelle Aktion (das Schlagen mit dem Hammer) ist mit dem Rhythmus des Liedes und somit mit den auf das Lied montierten Klangeffekten koordiniert. Ein weiterer Bezugspunkt hinsichtlich der Gestaltung der atmosphärischen Klangschicht, der über die bloße Stilisierung von Geräuschen hinausweist, ist das minutiöse 208 Ebd., S. 94. 209 Béla Balasz, Der Geist des Films (1930), zit. nach Peter Moormann, Musik und Geräusch im frühen Tonfilm, S. 61. 210 À nous la liberté, Min. 15:35–15:53. 211 Ebd., Min. 02:36–03:23.

7. Zeitbilder: Cocteau – Auric – Clair

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Nachzeichnen von Bewegungsabläufen, das vor allem charakteristisch für die Fabrikund Gefängnisszenen in À nous la liberté ist und die Technik des Mickey-Mousing der Cartoons auf den Realfilm überträgt. Mit der Anwendung dieser Praxis folgt Auric seinen eigenen Ausführungen zum Potential der Musik im Tonfilm und setzt seine ästhetischen Vorstellungen von Tonfilmmusik konkret um.212 Gleichzeitig widerspricht der Einsatz dieses Verfahrens dem, was unter Begriffen wie Kontrapunkt und Asynchronität diskutiert und für den Tonfilm mit Nachdruck gefordert wurde. Deutlich wird hingegen, dass Auric die drei Komponenten der akustischen Sphäre (Geräusch, Musik und Stimme/Gesang) nicht unabhängig voneinander denkt und behandelt. Stattdessen zeigt er einen Umgang mit dem Material, der darauf hinweist, dass er die einzelnen akustischen Elemente sowohl untereinander als auch in ihrem Zusammenspiel mit der visuellen Ebene als unteilbares Ganzes begreift. Dieser Kontext deutet wiederum auf das ästhetische Bezugssystem, in dem sich Auric verorten lässt: Ausgehend von der Idee einer ‚alltäglichen‘, funktionsorientierten Musik erfährt die Definition von Klang eine ästhetische Umdeutung, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts insbesondere auch in den Arbeiten der französischen Komponisten um Satie und Cocteau zeigt. Wenn Cocteau etwa in Parade Pistolenschüsse und das Klappern von Schreibmaschinen in Form musikalischer Imitationen auf Saties Partitur montiert, ist hier bereits jenes Verfahren angewandt, das im Tonfilm integraler Bestandteil der akustischen Gestaltung wurde. Die Faszination am motorischen Moment von Geräuschen ist dabei das Signum, dass die Übernahme jener ästhetischen Diktionen durch die Filmschaffenden erklärt. Die Komposition von Filmmusik ist für Auric insofern die logische Fortsetzung seines bisherigen musikalischen Werdegangs, da er hier die umfassende Auffassung von Klang und damit einhergehend die differenzierte Gestaltung aller akustischen Elemente ebenso selbstverständlich praktizieren konnte wie die Bezugnahme auf unterschiedliche musikalische Quellen und die Anwendung diverser Kompositionspraktiken. Auf diese Weise lässt sich das ästhetische Ideal einer ‚alltäglichen‘ Musik ohne die Negierung von tradierten Normen musikalischer Praxis umsetzen. In letzter Konsequenz ist Aurics Vehikel ein Kompositionsprinzip, das den (scheinbaren) stilistischen Gegensätzen durch Montage- und Collageverfahren begegnet und sie auf diese Weise aufzuheben vermag. 7. ZEITBILDER: COCTEAU – AURIC – CLAIR Mehrfach betonte Auric im Nachhinein die intensive Zusammenarbeit mit Clair während der Dreharbeiten zu À nous la liberté. Dabei verweist die Tatsache, dass er selbst an fast jedem Drehtag persönlich am Set anwesend war, auf seine aktive Teilhabe am Entstehungsprozess des Films.213 Überdies wird sein Name im 212 Vgl. Georges Auric, La Musique au cinéma (1935), zit. nach Carl Schmidt, Écrits/Writings II, S. 540 ff. sowie die Ausführungen in Kapitel I.5 dieser Arbeit. 213 Vgl. Carl Schmidt, The Music of Georges Auric III, S. 788. Ein Drehplan, eine Kostenbilanz und weiteres Material zur Produktion des Films werden in der BnF im Département des Arts du Spectacle, Fonds René Clair aufbewahrt.

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Vor- und Abspann jeweils direkt nach dem Regisseur genannt – noch vor dem Kameramann George Périnal und dem Set-Designer Lazare Meerson. Aus diesem Sachverhalt lässt sich der Status ableiten, der Auric in dieser Produktion zukam.214 Dennoch ist insbesondere aus Clairs Reflexionen über den Filmautor ersichtlich, dass er die alleinige Kontrolle über das Filmwerk hatte. Eine Allianz mit dem Filmmusikkomponisten im Sinne eines Bündnisses zweier gleichberechtigter Partner strebte er nicht an. Dies bestätigt sich in den technischen Hinweisen, die der Regisseur seinem Drehbuch beigab. Sie gehen auf eine von ihm erstellte Synopsis zurück, in der er die vielfältigen Beziehungen klassifizierte, die Bild und Ton eingehen sollten. Clair unterscheidet in dieser Aufstellung verschiedene Verwendungen der Tonspur: synchrone Tonaufnahme, mit dem Synchronton einer anderen Einstellung vertont, synchroner Ton und Doppelbelichtung der Vertonung, nachträgliche Vertonung, Aufnahme ohne Ton, eingerichtet für nachträgliche Vertonung, Stille.215 Hier kristallisiert sich erstens heraus, dass der Regisseur in seinem Film das Thema der Synchronisation von Bild und Ton aufgreifen und inszenieren wollte und zweitens, dass die Zusammenarbeit zwischen Regisseur und Komponist von vornherein von Clair vorbestimmt wurde. Auric kam letztlich also eine rein gestalterische Funktion zu. In diesem Aspekt unterscheidet sich die Produktion von À nous la liberté nur marginal von Aurics Zusammenarbeit mit Cocteau an Le sang d’un poète. Lediglich die Voraussetzungen für die Kooperationen differieren und verweisen auf einen zeitgeschichtlichen Zusammenhang, der die drei Protagonisten miteinander verbindet. Laut Giusy Basile eint alle erfolgreichen Filmmusikkomponisten jener Jahre, dass sie keine Vorliebe für bestimmte Genres zeigten und keine Abneigung gegenüber einem „l’expression populaire sous toutes ses formes“ hatten.216 Entsprechend sei es wenig erstaunlich, dass sich Lieder als Exempel eines populären Ausdrucks sowohl in Filmen finden, die dem sogenannten réalisme poétique217 zugeschrieben werden als auch in films populaires aufscheinen. Die Filme jener Jahre charakterisiere vielmehr per se eine „mélange des genres (comique, dramatique, populiste, 214 Colin Roust zeichnet die Kollaboration von Clair und Auric dezidiert nach und schließt aus der Präsenz und aktiven Teilhabe Aurics, dass der Komponist letztlich die Rolle eines „assistant director“ erfüllte. Vgl. Colin Roust, Sounding French, S. 55. 215 Vgl. René Clair, „À nous la liberté“. Découpage technique, BnF, Département des Arts du Spectacle, Fonds René Clair [4-COL-84]. 216 Giusy Basile, La Chanson au cinéma, S. 242. 217 Den Begriff réalisme poétique prägte der Filmhistoriker Georges Sadoul. Ihm werden französische Filme der 1930er und 1940er Jahre zugerechnet, insbesondere aber Produktionen, die vor der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen entstanden. Als Schlüsselwerk gilt zum Beispiel Marcel Carnés Quai des brumes (1938). Inhaltlich dominieren Themen wie die „düstere Alltagswelt volkstümlicher Helden“ oder „die Vergeblichkeit der Liebe“. Charakteristisch ist die melancholische Atmosphäre und pessimistische Weltsicht. Stilistisch changieren die Filme zwischen dokumentarischem Charakter durch minimierten Dialog und die „übersteigerte Bedeutung einzelner Objekte“ sowie „das nächtliche Ambiente und das statuarische Auftreten der Schauspieler“. Damit rücken die Produktionen in die Nähe des späteren Film Noir. Die einzelnen Filme, die unter dem Begriff gefasst werden, divergieren je nach Regisseur zum Teil erheblich. Vgl. Jörg Türschmann, Art. Poetischer Realismus, in: Lexikon der Filmbegriffe, o. S.

7. Zeitbilder: Cocteau – Auric – Clair

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réaliste)“, auf welche die Komponisten reagierten.218 Aurics Musik gibt sich ebenfalls als Hybrid unterschiedlichster Formen und Gattungen zu erkennen, in der sich das Klangideal der Unterhaltungswelt mit jenem der Avantgarde und des Konservatoriums verbindet. Hieraus lässt sich schließen, dass die Unterscheidung in Kunstund Unterhaltungsfilm noch nicht gegeben war. Entsprechend muss auch der Begriff populaire für diesen Zeitraum nachjustiert werden und eine Ausdifferenzierung im Sinne seiner ihm innewohnenden Bedeutung von a) beliebt und b) massentauglich erfahren.219 Die Grenzen zwischen Vergnügen, Avantgarde, ,Hochkultur‘ und ‚Volkskunst‘, zwischen Kunst für die Massen und elitärem Modernismus scheinen in Bezug auf den frühen Tonfilm (noch) fließend zu sein. Auric steht exemplarisch für diesen Zugang: Seine kompositorische Praxis zeitigt einen individuellen Zugang zum Material, der sich durch das Arrangieren und Fragmentieren musikalischer Sujets und das Montieren und Collagieren von Mikrostrukturen auszeichnet. Dieser Umgang lässt sich bei allen klanglichen Erscheinungen feststellen und verweist auf das ästhetische Panorama der Avantgarden nach dem Ersten Weltkrieg und auf ästhetische Vorstellungen, die in den Manifestationen der Futuristen ebenso wie in denen der Surrealisten und Dadaisten in ihrer Befürwortung von De-Konstruktion und DeKomposition angelegt sind. Zugleich ist dieser Vorgehensweise eine Auffassung vom Alltäglichen inhärent, die auch im Tonfilmdiskurs der frühen 1930er Jahre präsent ist und in der Musik unter anderem mit der Bezugnahme auf Unterhaltungsmusik sowie der Reduktion des musikalischen Materials und der Integration von Klangelementen der Alltagswelt ausgedrückt wird. Insofern ist die scheinbar charakteristische egalitäre Kompositionspraxis eine Notwendigkeit, um erstens theoretische Reflexionen in die Praxis zu übertragen und zweitens das ideelle (und ökonomische) Primat einer heterogenen Zuschauermasse umsetzen zu können. Die Gleichsetzung ideologischer Gegensatzpaare wie populär – elitär bildet die Veränderungen im ästhetischen Diskurs ab, die mit dem Übergang zum Tonfilm einher gingen. Eine Unterscheidung von der theoretischen Reflexion und der filmischen Umsetzung findet jedoch nicht statt. Stattdessen wird das jeweilige Produkt 218 Giusy Basile, La Chanson au cinéma, S. 242. À nous la liberté stellt diese mélange exemplarisch aus: In der Kombination aus Comedy- und Slapstick-Nummern, die an Charlie Chaplin oder die Marx Brothers denken lassen, melodramatischen Liebesszenen, dramatischen Verfolgungsjagden und Sozialkritik entspricht der Film einer Mischung unterschiedlicher Genres, die noch nicht als solche definiert geschweige denn ausdifferenziert sind. 219 Die semantische Konnotation von populär im Hinblick auf populäre Kultur verschiebt sich, je nachdem welche Perspektive eingenommen wird. Ausgehend von einer Produktionsseite kann frz. populaire positiv ausgedeutet werden als „von den Menschen, für die Menschen“. Setzt man hingegen den Moment des Konsums voraus, ist die Masse entscheidend, durch die der Einzelne wiederum zum Objekt degradiert und manipuliert wird. Zwischen den Kriegen fanden ältere kulturpessimistische Schriften wieder vermehrt Beachtung. Aber auch neuere Werke wie Ortega y Gassets Der Aufstand der Massen, das bereits 1930 auf deutsch und französisch erschien, oder Bachtins Konzept der Karnevalisierung zeigen die umfassende Problematisierung von Massenkultur, Unterhaltungskultur, Populärkultur usf. an. Auch auf den von Adorno und Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung geprägten Begriff der Kulutindustrie sei an dieser Stelle verwiesen.

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I. Wege zum Film (1930–1933)

(der Film) der favorisierten Bewegung zugeordnet und somit einmal als surrealistisch, einmal als dadaistisch, als futuristisch oder als realistisch klassifiziert. An Aurics Umgang mit den Begriffen, zeigt sich die Beliebigkeit der Zuordnungen zu diesen parallel existierenden, miteinander konkurrierenden, einander ablehnenden oder auseinander hervorgehenden Gruppierungen. Indem er weder in seinen schriftsprachlichen Äußerungen und persönlichen Kontakten Positionierungen vornimmt noch in seiner Kompositionspraxis ein favorisiertes ästhetisches Ideal geltend macht, umgeht er die Fixierung auf einzelne Bewegungen. Das multiple Interesse des Komponisten an anderen Künsten und Tätigkeitsfeldern ist jedoch wiederum durch einen idealistischen Anspruch geprägt, den Auric bereits in den Jahren nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ausbildete. In ihm ist die Ablehnung des institutionalisierten Kulturbetriebs angelegt, die auch von Erik Satie forciert wurde. Bei Auric äußert sich diese Ablehnung jedoch vor allem darin, dass er keine Vorbehalte gegenüber unterschiedlichsten Ausbildungsstätten oder Orten kultureller Aktivitäten hatte.220 Damit verzahnt ist die Idealvorstellung des Künstler-Kollektivs.221 Insbesondere dieser letzte Aspekt verweist darauf, dass Auric den Topos des Kollektivs nicht erst in den 1930er Jahren für seine Ästhetik fruchtbar machte. Zugleich scheint eine weit gefasste Definition des Begriffs bestimmend für ihn zu sein, die das Kollektiv eher im Sinne eines Netzwerks begreift, in dem die Zugehörigkeit nicht durch Gemeinsamkeiten der Einzelnen determiniert ist. Der Wendepunkt, der vielfach mit Aurics kulturpolitischem Engagement diagnostiziert und auf seine Werke ab 1935 übertragen wird, lässt sich entsprechend weniger als Wendepunkt denn als prozessuale Entwicklung auffassen, deren Ausgangspunkt nicht etwa seine Hinwendung zur Filmmusik ist, sondern seine (künstlerische und persönliche) Sozialisation im Paris der 1910er und 1920er Jahre. Aus diesem Umstand heraus lässt sich die Diversität in der Wahl der Gegenstände, Genres und Gattungen begreifen, zwischen denen sich Auric bewegte und in der er sich als gleichermaßen konservativer wie auch progressiver Komponist zu erkennen gibt.

220 Auric besuchte sowohl die Schola Cantorum von Vincent d’Indy und Albert Roussell als auch das Pariser Konservatorium. Nur wenig später lernte er Satie und Stravinsky kennen. Auric griff zeitlebens auf die Praktiken zurück, die er in seiner konservativen Ausbildungszeit erlernt hatte. Dies entspricht seinem Verständnis vom Komponieren als Handwerk, das sich auch in der Ästhetik seiner Zeitgenossen spiegelt. 221 Dieses Ideal ist nicht nur in den Kompositionen der Six abgebildet, sondern auch in den Produktionen für die Ballets Russes. Zudem zeigt sich Aurics Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Tätigkeitsfeldern neben seinen schriftstellerischen Aktivitäten auch in dem Kurzfilm Entr’acte (René Clair), der zu dem Ballett Relâche (1924) von Francis Picabia und Erik Satie entstand und in dem er an der Seite von Marcel Duchamp, Darius Milhaud und Man Ray als Schauspieler mitwirkte.

II. „LA MUSIQUE POUR LE GRAND PUBLIC“ (1934–1938) 1. KÜNSTLERNETZWERKE Aurics kompositorisches Œuvre wird ab Mitte der 1930er Jahre vielfach seinem kulturpolitischen Engagement während der Regierungszeit des Front populaire untergeordnet. Zweifellos engagierte sich der Komponist im Sinne der propagierten Ziele der ‚Volksfront‘, was insbesondere aus seiner Tätigkeit als Autor für einschlägige Organe wie Marianne oder Paris-Soir hervorgeht.1 Seine Zugehörigkeit zu Vereinigungen wie der AEAR, dem Maison de la Culture und der FMP bestätigen dies ebenso wie Aussagen von Zeitgenossen, die seine linkspolitischen Einstellungen hervorheben. Betrachtet man die Jahre um 1936 nicht als Zäsur, sondern als Prozess, ergibt sich jedoch ein differenziertes Bild, das über die bloße Zuordnung der politischen Doktrin zu Persönlichkeit und Werk des Komponisten hinausgeht und die vielfach diagnostizierte Wandlung Aurics verifizieren kann. Die nähere Bestimmung von Aurics Umfeld bildet entsprechend den Schwerpunkt der folgenden Ausführungen. Im Zentrum steht die Skizzierung eines möglichst präzisen Bildes der Musikwelt unter dem Front populaire, um letztlich die Motivation hinter den ästhetischen Idealen des Komponisten anhand zeittypischer Denkfiguren zu dechiffrieren. Auf diese Weise wird eine Kontextualisierung des Komponisten ermöglicht, die sich nicht auf die Beschreibung seiner Aktivitäten – und damit auf eine Einordnung innerhalb des kulturpolitischen Horizonts – beschränkt. Auric gehörte gemeinsam mit Roger Désormière, Igor Markevitch, Darius Milhaud, Nicolas Nabokov, Francis Poulenc, Vittorio Rieti und Henri Sauguet dem Komitee der Konzertgesellschaft La Sérénade an, die auf die Aufführung zeitgenössischer Werke spezialisiert war.2 Gegründet wurde sie 1931 als Kammermusikgesellschaft von der Geigerin Yvonne de Casa Fuerte (Yvonne Giraud). Henri Sauguet erinnert in seinen Memoiren an deren Idee, „de constituer une société de concerts qui exécuter[ait] nos musiques et celles des musiciens de notre temps de toutes tendances, mais dont elle estimait la valeur.“3 Berichte über die einzelnen Konzerte zeigen, dass die Mitglieder des Komitees vielfach ihre eigenen Werke auf das Programm setzten und entsprechend unabhängig vom öffentlichen Konzertbetrieb gewesen sein mussten. Ermöglicht wurde diese Unabhängigkeit durch die Finan1 2

3

Siehe zu Aurics Aktivitäten für diese Zeitschriften Carl Schmidt, Georges Auric as critic, S. 736 ff. Lediglich die Monographie von Michel Duchesneau widmet sich explizit La Sérénade. Vgl. zur Gründung und den Mitgliedern der Gesellschaft ders., L’avant-garde musicale et ses sociétés, S. 123 ff. Außerdem wird sie in Publikationen zu einzelnen Protagonisten erwähnt, beispielsweise in Vincent Giroud, Nicolas Nabokov: a Life in Freedom and Music (2015); sowie in Jeanice Brooks, The Musical Work of Nadia Boulanger (2013) oder Peter Hill / Nigel Simeone, Messiaen (2005). Henri Sauguet, zit. nach Michel Duchesneau, L’avant-garde musicale et ses sociétés, S. 123.

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II. „La musique pour le grand public“ (1934–1938)

zierung, die von privaten Förderern getragen wurde. Zu diesem Kreis gehörten die einflussreichsten Pariser Kunst- und Kulturmäzene wie die Princesse Edmond de Polignac (Winnaretta Singer), der Vicomte und die Vicomtesse de Noailles, MarieBlanche de Polignac, Coco Chanel, David Weill oder der Comte Étienne de Beaumont.4 Ein Großteil der zur Aufführung gebrachten Werke sind zudem als Auftragswerke entstanden, was sowohl die private Finanzierung durch die Mäzene bestätigt als auch deren Einflussnahme auf das Programm erahnen lässt.5 Eine Schlüsselfigur ist in diesem Zusammenhang die Princesse de Polignac. Anhand ihrer Aktivitäten lässt sich sowohl die Konstitution von La Sérénade als auch die gesellschaftliche Verortung der Beteiligten in jenen Jahren erfassen. Neben La Sérénade unterstützte sie eine Reihe weiterer nicht-staatlicher kultureller Organisationen, die Konzertreihen, Salons und Aufführungen organisierten, deren gemeinsames Merkmal ihr Programm war, das immer in Opposition zu jenem des musikalischen Establishments stand.6 Laut Jane Fulcher förderte sie in den 1920er Jahren „the modernist neo-classicism being espoused by Cocteau, as opposed to the conservative or retrogressive neo-classicism of official circles“ und im Gegensatz dazu ab Mitte der 1930er Jahre, als die Six zum offiziellen Mainstream gehörten, „the repertoire of the original Schola [Schola Cantorum].“7 Zwei wesentliche Gesichtspunkte des Musiklebens sind an dieser Aussage ablesbar: erstens die Zuordnung der Six zur Avantgarde und gleichzeitig zu einem modernistischen Neo-Klassizismus, die sich erst ab Mitte der 1930er Jahre durch die Einbettung einiger Protagonisten der Gruppierung in die populistische Ästhetik des Front populaire ins Gegenteil verkehrte. Zweitens die daran anknüpfende Entwicklung, die der staatlich forcierten Ästhetik entgegensteht und sich in der Zuwendung zum Repertoire der Schola artikuliert.8 Beide Aspekte verdeutlichen die zunehmende ideologische Aufladung des musikalischen Diskurses in jenen Jahren und verweisen auf die politischen und sozialen Implikationen, die hinter den Werken stehen. Ferner wird ersichtlich, welchen Status die privaten Vereinigungen gegenüber den offiziellen Organen des Kulturbetriebs inne hatten. Besonders interessant ist die Finanzierung (und Direktion), die in den meisten Fällen aristokratische Persönlichkeiten übernahmen – und das lange nach 4 5 6 7 8

Vgl. Peter Hill / Nigel Simeone, Messiaen, S. 83. Neben den Genannten zählt Duchesneau noch zahlreiche weitere Förderer auf, die überwiegend aus der französischen Aristokratie stammen. Vgl. Michel Duchesneau, L’avant-garde musicale et ses sociétés, S. 144. Siehe zu den Programmen einzelner Konzerte beispielsweise Jeanice Brooks, The Musical Work of Nadia Boulanger, S. 147 f.; Peter Hill / Nigel Simeone, Messiaen, S. 82 f. sowie Michel Duchesneau, L’avant-garde musicale et ses sociétés, S. 126 ff. Jane Fulcher erwähnt den Cercle Interallié und die Konzerte im Hotel Georges V. Vgl. Jane Fulcher, Musical Style, Meaning and Politics, S. 436. Ebd. Nadia Boulanger beriet die Princesse de Polignac bei ihren Aktivitäten in diesem Bereich. Als Tochter einer ehemaligen russischen Prinzessin war Boulanger eine Befürworterin der Aristokratie und vertrat die ideologische Doktrin der Action française. Auric und Boulanger kannten sich und standen nach dem Zweiten Weltkrieg in regem Austausch, was die 29 Briefe bestätigen, die ihr Auric zwischen 1946 und 1971 schrieb. Die Briefe sind gesammelt einsehbar als Vingt-neuf lettres de Georges Auric à Nadia Boulanger, 1946–1971 im Nachlass von Nadia Boulanger in der BnF, Département de Musique, katalogisiert in der Serie Lettres autographes nouveau fonds (N. L. a.). Eine Aufarbeitung dieser Korrespondenz steht derzeit noch aus.

1. Künstlernetzwerke

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der französischen Revolution. Dieser Zusammenhang bildet die Nähe einer intellektuellen Elite – hier namentlich vertreten durch Auric, Désormière, Milhaud und Sauguet – zu aristokratischen und – im Fall der Princesse de Polignac – mit der Action française verbundenen Kreisen ab.9 Gleichzeitig ist mit den Unruhen vom 6. Februar 1934 jenes Ereignis benannt, das den Umschlagpunkt in der politischen Agenda Frankreichs markiert und das auch auf den Bereich der Musik ausstrahlte.10 Vielfach wurden die Ausschreitungen in der Öffentlichkeit als faschistischer Putschversuch wahrgenommen, was die Annäherung und Kooperationsbereitschaft der späteren linken Bündnisparteien ermöglichen sollte. Neben diesem Potential für eine politische Instrumentalisierung zeigen sie als Symptom jedoch vor allem die Krise der Dritten Republik an. Die zunehmende Spaltung des politischen Systems sowie die daraus resultierende Erstarkung extremistischer Positionen sind Artikulationen dieser Krise, die auf beiden Seiten – rechts und links – mehr und mehr um sich griff.11 Diese Radikalisierungstendenzen widerspiegelt der Kunst- und Kulturbetrieb. Die zunehmende Ideologisierung der ästhetischen Debatten war bereits zu Beginn der 1930er Jahre präsent.12 Mit den Unruhen vom 6. Februar wurden schließlich die Weichen für die 9

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12

Jane Fulcher zeichnet detailliert nach, in welchen divergierenden Kreisen Auric verkehrte. Einerseits besuchte er bereits 1917 den linksintellektuellen Salon von Jean Hugos Großmutter, andererseits machte er zum selben Zeitpunkt Bekanntschaft mit Persönlichkeiten, die sogenannten spirituellen Zirkeln um Jacques Maritain angehörten und unmittelbar mit der politischen Rechten verbunden waren. Vgl. Fulcher, The Composer as Intellectual, S. 173. Die Unruhen fanden im Anschluss an eine regierungsfeindliche Großdemonstration in Paris statt. Anhänger der rechtsradikalen Ligen versuchten das Palais Bourbon zu stürmen, in dem die Abgeordnetenkammer tagte. Bei den Straßenschlachten setzte die Polizei Schusswaffen ein; insgesamt starben 15 Demonstranten, über 2000 wurden verletzt. Anders als in anderen Ländern ereilte die Weltwirtschaftskrise Frankreich erst im Herbst 1931. Auch in Frankreich stieg die Arbeitslosenquote, jedoch weitaus weniger brisant als in Deutschland oder den USA (bis 1935 lag sie bei unter fünf Prozent). Auch eine Bankenkrise blieb zunächst aus. Zwischen 1932 und 1934 lösten sich die Regierungen schnell hintereinander ab – nicht weniger als sechs Kabinette regierten Frankreich innerhalb dieser zwei Jahre. Der Skandal um den Betrüger Alexandre Stavisky, dessen Machenschaften Vertreter des Parti radical jahrelang deckten, wurde insbesondere von den französischen Rechten ausgenutzt. Der Protest der rechten Ligen und Veteranenverbände war durchzogen von antisemitischen Äußerungen, die sich unter anderem in dem vehementen Verweis auf Staviskys jüdisch-ungarische Herkunft manifestierten. Vgl. Dudley Andrew / Steven Ungar, Popular Front Paris and the Poetics of Culture, S. 55 ff. Die Erfolglosigkeit der regierenden Parteien und die Stavisky-Affaire sorgten für die zunehmende Schwächung der Regierung und führten letztlich zu jenem Zusammenschluss sozialistischer und radikaler Kräfte, der als Front populaire ab 1936 die Regierungsgewalt in Frankreich übernehmen sollte und auf diese Weise auf die erstarkenden rechten Kräfte im Land und den Faschismus reagierte, der Frankreich mehr und mehr bedrohte. Auch das Verhältnis zu den USA war empfindlich gestört, da sich Frankreich seit Dezember 1932 weigerte, weiterhin interalliierte Kriegsschulden zu zahlen. Entsprechend wurde die Sicherheit des Landes nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland im Jahr 1933 als gefährdet eingestuft. Ein einleuchtendes Beispiel stellt Vincent Vives mit seinem Verweis auf das zweite surrealistische Manifest 1930 vor. Breton, Aragon und Éluard vertraten sowohl einen intellektuellen (Breton) als auch einen politischen (Éluard und Aragon) Idealismus, dessen kämpferischer Impetus bereits im neuen Titel der surrealistischen Zeitschrift evoziert wird. Die Umbenennung der Schrift in Le surréalisme au service de la revolution zeigt den Wandel und die zunehmende

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II. „La musique pour le grand public“ (1934–1938)

Mobilisierung der Massen gestellt, die zum Charakteristikum der Kulturpolitik des Front populaire avancieren sollte und sowohl das ästhetische als auch das soziale und politische Spektrum der Gesellschaft nachhaltig prägte. Ein wesentliches Kennzeichen der neuen Regierung war dabei die scheinbare Widersprüchlichkeit ihrer Konstitution: Der Front populaire proklamierte ,Volksnähe‘ und versuchte darüber hinaus nicht nur die links-intellektuellen Eliten zu erreichen, sondern generierte sich primär aus deren Repräsentanten. Aurics Rolle innerhalb des neuen Systems ist deshalb so interessant, weil er diesen Widerspruch ebenso wie die Spaltung der Gesellschaft gewissermaßen personifiziert: Ausgebildet am Konservatorium und an der Schola Cantorum und etabliert in den avantgardistischen Kreisen der 1920er Jahre wird sein Name stets auch mit der vorherigen Generation assoziiert, außerdem mit monarchistischen und nationalistischen Kreisen und zugleich mit der links-intellektuellen Elite Frankreichs.13 Eine Kontingenz in der gesellschaftlichen Positionierung, der die politische zu folgen scheint – wie das Beispiel der Princesse de Polignac und in dem Zusammenhang auch Nadia Boulanger zeigt – war bei Auric offenbar nicht gegeben, was Colin Roust dazu veranlasst, dem Komponisten einen „change of heart“14 zu attestieren, der sich nach dem Misserfolg seiner Klaviersonate F-Dur einstelle und auch musikalisch abbilde. Vincent Vives betont dagegen die janusköpfige Haltung Aurics: „Musicien français qui engage la musique dans la praxis communiste (comme Chostakovitch et Eisler), Auric distille le tragique destin d’une conscience qui, autour du Front Populaire et de la montée des fascismes européens, ne peut ni se réduire à l’expression d’un engagement politique ni quitter l’aristocratique nihilisme des années d’avant-guerre.“15

Während Roust einen ästhetischen Wandel als Konsequenz aus Aurics verändertem Nationalbewusstsein reflektiert, der aus seinem erstarkenden politischen Engagement resultiere, stellt Vives zwar ebenfalls Aurics politisches Engagement heraus, negiert jedoch eine gleichzeitige Abkehr von oppositionellen Kreisen – seine Aktivitäten für La Sérénade und Triton sowie die anhaltende Zusammenarbeit mit Cocteau belegen dies insbesondere vor dem Hintergrund der zeitgleich stattfindenden Involvierung in die AEAR und die FMP.16 Fulcher wiederum verortet die abrupte Hinwendung zu einem „more ,popular‘ style“ auch jenseits nationalistischer oder politischer Ideologeme: „Auric was not oblivious to the responses of his audience or to changes in taste, and was thus undoubtedly affected by the negative reception of the work [Klaviersonate F-Dur]. This may

13 14 15 16

Politisierung der Bewegung an. Siehe hierzu ausführlich Vincent Vives, L’entre deux, insbesondere S. 97 ff. Auric distanzierte sich bereits nach dem Ersten Weltkrieg von der Ausbildung an der Schola Cantorum und kritisierte insbesondere Vincent d’Indy und dessen Ideale, allerdings nicht die Ausbildung an sich. Vgl. Jane Fulcher, The Composer as Intellectual, S. 173 und S. 195. Colin Roust, Reaching a Plus Grand Public, S. 344 sowie ders. Sounding French, S. 118. Vincent Vives, L’entre deux, S. 103. Vgl. zu Rousts Ausführungen hinsichtlich eines veränderten nationalen Bewusstseins ders., Sounding French, S. 117 f. Bereits der Titel von Rousts Dissertation hebt auf das Nationale als Kategorie ab, die er am Beispiel von Auric durchspielt.

1. Künstlernetzwerke

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well account for his abrupt embrace of the more ,popular‘ style, as now conceived by the advocates of the Popular Front and the Fédération Musical[e] Populaire.“17

Stattdessen stellt sie Aurics „abrupt embrace of the more ,popular‘ style“ in den Kontext einer Auffassung, die sich sowohl mit seinen vorherigen Aktivitäten als auch mit seiner Filmmusikästhetik verknüpfen lässt: die Wichtigkeit der Adressierung und Berücksichtigung des Publikums. Damit benennt sie ein wesentliches Merkmal von Aurics Haltung, nämlich den Aspekt der Vermittlung, der wenige Jahre später perfekt in die kulturpolitische Agenda des Front populaire passen sollte. Organisationen und Verbände in denen Auric aktiv war.

Organisation

Zeitraum

Funktion

Konzertgesellschaft La Sérénade (Société de Musique de Chambre)

1931–1939 Mitglied des künstlerischen Komitees (Ur-)Aufführungen eigener Werke

Konzertgesellschaft Triton (Musique contemporaine)18

1936–1938 Aufführungen eigener Werke

AEAR

1935–1938 Mitglied Autor für die Zeitschrift der Vereinigung

FMP

1936–1938 Mitglied des künstlerischen Komitees

Maison de la Culture

1935–1938 Mitglied Autor für die Zeitschrift der Institution

Allen Organisationen, in die Auric involviert war, diente eine ideologische Programmatik als Fundament ihrer Architektur. Schlagworte wie Snobismus, Vergnügen, Banalität und Spontanität dominieren die Musikkritiken zu Konzerten von La Sérénade. Sie verweisen einerseits auf die Exklusivität der Vereinigung, andererseits stellen sie genau jene Attribute heraus, die für eine Komponistengeneration proklamiert wurden, die in den 1920er Jahren mit avantgardistischen Strömungen assoziiert worden war. Entsprechend den damit verbundenen ästhetischen Idealen von Einfachheit und Klarheit (clarté) anstelle eines imposanten (romantischen) musikalischen Ausdrucks stellen die Werke jener Komponisten einen wesentlichen Anteil der aufgeführten Werke dar. Allerdings ist die ästhetische Ausrichtung keinesfalls eindeutig und die Zusammensetzung entsprechend heterogen: Auric, Debussy, Messiaen, Milhaud, Satie, Sauguet, Stravinsky oder Poulenc stehen nebeneinander und in einer Reihe mit Namen wie Berg, Dallapiccola, Hindemith, Krenek, 17 18

Jane Fulcher, Musical Style, Meaning and Politics, S. 432. Aus verschiedenen Quellen geht hervor, dass die Beziehungen von Auric zu Triton keineswegs unkompliziert waren. Dass seine Musik im Rahmen der Konzerte der Vereinigung nicht häufig aber dennoch mehrfach aufgeführt wurde, lässt sich auch auf die Mitgliedschaft einiger seiner Freunde (vor allem auf Francis Poulenc) im Komitee der Gesellschaft zurückführen und ist weniger an eine Wertschätzung von Aurics Musik in jenen Kreisen gebunden. Zur Einschätzung aus zeitgenössischer Sicht vgl. die Stellungnahmen von Francis Poulenc und Émile Villermoz in Jean-François Trubert, Zwischen Groupe des Six und École d’Arcueil, S. 240 ff.

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II. „La musique pour le grand public“ (1934–1938)

Prokofiev und Weill. Daneben finden sich immer wieder Kompositionen von Bach, Chabrier, Janequin, Monteverdi, Mozart, Palestrina oder Schubert. Ein ähnliches Bild bieten die Konzerte von Triton, die durchweg international besetzt waren.19 Nur ein Jahr nach La Sérénade von Pierre-Octave Ferroud als Gesellschaft für zeitgenössische Musik gegründet, stellte sich Triton programmatisch in die Nachfolge der SMI und verfolgte die Wiederbelebung von deren ursprünglichen Zielen.20 Yvonne de Casa Fuerte wollte im Rahmen von La Sérénade Konzerte offerieren, „dont les objectifs esthétiques ne se définissaient plus par la recherche des techniques les plus avant-gardistes, mais plutôt par un retour à la simplicité syntaxique du langage musical, favorisant ainsi le rapprochement par rapport aux inspirations du public.“21

Triton verstand sich hingegen als „laboratoire de toute musique d’expérience“.22 Entsprechend ist die Internationalität der Programme wenig erstaunlich. Bei beiden Vereinigungen fallen jedoch zwei Dinge auf: die große Anzahl an Vokalmusik und die Aufführung von Werken der Vergangenheit, vor allem aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Während die große Anzahl an Vokalmusiken vor allem auf eine Ausdifferenzierung des Konzepts der mélodie und eine Neubewertung tradierter Genres der Vokal- und Kammermusik verweist, deutet der zweite Gesichtspunkt laut Duchesneau, Fulcher und Vives auf eine Ästhetik, die mit dem Begriff néo-classique besetzt ist.23 Duchesneau fasst diese Tendenz folgendermaßen zusammen: „Notons aussi le développement progressif d’une musique de chambre destine à des formations hétérogènes combinant cordes et vents avec ou sans voix. Cette musique, d’abord associée aux expériences des Indépendants de la SMI, se retrouve à la Sérénade où elle constitue un corpus étroitement lié aux principes d’une musique de ‚divertissement‘ qui, par des voies différentes

19 20

21 22 23

Vgl. die Aufstellung der Programme im Anhang von Michel Duchesneau, L’avant-garde musicale et ses sociétés; siehe für La Sérénade, S. 328–330, für die Programme von Triton, S. 330– 338. Die SMI löste sich 1935 auf, hatte aber bereits in den 1920er Jahren für Unmut auf Seiten der jüngeren Komponistengeneration gesorgt, da sie Protagonisten der Avantgarde nicht mehr in ihr Programm aufnahm. Mit La Sérénade und Triton wurden zwei Gesellschaften ins Leben gerufen, die jenen Musikern wieder einen Aufführungsrahmen für ihre Werke boten, die von der SMI und von der SNM ignoriert wurden. Vgl. Vincent Vives, L’entre deux, S. 104. Michel Duchesneau, L’avant-garde musicale et ses sociétés, S. 123. Vincent Vives, L’entre deux, S. 104. Ebenso wie Poulenc und Milhaud war auch Auric bei Konzerten beider Gesellschaften vertreten. Die Programme von La Sérénade führen ausschließlich Komponisten auf, die in Zusammenhang mit diesem diffusen Terminus stehen, während Triton neben diesen noch viele weitere Namen verzeichnet. Vgl. ausführlich zum Begriff néo-classicisme und seinen Ableitungen Markus Bandur, Art. Neoklassizismus, in: HmT, 22. Auslieferung, S. 1–21. Michel Faure, Du néoclassicisme musical dans la France du premier XXe siècle (1997); sowie Texte zum Thema von Ravel, Schönberg, Stravinsky u. a. in englischer Übersetzung in Daniel Albright (Hg.), Modernism and Music, Chicago/London 2004. Siehe auch Scott Messing, Neoclassicism in Music: From the Genesis of the concept through the Schoenberg/Stravinsky Polemic (1988) sowie Richard Taruskins ausführliche Rezension Back to whom? Neoclassicism as Ideology (1993).

1. Künstlernetzwerke

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de celles de Debussy ou Fauré, instaure un ‚retour aux formes et aux styles des XVIIe et XVIIIe siècle‘.“24

Vor diesem Hintergrund erscheint die Ablehnung, auf die Auric mit seiner Klaviersonate F-Dur stieß, zunächst wenig plausibel. Uraufgeführt im Rahmen des fünften Sérénade-Konzerts standen außerdem Kurt Weills Mahagonny und Der Jasager auf dem Programm sowie ein Concerto von Manuel de Falla.25 Die solistische Besetzung, die Gliederung in die vier Sätze 1. Animé, 2. Très vif, 3. Trés lent, 4. Vif et violent sowie der Aufbau des ersten und vierten Satzes nach dem Schema der Sonatensatzform und die Anlage des dritten Satzes als Scherzo lassen darauf schließen, dass Auric in seiner Komposition tatsächlich einem normativen Gattungsbegriff folgte. Nach Charles Rosen ist bereits der Wahl der Sonatenform jener Klassizismus inhärent, der als ästhetische Doktrin auch von den Kammermusikgesellschaften geltend gemacht wurde.26 Und laut Josiane Mas impliziert für Auric der Begriff der Sonate sowie vor allem die Anwendung des gleichnamigen Formschemas auch im Falle einer freien Interpretation immer eine Imitation des Klassischen.27 Aurics Komposition bildet insofern kein metaphorisches Begriffsverständnis ab, sondern behandelt die Sonate im Sinne eines Organisationsprinzips. Am Abend der Uraufführung erklärte er gegenüber Robert de Naud: „Depuis plusieurs années déjà, je pensais à une œuvre qui serait en marge de ma production actuelle et dans laquelle je résumerais, pour le piano, sans moyens éclatants, des recherches sonores, résultat d’un lent travail qui s’agrègerait en moi. On ne trouvera pas dans cette sonate les reflets d’humour, les jeux qui m’ont été coutumiers. La forme en est ténue, serrée; je me suis imposé toutes sortes de disciplines, c’est, si vous voulez, de la musique pure, un travail austère, sans littérature ni anecdote.“28

Die Arbeit nach strengen Prinzipien („un travail austère“) und ein musikalischer Ausdruck, der jener Ästhetik der Heiterkeit und des Spiels entgegensteht, die auch mit den Werken der Six und Satie assoziiert wurde und schließlich sogar eine ‚reine Musik‘ favorisiert, die frei von literarischer Vorlage und poetischer Idee ist, reflektiert jenes Musikideal, mit dem Auric während seiner Zeit an der Schola Cantorum konfrontiert wurde und dem gegenüber er sich durchaus ambivalent äußerte. D’Indys Ausspruch, die Sonate sei gewissermaßen der Prototyp nahezu aller Instrumentalformen29, folgt Auric in dem Bestreben, seine ‚Forschungen zum Klangmaterial‘ („des recherches sonores“) im Rahmen dieses formalen Schemas zusammenzufassen. Das Verwenden eines tradierten formalen Schemas kann jedoch nicht zwangsläufig gleichgesetzt werden mit einem reaktionären oder imitierenden Ges24 25

26 27 28 29

Michel Duchesneau, L’avant-garde musicale et ses sociétés, S. 177. De Fallas Concerto war wahrscheinlich das Konzert für Cembalo, Flöte, Oboe, Klarinette, Violine und Violoncello, das zwischen 1923 und 1926 entstand. Bei Weill handelte es sich um die sogenannte Version Songspiel von 1927, nicht um die Oper. Vgl. die Angaben zum Programm und zur Besetzung in Michel Duchesneau, L’avant-garde musicale et ses sociétés, S. 328. „un classicisme doctrinaire reste inhérent à l’emploi de la forme sonate.“ Charles Rosen, zit. nach Josiane Mas, La Sonate en fa majeur, S. 101. Vgl. ebd. Georges Auric, zit. nach Josiane Mas, La Sonate en fa majeur, S. 100. Vgl. Hans-Joachim Hinrichsen, Art. Sonata/Sonate, in: HmT, 27. Auslieferung, S. 14.

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II. „La musique pour le grand public“ (1934–1938)

tus. Dies vergegenwärtigt die Diskussion um die Begriffe classicisme und néo-classicisme in den 1920er Jahren. Der Rückbezug auf klassische Formen ist im französischen Sprachraum zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter eben jenen Schlagworten im Zusammenhang mit der Forderung nach einer genuin französischen Musik diskutiert worden. In seinem Artikel Bonjour Paris!, der 1920 in der Zeitschrift Le Coq erschien, konstatiert Auric: „Aimant voir clair, nous répugnons au mensonge du ,sublime‘, à l’engourdissement fakirique [sic] des ,temples qui furent‘. Si Jean Cocteau a raison, si ,toute affirmation profonde nécessite une négation profonde‘, les jeunes musiciens se doivent de beaucoup nier et, pour ma part, je crois que leur négation ne sera jamais trop violente. Quand à l’affirmation, n’en doutez pas, elle aussi sera violente. Il ne s’agit plus discuter sur les faillites de successives de trop d’esthétiques. Ayant grandi au milieu de la débâcle wagnérienne et commencé d’écrire parmi les ruines du debussysme, imiter Debussy ne me paraît plus aujourd’hui que la pire forme de la nécrophagie. Mais Pelléas n’en demeure pas moins le chef d’œuvre par quoi commence le 20e siècle, s’achèvent Rosetti, Maeterlinck et les enchantements de la nuit. Depuis nous avons eu le music-hall, les parades foraines et les orchestres américains. Comment oublier le Casino de Paris et ce petit cirque, Boulevard St-Jacques, ses trombones, ses tambours. Tout cela nous a réveillés. Mais, adieu New-York! … Le petit orchestre des Cocardes de Françis Poulenc me ravit autant qu’une page de Rameau.“30

Auric setzt hier den ,klaren Blick‘ als Metapher für das Klassische, den er der ‚Lüge des Erhabenen‘ gegenüberstellt. Die Konfrontation nationaler Topoi wurde bewusst intendiert, um die Rückbesinnung auf ‚das Eigene‘ zu bestärken. Eine retrograde Haltung ist jedoch nur insofern impliziert, als dass die Rückkehr zum Eigenen nach einer Zeit der Dominanz fremder Einflüsse propagiert wird. Eine Differenzierung von classicisme und néo-classicisme findet im Bereich der Musik erst ab 1923 statt. Insbesondere die Six werden von Musikkritikern wie Paul Landormy oder Robert Brussel zu Vertretern eines ästhetischen Konzepts gemacht, das unter dem Begriff néo-classicisme firmiert. Auric selbst wies – im Namen der Six – bereits 1922 diese Vereinnahmung durch die Musikkritiker zurück: „il faut bien que l’on sache que personne de nous, je pense, n’accepterait de figurer – même de la faveur de quelque équivoque – parmi des défenseurs de je ne sais trop quel néo-classicisme.“31

Indem er sich hier gegen ,jeglichen‘ néo-classicisme verwahrt, kritisiert er Nachahmung und Schulbildung und verweist gleichzeitig auf die Uneindeutigkeit des Begriffs. Zudem protestiert er gegen die Vereinnahmung ästhetischer Ideen durch die Kritiker und entsprechend auch durch gesellschaftliche Gruppierungen. Dass er gleichfalls Teil einer solchen war und auch als Musikkritiker für zahlreiche Organe 30

31

Georges Auric, Bonjour Paris!, in: Le coq, Nr. 1 (Mai 1920), o. S. Die Zeitschrift Le coq wurde von Cocteau und den Six ins Leben gerufen. Ab der dritten Ausgabe erschien sie als Le coq parisien. Neben den Herausgebern veröffentlichten beispielsweise auch Satie und Raymond Radiguet Beiträge. Ihrem Format und der Gestaltung nach imitierte sie Francis Picabias 391. Eine Vielzahl der Beiträge widmet sich dem ‚französischen Geist‘; daneben sind noch viele bissige Kommentare zu Dada, zum Establishment und zur sogenannten Hochkultur Bestandteile der Ausgaben. Vgl. Le coq, Nr. 1. Georges Auric, zit. nach Markus Bandur, Art. Neoklassizismus, in: HmT, 22. Auslieferung, S. 13.

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fungierte, ignoriert er zugunsten einer Position, die dem entspricht, was Satie und vormals Debussy ebenfalls äußerten: die Ablehnung jeglicher Form von Schulbildung und Nachahmung ästhetischer Ideale, als deren Väter sie mitunter selbst galten.32 Diese Haltung widerspricht dem, was im Begriffsfeld classicisme/néo-classicisme angelegt ist: der Rückgriff auf Vergangenes, der zum Programm erhoben wird. Stattdessen operiert Auric hinsichtlich seiner Klaviersonate F-Dur mit dem Begriff der musique pure anstelle des Terminus (néo)-classicisme. Damit bemüht er eine ästhetische Vorstellung, die um den Aspekt der Objektivität konstruiert ist und in Opposition zum Subjektiven steht.33 Zwei Elemente der Sonate stechen in diesem Zusammenhang sofort ins Auge. Erstens die Fermaten und Pausen, die charakteristisch für den ersten Satz sind und einen Umgang mit dem musikalischen Material offenbaren, der sich in den anderen Sätzen vor allem über die Dynamik (in Spielanweisungen wie sec oder sans lourdeur et très clair) und die abrupten Rhythmuswechsel und -akzentuierungen artikuliert; und zweitens die atypische Behandlung der Tonart F-Dur, die über weite Teile gar nicht aufscheint, vor allem nicht im ersten Satz.34 Über die Fermaten zeigt Auric Wechsel in der thematischen Gestaltung an. Im ersten Satz wird in den ersten acht Takten das erste Thema vorgestellt, das sich in zwei gegensätzliche Figuren aufspalten lässt: eine furiose aufsteigende Sechzehntel-Reihe, der eine fünftönige Figur unterlegt ist und eine nachfolgende Melodielinie.35 Nach der Fermate wird die zweite Figur des Themas über sieben Takte hinweg umspielt.36 Die Episode endet – ebenso abrupt wie die erste Präsentation des Themas – erneut durch eine Fermate auf einer Viertelpause.37 Nach dieser zweiten Fermate wiederholt sich das komplette Thema; über die Sechzehntel-Figur wird zugleich das Tonmaterial der F-Dur Tonleiter vorgestellt.38 Die nächste Fermate ist vor der Etablierung des zweiten Themas gesetzt, eine weitere am Ende der Durchführung.39 Neben diesen Ruhepunkten setzt Auric vor allem in der Durchführung Pausen ein, um kontrastie32

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Debussy verwahrte sich deutlich gegenüber dem von Kritikern konstatierten debussyisme, der in Anlehnung an den wagnérisme vor allem die Nachahmung durch jüngere Komponisten anzeigte. Auch Satie machte seine Ablehnung gegenüber jeglicher Form der Schulbildung und Nachahmung immer wieder deutlich. In einem Artikel in Le coq schreibt er: „Je n’attaque jamais Debussy. Les debussyistes seuls m’incommodent. IL N’Y A PAS D’ÉCOLE SATIE. Le Satisme ne saurait exister. On m’y trouverait hostile. En art, il ne faut pas d’esclavage. Je me suis toujours efforcé de dérouter les suiveurs, par la forme et par le fond, à chaque nouvelle œuvre. C’est le seul moyen, pour un artiste, d’éviter de devenir chef d’école – c’est-à-dire pion.“ Erik Satie, Pas de Casernes, in: Le coq, Nr. 2 (Juni 1920), o. S. [Hervorhebungen im Original]. Der Begriff musique pure wurde um 1923 primär in der Stravinsky-Rezeption verwendet. Unabhängig davon existierten parallel die Termini néo-classicisme und nouveau classicisme. Vgl. Markus Bandur, Art. Neoklassizismus, in: HmT, 22. Auslieferung, S. 19. Die Analyse folgt der Ausgabe, die 1993 bei Salabert erschien. Vgl. Georges Auric, Sonate en Fa majeur pour piano, Paris: Salabert 1993. Vgl. ebd., Takt 1–3 und Takt 4–8. Vgl. ebd. Takt 9–16. Vgl. ebd., Takt 17. Vgl. ebd., Takt 18. Vgl. ebd., Takt 56 und Takt 136.

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rende Phrasen aufeinanderprallen zu lassen; überleitende Partien sucht man hingegen vergeblich.40 Diese Akzentuierung des motivischen Materials, die über den gezielten Einsatz von Stille erreicht wird, zeigt die Autonomie der Sequenzen und das Fehlen jeglicher Zusammenhangsbildung an. Auch im vierten Satz dominiert der Kontrast die Anlage der Sätze. Die Zusammenhangsbildung wird ausschließlich über die beständige Repetition und Variation des thematischen Materials über alle Sätze hinweg generiert.41 Das Fehlen von Übergängen und die unmittelbare Konfrontation des Hörers mit dem Zusammenprallen der Kontraste und dem Widerstreit des musikalischen Materials ist nachvollziehbar vor dem Hintergrund der Vorstellung einer musique pure, in der alles Überflüssige vermieden werden will und einem objektiven Ausdruck weichen möchte. Die Polarisierung von Objektivität und Subjektivität legt wiederum die Ablehnung eines individuellen Kunstcharakters nahe, die die Verwendung eines starren Formschemas erst plausibel macht. Indem Auric seine Instrumentalmusik nach einem Formschema konstruiert, das – im Gegensatz beispielsweise zur Fantasie – kaum Freiräume lässt für individuelle Spielarten, macht er sein ästhetisches Ideal auch in der Instrumentalmusik geltend: die Forderung nach clarté und Simplizität, nach Konstruktion und Handwerk vor Inspiration. Damit einher geht das Hinterfragen des Werkcharakters aus dem schließlich das veränderte Selbstverständnis des Komponisten resultiert. Die negative Reaktion auf die Sonate dürfte schließlich primär dem Aufführungsrahmen geschuldet gewesen sein. Die Prominenz von Vokalmusik in den Programmen von La Sérénade wurde bereits angeführt. Diese resultiert unter anderem aus dem anvisierten Ideal einer Musik, die sich nicht erschöpft „par la recherche des techniques les plus avant-gardistes“, sondern stattdessen „par un retour à la simplicité syntaxique du langage musical, favorisant ainsi le rapprochement par rapport aux inspirations du public“.42 Die Sonate widersetzt sich diesem Klangideal: Ihr eigenwilliger Ausdruck ist ein Merkmal, das durch die Strukturierung in kurzen Episoden noch betont wird und im Gegensatz zum forcierten Ideal steht.43 Vielmehr 40 41

42 43

Vgl. ebd., Takt 70–136. Den gezielten Einsatz von Pausen und Stille zur Betonung des Kontrasts zwischen musikalischen Einheiten beschreibt Zofia Lissa als Stilmittel in Beethovens Sonaten. Sie definiert die Pause in diesem Zusammenhang als Ausdrucksmittel, das zur Dynamisierung des Ablaufs eingesetzt wird und in dieser Funktion auf spätere Komponistengenerationen übergeht. Vgl. Zofia Lissa, Die ästhetischen Funktionen der Stille und Pause in der Musik, insbesondere S. 331. In diesem Sinn ließe sich die Funktionalisierung von Stille und Pausen auch bei Auric durchaus als ein Rückgriff auf tradierte Stilmittel verstehen, der nicht in Konflikt zur ästhetischen Programmatik des Komponisten steht. Vgl. Michel Duchesneau, L’avant-garde musicale et ses sociétés, S. 123. Diese Einschätzung bezieht sich nur auf das Klangideal – die strukturelle Anlage der Sonate entspricht der Forderung einer simplen musikalischen Syntax, diese transportiert sich allerdings nicht beim Hören. Die klangliche Dimension differiert erheblich von der klaren strukturellen Anlage, die im Notentext ersichtlich wird. Ebenso wenig wie die Sonate in F-Dur steht, ist sie tonal, vielmehr changieren die Figuren beständig zwischen angedeuteten tonalen und sangbaren Melodielinien und deren dissonanten Schärfung oder den abrupten Wechseln kürzester Phrasen melodischen Materials, das nicht unmittelbar in einen Zusammenhang gesetzt und damit für den Hörer auf Anhieb erfassbar wird.

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Abbildung 12: Georges Auric, Sonate en Fa majeur pour piano (T. 1–22). (Copyright © 1932 by Rouart Lerolle & Cie 11831,,Paris. Used by Permission.)

präsentiert sie sich tatsächlich als jenes Resultat, das Auric selbst formulierte: als die Zusammenfassung seiner langjährigen „recherches sonores“, aus denen heraus auch die Wahl des Instruments erklärt werden kann und die anderen Einflüssen

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unterliegen als jene Musiken, die in den funktionalen Rahmen einer Bühnen- oder Filmmusik eingebettet sind oder als Auftragswerke entstehen.44 Obwohl die Sonate also ideell durchaus in den Kontext der Konzertgesellschaft passte, lehnte das Publikum das Werk aufgrund des hörbaren klanglichen Resultats ab. Aus diesem Zusammenhang wird der Wunsch nach der Vermittelbarkeit von musikalischen Werken nachvollziehbar, der letztlich in der Forderung nach einer „Musique pour le grand public“ kulminiert und die vier Strategien bedingt, die Colin Roust für Aurics Engagement während der Regierungszeit des Front populaire herausgearbeitet hat: „First, he participated in collective organizations and projects with other left-leaning artists; second, he reached out to broader audiences through new genres; third, he wrote works specifically composed for young people; and finally, he expressed his political views in a much more overt manner, sometimes composing works with explicit political messages.“45

Dieses Engagement verweist letztlich auf eine Dimension von Aurics Haltung, die nicht erst mit seinem politischen Aktionismus ab Mitte der 1930er Jahre aufscheint: die moralische Konnotation, die dem Bedürfnis nach Vermittlung, Erziehung und öffentlicher Positionierung innewohnt. Der Aspekt der Moral deutet schließlich mehr auf ein soziales denn auf ein populistisches Selbstverständnis und ist in der Figur des französischen intellectuel angelegt, aus der heraus sich auch die Idee des Universellen dechiffrieren lässt, die die scheinbare Widersprüchlichkeit in Persönlichkeit und Werk des Komponisten aufzulösen vermag. 2. DAS KONZEPT DES FRANZÖSISCHEN INTELLECTUEL Dass die Involvierung in politisch konträre Gruppen keineswegs problematisch sein musste und auch nicht – mit Vincent Vives gesprochen – einem ‚tragischen Schicksal‘ geschuldet war, das aus der Sozialisation des Komponisten im Paris der Zwischenkriegsjahre resultierte,46 wird deutlich, wenn man den kleinsten gemeinsamen Nenner der Organisationen betrachtet, in denen Auric aktiv war. Sie alle setzen sich aus den Persönlichkeiten zusammen, die jene Personengruppe bilden, die im Dictionnaire des intellectuels français aufgenommen sind und im Zentrum von Jane Fulchers Studie The Composer as Intellectual stehen.47 Allein das Vorhandensein 44 Fulcher erwähnt den Einfluss von Alban Bergs Musik auf Auric. Vgl. Jane Fulcher, The Composer as Intellectual, S. 227. 45 Colin Roust, Reaching a Plus Grand Public, S. 344. 46 Vgl. Vincent Vives, L’entre deux, S. 103. 47 Vgl. das 1996 erschienene und 1259 Seiten umfassende Dictionnaire des intellectuels français. Neben Einträgen zu Émile Zola oder Simone de Beauvoir verzeichnet das Lexikon auch Komponisten wie Vincent d’Indy, Maurice Ravel und Erik Satie. Überdies werden neben Einzelpersonen auch Gruppen wie die Six, Organisationen und Institutionen sowie Zeitschriften und weitere Organe behandelt; Außerdem enthält es kurze Artikel zu Stichworten wie ,DreyfusAffaire‘ oder ,Kolonisierung während der Dritten Republik‘. Vgl. Michel Winock und Jacques Julliard (Hg.), Dictionnaire des intellectuels français (1996). Siehe ausführlich zur Geschichte der intellectuels Michel Winock, Le siècle des intellectuels (1997). Die Monographie bietet ferner eine ausführliche Chronologie (1894 bis 1997), die soziale und politische sowie wissenschaftliche und kulturelle Ereignisse jeden Jahres auflistet. Auch wenn die Auflistung von Évé-

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eines Wörterbuchs, das (französische) intellectuels katalogisiert, verweist auf die anhaltende Aktualität des Terminus in Frankreich und auf eine spezifisch nationale Konnotation, die dem Ausdruck aber nicht zwangsläufig eingeschrieben ist.48 Offensichtlich steht der Begriff des intellectuel in Zusammenhang mit jenen Stimmen, die die Zeit der Dritten Republik maßgeblich prägten. Wesentlich ist der französischen Konnotation vor allem, dass ihr keine qualifizierende Bedeutung innewohnt: Der Terminus ist weder fachspezifisch aufgeladen, noch an eine bestimmte Ausbildung (ein Studium) gekoppelt. Stattdessen kennzeichnet den intellectuel seine moralische Autorität, die historisch begründet werden kann.49 Diese moralische Autorität fußt auf dem Engagement für ‚sprachlose‘ Bürger und deren Rechte, in dem sowohl die oppositionelle Haltung gegenüber den Herrschenden als auch der Entwurf einer anderen (vermeintlich) gerechteren Ordnung aufscheint. Aus dieser Konzeption heraus lässt sich der Anspruch erklären, als vermittelnde Instanz oder Bindeglied die Bedürfnisse und Rechte der Bürger reflektieren zu wollen und gegenüber den Machthabenden zu kommunizieren – zu vermitteln. Die erste als solche benannte Generation des französischen intellectuel entstand aufgrund der Dreyfus-Affäre um den Schriftsteller Émile Zola. Dessen offener Brief an den Staatspräsidenten mit dem Titel J’accuse …! führte zur Formierung von sogenannten intellectuels engagés, die ihre Positionen in den Printmedien artikulierten und deren Wirkung gezielt nutzten.50 Unabhängig von ihrer Positionierung als dreyfusards oder antidreyfusards eint diesen Typus seine Haltung: das

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nements culturels et scientifiques nur eine Auswahl des Verfassers darstellt, ist die Chronologie eine sinnvolle Ergänzung zum Fließtext, die den Lesenden einen kursorischen Überblick über die lange Zeitspanne gibt. In der internationalen wie auch der französischen Presse wurde in den vergangenen Jahren immer wieder darüber debattiert, wo die Intellektuellen in Frankreich seien oder warum sie angesichts der brisanten sozialen, ökonomischen und politischen Lage im Land schweigen würden. Jüngst erschienen zudem zahlreiche Artikel, die vor allem auf die aktuelle nationale Fokussierung der Intellektuellen abheben. Dass dabei wieder die Konfrontation von rechten und linken Ligen zum Thema gemacht und eine Positionierung der intellectuels eingefordert wird, ist nur eine der Parallelen zu den 1930er Jahren. Die Konzentration auf düstere Visionen von Frankreichs Zukunft, wie sie die Intellektuellen derzeit zeichnen, gründet zu einem großen Teil jedoch auf der internationalen Bedeutung Frankreichs, die auf diese Weise als unzureichend kritisiert und als selbstverschuldet verurteilt wird. Siehe beispielsweise Maurice Blanchot, Les intellectuels en question (1996); François Dosse, La marche des idées (2003); Celestine Bohlen, A Dark Vision from French Intellectuals, in: The New York Times (5. Oktober 2015); Sudhir Hazareehsingh, The Decline of the French intellectual, in: POLITICO (19. September 2015) sowie ausführlich zu französischen Denkfiguren Hazareehsinghs Monographie mit dem bezeichnenden französischen Titel Ce pays qui aime les idées (2015). Vorläufer für das Modell des intellectuel sind die philosophes des 18. Jahrhunderts, von denen vor allem Voltaire immensen Einfluss hatte. Ebenso wie die französischen intellectuels des 20. Jahrhunderts waren sie nicht auf ein Fachgebiet oder bestimmte Qualifikationen eingeschworen und setzten sich für Bürgerrechte und soziale Gerechtigkeit ein. Zur historischen Herleitung des Begriffs siehe beispielsweise François Dosse, La marche des idées. Zum Typus des engagierten Intellektuellen im Nachgang zur Dreyfus-Affäre siehe MarieChristine Granjon, Une enquête comparée sur l’Histoire des Intellectuels, S. 21 sowie Michel Winock, „Esprit“, S. 9–13. Siehe auch den Kommentar von dem kurze Zeit später verstorbenen Raymond Radiguet in der ersten Ausgabe von Le coq (1920), in dem er gegen die ‚Ver-

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Engagement in der Öffentlichkeit, das in den Dienst einer Sache gestellt wird, die Politiker, Eliten und die einfache Bevölkerung spaltet.51 Laut Marie-Christine Granjon stand dabei nicht eine bestimmte Ursache zur Disposition (die DreyfusAffaire). Vielmehr erfolgte die Spaltung zwischen rechts und links im Namen untrennbarer ethischer und politischer Werte: „Vérité, Justice, Raison, Égalité, Liberté, à gauche; Patrie, Ordre, Tradition, Instinct, Autorité, à droite.“52

Aus diesem Tableau sind mehrere Eigenschaften ableitbar, die diesen Typus des intellectuel kennzeichnen: erstens seine Rolle als Beobachter in der Auseinandersetzung mit der sozialen und gesellschaftlichen Ordnung und die aktive Positionierung in der Öffentlichkeit. Zweitens die Verteidigung eines Wertesystems, die einher geht mit der Herausbildung einer Ideologie oder Erweiterung einer bereits bestehenden Ordnung. Drittens die Schriftsprache, in der die Äußerungen verfasst und der Öffentlichkeit zugetragen werden.53 Aurics Engagement als Autor und Musikkritiker widerspiegelt alle drei Aspekte. Obwohl seine Beiträge primär das Musikleben seiner Zeit fokussieren und er keine konkreten ästhetischen oder politischen Aussagen traf, verdeutlicht bereits die Wahl der Zeitschriften, in welchem ideologischen und politischen Rahmen er sich bewegte. In den 1920er Jahren veröffentlichte er Artikel in Literatur- und Kunstzeitschriften wie Les nouvelles littéraires oder La Revue musicale. Bereits in dieser Zeit bilden die Beiträge für Cocteaus Le Coq (später Le coq parisien) sein gesellschaftliches Bewusstsein ab, das er in den Kolumnen für die Zeitschriften Gringoire und Les Annales politiques et littéraires Ende der 1920er Jahre verfestigte. Diese Tendenz setzt sich fort; ab Mitte der 1930er Jahre publizierte er in Magazinen, welche die Politik des Front populaire substituierten: Zwei Artikel erschienen in der Commune, dem Organ der AEAR, 182 Musikkritiken in der linkspolitischen Zeitschrift Marianne. Für das Magazin der FMP, L’Art musicale populaire, wurde Auric nicht als Autor aktiv, was jedoch primär auf seine Rolle innerhalb der Organisation zurückzuführen ist, in der er von Beginn an Vorstandsmitglied war und für die er im Rahmen von Veranstaltungen als Organisator, Redner und Musiker in Erscheinung trat. Dieser kursorische Überblick veranschaulicht zweierlei: Auric veröffentlichte erstens ausschließlich in Medien, die für eine je spezifische politische Haltung einstanden. Diese Haltungen stehen zweitens teilweise in Opposition zueinander.

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pflichtung des Franzosen‘ protestiert, ein intellectuel sein zu müssen. Vgl. Le coq Nr. 1 (Mai 1920). Vgl. Marie-Christine Granjon, Une enquête comparée sur l’Histoire des Intellectuels, S. 22. Ebd. Den dritten Aspekt veranschaulicht die Fülle von Magazinen und Zeitschriften, in denen das jeweilige Ideal der Herausgeber hervorsticht. Beispiele sind Cocteaus Le coq (ab der dritten Ausgabe Le coq Parisien), die Zeitschriften SIC, Nord-Sud und Dada, das surrealistische Organ Littérature, das 1930 abgelöst wurde von Bretons La Révolution surréaliste. Vgl. zur surrealistischen Bewegung in diesem Zusammenhang Michel Winock, Le siècle des intellectuels, S. 175 ff.

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Betrachtet man nun die Zeiträume, in denen er für die jeweiligen Organe tätig war, entsteht erst ab Mitte der 1930er Jahre ein konsistentes Bild, da er ab diesem Zeitpunkt nur noch dort publizierte, wo dezidiert linkspolitische Haltungen vertreten und die Ziele der neuen Regierung unterstützt wurden. Dieser Sachverhalt irritiert vor dem Hintergrund seiner Aktivitäten auf diesem Gebiet bis 1930. Zwischen 1927 und 1930 veröffentlichte er sowohl in Les Annales unter der Direktion von Pierre Brisson, der ab 1934 die redaktionelle Leitung des Figaro übernahm, als auch in Gringoire – jener Zeitschrift, die 1928 gegründet wurde und ab Mitte der 1930er Jahre als Sprachrohr der antiparlamentarischen Rechten firmierte, deren Inhalte von Beginn an gegen die politische Linke und deren Ideale polemisierten.54 Zwei Bezüge scheinen hier auf: Aurics Kolumne in Les Annales verweist auf die exponierte Stellung, die ihm innerhalb der französischen kulturellen Welt als Kritiker, Kolumnist und Autor zukam. Darüber hinaus wird ersichtlich, dass er vor allem jenen elitären Kreisen nahe stand, aus denen sich seine dortige Leserschaft zusammensetzte. Die zahlreichen Veröffentlichungen in Gringoire bestätigen dieses Bild. Ebenso wie Les Annales nahm auch diese Wochenzeitung eine anti-kommunistische Haltung ein. Bis 1934 galt sie zusätzlich als Organ der gemäßigten Rechten und stand als nationalistische Stimme der Açtion française nahe. Den Kontakt zu dieser Zeitschrift vermittelte offenbar Cocteau, der mit dem Herausgeber Horace de Carbuccia vertraut war. Aurics Rolle innerhalb des ideologischen Rahmens den Cocteau mit seiner Schrift Le coq et l’arlequin 1918 postulierte, offenbart sich hier als konsistent nationale Haltung, die letztlich bis in die 1930er Jahre hineinreicht, aber nicht mit einer konkreten politischen Positionierung einhergeht. Die Vernetzung mit politisch-divergierenden Organen, die das Bild des Autors Auric bis Mitte der 1930er Jahre bestimmt, verdeutlicht, dass Aurics Engagement zunehmend einem politischen Impetus und damit der Linie der Regierung folgte, während seine Haltung zuvor vor allem durch das soziale Gefüge determiniert war, in dem er sich bewegte. Dass die zunehmende Politisierung keinesfalls einherging mit der Nivellierung der sozialen Ordnungen demonstrieren Aurics Veröffentlichungen im Jahr 1934. Hier sticht ein Beitrag in Le Figaro ins Auge – der Einzige, den er je in dieser Zeitschrift veröffentlichte.55 In dem Artikel thematisiert er eines der seltenen Male seine eigene Musik und diskutiert seine Komposition zu dem Ballett Les Imaginaires von 1934.56 Er hebt die „constante et très cordiale collaboration“ mit dem Choreographen David Lichine hervor, „un travail pour lequel 54

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Trotz der jüdischen Herkunft der zwei anderen Herausgeber Joseph Kessel und Georges Suarez radikalisierte sich die Wochenzeitung ab 1934 zunehmend und vertrat faschistische und antisemitische Ideale. Der Gründer und Herausgeber Horace de Carbuccia war Mitglied der Gauche radicale – der liberalen Linken, die, anders als der Name vermuten lässt, politisch eher rechts angesiedelt war. Entsprechend liegt die Vermutung nahe, dass Auric aufgrund der Übernahme des Figaro durch Pierre Brisson die Möglichkeit bekam, in der renommierten Tageszeitung zu publizieren. Gemeint ist das Datum der Pariser Uraufführung am 11. Juni 1934 im Théâtre des ChampsElysées. Die Kostüme und das Bühnenbild stammten von Étienne de Beaumont, die Choreographie erarbeitete David Lichine. Vgl. Georges Auric, Le théâtre: La musique des ‚Imaginaires‘ commentée par son auteur, in: Le Figaro (14. Juni 1934), S. 6, zit. nach Carl Schmidt, Écrits/Writings I, S. 237 f.

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j’espère avoir apporté plus et mieux qu’une œuvre égoïstement élaborée“.57 Konkret fasst er sowohl seine Idee von der Vermittlung seiner Musik an das Publikum als auch sein Ideal einer kollektiven Zusammenarbeit schon während des Entstehungsprozesses in Worte. Le Figaro war bereits damals eine der meistgelesenen Tageszeitungen Frankreichs und zielte primär auf ein konservatives, bildungsbürgerliches Publikum ab. Indem Auric 1934 für dieses renommierte Blatt publiziert und ausgerechnet hier über seine eigene Musik spricht, folgt er seinem Ideal, eine größere Leserschaft anzusprechen und seine Musik (zumindest theoretisch) einem größeren Publikum zugänglich zu machen, obschon der Leserkreis wiederum ein begrenzter war. Damit ist ein Schiefstand des Konzepts des intellectuel benannt: Die Vorstellung von einer Gesellschaft, die soziale Grenzen überwindet, indem die intellektuelle Elite als vermittelnde Instanz auftritt (welche die Bedürfnisse der Bevölkerung und Missstände über Printmedien artikuliert), entpuppt sich als Idee ebendieser Elite. Ein Austausch oder eine Kommunikation zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppierungen findet jedoch nicht statt. Entsprechend bleibt auch die intellektuelle Elite nur innerhalb ihres eigenen Systems und in ihrem eigenen sozialen Raum wirkungsmächtig. Diese Kontextualisierung der Figur des intellectuel und des dahinter stehenden Konzepts zeigt, dass das Modell weniger politisch als vielmehr kulturell und sozial motiviert ist und die Bewegung aus diesem Grund nicht auf ein Netzwerk linkspolitisch engagierter Intellektueller beschränkt war. Auf allen Seiten steht die Verteidigung des Eigenen gegenüber dem Fremden im Vordergrund, die letztlich noch immer die Suche nach Identität und Zugehörigkeit markiert, die seit der Revolution bestimmend für die Konstitution der französischen Gesellschaft wurde und sich sowohl 1870 als auch mit dem Erstarken des Faschismus Ende der 1920er Jahre dynamisierte. Die patriotische Dimension in den Schriften und Denkfiguren kann unter diesem Bedürfnis subsumiert werden. Ferner wird anschaulich, dass auch die Forderung nach einer Kunst für die Massen letztlich einem ambivalenten ideologischen Konstrukt unterliegt. Die Suche nach dem Individuellen im Sinne eines vermeintlich Eigenen – versinnbildlicht im Begriff der Nation – und das Verlangen nach Zugehörigkeit zu einem Kollektiv oder einer Gemeinschaft – verbalisiert im sozial determinierten Begriff der Klasse – stehen in einer symbiotischen Beziehung zueinander. Zwischen diesen beiden Polen spannt sich die ideologische Programmatik der intellectuels auf. Diese Programmatik umfasst den Entwurf einer Gesellschaftsordnung, die von den bisherigen Verhältnismäßigkeiten abweicht und der als Gegenentwurf zur bestehenden Ordnung revolutionäre Tendenzen beinhaltet.58 Das revolutionäre Potential ist in dem Bestreben enthalten, die bestehende Ordnung ersetzen zu wollen. Wie eingangs beschrieben, ist dieses Bestreben ein grundsätzliches Merkmal des intellectuel, das somit als theoretischer Überbau der tatsächlichen Inhalte fungiert. Entsprechend sind die Reaktionen auf das bestehende Wertesystem mit dem zuvor dominanten Modell verzahnt und nicht als koexistierende Alternati57 58

Vgl. ebd., S. 238. Zum Zusammenhang von Intellektuellen und Revolution sowie kritisch zum Typus des französischen intellectuel siehe Raymond Aron, L’opium des intellectuels (2010) [1955].

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ven zu diesem gesetzt – sie existieren nur aufgrund des Bestehenden und entwickeln sich gewissermaßen im Verhältnis zu diesem. Diese Abhängigkeit führt in letzter Konsequenz zum Forcieren einer vollständigen Ersetzung des Vorhandenen. Das ‚Andere‘ löst das Vorhandene ab und wird als einzig gültige Lösung installiert. Hier tritt das politische Potential des Modells hervor: Der inhärente revolutionäre Gestus ermöglicht die Ideologisierung der Inhalte und dient letztlich den politischen Zielen der Parteigänger. Die Umbrüche in der Musikwelt der 1930er Jahre lassen sich schließlich auf diese Konzeption zurück beziehen, die der Front populaire schlussendlich für seine Politik nutzte. Erst auf der Grundlage dieser Überlegungen ist nachvollziehbar, warum der Front populaire nicht nur das soziale, sondern auch das kulturelle System nachhaltig verändern konnte. Frankreich erlebte nach dem 6. Februar 1934 jene umfassende Radikalisierung, aus der heraus die gesamte politische und soziale Kultur des Landes in Frage gestellt wurde. Nimmt man nun wie eingangs behauptet an, dass dieses in Frage stellen in der Öffentlichkeit vor allem von einer intellektuellen Elite artikuliert und somit befördert wurde, erschließt sich die Beziehungskonstellation zwischen künstlerischer Avantgarde, aristokratischem Mäzenatentum, linkspolitischer Fraktion und bildungsbürgerlicher Elite. Zofia Lissa beschreibt 1974 die Prozesse, „die im musikalischen Bewusstsein der Gesellschaft als Folge der in ihr vorgehenden revolutionären Wandlungen stattfinden.“59 Unabhängig von ihren Beispielen (Sowjetunion nach 1917 und Frankreich nach der französischen Revolution) arbeitet sie einen wesentlichen Zusammenhang heraus, der auch auf die 1930er Jahre in Frankreich zutrifft: die Annahme einer Aufspaltung des musikalischen Bewusstseins je nach sozialer Herkunft, denn „Die einzelnen Gesellschaftsgruppen lebten gewissermaßen jede in einer anderen ‚Musikwelt‘[…] Niemals haben wir es mit einer einheitlichen Musikkultur zu tun.“60

Aus dieser grundlegenden Feststellung leitet sie ab, dass die Umbrüche in der Musikkultur „nicht nur das Ergebnis der Änderungen in der kompositorischen Ideologie, sondern vielmehr der Änderungen im dominierenden Typ der Rezeption“ seien.61 Damit rückt erneut jenes Moment ins Blickfeld, das als Motor von Aurics ästhetischen Bestrebungen bestimmt werden kann: das Primat der Vermittelbarkeit von Musik, das sich nur in der Berücksichtigung und Erziehung der Adressaten realisiert. 59 Vgl. Zofia Lissa, Musik und Revolution, S. 113. Die Umschwünge aufgrund der französischen Revolution im 19. Jahrhundert und das Beispiel der Sowjetunion nach 1917 sind natürlich nicht einfach übertragbar auf jene gesellschaftlichen Umstrukturierungen, die Frankreich nach dem 6. Februar erlebte. Dennoch sind parallele Mechanismen zu erkennen, die helfen, die scheinbar plötzlichen Umschwünge nach dem 6. Februar in einem erweiterten Kontext darzustellen, der letztlich in der Kultur- und Musikpolitik des Front populaire kulminierte. Weiters galt die sowjetische (Kultur-)Politik der französischen Linken spätestens 1934 mit der Verkündigung der kulturpolitischen Leitlinie des Sozialistischen Realismus in Frankreich durch Vertreter der AEAR als Vorbild. Hierbei lag der Fokus jedoch primär auf den Organisationsstrukturen. Im Zentrum ästhetischer Debatten stand hingegen vor allem der französische Realismus-Begriff. 60 Zofia Lissa, Musik und Revolution, S. 115 [Hervorhebungen im Original]. 61 Vgl. ebd., S. 122.

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Auric stammte nicht aus der neuen gesellschaftlichen Zielgruppe, sondern lässt sich sowohl als Rezipient als auch als Komponist jenem Kreis zurechnen, den Lissa als „Gruppe der Musikkenner, der sogenannten geistigen Elite“ identifiziert, „die sich in den komplizierten musikalischen Mitteln ihrer Zeit und der vergangenen Epochen genau auskennt und die Musik rein ästhetisch erlebt.“62 Dieser Umstand erklärt, warum Auric unter dem Front populaire vor allem um die Erziehung der neuen Generation in den neuen sozialen Verhältnissen bemüht war und nicht etwa – wie man nach den vorherigen Ausführungen annehmen könnte – ‚neue‘ ästhetische Ideale und in der Folge vollkommen andere kompositorische Strukturen und musikalische Mittel ausbildete als zuvor.63 Nach Lissa können Grenzen zwischen den einzelnen Rezipienten-Gruppen nur durch Vermittlung und Bildung überwunden werden. Dieses Aufheben der Grenzen sei letztlich notwendig, um ein Aufführen der eigenen Werke zu garantieren, die in ihrer Gestaltung eigentlich ein anderes Publikum (bestehend aus der sozialen Gruppe des Komponisten) ansprechen würden.64 Dem Wunsch nach einem größeren Publikum ist wiederum die Erforderlichkeit nach Bestätigung durch dieses Publikum beigegeben – nur wenn die Rezipienten und deren institutionelle Vertreter (Aufführungs- und Ausbildungsstätten, Konzertgesellschaften, Plattenfirmen) die Musik akzeptieren, wird sie aufgeführt. Dadurch dass sich die Regierung des Front populaire nicht aus ihrer Zielgruppe heraus rekrutierte, sondern aus jener Elite, die eingangs beschrieben wurde, konnte die Konfrontation unterschiedlicher Adressaten-Gruppen umgangen werden. Eine Abhängigkeit der musikalischen Ästhetik von der neuen ‚machthabenden Klasse‘ und deren musikalischem Horizont – wie sie Lissa für ihre Beispiele feststellen muss – wurde auf diese Weise verhindert. Die Prägung des musikalischen Bewusstseins erfolgte ausschließlich durch diesen Zirkel, der zwar theoretisch für die Belange der einfachen Bevölkerung einstand, aber keineswegs in ihr verwurzelt war oder aus ihr hervorging. Institutionen wie die FMP bilden dies deutlich ab, da sie mit ihren Initiativen und Programmen zwar dem Bedürfnis ihrer Adressatengruppe (le peuple) nach Musik stattgab, aber nicht etwa Schlager oder Unterhaltungsmusik zur Aufführung brachte, wie sie das Pariser Unterhaltungsmilieu darbot.65 Stattdessen steuerte sie die Prägung des Geschmacks der Bevölkerung, indem sie ebenjene Musiken befürwortete, für die ihre Mitglieder programmatisch einstanden. Die Mission der Organisation umfasste laut Colin Roust zunächst drei Anliegen: „to increase the quantity of music played in France, to improve the quality of that music, and to improve and universalize music education in France.“66 62 63 64 65 66

Ebd., S. 114. Zum Aspekt der Musikerziehung bei Auric siehe Colin Roust, Sounding French, S. 111 ff. Vgl. Zofia Lissa, Musik und Revolution, S. 122. Der Ausspruch vom ‚Recht des Volkes auf Musik‘ versinnbildlicht diese Programmatik auf kulturpolitischer Ebene. Colin Roust, Sounding French, S. 110. Neben diesen Zielen war die FMP auch an der internationalen Vernetzung von Komponisten interessiert, die sozialistischen oder kommunistischen Idealen nahe standen oder diese explizit vertraten. Der Verlag der Organisation publizierte neben den Werken ihrer eigenen Mitglieder Arbeiterlieder aus der ganzen Welt sowie Werke von Shostakovich und Eisler. Vgl. ebd. Christopher Moore zeichnet in seinem Artikel zur Musik des Front populaire die marktstrategischen Bemühungen der FMP nach, indem er auf die Ver-

2. Das Konzept des französischen intellectuel

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Dieses Programm resultiert aus der Sozialisation der Repräsentanten, was unter anderem auch die Veränderungen veranschaulichen, die 1937 mit der Übernahme der Präsidentschaft durch Albert Roussel eintraten: „The FMP’s focus would shift towards the concerns of these composers [Georges Auric, Elsa Barraine, Louis Durey, Arthur Honegger, Jacques Ibert, Charles Koechlin, Darius Milhaud und Albert Roussel]. Most notably Roussel – and Koechlin, who took over the presidency after Roussel’s death on 23 August 1937 – used the group and its educational efforts as a means to combat the increasing commercialization of music.“67

Durch die administrative Leitung der FMP wurde die Kontrolle des Musiklebens durch die Komponisten selbst und die aktive Positionierung ihrer eigenen Werke und ihrer ästhetischen Präferenzen in der breiten Öffentlichkeit möglich. Die Folgen sind offensichtlich: Die nachhaltige musikalische Prägung der Gesellschaft durch die Umstrukturierung unter der neuen Regierung ließ letztlich ein neues musikalisches Bewusstsein entstehen, in dem Sinn, wie es Lissa für das Bezugssystem Musik – Revolution herausgearbeitet hat. Dieses neue musikalische Bewusstsein steht ganz im Licht der ästhetischen Ideale, die eine vormals als Avantgarde deklarierte Komponisten- und Künstlergeneration bereits in den 1920er Jahren formulierte und sukzessive als Modell etablierte. Cocteaus Le Coq et l’arlequin (1918) kann bereits als ein Baustein dieser prozessualen Entwicklung gelesen werden. Cocteau stilisiert in der Schrift nicht nur die Vertreter einer Musikkultur zu Vorbildern für die musikalische Zukunft, die in Opposition zum offiziellen Betrieb stehen, sondern bedient sich ganz im Sinne identitätsstiftender Diskurse nach dem Ersten Weltkrieg dezidiert nationalistischer Rhetorik. Derselbe Duktus sollte ab 1936 auch die politische Strategie des Front populaire bestimmen und entsprechend auch auf die FMP abfärben. Weiters zeigt sich deutlich, dass die Musik in den 1930er Jahren abhängig von ihrer gesellschaftlichen Funktion gestaltet und ihre Wirkungsweise nicht nach ihrem ästhetischen Wert bemessen wurde. Als ein Ausdruck dieser Vormachtstellung gesellschaftlicher gegenüber ästhetischen Implikationen figuriert die Erschließung

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lage (Éditions Sociales Internationales; Éditions du Chant du monde) und die Plattenfirma (Chant du Monde) hinweist. In diesen Häusern wurde ein Großteil der zur Zeit des Front populaire entstandenen Werke von Auric verlegt, darunter die Lieder Le Campeur en chocolat (1937) aus der Serie Les chants du campeur auf Texte von Paul Vaillant-Couturier; Le Canard (1937) aus der Serie Chants pour enfants sowie im Bereich der Instrumentalmusik das Impromptu en sol Majeur (1936), das Impromptu en mi Majeur (1939), die Ouverture pour orchestre (1938) uvm. Das Programm der Verlage spiegelt die Kulturpolitik des Front populaire wider. Vor allem die zahlreichen Lagerfeuer- und Kinderlieder, die beispielsweise auf Texten des Kommunisten Vaillant-Couturier basieren, bilden den politischen Impetus ab. Die Kinderlieder und instrumentalen ‚Lehrstücke‘ verdeutlichen die didaktische Dimension der Kulturpolitik, die von der FMP marktstrategisch umgesetzt wurde, indem sie auch die industrielle Struktur des Musikbetriebs umfassend mitgestaltete. Colin Roust, Sounding French, S. 111. Roussel verfasste zahlreiche Artikel im Magazin der FMP L’Art musicale populaire, in denen er vor allem die Populärmusik kritisierte, die von den Radios und auf Schallplatten massenhaft verbreitet wurde. Sein Argument war, dass diese Musik (dargeboten von Jazz-Bands oder Chansonniers) mehr der Industrie denn den Menschen helfe.

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II. „La musique pour le grand public“ (1934–1938)

anderer Aufführungsorte die insbesondere die Six schon in den 1920er Jahren forcierten.68 Dieser Aspekt veranschaulicht die Ersetzung des offiziellen institutionellen Apparats (und der damit in Zusammenhang stehenden gesellschaftlichen Gruppe) und kündigt die Entwicklungen der Folgejahre an. Die Aufhebung etablierter Verhältnismäßigkeiten des Konzertbetriebs fungiert als Vorverweis auf den breiten gesellschaftlichen Umschwung, der von der künstlerischen Avantgarde jenseits konkreter politischer Distinktionen in den 1920er Jahren vorbereitet wurde. Für die Musik selbst lässt sich feststellen, dass die Ablehnung ehemals vorherrschender Musikideale keine neue Tendenz ist – der rege Wechsel der musikalischen Feindbilder in Frankreich um die Jahrhundertwende bestätigt das. Die Musik während der Regierungszeit des Front populaire kann einerseits zwar als Produkt der spezifischen politischen Umstände gelesen werden, war jedoch darüber hinaus „informed by preexistent artistic networks and aesthetic constructs“69. Ausgehend von diesem Sachverhalt ist insbesondere die aktive Positionierung einer Komponistengeneration im administrativen Bereich des Musikbetriebs bemerkenswert. Der Umsturz des bisherigen Systems mit seinen etablierten Strukturen und ästhetischen Prämissen geht ebenso auf die Aktivitäten dieser Protagonisten zurück wie auch die Kontrolle und Justierung der ‚neuen‘ musikalischen Welt.

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Exemplarisch für diesen Aspekt der Erweiterung des kulturellen Betriebs und seiner traditionellen Institutionen ist die Pariser Bar Gaya (später umbenannt in ,Le Bœuf sur le toit‘ nach dem gleichnamigen Ballett von Milhaud), in der Auric ebenso prominenter Stammgast war wie seine Freunde der Six und Cocteau. Eine gewichtige Stimme (und Mitbegründer der Bar Gaya) in der Debatte um die sogenannte Populär- und Hochkultur war der Pianist und Komponist Jean Wiéner. Seine Concerts salades machten nicht nur die Six prominent, sondern sorgten vor allem dafür, dass sich eine neue Aufführungskultur etablieren konnte, an der ‚ganz Paris‘ partizipierte. Auric beschrieb die Atmosphäre dieser Konzerte als vorurteilsfrei und hob damit insbesondere die Offenheit gegenüber allen musikalischen Genres hervor, die Wiéners Repertoire und die Programme seiner Veranstaltungen kennzeichnete. Wiéner selbst (ebenfalls am Konservatorium ausgebildet) stand vor allem für provokative Statements in der Presse, die sich gegen das kulturelle Establishment und seine Institutionen richteten. Vgl. Georges Auric, Quand j’étais là, S. 162 ff. Sowie ausführlich zur Bar Gaya und ,Le Bœuf sur le toit‘ Nancy Perloff, Art and the everyday. Von der Forschung ist Jean Wiéner bis dato kaum berücksichtigt worden. Abgesehen von einigen Artikeln, die ihn vor allem in Bezug zur französischen JazzRezeption setzen, findet er primär in Studien zu den 1920er Jahren Erwähnung. Monographien zu einzelnen Aspekten seines Werks – auch zu den zahlreichen Filmmusiken – fehlen ebenso wie eine Biographie des Komponisten. Siehe zu Jean Wiéner beispielsweise Jane Fulcher, The Composer as Intellectual, S. 152 ff.; Tobias Widmaier, Der weiße Neger vom ‚Bœuf sur le toit‘: Jean Wiéner und die Jazzrezeption im Umkreis der Groupe des Six, in: Neue Zeitschrift für Musik 154/5 (1993), S. 34–36; Johannes Herwig, Die musikalischen Wanderungen des Jean Wiéner (2008), S. 217–229. Christoper Moore, Socialist Realism and the Music of the French Popular Front, S. 502.

3. Generationenfragen

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3. GENERATIONENFRAGEN Als ‚Wanderer zwischen zwei Welten‘ bezeichnete Robert Wohl die Generation der zwischen 1880 und 1900 Geborenen und bezieht sich damit auf die Zäsur, die der Erste Weltkrieg darstellte und die eine Ordnung der eigenen Lebensgeschichte in ein Davor, ein Während und ein Danach bedingte.70 Mit den veränderten Lebensbedingungen durch die Technisierung und Dynamisierung der Lebenswelt einerseits und die kriegsbedingten Umbrüche andererseits ist die Neu-Justierung der gesellschaftlichen Ordnung verzahnt: Die sogenannte Generation 1914 erlebte sowohl die Modernisierung ihrer Lebenswelt im neuen Jahrhundert als auch deren Zerstörung im Ersten Weltkrieg.71 Die Anwendung des Generationenbegriffs auf jenen Personenkreis, der den Ersten Weltkrieg in Jugendjahren erlebte, ist Wohl zufolge nicht auf das spezifische Alter der Einzelnen zurückzuführen. Entscheidend sei vielmehr ein gemeinsamer Referenzrahmen, der die Abgrenzung einer Generation von der vorherigen und den nachfolgenden legitimiere: „What is essential to the formation of a generational consciousness is some common frame of reference that provides a sense of rupture with the past and that will later distinguish the members of the generation from those who will follow them in time.“72

Zentral ist erstens der Bruch mit der Vergangenheit, der zur Rechtfertigung der neuen Generation herangezogen wird und zweitens der Referenzrahmen, der immer abgeleitet ist von „great historical events like wars, revolutions, plagues, famines, and economic crises“.73 Dies resultiert nach Wohl aus dem Umstand, dass diese Ereignisse Wegweiser für die Menschen sind, mit denen sie ihre Vergangenheit in eine Ordnung bringen und ihr eigenes Schicksal mit dem der Gesellschaft verknüpfen.74 Ein wesentlicher Faktor des Modells der Generation tritt in dieser Herleitung bereits klar hervor: Als ideelles Konzept ist es von einer verhältnismäßig kleinen Bevölkerungsgruppe konstruiert. Diese Bevölkerungsgruppe setzt sich aus jenen engagierten Intellektuellen zusammen, die über Sprache und Schrift ihre Vorstellungen der gesamten Gesellschaft zugänglich machen wollen. Ähnlich wie die Denkfigur des französischen intellectuel kennzeichnet auch das Modell der Generation seine ambivalente Beziehung zur Gesamtgesellschaft: Einerseits setzen sich die Intellektuellen tatsächlich mit den verschiedenen sozialen Gruppen ihrer Lebenswelt auseinander, andererseits bleiben sie immer ihrer eigenen sozialen Herkunft und ihrem subjektiven Erfahrungshorizont verhaftet. Das Identifikationssystem des Generationen-Modells reflektiert zwar die gesamte Gesellschaftsstruktur, allerdings ist das Vermittlungspotential durch den homogenen Habitus seiner Urheber begrenzt. Wohl zufolge ist die Generation 1914 in letzter Konsequenz sowohl ein „attempt of self-description by intellectuals“ als auch ein 70 71 72 73 74

Robert Wohl, The Generation of 1914, S. 203; 210. Vgl. ebd., S. 210 f. Ebd., S. 210. Ebd. Vgl. ebd.

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II. „La musique pour le grand public“ (1934–1938) „project of hegemony over other social classes, that derived its credibility and its force from circumstances that were unique to European men born during the last two decades of the nineteenth century.“75

Aufgewachsen ,zwischen zwei Welten‘ teilten Auric und seine Zeitgenossen erstens das Erleben der modernen Welt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, zweitens die Erfahrung des Ersten Weltkriegs, entweder als Soldaten an der Front oder – wie Auric und Poulenc – als Jugendliche zu Hause und drittens die eigene Ausbildung innerhalb der offiziellen Institutionen der Pariser Musikwelt, im Konservatorium und an der Schola Cantorum. Die Konsequenzen, die sich aus dieser Sozialisierung für die Herausbildung der eigenen Ästhetik ergeben, basieren Jane Fulcher zufolge primär auf der Spannung, die aus der Konfrontation mit „modernist innovation“ einerseits und „more traditional cultural values“ andererseits resultiert.76 Die Ablehnung des offiziellen musikalischen Kanons, den sie im Zuge ihrer Ausbildung kennenlernten, steht dabei in einem engen Zusammenhang mit der konfrontierenden Haltung die sie gegenüber den Veränderungen in der musikalischen Welt während des Krieges einnahmen: „They were similarly repulsed by attempts to control the production of meaning in music during the war, as well as by the official conservative and exclusive conception of the classic. The conventions that they rejected, then, were, as for Satie, those associated with the artistic strictures applied during the war, as well as with the narrow sense of aesthetic legitimacy these sought to enforce.“77

Die Kenntnis alternativer musikalischer Modelle und Welten ist im Gegensatz zur vorherigen Generation nicht mehr dem Bemühen und Interesse des Einzelnen geschuldet.78 Allerdings eint die Generation 1914 die Erfahrung, den Legitimationsprozess der Unterhaltungskultur miterlebt zu haben. In der Folge steigt das Bedürfnis nach einer Umdeutung dominierender ästhetischer Konventionen (und nicht deren bloße Ersetzung), wie sie beispielsweise in der Verknüpfung von tradierten mit populärmusikalischen Formen stattfindet. Dass die ersten Jahre des neuen Jahrhunderts in der Katastrophe des Ersten Weltkriegs kulminierten, ist die wesentliche Erfahrung, die die Motivation hinter dem breiten Engagement der Künstler für eine Neuordnung der kulturellen Welt erklärt. Die Verortung des Einzelnen innerhalb eines selbstgewählten Systems, das aus den Kategorien Davor, Während und Danach besteht, macht wiederum die Negierung einer Heroen-Musikgeschichte plausibel, die sich in der Ablehnung sowohl 75

76 77 78

Ebd., S. 209. Die Tendenz zur Rückbindung an das Konzept der Generation zeigt sich insbesondere in Frankreich zwischen den Kriegen. Die Wendung von der Lost Generation, die Gertrude Stein prägte, ist nur ein weiteres Beispiel, das auf dem theoretischen Modell der Generation beruht. Raymond Lefebvre bezieht sich mit seiner génération massacrée ebenfalls auf das Konzept. Vgl. zur Theoretisierung des Generationenbegriffs- und Konzepts im 19. und 20. Jahrhundert Robert Wohl, The Generation of 1914, S. 203 ff. Vgl. Jane Fulcher, The Composer as Intellectual, S. 154. Ebd., S. 155. Der Besuch von Unterhaltungsetablissements wie Zirkus, Music-Hall, Kino etc. galt zu Beginn der 1930er Jahre beispielsweise längst nicht mehr als Aktivität der weniger privilegierten sozialen Schichten, sondern war eine weit verbreitete Freizeitbeschäftigung unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen.

3. Generationenfragen

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von Debussy und Ravel als Statthalter des 19. Jahrhunderts, als auch von den im Krieg kanonisierten Vorbildern – Beethoven, Wagner und Franck – ablesen lässt. Als Restriktionen von offizieller Seite wahrgenommen, verlangte eine Neuordnung der etablierten Wertesysteme die Aufhebung jeglicher Hierarchisierungen, die schließlich auch zur Profilierung einer kollektiven Kunstästhetik und -produktion führte.79 Aurics Musikkritiken bilden diese Aspekte ab. In ihnen dominiert das Motiv der gemeinschaftlichen, kooperativen Arbeit, das er insbesondere in seinen Schriften zu Film- und Bühnenmusik artikuliert, indem er primär auf die Entstehungsprozesse eingeht und weniger über das Kunstwerk selbst als Ergebnis dieser Prozesse reflektiert. Der Zusammenhang von Bühnen- und Filmmusik ist bei Auric entsprechend nicht als werkimmanentes Phänomen zu untersuchen, sondern unterliegt einer ideellen Haltung, die aus einer spezifischen außermusikalischen Programmatik resultiert. Diese Einordnung entspricht dem, was Christopher Moore in Anlehnung an Lynn Garafola mit der Wendung „populist modernism“80 beschreibt und in Bezug auf die Ästhetik der FMP feststellt: die Verschränkung avantgardistischer mit populären musikalischen Elementen.81 Während sich die musikalische Faktur der Kompositionen im Vergleich zu den 1920er Jahren nicht wesentlich änderte, vollzog sich der gravierende Bruch jedoch auf der konzeptionellen Ebene, nämlich in der Adressierung eines anderen Publikums. Dabei stand allerdings nicht die Unterhaltung der Bevölkerung im Zentrum, sondern die ästhetische Erziehung der Rezipienten.82 Vor diesem Hintergrund wird plausibel, warum sich mit der Ambition, einem breiteren Publikum gerecht werden zu wollen, die Tonsprache selber nicht zwangsläufig veränderte. Dies verdeutlicht, dass die Ursprünge der ästhetischen Ideale, die Auric und seine Zeitgenossen im Verlauf der 1930er Jahre in eine kulturpolitische Praxis transferierten, immer schon im Kontext kultureller und sozialer Distinktionen standen. Ausgehend von konkreten historischen Ereignissen, aufgrund derer eine NeuOrdnung der Welt für sie unumgänglich geworden war, versuchten sie (anders als noch Satie und Stravinsky) bekannte Traditionen und Konventionen in immer neue Bezugssysteme einzuspeisen und miteinander zu konfrontieren.83 Die Dialogizität dieser Methode verweist ebenso wie die idealisierte Vormachtstellung des Kollektivs gegenüber dem Individuum auf die soziale Dimension des Konzepts. Das Bild der Generation 1914, das die Intellektuellen sukzessive in der Presse aufbauten und das letztlich im kulturpolitischen Engagement derselben Elite in den 1930er Jahren kulminierte, erweist sich nicht nur als Denkfigur, sondern als wirksames Instrument 79 80 81 82 83

Vgl. Jane Fulcher, The Composer as Intellectual, S. 156. Christopher Moore, Music in France and the Popular Front, S. 25 ff. Bereits im Titel enthalten ist der Begriff in Moores Artikel Le quatorze juillet: modernisme populaire sous le Front populaire (2006). Lynn Garafola beschrieb die sogenannte Avantgarde-Ästhetik, die mit den Ballets Russes assoziiert wird, mit dem Begriff Lifestyle modernism. Vgl. Lynn Garafola, Diaghilev’s Ballets Russes, S. 98 ff. Vgl. Christopher Moore, Music in France and the Popular Front, S. 31 ff. Vgl. ebd., S. 155 f.

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II. „La musique pour le grand public“ (1934–1938)

im Kampf um kulturelle Hegemonie. Dieser Umstand deutet zum einen auf die sozialen Beziehungen hin, in die Musik eingebettet ist und zeigt zum zweiten eine Tendenz, die in der Konstruktion der ‚neuen‘ gesellschaftlichen Ordnung angelegt ist: die anhaltende Suche nach Identität, die sich nicht mehr um die Kategorie der Nation konstruiert, sondern stattdessen den Topos des Sozialen zum Charakteristikum erhebt. In Bezug auf Auric kristallisiert sich die Stilisierung der sozialen Dimension und das damit zusammenhängende Bedürfnis nach Kontrolle über die Massen vor allem in seinen künstlerischen Entscheidungen heraus. Der didaktische Impetus, der sowohl in seinen Werken für ein jüngeres Publikum intendiert ist als auch in seinem Bemühen eine heterogene und große Gruppe anzusprechen, erscheint nun als Strategie einer sozial fassbaren Elite, die die Legitimierung der eigenen Existenz und Position innerhalb einer sich neu formierenden Gesellschaft über die Erziehung der Massen (in ihrem Sinn) sichern will. Dass die Realisierung dieser Machtansprüche und strategischen Überlegungen innerhalb eines klar definierten Verbunds stattfand und vor allem in den Printmedien beworben wurde, zeigt der Inhalt zahlreicher Zeitschriften. Neben Berichten zum Tagesgeschehen und kulturellen Leben diskutiert eine große Anzahl von Artikeln die Neu-Ordnung der Gesellschaft und präsentiert Entwürfe, wie diese zu realisieren sei. Auric veröffentlichte im November 1937 seinen Artikel La Musique pour le grand public in der Page musicale. Die Überschrift verweist bereits auf Inhalt und Intention des Beitrags. Zunächst betont Auric die „magie de notre art“ und preist – einem Gebet gleich – die Wirkung von Musik in schwierigen Zeiten: „Comment douter une minute du pouvoir, de la magie de notre art, quand la dernière mesure achevée de tel chef-d’œuvre cher à nos cœurs, s’élèvent, se confondent, se prolongent tant d’applaudissements que nous savons sans complaisance? Chère musique, grande mer aux vagues irrésistibles, qui nous prennent, nous roulent et nous entraînent si loin de nos temps difficiles!“84

Auric spricht zwar nicht konkret aus, auf welche Musik er Bezug nimmt, imaginiert allerdings gleich in den ersten Zeilen eine Situation, mit der zumindest eine konkrete musikalische Ausrichtung assoziiert wird: ein Konzertsaal, in dem er der „sévère travail“ des Orchesters während einer Probe beiwohnt und den er sich überdies mit Publikum gefüllt und atmosphärisch aufgeladen am Abend vorstellt.85 Sowohl die Wahl des Aufführungsortes als auch die Konnotation des anonymen Werks als „chef-d’œuvre“ machen unmissverständlich klar, dass Auric den tradierten Kanon der sogenannten klassischen Musik meint und die Formate der Unterhaltungskultur benennt, die er bei seiner Leserschaft als vertraut und zugänglich voraussetzt. Die scheinbare Entgrenzung der sozialen Gruppen einer Gesellschaft, wie sie unter dem Front populaire vor allem über die Kulturpolitik beworben wurde, erweist sich als machtstrategische Überlegung einer Bewegung. Auric adressiert seinen Artikel keineswegs an eine heterogene Allgemeinheit, sondern verbleibt in seinen eigenen so84 85

Georges Auric, La Musique pour le grand public, in: La Page musicale (5. November 1937), zit. nach Carl Schmidt Écrits/Writings IV, S. 1241. Ebd.

3. Generationenfragen

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zialen Strukturen und rekurriert ausschließlich auf den kulturellen Habitus seines Umfelds. Während er zu Beginn des Artikels noch kein Werk benennt und damit die Wahl des Konzertprogramms der Phantasie seiner Leserschaft überlässt, statuiert er wenige Zeilen später ein Exempel: das Requiem von Fauré, gespielt vom Orchestre Colonne. Sein ästhetisches Werturteil folgt unmittelbar und ist ebenso wie die eingangs formulierten Zeilen zur Wirkung von Musik verflochten mit Aussagen über die Verknüpfung von Musik und Gesellschaft: „Il y a quelques jours à peine, j’admirais une fois de plus sa puissance ensorcelante, cependant que, chez Colonne, se terminait le Requiem de Fauré. On voudrait savoir exprimer tout le sens que pouvait avoir l’enthousiasme d’une foule qu’assemblait le seul amour de la musique – et de quelle musique!“86

Während Auric zu Beginn noch recht allgemein über den Zusammenhang von Musik und Gesellschaft reflektiert, konkretisiert er nun den thematischen Horizont des Artikels durch die Nennung des Beispiels und die Installierung eines spezifischen Konzertpublikums in seine Rede. Auf diese Weise entwickelt er die Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Thema sukzessive und bindet seinen Appell von einer Erweiterung des Publikums an die Wirkungsdimension von Musik. Die Chance, dass seine Forderungen von den Lesern beachtet und akzeptiert werden, erhöht sich durch dieses Verfahren: Auric stellt die Verknüpfung von ästhetischem und gesellschaftlichem Erleben als organische Eigenschaft von Musik dar, die weder ignoriert noch negiert werden kann. Dadurch erscheint seine Forderung nach einer Ausweitung des Konzertpublikums als unbedingte Notwendigkeit, die er in der Frage formuliert, ob nicht eine noch breitere Öffentlichkeit ein Recht habe, an diesen ‚erhebenden Freuden‘ teilzuhaben: „Mais n’y a-t-il pas un public encore plus vaste qui, lui aussi, a le droit de partager d’aussi exaltantes joies.“87 Das Recht der Menschen auf Musik steht wiederum in Zusammenhang mit einem elitären Musikbegriff, der ausschließlich den Kanon von Aurics eigener musikalischer Ausbildung umfasst. Entsprechend bildet dieser Kanon mehr als rein subjektive Präferenzen und ästhetische Geschmacksfragen ab: Ebenso wie die Wirkung von Musik an ihr Erleben in einer konkreten Aufführungssituation gekoppelt ist – also eingebettet in gesellschaftliche Kontexte und mit diesen verzahnt – sind musikalische Programme Distinktionsmerkmale gesellschaftlicher Gruppen. Diese Abhängigkeiten betont Auric in seinem Artikel, indem er wiederholt auf die aktuelle gesellschaftliche Lage anspielt und schließlich direkt an seine Leser appelliert und sie zu mehr Engagement aufruft. Die Begründung für die Dringlichkeit seiner Forderung liefert ihm wiederum die Rückkoppelung von Musik an die Gesellschaft: „Je n’avais à dire, pour l’instant, que ceci: il n’est plus question de réserver à quelques-uns la jouissance de ,notre‘ musique. Demain plus que jamais elle doit être, elle sera la grande source de jeunesse et de force, la dispensatrice harmonieuse de beauté et d’espoir. Que chacun, simplement, accepte de participer à une œuvre nécessaire.“88 86 87 88

Ebd. Ebd., S. 1242. Ebd.

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II. „La musique pour le grand public“ (1934–1938)

Indem Auric an die individuelle ästhetische Erfahrung während des Konzertbesuchs anknüpft, gelingt es ihm, die prominente Stellung von Musik im Gesellschaftssystem als Gedanke zu etablieren. Dadurch kann er seine anschließende Forderung einer Öffnung des Kulturbetriebs für ein breiteres Publikum als logische Konsequenz dieser Stellung anlegen und auf diese Weise auch potentiellen Kritikern vorgreifen. Mit der Öffnung war wie gesehen jedoch keinesfalls eine Entgrenzung des Kulturbetriebs gemeint. Indem der Großteil der Bevölkerung im Sinne der zahlenmäßig unterlegenen Elite (um-)erzogen wurde, konnte stattdessen deren Status innerhalb der sich neu formierenden Gesellschaft gesichert und ausgebaut werden. Vor diesem Hintergrund ist das Engagement einer ganzen Künstlergeneration in der Kulturpolitik des Front populaire plausibel. Auch die Begründung für die plötzliche Hinwendung von Auric (und zahlreichen anderen Komponisten) zu linkspolitischen Parteien und Organisationen kann um diese Dimension erweitert werden.89 Die Adressierung eines breiten Publikums verweist wiederum ebenso wie der in den Diskussionen omnipräsente Topos der Vermittlung und Erziehung auf die Abgrenzung sowohl gegenüber vorherigen Generationen als auch gegenüber den zu gewinnenden Massen.90 Die Perspektive auf die Konstitution des Front populaire als Nachgang zu den Unruhen vom 6. Februar 1934 wird um diesen wesentlichen Aspekt erweitert, der vor allem in der personellen Zusammensetzung der kulturellen Institutionen (FMP, AEAR) seinen Niederschlag findet. Die Resultate der Kulturpolitik sind deshalb trotz des ideologischen Programms des Front populaire keinesfalls vergleichbar mit den Auswirkungen, die die zeitgleich stattfindenden repressiven Entwicklungen in der Sowjetunion zeitigten, die das Schlagwort Sozialistischer Realismus umreißt. Vielmehr steht das Bewahren der eigenen künstlerischen Identität im Vordergrund der vielfältigen Bemühungen und artikuliert sich bezogen auf die Musik insbesondere in dem Umstand, dass sich die Musiksprache der einzelnen Komponisten unter dem Front populaire nicht wesentlich änderte. Die Übertragung der eigenen Musiksprache in andere Medien, wie sie bei Auric zu beobachten ist, erscheint vor diesem Hintergrund nicht mehr ausschließlich als Resultat eines persönlichen Interesses oder als lediglich ökonomisch motivierte Aktivität, sondern offenbart diese weitere Intention des Komponisten, deren politische Färbung den Blick auf die Motivation zunächst verstellt. Die Einordnung des 89

90

Michel Faure verweist in seinem Lexikoneintrag in der MGG2 auf die ökonomischen Vorteile, die ein regierungsnahes Verhalten für die Komponisten mit sich brachte, insbesondere in Anbetracht der Wirtschaftskrise. Faure entmystifiziert in seinem Artikel die Vorstellung einer primär links-orientierten Komponisten- und Musikergeneration und verweist auf die zahlreichen rechtspolitisch und antisemitisch auftretenden Künstler. Weiters thematisiert er die Erstarkung des Katholizismus und die daraus hervorgehenden Komponistenverbände wie La Jeune France um Olivier Messiaen. Vgl. Michel Faure, Art. Frankreich, in: MGG2, Sp. 770 ff. Zur Diskussion um diesen Aspekt der FMP-Strategie siehe die zahlreichen Artikel von Charles Koechlin in der L’Art musicale populaire sowie insbesondere seine Schrift La Musique et le peuple von 1936. Wohl spricht hinsichtlich der Abgrenzungstendenzen sogar von der Angst vor einer Rebellion der Massen, die den Wunsch der jungen Intellektuellen nach einer einheitlichen und konfliktfreien Gemeinschaft begleitete. Vgl. Robert Wohl, The Generation of 1914, S. 209.

4. Jenseits der Leinwand

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Artikels in ein zeitgeschichtliches Panorama ist auch in dieser Hinsicht aufschlussreich: Wenn Auric in seinem Artikel Ende 1937 über die mangelnde Integration breiterer Bevölkerungsschichten in den offiziellen Konzertbetrieb reflektiert, so ist dieses Reflektieren insbesondere auch vor der angespannten politischen Lage im Land zu sehen. Die Vehemenz, mit der er an seine exklusive Leserschaft appelliert, verweist auf die Dringlichkeit, die seiner Forderung innewohnt. Diese Dringlichkeit ist das Resultat aus einer immer notwendiger erscheinenden Verteidigungshaltung, die der Frage nach der eigenen Identität ebenso inhärent ist wie ein repräsentierender Duktus. Die Stabilisierung des Eigenen, das Auric abhängig von seinen verschiedenen Lebensphasen immer wieder neu perspektiviert, gibt sich als Motivation hinter seinen Tätigkeiten (den kompositorischen ebenso wie den schriftstellerischen) zu erkennen. In den 1930er Jahren vollzieht Auric das Statuieren des Eigenen schließlich nicht mehr über nationale Topoi. Stattdessen entwirft er es als soziale Chiffre, mittels derer er eine kollektive Identität konstruiert, die jedoch einzig auf seiner individuellen Erfahrungs- und Lebenswelt basiert. Die Wirkungsweise dieses Kollektiv-Ideals wird im Folgenden am Beispiel der Theaterproduktionen des Front populaire untersucht und sowohl hinsichtlich der kulturpolitischen Strategien der Regierung als auch in Bezug auf die Motivation des Komponisten ausdifferenziert. 4. JENSEITS DER LEINWAND Unter der Regierung des Front populaire gewannen insbesondere die Kategorien ‚Repräsentanz‘ und ‚Kollektiv‘ an Bedeutung für die Kunstproduktion. Ein Ausdruck dieser Stoßrichtungen sind die von der Regierung initiierten fêtes du peuple, die den Wunsch abbilden, alle Gesellschaftsschichten in eine gemeinsame intellektuelle, kulturelle und nationale Gemeinschaft zu integrieren.91 Anlässlich dieser Veranstaltungen fand die Aufführung von Theaterstücken und Konzerten statt, die ebenfalls den Aspekt des Kollektiven befürworteten und als gemeinschaftliche interdisziplinäre Projekte beworben wurden. Die aktive Beteiligung von Künstlern, die sich nicht öffentlich politisch positionierten und mit ihrer persönlichen Haltung eher diskret umgingen, ist ein Merkmal der vielfältigen Produktionen, die im Rahmen der zahlreichen Initiativen des Front populaire entstanden. Jane Fulcher begründet diesen Umstand mit den ökonomischen und karrieristischen Vorteilen, die eine Teilnahme für jeden Einzelnen mit sich brachte. Zudem bot die kulturpolitische Agenda den Komponisten die Möglichkeit „to live up to the ideals that many of them now professed, of bringing a ‚high‘ yet accessible art to le peuple“.92 Christopher Moore differenziert die zahlreichen Facetten, die den Institutionen wie der FMP für den persönlichen Status der Komponisten innewohnten: 91

92

Vgl. Jane Fulcher, The Composer as Intellectual, S. 241. Fulcher verweist außerdem dezidiert auf die Kooperation der FMP mit den Verlagshäusern Éditions Sociales Internationales und Le Chant du Monde, die sowohl Partituren als auch Aufnahmen vertrieben. Vgl. Jane Fulcher, The Composer as Intellectual, S. 213. Vgl. ebd., S. 234 [Hervorhebungen im Original].

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II. „La musique pour le grand public“ (1934–1938) „commissions, appointments, media coverage and professional contacts were just some of the possible fringe benefits of being associated with this youthful and dynamic organization [FMP].“93

Aurics Einbindung in die Organisationen und Veranstaltungen des Front populaire zeigt sich (wie gesehen) als pro-aktives Engagement. Gleichwohl lässt dieses Engagement nicht zwangsläufig darauf schließen, dass er die politischen Proklamationen der neuen Regierung in Gänze unterstützte. Katja Bethe weist ebenso wie Fulcher und Moore auf die pragmatische Dimension einer derartigen Involvierung hin und entschärft – sich auf Moore beziehend – die vermeintlich politisch-ideologische Motivation hinter dem Aktionismus für die neue Regierung. Nach Moore „hätten sich beispielsweise viele FMP-Mitglieder dieser Organisation aus Sympathie für deren Ziele angeschlossen, in denen sie ihre eigenen, weitaus unspezifischeren humanistischen und liberalen Ideale wiederfinden konnten, ohne eben bekennende Parteigänger zu sein.“94

Auch Auric konnte noch kein Status als Parteimitglied nachgewiesen werden.95 Zwar bemerkt Roust, dass Aurics politische Affinitäten zweifelsohne ‚links‘ gewesen seien und verweist auf einen Tagebucheintrag von Jean Hugo, in dem der Schriftsteller feststellt, dass Auric „est très à gauche et lève son petit poing fermé“96. Hieraus jedoch automatisch auf ein primär politisch motiviertes Interesse Aurics an der neuen Regierung zu schließen, hieße, die spezifischen Umstände zu negieren, unter denen die Komponisten in die politische Agenda eingebunden waren. Das Interesse, den Menschen eine „‚high‘ yet accessible art“97 zu vermitteln, resultiert, wie bereits dargelegt wurde, nicht unbedingt aus einem politischen Bewusstsein der Komponisten, sondern kann auch aus dem Selbstverständnis des Einzelnen und seiner (Selbst-)Verortung im gesellschaftlichen System abgeleitet werden.98 Nachvollziehbar wird die Tendenz der Komponisten, den eigenen Status zu manifestieren und den Geltungsbereich der eigenen Musik auszubauen, wenn man ihre Reflexionen über den eigenen Beruf untersucht. Bethe legt am Beispiel von Arthur Honegger und Charles Koechlin dar, dass viele Komponisten die Arbeitsbedingungen negativ bewerteten und insbesondere „die immergleichen Konzertprogramme und die geringen Aufführungs- und Verdienstmöglichkeiten für junge Komponisten am Beginn ihrer Karriere“ bemängelten.99 Auch Auric habe sich in seinen Schriften entsprechend geäußert, so beispielsweise in einem Artikel in der Marianne vom 25. Januar 1939, der in der Kolumne La Semaine musicale erschien.100 Tatsächlich kritisiert Auric in dem Artikel

93 94 95 96 97 98 99 100

Christopher Moore, Music in France and the Popular Front, S. 101. Katja Bethe, Gemeinschaftliches Komponieren, S. 117. Vgl. Colin Roust, Sounding French, S. 108. Jean Hugo, zit. nach Colin Roust, Sounding French, S. 108. Jane Fulcher, The Composer as Intellectual, S. 234. Vgl. Kapitel II.2 und II.3 dieser Arbeit. Katja Bethe, Gemeinschaftliches Komponieren, S. 120. Vgl. ebd., S. 120.

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„qu’elles ne changeront rien dans un monde musical qui semble décidément s’être fixé, une fois pour toutes, une sorte de programme ‚minimum‘ dont on discuterait vainement la complaisante facilité.“101

Aurics Wahrnehmung der aktuellen Lage der Musik, seine Reflexion über einen statischen Kulturbetrieb und seine Kritik an der Qualität der Orchester ist jedoch auch vor dem Hintergrund der brisanten politischen Situation 1939 einzuordnen. Hier spiegelt sich ebenso wie in seinem Plädoyer für die Akquise eines größeren Publikums von 1937 seine Frustration über den institutionalisierten Musikbetrieb und sein Bewusstsein für die politische und gesellschaftliche Lage im Land.102 Die Tatsache, dass Auric erst ab 1935 als Mitglied zahlreicher linkspolitischer Organisationen und Verbände in Erscheinung tritt, verweist ebenso wie das Fehlen (öffentlicher) politischer Bekenntnisse, die schriftstellerischen Tätigkeiten für oppositionelle Magazine, die engen Kontakte insbesondere zu aristokratischen Kreisen sowie seine Funktion innerhalb der Konzertgesellschaft La Sérénade auch auf einen pragmatischen Beweggrund, der seiner Involvierung in die Kulturpolitik jener Jahre zugrunde lag. Gruppenkonstellationen und gemeinschaftliche Projekte zu initiieren, um die eigene Musik besser vermarkten und nachhaltig in der Gesellschaft installieren zu können, lässt sich bereits bei den Six als wirksame Strategie erkennen, um letztlich für den Einzelnen eine größere Aufmerksamkeit durch die öffentliche Inszenierung als Gruppe zu generieren. Die Forcierung des Kollektivs, die unter dem Front populaire politisch motiviert war und sich auf der Produktionsseite in der Förderung zahlreicher gemeinschaftlicher Kompositionen und Projekte ausdrückt, ließ sich problemlos mit den persönlichen Anliegen der Komponisten vereinbaren. Im Gegensatz zum vorherigen staatlichen Kulturbetrieb offerierte die Regierung den Komponisten mit ihren Programmen eine Vielzahl an Möglichkeiten, individuelle Ziele verwirklichen zu können und unabhängiger von privaten Financiers zu agieren. Entsprechend wurde die kulturpolitische Linie begrüßt, ohne dass eine Identifizierung mit der gesamtpolitischen Agenda zwingend notwendig erschien. Dieser pragmatische Zugang zum politisch kontrollierten Kulturbetrieb scheint bei Auric vor allem in seinem administrativen Engagement durch, das nicht auf die Verbände des Front populaire beschränkt war, sondern bereits vorher in seiner Involvierung in Konzertgesellschaften und Künstlergruppen zum Ausdruck kommt und sich nach dem Zweiten Weltkrieg fortsetzt, als er zahlreiche offizielle Ämter übernahm und seine Einflusssphäre in der französischen Musikwelt kontinuierlich ausbaute. Als Komponist beteiligte er sich hingegen nur an einem einzigen kollektiven Projekt des Front populaire: der Re-Inszenierung von Romain Rollands Le Quatorze Juillet (1936). Sowohl Bethe als auch Fulcher betonen, dass an diesem Vorhaben drei Vertreter der Six beteiligt waren und ebenso wie in den gemeinsamen Wer101 Georges Auric, La Semaine musicale: Autour d’une première audition (25. Januar 1939), zit. nach Carl Schmidt, Écrits/Writings III, S. 822. 102 Gemeint ist der Artikel La Musique pour le grand public, der am 5. November 1937 in der Page musicale erschien. Vgl. hierzu Kapitel II.3 dieser Arbeit.

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II. „La musique pour le grand public“ (1934–1938)

ken der 1920er Jahre Pablo Picasso das Bühnenbild gestaltete.103 Darüber hinaus lässt sich an der Zusammensetzung der Beteiligten noch ein weiteres verbindendes Merkmal erkennen: Mit Auric, Milhaud und Honegger sind tatsächlich drei Mitglieder der Six benannt, allerdings waren alle drei außerdem im künstlerischen Komitee der FMP vertreten. Betrachtet man die Gesamtanlage des Bühnenstücks, fällt auf, dass ausnahmslos alle involvierten Komponisten entweder als Mitglieder dieses Komitees fungierten oder leitende Funktionen in der FMP inne hatten.104 Aufbau von Le Quatorze Juillet (1936) und beteiligte Komponisten.105

Jacques Ibert

Ouverture

Akt 1 Georges Auric

Le Palais Royal (Prélude)

Darius Milhaud

Introduction et Marche funèbre (ursprünglich betitelt als Finale)

Akt 2 Albert Roussel

Prélude du 2ème acte (Prélude)

Charles Koechlin

Liberté (Finale)

Akt 3 Arthur Honnegger

Marche sur la Bastille (Prélude)

Daniel Lazarus

Fin du 3ème acte – Interlude – Fête populaire (Finale)

Dieser Sachverhalt stützt Rousts These, dass die FMP weitgehend unabhängig von den anderen Institutionen des Front populaire agieren konnte und sich mehr und mehr musikalisch spezialisierte und professionalisierte, während die musikalischen Aktivitäten unter der Schirmherrschaft der AEAR mit Romain Rolland (bis 1936) vorwiegend auf die Integration der ‚Arbeiterklasse‘ über Chöre und Lieder beschränkt blieb.106 Der Blick auf die musikalischen Programme veranschaulicht die sukzessive Umorientierung der PCF (und damit der AEAR), die das linke Parteienbündnis (und damit den Front populaire) erst ermöglichte und anstelle eines prosowjetischen und stringent kommunistischen Ansatzes nun liberalere Ziele an103 Vgl. Katja Bethe, Gemeinschaftliches Komponieren, S. 148; S. 146. Jane Fulcher, The Composer as Intellectual, S. 234. 104 Zur Formation der FMP siehe Suzanne Cointe, Rapport d’organisation par Suzanne Cointe, in: L’art musical populaire (1937), S. 2–4. 105 Die Tafel ist entnommen aus Katja Bethe, Gemeinschaftliches Komponieren, S. 150. 106 Vgl. Colin Roust, Sounding French, S. 111. Vor der Formierung der FMP als musikalische Unterabteilung der Maison de la Culture im Jahr 1936 stand vor allem die Integration der ‚Arbeiterklasse‘ im Vordergrund der Aktivitäten, da die direkte Anbindung an die AEAR gegeben war und die Initiativen entsprechend kommunistischen Leitlinien folgten. Auch die großen Chorprojekte und Liederwettbewerbe bilden diese Prägung ab. Mit der Gründung der Maisons de la Culture wurden kommunistische Ideologeme peu à peu durch allgemeinere, vor allem soziale und nationale Themen ersetzt.

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strebte, um einen größeren Wählerkreis anzusprechen.107 Vor diesem Hintergrund gibt sich das Engagement der Komponisten innerhalb der FMP nur bedingt als politisches Bekenntnis zu erkennen, da für viele erst durch die Liberalisierung des extrem linken Spektrums eine Mitgliedschaft und Einbindung in die Institutionen des Front populaire in Frage kam. Dies veranschaulichen die Zeitpunkte, für die Aurics Mitgliedschaft in der AEAR und der Maison de la Culture nachgewiesen werden kann.108 Daneben deutet beispielsweise auch die Kritik des Komponisten an Erik Satie für dessen Mitgliedschaft in der PCF auf andere Faktoren hin, die letztlich Aurics Engagement unter dem Front populaire mitbegründet haben dürften.109 Hinsichtlich des Arbeitsprozesses an Le Quatorze Juillet ist die Aufteilung der drei Akte auf je ein Komponistenduo bemerkenswert. Personell tritt mit Roussel und Koechlin die Leitung der FMP in Erscheinung; Honegger und Lazarus sind ebenso wie Auric und Milhaud Mitglieder des Komitees. Auric und Milhaud hatten außerdem bereits Erfahrung im Umgang mit gemeinsamen Projekten und waren einander freundschaftlich verbunden. Ibert stand in einem engen Verhältnis zu den sechs anderen, auch wenn seine Mitgliedschaft im künstlerischen Komitee der FMP nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden kann.110 Bethe konstatiert als Voraussetzung für die Auswahl der Komponisten deren „Bereitschaft zur Mitarbeit an einem FMP-Projekt; ihr[en] Bekanntheitsgrad und Renommee“ sowie „die Fähigkeit, für ein bestimmtes Genre komponieren oder einen bestimmten Charakter klanglich darstellen zu können“.111 Bei Le Quatorze Juillet scheint jedoch insbesondere die Mitgliedschaft in der FMP beziehungsweise die enge Bindung an die Organisation das entscheidende Faktum gewesen zu sein, da dies die einzige Gemeinsamkeit ist, die alle Beteiligten miteinander teilen. Diese Einschätzung ist insbesondere im Kontext der Entstehungsbedingungen angebracht und fundiert Bethes Vorschlag, Le Quatorze Juillet als „kulturpolitisches Vorzeigeprojekt“ des Front populaire zu begreifen.112 Als erstes gemeinschaftliches Projekt der Theater- und Musikabteilung (UTIF und FMP) der Maison de la Culture kann hier vor allem der Aspekt der Repräsentation als wegweisend gelten, der über den Duktus des Kollektiven auf und hinter der Theaterbühne fruchtbar gemacht wurde. Dieser Duktus lässt sich nicht nur als kulturpolitischer Parameter des Front populaire bestimmen, sondern ist bereits in der Genese des Stücks angelegt. Diese steht wiederum in unmittelbarem Bezug zu Romain Rollands Schrift Le théâtre du peuple (1903), deren Bedeutung in den 1930er Jahren auch über Frankreichs Grenzen hinweg rekonstruiert werden muss. 107 Vgl. zum Wandel der PCF Katja Bethe, Gemeinschaftliches Komponieren, S. 89 f. 108 Vgl. die Tabelle auf S. 95 in dieser Arbeit. 109 Auric kritisierte Satie noch in den 1920er Jahren für seine Mitgliedschaft in der PCF – nur wenige Jahre bevor er selber Mitglied in zahlreichen linkspolitischen Verbänden und Organisationen wurde. 110 Vgl. Katja Bethe, Gemeinschaftliches Komponieren, S. 149. 111 Ebd., S. 149. Bethe macht ferner auf den hohen Stellenwert aufmerksam, der dem KollektivBegriff beispielsweise auch in den Programmheften und in der Inszenierung zukam. Vgl. ebd., S. 140 f. 112 Ebd., S. 135.

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a. Romain Rollands Le Quatorze Juillet 1902/1936 Anlässlich der Feier des Wahlsiegs gab der Front populaire die Neuauflage von Romain Rollands Le Quatorze Juillet (1902) in Auftrag, dessen Aufführung zugleich die Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag 1936 beschließen und das einjährige Bestehen des Front populaire würdigen sollte.113 Das Schauspiel zeichnet die letzten drei Tage vor der Eroberung der Bastille am 14. Juli 1789 nach. Dabei stehen nicht einzelne Protagonisten im Vordergrund, sondern die Bevölkerung, die auf den Straßen lebhaft politische Standpunkte reflektiert und diskutiert, Reden kommentiert und bewertet und langsam die Idee vom Sturm auf die Bastille entwickelt. Dieser wird im dritten Akt aus Sicht der Menschen dargestellt, die sich im Innenhof der Bastille befinden. Das Stück endet schließlich mit einer Siegesfeier der Pariser Bevölkerung auf dem Vorplatz des Rathauses. Aus dem Kontext der Uraufführung lassen sich drei Aspekte rekonstruieren, die die Wahl des Bühnenstücks für den genannten Anlass rechtfertigen. Unmittelbar nach der Premiere am 21. März 1902 im Théâtre de la Renaissance gewann erstmals in Frankreichs Geschichte ein linkspolitisches Bündnis die Parlamentswahlen und stellte im Zuge dessen die Regierung.114 Le Quatorze Juillet steht zudem in einem Zyklus von acht Dramen, welche die französische Revolution thematisieren und die Rolland zwischen 1900 und 1939 verfasste.115 Die 1903 erschienene Schrift Le théâtre du peuple ist ebenfalls inspiriert von der französischen Revolution und versteht sich als Ergänzung zu diesen Dramen.116 Alle drei Aspekte heben auf die Thematik des Stücks ab oder fundieren die Wahl über historische Analogiebildungen. Doch auch auf einer ästhetischen Ebene stellt sich Rollands Theaterstück als 113 Zwei Produktionen für die Theaterbühne stehen im Zentrum diverser Untersuchungen zur Kulturpolitik des Front populaire: Romain Rollands Le Quatorze Juillet (1936) und Jean-Richard Blochs Naissance d’une cité (1937). Siehe beispielsweise Pascale Goetschel, Le 14 juillet de Romain Rolland à l’Alhambra: affiche de Suzanne Reymond, in: Parlement[s], Revue d’histoire politique 8/3 (2012), S. 173–180; Christopher Moore, Le Quatorze Juillet, S. 363 f.; Katja Bethe, Gemeinschaftliches Komponieren, S. 133 f. Während Naissance d’une cité insbesondere hinsichtlich der repräsentativen Funktion im Rahmen der Exposition Internationale des Arts et Techniques dans la Vie Moderne (1937) von Interesse ist, verknüpft Le Quatorze Juillet viele verschiedene ästhetische und politische Dimensionen, deren Darstellung komplex ist und sowohl die kulturpolitische Praxis des Front populaire als auch die ästhetischen Implikationen der FMP betrifft. 114 Vgl. Jane Fulcher, The Composer as Intellectual, S. 234. Der Jurist Pierre Waldeck-Rousseau führte den sogenannten Bloc des gauches zum Wahlsieg, dankte aber bereits am 3. Juni 1902 ab, was immer wieder zu Spekulationen führte, allerdings wenig erstaunlich ist vor dem Hintergrund der Dreyfus-Affaire, in der sich Waldeck-Rousseau unmissverständlich auf die Seite der Dreyfusards schlug. Émile Combes ersetzte Waldeck-Rousseau ab 1902. 115 Vgl. David Roberts, The Total Work of Art, S. 191. Die anderen Werke sind Danton (1900), Le Triomphe de la raison (1899), Le Jeu de l’amour et de la mort (1925), Pâques fleuries (1926), Les Léonides (1928) und Robespierre (1939). Das Entstehungsdatum von Danton variiert in verschiedenen Quellen zwischen 1899 und 1900, die Uraufführung fand jedoch nachweislich im Dezember 1900 im Pariser Théâtre Civique statt. 116 Le théâtre du peuple ist Maurice Pottecher (1867–1960) gewidmet, der 1892 das Théâtre du peuple in Bussang nahe den Vogesen gründete, das heute noch existiert.

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ideales Repräsentativ der neuen Regierung dar. Mit Le Quatorze Juillet hoffte Rolland „to revive revolutionary energies in order to complete the goals of the Revolution, interrupted in 1794, through the mobilization of the people“, so David Roberts.117 Im Kontext der Revolutions-Dramen und der Schrift Le théâtre du peuple ist der Topos des Kollektivs wesentlich, der sich sowohl in den Produktionen als auch in der intentionalen Haltung Rollands widerspiegelt. Die Notwendigkeit, die Masse aktiv ins Spiel zu integrieren, formuliert Rolland bereits 1902 in seiner Anmerkung zur letzten Szene des Stücks: „C’est ici, comme le titre l’indique, une fête populaire, la fête du Peuple d’hier et d’aujourd’hui. Pour qu’elle prit tout son sens, il faudrait que le public lui-même y participât, qu’il se mêlât aux chants et aux danses de la fin.“118

Diese Szene ist in mehrfacher Hinsicht eine Schlüsselszene des Werks, da Rolland hier mittels der Musik eine Einheit zwischen Publikum und Werk herstellen, die sogenannte vierte Wand des Theaters also durchbrechen möchte: „L’objet de ce tableau est de réaliser l’union du public et de l’œuvre, de jeter un pont entre la salle et la scène, de faire d’une action dramatique réellement une action. Le drame s’adresse soudain directement au peuple.“119

Mit der konkreten Adressierung des Publikums sowie dem Appell, dass dieses selbst am Kunstwerk mitwirken solle, forciert Rolland die Stoßrichtung, die als Ideal in der Kulturpolitik des Front populaire in den 1930er Jahren aufleben sollte. Das Ziel hinter diesen Bemühungen blieb ebenfalls bestehen, nämlich die dramatische Aktion in reales Handeln zu überführen („de faire d’une action dramatique réellement une action“). Diesen Gesichtspunkt formulierte Rolland nicht nur in Bezug auf ein konkretes Theaterstück, vielmehr setzt er ihn als Bedingung von Kunst an sich, wenn er in seiner Vorbemerkung zu Le Quatorze Juillet äußert: „La fin de l’art n’est pas le rêve, mais la vie. L’action doit surgir du spectacle de l’action.“120 Dies macht die Wahl des Schauspiels für die Feierlichkeiten 1936 auch unter ästhetischen Gesichtspunkten plausibel, da der Front populaire die Identifikation der Bevölkerung mit den politischen Zielen der Regierung über Kunst und Kultur anstrebte. Entgegen der Darstellung von Christopher Moore lassen sich demzufolge auch die ästhetischen Implikationen innerhalb der französischen Geschichte verorten und verweisen nicht auf eine bloße Adaption der sowjetischen Leitlinien des Sozialistischen Realismus durch den Front populaire. Dies stützt die Annahme, dass eine Orientierung an der sowjetischen Agenda seitens der französischen Regierung primär auf der institutionellen Ebene stattfand und die Organisationsstrukturen betraf während die ästhetische Programmatik davon weitgehend unberührt blieb.121 117 118 119 120

Ebd. Romain Rolland, Le 14 Juillet, S. 241. Ebd. Romain Rolland, Le 14 Juillet, o. S. Diese Aussage beinhaltet bereits die Kategorie des Realismus, die für die Debatten der 1930er Jahre bestimmend werden sollte, insbesondere auch im filmästhetischen Diskurs. Vgl. Kapitel II.7 dieser Arbeit. 121 Vgl. Kapitel II.2 dieser Arbeit.

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David Roberts arbeitet Analogien zwischen der russischen und der französischen Revolution heraus und betont, dass insbesondere Rollands Le théâtre du peuple in Russland breit rezipiert wurde.122 Rollands Bedeutung für die kulturellen Entwicklungen in Russland nach dem Ersten Weltkrieg rekonstruiert er anhand der Publikationsgeschichte des Essays, der gemeinsam mit Richard Wagners Die Kunst und die Revolution (1849) und Julien Tiersots Les Fêtes et les chants de la Révolution française (1908) zu den ersten Publikationen gehörte, die 1919 vom Kommissariat für Bildungswesen (Narkompros) wieder veröffentlicht wurden.123 Hinsichtlich des populären Theaters der Sowjetunion konstatiert er, Rolland wäre gemeinsam mit Viacheslav Ivanov einer der zwei „main transmitters of the theory and practice of popular theatre to the Bolsheviks.“124 Diese Einordnung ist wesentlich, wenn man sich die Verknüpfung linkspolitischer Ideologeme und nationaler Topoi durch den Front populaire vor Augen führt. Über die Rückbindung linkspolitischer Inhalte an die französische Revolution konnte die nationalistische Dimension der politischen Agenda legitimiert werden, die eigentlich im Gegensatz zum Leitbegriff der internationalen Solidarität und zu kommunistischen Idealen stand. Der Front populaire konstruierte auf diese Weise ein Modell, das sowohl die Teilhabe unterschiedlicher Bevölkerungsschichten ermöglichte als auch die Stärkung des nationalen Bewusstseins gewährleistete.125 Ermöglicht wurde die Einbettung der nationalen Dimension in den Entwurf einer neuen gesellschaftlichen Ordnung letztlich durch die gemeinsame Basis beider Topoi, die sich als Säulen jener Identitäts-Diskurse erweisen, die bestimmend für die französische Gesellschaft geworden waren und sich bereits seit dem Ersten Weltkrieg wieder dynamisierten.126 Mit der Neuauflage von Le Quatorze Juillet setzte der Front populaire diese Verknüpfung als Leitlinie fest und inszenierte die wesentlichen Aspekte seiner Ideologie. Romain Rolland legte den Grundstein für diese Akzentuierung bereits 1902 erstens in der Themenwahl und zweitens über die Musik, deren Funktion und Einsatz er in seiner Anweisung zur Schlussszene spezifiziert: „La musique doit être ici le fond de la fresque, la trame des paroles. Pas un instant elle ne doit se taire, – tantôt forte et distincte, tantôt douce et voilée. Son office est de préciser le sens héroïque de la fête, et de combler les silences qu’une foule de théâtre ne peut jamais réussir à remplir complètement, qui s’ouvrent malgré tout au milieu de ses cris, et qui détruisent l’illusion de la vie continue. Il n’est pas nécessaire que le public saisisse tous les mots de la foule, pas plus que toutes les notes de l’orchestre et des chœurs; il faut qu’il ait seulement l’impression d’une kermesse triomphante.“127 Vgl. David Roberts, The Total Work of Art, S. 190. Vgl. ebd., S. 212. Ebd., S. 211. Ein Ausdruck für diese Umorientierung ist auf musikalischer Ebene die Aneignung der Marseillaise, die nun mit der Internationale koexistierte und in allgemeinerer Perspektive die Rehabilitation des Nationalfeiertags seitens der PCF. Vgl. ausführlich Katja Bethe, Gemeinschaftliches Komponieren, S. 134. 126 Vgl. die Ausführungen zu Cocteaus Le coq et l’arlequin in Kapitel I.2 dieser Arbeit, insbesondere S. 25 ff. 127 Romain Rolland, Le 14 Juillet, S. 241. 122 123 124 125

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Die Musik als „fond de la fresque“ und „trame des paroles“ soll in der Aufführung Atmosphäre stiften und Emotionen auslösen. Damit fungiert sie als wesentliches Element, da vor allem das Transportieren einer spezifischen Stimmung angestrebt wird, die letztlich auf das Publikum überspringen soll. Demzufolge begreift Rolland die Musik als Instrument für die Zusammenführung von Werk und Publikum und letztlich für die Entgrenzung von Spiel und Realität. In seiner überarbeiteten Fassung des Stücks von 1926 führt Rolland in einer Fußnote noch genauer aus, wie er sich die klangliche Realisation zu Le Quatorze Juillet vorstellt und liefert konkrete Beispiele, die als Vorbilder dienen: „Cette musique devrait, tout en s’imprégnant un peu de la couleur cornélienne (ou parfois racienne), des chants de la Révolution – (hymnes de Gossec, de Méhul, de Cherubini; rondes ingénues de Grétry) – s’inspirer des puissantes musiques beethoveniennes, qui, mieux que toutes les autres, reflètent l’enthousiasme des temps révolutionnaires: (finale de la Symphonie en ut mineur, Siegessinfonie d’Egmont, finale de la Symphonie avec chœurs).“128

Auch in der 1909 erschienenen Fassung legt Rolland in einer Fußnote detailliert fest, wie und vor allem wann er sich die Musik zu den einzelnen Akten vorstellt. Hier heißt es: „Ces thèmes musicaux peuvent être ramenés à trois types principaux: 1. Au lever du rideau, – un chœur à plusieurs parties avec orchestre, dans le style de l’Hymne de 14 Juillet de Gossec. Le caractère de l’époque historique y est encore gardé. C’est le style classique, mesuré, l’héroïsme cornélien; 2. À l’arrivée de la petite Julie, – rondes et danses dans le style de la fin du dix-huitième siècle (Haydn et Mozart), – mais qui s’animent, s’exaltent et s’achèvent (comme déjà le premier thème) dans un style d’une vie plus libre et plus moderne; 3. Avec les hymnes à la Liberté, – soutenant et rythmant la parole, – une sorte de marche frémissante, héroïque, haletante, lançant des mondes à la charge, dans le style de la marche en si bémol de la dernière partie de la Symphonie avec Chœurs.“129

Auch wenn nicht klar ist, ob die Komponisten diese Ausführungen kannten, sind Analogien zwischen Rollands Vorstellungen und den Bühnenmusiken der sieben Beteiligten offensichtlich.130 Daneben liegt es nahe, einen persönlichen Austausch zwischen den Komponisten und Rolland vor und während der Arbeiten an Le Quatorze Juillet anzunehmen, da alle miteinander bekannt und einander zum Teil freundschaftlich verbunden waren. Dass sich Auric dezidiert mit Rollands Werk und Wirken auseinandersetzte und dessen Schriften studierte, belegt sein Artikel Romain Rolland et la musique, der am 1. Februar 1936 in der Nouvelle Litteraire erschien.131 Den 70. Geburtstag des Autors am 29. Januar nimmt Auric zum Anlass für eine Hommage, die die Bedeutung des musik-literarischen Œuvres für zeitgenössische Musiker und Komponisten herausstellt. Gleich zu Beginn akzentuiert er 128 Romain Rolland, Théâtre de la Révolution I, S. 226 [Hervorhebungen im Original]. 129 Romain Rolland, Le 14 Juillet, S. 242 [Hervorhebungen im Original]. Julien Tiersot, der die Bühnenmusik von 1902 komponierte, arrangierte diesen Ausführungen folgend verschiedene Werke von Komponisten wie Gossec oder Méhul. Vgl. Christopher Moore, Music in France and the Popular Front, S. 180. 130 Vgl. Katja Bethe, Gemeinschaftliches Komponieren, S. 157. 131 Georges Auric, Romain Rolland et la musique, zit. nach Carl Schmidt, Écrits/Writings IV, S. 1224–1227.

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den alle Menschen verbindenden Duktus der Musik, indem er formuliert, dass die Liebe zur Musik „nous ouvre un domaine assez vaste pour que chacun y prenne place librement“.132 Ausgehend von dieser Annahme verbindet er im weiteren Verlauf Kunst und Leben und zitiert frei nach Rolland „l’art et la vie ne sont pas un jeu de bulles de savon!“133 Diese Engführung nutzt er schließlich, um die besondere Beziehung von Musik und Leben zu dechiffrieren, deren Vermittlung er Rolland zuschreibt („le beau rôle d’intermédiaire de Romain Rolland“), denn „nul art, plus qu’elle, ne nous détachant, ne nous allégeant de notre pesanteur humaine“.134 Auf diese Weise gelingt es ihm seine (musik-)ästhetischen Ideale zu vermitteln und darüber hinaus Rolland als vermittelnde Instanz – ganz im Sinn der Figur des intellectuel –, als Vorbild für seine Zeitgenossen zu inszenieren. Aurics Mitwirkung an Le Quatorze Juillet liest sich unter Berücksichtigung dieses Artikels nicht mehr nur als Teilhabe an einem gemeinschaftlichen Projekt des Front populaire, sondern als Entscheidung, die von der subjektiven Prägung durch Rolland wenn nicht getragen, so doch konturiert wird. b. Le Palais Royal (1936) Während Bethe mit Verweis auf Moores Arbeit zur Schauspielmusik auf eine dezidierte Analyse der musikalischen Beiträge verzichtet135, steht als Ergänzung zu Moores Ausführungen im Folgenden Aurics Komposition im Zentrum, da noch keine detailliertere Analyse des Stücks vorgenommen wurde, anhand derer Aurics Kompositionsstrategien im Kontext des Front populaire nachvollzogen werden könnten.136 Le Palais Royal steht am Beginn des ersten Akts für den Rolland folgende Szenerie entwarf: „Dimanche 12 juillet 1789, vers dix heures du matin. – Le jardin du Palais Royal, vu du café de Foy. – Au fond, ‚le Cirque‘. À droite, un bassin aux eaux jaillissantes. Entre le Cirque et les galeries du Palais, une allée d’arbres. Les marchands sont embusqués à la porte de leurs boutiques, décorées d’enseignes patriotiques: Au Grand Necker; À l’Assemblée Nationale. – Des filles, 132 Ebd., S. 1224. 133 Ebd. Auric zitiert hier aus dem ersten Kapitel des ersten Bandes von Rollands Serie Beethoven: Les Grandes Époques Créatrices, die aus insgesamt sieben Teilen besteht und ab 1928 bei Sablier in Paris erschien. In diesem Teil des Buches steht die Beschreibung des dreißigjährigen Beethoven im Vordergrund; der Text lautet an dieser Stelle: „Il n’a rien (pas assez, si l’on veut) de feminin. Rien non plus de ces yeux-miroirs d’enfants, pour qui l’art et la vie sont un jeu de bulles de savon. Je n’en dis point de mal!“ Romain Rolland, 1800, le portrait de Beethoven en sa trentième année, o. S. 134 Georges Auric, Romain Rolland et la musique, S. 1226. 135 Vgl. ebd. 136 Siehe allgemeiner zur Schauspielmusik von Le Quatorze Juillet Nicole Labelle, Les Musiques de scène pour le Quatorze Juillet de Romain Rolland, in: Colloquium AIDUF (1989), S. 75–89; Pascal Ory, La Belle Illusion, S. 328 f. sowie zu einzelnen Beiträgen Christopher Moore, Music in France and the Popular Front, S. 179 ff.; Leslie A. Sprout, Muse of the Revolution française or the Revolution nationale? Music and National Celebrations in France,1936–1944, in: repercussions (1996), S. 77–84; Robert Orledge, Charles Koechlin (1867–1950): His Life and Works (1989), S. 174.

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poitrine nue, épaules nues, et bras nus, empanachées d’énormes bouquets de fleurs, se promènent au milieu de la foule, d’un air provocant. – Des colporteurs crient des journaux. – Des teneurs de tripots (et, parmi eux, Gonchon) circulent en robe de chambre, escortés d’hommes armés de gourdins. – Des ‚banquiers‘ en plein vent se glissent parmi les groupes, avec des tabourets-pliants sous le bras, s’installent un instant, déploient un jeu qui se plie comme une carte, sortent des sacs d’argent, s’esquivent brusquement, et passent. – Foule remuante et inquiète, incertaine de ses mouvements, qui s’assied devant les cafés, se lève, court au moindre bruit, monte sur les chaises et sur les tables, va, revient sur ses pas, augmente peu à peu, jusqu’à la fin de l’acte, où les galeries et le jardin regorgent de telle sorte que beaucoup montent aux arbres, se suspendent aux branches. Toutes les classes mêlées: – gueux faméliques, travailleurs, bourgeois, aristocrates, soldats, prêtres, femmes, enfants, dont quelques-uns continuent leurs jeux entre les jambes des promeneurs.“137

Anhand von Sylvain Itkines Ausgabe des Dramas lässt sich der Zeitpunkt rekonstruieren, zu dem Aurics Komposition in der Aufführung erklingen sollte und damit die Funktion der Musik näher bestimmen. Itkine, der gemeinsam mit Jacques Chabannes und Julien Lacroix das Regie-Trio bildete, vermerkt hier genau, wann welche Musik vorgesehen ist.138 In Rollands Dramentext von 1926 finden sich dafür keine Anhaltspunkte, wohingegen seine Anmerkung zum Einsatz der Musik von 1902 darlegt, dass er einen mehrstimmigen Chor mit Orchesterbegleitung beim Öffnen des Vorhangs vorsah („Au lever du rideau, – un chœur à plusieurs parties avec orchestre“) sowie Rondos und Tänze beim Auftritt der kleinen Julie („À l’arrivée de la petite Julie, – rondes et danses dans le style de la fin du dix-huitième siècle“).139 Folgt man Itkines Ausführungen und betrachtet zusätzlich die Gesamtanlage der Version von 1936, wird deutlich, dass die Musik offenbar als Rahmen um die Handlung der einzelnen Akte gelegt und Rollands Weisungen von 1902 entsprechend nicht berücksichtigt wurden. Moore betont, dass mit Ausnahme von Iberts Ouverture (die noch ertönte, während Picassos Vorhang geschlossen war) alle Beiträge entweder als einleitendes oder abschließendes Element gesetzt sind.140 Entsprechend fungieren sie als Überleitungen zwischen den drei Akten und zeigen inhaltlich den Wechsel der Tage an.141 Le Palais Royal veranschaulicht dieses Konzept in mehrfacher Hinsicht: Der Titel weist bereits unmissverständlich auf den Ort des Geschehens hin, den Rolland in seiner Beschreibung der Szenerie gleich zu Beginn nennt („Le jardin du Palais Royal“). Zudem ist die Komposition als musikalische Illustration der Szenerie nicht in die Handlung eingebunden, sondern steht für sich allein. Nur vor diesem Hintergrund wird die Gestaltung und Struktur des Stücks plausibel. Auric komponierte ähnlich wie in seinen Filmmusiken zu Le sang d’un poète und À nous la liberté eine Musik, die aus einzelnen autonomen Einheiten besteht. Zu Beginn des Stücks wird der dominante Rhythmus in unterschiedlichen Stimmen über mehrere Takte hinweg gespielt, wobei zuerst die Blechbläser einset137 Romain Rolland, Le 14 Juillet, S. 15 [Hervorhebungen im Original]. 138 Vgl. Sylvain Itkines Ausgabe des Dramas, die zu finden ist in der BnF, Département des Arts du spectacle, Fonds Sylvain Itkine [4 – COL – 16]. 139 Romain Rolland, Le 14 Juillet, S. 242. 140 Vgl. Christopher Moore, Music in France and the Popular Front, S. 185. 141 Vgl. die Aufstellung auf S. 120 in dieser Arbeit.

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II. „La musique pour le grand public“ (1934–1938)

zen und lediglich unterstützt von Perkussionsinstrumenten die Bassstimme intonieren. Deren schwingender Charakter ergibt sich aufgrund des augmentierten Tempos und der Pendelbewegung der Töne, die beständig die große Sekunde e-d repetieren. Im Anschluss wiederholen die Holzbläser unisono Viertelnoten auf derselben Tonhöhe und werden dabei perkussiv unterstützt, was den treibenden Rhythmus, der sich aus der gleichmäßigen rhythmischen Anlage ergibt, zusätzlich akzentuiert. Anschließend setzen die Holzbläser mit einer Figur ein, die sich aus einer Gruppe von zwei Mal vier Achtelnoten zusammensetzt, die jeweils ein Mal wiederholt werden. Nach dieser ersten Figur tauschen die Stimmen: Die Holzbläser spielen das Pendelmotiv der Bassstimme, während die Blechbläser eine Figur intonieren, die sich ebenfalls aus zwei Mal vier Achtelnoten zusammensetzt und jeweils einmal wiederholt wird.142

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Abbildung 13: Figur in den Holzbläsern, abgelöst von der Achtelfigur in den Blechbläsern, Georges Auric, Le Palais Royal.

Eine absteigende chromatische Linie, die gegen eine aufsteigende in den Flöten geführt wird, zeigt einen Wechsel der musikalischen Gestalt an, der sich sowohl rhythmisch als auch melodisch artikuliert. Den abschließenden Effekt dieses Einwurfs nutzt Auric, um ein Zitat einzuführen, dessen melodischer Duktus den repetitiven Achtelfiguren vom Beginn gleicht. Hierbei handelt es sich um das Ent’racte des ersten Akts der Oper L’épreuve villageoise (1784) von André-Ernest-Modeste Grétry, das verfremdet und als Pastiche gesetzt wird. Es erklingt in allen Stimmen

142 Die Partitur der Bühnenmusik erschien für Harmonieorchester unter dem Titel 14 Juillet: Interludes pour la pièce de Romain Rolland (1976) in sieben Einzelbänden bei Le Chant du Monde. Aurics Le Palais Royal ist der zweite Band dieser Edition. Siehe Georges Auric, Le Palais Royal. Extrait du 14 Juillet de Romain Rolland.

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4. Jenseits der Leinwand

entweder fragmentarisch (Blechbläser und Schlagwerk) oder in Gänze (Holzbläser und Triangel).143

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Abbildung 14: Georges Auric, Le Palais Royal (T. 118–125).144

Neben diesem klar erkennbaren Zitat, das als Arrangement für Holzbläser und Triangel das Zentrum des Stücks bildet, finden sich im gesamten Werk Bezüge zu Revolutions- und Militärmusik sowie Anleihen an Musiken des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die allerdings nicht eindeutig als Zitate aus existierenden Quellen zu dechiffrieren sind.145 Vielmehr scheint Auric sich am Klangbild orientiert zu haben, was die These stützt, dass es sich bei Le Palais Royal um eine Musik zur Szene handelt, die primär Assoziationen bei den Rezipienten wecken möchte und sie auf den Inhalt des Schauspiels vorbereitet, jedoch nicht mit der Handlung interagiert. Getreu dem Motto ‚anders aber verwandt‘ wird auf diese Weise gleich zu Beginn des Stücks über die Musik erstens eine Brücke geschlagen zwischen Zuschauerraum und Bühne und zweitens eine Verknüpfung der Revolutionsgeschichte von 1789 mit der gegenwärtigen Situation von 1936 erzielt, die letztlich zu einer Identifikation der Zuschauer mit den politischen Proklamationen des Front populaire 143 In der Forschungsliteratur wird die Identifizierung dieses Zitats Frédéric Robert zugeschrieben, der die Verwendung in den Liner notes zur Aufnahme von Le Quatorze Juillet erwähnt, die 1976 anlässlich des 125-jährigen Bestehens der SACEM im Verlag Le Chant du monde erschien. Neben L’épreuve villageoise verweist Robert noch auf „une ariette de Gluck“ als zweites Zitat, das allerdings keine Erwähnung in den wenigen Analysen des Stücks findet. Vgl. Frédéric Robert, 14 Juillet: Interludes pour la pièce de Romain Rolland. 144 Das Beispiel ist übernommen aus Christopher Moore, Populist Modernism, S. 190. Die entsprechende Stelle in Grétrys L’Epreuve villageoise ist Akt II, Entr’acte, T. 1–8. 145 Moore weist beispielsweise auf das rhythmische Profil des Revolutionsliedes Ah! Ça ira hin und sieht hier eine Verwandtschaft zu Grétrys © Werk. Vgl. Christopher Moore, Music in France and the Popular Front, S. 191. Zudem lässt sich auch eine Ähnlichkeit zwischen dem Revolutionslied und dem dominanten synkopierten rhythmischen Muster zu Beginn von Aurics Le Palais Royal feststellen.

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II. „La musique pour le grand public“ (1934–1938)

führt. Moore bemerkt die Mühelosigkeit mit der sich das Grétry-Zitat in Aurics Komposition einbettet und schlussfolgert, „The effect emphasizes the similarities between the composer’s own musical aesthetics and the ,colour‘ of those French composers of the revolutionary period that Romain Rolland claimed should inspire the composers of the incidental music.“146

Obwohl Moore auch Koechlins Aussage berücksichtigt, Le Palais Royal erinnere an Aurics Ballettmusiken aus den 1920er Jahren, insbesondere an Les Facheux,147 diagnostiziert er für Le Palais Royal insgesamt einen „neoclassical approach“.148 Diese Einschätzung ist nachvollziehbar, wenn man Aurics Komposition ausgehend von dem historisierenden Idiom durch Zitate und Analogiebildungen betrachtet, das aufgrund des Anlasses, der Vorgaben durch Rolland und des Inhalts unumgänglich war. Jenseits dieser Anleihen lässt sich feststellen, dass die Einbettung des Zitats primär aufgrund der rhythmischen Anlage und Struktur des Stücks gelingt. Deren Regelmäßigkeit erzeugt einerseits den modernen Charakter des Maschinellen und verweist andererseits auf das repetitive Moment von Tanzrhythmen und populären Musiken, das sich unter anderem in den Revolutionsliedern aber auch in RondoFormen oder Doubles des 17. und 18. Jahrhunderts findet.149 Kennzeichnend für Aurics Le Palais Royal ist die De-Kontextualisierung historischer Bezüge und die Vermischung von tradierten Kompositionspraktiken (insbesondere Form und Harmonik betreffend) mit populären zeitgenössischen Erscheinungen – beispielsweise der Einsatz des Saxophons vor allem gegen Ende des Stücks, das Jazz- und Swing-Moden karikiert; des Weiteren die chromatischen Linien und dissonanten Schärfungen in den Blech- und Holzbläserstimmen zu Beginn. In der strukturellen Anlage fallen vor allem die abrupten Wechsel zwischen den kurzen thematischen Sequenzen auf sowie die Abhebung des Zitats vom Klanggeschehen durch die eigenwillige Instrumentierung und Dynamik (Holzbläser und Triangel, piano gespielt), die den Gesamtzusammenhang des Stücks vordergründig verschleiern. Durch die Konstruktion einzelner Bausteine musikalischen Materials, die nicht an eine Verlaufsform gebunden sind, sondern scheinbar bezugslos nebeneinander stehen, ermöglicht Auric den Gesamtzusammenhang des Stücks. Das Grétry-Zitat fungiert als Zäsur, nach der alle Bausteine des Anfangs diesmal in umgekehrter Reihenfolge erklingen. Sowohl die Architektur als auch der Umgang mit Stilmodellen und Zitaten unterschiedlicher Zeiten, Genres und Gattungen erweist sich in Le Palais Royal als Spezifikum von Aurics Kompositionspraxis, die er 146 147 148 149

Christopher Moore, Music in France and the Popular Front, S. 191. Vgl. Charles Koechlin, Musique savante … et populaire, in: L ’Humanité (1936), o. S. Christopher Moore, Music in France and the Popular Front, S. 191. Jane Fulcher verweist auf Leslie Sprouts Analyse von Le Palais Royal und konstatiert, dass dieser gezeigt habe, dass Auric eine aristokratische Gavotte parodiere. Vgl. Jane Fulcher, The Composer as Intellectual, S. 235. Untersucht man die Struktur des Stücks könnte man auch hinsichtlich der Gesamtanlage eine Rondo-Form unterstellen. Letztlich stellt sich für Auric, zumindest wenn nicht ausdrücklich anders benannt, kein konkretes Zitat oder Modell als bedeutsam heraus, das zweifelsfrei identifiziert werden will, sondern der Tonus der Analogien. Dieser Auffassung folgend ließe sich diese Praxis mehr als ein Arbeiten mit Vorbildern denn mit Vorlagen beschreiben.

4. Jenseits der Leinwand

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bereits in seinen Ballettmusiken der 1920er Jahre ausbildete und die in seinen frühen Filmmusiken ebenso zum Ausdruck kommt, wie in der Bühnenmusik zu Rollands Le Quatorze Juillet. Die Verortbarkeit der Bühnenmusik in Aurics ästhetischem Profil der 1920er Jahre verweist außerdem auf einen weiteren musikalischen Bezugspunkt, der in der Literatur bis dato nicht aufscheint: das Ballett Les mariés de la tour Eiffel, das als einzige gemeinschaftliche Komposition der Six 1921 uraufgeführt wurde. Aurics Beitrag zur Ballettmusik ist die Ouverture (14 Juillet), deren Klangbild Ähnlichkeiten zu Le Palais Royal aufweist. Auch hier dominieren – wenn auch eingebettet in einen vollen Streichersatz – Bläser und Schlag- sowie Effektinstrumente. Die rhythmische Faktur kennzeichnet in weiten Teilen ein synkopierter Rhythmus, der von Triangel-Schlägen akzentuiert wird und entsprechend das Anfangsmotiv von Le Palais Royal in Erinnerung ruft. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Trompetensequenzen, in denen ein Fanfaren-Motiv intoniert wird. Eine weitere Analogie sind die absteigenden und aufsteigenden chromatischen und pentatonischen Linien in den Streichern und Flöten, die den Fanfarenklängen unterlegt sind und zu jener tonalen Schärfung im Satz beitragen, die charakteristisch für viele Werke Aurics ist und auch in Le Palais Royal den Tonsatz beleben. Überdies erklingt in der Ouverture (14 Juillet) jenes schwingende Blechbläsermotiv, bestehend aus einer kleinen Sekunde, das durch ausdauernde Repetition einen Eindruck des Mechanischen hervorruft. Auch in der Architektur des Stücks zeigen sich Parallelen, die verdeutlichen, dass Auric hinsichtlich der Strukturbildung in seinen Kompositionen eine Konsistenz aufweist, die das Anordnen des musikalischen Materials als zentrales kompositorisches Prinzip dechiffriert. Dabei werden einzelne Sequenzen, die in sich geschlossen (autonom) sind, ohne die Forcierung auf einen sich entwickelnden musikalischen Verlauf nacheinander gesetzt; daneben wird der abrupte Wechsel zwischen stark divergierenden Momenten angestrebt.150 Die vergleichende Perspektive auf die beiden Werke (Le Quatorze Juillet und Les Mariés de la tour Eiffel) lässt auch hinsichtlich des Arbeitsprozesses übereinstimmende Motivationen erkennen, die der Einordnung von Le Quatorze Juillet als Vorzeigeprojekt des Front populaire für deren ideologisch motivierte Setzung des Kollektivs zumindest in Bezug auf die Musik eine weitere Facette geben. Der schwedische Kunstsammler und Gründer der Ballets Suédois Rolf de Maré betraute ausschließlich Cocteau und Auric mit dem Auftrag für Les Mariés de la tour Eiffel. Dieser Umstand deutet darauf hin, dass die gemeinschaftliche Komposition des Werks von Cocteau oder Auric initiiert wurde. Tatsächlich weist Robert Shapiro darauf hin, dass Auric den Kompositionsauftrag aus Zeitmangel nicht alleine bewältigen konnte und Cocteau die anderen Mitglieder des Groupe des Six aus Zeitmangel um die Mitarbeit an dem Kompositionsauftrag bat.151

150 Der Bezug zu Erik Saties Kompositionsprinzipien ist offensichtlich. Grete Wehmeyer prägte für diese kompositorische Strategie den Begriff Baukastenmethode. Vgl. Grete Wehmeyer, Erik Satie, S. 46. 151 Vgl. Robert Shapiro, Les Six: Survey of an Avant-garde Movement, in: ders. (Hg.), Les Six, S. 59.

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II. „La musique pour le grand public“ (1934–1938)

Für Le Quatorze Juillet stellt Katja Bethe eine ähnliche Motivation fest, die der gemeinschaftlichen Komposition für das Schauspiel voran ging. Sie skizziert die zeitlichen Rahmenbedingungen „als einen die Arbeitsteilung bedingenden Aspekt“, da erst mit dem Wahlsieg am 3. Mai 1936 die neue Regierung feststand.152 Für die Organisation der Feierlichkeiten am 14. Juli blieben demnach nur wenige Wochen Zeit. Den offiziellen Kompositionsauftrag erhielt Koechlin am 11. Juni 1936, als Abgabedatum scheint in dem entsprechenden Brief von Jean-Paul Dreyfus (Maison de la Culture) der 25. Juni auf – zwischen Beauftragung und Abgabe der Partitur lagen also nur zwei Wochen, in denen die Komponisten ihre Beiträge fertigen konnten. Anders als bei Les Mariés de la tour Eiffel geht aus dem Dokument zwar hervor, dass bereits bei der Beauftragung durch die Maison de la Culture eine musikalische Kollaboration geplant war, allerdings lässt sich nicht abschließend klären, inwiefern diese Entscheidung das Resultat ideologischer Motivationen oder pragmatischer Überlegungen in Folge des Wahlsiegs war.153 Die Verteilung der Beiträge auf je einen Komponisten und der heterogene Charakter der Musiken lässt jedenfalls darauf schließen, dass der Zeitmangel den Arbeitsprozess wesentlich beeinflusste. Außerdem fehlen Zeugnisse, die Zusammenkünfte oder den Austausch zwischen den Beteiligten in dieser Periode belegen würden.154 Zwar widerspiegeln alle Ebenen sowohl der Inszenierung als auch des Entstehungsprozesses den Kollektivgedanken als zugrundeliegendes Programm, allerdings scheint unter Berücksichtigung der Arbeitsumstände und -bedingungen der ideologisch motivierte Impetus mit notwendigen – pragmatischen – Entscheidungen zusammenzulaufen. Der vermeintlich homogene Gesamteindruck der Musik, den die Kritiker im Nachgang an die Aufführung feststellten, bestätigt die Setzung des Kollektivs als zentrale Kategorie des Stücks. Diese Bewertung bezieht sich allerdings nicht auf die einzelnen Bestandteile, sondern vielmehr auf die Wirkung, die das Schauspiel aufgrund der Integration des Publikums auf die Rezipienten ausübte.155 In Hinblick auf die Musik bestätigt sich die Einschätzung Bethes, dass der Kollektivgedanke „seine Bedeutung in erster Linie als übergeordnete Inszenierungsidee“ erhielt und „weniger der Verwendung identischer, musikalischer Motive oder Themen bedurfte“.156 Dass auch in dieser Hinsicht die Umstände das Resultat wesentlich mitprägten, wird deutlich, wenn man die Instrumentierung der Beiträge näher betrachtet. Auch wenn die Orchestrierung nicht vorgegeben war und die Inspiration der Komponisten offensichtlich von den präferierten Stilvorlagen in den 152 Katja Bethe, Gemeinschaftliches Komponieren, S. 144. 153 Vgl. ebd., S. 145. 154 Bethe erwähnt lediglich einen Tagebucheintrag von Charles Koechlin datiert auf den 30. Mai 1936, aus dem hervorgeht, dass es eine Zusammenkunft der Musiker gegeben hat. Vgl. ebd., S. 159. 155 Vgl. hierzu die Kritik von Paul Le Flem in der Zeitschrift Comoedia, der die Einheitlichkeit der Bühnenmusik vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Personalstile der Komponisten betont. Paul Le Flem, Sept compositeurs ont réalisé pour 14 juillet une musique d’une admirable unité, in: Comoedia (17. Juli 1936), S. 1 f. Auch Koechlin äußerte sich in dem Artikel Situation actuelle de la musique en France entsprechend. Vgl. Charles Koechlin, Situation actuelle de la musique en France, in: La Revue internationale de musique 1/1 (1938), S. 40–54. 156 Katja Bethe, Gemeinschaftliches Komponieren, S. 160.

4. Jenseits der Leinwand

133

einzelnen Beiträgen abhing, ist die Einflussnahme von außen nicht abzustreiten. Der Einbezug von mehreren Chören der FMP und die Einschränkung auf ein Orchester, das wegen Platzmangels nur aus 41 Musikern bestand auf der einen Seite, und die Besetzungsvorgaben, die beinahe nur Blechbläser vorsahen auf der anderen, dürften schließlich wesentlich zum vermeintlich homogenen Gesamteindruck der Bühnenmusik beigetragen haben, was der Front populaire wiederum für die Proklamation seines Gemeinschaftsideals ausnutzen konnte.157 Ferner zeigt sich anhand der Musikkritiken, dass in der Öffentlichkeit bewusst Verbindungen der an Le Quatorze Juillet beteiligten Komponisten zu den avantgardistischen Gruppen-Formationen der 1920er Jahre gezogen wurden, was insbesondere aus der neuen Bezeichnung der sieben Komponisten als Les Sept hervorgeht, die sich allerdings nicht durchsetzte.158 Dieser Sachverhalt verweist nicht nur auf die Koppelung ästhetischer und politischer Ideale, er bildet, so Bethe, auch ab, dass gemeinschaftliches Komponieren im Fall von Le Quatorze Juillet, anders als bei Les Mariés de la tour Eiffel nicht aus einer Gruppenbildung resultierte, sondern erst das Projekt zur Statuierung einer Gruppenformation führte.159 Vor diesem Hintergrund erweist sich die Idee einer Gruppe Les Sept als politisch-motiviertes Konstrukt, das bestehende künstlerische Netzwerke und deren (Selbst-)Vermarktungsstrategien im Sinne der (kultur-)politischen Doktrin des Front populaire instrumentalisierte.160 Dass diese Aneignung künstlerischer Organisationsformen nicht etwa das Diktat einer neuen politischen Führung war, dem sich die Künstler zu unterwerfen hatten, macht die Involvierung derselben Protagonisten der vormaligen Avantgarde in die Organisationsstrukturen des Front populaire im Anschluss an die Aufführung von Le Quatorze Juillet deutlich: Alle sieben Komponisten wurden vom Ministre de l’Education nationale, Jean Zay, zum comité consultatif der OpéraComique ernannt, das neu eingereichte Werke und das bestehende Repertoire der Institution begutachten sollte.161 Die Neugestaltung des Kulturbetriebs war wiederum ein Ziel der Bewegungen der 1920er Jahre, was sich vor allem auch an Aurics Kritik an den bestehenden Institutionen wie der Oper, dem Konservatorium und den Konzerthäusern ablesen lässt und in der Strategie artikuliert, völlig neue Aufführungsorte zu erschließen. Die vehemente Forderung von Auric nach neuen Publikumsschichten offenbart sich vor diesem Hintergrund als Resultat aus seiner Kritik an den bestehenden Konventionen des Musikbetriebs, die er unter dem Front populaire endgültig aufzubrechen hoffte und die auch seine Fokussierung auf die Organisationsstrukturen des Musikbetriebs nach 1945 plausibel machen – insbesondere die Reformierung der Grand Opéra unter seiner Leitung sowie die Kontrolle des 157 Die Besetzung bestand bis auf zwei Kontrabässe nur aus Blasinstrumenten: 4 Flöten (darunter 1 bis 2 Piccoloflöten), 3 Oboen, 1 kleine Klarinette, 5 Klarinetten, 2 Altsaxophone, 2 Tenorsaxophone, 1 Baritonsaxophon, 3 Fagotte, 1 Kontrafagott, 5 Hörner, 4 Trompeten, 3 Tenorposaunen, 1 Bassposaune, 1 Tuba, Schlagwerk, 2 Kontrabässe, Chor. Vgl. zur Aufstellung sowie zu den Besetzungsvorgaben Katja Bethe, Gemeinschaftliches Komponieren, S. 153; S. 307. 158 Zur neuen Gruppenbezeichnung vgl. Katja Bethe, Gemeinschaftliches Komponieren, S. 163. 159 Vgl. ebd. 160 Siehe zur Konstitution und den Strategien der Künstlernetzwerke auch Kapitel II.1 dieser Arbeit. 161 Vgl. Katja Bethe, Gemeinschaftliches Komponieren, S. 162 f.

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II. „La musique pour le grand public“ (1934–1938)

Musikmarktes in seiner Funktion als Präsident der SACEM.162 Dass diese Reformbestrebungen ihren Ursprung in seiner Sozialisation der 1920er Jahre hatten, verdeutlicht, dass die kulturpolitische Agenda des Front populaire für Auric eine Chance darstellte, seine Bestrebungen umsetzen zu können und entsprechend von einem subjektiven Anspruch getragen wurde, der nicht zwangsläufig kongruent mit einer politisch-ideologischen Motivation sein musste, die seine Einbindung in die Institutionen der neuen Regierung vordergründig suggeriert. Ob und wie sich die Forderung nach einer „Musique pour le grand public“ auch in Projekten niederschlug, die nicht in einem direkten Bezug zum Front populaire standen, lässt sich anhand der Filmproduktionen erörtern, in die Auric zwischen 1934 und 1938 involviert war und die den Schwerpunkt der nachfolgenden Ausführungen bilden. Dabei steht insbesondere die Engführung von strukturellen Veränderungen im Filmbetrieb mit ästhetischen Überlegungen der Protagonisten im Vordergrund, die erstens aus der Sicht der Filmemacher und zweitens aus der Perspektive der Filmmusikkomponisten beleuchtet wird. Auf diese Weise kann Aurics Position in der Filmwelt rekonstruiert und in Bezug zu seinen ästhetischen Idealen gesetzt werden. 5. FILM UND MUSIK 1934 BIS 1938 Zwischen 1934 und 1938 schrieb Auric die Musik zu insgesamt 18 Filmen. Alleine 15 dieser Filmmusiken entstanden in den Jahren 1937 und 1938. Ebenso wie in Hinblick auf Aurics Bühnenmusiken ist die Anzahl der Produktionen, die in einem direkten Zusammenhang mit dem Front populaire oder linkspolitischen Organisationen stehen jedoch gering. Lediglich der Dokumentarkurzfilm La Vie d’un homme (1938) über Paul Vaillant-Couturier wurde im Auftrag der PCF von der Gesellschaft Films populaires produziert und erstmals im Rahmen eines Kongresses der Partei in Arles ausgestrahlt. Alle anderen Filme greifen zwar die Themen der Zeit auf, stehen aber weder in einem Produktionszusammenhang mit der Regierung, noch lässt sich in ihnen eine homogene Filmsprache ausmachen, wie sie beispielsweise Jean Renoir mit dem réalisme poétique Ende der 1930er Jahre ausbildete.163

162 Die These, Aurics Engagement liege eine übergeordnete Motivation zugrunde, die weniger politisch, denn ideell grundiert ist, wird von Aurics Einbindung in weitere GemeinschaftsProjekte der 1930er Jahre gestützt, die nur indirekt in Zusammenhang mit den politischen Zielen des Front populaire stehen. Das Klavieralbum À l’exposition (1937) ist ein Beispiel, das zwar im Kontext der Exposition Internationale des Arts et Techniques dans la Vie Moderne entstand, ursprünglich allerdings als Hommage an Maguerite Long konzipiert war. Neben Auric waren drei weitere Vertreter der Six in das Projekt involviert: Darius Milhaud, Francis Poulenc und Germaine Tailleferre. Mit Ausnahme von Tailleferre hatten alle Beteiligten bereits für die Ballettmusik zu L’éventail de Jeanne (1927) miteinander kooperiert. Vgl. zu À l’exposition mit Fokus auf den Aspekt des gemeinschaftlichen Komponierens anlässlich der Pariser Weltausstellung 1937 Katja Bethe, Gemeinschaftliches Komponieren, S. 249 ff. 163 Zur Definition des Begriffs réalisme poétique siehe Fußnote 217, S. 88 in dieser Arbeit.

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5. Film und Musik 1934 bis 1938 Filmmusiken von Auric in den Jahren 1934 bis 1938.164

Erscheinungsjahr

Film

Regisseur

Produktion

1934

Lac aux dames

Marc Allégret

Société Parisienne de Production

1935

Les Mystères de Paris

Félix Gandéra

Productions Félix Gandera

1936

Sous les yeux d’occident

Marc Allégret

Productions André Daven

1937

L’affaire Lafarge

Pierre Chenal

Trianon Films

L’Alibi

Pierre Chenal

B. N. Films

La Danseuse rouge*

Jean-Paul Paulin

Cinatlantica films

Gribouille

Marc Allégret

Productions André Daven

Le Messager

Raymond Rouleau / Marcel Cravenne

Albatros

Tamara la complaisante

Jean Delannoy / Félix Gandéra

[copyright 1938] Productions Talac

Un déjeuner de soleil

Marcel Cravenne

Société des Films Roger Richebé

Orage

Marc Allégret

Ray Ventura

Entrée des artistes

Marc Allégret

Régina Films

La Rue sans joie***

André Hugon

Films André Hugon

Son oncle de Normandie

Jean Dréville

Lado Film [1939 veröffentlicht]

Huilor**

Alexander Alexeieff / Claire Parker

Trois minutes – les saisons**

unbekannt

1938

1938

164 * Komposition der Filmmusik gemeinsam mit Édouard Flament; ** Kurzfilm; *** Komposition der Filmmusik gemeinsam mit Vincent Scotto, André Hugon und Georges Koger; **** Dokumentarkurzfilm. Die Angaben differieren in den einzelnen Quellen zum Teil erheblich. So listet Roust im Fließtext seiner Studie lediglich die Spielfilme auf, in seiner Filmographie hingegen alle Produktionen. Im Werkverzeichnis von Josiane Mas finden die Zeichentrickfilme von Alexander Alexeieff und Claire Parker keine Erwähnung, der Dokumentarkurzfilm La Vie d’un homme (1938) hingegen schon. Auch die Jahreszahlen stimmen nur teilweise überein, was mitunter daran liegt, dass Roust beispielsweise dem Veröffentlichungsdatum, Mas hingegen dem Produktionsjahr folgt. Vgl. Colin Roust, Reaching a Plus Grand Public, S. 348; Josiane Mas, Répertoire des œuvres musicales de Georges Auric, S. 322 f.

136

II. „La musique pour le grand public“ (1934–1938)

Erscheinungsjahr

Film

Regisseur

Les Oranges de Jaffa**

Alexander Alexeieff / Claire Parker

La Vie d’un homme****

Jean-Paul Le Chanois

Produktion

Productions des Films Populaires

Tatsächlich widerspiegelt Aurics Filmographie vielmehr die Verfassung des Filmbetriebs, der Gegenstand einer breiten Debatte über die Erneuerung der Strukturen und die Zukunft des Films war. Die zahlreichen unterschiedlichen Produktionsfirmen dokumentieren den Zerfall der französischen Filmindustrie. Dies macht deutlich, dass der Wunsch nach einer Reformierung mehr noch als in den anderen Künsten durch die wirtschaftliche Situation begünstigt wurde, die sich aufgrund der Depression verschärfte und die ohnehin angeschlagene Industrie weitgehend zerschlug. Die partielle Auflösung von Gaumont-Franco Film-Aubert (G. F. F. A) 1935 und die Insolvenz von Pathé-Nathan 1936 trugen schließlich zum endgültigen Zerfall bei, der aber die gesamte Periode kennzeichnet.165 Der ökonomische Faktor determinierte die Auseinandersetzung und prägte auf diese Weise nicht nur die theoretischen Debatten, sondern auch die ästhetische Entwicklung des Films. Der Front populaire nahm demgegenüber offenbar eine untergeordnete Rolle ein, denn, so Abel: „Although the Popular Front provided a crucial context for French discourse on the cinema in the later 1930s, it hardly constituted the only one and sometimes not even the predominant one.“166

Sowohl die zeitgenössische Presse als auch die Filme veranschaulichen, dass das Verlangen nach einem sozialeren Kino und einer eigenen Filmsprache bereits das gesamte Jahrzehnt durchzieht und nicht erst mit dem Front populaire zu einem zentralen Thema wird.167 Mit Blick auf den Filmmarkt offenbart sich die Kapitalismuskritik und vehemente Forderung nach genuin französischen Filmen weniger als politisch motivierter Konsens denn als Protest der Filmemacher gegen die Repression durch die Filmindustrie zur Sicherung der eigenen Existenz.168 Themen wie 165 Bereits zu Beginn der 1930er Jahre ist dieser Zerfall zu beobachten. Da Frankreich keine Patente für die neuen Technologien des Tonfilms besaß, war die Filmproduktion abhängig von Deutschland und den USA, die sich dieses Monopol teilten. G. F. F. A und Pathé-Nathan gingen nach der Insolvenz in die Hände der Regierung über. Zur Entwicklung der Filmindustrie in den 1930er Jahren siehe ausführlich Laurent Créton, Histoire économique du cinéma français; zum Zerfall der beiden großen Produktionsfirmen und den Konsequenzen vgl. ebd., S. 43. 166 Richard Abel, French Film Theory and Criticism II, S. 148. 167 Artikel wie Jean Vigos Vers un cinéma social (1930), Marcel Carnés Quand le cinéma descendra-t-il dans la rue? (1933), Le Corbusiers Esprit de verité oder Jean Renoirs Comment j’anime mes personnages (1933) sind beispielhaft für die bewusste Hinwendung zu sozialen Themen, zum ‚wahren Leben‘ und gegen eine von Hollywood auferlegte Filmästhetik und -ökonomie. Dieselben Themen werden ab Mitte der 1930er Jahre weiter behandelt und vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen ausgebreitet. Alle oben genannten Artikel sind in englischer Übersetzung erschienen in Richard Abel, French Film Theory and Criticism II. 168 Der französische Filmmarkt wurde in den 1930er Jahren von ausländischen Produktionen dominiert. Das Verhältnis zu französischen Produktionen betrug 1:7, das heißt, es wurden sieben

5. Film und Musik 1934 bis 1938

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die Erziehung des Publikums und der Kampf gegen die Zensur erweisen sich vor diesem Hintergrund als strategische Überlegungen, die bewusst in den Kontext linkspolitischer Ideale eingewoben wurden. Ebenso wie in den anderen Künsten forcierte vor allem jene Personengruppe die Forderung nach einer Reformierung des Filmbetriebs, die für einen unabhängigen Film einstand und sich gegen eine ästhetische Bevormundung aus dem In- und Ausland wendete. Und ebenso wie in den anderen Bereichen sind die Fürsprecher dieser Erneuerungs-Bewegung in den Reihen der Avantgarde zu finden. Diese Verbindung zeigt sich bereits deutlich in den Programmen und Initativen der ACI, die sich als Äquivalent zur UTIF verstand und vorwiegend experimentelle Arbeiten sowie Dokumentationen förderte. Laut Pascal Ory demonstriert die Bildung dieser Gesellschaft für unabhängige Filmemacher (ACI) den Kampf „contre la censure, contre la ‚fasciation du cinéma‘, et pour la constitution d’un réseau de production cinématographique étranger au Système“.169 Auch in der Presse widerspiegelt sich die Verknüpfung der eigenen Interessen mit den kulturpolitischen Bestrebungen der Regierung. Beispielhaft ist in diesem Zusammenhang der Artikel Le cinéma au service du Front populaire (1936) des Drehbuchautors Louis Chavance, in dem dieser zunächst das Potential des Films als Propagandainstrument erörtert, um anschließend die Nutzung dieses Potentials durch die linken französischen Parteien zu rekonstruieren. Schließlich diskutiert er die Motivation der neu gegründeten Organisation Ciné-Liberté, die er zusammenfasst als „an attempt to purge and transform the cinema through engaged public action.“170 Die Entstehung von Ciné-Liberté rekonstruiert Chavance als Entwicklung aus der ACI heraus. Wie Pascal Ory aufzeigt, ist Letztere wiederum im unmittelbaren Umfeld der AEAR angesiedelt.171 Diese Verknüpfungen des Filmbetriebs

Mal mehr ausländische Produktionen gezeigt wie eigene. Vgl. Katja Bruns, Art. Quotierung, in: Lexikon der Filmbegriffe, o. S. 169 Vgl. Pascal Ory, De „Ciné-Liberté“ à La Marseillaise, S. 155. Zahlreiche Vereinigungen entstanden, darunter die ACI (die Film-Sektion der Maisons de la culture), die Association des Directeurs de Cinéma du Front populaire (die Film-Abteilung der kulturellen Vereinigung der Parti socialiste Mai ’36) und die Organisation Ciné-Liberté, die unter der Leitung von Jean Renoir jenen ästhetischen Leitlinien folgte, die mit der Doktrin des Front populaire zusammenliefen. Die Gruppierung Mai ’36 war über ihre Führungsmitglieder (darunter Marceau Pivert und Magdeleine Paz) eng verbunden mit der sozialistischen Gauche Révolutionnaire. Für eine detaillierte Darstellung der einzelnen Institutionen aus zeitgenössischer Sicht siehe Louis Chavance, Le cinéma au service du Front populaire (1936), englische Übersetzung in Richard Abel, French Film Theory and Criticism II, S. 213–217. 170 Louis Chavance, Le cinéma au service du Front populaire (1936), S. 215. 171 Vgl. Pascal Ory, De „Ciné-Liberté“ à La Marseillaise, S. 154 f. Richard Abel bestätigt dies, indem er feststellt, dass die ACI von der AEAR als „film distribution and exhebition arm“ ins Leben gerufen wurde. Vgl. Richard Abel, French Film Theory and Criticism II, S. 153. Ebenso wie Louis Chavance in seinem Artikel von 1936 darlegt, weist auch Ory auf die ideelle Verbundenheit mit der Gesellschaft Radio-Liberté hin, die von Paul Vaillant-Couturier kurz zuvor ins Leben gerufen wurde, um das Radio zu reformieren. Vgl. zur Geschichte von Ciné-Liberté Julian Jackson, The Popular Front in France, S. 141 ff.; Louis Chavance, Le cinéma au service du Front populaire (1936), S. 216; Pascal Ory, De „Ciné-Liberté“ à La Marseillaise, S. 156.

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bestätigen letztlich die These einer Umwidmung des Kulturbetriebs durch eine ‚engagierte‘ intellektuelle Elite. Diese Umwidmung, die sich am Beispiel von Ciné-Liberté nachvollziehen lässt, erfolgte entlang zweier Linien, deren gemeinsame Basis der Aspekt der Vermittlung ist. Die Herausgabe der gleichnamigen Zeitschrift, in der das ideelle Programm über Artikel und Kritiken propagiert und verhandelt wurde, dokumentiert die Bemühungen, ein heterogenes Publikum im Sinne der eigenen ästhetischen Ideale zu erziehen und eine „truly popular alternative“172 zur Industrie zu etablieren. Der Aspekt der Vermittlung, der hier aufscheint, erweist sich als zweifach ideologisch konnotiert: zum einen als sozialer Faktor, der auf die gezielte Integration und Partizipation der Bevölkerung abzielt und primär in strukturellen Initiativen erkennbar wird: „Starting with an ,advance guard‘ of technicians (most of the film trade unions eventually became affiliated with the CGT [Confédération générale du travail] after the successful strikes of June 1936) and spectators (principally the trade unions of construction workers, metallurgists, an railway workers), Ciné-Liberté soon formed a network of groups throughout Paris and the provinces, linking the producers of films directly to the public.“173

Zum zweiten als ästhetisches Kriterium, das die Etablierung und Verteidigung einer vermeintlich eigenen Filmsprache ins Zentrum rückt, die wenig später als réalisme poétique (Poetischer Realismus) eine Ausdifferenzierung erfährt.174 Artikel wie Chavances Le cinéma au service du Front populaire (1936) oder Jean Cassous De l’avant-garde à l’art populaire (1936), die in den Fachzeitschriften für den Film publiziert wurden, setzen die Forderung nach Erneuerung auf einer strukturellen Ebene an. Die Zeitschrift Esprit veröffentlichte hingegen primär Artikel, die sich mit den filmischen Mitteln beschäftigten und auf diese Weise die Debatte von einer administrativen in eine ästhetische überführten.175 In diesem Be-

172 Richard Abel, French Film Theory and Criticism II, S. 153. Beispielsweise diskutiert Jean Cassou in einem Artikel für Ciné-Liberté die Popularisierung der Avantgarde in Bezug auf das Kino. Vgl. Jean Cassou, De l’avant-garde à l’art populaire (1936), englische Übersetzung in Richard Abel, French Film Theory and Criticism II, S. 217–218; Georges Sadoul hebt in seinen Artikeln immer wieder auf die Bedeutung des Nationalen ab, beispielsweise in La Cinémathèque française (1936), englische Übersetzung in Richard Abel, French Film Theory and Criticism II, S. 223–224; Und Roger Leenhardt denkt über die Gründung einer Schule für Zuschauer nach, um ‚die Massen‘ ästhetisch zu erziehen. Vgl. Roger Leenhardt, Où l’on ouvre l’école du spectateur (1935), englische Übersetzung in Richard Abel, French Film Theory and Criticism II, S. 194–195. 173 Richard Abel, French Film Theory and Criticism II, S. 154 [Hervorhebungen im Original]. 174 Der vehemente Protest gegen die Zensur (die auch unter dem Front populaire fortbestand), der unter anderem die Forderung nach Rehabilitation für Filme wie Jean Vigos Zero de conduite (1933) beinhaltete, sowie die Fokussierung auf Dokumentationen unterfüttern diese Stoßrichtung von Ciné-liberté. Vgl. ausführlich zu den Programmen und Produktionen von Ciné-Liberté Pascal Ory, De „Ciné-Liberté“ à La Marseillaise, S. 160 ff. 175 Beispielhaft für diesen Strang ist die Kolumne L’École du spectateur von Roger Leenhardt, die unter anderem die folgenden Artikel umfasste Où l’on ouvre l’école du spectateur (1935), Rythme cinématographique (1936), Le Photo (1936) und La Pries de vues (1936). Vgl. Richard Abel, French Film Theory and Criticism II, S.178.

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reich ist auch Maurice Jauberts Le Cinéma: La musique (1936)176 anzusiedeln. Jaubert kritisiert die Art und Weise des Einsatzes von Musik in Spielfilmen und bemängelt insbesondere drei Aspekte: „First of all, to plug up the sound ,gaps‘, either when a certain scene is thought to be too silent or when the director has been unable to find a really plausible sound in reality – and especially if it’s not suggested by the image.“177

Sein zweiter Kritikpunkt ist der Missbrauch der Tonspur als Kommentar zur Handlung: „More generally they ask the sound to comment on the action. Is the scene tragic? Some French horn or trombone notes will accentuate the gloominess of the image. Is it sentimental? A violin solo, as they say, will make the heroes declaration of love more persuasive. Do the champions of this ,aesthetic‘ realize that they are merely carrying over the old musical tradition of melodrama into the cinema? Yet they don’t take into account the fact that, from a simple acoustic point of view, the superimposition of music over a voice or sound risks ruining the emotional value of one and the authenticity of the other.“178

Jauberts dritter Kritikpunkt betrifft die Betonung dessen, was sich auf visueller Ebene vollzieht, indem die Musik das Dargestellte imitiert: „If the music does not comment on the drama, they ask it to emphasize concrete incidents; this time resorting to the synchronization dear to the musical film, which we have already mentioned. A chord punctuating the closing of a door, steps accompanying the rhythm of a march, etc. […] Aside from its childishness, a method such as this demonstrates a total misunderstanding of the very essence of music. Music unfolds in a continuous manner, according to a rhythm orchestrated in time. Constraining it to slavishly follow actions and gestures which are themselves discontinuous conforms not to a definite rhythm but to physiological and psychological reactions; this robs the music of its rhythmic power by reducing it to its initial inorganic element, sound.“179

Anstelle eines solchen Einsatzes, solle eher das Potential der Musik dazu genutzt werden, den realen Abbildcharakter des Films zu zerstören, denn „Amongst all the raw material which film employs and whose combination or juxtaposition alone gives rise to artistic creation, music appears as an element of unreality which can falsify the effect and so destroy that ,primordial realism‘.“180

Indem Jaubert für eine artifizielle Gestaltung der akustischen Dimension plädiert, führt er nicht nur die Diskussion um den Realismus-Begriff in den Künsten ins Feld, der insbesondere in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre den französischen Filmdiskurs mitbestimmte. Seine Vorstellung einer optimalen Nutzung von Musik für den Film folgt darüber hinaus dem Ideal eines kontrapunktischen Einsatzes des Tons, wie ihn Alexandrow, Eisenstein und Pudowkin 1928 in ihrem Manifest für 176 Maurice Jaubert, Petite École du spectateur: Le cinéma: La Musique, in: Esprit 43 (April 1936), S. 114–119. In englischer Übersetzung erschienen in Richard Abel, French Film Theory and Criticism II, S. 206–211. 177 Maurice Jaubert, Le cinéma: La Musique, S. 207. 178 Ebd. [Hervorhebungen im Original]. 179 Ebd., S. 208 [Hervorhebungen im Original]. 180 Ebd. Jaubert bezieht sich hier auf Roger Leenhardt, der in seinen Schriften den ‚ursprünglichen Realismus‘ des Kinos betonte.

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den Tonfilm formulierten. Jaubert greift also zwei Gesichtspunkte der zeitgenössischen Debatten auf: erstens die Nähe zu ästhetischen Konzepten der Sowjetunion und zweitens – gewissermaßen als deren Weiterentwicklung – die Re-definition des Realismus-Begriffs, von einer Konnotation im Sinne des Sozialistischen Realismus über die Definition eines spezifisch französischen sozialen Realismus hin zu einer Prägung des Begriffs, die Ende der 1930er Jahre im Konzept des Poetischen Realismus aufgeht.181 Jaubert fordert eine Musik, die nicht die lineare Montage des Bildmaterials nachzeichnet, sondern musikalischen Gesetzen und Eigenschaften folgt, namentlich „rhythm, form, instrumentation“, um „an impersonal band of sound beneath the plastic material of the image“ zu knüpfen.182 Ebenso wie in seinem anschließenden Appell („Let it finally make us physically responsive to the internal rhythm of the images, without striving to translate the emotional, dramatic, or poetic content.“183) ist in dieser Aussage die Idee angelegt, Filmmusik jenseits von einer Funktionalisierung als narratives Element anzusiedeln.184 Stattdessen deutet Jaubert die Möglichkeiten einer Umdeutung von Zeit- und Raumordnungen an und kritisiert auf diese Weise Schemata des Hollywoodkinos wie Leitmotivtechnik, Song- und Tanzroutinen.185 Jauberts Ausführungen folgen somit dem strategischen Impetus, den Film – mit Julian Jackson gesprochen – als „instrument of popular art“186 zu nutzen, um die moralische und intellektuelle Erziehung der Massen zu gewährleisten und sind deshalb nicht als ausschließlich ästhetisches Ideal zu begreifen. Als beliebtes und rasant expandierendes Massenmedium, als Kunstform, die auf der kollektiven Zusammenarbeit unterschiedlicher Beteiligter basiert sowie als Medium, das Industrie und Kunst und damit Ökonomie und Kultur miteinander verschränkt, eignete sich die ‚siebte Kunst‘ (septième art) besonders gut dafür, der Bevölkerung ideologische 181 Im Gegensatz zu den Begriffen Sozialistischer Realismus und social realism ist der Terminus Poetischer Realismus (frz. réalisme poétique) auf den Film beschränkt. Maßgeblich verantwortlich für die Prägung des ästhetischen Konzepts eines französischen sozialen Realismus war Georges Sadoul. Seine Ausführungen sind die Vorstufe zum Poetischen Realismus, den er wenige Jahre später als ästhetisches Konzept des französischen Films etablierte. Der Begriff social realism, den Colin Roust in seiner Arbeit bemüht, scheint in dem Artikel jedoch nicht auf, stattdessen spricht Sadoul von einem ‚kompromisslosen Realismus‘. Vgl. Georges Sadoul, À propos de quelques films recents (1936), englische Übersetzung in: Richard Abel, French Film Theory and Criticism II, S. 220. 182 Maurice Jaubert, Le cinéma: La Musique, S. 209. Jaubert greift hier bereits dem Konzept der vertikalen Montage vor, das Eisenstein während der Vorarbeiten zu Ivan grosny (1943–1946) entwickelte. 183 Ebd. 184 Dieser Aspekt ruft die Rivalisierung von Theater und Film Anfang der 1930er Jahre in Erinnerung, innerhalb derer das Erzählen von Geschichten dem Theater, nicht aber dem Film zugeordnet wurde. 185 Jaubert kritisiert insbesondere die Verwendung von „recettes wagnérienne, […] aux suavités pseudo-debussystes.“ Polemisch kritisiert er diese Techniken als ‚tödlichen Pathos‘, durch den Komponisten ‚uns‘ glauben lassen wollen, dass sie jedes menschliche Gefühl ‚in acht Takten mit einer großen Batterie an Blechbläsern‘ ausdrücken könnten. Vgl. Maurice Jaubert, Le cinéma: La Musique, S. 117. 186 Julian Jackson, The Popular Front in France, S. 138.

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Prämissen zu vermitteln und gleichzeitig das nationale Bewusstsein und die Identifikation mit der neuen Regierung zu stärken.187 Die Aufmerksamkeit, die dem Film in der Presse zugesprochen wurde, bildet diese Bewertung des Mediums ab. Wie Julian Jackson betont, wäre die Darstellung der Filmgeschichte der 1930er Jahre als Geschichte, die im Dienst des Front populaire steht allerdings verfehlt.188 Dies lässt sich anhand zweier Gesichtspunkte nachvollziehen, die beispielhaft für die 1930er Jahre sind: Erstens wurde der Diskurs in der Presse vorwiegend von jenen Intellektuellen bestimmt, die aus (mehr oder weniger) subjektiven Interessen die Umstrukturierung des Filmbetriebs befürworteten und nur eine geringe Anzahl der Filmschaffenden insgesamt ausmachten. Durch ihre umfassende Nutzung der medialen Sprachrohre erscheint dieser Diskursstrang jedoch rückblickend als dominierend und verzerrt die Verhältnisse.189 Zweitens ergibt sich im Hinblick auf die Produktionen, dass die Filme, die in diesem Umfeld entstanden, zwar als Klassiker in die Filmgeschichte eingingen, tatsächlich aber nur einen Bruchteil des filmischen Schaffens insgesamt ausmachten.190 Eine Umwidmung der Avantgarde zum Mainstream lässt sich (anders als in der Musik) für den Film nur bedingt feststellen, da Organisationen wie Ciné-Liberté ihre administrativen und ästhetischen Umstrukturierungsmaßnahmen nur in einem sehr begrenzten Rahmen umsetzen konnten. Verantwortlich für diese spezifischen Konstellationen des Films ist die anhaltende Abhängigkeit der Filmemacher von der (monopolisierten) Filmindustrie, deren Vorherrschaft sowohl die Produktion als auch den Vertrieb bestimmte. Aufschlussreich für die Verortung von Auric in diesem Panorama sind seine Kooperationen. Ausgehend von seinen Aktivitäten im Musikbetrieb ließe sich annehmen, dass er diese auf den Bereich des Films ausweitete. Demgegenüber steht die Tatsache, dass er weder in den einschlägigen Organisationen vertreten war, noch Beiträge für die spezialisierte Filmpresse verfasste. Die Verbindungen von 187 Der Begriff septième art steht stellvertretend für die Anerkennung des Films als eigenständige Kunstform, die der Einteilung der Künste folgt, die G. W. F. Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik (1835–1838) vornahm. Das deutsche Äquivalent ,Filmkunst‘ bildete sich wie der französische Terminus zu Beginn des 20. Jahrhunderts heraus. Der Film steht dieser Auffassung folgend als eigenständige Kategorie neben Architektur, Skulptur, Malerei, Musik, Tanz und Lyrik. 188 Vgl. Julian Jackson, The Popular Front in France, S. 139. 189 Das Desinteresse gegenüber einem Großteil der Filme der 1930er Jahre verschleiert, welche gewichtige Rolle die Industrie für die Branche spielte. Der Kulturbetrieb erscheint auf diese Weise rückblickend als vermeintlich geschlossener Apparat, der alle Künste gleichermaßen unter den Einfluss des Front populaire stellte. 190 Vgl. Julian Jackson, The Popular Front in France, S. 139. Der Front populaire produzierte auch nach der Gründung von Ciné-Liberté lediglich einige wenige Filme, denen keineswegs eine große Aufmerksamkeit seitens der Öffentlichkeit zuteil wurde. Die Kino-Programme in den großen französischen Tageszeitungen dokumentieren die große Anzahl ausländischer Produktionen, die in den Kinos gezeigt wurden. Die dort aufgelisteten französischen Filme sind in der Zwischenzeit größtenteils in Vergessenheit geraten. Siehe beispielsweise das Programm für Paris in Le Figaro (16. April 1936) in dem Detektivgeschichten, Spionagefilme und Komödien dominieren, häufig mit einer großen Anzahl integrierter Chansons, die zusätzlich vermarktet werden konnten. Vgl. [o. A.] Le Programme d’aujourd’hui, in: Le Figaro (16. April 1936), S. 5.

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Auric zu den Protagonisten der Erneuerungs-Bewegung stellt sich vielmehr als persönliches Netzwerk dar, das sich aus Regisseuren und Drehbuchautoren auf der einen und Filmmusikkomponisten auf der anderen Seite zusammensetzt. Mit Ausnahme von Jean Delannoy waren alle Regisseure, mit denen Auric in dieser Phase zusammen arbeitete, Mitglieder der AEAR oder/und pflegten enge Beziehungen zur französischen Linken.191 Zudem greifen alle Filme entweder wesentliche Themen des Front populaire auf oder repräsentieren jene Filmästhetik, die später in den Poetischen Realismus münden sollte. Aurics Filmmusiken verdienen vor dem Hintergrund der Erneuerung-Bestrebungen in den Künsten jedoch eine genauere Kontextualisierung. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht der Aktionismus einer Gruppe von Filmmusikkomponisten, die sich öffentlich für eine Professionalisierung ihres Tätigkeitsfeldes einsetzten.192 Auffällig ist, dass die Mehrheit der Komponisten, die für den Film komponierten, ihre Wurzeln in der Arbeit für die szenischen Künste hatten. Die Methoden, die sie dort anwendeten, versuchten sie nun, auf den Film zu übertragen. Die Themen, die sie in ihren Artikeln und Beiträgen behandelten, gruppieren sich entsprechend um zwei Felder: erstens die Entwicklung und Anerkennung des Bereichs der Filmmusikkomposition als eigenständiges Betätigungsfeld, in dessen Zentrum die Professionalisierung der Komponisten steht und zweitens die Etablierung ihrer ästhetischen Ideale. Mit der Profilierung eines eigenen Berufsfeldes einher geht wiederum der Wunsch nach Abgrenzung sowohl gegenüber der Filmwelt als auch gegenüber dem Musikbetrieb. Séverine Abhervé zeichnet die Entwicklungen zwischen 1919 und 1937 nach und stellt für die 1920er Jahre eine wachsende Spezialisierung des Berufsfeldes fest, aus der sich die Motivation zur Generierung einer neuen Ästhetik speist, die in direkter Verbindung mit dem Film steht.193 Mit der Etablierung des Tonfilms veränderte sich die Debatte dahingehend, dass die Komponisten nun primär die gängige Filmpraxis kritisierten und insbesondere „le manque d’ambition des cinéastes, la faible économie des exploitants de salle ou encore les intérêts des éditeurs musicaux“194 beklagten. Mit Auric, Honegger, Jaubert und Milhaud benennt Abhervé vier Personen, die repräsentativ für diese Diskussion in den 1930er Jahren sind. Zentral sei insbesondere zum Ende des Jahrzehnts eine Konkretisierung der ästhetischen Ideale, mit der aber gleichermaßen eine Desillusionierung über den Filmbetrieb und eine Reflexion über die Problematiken bei der Komposition für den Tonfilm einher ging.195 191 Vgl. Colin Roust, Reaching a Plus Grand Public, S. 348. 192 Zu nennen sind neben Auric noch Arthur Honegger, Maurice Jaubert, Darius Milhaud und Jean Wiéner. 193 Abhervé hebt in ihrer Studie hervor, dass die Stellung der Komponisten kein Bestandteil der Film-Debatten war und Komponisten erst mit dem Gesetz von 1957 als Co-Autoren von Filmen anerkannt wurden. Die erste Vereinigung von Filmmusikkomponisten, die UCMF, gründete sich erst im Jahr 2002. Vgl. Séverine Abhervé, Discours des compositeurs de musique, S. 231. 194 Ebd., S. 239. 195 Vgl. ebd., S. 236. Siehe zur Problematisierung des Umgangs mit den technischen Möglichkeiten und Begrenzungen Aurics Aussagen im Vorwort zu Jacques Bourgeois, René Clair, zit. in Kapitel I.5.b, S. 62 in dieser Arbeit.

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Jauberts Artikel von 1936 bildet diese Verhältnisse exemplarisch ab. In seinen Ausführungen zu einer idealen Filmmusik greift er einzelne Facetten der ‚neuen‘ Filmsprache auf und transformiert sie in eine Ästhetik der Filmmusik. Die ideellen Parameter des Kollektivs sind dabei vertreten in der Forderung nach mehr ‚Demut‘ der Komponisten vor dem Visuellen und einer Zurücknahme des expressiven Ausdrucks der Musik: „Rappelons les musiciens à un peu plus d’humilité. Nous ne venons pas au cinéma pour entendre de la musique.“196 Gleichzeitig ist hier die Statuierung des Eigenen gegenüber einer Modellhaftigkeit amerikanischer beziehungsweise deutscher Prägung angedeutet. Mit seinem Plädoyer für eine bewusst künstlerische Gestaltung der akustischen Dimension anstelle eines nachahmenden, vermeintlich realistischen Charakters deutet Jaubert schließlich die Relevanz einer individuellen Musiksprache an, die eigene Kompositionsstrategien erfordert.197 Auch Milhaud äußert sich 1937 in ähnlicher Weise in einem Beitrag in Le Figaro zur Situation der Musik im französischen Kino und definiert die Aufgabe des Komponisten als eine Arbeit auf Bestellung, bei der das Werk letztlich verschwinde.198 Er begründet dies folgendermaßen: „au temps du muet, la musique sévissait sans arrêt, avec le parlant, on lui diminua son rôle. Il ne fallait pas qu’elle empêchât de comprendre le dialogue. On a fini par la reléguer à un rôle de parent pauvre à qui l’on permet de s’insinuer parfois timidement, et qui ne reprend ses droits que lorsqu’une situation dramatique ou sentimentale l’exige […]. Le musicien, qui était si fier de déverser les torrents de son inspiration lors de l’accompagnement des derniers films muets ou des premiers films sonores, prend, avec le cinéma parlant, une excellente leçon de discipline et d’humilité.“199

Bezogen auf sein Ideal einer Filmmusik bemüht Milhaud ebenso wie Jaubert die Begriffe Demut und Disziplin. Deren Bedeutung in diesem Kontext führt er anschließend aus: „Discipline? Parce que dans les scènes où la musique intervient pour souligner une phrase du drame, il faut, bien entendu, limiter son morceau au métrage voulu par le metteur en scène et se plier à toutes les modifications que subira ce métrage, pendant le montage du film. Humilité? Parce que la musique ne doit pas gêner le texte, et que la plupart du temps on l’affaiblit jusqu’au point de la rendre à peine perceptible. Elle doit s’incorporer à l’action sans se faire remarquer.“200

Die übereinstimmenden Äußerungen der Komponisten verdeutlichen die Vehemenz, mit der sie die Herausbildung eines eigenen Genres namens Filmmusik verfolgten. Die ideelle Reichweite ihrer Ambitionen zeigt sich in einer weiteren Aus196 Maurice Jaubert, Le cinéma: La Musique, S. 117. 197 Die Betonung des Individuellen trotz der Vormachtstellung des Kollektivs ist ein Themenfeld, das sich hinsichtlich des Films unter anderem in der Diskussion um die Rolle des Autors in den späten 1930er Jahren niederschlug. Siehe hierzu ausführlich Richard Abel, French Film Theory and Criticism II, S. 164 ff. 198 Vgl. Séverine Abhervé, Discours des compositeurs de musique, S. 238. 199 Darius Milhaud, La musique au cinéma: Comment elle devint une parente pauvre, in: Le Figaro (16. April 1937), S. 5. 200 Ebd.

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sage von Jaubert, die das Potential einer neuen Art Musik ausleuchtet, die gleichermaßen für Ballett, Oper und Film geeignet sei und auf diese Weise „la forme musicale dramatique de demain“ werden könne.201 Die Verbundenheit der Filmmusikkomponisten mit den szenischen Künsten ist hier ebenso augenscheinlich wie das ästhetische Ideal einer Musik, die sich im Kanon der Disziplinen als eigenständige Kunstform etablieren soll. Damit sind die wesentlichen Merkmale und Dimensionen des Diskurses benannt: Die Debatte wurde seitens der Komponisten jenseits von Spezialdiskursen geführt, was sich aus der Wahl der Medien ergibt, in denen sie publizierten und die als Tages- und Wochenzeitungen durchmischte Inhalte und einen großen Leserkreis bedienten. Die Statuierung eines eigenen Diskurses Filmmusik reicht bis in die 1920er Jahre zurück und wurde insbesondere von der jüngeren Komponistengeneration – namentlich Auric, Honegger, Jaubert, Milhaud, Wiéner – ausgetragen. Ziel dieser Komponisten war es, das Bewusstsein der Öffentlichkeit auf das neue Berufsfeld des Filmmusikkomponisten zu lenken, „pour sensibiliser l’opinion à leur métier“, so Abhervé.202 Indem sie sich bewusst von den Filmemachern ebenso wie vom herkömmlichen Musikbetrieb distanzierten, konnten sie ihre Vorstellungen von einem unabhängigen Genre einführen und über die Verknüpfung mit den szenischen Künsten zusätzlich legitimieren. Die Forderung nach einer engeren Zusammenarbeit mit den Regisseuren stärkte diese Strategien zur Etablierung der neuen Musikästhetik. Die Konstitution eines eigenen Genres Filmmusik passte sich in die Erneuerungs-Bestrebungen der Künste ein und unterfütterte die Forcierung einer Filmsprache, die auf die Stärkung des französischen Films konzentriert war. In dieser Hinsicht korrespondierte der Diskurs mit dem politischen Programm des Front populaire. Dieses politische Programm jedoch als Ausgangspunkt für die Initiativen der Komponisten heranzuziehen, scheint vor dem skizzierten Panorama verfehlt und verweist letztlich auf die Problematik einer Geschichtsschreibung, in der die Regierung des Front populaire als Dreh- und Angelpunkt ästhetischer Strategien gesetzt wird. Auric und den anderen Komponisten der Filmmusik-Bewegung gelang es letztlich, ihre kompositorische Praxis unter dem Begriff einer dramatischen Musik in eine vermeintlich neue Kunstform zu überführen und auf diese Weise den Verlust des eigenen Tätigkeitsfeldes aufgrund der Expansion des Kinos zu umgehen. Die Deklaration als ‚neu‘ unterstützt dabei die Profilierung des Eigenen, Unabhängigen und reagiert auf die ideologischen Tendenzen der Zeit. Das Modell einer dramatischen Musik, die nicht auf eine Kunstform beschränkt ist, ermöglichte schließlich die Bewahrung einer individuellen Tonsprache, weil sie aufgrund der Vielzahl an Einsatzmöglichkeiten ein breites Publikum ansprechen kann, ohne musikalische Parameter anpassen zu müssen. Die Aufforderung zu einer „Musique pour le grand public“ erweist sich vor diesem Hintergrund als progressive Bewerbung der eigenen Musik, deren Verbreitung von den Komponisten strategisch angegangen wurde, indem sie sowohl den Medienapparat als auch die aktuellen politischen Ideale für ihre Zwecke nutzten. 201 Maurice Jaubert, Le cinéma: La Musique, S. 114. 202 Vgl. Séverine Abhervé, Discours des compositeurs de musique, S. 232.

6. Lac aux dames (1934)

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6. LAC AUX DAMES (1934) Die Filmmusiken, die zwischen 1934 und 1938 entstanden, bilden diese Strategie ab. Während die Filme unterschiedliche Genres bedienen und verschiedene inhaltliche Schwerpunkte setzen, bleiben Aurics Musiken erstaunlich homogen. Ihnen allen ist gemein, dass sie – entgegen der Popularität des Musikfilms – keine Lieder beinhalten, die als musikalische Momente eine Unterbrechung des Handlungsverlaufs bewirken würden.203 Musikalische Nummern begegnen ausschließlich als Elemente, die in die Handlung eingewoben sind und dienen primär der Illustration eines Ortes oder einer Szenerie. Exemplarisch für diesen Einsatz von Musik ist der Film Lac aux dames (1934). Die comédie dramatique von Marc Allégret204 basiert auf dem Roman Hell in Frauensee: ein heiterer Roman von Liebe und Hunger (1927) von Vicki Baum, der 1932 in der französischen Übersetzung von Hélène Chadoir erschien.205 Bereits der Untertitel der Romanvorlage gibt Auskunft über den inhaltlichen Kontext. Erzählt wird die Geschichte des arbeitslosen Ingenieurs Éric (Jean-Pierre Aumont), 203 Gemeint sind hier ausschließlich Filme mit Liedern und nicht sogenannte comédies musicales, wenngleich sich beide Genres auch vermischen können wie in René Clairs Le Million (1931). Auch À nous la liberté (1931) ließe sich aufgrund der musikalischen Gestaltung problemlos als film musical einordnen, wenngleich die verhandelten Themen dazu führten, dass er sogar als Vorläufer für den Poetischen Realismus à la Renoir herangezogen wurde. Der film musical ist nicht als Pendant zu den Musikfilmen Hollywoods oder gar zum Filmmusical zu verstehen. Wie Renauld Lagabrielle betont, entwickelte sich kein französisches Musikfilm-Genre, das dem Hollywood-Musicalfilm ähneln würde. Des Weiteren macht er darauf aufmerksam, dass der französische film musical nicht den strengen Genre-Konventionen des Hollywood-Filmmusicals unterliege und somit „definitiv eklektisch“ sei. Vgl. Renauld Lagabrielle, Ein Pariser in Hollywood, S. 107; S. 118. Zum Genre des Hollywood-Filmmusicals siehe beispielsweise Rick Altman, The American Film Musical, Bloomington/Indianapolis 1987. 204 Auric und Allégret kannten sich über Cocteau und die Noailles. Zahlreiche Fotos belegen, dass sie gemeinsame Sommer in der Villa des Ehepaars in Hyères verbrachten. Der Bruder des Regisseurs Yves Allégret arbeitete nach seinem Jura-Studium zunächst als Generalsekretär von André Gide und begleitete diesen auf einer Expedition nach Afrika. Daraus entstand sein erster Film, die Dokumentation Voyage au Congo (1926). Bis 1931 arbeitete er zunächst als Regieassistent, dann fing er an, selber Filme zu drehen. Neben Lac aux dames komponierte Auric in den 1930er Jahren die Musik zu vier weiteren Filmen von Allégret: Sous les yeux d’Occident (1936), Gribouille (1937), Orage (1938) und Entrée des Artistes (1938). Vgl. die Tafel auf S. 135 f. sowie ausführlich zu Entrée des artistes Kapitel II.7.a in dieser Arbeit. 205 Vicki Baum (1888–1960) wurde sowohl von den Nationalsozialisten als auch von den Kommunisten als Schriftstellerin zweitklassiger Unterhaltungsromane abgewertet. Den großen Erfolg ihrer Romane verdankte sie allerdings gerade dem Unterhaltungswert ihrer Geschichten, die zusätzlich ein enger Zeitbezug auszeichnet. Die französische Übersetzung des Romans erschien unter dem Titel Lac-aux-dames: roman gai d’amour et de disette bei Librairie Stock in Paris. Der deutsche Titel Hell in Frauensee rekurriert auf den ursprünglichen Namen des Protagonisten, Urbain Hell – in Allégrets Film Éric Heller. Die realistischen Milieu-Schilderungen und konkreten Zeitbezüge stehen in einer Linie mit Romanen wie Hans Falladas Kleiner Mann – was nun (1932), Erich Kästners Fabian (1931) oder auch dem heute weniger bekannten Käsebier erobert Kurfürstendamm (1931) von Gabriele Tergit. Letzterer dokumentiert durch die mehrfache Erwähnung von René Clairs Sous les toits de Paris (1930) den Erfolg des Films im Ausland und die Popularität der zugehörigen Filmschlager.

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der einen Sommerjob als Bademeister in einem Feriendomizil an einem See in Österreich annimmt und aufgrund seiner Attraktivität von Frauen umschwärmt wird. Er freundet sich mit der natürlichen und kindlichen Puck (Simone Simon) an, die mit ihrem vermögenden Vater auf einer Insel im See wohnt und verliebt sich in Danny (Rosine Deréan), Tochter eines Industriellen, die seine Liebe auch erwidert. Dannys Vater (Michel Simon) weiß eine Beziehung zwischen seiner Tochter und dem mittellosen Bademeister allerdings zu verhindern. Als die Saison zu Ende geht, kann Éric den Ferienort nicht verlassen, weil ihm das nötige Geld fehlt. Einsam und alleine und aufgrund einer Verletzung von Fieber geplagt, vegetiert er vor sich hin. Nach einem misslungenen Annäherungsversuch von Puck, die sich wegen Érics schroffer Zurückweisung enttäuscht abwendet, ist er vollkommen isoliert. Kurze Zeit später wird Pucks Boot auf dem See gefunden ohne jede Spur von der jungen Frau. Éric schlussfolgert, dass er Puck in den Selbstmord getrieben hat und initiiert eine Suche auf dem See. Während der dramatischen Aktion ist Puck jedoch mit dem Zug unterwegs in die Stadt, um Danny zu treffen, fest dazu entschlossen, Danny und Éric wieder zu vereinen. Die Selbstlosigkeit und Stärke von Puck, trotz ihrer eigenen Enttäuschung das Liebesglück ihres Freundes zu unterstützen, wird in der Schlussszene übersteigert, in der Puck – ein melancholisches Lied singend – alleine in ihrem Boot zurück auf ihre Insel fährt.206 Das Nebeneinander von romantischen und dramatischen Szenen ist beispielhaft für Lac aux dames. Während realistische Attribute (Atmosphäre, Zeichnung der Figuren) eine Identifikation des Publikums mit der Situation ermöglichen, weckt die fiktionale Handlung romantische Sehnsüchte. Die Verschränkung von realistischen (nachvollziehbaren) und fiktionalen (poetischen und sehnsuchtsvollen) Elementen ist charakteristisch für die Romanvorlage von Vicki Baum und ebenso mitverantwortlich gewesen für den Erfolg von Lac aux dames. Aurics Musik zum Film reflektiert beide Dimensionen, indem sie zwischen Sequenzen changiert, die primär ein atmosphärisches Klangbild erzeugen und solchen, die in einem direkten Bezug zur Handlung stehen und entweder als Musik in die Erzählwelt eingebunden oder als wiederkehrende Motive einer bestimmten Figur zugeordnet sind.207 206 Für eine ausführliche Inhaltsangabe siehe die detaillierte Nacherzählung des Films von Georges Colmé. Vgl. Georges Colmé, Lac aux dames. Film raconté, in: Cinémagazine 9 (14. Juni 1934), o. S. 207 Zeitgleich zur Premiere des Films erschienen Auszüge von Aurics Partitur als Reduktion für Klavier: Laendler, Elégie sowie La Lettre de Puck (Romance sans parole). Keines der drei Stücke erscheint jedoch im Film in der veröffentlichten Form. Beim Vergleich der Partitur mit dem Soundtrack zeigt sich aber, dass die wesentlichen kompositorischen Parameter für die Klavierreduktion übernommen wurden. Außerdem ist keines der Lieder, die in Lac aux dames von den Protagonisten gesungen werden, als Auszug oder Aufnahme veröffentlicht worden. Eine Begründung für diesen Umstand ist der Rückgriff auf präexistente Musiken wie den Radetzkymarsch. Die genauen Angaben der Titel variieren je nach Quelle. Schmidt bezieht sich in seinem Werkkatalog auf die Erstausgabe, in der Laendler, Elégie und La lettre de Puck als Trois morceaux de piano pour ‚Lac aux dames‘ betitelt sind, wobei die dritte Nummer nochmals unterteilt ist in I. La Lettre de Puck und II. Romance sans Paroles. Vgl. Carl Schmidt, La Musique de Georges Auric III, S. 794. Die Auskoppelung von einzelnen Sequenzen und das Arrangieren dieser Sequenzen als Medley im Vorspann begegnet beispielsweise auch in À nous la liberté. In Lac aux dames sind ebenfalls einige Sequenzen als Medley im Vorspann

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a. Spiel mit Dynamik: Musik innerhalb der Erzählwelt Betrachtet man den gesamten Film, so fällt auf, dass in allen Passagen, die einen Ort repräsentieren oder die Stimmung einer bestimmten Figur illustrieren, Musik ausschließlich diegetisch eingesetzt ist und an diesen Stellen ausnahmslos Lieder, Tänze oder eindeutig zu identifizierende Zitate erklingen. Beispielsweise wird gleich zu Beginn von Lac aux dames mittels präexistenter Musik der Handlungsort konkretisiert. Eine Kapelle in Tracht, die sich auf dem Boot befindet, mit dem Éric zu dem Ferienort reist, spielt den Radetzkymarsch. Die Musiker unterhalten die Passagiere für die Dauer der Überfahrt und gehen schließlich spielend von Bord. Das Zitat des Marsches in Kombination mit der traditionellen Kleidung und den Panoramabildern von der Umgebung ermöglicht eine Konkretisierung des Ortes durch den Zuschauer. Das geschickte Spiel mit der musikalischen Dynamik über die gesamte Dauer der Sequenz hinweg illustriert auch die Distanz der Kamera zum Geschehen und veranschaulicht auf diese Weise, wo genau die Musik spielt (auf dem Boot; später im Hafen). Zusätzlich verdeutlichen die Lautstärke- und Perspektivwechsel, dass es sich bei dem Auftritt um ein unterhaltsames Nebenprogramm handelt und nicht etwa um ein exklusives Konzert an Bord eines Schiffes. Dieser Eindruck wird zusätzlich dadurch unterstützt, dass die Schnitte nicht mit der Musik korrespondieren, sondern völlig unabhängig vom auditiven Geschehen gesetzt sind.208 Ein weiteres Beispiel für diesen Einsatz von Musik findet sich gegen Ende des Films. Éric streift hungrig durch die spätsommerlichen Straßen des Dorfs, auf der Suche nach einer Möglichkeit, ohne Geld etwas zu Essen aufzutreiben. Erfolglos versucht er zunächst, einen Snack-Automaten aufzubrechen, um anschließend sehnsüchtig in die Auslage einer Bäckerei zu blicken. Von Beginn an ist im Hintergrund Akkordeonmusik zu hören. Etwas später ist zusätzlich ein unisono Gesang von Männerstimmen vernehmbar, wobei die Art des Gesangs typisch ist für die Stubenmusik im alpenländischen Raum.209 Erst jetzt schwenkt die Kamera auf die Außenfassade eines großen Gasthauses und kurz darauf in den Gastraum hinein. Die Musik wird unterdessen stetig lauter, um dem Zuschauer schließlich mit dem Bild aus dem Inneren des Gastraums ihre Quelle zu präsentieren und visuelles und auditives Geschehen ineinander zu führen: eine Gesellschaft in Tracht, die einen Ländler tanzt, begleitet von der entsprechenden Musik, die nun laut erklingt.210 Dieses Spiel mit den Wahrnehmungsperspektiven wiederholt sich im weiteren Verlauf. Die Wirtin, die Éric aus dem Dorf kennt und die ihn ebenfalls begehrt, entdeckt den müden jungen Mann vor der Tür des Gasthauses und überredet ihn zu einer Ruhepause in ihrem Zimmer. Als Éric das Zimmer betritt und sich ins Bett legt, ist aus der Ferne rhythmisches Klatschen vernehmbar. Die Kamera wechselt nun zwischen Einstellungen, die Éric im Bett liegend zeigen und Bildern der tanarrangiert, dies betrifft allerdings nur die Musiken, die im Film in die Erzählwelt eingebunden und somit sowohl für die Protagonisten als auch für die Zuhörer vernehmbar sind. 208 Lac aux dames, Min. 01:38–02:58. 209 Siehe zum Begriff Stubenmusik beispielsweise Gerlinde Haid, Art. Stubenmusik, in: Oesterreichisches Musiklexikon (oeml) online, o. S. 210 Lac aux dames, Min. 1:13:35–1:14:30.

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zenden Gesellschaft im Gastraum. Das rhythmische Klatschen wird auf diese Weise visuell begründet und als Schuhplattler identifizierbar, der im Gastraum getanzt wird. Diese Zusatzinformation ist jedoch dem Zuschauer vorbehalten, da Érics Wahrnehmung aufgrund seiner Position im Zimmer oberhalb des Gastraums auf die fernen Klänge beschränkt bleibt.211 Auch das Finale des Films bedient sich dieser Interaktion zwischen Kamera und Musik. Puck fährt mit ihrem Boot über den See und ist zunächst nur aus einiger Entfernung zu erkennen. Gleichzeitig erklingt ein Lied, vorgetragen von einer hellen Frauenstimme. Für den Zuschauer ist in diesem Moment allerdings noch nicht erkennbar, ob Puck die Interpretin ist. Erst der Wechsel der Einstellungsgröße von der Totalen über die Halbtotale hin zur halbnahen Aufnahme veranschaulicht, das Puck selber singt und so ihren Gefühlen Ausdruck verleiht. Nachdem die Kamera die Situation aufgelöst hat, entfernt sie sich wieder mehr und mehr von der jungen Frau bis der Film schließlich in der Supertotalen endet.212 Während in den ersten beiden Beispielen Musik und Bild auch auf der Wahrnehmungsebene korrespondieren (Spiel mit Nähe und Distanz durch die Veränderung der Lautstärke und Betonung), bleibt die Dynamik des Schlussliedes unverändert. Dadurch potenziert sich der emotionale Gehalt der melancholischen Melodie. Die Wirkung wird auf diese Weise über den Handlungsrahmen hinausgeführt. Pucks Lied ist somit letztlich seiner konkreten Funktion im Film entbunden und gewinnt eine Präsenz, die unabhängig vom filmischen Kontext ist, in den es sich vordergründig einbettet. Die Etablierung des Liedes jenseits der filmischen Erzählwelt wird auf diese Weise begünstigt und bewusst vorbereitet. b. Atmosphärische Verdichtung durch Wiederholung und Variation Anders verhält es sich mit den weiteren Bestandteilen der Tonspur. Sowohl der Klangcharakter als auch der Einsatz differieren erheblich von den Elementen, die in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit der Handlung stehen. Dennoch geht die Funktion dieser Passagen weit über eine lediglich atmosphärisch verdichtende Wirkung hinaus. Als strukturstiftende Parameter generieren jene Sequenzen eine Verbindung zwischen den Bildern und schaffen Übergänge zwischen den einzelnen Szenen. Exemplarisch ist die Musik, die während der Suche nach Puck am Ende des Films erklingt.213 Eingeleitet wird die Szene von Naturaufnahmen, die eine Änderung der Wetterverhältnisse dokumentieren, gefolgt von dem Auffinden des Bootes und der Initiation der Rettungsaktion, in deren Verlauf Éric verunglückt und bewusstlos aus dem Wasser gezogen wird.214 Charakteristisch ist erstens der luzide Klangeindruck, der sich durch den gezielten Einsatz von Einzelklängen ergibt und zweitens der langsame Spannungsaufbau, der durch die Repetition von 211 212 213 214

Ebd., Min. 1:14:31–1:16:35. Ebd., Min. 1:33:05–1:34:00. Ebd., Min. 1:23:17–1:28:32. Ebd., Min. 1:23:25–1:23:34.

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ostinaten Figuren in den Streichern und aufsteigende chromatische Linien und Fugati in den Bläserstimmen erzielt wird. Zu den Naturaufnahmen ertönt eine Pendelfigur, die vom Klavier gespielt und zunächst vier Mal wiederholt wird, gefolgt von einem lang ausgehaltenen Ton in den Flöten. Die gesamte Phrase erklingt ein zweites Mal, diesmal jedoch mit sechsmaliger Wiederholung der Pendelfigur, auf die abermals ein lang ausgehaltener Ton folgt, nun in den Blechbläsern. Anschließend fängt die Kamera den kleinen Matz (Eugène Dumas) ein, der auf die Seebrücke rennt, um zu sehen, ob er Puck entdecken kann. Der Wechsel wird musikalisch durch einen Paukenwirbel angezeigt, der langsam an- und abschwillt und ein Donnergrollen assoziieren lässt. Anschließend kündigt erneut eine Pendelfigur die nächste musikalische Phrase an und bildet deren rhythmisches Fundament. Beginnend in den tiefen Streicherlagen werden jeweils sechs Töne umfassende Einheiten aufwärts geführt. Jede dieser Einheiten besteht aus zwei Wechselnoten, die einen zirkulären Gesamteindruck generieren und durch anhaltende Repetition zur Spannungssteigerung beitragen.215

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Abbildung 15: Zirkuläre Figur zur Spannungssteigerung, Lac aux dames, Min. 1:23:45–1:24:15.

Nach einem Schnitt auf Éric, der in seinem Zimmer sitzend registriert, dass Puck nicht zurückkommt („Puck n’est pas rentrée“) und beginnt, sich zu sorgen, unterbrechen aufwärts geführte chromatische Linien in den Flöten die Steigerung der Dramatik, bevor schließlich erneut die Ausgangsfigur der Phrase den Spannungsbogen fortsetzt, wieder beginnend in den tiefen Streicherlagen und gefolgt von den chromatischen Linien in den Flötenstimmen. Schließlich endet die Sequenz mit denselben Einzelklängen wie zu Beginn der Szene.216 Während Érics Suche nach Puck scheint ein weiteres Motiv vordergründig auf. Grundiert von tiefen Einzeltönen des Klaviers intonieren die Flöten und Streicher eine Melodielinie. Parallel dazu erklingt Pucks Stimme aus dem Off und bewirkt die eindeutige Zuordnung des Motivs zur Protagonistin. Der Fokus der Kamera liegt währenddessen auf Éric, bis schließlich der inhaltliche Höhepunkt der Szene 215 Ebd., Min. 1:23:30–1:24:15. 216 Ebd., Min. 1:24:18–1:25:18.

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erreicht wird und er ins Wasser springt, um auf dem Grund des Sees nach Puck zu suchen. Die Musik kündigt bereits bei Érics Sprung ins Wasser eine Veränderung an: Pucks Motiv bricht jäh ab und lang ausgehaltene schrille Einzelklänge in der Klavierstimme bilden das Fundament für aufwärts geführte Linien in den Flöten. Während visuell angedeutet wird, dass Éric untergeht (schlaffe Hände, die das Netz nicht mehr halten können; Luftblasen an der Wasseroberfläche), erklingt jene Sequenz, die zu Beginn der Szene während der Naturaufnahmen eingesetzt wurde.217 Diese Rahmung des Geschehens durch den planvollen Einsatz von Musik generiert einen in sich geschlossenen und konsistenten Gesamteindruck und schafft Übergänge zwischen dem heterogenen visuellen Material. Neben dem strukturstiftenden Einsatz der Musik unter Berücksichtigung des visuellen Materials ist aber auch die Anlage selber für diese zusammenhangstiftende Wirkung verantwortlich. Anders als die Montage einzelner Bilder aneinander unterliegt die Filmmusik hier keinem Prinzip der Reihung. Dennoch ist ein serielles Verfahren erkennbar, da über die gesamte Filmdauer dieselben Motive eingesetzt werden, jedoch nicht im Sinne einer leitmotivischen Anlage sondern als wiederkehrendes Nacheinander von eigenständigen musikalischen Einheiten. Die Sequenz, die während der Suche nach Puck erklingt, veranschaulicht diese Bauweise, da dasselbe Motiv zur Spannungssteigerung bereits zu Beginn des Films in einer stark beschleunigten Variante aufscheint.218 Puck rettet Éric während eines Unwetters aus dem See. Als sie mit ihrem Boot in das Bootshaus einfährt, setzt die ostinate Figur in den Streichern erneut ein, diesmal jedoch in demselben Tempo wie am Ende des Films.219 Erst nach erfolgreicher Reanimation des Geretteten wird die Phrase in eine Melodie überführt, die zunächst gesummt und kurz darauf erkennbar von Puck gesungen erklingt, bevor sie in Kombination mit der ostinaten Figur der Streicher von den Flöten interpretiert wird.220 Die strukturelle Anlage der Filmmusik tritt in dieser Szene klar hervor: Ein musikalisches Motiv ist als atmosphärisch verdichtendes Element eingesetzt. Anders als am Ende des Films fördert es jedoch nicht die Steigerung der Spannung. Vielmehr stellt die Passage hier eine Variation der vorhergehenden Sequenz dar, die mit schnellen ostinaten Pattern in den Bläserstimmen die Dramatik des Unwetters und die lebensgefährliche Situation von Éric im See illustriert. Die ostinate Streicherfigur greift die zyklische Anlage des vorhergehenden Motivs auf, wirkt jedoch aufgrund der Augmentation der Notenwerte sowie der Instrumentation in den tiefen Streichern ent-dramatisierend. Außerdem veranschaulicht die Überführung der nachfolgenden diegetisch gesetzten Melodie in eine Sphäre, die außerhalb der Erzählwelt liegt, die Verknüpfung musikalischer Einlagen mit den anderen Bestandteilen der akustischen Ebene. Auf diese Weise entfalten alle Elemente des Soundtracks eine Wirkung, die über die Koppelung an ein konkretes visuelles Geschehen hinausgeht. Ferner wird durch Verfahren der Repetition und Variation bei minimaler Veränderung der musikalischen Grundstruktur ein geschlossener akustischer 217 218 219 220

Ebd., Min. 1:25:20–1:27:35. Ebd., Min. 09:15–10:05. Ebd., Min. 10:05–12:16. Ebd., Min. 12:17–12:47.

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Gesamteindruck suggeriert, der das Tempo des Films maßgeblich mitbestimmt und der Montage der Bilder eine collageartige musikalische Faktur gegenüberstellt. c. Produktion und Rezeption Um die Zweiteilung der Filmmusik in Elemente, die entweder innerhalb oder außerhalb der Erzählwelt zu verorten sind, auf einer strukturellen Ebene nachvollziehen zu können, ist es notwendig, den Produktionskontext näher zu beleuchten. Zusätzlich zu Aurics Einsatz als Komponist fungierte Roger Désormière während der Produktion als musikalischer Leiter. Die beobachtete Aufteilung der akustischen Ereignisse, kann auch als Resultat aus Désormières Mitarbeit gelesen werden, da Nummern und populärmusikalische Elemente ausschließlich als Handlungsmusik aufscheinen und alle weiteren Sequenzen ausnahmslos außerhalb der Erzählwelt angesiedelt sind. Colin Roust stellt heraus, dass Auric nur drei Jahre nach Lac aux dames die Filmmusik zu Allegréts Gribouille (1937) gemeinsam mit Désormière entwickelte. Zudem entstanden zahlreiche andere Filmmusiken von Auric in jenen Jahren in Zusammenarbeit mit anderen Komponisten. Roust weist unter anderem auf Aurics Kooperation mit Vincent Scotto für La Rue sans joie (1938) hin, bei der Auric für die musique d’atmosphère und Scotto für die Tanz- und Gesangsnummern zuständig war.221 Auch wenn für Lac aux dames keine direkte Kooperation mit einem anderen Komponisten nachgewiesen werden kann, scheint eine Aufteilung in diese zwei Bereiche (musikalische Nummern / atmosphärische Musik) keineswegs untypisch gewesen zu sein. Eine umfassendere Mitarbeit von Désormière hinsichtlich der musikalischen Struktur im Film ist vor diesem Hintergrund denkbar und wird auch durch die Tatsache fundiert, dass beide Komponisten eng miteinander befreundet waren.222 Ob und inwiefern Désormière in seiner Rolle als musikalischer Leiter auch in gestalterische Prozesse eingebunden war, lässt sich aufgrund der mangelhaften Quellenlage zu diesem Film allerdings nicht erschließen. Die musikalische Gestaltung der extradiegetisch eingesetzten Passagen weist für diese Bestandteile eher auf ein autonomes Arbeiten von Auric hin. Diese Einschätzung kann jedoch nicht für die Gesangs- und Tanzeinlagen geltend gemacht werden, da diese aufgrund ihrer Einbindung in die Erzählwelt mehrheitlich an musikalischen Prototypen orientiert sind. Da Zeugnisse und Aussagen zur Beteiligung von Auric am finalen Produktionsprozess fehlen, kann letztlich nicht eruiert werden, inwiefern er eine Zweiteilung des musikalischen Materials in erstens musikalische Nummern, die diegetisch gesetzt sind und zweitens atmosphärische Musik, die ausschließlich außerhalb der Erzählwelt angelegt ist, befürwortete. Allerdings weist Roust für den gesamten Produktionsprozess eine enge Zusammenarbeit von Auric mit den anderen Beteiligten nach, die auch aufgrund der freundschaftlichen Beziehung von Auric zu Allégret 221 Vgl. Colin Roust, Sounding French, S. 125. 222 Vgl. ebd., S. 124 f.

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nahe liegt. Weiters vergleicht er die Arbeit an Lac aux dames mit der Kooperation bei Entrée des artistes und konstatiert, dass die Produktionsprozesse in den späten 1930er Jahren signifikant abweichen von der engen Zusammenarbeit während der früheren Produktionen – unabhängig davon, ob derselbe Regisseur (hier Marc Allégret) verantwortlich war.223 Dies ist insbesondere in Hinblick auf die Proklamation des Kollektiv-Ideals unter dem Front populaire erstaunlich, das sich in Bezug auf die Arbeitsweise beim Film offensichtlich nicht einlöst. Wenn Roust feststellt, dass die Zusammenarbeit an Entrée des artistes typisch für viele Filme von Auric ist, die während der Regierungszeit des Front populaire entstanden und dem Komponisten anstelle einer engen Kooperation mit dem Filmemacher (die Auric wünschte) nun eine „mere supporting role“224 zukam, so weist dies letztlich auf die Unabhängigkeit der Filmproduktion von kulturpolitischen Distinktionen hin und verdeutlicht, dass primär die Produzenten und Regisseure den Produktionsprozess individuell steuerten und die Arbeitsweise und damit die ästhetische Ausrichtung vorgaben. Diese Einschätzung wird fundiert, wenn man sich den Produktionskontext und die Rezeption des Films durch die Zeitgenossen erschließt. In der zeitgenössischen Presse wurde der Film nicht nur progressiv beworben, sondern auch für seine poetische Bildsprache und die Leistung der Darsteller (insbesondere die von Simone Simon als Puck) gefeiert.225 Dieser Umstand ist insofern bemerkenswert, als dass der Film nicht der Ästhetik folgte, die in den anderen Kassenschlagern bedient wurde und aufgrund seiner eigenwilligen Filmsprache als Vorläufer des Poetischen Realismus gilt. Lac aux dames sei „typical in its unusualness“, so Dudley Andrew, und wie die anderen 150 Filme, die 1934 produziert wurden, „the single venture of its producer“.226 Diese Aussage widerspiegelt das wirtschaftliche Klima, in dem sich der französische Tonfilm entwickelte. Gleichzeitig tritt mit Philippe de Rothschild ein Produzent in Erscheinung, dessen Bemühungen für den Tonfilm weit über ein rein ökonomisches Interesse hinausgingen. Mit seinem Vater Henri de Rothschild teilte er die Leidenschaft für das Theater, die Anlass für den Bau des Théâtre Pigalle in Paris war. Von seinem Vater als Hommage an seine Geliebte Marthe Régnier gedacht, lag die Verantwortung für die Konstruktion allein bei Philippe de Rothschild, der das modernste Theater der Welt bauen lassen wollte und nach der Eröffnung im Juni 1929 namhafte Persönlichkeiten wie Gaston Baty, Sacha Guitry oder Louis Jouvet auf und hinter die Bühne brachte.227 Dass sich Rothschild schon zu diesem Zeitpunkt für den Film 223 Vgl. ebd., S. 154. 224 Ebd. 225 Ein Beispiel für die umfassenden Werbemaßnahmen ist ein Preisausschreiben zum Film in der Zeitschrift Cinémagazine. Als erster Preis wurde eine Reise nach Tirol verlost, weiters ein Bild von Lazare Meerson, der für das Szenenbild verantwortlich war, sowie einzelne Romane und Gesamtausgaben von Vicki Baum. Siehe hierzu Cinémagazine 9 (14. Juni 1934), o. S. 226 Dudley Andrew, Mists of Regret, S. 189. 227 Dudley Andrew nennt in seiner Studie fälschlicherweise das Théâtre Athenée, das jedoch bereits 1893 eröffnet wurde und als Théâtre Athenée-Louis-Jouvet bis heute in der Rue Boudreau ansässig ist. Das Théâtre Pigalle von Philippe de Rotschild existierte hingegen von 1929 bis 1949 und lag in der Rue Pigalle. Louis Jouvet, der zwischen 1934 und 1956 das Théâtre Athe-

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begeisterte, zeigt auch die Architektur des Gebäudes. In der Zeitschrift Cinéma erschien im November 1929 ein Artikel, der betont, dass „le cinéma n’a pas été oublié dans ce palais féérique du spectacle moderne.“228 Vielmehr sei dem Film „le meilleur poste dans le plus beau théâtre“ zugedacht worden, der nun von Radio-Cinéma für den Tonfilm ausgebaut werde.229 Rothschilds Begeisterung für den Film gipfelte 1934 in der Produktion von Lac aux dames, die jedoch seine einzige Filmproduktion bleiben sollte. Bereits die Wahl des Drehorts verweist auf den enormen finanziellen Aufwand, den Rotschild für die Produktion in Kauf nahm. Laut Andrew steht dahinter der Wunsch „to influence the aesthetic direction of the cinema, especially in freeing it from its servitude to the stage“230, denn „For Rothschild, good cinema required a drama set in a natural environment that would allow the photography to influence the human words and actions. […] far from the moral and technical clichés of the Parisian studios.“231

Diese Bemühungen offenbaren sich als Lösungsstrategien in der Diskussion um Film und Theater, in der Rothschild keine Position vertritt, in der eine Entscheidung für oder wider des einen oder anderen Mediums getroffen werden will. Stattdessen stellt er alternative Konzeptionen vor, in denen er sowohl die Aufführungsmodalitäten auslotet als auch das spezifische Potential des Mediums Film bestärkt. Vor diesem Hintergrund erscheint Aurics Interesse an Lac aux dames weniger an dem Stoff als vielmehr an den besonderen Produktionsbedingungen und -möglichkeiten orientiert. Auch der durchschlagende Erfolg des Films im In- und Ausland ist eher das Ergebnis von Rothschilds offensiver Vermarktungsstrategie als das Zeugnis einer immensen ästhetischen Ausdruckskraft. Die Beliebtheit der Romanvorlage sowie die Attraktivität der Darsteller und der repräsentative Drehort dürften überdies dazu beigetragen haben, dass neben einer kulturellen Elite, die ästhetische Experimente befürwortete, auch ein breites Publikum angesprochen wurde, das primär an Theateradaptionen gewöhnt war. Die gezielte Bewerbung des Films im Vorfeld der Premiere und die geschickte Inszenierung der Hauptdarstellerin Simone Simon führten auch ein weniger kenntnisreiches Publikum an die ‚neue‘ Filmsprache heran. Was diese neue Filmsprache ausmachte, fasste Louis Jouvet in einem Beitrag für die Zeitung Excelsior zusammen, in dem er zunächst auf die schauspielerischen Qualitäten eingeht, um anschließend zu verdeutlichen, dass es nicht nur auf diese physische Komponente des Spiels ankomme, sondern der Rhythmus des Films und das Zusammenspiel aller beteiligten Komponenten ausschlaggebend sei für ein stimmiges Resultat:

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née leitete, war zuvor zwei Jahre der Direktor des Pigalle (1930–1932); ab 1932 zeigte das Pigalle vermehrt Filme. R. T. [= Robert Trévise?], Le cinéma dans le plus beau théâtre du monde, in: Cinéma (November 1929), o. S. Ebd. Dudley Andrew, Mists of Regret, S. 190. Ebd.

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II. „La musique pour le grand public“ (1934–1938) „c’est le rythme du film (et rythme ne signifie pas toujours précipitation), sa sensibilité constante et appropriée, la merveille de ses décors naturels, qui vous apportent cette impression de netteté et de pureté inaccoutumées. Tout est harmonieux, souple, enchaîne, lié de la plus émouvante façon à la délicieuse musique d’Auric, et c’est une des premières fois que l’écran m’a donné l’émotion tranquille et personnelle que seule me procure en général la lecture d’un roman ou la représentation d’une pièce de théâtre. Un heureux et poétique moment.“232

Jouvets Rezension verdeutlicht nicht nur die Notwendigkeit einer Ausdifferenzierung des Films gegenüber dem Theater, sondern verweist auch auf die Stellung, die Aurics Musik in Lac aux dames einnimmt. Indem er sie als verbindendes Element hervorhebt, das alle Komponenten miteinander in Beziehung setzt und zusammenhält, bekräftigt Jouvet die Eigenständigkeit von Musik im Gefüge des Films und betont deren strukturstiftende Eigenschaften jenseits eines dekorativen untermalenden Gestus’. Zu ähnlichen Bewertungen der Musik kommen auch andere Kritiker, etwa Bernard Houssiau, der feststellt, „Quant à la musique composée par Georges Auric, il serait injuste de ne pas en parler car elle est un adéquation totale avec les images et l’intrigue. Elle enveloppe le spectateur et l’entraîne dans les brumes élégantes du romantisme.“233

Auch André Cœuroy bespricht in der Gringoire das perfekte Zusammenspiel von Musik und Leinwand und kommt zu dem Schluss, dass Aurics Musik „la première réussite totale du film sonore“ sei.234 Daneben geht er auf die ästhetische Gestaltung des Films ein und wählt ähnlich wie Jouvet das Attribut pure, um die poetische Ausdruckskraft von Lac aux dames zu beschreiben. Auric habe „pour ce film de poésie pure“ eine Musik komponiert, „où le mélancolie – ainsi dans la cantilène de Puck – se nourrit de fraîcheur matinale, – où la joie populaire – ainsi dans les fanfares – s’affine de touches lumineuses.“235 Sowohl Jouvet als auch Cœuroy heben die Klarheit und Strahlkraft der Bilder hervor und propagieren damit ein ästhetisches Konzept, in dem der Inhalt gegenüber der Struktur eine untergeordnete Rolle einnimmt. Indem Cœuroy die Verbindung zum Konzept der poésie pure herstellt, gelingt es ihm, den Film in ein ästhetisches Programm einzubetten, das die ‚neue‘ Bildsprache legitimiert. Auric setzt er wiederum in den Kontext seiner Bühnenmusiken („L’auteur des Fâcheux, des Matelots, de la Pastorale“236), mit denen der Komponist in der Öffentlichkeit sicherlich auch 1934 noch vorwiegend assoziiert wurde. Auf diese Weise hebt er Aurics Professionalität hervor und wertet letztlich die Komposition von Filmmusik ganz im Sinne der Professionalisierung des Metiers auf.

232 Louis Jouvet, Miracle … Détente …, in: Excelsior (8. Juni 1934), S. 5. 233 Bernard Houssiau, o. T., zit. nach Carl Schmidt, The Music of Georges Auric III, S. 795. 234 André Cœuroy, Georges Auric, in: Gringoire (25. Mai 1934), zit. nach Carl Schmidt, The Music of Georges Auric III, S. 795. 235 Ebd. 236 Ebd.

7. Facetten von filmischem Realismus

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7. FACETTEN VON FILMISCHEM REALISMUS Neben der Proklamation einer Filmmusikästhetik seitens der Komponisten kennzeichnet den Filmdiskurs während der Regierung des Front populaire die Einführung eines spezifischen Realismus-Konzepts.237 Während den Sozialistischen Realismus der Sowjetunion die Reifikation des Proletariats kennzeichnete, versuchten die französischen Künstler ihre zerrüttete sozio-ökonomische Umwelt zu portraitieren. Vor dem Hintergrund der Stilisierung eines Gemeinschaftsideals durch den Front populaire ist dieser Unterschied insbesondere interessant, da nicht etwa eine Klasse (die Arbeiterklasse) im Zentrum der Debatte stand, sondern das Schicksal von Individuen, deren Hoffnungen und Träume durch die wirtschaftliche Situation zerstört wurden und die aufgrund ihrer ausweglosen Situation nun gegen die bestehende soziale Ordnung aufbegehrten.238 Die Konsequenz ist laut Colin Roust „the representation of a milieu, ideally one small enough to be contained in a single artwork, but large enough to exert a significant amount of control over characters’ lives.“239 Roust folgt hier den Ausführungen von Georges Sadoul, der 1936 in seinem Artikel À propos de quelques films récents den ‚kompromisslosen Realismus‘ als maßgebliches Attribut der jungen französischen (Film-)Schule definierte.240 Sadouls Entwurf eines ästhetischen Programms für den französischen Film basiert auf zwei Kategorien, die der Autor geschickt im Text installiert: das Soziale und das Nationale. Nach einer harschen Kritik an der französischen Filmindustrie, die laut Sadoul die Verantwortung trage für all die schlechten Filme, die in Frankreich produziert wurden und die eine „gigantic machine to bash one’s brain out“241 sei, geht er direkt dazu über, den französischen Filmmarkt in eine internationalere Perspektive zu setzen. Indem er fragt, „Hasn’t the American cinema these last couples of years given us productions in which the minds of the best directors have been replaced by those of Hays and Hearst?“242 kritisiert er die amerikanische Filmindustrie für die Durchsetzung des Hays Codes.243 Darüber hinaus prangert er die öko237 Die folgenden Ausführungen zielen nicht auf eine generelle Auseinandersetzung mit dem Begriff des Realismus in den Künsten ab, sondern beziehen sich ausschließlich auf das Realismus-Konzept, das im Film-Diskurs der 1930er Jahre präsent ist. 238 Vgl. Colin Roust, Sounding French, S. 120. 239 Ebd. 240 Vgl. Georges Sadoul, À propos de quelques films récents (1936), in: Commune 39 (November 1936), S. 372–379, zit. nach Richard Abel, French Film Theory and Criticism II, S. 220. 241 Ebd., S. 218. 242 Ebd., S. 219. 243 Die Richtlinien zur Herstellung von Spielfilmen, die vom Dachverband der US-amerikanischen Filmproduktionsfirmen (MPPDA) festgelegt wurden, sollten insbesondere die Darstellung von Kriminalität, Gewalt und sexuellen Inhalten reglementieren. 1934 wurde der Hays Code angesichts drohender Zensurgesetze seitens der Regierung verpflichtend für alle Filmproduktionsfirmen. Die offizielle Bezeichnung lautet Production Code; die umgangssprachliche Benennung als Hays Code geht auf Will H. Hays zurück, der sich nachhaltig für die Einführung einsetzte. Auch wenn der Code nie gesetzlich verankert wurde, hielten sich die Filmemacher wegen drohender Boykottierungen ihrer Filme bei Nichteinhaltung insbesondere durch die damals einflussreiche Catholic Legion of Decency an die Richtlinien oder fanden kreative Wege, derlei Szenen indirekt darzustellen (Gewaltszenen im Off u. ä.).

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nomische Fokussierung des Filmbetriebs an, die er im Medientycoon und Filmproduzenten William Randolph Hearst verkörpert sieht, der über 200 Filme produzierte und bis 1938 zudem Sympathien für den Nationalsozialismus und italienischen Faschismus hegte.244 Demgegenüber positioniert Sadoul den jungen französischen Film, der unabhängiger und freier mit den Sujets spiele und anstelle platter Nacherzählungen und historischer Rekonstruktionen die Handlung in Bezug zum Zeitgeschehen setze. Dieses Vermögen stellt er als Qualitätsmerkmal aller Künste heraus, denn: „The work of any artist who tries to construct his work about a cloudbank, by attempting to sever the ties which connect him to the realities of today, would collapse […].“245 Anschließend führt er aus, was den von ihm statuierten Realismus-Begriff ausmacht: „Realism implies an understanding of the world that is ours, an acknowledgment that this world contradicts the highest aspirations of man and particularly the engaged artist, a sense of revolt against the society which has produced this inhuman world, and hope in the people who wish to free mankind.“246

Diese Definition enthält alle Attribute, die bereits als Merkmale eines ‚neuen Geistes‘ von Apollinaire eingeführt wurden und das ästhetische Programm einer intellektuellen Elite prägten, die mit dem intellectuel engagé schließlich einen neuen Künstler-Typus ausbildete: die Annäherung von Kunst und Leben, das Alltägliche als Topos und Bezugssystem der Kunst sowie öffentliches Engagement als Form des Widerstands gegen das bestehende System. Die Konfrontation dieser vermeintlichen Neuerungen mit vormals geltenden Normen und Werten, die Sadoul durch Bezugnahme auf französische Filme von Marcel L’Herbier, Jean Epstein und Abel Gance vornimmt, kündigt die Verbindungen zur Vergangenheit jedoch auf und proklamiert auf diese Weise nicht nur neue ästhetische Ideale, sondern die Notwendigkeit einer Ablösung der vorherigen Protagonisten durch eine neue Generation. Mithilfe des Attributs des Realismus gelingt es Sadoul zugleich, das Nationale als Kategorie zu etablieren und in Bezug zur Regierung des Front populaire und zu seinem favorisierten ästhetischen Programm zu setzen. Zunächst verweist er darauf, dass die neuen Filmemacher als Konsequenz aus ihren ästhetischen Ansprüchen ihren Platz vermehrt „in the ranks of Ciné-Liberté“247 entdecken würden. 244 1933 produzierte Hearst den Film Gabriel Over the White House, in dem totalitäre Regime verherrlicht werden. In seinen Zeitungen veröffentlichte Hearst bis Mitte der 1930er Jahre Artikel von Mussolini und Hitler und publizierte auch eine Artikelserie von Hermann Göring. Erst im Nachgang zu den Progromen von 1938 vollzog er eine ideologische Kehrtwende und verurteilte die nationalsozialistische Doktrin und die Verbrechen der Nationalsozialisten öffentlich. Zu Hearst in den 1930er Jahren siehe beispielsweise Rodney Carlisle, The Foreign Policy Views of an Isolationist Press Lord: W. R. Hearst & the International Crisis, 1936–41, in: Journal of Contemporary History 9/3 (1974), S. 217–227; Ben H. Procter, William Randolph Hearst: The Later Years, 1911–1951 (2007) sowie zu Hearsts Rolle als Filmproduzent in Hollywood Louis Pizzitola, Hearst Over Hollywood: Power, Passion, and Propaganda in the Movies (2002). 245 Georges Sadoul, À propos de quelques films récents, S. 220. 246 Ebd. 247 Ebd.

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Gleichzeitig erklärt er, dass das Attribut des Realismus die Begründung sei für die Angst der faschistischen Presse vor der neuen Filmsprache.248 Anschließend führt er den Begriff des Nationalen ein, indem er den plakativen Nationalismus der deutschen Filmwelt rhetorisch ad absurdum führt: „Are those operettas from UFA really ‚national‘ where they’re always harping on the old story of Chemin du paradis, in New York decors? Is that pathos derived from Garmisch’s international spectacles, national?“249

Wie zu Beginn des Artikels setzt er darauffolgend zu einer Gegenüberstellung mit dem französischen Film an und stellt fest, dass die junge französische Schule, die ihre Inspiration weder in Le Jour250 noch im Dritten Reich fände, wahrhaftig nationale Werke geschaffen hätte: „[…] it has made French films which are genuinely French […] by drawing its inspiration from the people who are the very soul of the nation. It’s to the people that it has dedicated its realism, and they have supplied the characters for La Belle Équipe and Le Crime de Monsieur Lange.“251

In dem Ausschluss dieser beiden Filme von der Biennale in Venedig sieht Sadoul wiederum seine These bestätigt, dass „Fasicsm has quiet well understood the populist tendency of this school“.252 Die Verknüpfung zum kulturpolitischen Programm des Front populaire auf der einen Seite und zum Topos des Nationalen auf der anderen stellt Sadoul über mehrere Referenzebenen her. Indem er die ‚jungen‘ Filmemacher in der Produktionsfirma der Regierung (Ciné-Liberté) verortet, bindet er sie institutionell an den Front populaire. Mit seiner Definition des Realismus-Begriffs widerspiegelt er außerdem das kulturpolitische Programm einer Kunst ‚von den Menschen, für die Menschen‘.253 Diesen Anspruch verknüpft er wiederum – ähnlich wie schon Cocteau in Le coq et l’arlequin – mit der Propagierung eines genuin französischen Ideals, das sich nur durch die direkte Anbindung von der Kunst an den Menschen realisieren lasse. Die Abhängigkeit des Künstlers von den Menschen erklärt er auf diese Weise zum Ursprung aller Kunst, da die Bevölkerung als Inspirationsquelle diene. Die Inspiration ist wiederum keine austauschbare Komponente im künstlerischen Prozess, sondern der Ausgangspunkt allen künstlerischen Schaffens und demzufolge

248 Vgl. ebd., S. 221. 249 Ebd. Le chemin du paradis ist die französische Version von Die drei von der Tankstelle (1930) und wurde zur gleichen Zeit gedreht. In der französischen Fassung spielt Henri Garat die Rolle des Willy, während Lilian Cossmann auch in dieser Version von Lilian Harvey gemimt wird. 250 Die Zeitschrift Le Jour stand in Opposition zum Front populaire. 251 Georges Sadoul, À propos de quelques films récents, S. 222 [Hervorhebungen im Original]. 252 Ebd. 253 Vgl. zu der Phrase ‚Von den Menschen, für die Menschen‘ auch die Definition des Begriffs populaire in Kapitel I.7 dieser Arbeit. Die französische Übersetzung par le peuple, pour le peuple ließe sich treffender mit ‚vom Volk, für das Volk‘ übertragen. Dadurch kommt der populistische Ton ebenso wie der Topos des Kollektiven besser zum Ausdruck, der für den hiesigen Kontext relevant ist.

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eine absolute Notwendigkeit. Eine andere Kunst, als jene, die Sadoul in seinem Realismus-Konzept propagiert, scheint folglich nicht möglich. Das Nationale dient wiederum der Stärkung des politischen Programms. Indem Sadoul die französische Bevölkerung auf ihre Nationalität reduziert, definiert er das Nationale als Selbstverständlichkeit. Auf diese Weise grenzt er den Begriff gegenüber faschistischen Konnotationen ab und garantiert dadurch eine problemlose Integration in die antifaschistische Programmatik des Front populaire. Des Weiteren proklamiert er durch das hohe Identifikationspotential, das den Filmen wegen der realistischen Darstellung von Milieus und Charakteren innewohnt, die Internationalität des Konzepts: „through its remarkable realism, the young French school has created the milieux, character types, and works which will be recognized throughout the entire world and which will have – we are sure of this – the most profound influence on the evolution of the international cinema.“254

Mit dieser Einschätzung trifft er den empfindlichen Punkt der stark geschwächten französischen Filmindustrie und bietet eine Lösungsstrategie an, wie der französische Film trotz der Übermacht ausländischer Produktionen und der Monopolisierung der Tontechnik-Industrie wieder an Einfluss und damit auch an ökonomischer Stärke gewinnen könnte. Indem Sadoul die neue Filmsprache als ästhetisches Konzept einführt und sie letztlich als einzig mögliche Alternative positioniert, rechtfertigt er das Neue auch vor kritischen Rezipienten und fördert durch die Anbindung an die Ideale der Regierung zugleich die breite Akzeptanz seiner Strategien. Das Versprechen von internationalem Erfolg sichert wiederum die Fürsprache der Filmindustrie. Auf diese Weise lanciert er die Identifikation seiner Leserschaft mit einer neuen Ästhetik, unabhängig vom individuellen Geschmack. Die gezielte Steuerung des Publikums – und damit des Filmbetriebs – unter dem Deckmantel eines vermeintlich ästhetischen Programms ist hier eindrücklich dokumentiert. a. Entrée des Artistes (1938) Ein Beispiel, das diese ästhetische Programmatik während der Regierungszeit des Front populaire abbildet, ist der Film Entrée des artistes (1938), bei dem wie schon bei Lac aux dames Marc Allégret Regie führte. Beide Filme eint ihr realistischer Charakter, der für die Zuordnung zum stilistischen Tableau des von Sadoul konzipierten Realismus verantwortlich ist.255 Dieser realistische Charakter lässt 254 Georges Sadoul, À propos de quelques films récents, S. 223. 255 Colin Roust verwendet in seiner Studie konsequent den Terminus social realism. Im englischsprachigen Raum umfasst der Begriff social realism das hier beschriebene Phänomen, bezieht sich jedoch auf alle Künste. Eine deutschsprachige Alternative wäre eventuell der Begriff Neue Sachlichkeit, eine spezifische französische Übersetzung gibt es nicht. In dieser Arbeit rekurriert der Terminus auf Georges Sadouls Ausführungen zum Realismus in À propos de quelques films récents (1936) und ist somit ausschließlich auf den französischen Film während der Regierungszeit des Front populaire bezogen. Vgl. die Ausführungen zur Terminologie in Kapitel II.5 dieser Arbeit (insbesondere Fußnote 181, S. 140) sowie zu Sadoul Kapitel II.7.

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sich auf der visuellen, inhaltlichen und auditiven Ebene beider Filme anschaulich machen. In Lac aux dames scheint auf der visuellen Ebene bereits eine wesentliche Strategie auf, die Sadoul zwei Jahre später seinem Konzept als „principal merit of the young French school“256 einschreibt: die Ersetzung der Studiokulissen durch realistische Drehorte. Diese Neuerung beschreibt Sadoul plakativ als ein Aufbrechen der Szene, das vielfach als erste offensichtliche Abgrenzung des Films gegenüber dem Theater wahrgenommen wurde.257 Auch in Entrée des artistes ist durch die Vermischung von Studiokulissen und naturalistischen Drehorten eine Nähe zur Umwelt der Zuschauer gegeben. Inhaltlich ist der sadoulsche Realismus in der Darstellung verschiedener sozialer Milieus angelegt, die durch die Herkunft der Protagonisten in den Handlungskontext gesetzt und miteinander konfrontiert werden. Die Schlussfolgerungen, die Colin Roust aus der Darstellung der sozio-ökonomischen Verhältnisse zieht, sind jedoch verfehlt, da er die beiden Hauptdarstellerinnen verwechselt und seine Argumentation somit auf eine gänzlich andere Konklusion abzielt.258 Indem er die unglückliche Cécilia als Protagonistin aus einem sozialschwachen Milieu protokolliert und in der Kontrahentin Isabelle die wohlhabende Schauspielschülerin erkennt, verdreht er die Geschichte in ein Drama, an dessen Ende die sozialen Grenzen unüberwindbar scheinen – François verliebt sich in Isabelle und Cécilia inszeniert aus Eifersucht ihren perfiden Selbstmord, um letztlich Rache an François zu nehmen und ihn als ihren Mörder hinzustellen und somit ihrem und seinem Leben ein Ende zu setzen. Da aber nicht etwa Cécilia aus ärmlichen Verhältnissen kommt, sondern Isabelle, nimmt sich die Geschichte weit weniger ‚realistisch‘ aus, als Roust auf Basis seines Missverständnisses konstatiert. Stattdessen erscheint die aus ärmlichen Verhältnissen stammende Isabelle, die gezwungen ist, neben ihrer Schauspielausbildung in der Wäscherei ihres Onkels zu arbeiten, als Gewinnerin im Kampf um sozialen Aufstieg und die wahre Liebe. Auch die Figur von François, der zu Beginn als berechnender Gigolo inszeniert wird, wandelt sich durch seine Liebe zu der sozial niedrig gestellten Isabelle zu einem Protagonisten, der moralische und ethische Werte höher ansetzt als ökonomischen Erfolg oder Herkunft. Roust schlussfolgert: „Coecilia’s [sic] dreams are thwarted not by her lack of talent and professional ability, but rather by an inability to adopt the morals and priorities of her fellow students, all of whom are from a wealthier socioeconomic background than hers.“259

256 Georges Sadoul, À propos de quelques films récents, S. 219. 257 Vgl. ebd. Siehe auch die Filmkritik von Louis Jouvet zu Lac aux dames, die diesen Aspekt ebenfalls aufgreift. Vgl. Louis Jouvet, Miracle … Détente …, S. 5 sowie Kapitel II.6.c dieser Arbeit. 258 Sowohl in Rousts unveröffentlichter Dissertation als auch in seinem Artikel in der Musical Quarterly sind die Verhältnisse verdreht. Zwar weist Roust den Schauspielerinnen ihre korrekten Rollennamen zu, die Figuren selber vertauscht er jedoch. Demnach ist es immer noch Cécilia, die sich unglücklich umbringt, allerdings ist ihrer Figur der falsche soziale Hintergrund zugeordnet. Vgl. Colin Roust, Sounding French, S. 128 f. sowie ders. Reaching a plus grand public, S. 349 f. 259 Colin Roust, Sounding French, S. 129.

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Daraus schließt er folgerichtig auf ein realistisches Moment, das in der Handlung selbst angelegt ist. Tatsächlich ist jedoch das Gegenteil als Botschaft in die Handlung eingeschrieben, was auch im Schlussmonolog von Louis Jouvet deutlich wird. Anstelle der These, dass soziale Grenzen unüberwindbar seien und generell keinerlei Chancengleichheit in der Gesellschaft bestehe, apelliert der Film an den Zuschauer, in einer leistungsorientierten und auf ökonomischen Profit ausgerichteten Gesellschaft die Bedeutung moralischer und ethischer Werte nicht zu vergessen, die insbesondere im Milieu der ,kleinen Leute‘ hochgehalten würden.260 Der Handlung ist somit kein realistischer sondern vielmehr ein moralisierender Anspruch inhärent. Das realistische Moment, das Sadoul als Merkmal des neuen französischen Films ausmacht, zeigt sich in Entrée des artistes ebenso wie in Lac aux dames eher auf struktureller Ebene als in der Handlung, nämlich in der Zeichnung und Darstellung der Charaktere, in der ungeschönten Darstellung unterschiedlicher Milieus sowie in der Integration und Bespielung von Lebensräumen der Zuschauer. Neben den visuellen und inhaltlichen Strategien, auf die sich Sadoul bezieht, sind neue Verfahrensweisen auch in Bezug auf den Einsatz von Filmmusik erkennbar. Eine Tendenz, die sich für alle Filme feststellen lässt, an denen Auric während der Regierungszeit des Front populaire mitwirkte, ist der geringe Musikanteil der Produktionen im Vergleich zu den Filmen, die zu Beginn der 1930er Jahre entstanden. Die zwölf Einsätze in Entrée des artistes machen mit einer Dauer von insgesamt 25 Minuten nur 27 Prozent des 93-minütigen Films aus.261 Im Szenario für den Film ist Musik sogar nur an drei Stellen vorgesehen: erstens in der Szene, in der Gabriel Geige übt, zweitens während einer Tanzveranstaltung und drittens bei dem Auftritt der Polizeikapelle in einem Musikpavillon im Jardin du Luxembourg.262 Diese drei vorgesehenen Einsätze sind alle als Handlungsmusik in die jeweilige Szenerie eingewoben und erfordern nicht zwangsläufig neue Kompositionen. Sie fungieren jedoch nicht als abgeschlossene musikalische Nummern, sondern changieren zwischen einer Funktion als Klangkulisse und der direkten Interaktion mit den Protagonisten. Die Aussparung von Musik, die keinen ersichtlichen Mehrwert für die Wirkung des Films hat, ist ein Ausdruck der künstlerischen Bestrebungen, die der Konzeption eines neuen Realismus entgegen kommt. Dies drückt sich unter anderem auch in dem Verzicht auf Gesangs- und Tanznummern aus, sofern sie die Handlung unterbrechen und ihr Einsatz somit nicht zwangsläufig erforderlich ist. Anders als Lac aux dames enthält Entrée des artistes keine Gesangsnummern und lediglich an einer Stelle im Film diegetisch eingesetzte Tanzmusik, die im Rahmen einer Veranstaltung erklingt. Stattdessen dominiert Musik, die außerhalb der Erzählwelt steht und lediglich von der punktuell eingesetzten Handlungsmusik ergänzt wird, die primär den Ort des Geschehens belebt. Exemplarisch für diese Gestaltung sind die Szenen, die im Konservatorium spielen. Louis Jouvet leitet in seiner Rolle des 260 Das Drehbuch zum Film schrieb Henry Jeanson, der 1939 für seine pazifistischen Artikel in der Solidarité internationale antifasciste ins Gefängnis kam. 261 Vgl. die tabellarische Aufstellung in Colin Roust, Sounding French, S. 155. 262 Vgl. Entrée des artistes: Plaquette de présentation, BnF, Département des Arts du Spectacle [FOL-ICO CIN-1134].

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Monsieur Lambertin die Schauspielklasse der Hochschule.263 Während der Sitzungen dringen aus der Ferne Klänge übender Musikstudenten in den Raum. Jede Szene, die in der Klasse des Konservatoriums spielt, wird von den Tonleiterübungen untermalt, das jeweilige Instrument wechselt allerdings bei jedem Einsatz. Die Reaktionen der Protagonisten auf diese Geräuschkulisse fallen unterschiedlich aus: Einmal thematisiert Jouvet die Klänge, indem er sich bei seinen Studenten nach der Ursache erkundigt, ein anderes Mal werden sie von niemandem beachtet. Diesem Einsatz von ortsgebundener Musik entspricht das Geigen-Motiv, das an drei signifikanten Stellen des Films eingesetzt ist. Die Wirkung der prägnanten Sequenz geht allerdings weit über eine Illustration oder Ausschmückung des Visuellen hinaus. Erstmals erklingt das Motiv im ersten Drittel des Films, als der wohlhabende und begabte Schauspielschüler und Frauenheld François Polti nach einem Kneipenabend zu seinem Apartment zurückkehrt. Ihm gegenüber wohnt der junge Geiger Gabriel, der gerade ein Stück einstudiert. Der selbstbewusste François applaudiert der Musik, woraufhin Gabriel die Tür aufreißt und sich – einigermaßen überfordert mit seiner derzeitigen Lebenssituation – bei seinem Nachbarn über seine Leistung auslässt, die er selber als ungenügend reflektiert und aufgrund derer er sich jegliches musikalisches Talent abspricht.264 Ebenso wie bei ihrem erstmaligen Erklingen ist die lyrische Geigenfigur auch beim zweiten Einsatz als Handlungsmusik in die Szene integriert. François ist in seinem Zimmer angekommen und gönnt sich ein Fußbad. Im Nachbarapartment fährt Gabriel mit dem Üben fort, was in François’ Wohnung deutlich vernehmbar ist. Kurze Zeit später bekommt François Besuch von seiner Geliebten, der wohlhabenden und verwöhnten Cécilia. Nach einer kurzen Unterbrechung setzt Gabriel erneut an. In der Zwischenzeit hat sich eine Diskussion zwischen François und seiner Geliebten über den weiteren Verlauf ihrer Affäre entsponnen. Während Cécilia, die in François verliebt ist, auf eine Beziehung hofft, sieht dieser in ihr nur eine unverbindliche Affäre, die er aufgrund der Diskussion postwendend beendet. Cécilia bemerkt die melancholische Musik, die sie in ihrer Traurigkeit über die Aussichtslosigkeit ihrer Liebe zu François emotional berührt. Nachdem sie sich bei 263 Louis Jouvet spielt sich in dieser Rolle selbst. Die Nebenrollen wurden außerdem von seinen Schauspielschülern besetzt. Auch dieser Aspekt verdeutlicht die Motivation, in Filmen möglichst realistische Gesamtsituationen zu erzeugen. Dass der Schauspieler offensichtlich in einer engen Beziehung zur Filmwelt stand, zeigt bereits seine Renzension zu Lac aux dames in der Excelsior. Ein weiterer Aspekt schärft diese Perspektivierung: Jouvet fungierte zwar nie als Filmemacher, arbeitete als Schauspieler zwischen 1934 und 1940 jedoch ausschließlich mit namhaften Regisseuren zusammen (Carné, Chenal, Feyder, Duvivier, Pabst, Renoir). Für seine Theaterproduktionen in den 1920er Jahren griff er auf einen festen Komponisten-Stamm zurück, der neben Auric aus Darius Milhaud, Maurice Jaubert und Francis Poulenc bestand – alle vier sollten wenige Jahre später Filmmusik schreiben. Auric komponierte die Bühnenmusik zu Marlborough s’en va-t’en guerre (1924) und Le mariage de Monsieur le Trouhadec (1925). Überdies war Jouvet der Mentor von Jean-Pierre Aumont, der in Lac aux dames die Hauptrolle des Éric Heller spielte. Demnach lässt sich in Louis Jouvet der filmbegeisterte Theatermann ausmachen, der ebenso wie Philippe de Rothschild seinen Einfluss nutzte, um auch einem kritischen Theaterpublikum das Medium Film nahe zu bringen. Siehe zu Jouvets Rolle als Theatermann in der Filmwelt beispielsweise Dudley Andrew, Mists of Regret, S. 144 f. 264 Entrée des artistes, Min. 17:30–18:26.

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François erkundigt hat, woher die Musik kommt und dieser die Situation auflöst und ihr nun den Geiger vorstellen möchte, endet die Musik und damit Cécilias Emotionalität. Sie verlässt zügig das Haus und lässt François und Gabriel zurück.265 Die Musik ist hier auf dieselbe Art und Weise eingesetzt wie in den Szenen im Konservatorium. Als illustrierender Effekt bereichert sie die Szenerie um eine naturalistische Geräuschkulisse. Darüber hinaus verstärkt sie die Nachvollziehbarkeit der Passage durch die Verankerung in der Handlung und die spielerische Interaktion der Protagonisten. Nur in Verbindung mit der akustischen Sphäre können die Zuschauer räumliche Zusammenhänge erkennen und gleichzeitig den emotionalen Subtext begreifen, der in der Figur der Cécilia angelegt ist. Der dritte Einsatz des Geigen-Motivs unterscheidet sich signifikant von den ersten beiden. Nach dem Schlussmonolog von Louis Jouvet erklingt das Stück in einer extendierten Version und in symphonischer Besetzung. Nur für die Zuschauer vernehmbar, fungiert es nun als dramatische Schlussmusik des Films, die den Professor auf seinem Weg aus dem Theater hinaus in die ‚wirkliche‘ Welt begleitet.266 Die Transformation der Phrase von einer handlungstragenden, diegetisch gesetzten szenischen Musik in die Schlussmusik betont die Architektur des Films und trägt zu einem geschlossenen Gesamteindruck bei, der vom Klangcharakter des Motivs definiert wird. Durch die schrittweise vollzogene Fortsetzung der Figur – von einigen Takten beim ersten Einsatz, über die Weiterentwicklung der Melodie beim zweiten Erklingen hin zur Vollversion des Stücks in großer Besetzung – wird zunächst eine langsame Steigerung der Dramatik erzielt, die sich in der Schlussmusik entlädt. Vergleicht man das Geigen-Motiv mit weiteren Sequenzen, in denen Aurics Musik erklingt, fällt zudem auf, dass es gänzlich anders gestaltet ist. Aufgrund seiner Doppelfunktion im Film ist es als gut zu erinnerndes Motiv gearbeitet, das durch die virtuose Melodieführung, dissonante Schärfungen und die Kombination unterschiedlicher Spieltechniken sowie den regen Wechsel zwischen einstimmigen und mehrstimmigen Passagen als Beispiel für ein technisch ambitioniertes Lehrstück aus dem Geigenrepertoire dienen kann, das an der Institution Musikhochschule vermittelt wird. b. Dynamisierung von Bildern durch Musik Die restliche Filmmusik von Entrée des artistes ist nicht in die Erzählwelt eingebettet. Sie figuriert entweder als Atmosphäre stiftendes Element oder dynamisiert das visuelle Geschehen. Zusätzlich wird sie zur Steigerung der Dramatik gegen Ende des Films eingesetzt wie die folgende Szene zeigt. Cécilia ist eifersüchtig auf die neue Freundin von François. Die schöne Isabelle stammt aus dem Arbeitermilieu und konnte den Besuch der Schauspielschule nur mithilfe von Monsieur Lambertin (Louis Jouvet) durchsetzen, der ihren Onkel davon überzeugt, Isabelle von ihren Pflichten in der Wäscherei zu entbinden und zum Unterricht gehen zu lassen. 265 Ebd., Min. 18:34–20:11. Nach einer kurzen Unterbrechung erfolgt die Fortführung der Melodie bis zum Ende der Szene. Vgl. ebd., Min. 21:00–22:00. 266 Ebd., Min. 1:31:25–1:32:10.

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Für Cécilia ist völlig unverständlich, warum François das einfache Mädchen ihr gegenüber vorzieht und so initiiert sie eine Reihe von Intrigen, um das verliebte Paar gegeneinander auszuspielen. Nachdem sie François unter einem Vorwand zum Abendessen in ihr Anwesen gelockt hat, der Abend allerdings nicht nach ihren Vorstellungen verläuft, plant sie das nächste Manöver, um François für sich zu gewinnen. Während Cécilia in ihrem Zimmer einen hinterlistigen Plan ausarbeitet, erklingt eine Musik, die sowohl in der melodischen Gestaltung als auch in der strukturellen Anlage jener Sequenz ähnelt, die in Lac aux dames die dramatische Suche nach Puck begleitet.267 Hier wie dort bewirken aufsteigende Linien in Kombination mit ostinaten Figuren, die beständig repetiert werden, eine Verdichtung der Atmosphäre. Die zyklische Anlage der gesamten Episode sorgt überdies für eine langsame Steigerung der Spannung, die nicht aufgelöst wird und auf diese Weise sowohl die bedrohliche Atmosphäre als auch das Voranschreiten von Zeit in die visuell wenig bewegte Szene transportiert. Eine weitere Form der Dynamisierung von Bildinhalten über Musik veranschaulicht die vorausgehende Szene, in der François zu Cécilias Anwesen chauffiert wird.268 Die gesamte Autofahrt ist mit einer Musik besetzt, die das Moment des Fahrens musikalisiert. Maßgeblich verantwortlich für den ‚bewegenden‘ Ausdruck der Episode ist der zugrundeliegende Rhythmus, der von Klanghölzern geschlagen wird, deren trockener Klangcharakter die Monotonie und Regelmäßigkeit dieses Fundaments betont. Die darüber liegenden Figuren stehen in keinem Bezug zueinander, sondern sind als eigenständige Bausteine aneinander gereiht. Dennoch resultiert aus der Negation einer sich entwickelnden Struktur kein statischer Gesamteindruck. Stattdessen erzielen die Repetition der einzelnen Motive und die Wiederholungsmuster innerhalb der Figuren einen mechanischen Effekt, der das Fahren als Bewegung akustisch simuliert. Dabei umfasst eine Figur jeweils nur wenige Takte und wird immer mindestens ein Mal wiederholt. Die ganze Sequenz dauert nur eine Minute und ist exakt mit dem Bildgeschehen abgestimmt. Das Auto erreicht die Einfahrt zum Anwesen nach der Hälfte der Zeit und mit dem Ende des ersten Durchlaufs der Musik.269 Nachdem das Auto die Zufahrt passiert hat, beginnt die Phrase erneut und endet erst als der Wagen vor dem Anwesen zum Stehen kommt. Die exakte Choreographie von auditivem und visuellem Material bewirkt die Koppelung der verschiedenen Ebenen aneinander, die nur durch den Verzicht auf einen sich entwickelnden Gestus in der Musik ermöglicht wird. Durch die repetitive Struktur der einzelnen Figuren und den gleichbleibenden Rhythmus ist eine größere Flexibilität in der Kombination mit dem Bildmaterial möglich, da es keinen definierten Anfang und kein festgelegtes Ende der Musik gibt und die Phrase theoretisch ewig weitergeführt werden könnte. Fasst man diese Anlage auf einer abstrakteren analytischen Ebene, ließe sich hier eine Erweiterung der Definition des statischen Moments andenken, die sich als Weiterentwicklung der Kompositionspraxis 267 Ebd., Min. 1:06:47–1:07:50. Zu Lac aux dames vgl. Kapitel II.6.b dieser Arbeit. 268 Ebd., Min. 59:02–59:57. 269 Ebd., Min. 59:30.

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von Erik Satie ausnimmt und letztlich bereits auf Konzepte wie die Minimal Music des 20. Jahrhunderts hindeutet. Ein weiteres Beispiel für die Dynamisierung von Bildinhalten ist die Vorspannmusik, die in Variationen über die gesamte Dauer des Films wiederkehrt. Sie besteht aus zwei musikalischen Themen, die miteinander kontrastieren: ein treibendes Thema in den Holzbläsern und Geigen und ein langsameres Thema, das von den Blechbläsern intoniert wird.

œ œ œ >œ œ œ œ œ œ œ >œ œ œ œ œœœ œœ # # 2 >œ œ œ œ J ‰ & 4 Abbildung 16: Thema 1 der Vorspannmusik, entrée des artistes, Min. 00:14–01:40.

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Abbildung 17: Thema 2 der Vorspannmusik, entrée des artistes, Min. 00:14–01:40.

Colin Roust erkennt sowohl in der formalen Anlage als auch in Melodie und Harmonie Ähnlichkeiten zu Aurics Ouverture.270 Sie entstand 1938 als Auftragswerk anlässlich der französischen Premiere von Shostakovics fünfter Sinfonie, was sie laut Roust zu einem idealen Beispiel für den künstlerischen Ansatz von AEAR und FMP macht.271 Tatsächlich ist mit dem Auftraggeber ein Organ benannt, das in direkter Verbindung zur Regierung steht: der Verlag Chant du monde, der sowohl das Konzert organisierte als auch die Partitur veröffentlichte. Der Entstehungskontext und -zeitpunkt legt eine Verbindung zur Eingangssequenz von Entrée des artistes zwar nahe, allerdings resultiert die Diagnose von „populist elements“272 in der Ouverture, die durch die damaligen Kritiker getroffen wurde und auf die sich auch Roust bezieht, nicht zwangsläufig aus einer musikalischen Motivation und reflektiert nur bedingt die Faktur des Stücks. Indem Roust feststellt, dass die Musik „no longer relies on finesse and inside jokes to reach an elite audience“273 und auch nicht auf traditionelle Formen oder „emotional signs of German Romantic music“274 zurückgreift, wählt er einen ähnlichen Zugang zu der Komposition wie die von ihm bemühten Kritiker Chamfray und Kochnitzky. Dadurch schreibt er der Musik einen populistischen Tonfall ein, ohne generelle Kompositionsstrategien von Auric zu berücksichtigen. Betrachtet man die kompositorische Anlage hingegen jenseits ideologischer Aspekte, stellt sich heraus, dass mit der Verwendung von ostinaten und repetitiven 270 271 272 273 274

Vgl. Colin Roust, Sounding French, S. 155. Vgl. ebd., S. 146. Ebd., S. 150. Ebd. Ebd.

©

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Pattern, die einen treibenden Charakter hervorrufen und den dazu kontrastierenden Melodielinien bereits in den ersten Takten bestimmende Elemente von Aurics Kompositionen der 1920er Jahre aufscheinen, die seine Bühnenmusiken ebenso kennzeichnen wie die frühen Filmmusiken. Unabhängig von einer möglichen Bezugnahme Aurics auf das Material der im selben Jahr entstandenen Ouverture in Entrée des artistes sind es jene kompositorischen Spielarten, die sich als charakteristische Elemente in der Großzahl seiner Kompositionen wiederfinden. Tatsächlich rufen die repetitiven, ostinaten Sechzehntel-Figuren, in Kombination mit dissonanten Schärfungen in den Blechbläserstimmen sowie die kontrastierende Anlage, die sich aus der Aneinanderreihung voneinander unabhängiger Bausteine musikalischen Materials ergibt, Assoziationen zu den kompositorischen Konzepten der vormaligen Avantgarde um Erik Satie hervor. Dass Auric weder auf tradierte Formmodelle zurückgreift noch eine elitäre Tonsprache bemüht, ist in Anbetracht dieser breiteren Kontextualisierung jedoch keine Konsequenz aus seiner politischen Haltung in den 1930er Jahren. Vielmehr entsprechen auch Aurics Kompositionen unter dem Front populaire den ästhetischen Idealen, die er in jungen Jahren ausbildete und die den Grundstein für seine Kompositionsstrategien legten. Seine Musiken sind vor diesem Hintergrund nicht als Ergebnis einer Transformation politischer Ideale in eine künstlerische Ausdrucksform zu verstehen. Stattdessen steht das Erreichen eines größeren Publikums mit derselben Musik im Vordergrund, die zuvor nur einem begrenzten elitären Zirkel zugänglich war. Dies zeigen die vielfältigen Bemühungen zur Popularisierung der eigenen Musik als „Musique pour le grand public“.

EPILOG „Auric, premier compositeur de musique de films de notre temps; Auric, qui se place parmi les musiciens du XXe siècle ayant fait le plus pour la vitalité de l’art du ballet; Auric, qui rêve de musique absolue chaque fois que la vie et son travail de musicien avant tout ,fonctionnel‘ lui en laissent le loisir, et qui a déjà prouvé plus d’une fois que ses ambitions, en la matière, étaient pleinement justifiées; cet Auric si multiple, si divers, mais dont la musique colle toujours à l’homme et à la vie, ne pouvait pas ne pas caresser un jour le rêve de composer un opéra.“1

Mit diesem überschwänglichen Abgesang auf Auric und seine Bedeutung für die französische Musikgeschichte endet Antoine Goléas 1958 erschienene Biographie über den Komponisten. Goléa zeichnet hier das Portrait eines verkannten Musikers, der sich seinen Traum, Absolute Musik zu schreiben, nur erfüllen konnte, sofern es ihm seine knapp bemessene Freizeit und seine Lebensumstände gestatteten und dem es überdies vergönnt war, eines Tages doch noch eine Oper zu komponieren. Zwar würdigt Goléa Aurics Verdienste auf dem Gebiet der ‚funktionalen‘ Musik für Ballett und Film, indem er ihn als ersten Filmmusikkomponisten „de notre temps“ darstellt, der zudem ‚das Meiste‘ für die Vitalität des Balletts getan habe. Dass sich Auric jedoch freiwillig für die Komposition von Bühnen- und Filmmusiken entschieden haben könnte und kein Opfer seines eigenen Lebensweges war, kommt dem Autor nicht in den Sinn. Aus dieser Einordung spricht die eingangs dieser Arbeit diagnostizierte Geringschätzung gegenüber audiovisuellen Darbietungsformen und Genres, die nicht unter dem Topos der Absoluten Musik subsumiert werden können. Über Aurics Werke ist damit genauso wenig in Erfahrung zu bringen wie über den Komponisten, stattdessen verweist die Äußerung auf die Entstehungszeit der Biographie Ende der 1950er Jahre. Der zweite Aspekt der in Goléas Skizze hervorsticht, ist die Reflexion über Auric als „multiple“ und „divers“, die mit der Haltung konfrontiert wird, dass seine Musik stets an das Leben und die Menschen gebunden sei. Mit den Begriffen (multiple und divers) bringt er zwei Assoziationen ins Spiel, die als allgemeine Merkmale der Werke und des Komponisten gelten. Dass Goléa diese Merkmale in Opposition zu einer Haltung stellt, die Kunst als genuinen Bestandteil des Lebens begreift und sich im Zuge dessen an den Menschen wendet, ist ebenso wie die Gegenüberstellung von Kunstmusik und ‚funktionaler‘ Musik ein Beispiel für das Wertesystem, das Goléas Interpretation zugrunde liegt. Überdies deutet der letzte Gesichtspunkt auf eine gut kaschierte Leerstelle in der Auric-Forschung: Zwar ist die Vielseitigkeit und Offenheit Aurics unbestritten, die Ursachen und Auswirkungen dieser Vielfalt und Flexibilität liegen jedoch im Dunkeln. Dieser Arbeit lag die Auffassung zugrunde, dass die Vielfalt der Erscheinungsformen, die Auric bediente und die Diversität der ideellen und ästhetischen Konzepte, die er aufgriff, das Ergebnis einer fortwährenden Auseinandersetzung mit seiner eigenen Lebenswelt und -zeit sind. Fundiert wurde diese These durch die 1

Antoine Goléa, Georges Auric, S. 42.

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Epilog

Beobachtung, dass Auric in den Diskursen seiner Zeit keine bestimmten Positionen einnahm beziehungsweise sich immer wieder neu positionierte. Demgegenüber stand jedoch die Feststellung, dass seine Musiken bei aller Heterogenität der Genres, die er bediente, auf den ersten Blick unverändert blieben. Mehr noch trat in der konkreten Auseinandersetzung mit den Kompositionen nicht etwa eine gestalterische Vielfalt zu Tage, sondern eindeutig identifizierbare Kompositionsstrategien, die Genregrenzen und Gattungskonventionen zu umschiffen scheinen. Diese Strategien lassen sich in drei Eigenschaften zusammenfassen, die allen hier untersuchten Musiken innewohnen: Kontrast, Variation und Wiederholung. Besonders deutlich treten diese Prinzipien in seinen Arbeiten für den Film hervor, da hier das Augenmerk auf die Struktur der Musik gelenkt wird, bedingt durch die Wechselwirkung, die sie mit dem Filmbild eingeht. Der Kontrast bezieht sich dabei nicht etwa auf kontrastierende Passagen innerhalb eines größeren Gesamtzusammenhangs. Vielmehr betrifft er die Architektur, die eine Bauweise favorisiert, die aus nebeneinander stehenden, autonomen Bausteinen musikalischen Materials besteht, die beständig repetiert werden. Der Parameter des Kontrasts erweist sich somit als übergeordnetes Strukturprinzip, das die Verwendung divergierender Materialien ebenso erlaubt wie die Verfremdung konventioneller Bestandteile. Aus dieser Flexibilität, die aus dem bewussten Verzicht auf sich entwickelnde Strukturen resultiert, erwächst das Potential von Aurics Musik für Filmund Bühnenwerke. Durch die Rekapitulation des ästhetischen Konzepts des Esprit nouveau konnte zudem ermittelt werden, dass die Verwendung kontrastierender Bausteine musikalischen Materials in den Filmmusiken auf einer Idee beruht, die sowohl seinen Balletten der 1920er Jahre als auch den Instrumental-, Bühnen- und Filmmusiken der 1930er Jahre inhärent ist: die De-konstruktion und Re-kontextualisierung musikalischer Topoi. Diese Strategie, für die hier der Begriff der Variation gewählt wurde, verweist auf Aurics Nähe zu einem ästhetischen Programm, dem Vieldeutigkeit als Ergebnis einer neuen Sicht auf die Welt eingeschrieben ist. Davon ausgehend jedoch auf eine Beliebigkeit in der Wahl der Mittel schließen zu wollen, wäre verfehlt. Im Vordergrund steht nicht etwa die Ersetzung vormaliger Konventionen sondern deren Umdeutung und Transformation in der neuen Zeit. In diesen Horizont passt sich die Klaviersonate F-Dur ein, die in der Regel als Zäsur im Œuvre des Komponisten begriffen wird weil er sich nach dem Misserfolg vorwiegend der Komposition von Filmmusik zuwandte. Die Analyse der Sonate unter ästhetischen Gesichtspunkten im Zusammenspiel mit der Rekonstruktion des Aufführungsrahmens führte jedoch zu einer gänzlich anderen Einschätzung, die aufschlussreich ist für die Verortung von Auric in den 1930er Jahren: Nicht die kompositorischen Strategien verändern sich, sondern der Kontext, in den die Werke eingebunden sind. Die Organisation des musikalischen Materials erfolgt hingegen ebenso wie die Wahl der Mittel in einer Weise, die seiner Musik einen hohen Wiedererkennungswert beimisst und bereits in den Kompositionen der 1920er Jahre voll ausgeprägt war. Seine Ausbildung in den etablierten Institutionen der Pariser Musikwelt und die damit verbundene Kenntnis um den musikalischen Kanon des offiziellen Konzertbetriebs kommt hier ebenso zur Geltung wie seine Sozialisation

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in den Pariser Avantgarde-Zirkeln der Zwischenkriegszeit und sein Interesse an populären und medialen Erscheinungsformen von Musik. Vor diesem Hintergrund erweist sich eine Ausdifferenzierung des Begriffs der Vielfalt in Bezug auf Aurics Werke als angebracht. Hier zeigt sich weniger die Bemühung unterschiedlicher Genres und Gattungen als wegweisend, sondern die Einbettung der eigenen Musik in unterschiedliche musikalische und mediale Formationen und Kontexte, ohne etwaige Konventionen oder ästhetische Grenzen zu berücksichtigen. Diese unkonventionelle Haltung widerspiegelt das ästhetische Ideal einer Künstlergeneration, die sich bewusst für eine Entgrenzung von Kunst und Leben einsetzte und das Kunstverständnis vorheriger Epochen durch einen Zugang ersetzte, der mitunter als „Paradigmenwechsel des 20. Jahrhunderts“2 bezeichnet wird. Die ästhetischen Prämissen dieses Wechsels artikulieren sich in der Betonung des Handwerks vor der Kraft der Inspiration und in der Entdeckung des Zuschauers. Beide kommen in Aurics Werken ebenso wie in seinen Schriften zum Vorschein und kulminieren in der Forderung, Musik für ein möglichst großes Publikum schreiben zu wollen. Diese Forderung war keineswegs uneigennützig und resultierte auch nicht aus einem ideologischen Sinneswandel unter dem Front populaire, wie die vorgenommene Kontextualisierung ab Mitte der 1930er Jahre zeigt. Aurics Appell „La Musique pour le grand public“ bildet ab, was die Rekonstruktion des persönlichen Netzwerks in ihrer Verzahnung mit den politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen ans Licht brachte: Nicht die Anpassung der Musik an den Publikumsgeschmack, sondern die Prägung des Publikumsgeschmacks durch die eigene Musik wird mittels der Phrase ‚Die Musik für ein großes Publikum‘ gefordert. Dass hinter dieser Bestrebung nicht nur ein erzieherischer Impetus steckt, wie ihn Colin Roust aufgrund von Aurics Bezug zum Front populaire konstatiert, wird ebenfalls anhand des Verhältnisses zur Filmwelt plausibel: Erstens forcierte Auric bereits nach der Zusammenarbeit mit Cocteau an Le sang d’un poète und durch das Zusammentreffen mit René Clair die Adressierung breiter Publikumsschichten – die negative Aufnahme seiner Klaviersonate von jenen elitären Kreisen, die in den Konzertgesellschaften vertreten waren, dürfte diese Haltung befördert haben. Zweitens basiert die Auftragslage von Auric auf seinen alten Seilschaften und nicht auf neuen Allianzen, die sich durch die Bezüge zur neuen Regierung ergeben hätten. Drittens war die französische Filmindustrie in den 1930er Jahren nicht an Institutionen des Front populaire gebunden. Im Gegenteil, die von der Regierung gegründete Produktionsgesellschaft (Ciné-liberté) hatte einen marginalen Stellenwert im französischen Filmbetrieb und war aufgrund der ästhetischen und politischen Leitlinien zudem auf die Produktion von Dokumentationen fokussiert. Viertens erfolgte die Proklamation einer ästhetischen Neuausrichtung seitens der jungen französischen Schule aufgrund der immer notwendiger erscheinenden Abgrenzung gegenüber ausländischen Produktionen. Da die französische Filmindustrie praktisch zerfallen war und der Filmmarkt von ausländischen Produktionen überschwemmt wurde, erschien die Statuierung einer eigenen Filmsprache als einzige Möglichkeit zur Erhaltung des französischen Films. 2

Jens Rosteck zit. in Kapitel I.4, S. 25 in dieser Arbeit.

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Auch die Involvierung von Auric in die Institutionen des Front populaire verweist auf eine übergeordnete Motivation, die hinter dem vordergründig suggerierten politisch-ideologischen Beweggrund steht. Von Auric und seinem Umfeld wurde die Reformierung des Kunst- und Kulturbetriebs begrüßt, da sie die etablierten Strukturen generell aufbrechen wollten – erinnert sei an die polemischen Spitzen, die bereits Satie gegen das Pariser Establishment setzte ebenso wie an Aurics Kritik der Strukturen des Konservatoriums und der Programme des Opern- und Konzertbetriebs. Insbesondere die Fokussierung auf diese Strukturen reflektiert das Ideal einer umfassenden Neuordnung der musikalischen Welt, das auch hinter Konzepten wie dem Esprit nouveau, dem Surrealismus oder dem Neoklassizismus steht. Dass der Front populaire Mitte der 1930er Jahre eine großflächige Erneuerung der kulturellen Welt zum zentralen Aspekt seines politischen Programms erhob, spielte Auric und seinen Zeitgenossen sowohl auf der institutionellen Ebene als auch in Bezug auf Aufführungsmöglichkeiten und die Etablierung ihrer eigenen Musik zu. Nicht ohne Grund engagierte sich beinahe die gesamte Riege der Nouveaux jeunes im Rahmen der neu gegründeten Institutionen. Ebenso wenig wie sich die Verteidigung der eigenen Werke vor diesem Hintergrund als national-ideologisch motiviert zeigt, erweist sie sich als politisch-ideologisch konnotiert. Vielmehr steht die Popularisierung der eigenen Kompositionen im Vordergrund, die Auric sowohl über die Nutzung massenkompatibler Medien als auch durch die Kooperation mit anderen Künstlern anstrebt und je nach Möglichkeit und Nutzen in die politische Programmatik des Front populaire einspeist. Die Verteidigung des eigenen künstlerischen Programms erweist sich einmal mehr als maßgebliche Stoßrichtung, wenn man den historischen Fokus auf die Zeit nach der Besatzung durch die Deutschen und während des Vichy-Regimes lenkt. Auric verbrachte die Besatzungszeit und den Zweiten Weltkrieg im Exil in Südfrankreich und besuchte Paris in diesen Jahren nur zwei Mal: im Frühjahr 1941 aufgrund seiner Tätigkeit als Musikkritiker für die Nouvelle Revue française und im September desselben Jahres anlässlich seines Kompositionsauftrages für den Film Opéra-Musette (1942).3 Zwar verschlechterte sich erwartungsgemäß auch seine Auftragslage in diesen Jahren, dennoch entstanden zwischen 1942 und 1945 immerhin sieben Filmmusiken sowie mehrere Instrumental- und Bühnenwerke.4 Neben dem ökonomischen Aspekt, der diesen Aktivitäten zweifellos anhaftet, widerspiegelt sich in Aurics ungebrochenem Aktionismus, seinen Artikeln und in der Einbindung in die Widerstandsbewegung ein historisches Lemma, das ihm Cocteau bereits 1918 einschrieb: die Suche nach einer spezifisch französischen 3

4

Vgl. für eine ausführliche Darstellung von Aurics Tätigkeiten ab 1939 Colin Roust, Sounding French, S. 199 ff.; hier S. 202. Das Filmmusical von René Lefèvre und Claude Renoir (Enkel von Pierre-Auguste Renoir und Neffe von Jean Renoir) war Aurics vorerst letzte Pariser Produktion in den Studios von Pathé. Die nachfolgenden Filme, für die er die Musik schrieb, wurden in Südfrankreich (Marseille und Nizza) produziert. Eine Aufarbeitung von OpéraMusette steht derzeit noch aus und ist insbesondere wegen des Genres auch in historischer Perspektive interessant. Vgl. Josiane Mas, Répertoire des œuvres musicales de Georges Auric, S. 287 ff.

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(musikalischen) Identität und die Ausbildung ästhetischer Prinzipien, die das Eigene gegenüber dem Fremden stärken und favorisieren. Aurics Karriere nach dem Krieg zeigt wiederum Parallelen zu seinen Aktivitäten in den 1930er Jahren auf und fundiert die Einschätzung, dass sich das Nationale als Argument für die erneute Reformierung des Kulturbetriebs auch nach Kriegsende nutzen ließ. Angesprochen auf die Vielseitigkeit seiner Karriere und die Vielgestaltigkeit seiner Tätigkeiten als Komponist ließ Auric in einem Interview mit Claude Rostand 1959 verlauten, dass der Motor, der ihn antreibt, sein Interesse an allem wäre, was in der französischen musikalischen Welt – seiner Welt – passiert und er sehr stolz darauf sei, einen Beitrag zur Verbreitung französischer Musik in der gesamten Welt geleistet zu haben.5 Die Vielseitigkeit, die Aurics Leben und Werk kennzeichnet, ist entsprechend mehr Mittel denn Selbstzweck und Ausdruck einer zeitlebens andauernden Faszination für die eigene Lebenswelt. In dieser Faszination zeigt sich wiederum auch das Potential einer Beschäftigung mit Auric: Er umkreist seine Umgebung und erhellt Passagen, die im Verborgenen liegen. Dabei sticht heraus, dass er kein idealisiertes Bild von sich, seiner Musik oder seiner Umwelt zeichnet. Stattdessen erweist sich die Auseinandersetzung mit diversen intellektuellen und ästhetischen Fragestellungen, Themenkomplexen und Diskursen bereits als Abbild seiner Welt. Seine Memoiren veranschaulichen dies insbesondere im letzten Kapitel schon durch die Überschrift: Des souvenirs, n’est-ce pas?6 Die Anknüpfungspunkte, die sich aus der Perspektivierung von Auric innerhalb seiner Zeit für weitere Forschungen ergeben, sind zahlreich: Die dezidierte Aufarbeitung seiner Biographie und seines Werkkorpus‘ nach 1945 wurde gegenwärtig noch nicht vorgenommen, auch wenn Colin Roust wesentliche erste Schritte in diese Richtung gegangen ist und dieser Episode zwei Kapitel seiner umfangreichen Dissertation widmet. Auch die derzeit noch in Vorbereitung befindliche Auric-Biographie desselben Autors wird einen Grundstein für weitere Forschungen legen.7 Die Erschließung des schriftstellerischen Œuvres für diese Zeitspanne steht ebenfalls noch aus. Durch die Edition der Quellen in der Schriftensammlung von Carl Schmidt ist das Fundament für diese Forschungen bereitet.8 Eine Übersetzung seiner vielen Artikel zum Thema Musik im Film ins Englische wäre eine noch zu leistende Aufgabe, um die Quellen auch einem nicht-französischsprachigen Publikum zugänglich zu machen und sie auf diese Weise für einen breiteren Dialog zu öffnen, der sich nicht auf die Musikgeschichtsschreibung beschränkt. Die personellen Verflechtungen und Beziehungen im inländischen Musikexil in Südfrankreich ab 1933 und insbesondere während der Besatzungszeit ließen sich anhand von Auric rekonstruieren. Auch hier erhellt die Erschließung der 5 6 7 8

Vgl. Visite à … Georges Auric (27. September 1959), hier ab Min. 09:52. Vgl. Georges Auric, Quand j’étais là, S. 218 ff. Diese erste umfassende Biographie des Komponisten erscheint voraussichtlich Ende 2018 bei Oxford University Press. Carl Schmidt, Écrits/Writings sowie der umfassende Werkkatalog, der ebenfalls eine unverzichtbare Quelle hinsichtlich der Erschließung des Repertoires darstellt, siehe ders., The Music of Georges Auric.

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Künstlernetzwerke den Blick auf die Geschichte und hilft, weitere Leerstellen aufzudecken, die sich in Künstlerbiographien ebenso wie in historischen Darstellungen festgesetzt haben. Daneben ermöglicht sein umfangreiches Repertoire an Bühnen- und Filmmusiken die Erörterung funktionaler Fragestellungen: Durch die Rekonstruktion der Perspektive der Filmmusikkomponisten in den 1930er Jahren ergab sich, dass diese nicht nur ein eigenes Metier etablieren wollten, sondern die Idee einer dramatischen Musik entwickelten, die sich auf alle szenischen Künste anwenden ließe. Die nähere Untersuchung dieses Konzepts, seiner Strategien ebenso wie seines Kontextes und Potentials könnte sowohl für die Musik- als auch für die Film-, Tanz-, und Theaterwissenschaft in historischer Perspektive ebenso wie hinsichtlich methodologischer Fragestellungen interessant sein. Dieser kursorische Überblick verdeutlicht, welche Spannkraft einer Auseinandersetzung mit Auric innewohnt. Neben dem Aufdecken blinder Flecken ist es insbesondere die Möglichkeit, über Auric den Horizont der Musik- und Filmgeschichte zu weiten, die eine Beschäftigung mit dem Komponisten so reizvoll macht. Aurics Musik erweist sich als integraler Bestandteil einer Topographie der französischen kulturellen Welt des 20. Jahrhunderts. Durch sein Spiel mit Konventionen und Kontexten eröffnet sich dem Betrachter ein Raum, in dem sichtbar wird, was war, als er dort war.

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FILME UND VIDEOS Le sang d’un poète, R: Jean Cocteau, Frankreich 1930, 50 Min., DVD The Blood of a Poet, Criterion Collection 2000. À nous la liberté, R: René Clair, Frankreich 1931, 88 Min., DVD À nous la liberté, Criterion Collection 2002. Lac aux dames, R: Marc Allégret, Frankreich 1934, 90 Min., DVD Lac aux dames (= La Mémoire du cinéma français), René Chateau Vidéo 2009. Entrée des artistes, R: Marc Allégret, Frankreich 1938, 100 Min., DVD Entrée des artistes (= La Mémoire du cinéma français), René Chateau Vidéo 2008. Visite à … Georges Auric, Interview von Claude Rostand mit Georges Auric für Radiodiffusion Television française, R: Roger Iglesias, Frankreich 1959, 12 Min., Videoclip online abrufbar über INA France, http://www.ina.fr/video/CPF08008625 (07.09.2018).

TONTRÄGER Auric, Dutilleux, Jolivet, Sonates pour piano; Georges Auric: Sonate en Fa majeur pour piano, Marie-Catherine Girod [Klavier], CD, Paris: Solstice Music 1988 [SOCD 18]. Le 14 juillet de Romain Rolland. Georges Auric: Palais Royal, Orchestre d’harmonie des gardiens de la paix de Paris, Leitung: Claude Pichaureau, CD, Paris: Corelia 1988 [CC 888615].

REGISTER Adorno, Theodor W. 84, 89 Alexandrow, Grigori 139, 85 Alexeieff, Alexander 135, 136 Allégret, Marc 20, 135, 145, 151 f., 158, 181 Allégret, Yves 145 Apollinaire, Guillaume 18, 22–25, 27–30, 32, 40, 47, 50 f., 156 Aragon, Louis 22, 49, 93 Arnheim, Rudolf von 70, 85 Aumont, Jean-Pierre 145, 161 Auric, Georges 7, 11–25, 28–33, 35, 37–40, 42–44, 46 f., 49 f., 52 f., 57, 59–64, 68 f., 71 f., 74–78, 80 f., 85–102, 104–110, 112–121, 125–131, 133–136, 141 f., 144–146, 151–154, 160–162, 164 f., 167–172 Bach, Johann-Sebastian 43, 96 Bachtin, Michail 89 Balasz, Béla 85 f. Barraine, Elsa 109 Baty, Gaston 152 Baum, Vicki 145 f., 152 Beaumont, Étienne de 105 Beauvoir, Simone de 102 Beethoven, Ludwig van 100, 113, 126 beethoveniennes 125 Berg, Alban 12, 95, 102 Bloy, Léon 21 Boulanger, Nadia 91 f., 94 Breton, André 18, 21 f., 27, 47–50, 59, 93, 104 Brisson, Pierre 105 Brussel, Robert 98 Buñuel, Luis 33 Čapek, Karel 77 Carné, Marcel 88, 136, 161 Carbuccia, Horace de 105 Casa Fuerte (Yvonne Giraud), Yvonne de 91, 96 Cassou, Jean 138 Cendrars, Blaise 22 Chabrier, Emmanuel 96 Chadoir, Hélène 145 Chamfray, Claude 164 Chanel, Coco 60, 92 Chaplin, Charlie 69, 77, 89 Charpentier, Gustave 37

Chavance, Louis 137 f. Chenal, Pierre 135, 161 Cherubini, Luigi 125 Clair, René 19, 59, 63–73, 76–90, 145, 169 Claudel, Paul 13 Cocteau, Jean 11 f., 14 f., 18, 21, 23–31, 33, 37 f., 41–48, 50, 52, 54, 56–63, 78, 87 f., 92, 98, 104 f., 109 f., 124, 131, 145, 157, 169 f. Cointe, Suzanne 120 Colmé, Georges 146 Combes, Émile 122 Cœuroy, André 60–62, 154 Collet, Henri 23, 30 Cravenne, Marcel 135 Dallapiccola, Luigi 95 Debussy, Claude 24–26, 42, 97–99, 113 debussyisme/debussyiste 24, 26, 30, 98 f., 140 Delannoy, Jean 135, 142 Delluc, Louis 61 Deréan, Rosine 146 Désormière, Roger 91, 93, 151 Diaghilev, Serge 11, 35, 113 Dreyfus, Alfred Dreyfus-Affaire 102–104, 122 (anti-)dreyfusards 103, 122 Dreyfus, Jean-Paul 132 Dumas, Eugène 149 Durey, Louis 22, 24 f., 109 Duvivier, Julien 161 Éluard, Paul 78, 93 Eisler, Hanns 84, 94, 108 Eisenstein, Sergeij 85, 139 f. Epstein, Jean 61, 156 Fallada, Hans 145 Falla, Manuel de 97 Fauré, Gabriel 97, 115 Ferroud, Pierre-Octave 96 Feyder, Jacques 161 Flament, Édouard 135 Franck, César 113 Gance, Abel 156 Gandéra, Félix 135

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Register

Gide, André 145 Gilbert, William 85 Gilson, Paul 60 Gluck, Christoph Willibald 129 Goebbels, Joseph 69 Gossec, François-Joseph 125 Goudal, Jean 47 Grétry, André-Ernest-Modeste 125, 128–130 Guitry, Sacha 152 Harsányi, Tibor 72 Haydn, Joseph 125 Hays, Will H. 155 Hearst, William Randolph 155 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (G.W.F.) 141 Hindemith, Paul 95 Honegger, Arthur 13, 15, 22, 24 f., 109, 118, 120 f., 142, 144 Horkheimer, Max 91 Houssiau, Bernard J. 154 Hugo, Jean 93, 118 Hugon, André 135 Ibert, Jacques 35, 109, 120 f., 127 Indy, Vincent d’ 90, 94, 97, 102 Itkine, Sylvain 127 Ivanov, Viacheslav 124 Janequin, Clément 96 Jaubert, Maurice 46, 139 f., 142–144, 161 Jeanson, Henry 160 Jouvet, Louis 152–154, 159–162 Kochnitzky, Léon 164 Koechlin, Charles 109, 116, 118, 120 f., 126, 130, 132 Koger, Georges 135 Krenek, Ernst 95 Lacroix, Julien 127 Landormy, Paul 98 Lasserre, Pierre 29 Lazarus, Daniel 120 f. Le Chanois, Jean-Paul 136 Le Corbusier 136 Leenhardt, Roger 138 f. Lefebvre, Raymond 112 Le Flem, Paul 132 Lefèvre, René 170 L’Herbier, Marcel 156 Lichine, David 105 Long, Maguerite 134 Ludwig XV. [Louis XV] 45, 54

Maeterlinck, Maurice 98 Maré, Rolf de 131 Markevitch, Igor 91 Maritain, Jacques 93 Meerson, Lazare 68, 88, 152 Méhul, Étienne-Nicolas 125 Messiaen, Olivier 15, 91 f., 95, 116 Milhaud, Darius 15, 22–24, 30, 90, 93, 95 f., 109 f., 120 f., 134, 142–144, 161 Miller, Lee 45, 54 Molière [Jean-Baptiste Poquelin] 67 Monteverdi, Claudio 96 Mozart, Wolfgang Amadeus 96, 125 Nabokov, Nicolas 91 Naud, Robert de 97 Noailles, Charles de 18, 33, 37, 92, 145 Noailles, Marie-Laure de 18, 33, 92, 145 Ortega y Gasset, José 89 Pabst, Georg Wilhelm 161 Pagnol, Marcel 66 f., 70, 83 f. Palestrina, Giovanni Pierluigi da 96 Parker, Claire 37, 135 f. Paulin, Jena-Paul 135 Paz, Magdeleine 137 Périnal, Georges 88 Picabia, Francis [Françis] 90, 98 Picasso, Pablo 23, 120, 127 Pivert, Marceau 137 Polignac [Marie-Blanche Lanvin], MarieBlanche de 92 Polignac [Winaretta Singer], Princesse Edmond de 92–94 Pottecher, Maurice 122 Poulenc, Francis [Françis] 11, 13 f., 22–24, 78, 91, 95 f., 98, 112, 134, 161 Prévert, Jacques 35, 59 Prokofiev, Sergej 96 Pudowkin, Wsewolod 85, 139 Racine, Jean Baptiste 67 Radiguet, Raymond 98, 103 Rameau, Jean-Philippe 98 Ravel, Maurice 96, 102, 113 Régnier, Marthe 152 Renoir, Jean 136 f., 145, 161, 170 Renoir, Claude 170 Renoir, Pierre-Auguste 170 Rieti, Vittorio 91 Roché, Henri-Pierre 29 Rolland, Romain 19, 25, 32, 119–130

Register Rosetti, Dante Gabriel 98 Rothschild, Henri de 152 Rothschild, Philippe de 152 f., 161 Rouleau, Raymond 135 Roussel, Albert 90, 109, 120 f. Ruttmann, Walter 84

Tailleferre, Germaine 22, 24 f., 30, 134 Taylor, Frederick Winslow 64 Tergit, Gabriele 145 Tiersot, Julien 124 f.

Sadoul, Georges 88, 138, 140, 155–160 Saint-Point, Valentine de 43 Satie, Erik 11 f., 15, 21–32, 43, 50, 52 f., 63, 79, 87, 90, 95, 97–99, 102, 112 f., 121, 131, 164 f., 170 Sauguet, Henri 91, 93, 95 Schlemmer, Oskar 77 Schönberg, Arnold 23, 96 Schreiber, Helmut 69 Schubert, Franz 96 Scotto, Vincent 135, 151 Shakespeare, William 67 Shostakovich, Dmitri 108 Chostakovitch 94 Simon, Michel 146 Simon, Simone 146, 152 f. Soupault, Philippe 49 Stavisky, Alexandre 93 Stein, Gertrude 112 Stravinsky, Igor 31, 71, 90, 95 f., 99, 113 Strawinsky 31 Sullivan, Arthur 85

Vaillant-Couturier, Paul 109, 134, 137 Vauxcelles, Louis 30 Vigo, Jean 136, 138 Viñes, Ricardo 21 Vitrac, Roger 59

Uccello, Paolo 44, 54

Wagner, Richard 24–26, 42, 113, 124 wagnérienne 98, 140 wagnérisme 25 f., 99 Waldeck-Rousseau, Pierre 122 Weill, David 92 Weill, Kurt 85, 96 f. Wertow, Dsiga 84 Wiéner, Jean 110, 142, 144 Zay, Jean 133 Zola, Émile 102 f.

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a rc h i v f ü r m u s i k w i s s e n s c h a f t



beihefte

Herausgegeben von Albrecht Riethmüller in Verbindung mit Ludwig Finscher, Frank Hentschel, Hans-Joachim Hinrichsen, Birgit Lodes, Anne Shreffler und Wolfram Steinbeck.

Franz Steiner Verlag

ISSN 0570–6769

32. Christoph von Blumröder Die Grundlegung der Musik Karlheinz Stockhausens 1993. IX, 193 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-05696-3 33. Albrecht von Massow Halbwelt, Kultur und Natur in Alban Bergs „Lulu“ 1992. 281 S. mit 91 Notenbeisp. und 5 Abb., geb. ISBN 978-3-515-06010-3 34. Christoph Falkenroth Die „Musica speculativa“ des Johannes de Muris Kommentar zur Überlieferung und Kritische Edition 1992. V, 320 S., geb. ISBN 978-3-515-06005-7 35. Christian Berger Hexachord, Mensur und Textstruktur Studien zum französischen Lied des 14. Jahrhunderts 1992. 305 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-06097-9 36. Jörn Peter Hiekel Bernd Alois Zimmermanns Requiem für einen jungen Dichter 1995. 441 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-06492-3 37. Rafael Köhler Natur und Geist Energetische Form in der Musiktheorie 1996. IV, 260 S., geb. ISBN 978-3-515-06818-X 38. Gisela Nauck Musik im Raum – Raum in der Musik Ein Beitrag zur Geschichte der seriellen Musik 1997. 264 S. mit 14 Notenbeisp. und 27 Abb., geb. ISBN 978-3-515-07000-1 39. Wolfgang Sandberger Das Bach-Bild Philipp Spittas Ein Beitrag zur Geschichte der Bach-

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Rezeption im 19. Jahrhundert 1997. 323 S., geb. ISBN 978-3-515-07008-7 Andreas Jacob Studien zu Kompositionsart und Kompositionsbegriff in Bachs Klavierübungen 1997. 306 S. mit 41 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-07105-9 Peter Revers Das Fremde und das Vertraute Studien zur musiktheoretischen und musikdramatischen Ostasienrezeption 1997. 335 S., geb. ISBN 978-3-515-07133-4 Lydia Jeschke Prometeo Geschichtskonzeptionen in Luigi Nonos Hörtragödie 1997. 287 S. mit 41 Abb., geb. ISBN 978-3-515-07157-1 Thomas Eickhoff Politische Dimensionen einer Komponisten-Biographie im 20. Jahrhundert Gottfried von Einem 1998. 360 S. mit 1 Frontispiz und 4 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-07169-5 Dieter Torkewitz Das älteste Dokument zur Entstehung der abendländischen Mehrstimmigkeit Eine Handschrift aus Werden an der Ruhr: Das Düsseldorfer Fragment 1999. 131 S. und 8 Farbtaf., geb. ISBN 978-3-515-07407-4 Albrecht Riethmüller (Hg.) Bruckner-Probleme Internationales Kolloquium vom 7.–9. Oktober 1996 in Berlin 1999. 277 S. mit 4 Abb. und 48 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-07496-1 Hans-Joachim Hinrichsen Musikalische Interpretation

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Hans von Bülow 1999. 562 S. mit 70 Notenbeisp. und 10 Taf., geb. ISBN 978-3-515-07514-3 Frank Hentschel Sinnlichkeit und Vernunft in der mittelalterlichen Musiktheorie Strategien der Konsonanzwertung und der Gegenstand der musica sonora um 1300 2000. 368 S., geb. ISBN 978-3-515-07716-2 Hartmut Hein Beethovens Klavierkonzerte Gattungsnorm und individuelle Konzeption 2001. 432 S. mit 70 Notenbeisp. und 47 Abb., geb. ISBN 978-3-515-07764-2 Emmanuela Kohlhaas Musik und Sprache im Gregorianischen Gesang 2001. 381 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-07876-2 Christian Thorau Semantisierte Sinnlichkeit Studien zu Rezeption und Zeichenstruktur der Leitmotivtechnik Richard Wagners 2003. 296 S. mit zahlr. Notenbeisp. und Abb., geb. ISBN 978-3-515-07942-4 Christian Utz Neue Musik und Interkulturalität Von John Cage bis Tan Dun 2002. 533 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-07964-5 Michael Klaper Die Musikgeschichte der Abtei Reichenau im 10. und 11. Jahrhundert Ein Versuch 2003. 323 S. und 19 Taf., geb. ISBN 978-3-515-08212-3 Oliver Vogel Der romantische Weg im Frühwerk von Hector Berlioz 2003. 385 S. mit 102 Notenbeisp. und 1 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08336-7 Michael Custodis Die soziale Isolation der neuen Musik Zum Kölner Musikleben nach 1945 2004. 256 S., geb. ISBN 978-3-515-08375-8 Marcus Chr. Lippe Rossinis opere serie

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Zur musikalisch-dramatischen Konzeption 2005. 369 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-08586-6 Federico Celestini Die Unordnung der Dinge Das musikalische Groteske in der Wiener Moderne (1885–1914) 2006. 294 S. mit 86 Notenbeisp. und 9 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08712-5 Arnold Jacobshagen Opera semiseria Gattungskonvergenz und Kulturtransfer im Musiktheater 2005. 319 S., geb. ISBN 978-3-515-08701-x Arne Stollberg Ohr und Auge – Klang und Form Facetten einer musikästhetischen Dichotomie bei Johann Gottfried Herder, Richard Wagner und Franz Schreker 2006. 307 S. mit 27 Notenbeisp. und 4 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08868-7 Michael Fend Cherubinis Pariser Opern (1788–1803) 2007. 408 S. mit 2 Notenbeisp. und CD-ROM, geb. ISBN 978-3-515-08906-7 Gregor Herzfeld Zeit als Prozess und Epiphanie in der experimentellen amerikanischen Musik Charles Ives bis La Monte Young 2007. 365 S. mit 60 Notenbeisp. und 13 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09033-9 Ivana Rentsch Anklänge an die Avantgarde Bohuslav Martinůs Opern der Zwischenkriegszeit 2007. 289 S. mit 63 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-08960-9 Frank Hentschel Die „Wittener Tage für neue Kammermusik“ Über Geschichte und Historiografie aktueller Musik 2007. 277 S. mit 6 Notenbeisp. und 4 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09109-1 Simon Obert Musikalische Kürze zu Beginn des 20. Jahrhunderts

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2008. 307 S. mit 37 Notenbeisp. und 1 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09153-4 Isabel Kraft Einstimmigkeit um 1500 Der Chansonnier Paris, BnF f. fr. 12744 2009. 348 S. mit zahlr. Notenbeisp., 71 Abb. und CD-ROM, geb. ISBN 978-3-515-08391-1 Frédéric Döhl „… that old barbershop sound“ Die Entstehung einer Tradition amerikanischer A-cappella-Musik 2009. 294 S. mit 46 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-09354-5 Ulrich Linke Der französische Liederzyklus von 1866 bis 1914 Entwicklungen und Strukturen 2010. 311 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-09679-9 Irene Kletschke Klangbilder Walt Disneys „Fantasia“ (1940) 2011. 205 S., geb. ISBN 978-3-515-09828-1 Rebecca Wolf Friedrich Kaufmanns Trompeterautomat Ein musikalisches Experiment um 1810 2011. 242 S. mit 33 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09381-1 Kordula Knaus Männer als Ammen – Frauen als Liebhaber Cross-gender Casting in der Oper 1600–1800 2011. 261 S. mit 5 Abb. und 34 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-09908-0 Christiane Wiesenfeldt Majestas Mariae Studien zu marianischen Choralordinarien des 16. Jahrhunderts 2012. 306 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-10149-3 Tihomir Popovic´ Mäzene – Manuskripte – Modi Untersuchungen zu „My Ladye Nevells Booke“ 2012. 269 S., geb. ISBN 978-3-515-10214-8 Stefan Morent Das Mittelalter im 19. Jahrhundert Ein Beitrag zur Kompositionsgeschichte in

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Frankreich 2013. 200 S., geb. ISBN 978-3-515-10294-0 Christa Brüstle Konzert-Szenen Bewegung, Performance, Medien. Musik zwischen performativer Expansion und medialer Integration 1950–2000 2013. 413 S., geb. ISBN 978-3-515-10397-8 Saskia Jaszoltowski Animierte Musik – Beseelte Zeichen Tonspuren anthropomorpher Tiere in Animated Cartoons 2013. 206 S., geb. ISBN 978-3-515-10427-2 Marie Louise Herzfeld-Schild Antike Wurzeln bei Iannis Xenakis 2014. 221 S. mit 4 Abb., geb. ISBN 978-3-515-10658-0 Gabriela Lendle Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität Zu Roberto Gerhards quixotischem Code 2015. 359 S. mit zahlreichen Notenbsp., geb. ISBN 978-3-515-11065-5 Jonas Becker Konzertdramaturgie und Marketing Zur Analyse der Programmgestaltung von Symphonieorchestern 2015. 267 S., geb. ISBN 978-3-515-11179-9 Helmut Kirchmeyer System- und Methodengeschichte der deutschen Musikkritik vom Ausgang des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts 2017. 529 S., geb. ISBN 978-3-515-11726-5 Natalia Nicklas Nationalisierung der deutschen Oper im späten Vormärz 1840–1848 2017. 276 S. mit 17 Abb., geb. ISBN 978-3-515-11717-3 Tobias Eduard Schick Weltbezüge in der Musik Mathias Spahlingers 2018. 350 S. mit 93 Abb., geb. ISBN 978-3-515-11937-5 Evelyn Buyken Bach-Rezeption als kulturelle Praxis Johann Sebastian Bach zwischen 1750 und 1829 in Berlin 2018. 332 S. mit 3 Abb., geb. ISBN 978-3-515-12058-6

Der Name des französischen Komponisten Georges Auric ist zwar geläufig, sein Werk und Wirken jenseits einer Verortung innerhalb der Pariser Künstler-Avantgarde der 1920er Jahre jedoch kaum erschlossen. Franziska Kollinger untersucht erstmals systematisch Aurics Bühnen- und Filmmusiken der 1930er Jahre und entschlüsselt das dichte Geflecht aus strukturellen, ästhetischen und medialen Einflussfaktoren, welche die erneute Wende in der Debatte um die ästhetischen und kulturellen Werte der Musik im Frankreich der 1930er Jahre prägten. Auric figuriert hierbei als Seismograph für die disparaten Entwicklungen seiner Zeit, indem

er die verschiedenen Diskurse zum einen als Beobachter registrierte und dokumentierte und zum anderen grundlegende Strukturveränderungen für seine Kompositionspraxis und die Vermittlung seiner Werke nutzte. Diese bilden damit zugleich eine Topographie der Pariser Kulturlandschaft der 1930er Jahre, die den Horizont der oftmals verkürzten Darstellung des Jahrzehnts in der Musikgeschichte erweitert. Aurics Werke erscheinen auf diese Weise aber nicht nur im Spiegel ihrer Zeit: Es treten auch die Grenzen und Möglichkeiten ihrer besonderen Medialität hervor.

www.steiner-verlag.de

ISBN 978-3-515-12241-2

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7835 1 5 1 224 1 2