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German Pages 731 [732] Year 2006
Vom Humanismus zur Spätaufklärung
Wilhelm Kühlmann
Vom Humanismus zur Spätaufklärung Ästhetische und kulturgeschichtliche Dimensionen der frühneuzeitlichen Lyrik und Verspublizistik in Deutschland
Herausgegeben von Joachim Teile, Friedrich Vollhardt und Hermann Wiegand
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2006
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 1. Das Zeitalter des Humanismus und der Reformation
IX 1
2. >Pluralisierung< von Frömmigkeit - Glaube und Aberglaube in Celtis' Ode I, 16
31
3. Luthers Psaltervorrede von 1528 als poetologische Urkunde frühneuzeitlicher Lyrik und der lateinische Psalter des Eobanus Hessus
44
4. Poeten und Puritaner: Christliche und pagane Poesie im deutschen Humanismus - Mit einem Exkurs zur Prudentius-Rezeption in Deutschland
57
5. Reichspatriotismus und humanistische Dichtung
84
6. Der Poet und das Reich - Politische, kontextuelle und ästhetische Dimensionen der humanistischen Türkenlyrik in Deutschland
104
7. Selbstverständigung im Leiden: Zur Bewältigung von Krankheitserfahrungen im versgebundenen Schrifttum der Frühen Neuzeit (P. Lotichius Secundus, Nathan Chytraeus, Andreas Gryphius) . . . .
153
8. Von der erotischen Elegie zum bürgerlichen Ehelob - Bilder der Weiblichkeit in der Dichtung des deutschen Humanismus (Jacob Micyllus und Petrus Lotichius Secundus)
183
9. Pagane Frömmigkeit und lyrische Erlebnisfiktion. Präsenz und Funktion des antiken Mythos in Petrus Lotichius' Secundus Elegie Ad Lariam
212
10. Magdeburg in der zeitgeschichtlichen Verspublizistik (1551/1631).
231
11. Lyrik als Waffe: Zum literarischen Profil des Kryptocalvinismus in Kursachsen. Der »Poet« Johannes Major (1533-1600)
256
VI
Inhaltsverzeichnis
Westfälischer Gelehrtenhumanismus und städtisches Patriziat. Zu den Gedichten des Osnabrücker Poeten Henricus Sibaeus (Heinrich Sibbe, gest. 1566) in der Perspektive regionaler Kulturraumforschung
265
13. Zum Profil des postreformatorischen Humanismus in Pommern: Zacharias Orth (ca. 1535-1579) und sein Lobgedicht auf Stralsund - Mit Bemerkungen zur Gattungsfunktion der laus urbis
287
14. Reinike Voss de Olde in der späthumanistischen Adelserziehung - Ein protreptischer Verstraktat (1580) des Heidelberger Rhetorikprofessors Lambertus Pithopoeus (1535-1596)
308
15. Poetische Hexenangst - Zu zwei Gedichten des pfälzischen Humanisten Paul Schede Melissus (1539-1602) und ihrem literarischen Kontext
323
16. Humanistische »Geniedichtung« in Deutschland - Zu Paul Schede Melissus' »Ad Genium suum« (1574/75 )
342
17. »Amor liberalis«. Ästhetischer Lebensentwurf und Christianisierung der neulateinischen Anakreontik in der Ära des europäischen Späthumanismus
354
18. Der vermaledeite Prometheus - Die antiparacelsistische Lyrik des Andreas Libavius und ihr historischer Kontext
376
19. Poeta, Chymicus, Mathematicus. Das Stammbuch des böhmischen Paracelsisten Daniel Stoltzius von Stoltzenberg
406
20. Kunst als Spiel. Das Figurengedicht (Technopaegnium) in der Poetik des 17. Jahrhunderts. Mit Anmerkungen zu Baidassare Bonifacios Urania (Venedig 1628)
424
21. Militat omnis amans. Petrarkistische Ovidimitatio und bürgerliches Epithalamion bei Martin Opitz
441
22. Huldigung als Warnung: Poetischer Rat für den Heidelberger Kurfürsten, 1620
453
23. Von Heidelberg zurück nach Schlesien - Opitz' frühe Lebensstationen im Spiegel seiner lateinischen Lyrik
457
12.
24. Martin Opitz in Paris (1630) - Zu Text, Praetext und Kontext eines lateinischen Gedichtes an Cornelius Grotius
471
25. Selbstbehauptung und Selbstdisziplin. Zu Paul Flemings An Sich . . 500 26.
Sterben als heroischer Akt. Zu Paul Flemings Grabschrifft
506
Inhaltsverzeichnis
VII
27. Ausgeklammerte Askese. Zur Tradition heiterer erotischer Dichtung in Paul Flemings Kußgedicht
512
28. Neuzeitliche Wissenschaft in der Lyrik des 17. Jahrhunderts. Die Kopernikus-Gedichte des Andreas Gryphius und Caspar Barlaeus im Argumentationszusammenhang des frühbarocken Modernismus
519
29. »Magni fabula nominis«. Jacob Baldes Meditationen über Wallensteins Tod
546
30. Balde, Klaj und die Nürnberger Pegnitzschäfer. Zur Interferenz und Rivalität jesuitischer und deutsch-patriotischer Literaturkonzeptionen
554
31. Schlaglichter jesuitischer Petrarca-Rezeption. Der „Italus Vates" als Gewährsmann Jacob Baldes SJ (1604-1668) - Ein kleiner Beitrag
575
32. »Parvus eram«: Zur literarischen Rekonstruktion frühkindlicher Welterfahrung in den Deliciae Veris des deutschen Jesuiten Johannes Bisselius (1601-1682)
585
33. Religiöse Affektmodellierung: Die heroische Versepistel als Typus der jesuitischen Erbauungsliteratur in Deutschland
596
34. Das Erdbeben von Lissabon als literarisches Ereignis. Johann Peter Uz' Gedicht Das Erdbeben im historisch-epochalen Kontext
608
35. Zwischen Empfindsamkeit und Patriotismus. Philanthropisches Programm und populäre Rezeption von G. K. Pfeffels Gedicht Die Tobakspfeife (1782)
654
36. Das Werk Friedrich Spees im Horizont der deutschen Aufklärung. . 669 37. Die Nachtseite der Aufklärung. Goethes Erlkönig im Lichte der zeitgenössischen Pädagogik (C.G. Salzmanns Moralisches Elementarbuch)
688
Verzeichnis der Erstdrucke
701
Namenregister
705
Vorwort
Vom Humanismus zur Spätaufklärung: Der Titel kündigt eine umfassende Darstellung der Lyrik in der Frühen Neuzeit an, einen Überblick, den der vorliegende Band auch wirklich verschafft, da er die Abhandlungen eines exzellenten Kenners der neulateinischen und deutschen Literatur der Zeit zusammenfaßt. Doch ist hier mehr als nur ein Handbuch vorzustellen; die Einzelstudien kompilieren nicht vorhandenes Wissen, sondern erschließen und kontextualisieren unbekannte poetische Werke oder lassen solche des Kanons in einer veränderten Perspektive erscheinen. Dabei setzt sich ein Bild der Epoche aus den immensen Detailkenntnissen zusammen, die den Beiträgen zugrundeliegen. Statt einer kompendiösen Zusammenschau nur der prominenten Autoren und Werke, die den Leser rasch langweilen würde, bietet die Sammlung unerwartete Einblicke in Konstellationen und Kontroversen, Denkräume und Milieus, welche sich auch dann als signifikant erweisen, wenn es sich um scheinbare Seitenwege handelt. Gerade die von gelehrten Traditionen und einem vornehmlich imitativen Poesiebetrieb abweichenden Positionen sind für die gesellschafts- und wissenschaftsgeschichtlichen Fragestellungen aufschlußreich, die einen übergreifenden Zusammenhang stiften. Die ästhetische Form der einzelnen Gedichte, von denen die literaturgeschichtlichen Miniaturen ihren Ausgang nehmen, wird dabei stets berücksichtigt und so ein angemessenes Verständnis der komplexen Texte erreicht. Der Band könnte damit sowohl einer Einführung in Grundsatzfragen der Epoche als auch der Orientierung Uber den Stand der Forschung zur frühneuzeitlichen Lyrik dienen, da durch das reiche Quellenmaterial, das gesichtet und analysiert wird, unsere Kenntnisse nicht nur ergänzt, sondern neu geordnet werden. Warum wird dieser wissenschaftliche Anspruch so vorsichtig, ja geradezu defensiv formuliert? Daß die vorliegenden Untersuchungen keine Nominierung auf den vordersten Plätzen der aktuellen Theorie-Charts anstreben, ist ebenso offensichtlich wie ihr Verzicht auf jede modische Reklame, schließlich kann auf dem hier erreichten Niveau der Forschung das Produkt für sich selbst sprechen und selbstbewußt Innovation beanspruchen: Denn Fortschritt in den Literaturwissenschaften ist - das hat sich mittlerweile herumgesprochen - am genauesten dort zu erkennen, wo Anschluß an fachliche Traditionen gesucht und Kontinuität nicht um den Preis eines (post)modernitätskonformen Distinktionsgewinns zerstört wird. Nein, es sind außerdisziplinäre Entwicklungen, die
χ
Vorwort
bedrohen, was eigentlich zur Geltung gebracht werden müßte oder zumindest dem Dissens entzogen sein sollte. Stellen wir uns zur Probe kurz vor, für wie >kreditwürdig< eine der umherziehenden Akkreditierungskommissionen den Sammelband halten würde, das heißt - in der auf das »learning outcome« fixierten Sprache unserer Bildungsadministration - wieviele »credit points« einem Modul zur Lyrik der Frühen Neuzeit und speziell den ausgewählten Textbeispielen zugestanden würden. Zwar dürfte die Haltbarkeit der hier vorgelegten Ergebnisse die der neuen Studiengänge übersteigen, doch die Reformer und controller der philologischen Disziplinen zeigen sich - die Posaunen mögen noch so laut klingen - taub gegenüber solchen prophetischen Warnungen. Wo noch eine Verbindung zwischen Forschung und Lehre gesucht wird (unser Band ist in gewisser Hinsicht auch ein »Lehrbuch«), wird den Literaturwissenschaftlern die Pflicht zur Selbstreflexion im raschen Takt der Evaluierungen auferlegt: Was leisten wir für das Betriebsziel des Faches, die Gesamtbilanz der Hochschule, ihre Kunden, die Öffentlichkeit etc.? Aus dem Querschnitt der erbrachten Dienstleistungen soll sich dann die meßbare Qualität der wissenschaftlichem Arbeit ergeben. Die nachfolgenden Studien enthalten zum Glück keine Erklärungen dieser Art, doch jede dokumentiert auf ihre Weise das Selbstverständnis des Philologen Kühlmann und die Konzeption, die seine Arbeit leitet. Vielleicht läßt sich diese am besten mit den Worten eines anderen Heidelberger Gelehrten umschreiben, der in einer 1917 gehaltenen Rede über Wissenschaft als Beruf eine Persönlichkeit auf wissenschaftlichem Gebiet dadurch charakterisiert sah, daß sie »rein der Sache« diene. Fern unserer heutigen Taylorisierung des Wissens akzeptierte Max Weber nur dasjenige an der wissenschaftlichen Arbeit, was wichtig im Sinne von »wissenswert« sei. Auch für die »historischen Kulturwissenschaften« gelte: »Sie lehren politische, künstlerische, literarische und soziale Kulturerscheinungen aus den Bedingungen ihres Entstehens verstehen.« Mit diesen Sätzen ist in etwa das methodische Projekt Wilhelm Kühlmanns umschrieben, der Untertitel des vorliegenden Bandes deutet es an. Zu seinem wissenschaftlichen Selbstverständnis gehört jedoch auch ein bestimmtes Arbeitsethos, das sich nicht in programmatische Formeln fassen läßt. Dazu eignen sich besser Metaphern aus dem Bergbau (oder vielleicht eher: der Montankunst?) bzw. der Schiffahrt, die der Verfasser gerne gesprächsweise verwendet. Da ist dann von der entsagungsvollen Arbeit an einem >Schacht< die Rede, der >unter Tage< führt oder von den >StollenLand unter< zu melden ist; bisweilen muß aber auch umgekehrt durch den Deckel eines >Gullis< der Weg in die Untiefen des Quellenmaterials angetreten werden, wobei ständig mit Überflutungen zu rechnen ist. Ein Teil der Fördermenge ist hier zusammengebracht worden. Das ist die eine, gut sichtbare Seite der philologischen Arbeit. Die andere Seite ist dagegen kaum faßbar - gemeint ist dasjenige, was sich mit den Begriffen der Phantasie, des Einfalls oder der Intuition nur vage umschreiben läßt. Immerhin: die Nr. 35 der hier vorgelegten Aufsatzsammlung deutet an, was
XI
Vorwort
dem Verfasser als Instrument der Ideenerzeugung und zugleich als Attribut der wissenschaftlichen Leidenschaft dient; daß seine Einstellung zu den Gegenständen keine nur theoretische ist, verrät jede der folgenden Abhandlungen. Bewegt man sich in dem aus der Sprache des Bergbaus entwickelten Bildfeld, wird man zwangsläufig auch an die >Staublunge< denken. Wer sich mit Autoren der Frühen Neuzeit befaßt, steht in der Gefahr, sich deren Gelehrsamkeitsostentation anzupassen und selbst Texte zu produzieren, welche die Klarheit des Arguments und den Enthusiasmus für die Sache - erinnert sei an Max Weber der Häufung von Fakten opfern. Wie die hier gedruckten Beiträge der Versuchung zu einer solchen Selbstinszenierung entgehen, kann nicht im einzelnen gezeigt werden, nur auf zwei Aspekte sei kurz hingewiesen. Zum einen wird die Balance zwischen der historischen Darstellung und dem gelehrten Kommentar gehalten: Der Leser wird nicht mit Datenmengen alleingelassen, vielmehr werden diese bis in die relevanten Einzelfragen hinein - von der Formanalyse über die Biographie und die sozialen bzw. institutionellen Konstellationen bis hin zur Pluralisierungsdynamik in den Wissenschaften - durchdrungen, so daß der Übergang von der Beobachtungsebene zur Ergebnisformulierung stets mitvollzogen werden kann. (Im Blick auf unseren Wissenschaftsbetrieb, wo die Setzung einer subjektiven >Lektüre< der luziden Beweisführung inzwischen gleichgeordnet wird, wirkt dieses Verfahren wie ein Anti-Depressivum.) Zum anderen gibt es das konkrete Individuum, den jeweils behandelten Autor, der in der wissenschaftlichen Darstellung eher Kontur gewinnt als verliert. Das hat nichts mit narrativen Strategien zu tun, sondern mit dem Interesse, das für exzeptionelle Persönlichkeiten geweckt wird, wozu etwa die Häretiker und Dissidenten aus dem neuplatonisch-hermetischen Christentum gehören. Zu den wichtigsten Impulsen der Kühlmannschen Arbeit gehört die Vorstellung, daß wir es bei der Betrachtung der nachreformatorischen literarischen Prozesse nicht mit weltlosen Diskursen zu tun haben, nicht einmal in der frühneuzeitlichen Lyrik. Diese Prozesse sind durch Brüche und Selektionen gekennzeichnet, besonders was den im folgenden wiederholt thematisierten Übergang vom Gelehrtenlatein zur Volkssprache angeht - eine Entwicklung, die noch im 18. Jahrhundert nicht abgeschlossen ist. Doch auch bei der Untersuchung solcher diskontinuierlichen Formen der literarischen Verständigung wird das sc Ii reihe η de und handelnde Subjekt nicht - im Unterschied zu den Spielarten der diskursanalytischen Historiographie - zu einem Epiphänomen erklärt, im Gegenteil: Das Verstehen des lyrischen Textes hat bei Wilhelm Kühlmann diese subjekttheoretische Fundierung, einen Bezug zur Produktionssituation, wodurch die Bedeutungszuschreibung ihre Verbindlichkeit sichert - ultra posse nemo obligatur.
F. V.
*
Noch ein Wort zu den neulateinischen Studien, die den vorliegenden Band so deutlich prägen. Seit seiner Studienzeit bei dem Freiburger Latinisten Karl
XII
Vorwort
Büchner interessierte sich Wilhelm Kühlmann in einer Zeit, zu der dies in der Klassischen Philologie noch ganz unüblich war, für die Neolatinistik. Er erwog sogar, Uber Jakob Balde (1604-1668) zu promovieren. Wenn er auch von diesem Vorhaben Abstand nahm - ohne Balde je wieder aus den Augen zu verlieren - , widmete er in seiner Dissertation (1973) ein letztes Kapitel doch zwei bedeutenden geistlichen Epikern des italienischen Humanismus. Von da an ließ ihn die Beschäftigung mit der neulateinischen Literatur, ihren Bezügen zur Antike und ihrer Stellung in den geistigen, kulturellen und sozialen Räumen ihrer Zeit, nicht mehr los. Einen beträchtlichen Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit hat Wilhelm Kühlmann diesem verschollenen Kontinent deutscher und europäischer Literatur gewidmet. Deren Schlüsselrolle in der Formationsphase der Neueren deutschen Literatur ist seither genauer erkennbar geworden. Erwähnt seien nur Martin Opitz als lateinischer Autor, dem bereits Kühlmanns zweiter Aufsatz galt und neben einem Buch (1991 bzw. 2001) mehrere Studien dieses Bandes gewidmet sind (Nr. 22-24), oder die Landschaft am Oberrhein (Straßburg) wie die Silesia litterata - nicht zu vergessen die neulateinische Dichtung der historischen Kurpfalz, die ihm seit seiner Berufung nach Heidelberg 1987 nicht nur äußerlich zur zweiten Heimat geworden ist. Gleich nach seiner Berufung gründete er zusammen mit einem ihm befreundeten Mitherausgeber dieses Bandes, Hermann Wiegand, eine Sodalitas Litteraria Rhenana (Rediviva), die in der Neolatinistik zu einem festen Begriff geworden ist, nicht ohne wehmütige Erinnerung an die Zeit, zu der die deutsche Universität als Gemeinschaft der Forschenden, Lehrenden und Lernenden noch funktionstüchtig und nicht ständigen Evaluierungs- und Zertifizierungszwängen ausgesetzt war (s. o.). Er selbst hat bekannt, daß ihn solche gelehrte Geselligkeit manchen Ärger über neudeutsche Reformbeflissenheit um jeden Preis vergessen lasse. Nicht wenige Mitglieder der Gründergeneration dieser Sodalitas wie Lutz Ciaren, Joachim Huber, Wolfgang Schibel oder Werner Straube gehören ihr noch immer an - Zeichen der menschlichen Integrationskraft und Begeisterungsfähigkeit des Wissenschaftlers Kühlmann, dessen (deprimierend) unbegrenzte Arbeitskraft zugleich dafür Sorge trägt, daß die gemeinsame Arbeit nicht ohne Ergebnis bleibt: Nicht weniger als drei größere Editionen und ein Sammelband sind aus der Arbeit der sodales hervorgegangen, angefangen von einer Anthologie neulateinischer Dichtung aus der alten Kurpfalz (1989) über eine gewichtige, umfangreich kommentierte Sammlung deutscher humanistischer Dichtung des 16. Jahrhunderts (1997) bis zu einer Edition mit Übersetzung und Kommentar der Urania Victrix Jakob Baldes (2003), dessen Opera omnia von 1729 er zuvor bereits zusammen mit Hermann Wiegand herausgegeben hatte. Von Balde und seinem geistigen Umfeld geht auch das groß angelegte Unternehmen aus, an dem die Sodalitas zusammen mit ihrem Spiritus Rector arbeitet und das sie die nächsten Jahre beschäftigen wird: eine zweisprachige kommentierte Anthologie lateinischer Lyrik der Jesuitendichtung des deutschen Kulturraumes.
Vorwort
XIII
Neben diese neulateinischen Hauptgeschäfte< traten zahlreiche Einzelstudien zu neulateinischen Dichtern vom frühen Humanismus (etwa zu Konrad Celtis [Nr. 2] oder zu dessen Lehrer Rudolph Agricola, dem er einen Sammelband widmete) über Eobanus Hessus (Nr. 3), Petrus Lotichius Secundus (Nr. 7 und 9) oder den Pfälzer Dramatiker Theodor Rhodius (dem Kühlmann 1988 gleich einen ganzen Faszikel der Zeitschrift Daphnis widmete), über die lateinische Dichtung deutscher Jesuiten bis zu Papst Leo XIII., über den der Katholik Kühlmann einen eigenen Aufsatz schrieb, der den literarischen Beziehungen Stefan Georges zu diesem letzten großen Vertreter der »Latinitas Catholica« in subtiler Interpretation nachgeht. Seine kurpfälzischen Interessen hat Wilhelm Kühlmann in einem voluminösen Sammelband für die Europaea hwnanistica weiter verfolgt, in dem Widmungsvorreden zu den gelehrten Werken wichtiger Vertreter des Pfälzer Späthumanismus um 1600 ediert, eingehend kommentiert und erschlossen werden. Kühlmann zeichnete auch verantwortlich für die weitgehende Berücksichtigung deutscher neulateinischer Autoren in dem großen Literatur Lexikon Walther Killys: Zahlreiche Artikel hat er selbst aus den Quellen erarbeitet, wie es denn Kühlmanns wissenschaftliche Arbeitsweise charakterisiert, nichts ungeprüft zu übernehmen. Auch für die Erweiterung und Ergänzung des Verfasserlexikons des Mittelalters in die Frühe Neuzeit hinein zeichnet Kühlmann mit verantwortlich, hier wie im >Killy< betreut er freilich nicht nur die Neulateiner, wie er überhaupt seine weiteren Interessen wie die Erforschung des Paracelsismus oder der Dissidenten der Frühen Neuzeit mit seiner Arbeit an der neulateinischen Literatur vermittelt, etwa in Beiträgen zu Johannes Nicolaus Furichius oder Andreas Libavius (Nr. 18), zwei wichtigen Vertretern einer neulateinischen alchemischen bzw. antiparacelsistischen Lehrdichtung, vor allem aber in gemeinsam mit Joachim Teile kommentierten Ausgaben von Texten des Paracelsisten Oswaldus Crollius (Bde. 1/2, 1996/1998) und dem Corpus Paracelsisticum (Bde. 1/2, 2001/2004). Einige Aufsätze zu neulateinischen Dichtungen wurden bereits in einem regional begrenzten Sammelband wieder veröffentlicht, den Wilhelm Kühlmann gemeinsam mit Walter E. Schäfer der Literatur im Elsaß von Fischart bis Moscherosch gewidmet hatte (2001). Für diesen Band aber konnte das Ziel weiter gesteckt werden, auch wenn eine vollständige Sammlung die gegebenen Umfangsgrenzen gesprengt hätte - was besonders in Hinblick auf den Rhodius-Aufsatz zu bedauern ist. Von einer Studie zur Pluralisierung religiöser Vorstellungen in einem Gedicht des Konrad Celtis bis zur erbaulichen Versepistel in Auseinandersetzung mit der Heroidendichtung Ovids spannt sich dennoch ein weiter Bogen, der fast alle genera neulateinischen Dichtens umgreift. Einen Schwerpunkt bilden Untersuchungen zum Selbstverständnis des neulateinischen »poeta doctus« - so etwa die Sichtung und Deutung des Typus der De se aegrotante-Gedichte: Aus der »Selbstverständigung im Leiden« (Nr. 7) wird das Selbstverständnis des humanistisch-neulateinischen Dichters ebenso sichtbar wie aus dem Amor liberalis früher neulateinischer anakreontischer Dichtung (Nr. 17).
XIV
Vorwort
Einen weiteren Schwerpunkt bilden Untersuchungen über pagane und christliche Frömmigkeit in der neulateinischen Dichtung. Wilhelm Kühlmann interessiert das Verhältnis von christlicher und paganer pietas in ihrem Rückgriff auf jeweilige antike und spätantike Vorbilder: Sein wegweisender Aufsatz zu Poeten und Puritanerin] (Nr. 4) hat die Forschung ebenso zu intensiver Auseinandersetzung angeregt wie seine als Vortrag beim Neulateiner-Kongress in Avila konzipierte eingehende Interpretation der Elegie Ad Lunam des Petrus Lotichius Secundus (Nr. 9) - auch er, wie Balde, bis in das biographische Detail ein Gegenstand der Sympathie des Verfassers. Von den umfassenden historischen und theologischen Kenntnissen KUhlmanns zeugen zahlreiche Untersuchungen zur neulateinischen Dichtung als Medium politischer Propaganda und Auseinandersetzung: Von der >Reichsdichtung< eines Georg Sabinus, der ungeachtet seines lutherischen Bekenntnisses sich als Vertreter eines kaisertreuen Patriotismus erweist (Nr. 6), bis zur poetisch-publizistischen Auseinandersetzung um die Belagerung bzw. Zerstörung Magdeburgs 1551 und 1631 (Nr. 10), aber auch zum karriereorientierten und politischen Hintergrund des poetischen Städtelobs bei Zacharias Orth (Nr. 13) reichen weit ausgreifende Studien, die den historischen Hinter- und Untergrund neulateinischer Dichtung exemplarisch beleuchten - in gründlich eruierter und philologisch sorgsam abgesicherter historischer Perspektive abseits modischer Strömungen der Literaturwissenschaft.
H. W.
*
Freunde und nähere Bekannte, aber auch manche Leser und Hörer erinnert Wilhelm Kühlmann immer wieder an antike Buntschriftsteller oder an einen frühneuzeitlichen Polyhistor. Auffällig warmherzige Worte, die dieser Buchgelehrte für das alte Westfalen findet, verraten seine Herkunft: Seit 1946 lebte Wilhelm Kühlmann im Ruhrpott. Er wurde hier zu Gelsenkirchen in eine Familie hineingeboren, der hauptsächlich Bergleute oder etwa ein Schlosser angehörten, aber keine Studierten, und wuchs nun in einem Haushalt auf, in dem ein lesehungriger Junge nicht viel mehr an Büchern fand als einen Trivialroman über Rasputin den Zauberer, H. Platens naturheilkundlichen Haus- und Familienschatz für Gesunde und Kranke sowie eine Ausgabe des Bürgerlichen Gesetzbuches, die Wilhelm Kühlmanns Vater, einem Polizeibeamten, aus dienstlichen Gründen gehörte und nun der Sohn zum Pflanzenpressen benutzte: In die Wiege gelegt war Wilhelm Kühlmann seine geradezu altfränkisch-gediegene Buchgelehrsamkeit beileibe nicht. Daß dem jungen Kühlmann in seiner weitschweifenden Lesewut gerade Platens dreibändiger Bestseller der Laienmedizin in die Hände fiel, sollte weitreichende Folgen nach sich ziehen, galt es doch, die lateinisch gefaßten Abschnitte de sexualibus zu enträtseln. Unversehens sah sich der sonst unter Schülern oft ungeliebte »Stowasser« zum Leib- und Magenbuch eines fieberhaft wissensgierigen Gymnasiasten erhoben: Kühlmanns Karriere zum namhaften Latinisten hatte begonnen.
Vorwort
XV
Manche Menschen waren im Lauf ihres Lebens beispielsweise Hundefänger, Tiefseetaucher, Lokomotivführer, Schwertschlucker, Mönch und Taxichauffeur. Wilhelm Kühlmann war hingegen kein bewegter Lebensgang beschieden: Er studierte Germanistik, Latinistik und Philosophie, ging dabei nicht etwa lax und unmotiviert zu Werke, sondern immer im Banne einer nimmersatten Neugierde und papyrophager Gelüste. Bald schon gelang ihm mit Studien zur antiken Epik sein akademisches Gesellenstück (Katalog und Erzählung, Freiburg i. Br. 1973), dann mit Studien zur Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barock-Zeitalters seine Habilitationsschrift (Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, Freiburg i.Br. 1980); schließlich führte ihn sein Weg über kurzzeitige Lehraufenthalte an den Hohen Schulen zu Münster, Braunschweig und Osnabrück an die Universität Heidelberg, wo Wilhelm Kühlmann seit 1987 Neuere Deutsche Literaturgeschichte unter Berücksichtigung der Vergleichenden Literaturgeschichte lehrt. Wir können hier Eigenarten seines akademischen Werdeganges nicht genauer nachzeichnen, auch nicht seine vielfältigen und durchaus weitgespannten Tätigkeiten als Herausgeber, Gutachter, Rezensent, Organisator, Feuilletonist, Dekan, Gastprofessor in den U.S.A. und China oder Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, geschweige denn als begeisterter und begeisternder Initiator bestimmter Forschungsprojekte. Erwähnt aber sei, daß sich Wilhelm Kühlmann mit Blick auf Grundlagen seines literarhistorischen Denkens und Handelns vorab zwei Freiburger Universitätsgelehrten verpflichtet weiß: dem Latinisten Karl Büchner, der Wilhelm Kühlmann Leistungskraft und kalten Charme strenger Philologie einsichtig machte, und dem Germanisten Wolfram Mauser, der den Jubilar in seinen Lehrjahren dazu anhielt, die Bedeutung von Texten gleichsam hinter dem Rücken ihrer Urheber zu erkunden. Das Schriftenverzeichnis Wilhelm Kühlmanns umfaßt zwanzig Monographien und Textausgaben, darunter Sammelbände und Editionen, nahezu 140 Zeitschriftenaufsätze, etliche Artikel in Fachlexika und anderes mehr, und bereits eine genauere Lektüre dieser Bibliographie, aber auch des vorliegenden Bandes ergibt: Der Autor vermaledeit einen belletristisch verengten Literaturbegriff ebenso wie den Kult um literarische >Gipfel< und >Gigantenweiten Feld< zu setzen versteht. Wilhelm Kühlmann treiben und leiten Leidenschaft, vor allem Liebe zur Sache, die dem Vergessen wehrt und an kulturelle Verluste erinnert. Literaturwissenschaftliche Diskussionen, möglichst befeuert von Tabaksqualm und
XVI
Vorwort
Biergeruch, gehören zu seinen Lebenselixieren, aber auch wissenschaftspolitische Scharmützel. Insbesondere forschungspolitischen Kontroversen weicht Kühlmann durchaus nicht aus, wie man jüngst etwa seiner öffentlichen Stellungnahme zu den Beschäftigungsregelungen für wissenschaftliche Mitarbeiter in befristeten Drittmittelprojekten entnehmen konnte: Um die Ursachen einer »grandiosen Verschwendung intellektueller Ressourcen« zu benennen, fand er deutliche Worte, mit denen er das »Desinteresse der Wohletablierten« samt ihrem »Menschen verachtenden Zynismus« beschrieb, aber auch politisch führende Kreise für die Mitarbeiter-Misere verantwortlich machte, seien doch »in stupender Ahnungslosigkeit Personen in Spitzenstellungen gehoben worden, die bislang noch nie auch nur den Hauch wissenschaftlicher Praxis genossen haben«. Unser Versuch, ein Porträt des Literaturwissenschaftlers Wilhelm Kühlmann diesem Band voranzustellen, hat Grenzen, nicht alle Züge lassen sich darstellen; vielleicht finden sich einige der übergangenen Momente in Rainer Maria Rilkes Gedicht Leser aus dem Jahr 1908: Wer kennt ihn, diesen, welcher sein Gesicht wegsenkte aus dem Sein zu einem zweiten, das nur das schnelle Wenden voller Seiten manchmal gewaltsam unterbricht? Selbst seine Mutter wäre nicht gewiß, ob er es ist, der da mit seinem Schatten Getränktes liest. Und wir, die Stunden hatten, was wissen wir, wieviel ihm hinschwand, bis er mühsam aufsah: alles auf sich hebend, was unten in dem Buche sich verhielt, mit Augen, welche, statt zu nehmen, gebend anstießen an die fertig-volle Welt: wie stille Kinder, die allein gespielt, auf einmal das Vorhandene erfahren; doch seine Züge, die geordnet waren, blieben für immer umgestellt. Anläßlich des 150. Geburtstages Wilhelm von Humboldts hat Kühlmann nüchtern festgestellt: »Die Fahne des Humanismus scheint verschlissen. Ihre Fetzen wehen auf den verschiedensten ideologischen Bastionen«. In der Tat scheint das antike Erbe heute zertrümmert und durch das Vergessen gefährdeter denn je. Der vorliegende Band dokumentiert, wie ohne Sentimentalität an diese Kräfte erinnert werden kann, die Europa bis heute prägen; das trutzige Dictum eines Kühlmannschen Lieblingsdichters, Horazens impavidum ferient ruinae hilft dabei über manche Schwierigkeiten und Widerstände hinweg.
Vorwort
XVII
Unsere Geburtstagsgabe mag den Jubilar daran erinnern, daß ihm etliche Weggefährten, Freunde und Bekannte für die Resultate seiner literarhistorischen Kreuz- und Querzüge Dank wissen. Sie mag ihn in Stunden des Saturn ermuntern, die Historikerinternationale weiterhin mit seinen Publikationen zu beschenken und der Neueren deutschen Literaturwissenschaft Neuland zu erschließen. j. τ. Ad multos annos!
Die Herausgeber, im Herbst 2005
Daß dieser Band zum 60. Geburtstag von Wilhelm Kühlmann erscheinen kann, danken die Herausgeber dem M a x Niemeyer Verlag (Tübingen), insbesondere der Cheflektorin Frau Birgitta Zeller-Ebert. Zu danken haben wir ferner Heidelberger Mitarbeitern des Jubilars, die für eine textlich getreue Wiedergabe der Erstabdrucke sorgten, allen voran Herrn Dr. Ralf Georg Czapla und Herrn Dr. R o m a n Luckscheiter, aber auch Frau Oberstudienrätin i. R. Hanna Leybrand und Herrn Bernhard Walcher. Μ. A.
Lyrik im Zeitalter des Humanismus und der Reformation
Zum epochengeschichtlichen Verständnis lyrischer Versdichtung des 16. Jahrhunderts I. Der soziale
Charakter
Erst die im 18. Jahrhundert zu beobachtende Ablösung der rhetorisch-zweckorientierten Literaturtheorie durch eine spekulative Gattungslehre in der Dreiheit von Epik, Lyrik und Dramatik verlegte den »Einheitspunkt des lyrischen Gedichts« in die Darstellung des »subjektiven Inneren« (Hegel) der Autoren. Lyrik galt seitdem als Paradigma der Erlebnisdichtung und wurde weithin verstanden als spontane Umsetzung intimer Gefühle und Stimmungen, als sprachlich besonders authentische, in der Regel monologische Wiedergabe ganz persönlicher Erfahrungen. Es ist angesichts möglicher Mißverständnisse festzuhalten, daß Bewertungskategorien dieser Art wenig dazu beitragen, die ästhetische Eigenart der drei großen Textgruppen zu erschließen, mit denen wir es im 16. Jahrhundert zu tun haben: der lateinisch-humanistischen Gelehrtendichtung, dem Meistersang und dem weiten Spektrum des geistlichen und weltlichen Lieds. Jede dieser Gruppen bildete ein literarisches Bezugssystem mit relativ festen Redeordnungen und Gattungskonventionen, denen sich das subjektive Aussagebedürfnis und der Gestaltungswille der Autoren ein- und unterordneten. Poetische Leistung, falls überhaupt individuell faßbar, wurde gemessen an der Erfüllung kultureller Erwartungen, die in der lebensweltlichen Gemeinschaft der Autoren und ihres jeweiligen Publikums verankert waren. Überindividuelle Verwendungszusammenhänge prägten den kommunikativen Status der meisten Texte und sicherten zugleich literarische Kontinuität: in der Festigung von Sprachmustern und Formtypen und in der Überlieferung bekannter Stoffe, Themen und Motive.
//. Rollensprache
und lyrisches Ich
Dieser soziale Charakter der Lyrik ist auch dort zu beachten, wo nicht ausdrücklich auf Adressaten Bezug genommen oder - wie im Gemeindegesang und geselligen Lied - ein kollektiver Umgang mit dem Text angestrebt wurde.
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Lyrik im Zeitalter des Humanismus
und der
Reformation
Selbst Gedichte, die sich als Aussprache eines lyrischen Ich zu erkennen gaben (weite Teile der Lieddichtung und der Humanistenpoesie), können nicht als expressive Kundgabe subjektiver Innerlichkeit interpretiert werden. Gelegenheitsdichtung und erotische Lyrik der Humanisten behandelten durchaus Situationen, Eindrücke und Konflikte des persönlichen Lebensschicksals. Doch die Wiedergabe von Gefühlen, von Freude, Lust, Trauer und Schmerz, gewann erst im Medium der künstlerisch ausgearbeiteten, sprachlich eleganten Form mitteilenswerte Verbindlichkeit. Die autobiographisch bestimmten Gedichte waren keine einsamen Monologe, sondern wie die antike Lyrik grundsätzlich an ein Gegenüber gerichtet. Im Rückgriff auf gattungsspezifische Muster, in der Assimilation von Ausdrucksmöglichkeiten der lateinischen Dichtersprache, in der bewußten Verwendung des rhetorischen »Schmucks« und in der absichtsvoll durchkonstruierten Formgebung demonstrierten die Gelehrtendichter auch bei einem privaten Thema Bildungswissen und erworbene sprachliche Perfektion. Dies allein bedingte schon eine Haltung der Distanz, die das einzelne Werk - im Einverständnis mit dem kompetenten Kreis der akademischen Leserschaft - als rational kalkuliertes Kunstprodukt auswies. Allerdings gelang es den bedeutenden Vertretern der neulateinischen Dichtung, sich das Ausdrucksrepertoire der antiken Sprache so zu eigen zu machen, daß die Rolle des >poeta doctus< nicht beengend wirkte. Im Medium des Lateins konnten Daseinserfahrungen artikuliert werden, für die die Muttersprache noch keine adäquaten künstlerischen Möglichkeiten besaß. Die lockere Anknüpfung an antike Vorlagen bewirkte in diesen Fällen einen Gewinn an poetischer Sensibilität. In der wahlverwandtschaftlichen Übernahme antiker Lebensentwürfe und Wahrnehmungsformen lag die Chance, herkömmliche Schemata der Selbstdarstellung zu überwinden, eigenes Lebensgefühl zur Sprache zu bringen und - wie sonst nur selten in der Literatur des Jahrhunderts - seelische Bewegung und persönliche Betroffenheit modellhaft zu gestalten.
III. Lyrik und
Öffentlichkeit
Infolge ihres gesellschaftlichen Charakters konnte lateinische wie deutsche Versdichtung in großem Maße Anteil nehmen an den scharfen politischen, sozialen und konfessionellen Auseinandersetzungen der Zeit, ja diese Kämpfe fanden hier nicht selten eine ihrer publizistischen Ausdrucksformen. In Klage, Lob und Tadel, in Satire, Didaxe und persönlicher Invektive, im dogmatischpolemischen Gemeindegesang und im politischen Ereignislied reagierten die Autoren auf das alle Schichten bewegende Kräfteringen. Auch die Ich-Lyrik formulierte das eigene Bekenntnis zumeist mit dem Anspruch auf öffentliche Geltung. Die eindrucksvollen Verse z.B. eines Ulrich von Hutten (Ich habs
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gewagt mit sinnen, 1521) begründeten den Entschluß zur politischen Tat vor dem Forum des eigenen Standes, ja der ganzen Nation. 1 Oft zielte gerade das persönliche Zeugnis darauf ab, in exemplarischer Weise Gesinnungen zu verdeutlichen oder, wie vor allem bei den Humanisten, die eigene Lebensleistung für die »Nachwelt« festzuhalten. 2 Dies gilt sogar für die Kernzone anscheinend zutiefst persönlicher, unmittelbar eingängiger Dichtung: die Gattung des erbaulichen, in individueller Frömmigkeit sich entfaltenden geistlichen Lieds. Das Ich, das hier im Gebet und Anruf Situationen religiöser Lebensgestaltung und Lebensbewältigung artikulierte, bezog sich in der singulären Ergriffenheit zugleich auf das alle Menschen betreffende Heilsgeschehen. Eigenes Empfinden hatte erbauliche Wirkung, indem Grundformen christlicher Existenz beispielhaft objektiviert wurden. Ein Sterbelied (Wenn mein Stündlein fürhanden istf des Nikolaus Hermann (1480-1561) wurde z.B. in diesem Sinne gerühmt als die »fröhliche Heerpauke, die der Heilige Geist bei der Hinfahrt mancher frommer Christen gebraucht habe«. 4 Dies Lob entsprach gewiß den Wirkungsabsichten des Verfassers und weist auf den praktischen Auftrag auch der persönlichen Lyrik in jener Zeit.
Neuere Literatur konnte, wie generell in diesem Band, nicht nachgetragen werden - hier mit einer Ausnahme, indem nämlich hingewiesen wird auf den Abdruck von wichtigen Texten der humanistisch-lateinischen Lyrik (mit Kommentar und deutscher Übersetzung) in der großen Sammelausgabe »Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts (abgekürzt HL, 1997; s. unten unter »Editionen«). Im übrigen werden viele der hier im Überblick genannten Autoren und Zusammenhänge in den folgenden Beiträgen mit weiteren (neueren) Literaturhinweisen behandelt. '
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Vgl. Peter Ukena: Legitimation der Tat. Ulrich von Huttens Neu Lied. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 1: Renaissance und Barock. Hrsg. von Volker Meid. Stuttgart 1982, S. 42-52. Beispielhaft Eoban Hesse: Eobanus Posteritati. in: HL (1997). S. 329-337; auch in: Lateinische Gedichte deutscher Humanisten. Lateinisch und deutsch. Hrsg. von Harry C. Schnur. Stuttgart 1966. S. 210-219. Wackernagel III. Nr. 1374. Abgedr. in: Deutsche Literatur des 16. Jahrhunderts. Hrsg. von Adalbert Eischenbroich. München 1981. Bd. 1. S. 121f. Vgl. eine lat. Übersetzung des Lieds in: Karl-Otto Conrady: Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts. Bonn 1962. S. 126f.; zum Typus antikisierender Lyrik nach wie vor lesenwert: Ernst Voege: Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit in der deutschen Lyrik. Untersuchungen an lyrischen Gedichten des Altertums und der Neuzeit [...]. München 1932. Nachdr. Darmstadt 1968. Zitiert nach F.A. Cunz: Geschichte des deutschen Kirchenliedes vom 16. Jahrhundert bis auf unsere Zeit. Nachdr. der Ausg. 1855. Wiesbaden 1969. Τ. 1. S. 383.
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Lyrik im Zeitalter des Humanismus
und der
Reformation
Die Textgruppen: Literarische Grundzüge und historische Entfaltung I. Humanistische und neulateinische Lyrik
1. Der Zusammenhang: Humanismus in Deutschland Geschrieben wurde im 16. Jahrhundert in deutscher und lateinischer Sprache. Die Wahl der Sprachebene und der damit vorgegebenen Sinnhorizonte richtete sich nach der Funktion der Texte, dem angesprochenen Publikum und dem Selbstverständnis des Autors. Die lateinische Dichtung war, von der Vertonung humanistischer Odenpoesie abgesehen, überwiegend zur individuellen Lektüre oder - bei repräsentativer Gelegenheitsdichtung - auch zur lauten Rezitation bestimmt. Aufnahme und Verbreitung der humanistischen Kunstdichtung standen im Zusammenhang komplizierter kultureller Umschichtungsvorgänge und Reformbewegungen: der Einbürgerung des von Italien ausgehenden Humanismus und der davon inspirierten Reorganisation der Schulen und Universitäten. Anerkennung und Resonanz, die das humanistische Bildungsprogramm fand, war die Konsequenz zunehmender »Verschriftlichung« der sozialen Lebenspraxis. Die Dienste der akademisch ausgebildeten Gelehrten, einer nicht mehr nur kirchlich ausgerichteten Intelligenz, wurden vor allem beim Ausbau der fürstlichen und städtischen Administration (Rechtswesen, Diplomatie, Kanzlei) immer unentbehrlicher. Für diese neue Bildungselite wurde der Begriff der >studia humanitatis< zur Basis eines kulturellen Selbstbewußtseins, das gegenüber Adel und Erwerbsbürgertum die eigene geistige Leistung in den Mittelpunkt stellte. Pochend auf Kompetenz in Wissenschaft und Literatur (litterae), setzte sich der Gelehrtenadel (nobilitas litteraria) wenigstens dem eigenen Verständnis nach Uber ständische Prärogative hinweg. Die produktive Aneignung der antiken Sprachen und der römischen und griechischen Literatur zielte auf die elegante, situationsgerechte Beherrschung von Schrift und Rede, meinte aber auch die Auseinandersetzung mit Theorien und Sachgehalten, die für die Regelung des individuellen Verhaltens und des sozialen Zusammenlebens bedeutsam wurden (antike Moralphilosophie, Geschichtswissenschaft, Naturkunde). Auch die Hochschätzung von Dichtung gehörte zu diesem rhetorisch-kommunikativen Bildungsideal. Gegen theologische Vorbehalte und scholastische Wissensbegriffe konnte sich gerade die neue Entdeckung der ästhetischen Eigengesetzlichkeit von Literatur nur schwer durchsetzen. Bedeutende Humanisten wie Peter Luder (um 1410-74), Hermann von dem Busche (1468-1534 ), Jakob Locher (1471-1528) und Conrad Celtis (1459-1508) wirkten zunächst als »Wanderlehrer« an verschiedenen Universitäten (u. a. Heidelberg, Ingolstadt, Köln, Leipzig, Freiburg). In programmatischen Reden warben sie für die >bonae litteraepraeceptor Germaniaelitterata pietas, die Kombination humanistischer Rede- und Formgewandtheit mit der Unterordnung unter die religiösen Normen der Kirche.6 Die Jesuiten konnten später daran anknüpfen. Professoren, Schullehrer und Pfarrer stellten im Bannkreis dieses christlichen Humanismus den größten Teil der neulateinischen Dichter des 16. Jahrhunderts. Poesie war also lehrbar. Sie zu erlernen setzte außer der natürlichen Begabung die Einübung (exercitatio) der antiken Kunstregeln (praecepta) voraus. Viele Poeten haben, ζ. T. im Zusammenhang der eigenen Unterrichtspraxis, knappe Leitfäden für den angehenden Dichter verfaßt (Celtis, Hesse, Hutten, Bebel, Murmellius, Sabinus u.a.). Vermittelt werden mußten hier die Re5
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Vgl. die umfassende Darstellung des Maximilian-Kreises von Jan-Dirk Müller: Gedechtmis. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I. München 1982. Zum deutschen Humanismus im Überblick: Eckhard Bernstein: Die Literatur des deutschen Frühhumanismus. Stuttgart 1978: Heinz-Otto Burger: Renaissance. Humanismus. Reformation. Deutsche Literatur im europäischen Kontext. Bad Homburg 1969: Lewis W. Spitz: The Course of German Humanism. In: Itinerarium Italicum. The Profile of the Italian Renaissance in the Mirror of its European Transformations. Hrsg. von Heiko Α. Obermann und Thomas A. Brady. Leiden 1975. S. 371-436; Humanismusforschung seit 1945. Ein Bericht aus interdisziplinärer Sicht. Boppard 1975: The Renaissance and Reformation in Germany. Hrsg. von Gerhart Hoffmeister. New York 1977. Grundlegend nach wie vor Friedrich Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten. 3., erw. Aufl. Hrsg. von R. Lehmann. 2 Bde. Leipzig [u. a] 1919-21: Georg Mertz: Das Schulwesen der deutschen Reformation im 16. Jahrhundert. Heidelberg 1902: zu Sturm (mit der neueren Literatur zur Schul- und Bildungsgeschichte) vgl. Anton Schindling: Humanistische Hochschule und freie Reichsstadt. Gymnasium und Akademie in Straßburg 1538-1621. Wiesbaden 1977.
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geln der antiken Silbenmessung, dies als Voraussetzung für die Kenntnis der Vers- und Strophenformen sowie der Gattungstypen. Die Normen stilistischer Eleganz, des figuralen Schmucks und der variablen Diktion entnahm man den Anweisungen der Rhetorik. In den größeren Lehrbüchern wie den De re poetica libri VII (1565 u. ö.) des Georg Fabricius fand der Leser außerdem die z.T. aus der Dialektik angezogenen >Topoi< für die gedankliche Ausarbeitung eines gegebenen Themas sowie ein poetisches Lexikon, das - stichwortartig geordnet - Versatzstücke und Phrasen aus den antiken Musterautoren vorlegte und die obligate Sammlung eigener Exzerpte ergänzte. Vor allem die Poetik des Joachim Vadianus (De Poetica, 1518)7 beschäftigte sich jenseits dieser technischen Fragen auch mit grundlegenden Problemen der Dichtungstheorie (Begriff, Nutzen, Wert und Würde der Dichtkunst und des Dichters; Rolle im System der »Künste«; Gattungsfragen). Die Ausarbeitung eigener Gedichte - angefangen beim schlichten Epigramm - setzte schon auf der Schule ein. Lektüre und Nachahmung (imitatio) der Vorbilder gingen Hand in Hand. Vollendete Nachahmung wies über sich hinaus auf den Wettbewerb mit den Leistungen des Altertums und der italienischen Renaissancedichtung, die die meisten Gelehrtendichter des 16. Jahrhunderts noch an Ort und Stelle kennengelernt hatten. In diesem Wettbewerb (aemulatio) waren eigene Erfindungsgabe und originelle Kombination der formalen Mittel nachzuweisen. Die bedeutenden neulateinischen Autoren sahen im wahlweisen Rückgriff auf metrische und stilistische Muster, auf poetische Situationen, Themen und einzelne Gedichte, schließlich in der analogen Strukturierung kompletter Lyrikzyklen einen subtilen Anspielungshorizont, in dem die eigenen Gedanken beziehungsreich ausgedeutet werden konnten. Verdeckte und offene Zitate bildeten einen besonderen >Codegenus communeEleos< (Mitleid) abgeleitet, war theoretisch der Trauerlyrik und Totenklage zugewiesen (nach Horaz, ars poetica 75ff.; Ovid, amores III,9.3f.), galt in der Praxis jedoch als eine für »jedwede Materie geeignete« (Murmellius), bequem zu handhabende Form. Sie trat schon früh in den Dienst moralisch-didaktischer Meditation (z.B. Johannes Murmellius: Elegiarum moralium libri IV, 1508), bot daneben auch den Rahmen für versifizierte Freundschaftsbriefe und die Gattung der an Ovids Heroides anschließenden Versepisteln fiktiver, ζ. T. allegorischer Figuren. Daneben fand die erotische Elegie der römischen Autorentrias Tibull, Ovid und Properz unter den deutschen Neulateinern zunächst nur bei Petrus Lotichius Secundus und Simon Lemnius wahlverwandtschaftlichen Widerhall. Liebesdichtung, betroffen von Obszönitätstabus und moralischer Zensur, wurde nicht selten ausdrücklich aus dem Gymnasialunterricht verbannt. Dennoch ließ man sich auch von den intimen Gedichten Catulls anregen, vor allem von den Kußgedichten, die bereits von italienischen Poeten virtuos ausgestaltet worden waren. Weltliterarische Geltung und ein rühmendes Echo, das bis zu Goethe reichte, erlangte vor allem der Basia-Zyklus des Flamen Johannes Secundus
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(d.i. Johannes Everaerts, 1511-36). 10 In der erotischen Lyrik der deutschen Späthumanisten (Taubmann, Barth, Fleming) verschmolzen zuletzt die von den Basia ausgehenden Impulse, ζ. T. über niederländische und romanische Dichter vermittelt, mit Elementen des Petrarkismus, mehr aber noch mit den Sprachspielen, dem Motivvorrat und der idyllischen Weltabkehr des seit 1554 vorliegenden (pseudo-)anakreontischen Gedichtkorpus. Vor allem in der Gelegenheitsdichtung behauptete freilich die Elegie ihre dominierende Stellung bis zum Jahrhundertende. Der typologische Bereich der Kasuallyrik stellt den größten Anteil, ja nimmt man den Begriff weit genug, die eigentliche Domäne der neulateinischen Versliteratur dar. Dichterisch begleitet und poetisch überhöht wurden die herausgehobenen Stationen des Lebens. Diese zu »besingen« konnte inneres Bedürfnis und freundschaftlicher Zuspruch sein, der zu persönlichen Gefühlsäußerungen fand. Die in der Regel zuerst im Einzeldruck verteilte Kasualpoesie, in den Gedichtsammlungen zumeist unter dem Titel »silvae« (Wälder - nach Statius) zusammengestellt, gehörte aber auch zu den gesellschaftlich gebotenen Pflichtleistungen, war in diesem Sinne Statussymbol des Adressaten und Bildungsdemonstration des Verfassers. Wer die Eheschließung im Hochzeitsgedicht (Epithalamion) feierte, konnte im Hinblick auf den biblisch begründeten Zweck der Ehe, den Kindersegen, sogar auf das erotische Glück des Paares anspielen. Die repräsentative Form der Kondolenzlyrik war das >Epicedion Dazu Anke-Marie Lohmeier: Beatus ille. Studien zum »Lob des Landlebens« in der Literatur des absolutistischen Zeitalters. Tübingen 1981, spez. S. 109ff. zu neulateinischen Beispielen. 17 Zu Leben, Werk, Textausgaben und Forschung umfassend Eckart Schäfer: Deutscher Horaz. Conrad Celtis, Georg Fabricius, Paul Melissus, Jacob Balde. Die Nachwirkung des Horaz in der neulateinischen Dichtung. Wiesbaden 1976. S. 1 - 3 8 ; Müller (wie Anm. 5):
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Hause, emanzipierte er sich im Lebenshabitus von der moralistischen Enge und christlichen Obödienz, von denen viele Gedichte des oberrheinischen (S. Brant, J. Wimpheling) und des rheinisch-westfälischen Frühhumanismus (u. a. J. Murmellius) geprägt waren. Dichten war für Celtis eine begeisternde Möglichkeit der Welterschließung durch eine den Dingen adäquate Sprache. Er verstand sich als Dichter und zugleich als Philosoph. Anmut und geistige Ordnung der poetischen Zeichenwelt sollte verweisen auf die innere, gesetzhafte, sich in den Phänomenen erschließende »Lebenskraft der Dinge«18 und so dazu beitragen, die Stellung des erkennenden Menschen im Kosmos zu beglaubigen. Celtis' lyrische Hauptwerke sind - neben den Epigrammen1'' - die Quattuor libri amorum (gedruckt 1502) sowie die postum (1513 ) veröffentlichten Libri odarum quattuor, cum epodo, et saeculari carmine. In den Atnores schilderte der Dichter mit autobiographischen Erinnerungen seine Reisen in die vier Weltgegenden. Im Mittelpunkt jedes Buches steht das Liebeserlebnis mit einem Mädchen: der Polin Hasilina im Osten (Krakau), der Regensburgerin Elsula im Süden, mit der Rheinländerin Ursula im Westen und Barbara als Vertreterin des Nordens (Lübeck). Das Einleitungsgedicht distanziert sich vom Provinzialismus des Federfuchsers und Stubenhockers. Gefeiert wird die Allgewalt des Eros, in platonischer Sicht ein weltdurchwaltendes Prinzip. Wenn der Dichter in De nocte et osculo Hasilinae (Nacht und Hasilinas Kuß)20 in unerhörter Kühnheit die Lust der erotischen Vereinigung erinnernd preist, dient dies nicht der Enthüllung pikanter Nuditäten, sondern stellt eine Glückserfahrung in den Mittelpunkt, die sich in der Bejahung der Lust der psychophysischen Ganzheit des Menschen öffnet. Durch die dem Werk beigegebenen Holzschnitte Albrecht Dürers wissen wir, daß der Gedichtzyklus in allegorischer Überblendung verschiedene Bedeutungsebenen entfalten sollte. Die zahlensymbolische Vielheit der Bücher meinte die Korrespondenz u. a. von Himmelsrichtungen, Jahreszeiten und Temperamenten. In dieser spekulativen Interpretation werden die geistigen Impulse sichtbar, die Celtis bewegten. Manche seiner Verse bezeugen, daß die Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Gott und Welt, von Zufall und Vorsehung, Weltordnung und Chaos dem beobachtenden und denkenden Menschen problematisch geworden war.
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vgl. auch die Angaben bei Schäfer (wie Anm. 8); wichtig immer noch Friedrich von Bezold: Conrad Celtis. Der deutsche Erzhumanist. Darmstadt 1959. (Erstdruck 1883); HL (1997), S. 12-137 mit dem Kommentar S. 90-1019. Celtis in seiner Ars versificandi, hier zitiert nach Schäfer (wie Anm. 17), S. 9 (vgl. dort im Zusammenhang). Vgl. dazu Dieter Wuttke: Textkritisches Supplement zu Hartfelders Edition der CeltisEpigramme. In: Renatae Litterae. August Buck zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Klaus Heitmann und Eckhart Schroeder. Frankfurt a. M. 1973, S. 105-130: Raimund Kemper: Die Redaktion der Epigramme des Celtis. Kronberg (Taunus) 1975. Deutsch und lateinisch in: Lateinische Gedichte deutscher Humanisten (wie Anm. 2), S. 40f.
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Celtis' Oden müssen begriffen werden als erstes bewußtes deutsches Gegenstück zur horazischen Sammlung, im Inventar der Themen und insbesondere in dem Ehrgeiz, für jede der antiken Strophenformen ein eigenes Pendant zu liefern. Acht Oden an heidnische Gottheiten wurden als besonders anstößig empfunden, obwohl die paganen Gestalten allegorisiert waren (Venus als Liebe usw.). Daß die antike Mythologie nun als eigenständiges Aussagemuster eingeführt wurde, wirkte auf konservative Zeitgenossen als Provokation. Celtis starb vor dem Ausbruch der reformatorischen Kämpfe. Andere Dichter, in erster Linie Ulrich von Hutten, besiegelten in ihren Werken das ζ. T. nur vorläufige und wenig haltbare Bündnis zwischen humanistischer und theologischer Reformbewegung. Mit Hutten stimmten auch die beißenden zeitkritischen Epigramme des Arztes und Botanikers Euricius Cordus (d.i. Heinrich Sölden, gen. Körte, 1486-1535), die noch Lessing übersetzte, ein in die Polemik gegen die Scholastik und das >Dunkelmännertum< der Papstkirche. Martin Luther wurde von Cordus wie auch von Eoban Hesse (d. i. E. Koch, 1488-1540) gefeiert. 21 Seine seinerzeit vielbeachteten vier Elegien »zum Lobe und zur Verteidigung« des Reformators (1521) lassen noch nicht erkennen, daß er dogmatisch eigentlich uninteressiert war und die sozialen Erschütterungen der Reformationsjahre später - auch in Gedichten - beklagte. 22 Hesse gehörte wie auch Cordus zu einem elitären Zirkel, den der Gothaer Stiftsherr Conrad Mutianus Rufus um sich geschart hatte. Der Kult der antiken Musen und die Pflege antiker Lebenshaltung (Ideal der beata tranquillitas) galten hier mehr als theologische Probleme und Streitigkeiten. Hesse, zeitlebens in unsicherer beruflicher Situation (u. a. als Schullehrer in Nürnberg), hat in der Erneuerang der Ekloge, der in Versform gefaßten, zumeist dialogischen Hirtendichtung, und in seiner Sammlung poetischer Episteln (Heroidum Christiana rum epistolae, 1514, Neubearbeitung 1532) der neuzeitlichen Poesie bleibende Anstöße gegeben. Die Hirtendichtung, von Vergil und dem Italiener Baptista Mantuanus ausgehend, war bei Hesse ein literarisches Maskenspiel, in dem er die um Mutian gescharte Poetengesellschaft in eine imaginäre, vom Druck der Gegenwart befreite Welt versetzte. Die realen Konflikte des Bauernkriegs wurden nur selten in diesem Genre berührt. Cordus und der gemeinsame jüngere Freund Joachim Camerarius (1500-74) allerdings fanden, über Vergil hinaus auf Theokrit zurückgreifend, zu einem Realismus, der die Ausbeutung des Bauern zur Sprache brachte, Unrecht aus der Perspektive des Landmannes betrachtete und in teilweise raffinierter
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Euricius Cordus: Epigrammata. Hrsg. von Karl Ki'ause. Berlin 1892; lateinisch und deutsch in Auswahl in: Lateinische Gedichte deutscher Humanisten (wie Anni. 2) S. 58-67; Hesses Luther-Elegien greifbar in: Humanismus und Renaissance in den deutschen Städten und an den Universitäten. Hrsg. von Hans Rupprich. Nachdr. Darmstadt 1964. S. 2 0 9 - 2 2 3 ; Auswahl auch in: H L (1997). S. 2 4 8 - 2 5 7 mit dem Kommentar. Grundlegend zu Hesse nach wie vor Carl Krause: Helius Eobanus Hessus. Sein Leben und seine Werke [...]. 2 Bde. Gotha 1879. Nachdr. Nieuwkoop 1963; HL (1997), S. 2 4 7 - 3 3 7 und 1097-1143.
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Anspielung auf Beispiele der antiken Bukolik die Ereignisse der Zeitgeschichte kommentierte. 21 Die in der Nachfolge Ovids stehenden Versepisteln Hesses sammelten fiktive Briefe christlicher Gestalten, die der Bibel und Legendentradition entnommen waren. Ein antikes Genus wurde so modernisiert, d. h. christianisiert. Hesse ließ ζ. B. Helena an Konstantin, Monica an Augustinus, Maria an den Lieblingsjünger Johannes und Maria Magdalena an den auferstandenen Christus schreiben.24 Der Anspruch dieser Form lag in der Erfindung der Schreibsituation, der rhetorischen Durchbildung des Gedankengangs und in der poetischen Darstellung der seelischen Affekte im Sinne eines dramatisch bewegten Charakterporträts. Die fiktive Versepistel war bis ins 18. Jahrhundert (später vor allem bei den Jesuiten) außerordentlich beliebt. Sie konnte in leichter Abwandlung (Germania schreibt an den Kaiser, so ζ. B. bei Georg Sabinus) auch als politischer Mahnruf verwendet werden. Anders als in dieser hochstilisierten, alltagsenthobenen Lyrik gaben die Gedichte des Jacob Micyllus (d. i. Moltzer, 1503-58), der auch zum Erfurter Kreis gezählt wird, den Blick frei für Nöte, Leiden und Konflikte eines bürgerlichen Gelehrtenlebens. Die Elegie auf den Tod seiner Frau (1548)25 ist ein ergreifendes Zeugnis »furchtbaren Wehs«. Als Micyllus z.B. seine Reise von Wittenberg nach Frankfurt oder den Brand des Heidelberger Schlosses (1527) schilderte, entstand eine Versdichtung von seltener Wirklichkeitsnähe. Lotichius und die Schüler Melanchthons. Micyllus als seinen Lehrer verehrte zeitlebens der Mann, mit dem die deutsche Humanistendichtung nach dem Urteil der Zeitgenossen wie auch dem der Nachwelt ihren Gipfel erreichte: Petrus Lotichius Secundus (d.i. Lotze), geboren 1528 im hessischen Schlüchtern, gestorben als Professor der Medizin 1560 in Heidelberg. Ähnlich wie Conrad Celtis in seinen Amores hat Lotichius in den ersten drei Büchern seiner Elegien (nacheinander erschienen: Paris 1551, Lyon 1553, Bologna 1556) den eigenen Lebensweg in den Mittelpunkt gestellt.2" Wenn irgendwo, dann läßt 23
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Vgl. Eckart Schäfer: Bukolik und Bauernkrieg. Camerarius als Dichter. In: Joachim Camerarius (1500-1574). Beiträge zur Geschichte des Humanismus im Zeitalter der Reformation. Hrsg. von Frank Baron. München 1978. S. 121-151. Dazu Harry Vredeveld: Der heroische Brief Maria Magdalena Jesu Christo aus den Heroidum libri tres des Helius Eobanus Hessus. In: Daphnis 6 (1977), S. 65-90: grundlegend Heinrich Dörrie: Der heroische Brief. Bestandsaufnahme. Geschichte. Kritik einer humanistisch-barocken Dichtgattung. Berlin 1968; HL (1997). spez. S. 318-337 und 1134-1143. Deutsch und lateinisch in: Lateinische Gedichte deutscher Humanisten (wie Anm. 2), S. 296-297. Zu Person und Werk s. Johann Classen: Jacob Micyllus als Schulmann, Dichter und Gelehrter. Frankfurt a.M. 1858: HL (1997), S. 359-393 und 1159-1177. Zu Lotichius vor allem Adalbert Schroeter: Beiträge zur Geschichte der neulateinischen Poesie Deutschlands und Hollands. Berlin 1909. S. 36-128; Walther Ludwig: Petrus Lotichius Secundus and the Roman elegists: Prolegomena to a Study of Neo-Latin Elegy. In: Classical Influences in European Culture A.D. 1500-1700. Hrsg. von R.R. Bolgar. Cambridge 1976. S. 171-190; Bernhard Coppel: Bericht über Vorarbeiten zu einer neuen Lotichius-Edition. In: Daphnis 7 (1978) S. 55-106; HL (1997), S. 3 9 5 ^ 9 7 und 1178-1239.
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sich hier - innerhalb der poetologischen Grenzen der Nachahmungsforderung - >Erlebnisdichtunglyrische< Versdichtung des 16. Jahrhunderts noch zum Einzugsbereich spätmittelalterlicher Formtraditionen. Dies gilt für die didaktisch, satirische und episch-beschreibende Spruchliteratur ebenso wie für die sich in unerhörter Breite und Fülle entfaltende Liedproduktion. Manche Lieder aus dieser Zeit sind in Wort und Weise im Gedächtnis der Deutschen geblieben, seit Herder und den Romantikern als Ausdruck volkstümlichen Empfindens aufgewertet und zu neuen literarischen Ehren gebracht. In allen sozialen Lebensräumen spielte das gesungene Lied eine kaum zu überschätzende Rolle: in Haus, Schule und Kirche, in der Stadt und am Hof, nicht zuletzt im Alltag des arbeitenden Volkes. Das Hören und Singen von Liedern entband offenbar elementare kulturelle Bedürfnisse. Der gemeinsame Liedgesang war ein kommunikativer Faktor ersten Ranges, zugleich ein integratives Element spontaner oder organisierter Geselligkeit: im genos35 36
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Vgl. Pierre de Nothac: Un poete Rhenan, ami de ta Pleiade: Paul Melissus. Paris 1923. Vgl. das Gedicht Poetis Italis, Gallis, Hispanis (lateinisch und deutsch) in: Lateinische Gedichte deutscher Humanisten (wie Anm. 2), S. 292f. Maßgeblich zu Schedes Lyrik die Arbeiten von Eckart Schäfer (wie Anm. 17). S. 64-108: Die Dornen des Paul Melissus. In: Humanistica Lovaniensia XXII (1973), S. 217-255: Die Aura des Heiligenbergs. Eine späte petrarkistische Ode des Paul Melissus (Schede). In: Gedichte und Interpretationen (wie Anm. 1), S. 111-123; vgl. auch Leonard Forster / Jörg-Ulrich Fechner: Das deutsche Sonett des Melissus. In: Daphnis 6 (1977); S. 57-79: HL (1997). S. 753-861 und 1395-1483.
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senschaftlichen Meistersang der städtischen Handwerker, in der liturgischen oder außerliturgischen Versammlung der Kirchengemeinde, im >convivium musicum< dilettierender Laien (vor allem des Urbanen Bürgertums) 18 und in der von Hof und Oberschicht getragenen Musikpflege bei festlichem Anlaß. Die Gepflogenheiten der musikalischen Darbietung prägten die ästhetischen Konventionen weltlicher und geistlicher Texte. Sie waren dem schlichten wie auch meistersingerlich-virtuosen Solovortrag unterlegt oder bildeten die verbale Seite des Chorgesangs in Kirche und Schule sowie der mehrstimmigen Vokalkompositionen. Strophische Bindungen der Verse entsprachen der melodischen Fügung. Beide zusammen markierten den jeweiligen >Ton< eines Liedes, der als festes Schema übernommen werden konnte. Infolge dieser Symbiose von Text und Musik verloren Mängel an Gewicht, die dem heutigen Leser bei der bloßen Lektüre von Zeugnissen des Meistersangs und ζ. T. auch des geistlichen Lieds auffallen. Verse wurden hier nach fester Silbenzahl bemessen und der gewohnte Wortlaut nicht selten durch Verkürzungen und Verschleifungen zurechtgestutzt. Soweit man sich an die Regel alternierender Betonung hielt (etwa im strengen Knittelvers, dem paarweise gereimten Vierheber z.B. bei Hans Sachs), kam es zu stellenweise schwer erträglichen Widersprüchen von Versiktus und Wortakzent. Dagegen entsprachen viele volkstümliche Lieder, von schulmeisterlichen Zwängen unbeeinflußt, dem natürlichen Sprachfluß; hier war es möglich, in der metrischen Gliederung nicht schematisch zu verfahren, sondern das alte Prinzip der sogenannten Füllungsfreiheit zu erhalten. Die terminologischen Unterscheidungen zwischen Volks-, Kunst- und Gesellschaftslied sind in der Forschung vieldiskutiert. 39 Einordnungsversuche finden mögliche Anhaltspunkte weniger in Thematik und Textstruktur als in den sozialen Aspekten der Entstehung, Aufnahme und Verbreitung. Wie das literarisch fixierte, einem bestimmten Autor oder Dichterkomponisten zuzuschreibende Kunstlied war auch das Volkslied ursprünglich eine individuelle Schöpfung. Es wurde allerdings sehr oft anonym weitergegeben, dabei im Prozeß der mündlichen Tradition >umgesungen< oder >zersungenLiedpublizistikTons< voraus. Schon auf seiner Wanderschaft als Handwerksbursche gelangen Hans Sachs in diesem Sinne eigene Schöpfungen (sog. Silberweise, 1513). Der hier zu beobachtende Originalitätsanspruch ordnete sich freilich jederzeit dem esoterischen Gemeinschaftsethos der Singschule unter. Publiziert durften Meisterlieder nicht werden; sie waren nur für den inneren Zirkel der aktiven Sänger bestimmt. Als künstlerische Kontrollinstanz wirkten hier die >MerkerAufgesang< Der Schluß der Strophe (>AbgesangZechsingen< im Wirtshaus. Im Schulbetrieb dominierte ein Kunstwollen, das von populärer Unterhaltung abgesetzt war und auf sachliche Belehrung und religiöse Erbauung abzielte. Die Normen bürgerlicher Sittlichkeit sowie - infolge der protestantischen Ausrichtung der meisten Singschulen - die Lehren der Hl. Schrift galten als unverrückbarer Maßstab. Hans Sachs hat dem Meistersang auf dem profanen Sektor ζ. T. völlig neue Stoffgebiete erschlossen: historische oder legendenhafte Ereignisse der Vergangenheit, Geschehnisse der Leitgeschichte, antike Mythologie, Fabeln und Vorlagen aus Chroniken, Reisebeschreibungen sowie antiker und moderner Literatur. Dieser Drang zu enzyklopädischer Stoffülle ließ kaum Überlegungen zur ästhetischen Vereinbarkeit von Liedform und Themenwahl zu. Gerade bei Sachs machte sich eine »fast unbezwingbare Freude am Erzählen« (Geiger) geltend. Auch kulturell fremde Vorlagen wurden unbefangen auf Sinnhorizonte des Alltags bezogen und moraldidaktisch aufbereitet. Nur 43
Hans Sachs: Die Wittenbergisch Nachtigall. Reformationsdichtung. Hrsg. von Gerald H. Seufert. Stuttgart 1974; dazu Barbara Könneker: Die deutsche Literatur der Reformationszeit. Kommentar zu einer Epoche. München 1975. S. 148ff. (mit weiterer Literatur); Bernd Balzer: Bürgerliche Reformationspropaganda. Die Flugschriften des Hans Sachs in den Jahren 152^-1525. Stuttgart 1973.
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selten gelang die künstlerisch so gelungene Umsetzung wie in Sachsens Lied Der edelfalk (1543 nach einer Novelle von Boccaccio). 44
3. Verkündigung
und Andacht:
Das geistliche
Lied
Für die Bewußtseinsbildung und Lebenswirklichkeit breiter Bevölkerungskreise, aber auch für die schöpferische Entwicklung der späteren geistlichen Dichtung kommt den Kirchenliedern Martin Luthers eine überragende Bedeutung zu. Zu seinen Lebzeiten wurden sie vor allem in drei mehrfach aufgelegten, jeweils nach verschiedenen Prinzipien angeordneten Gesangbüchern verbreitet (1524, 1529, 1545), die der Reformator mit programmatischen Vorworten versehen hatte. 4 ' Nicht poetischer Ehrgeiz ließ ihn zur Feder greifen, sondern das Gebot der Stunde: Motive der Seelsorge und der Wille zur kraftvollen Demonstration des reformatorischen Glaubens. Den Anfang machte 1523 ein polemisches Ereignislied, das den Märtyrertod zweier in Brüssel verbrannter Mönche behandelte (Ein neues Lied wir heben an). In den Folgejahren stand der planmäßige Ausbau des volkssprachlichen Liedguts ganz im Zeichen der Meßreform. Die alte Kirche hatte den Volksgesang im wesentlichen nur außerhalb der Liturgie, etwa bei Wallfahrten, Prozessionen und Krippenspielen gestattet. Nun sollte der Gottesdienst von den Laien getragen werden, nicht mehr vom Klerus. Das erforderte den Ersatz der lateinischen Hymnen. Luthers Rivale Thomas Müntzer hatte zu diesem Zweck bereits mehrere altkirchliche Texte übersetzt (Deutsches Kirchenamt, 1523).46
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Vgl. die Interpretation von Ulrich Mache: Boccaccio verbürgerlicht. Der edelfalk von Hans Sachs. In: Gedichte und Interpretationen (wie Anm. 1). S. 70-80. Maßgeblich die Textausgabe mit den Vorreden und Materialien in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 35: Die Lieder. Hrsg. und eingeleitet von Wilhelm Lücke. Weimar 1923. Nachdr. Weimar bzw. Graz 1964. Die von mir zitierten Liedanfänge sind der heutigen Orthographie angeglichen; zur ersten Information Könneker (wie Anm. 43) S. 142ff.; zu allen literarischen, theologischen und forschungsgeschichtlichen Aspekten nunmehr immer heranzuziehen Gerhard Hahn: Evangelium als literarische Anweisung. Zu Luthers Stellung in der Geschichte des deutschen kirchlichen Liedes. München 1981; vgl. auch Herbert Wolf: Martin Luther: Eine Einführung in germanistische Luther-Studien. Stuttgart 1980; Handbuch zum evangelischen Kirchengesangbuch. Hrsg. von Christhard Mahrenholtz und Oskar Söhngen. Göttingen 1953ff.; Christoph Albrecht: Einführung in die Hymnologie. Göttingen 1973; Jürgen Henkys: Das Kirchenlied in seiner Zeit. Hymnologische Beiträge. Stuttgart 1980; Walter Blankenburg: Die Entwicklung der Hymnologie seit etwa 1950.1n: Theologische Rundschau 42 (1977), S. 131-170.360^405 (fortgesetzt); Walther Lipphardt: Über die Begriffe: Kontrafakt. Parodie. Travestie. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 12 (1967). S. 104-111; Waltraud Ingeborg SauerGeppert: Kirchenlied. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. Berlin 21958. S. 819-852. Vgl. Siegfried Bräuer: Thomas Müntzers Liedschaffen. In: Luther-Jahrbuch 41 (1974). S. 45-102; Walter Ellinger: Thomas Müntzer, Leben und Werk. Göttingen 1975.
Lyrik im Zeitalter des Humanismus und der Reformation
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In Berufung auf Worte des Apostels Paulus und nach dem Vorbild besonders der alttestamentarischen Psalmen stellte Luther das gesungene Wort in den Dienst der Verkündigung und des Gotteslobs. Darin lag auch eine pädagogische Absicht. Bereits in der Schule sollten sich der Jugend im Chorgesang zentrale Wahrheiten des Glaubens einprägen. Nicht zuletzt weil sich die Gemeinden nur langsam mit den neuen Liedern vertraut machen konnten, sah Luther im Vortrag der Schola weiterhin eine willkommene Ergänzung des liturgischen Ablaufs. Daß er darüber hinaus den Liedgesang als spontanen Ausdruck der in Christus zugesagten Heilsgewißheit interpretierte, belegt eindrucksvoll eine Äußerung der letzten Gesangbuchvorrede (1545):47 Denn Gott hat unser hertz und mut frölich gemacht, durch seinen lieben Son. welchen er für uns gegeben hat zur erlösung von sunden, tod und Teuffei. Wer solchs mit ernst gleubet, der kans nicht lassen, er mus frölich und mit lust davon singen und sagen, das es andere auch hören und herzu komen.
Nach ihrem geistlichen Gehalt und den zugewiesenen Gelegenheiten bzw. Funktionen in der Liturgie lassen sich Luthers Lieder z.T. in klar umrissene Gruppen einteilen. Auf die verschiedenen Feste des Kirchenjahres bezogen sich die »de tempore«-Stücke. Der Ordnung der neugestalteten Messe (als Liedgottesdienst organisiert seit der Formula missae, 1523)4S folgten u.a. das deutsche Credo Wir glauben all an einen Gott, die Lieder für den Gesang nach der Predigt und zur Austeilung des Abendmahls sowie das muttersprachliche Agnus Dei (Christe, du Lamm Gottes). Seit dem Wittenberger Gesangbuch von 1529 wurde die Reihe der lehrhaften Katechismuslieder zusammengefaßt. Sie waren auch für Haus und Schule bestimmt und überführten die zehn Gebote und das Vater Unser in Versform. An die spezifisch reformatorische Botschaft, »wie der Sünder zur Gnade kommt«, sollte nach Luthers Willen ein dazugehöriges »Deutelied« in theologisch korrekter Systematik erinnern (Nun freut euch, liebe Christen ginein). Diesen Liederkreisen läßt sich anschließen eine nur ungefähr abgrenzbare Abteilung von »Kampf-, Klage- und Bittliedern zu Zeitsituation«, darunter Luthers Bitte um Frieden (Verleih uns Frieden gnädiglich), das schlichte, ohne Vorlage verfaßte Kinderlied ( !) wider Papst und Türken (Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort, 1541), vor allem aber das Trost- und Vertrauenslied Eine feste Burg ist unser Gott (erschienen 1529).4" Dieses gewiß populärste Luther-Lied, bald parodiert (im 19. Jahrhundert in nationalistischem Pathos nachgeahmt), von Heinrich Heine als »Marseiller Hymne der Reformation« bezeichnet und fälschlich mit Luthers Auftritt in Worms in Verbindung gebracht, verwendete sprachliche Elemente des 46. Psalms,
47 4S 49
D. Martin Luthers Werke (wie Anm. 45) Bd. 35. S. 477. Vgl. dazu Hahn (Anm. 45) S. 39^11. Mit Diskussion der Forschung Hahn (Anm. 45) S. 267-283; vgl. auch Lothar Schmidt: »Und wenn die Welt voll Teufel war«. Zu Martin Luthers Eine feste Burg ist wiser Gott. In: Gedichte und Interpretationen (Anm. 1) S. 55-67.
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Lyrik im Zeitalter des Humanismus
und der
Reformation
stützte sich aber vor allem auf die Kampfmetaphorik des reformatorischen Flugschrifttums. In einfachen, aber wirksamen Formeln und anschaulichen Bildern deutet Luther, seiner Geschichtsmetaphysik entsprechend, die Not der Zeit als Ringen zwischen Gott und dem Teufel (»der alt böse feind«). Die geschichtliche und psychische Realität von Bedrängnis und Anfechtung weist auf den heilsgeschichtlichen Antagonismus, in dem sich der gläubige Mensch, festhaltend am biblischen Wort, wider alle Drohungen und Gefahren der Hilfe Gottes sicher sein darf. Kaum mehr als ein halbes Dutzend der Lutherschen Lieder sind freie Neudichtungen. Die anderen Texte schließen sich bewußt an überkommene literarische Modelle an, in denen man die Situation des Gläubigen, die Haltungen von Lob, Bitte und Gebet sowie die innere Wirkung auf angefochtene Seelen beispielhaft vergegenwärtigt fand. Dies galt in erster Linie für die Psalmen: 50 Da sind die Psalmen recht lieblich und süsse. Denn sie tröstlich alle betrübten, elenden gewissen sind, die in der sunden angst, u n d todes marter und furcht, u n d allerley not und j a m e r stecken. Solchen hertzen ist der Psalter, weil er den Messia singet u n d predigt, ein süsser, tröstlicher, lieblicher gesang.
Luther erfuhr hier die bewegende und beglückende Wirkung der Grammatica und Musica, da die wort zierlich u n d künstlich gestellet sind, und der gesang oder dohn süsse und lieblich lautet, das da heisst, Schöner text u n d Schöne noten.
Von den Psalmliedern sei hier nur die Bearbeitung des 130. Psalms, des sechsten der Bußpsalmen, genannt: Aus tiefer Not schrei ich zu dir. Das Vorlagenspektrum wird ergänzt durch neutestamentliche Versifizierungen, besonders aber durch den vielfachen Rückgriff auf altkirchliche lateinische Hymnen, die ζ. T. schon in deutschen Fassungen greifbar waren: Nun komm, der Heiden Heiland (Veni redemptor gentium des Ambrosius), Herr Gott, dich loben wir (Te cleum laudamus) oder (nach einer Antiphon des 13. Jahrhunderts) Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen. Wegweisend für spätere Verfasser machte sich Luther bereits die Technik der sogenannten Kontrafaktur zunutze: Das geistliche Lied übernahm dabei den Ton einer weltlichen Weise (so etwa Vom Himmel hoch da komm ich her). Die Vielzahl der von Luther verwendeten strophischen Formen deutet auf den heterogenen Charakter der literarischen Überlieferungen, die in seinem Liedwerk zusammenflössen. Schlichte Vierzeiler (nach den sog. Ambrosianischen Hymnen sowie deutschen Volksliedern) kontrastieren mit komplizierten Verbindungen. Luthers eigene Handschrift zeigt sich am ehesten in der Gruppe der Siebenzeiler (sog. Lutherstrophe) und Neunzeiler: jeweils dreiteilig gebaut mit reimloser, stark abgesetzter Schlußzeile (Waise). Auch in der Sprachgestalt 50
Die folgenden Zitate aus M. Luther: Von den letzten Worten Davids, 1543. In: D. Martin Luthers Werke (Anm. 45) Bd. 54. S. 33f.
Lyrik im Zeitalter des Humanismus und der Reformation
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der Lieder herrscht eine wirkungs- und themenbezogene Mannigfaltigkeit: epische Erzählpartien, dramatische Antithesen, spruchartig didaktische Reihen, Gebets- und Preisrufe stehen nicht selten im selben Liedwerk. Dies kann hier im einzelnen nicht weiter verfolgt werden. Es wäre verfehlt, unter dem Eindruck der Luther-Lieder zu vergessen, daß in fast allen protestantischen Territorien (neben den zahlreichen Einzeldrucken) eigene Gesangbuchtraditionen entstanden. Mit Luther und nach ihm wirkten viele namhafte Autoren, die den Typenradius der Lieddichtung auf beinahe alle Anlässe bzw. Gebrauchszwecke des öffentlichen wie privaten Lebens erweiterten: Reise-, Tisch- und Kinderlieder, Sterbelieder wie Ο Welt, ich muß dich lassen (eine Kontrafaktur von Innsbruck, ich muß dich lassen), Morgenlieder wie das hundertfach nachgeahmte Wie schön leuchtet der Morgenstern des bereits von der wiederentdeckten mittelalterlichen Mystik beeinflußten Philipp Nicolai (1556-1608). Von ihm stammt auch Wachet auf, ruft uns die Stimme. An Beispielen von Nikolaus Herman (um 1480-1561) und Nikolaus Seinecker (1530-92) ließe sich verfolgen, wie die Normen religiöser Sozialethik in der Kritik gesellschaftlicher Mißstände konkretisiert werden konnten.51 Nur stichwortartig ist hier weiter zu erinnern an das eigenständige Liedgut des oberdeutschen Raums mit den hochrangigen Werken der in Konstanz lebenden Brüder Thomas und Ambrosius Blaurer (1492-1564). Daß sich auch die katholische Kirche dem attraktiven Medium des Lieds nicht verschließen konnte und wollte, bewies das Gesangbuch des Michael Vehe (1537), dem später u.a. die von Johannes Leisentritt herausgegebenen Geistlichen Lieder und Psalmen (1567) folgten. In den calvinistischen Gemeinden beschränkte man sich-streng biblisch - auf den Psalmengesang. Vorbild war der französische Hugenottenpsalter. Nach wenig erfolgreichen Übersetzungsversuchen es Schede Melissus wurde überall die deutsche Version des Königsbergers Ambrosius Lobwasser eingeführt (Erstdruck 1573)." Abseits der etablierten Kirchen hielten sich nicht nur die Taufgesinnten und religiöse Gruppen wie die Schwenkfeldianer, sondern auch einzelne Vertreter eines Christentums, das sich gegen jeden praxislosen Dogmatismus wandte. Der geniale Sebastian Franck hat das in die Zukunft weisende Programm dieser Kirche des Geistes in einem seinerzeit (1529) provokativ wirkenden Lied verdeutlicht.51 Bereits vor der Reformation lag im Liedgut der Böhmischen Brüder das Zeugnis einer literarisch produktiven Laienfrömmigkeit vor (gesammelt von Michael Weiße, 1531). Die Lieder der erbarmungslos ver51
52
53
Vgl. die in Deutsche Literatur des 16. Jahrhunderts (Anm. 3) abgedruckten Lieder S. 115ff. bzw. 124ff. (Klagelied / von jetzigem zustand vieler armer Leute / an manchen orten / unnd Gebet flir die Obrigkeit). Dazu besonders Erich Trunz: Ambrosius Lobwasser. Humanistische Wissenschaft, kirchliche Dichtung und bürgerliches Weltbild im 16. Jahrhundert. In: Altpreußische Forschungen 9 (1932) S. 29-72; sowie ders.: Die deutschen Übersetzungen des Hugenottenpsalters. In: Euphorion 29 (1928) S. 578-617. Sebastian Franck: Von vier zwiträchtigen Kirchen, deren jede die andere verhasset vnnd verdammet. Abgedr. in: Gedichte 1500-1600 (Anm. 41) S. 97-99.
26
Lyrik im Zeitalter des Humanismus und der Reformation
folgten Wiedertäufer verschiedener Schattierungen standen sozialgeschichtlich in dieser Tradition. Manche Texte wurden, noch heute bewegend, im Angesicht des Todes verfaßt, als im Flugblatt weitergereichte Bekenntnisbotschaft und hoffnungsfrohe Zurüstung zur letzten irdischen Anfechtung.« 54
4. Tradition und Innovation
beim weltlichen
Lied
Von der »Gebrauchskunst fürstlicher Hofhaltungen«, die sich auch das Bürgertum zu eigen machte, bis hin zu den Brauchtumsliedern, >BergreihenTagliedes< auf, das aus wechselndem Blickwinkel Abschied und Trennung zweier Liebender am Morgen nach der Liebesnacht besang (z.B. Wach aujf, meins Hertzen ein schöne)."' Das Erzähllied überformte nicht nur alte Stoffe der Heldenepik, sondern führte auch gefühlsmäßig ergreifende Lebensschicksale vor - wie etwa in der Ballade von den beiden Königskindern (stofflich auf Ovids Geschichte von Hero und Leander zurückgehend). 57 Zahlreich vertreten sind Sprüche und Lieder, die aktuelle politische und militärische Ereignisse behandelten. Die Verfasser gaben sich manchmal als Augenzeugen zu erkennen und ließen es an parteilicher Stellungnahme nicht fehlen. Hierzu gehört die wichtige Liedpublizistik zum Bauernkrieg (um 1525). Weniger aktueller Information als moralischer Belehrung oder der Befriedigung von Sensationslust diente eine verwandte Form der historisch-politischen Ereignisdichtung: das auf die Manier der Bänkelsänger vorausweisende Zeitungslied. Mordgeschichten, Hinrichtungen, Kometenerscheinungen, Mißgeburten, Wunder und Katastrophen aller Art wurden nicht nur berichtet, sondern bisweilen auch agitatorisch kommentiert (z.B. im religiösen antijüdischen Flugschrifttum, das etwa an vermeintliche Hostienfrevel anknüpfte). Eine historische Zäsur der deutschen Lieddichtung haben wir nach der Jahrhundertmitte im Eindringen italienischer Formen und Sangweisen zu sehen. Die Kurtzweiligen Teutschen Lieder (erschienen in drei Bänden 1576-79) des u. a. in Prag wirkenden Jacob Regnart (1540-99), auch Liederbücher z.B. des Südtirolers Leonhard Lechner, der bei dem nach München berufenen Orlando di Lasso gelernt hatte, stehen für die verbreitete Rezeption von Madrigal, Kanzone und Villanelle. Volksliedhafte Schöpfungen wie das berühmte Regnartsche Lied Venus, du und dein Kind'" finden sich nun neben Terzinenstrophen. Vorstellungen und Motive romanischer Lyrik (Petrarkismus) werden aufgenommen, die sprunghafte gedankliche Bauart des alten Lieds erscheint nun intellektuell durchkonstruiert, die Korrespondenz von Vers- und Wortakzentuierung stärker beachtet. Auch musikalisch herrscht ein Nebeneinander alter und neuer Kompositionsarten (Abkehr von der polyphonen Kontrapunktik; Wendung zum Generalbaßlied mit der Melodie im Diskant). Von den Liederdichtern des letzten Jahrhundertdrittels führen zahlreiche Fäden zur gesanglichen Lyrik der folgenden Epoche. 56
57
5S
Text in: Deutsche Literatur des 16. Jahrhunderts (wie Anm. 3), S. 153f.; zum Typus u. a. Arthur T. Hatto: Das Tagelied in der Weltliteratur. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 36 (1962), S. 4 8 9 - 5 0 6 : Friedrich Nicklas: Untersuchungen über Stil und Geschichte des deutschen Tageliedes. Berlin 1929. Text der ältesten vollständigen Überlieferung in: Deutsche Literatur des 16. Jahrhunderts (wie Anm. 3). S. 21 l f . Abgedruckt in: Gedichte 1500-1600 (wie Anm. 41). S. 232f.; vgl. Walter Brauer: Jakob Regnart, Johann Hermann Schein und die Anfänge der deutschen Barocklyrik. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 17 (1939), S. 3 7 1 - 4 0 4 : Rolf Caspari: Liedtradition im Stilwandel um 1600. Das Nachleben des deutschen Tenorliedes in den gedruckten Liedersammlungen von Le Maistre (1566) bis Schein (1626). München 1971.
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Lyrik im Zeitalter des Humanismus
und der
Reformation
Ausgewählte Editionen Zur Ergänzung verweise ich auf die weiterführenden Bibliographien: James E. Engel: Renaissance, Humanismus, Reformation. Bern/München 1969; Barbara Könneker: Die deutsche Literatur der Reformationszeit. Kommentar zu einer Epoche. München 1975.
Textsammlungen Altdeutsches Liederbuch. Hrsg. von Franz Böhme. Leipzig 1877. Nachdr. Hildesheim 1966. Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder. Hrsg. von Ludwig Uhland. Stuttgart 21881. Nachdr. Hildesheim 1968. Bergreihen. Eine Liedersammlung des 16. Jahrhunderts mit drei Folgen. Hrsg. von Gerhard Heilfurth [u. a.]. Tübingen 1959. Delitiae poetarum Germanorum huius superiorisque aevi illustrium. Pars I-VI. Hrsg. von Janus Gruter. Frankfurt a. M. 1612. Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis Anfang des 17. Jahrhunderts. Hrsg. von Philipp Wackernagel. 5 Bde. Leipzig 1864-77. Nachdr. Hildesheim 1964. Deutsche Literatur des 16. Jahrhunderts. Hrsg. von Adalbert Eischenbroich. 2 Bde. München 1981. Deutsche Lyriker des 16. Jahrhunderts. Hrsg. von Georg Ellinger. Berlin 1893. Der deutsche Renaissance-Humanismus. Hrsg. von Winfried Trillitzsch. Frankfurt a.M. 1981. Deutscher Liederhort. Hrsg. von Ludwig Erk und Franz Böhme. 3 Bde. Leipzig 1893. Nachdr. Hildesheim 1963. Deutsches Leben im Volkslied um 1530. Hrsg. von Rochus von Liliencron. Stuttgart 1884. Die Frühzeit des Humanismus und der Renaissance in Deutschland. Hrsg. von Hans Rupprich. Leipzig 1938. Nachdr. Darmstadt 1964. Gedichte 1500-1600. Hrsg. von Klaus Düwel. München 1968. Geistliche Lieder der evangelischen Kirche aus dem 16. Jahrhundert nach den ältesten Drucken. Hrsg. von J. Mützell. 3 Bde. Berlin 1855. Historische Volkslieder und Zeitgedichte vom 16. bis 19. Jahrhundert. Hrsg. von August Hartmann. 3 Bde. Bd. 1: Bis zum Ende des dreißigjährigen Krieges. München 1907. Nachdr. Hildesheim 1972. Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert. Hrsg. von Rochus von Liliencron. 5 Bde. Leipzig 1865-69. Nachdr. Hildesheim 1966.
Lyrik im Zeitalter des Humanismus
und der
Reformation
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HL = Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch und deutsch. In Zusammenarbeit mit C. Bodamer, L. Ciaren, J. Huber. V. Probst, W. Schibel und W. Straube ausgewählt, übersetzt, erläutert und hrsg. von Wilhelm Kühlmann, Robert Seidel und Hermann Wiegand. Frankfurt/M. 1997 (Bibliothek der Frühen Neuzeit, Bd. 5. Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 146) Humanismus und Renaissance in den deutschen Städten und an den Universitäten. Hrsg. von Hans Rupprich. Nachdr. Darmstadt 1964. Das katholische deutsche Kirchenlied in seinen Singweisen. Hrsg. von Wilhelm Bäumker. 4 Bde. Freiburg i.Br. 1883-1911. Nachdr. Hildesheim 1962. Lateinische Gedichte deutscher Humanisten. Lateinisch und Deutsch. Hrsg. von Harry C. Schnur. Stuttgart 1967 [u. ö.]. Lied-, Spruch- und Fabeldichtung im Dienst der Reformation. Hrsg. von Arnold E. Berger. Leipzig 1938. Nachdr. Darmstadt 1967. Renaissance, Humanismus, Reformation. Hrsg. von Josef Schmidt. Stuttgart 1976 Spätmittelalter - Humanismus - Reformation. Texte und Zeugnisse. Hrsg. von Hedwig Heger. 2 Bde. München 1975-78. Vehe, Michael: Ein New Gesangbüchlein geistlicher Lieder. Faksimiledruck der ersten Ausgabe Leipzig 1537. Hrsg. von Walter Lipphardt. Mainz 1970. Weiße, Michael: Gesangbuch der Böhmischen Brüder, 1531. Hrsg. von Konrad Ameln. Kassel 1957.
Autoren Celtis, Conrad: Fünf Bücher Epigramme. Hrsg. von Karl Hartfelder. Berlin 1881. Nachdr. Hildesheim 1963. - Libri Odarum Quattuor. Hrsg. von Felicitas Pindter. Leipzig 1937. - Quattuor Libri Amorum. Hrsg. von Felicitas Pindter. Leipzig 1934. - Selections from Conrad Celtis. With Translation and Commentary ed. by Leonard Forster. Cambridge 1948. Hutten, Ulrich von: Opera, quae reperiri potuerunt omnia. Hrsg. von E. Böcking. 5 Bde. Leipzig 1859-62. Lotichius Secundus, Petrus: Poemata Omnia. Ed. P. Burmannus. 2 Bde. Amsterdam 1754. Luther, Martin: Die Lieder. Hrsg. und eingel. von Wilhelm Lücke. Weimar 1923. Nachdr. Weimar bzw. Graz 1964. (D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 35.) - Die deutschen geistlichen Lieder. Hrsg. von Gerhard Hahn. Tübingen 1967. Regnart, Jacob: Deutsche dreistimmige Lieder nach Art der Neapolitanen (1567) nebst Leonhard Lechner's fünfstimmiger Bearbeitung (1579). Hrsg. von Robert Eitner. Leipzig 1895.
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Lyrik im Zeitalter des Humanismus
und der
Reformation
Sachs, Hans: Werke. Hrsg. von Adalbert von Keller und E. Goetze. 26 Bde. Tübingen 1870-1908. Nachdr. Hildesheim 1964. - Meistergesänge, Fastnachtspiele, Schwänke. Hrsg. von Eugen Geiger. Stuttgart 1951 [u.ö.]. - Die Wittenbergisch Nachtigall. Reformationsdichtung. Hrsg. von Gerald H. Seufert. Stuttgart 1974.
>Pluralisierung< von Frömmigkeit - Glaube und Aberglaube in Celtis' Ode I, 16
Was Celtis von Horaz lernen konnte, war nicht nur die produktive Aneignung literarischer Formen und stilistischer Raffinessen. Kein anderer römischer Autor, auch nicht Ovid oder Vergil, sprach so offen wie Horaz von den Glücksmomenten, den problematischen Selbsterfahrungen und den fragilen sozialen Bindungen des eigenen Ich. Anders allerdings als Catull suspendierte Horaz in der poetischen Reflexion des Moralisten so gut wie niemals die latente oder auch die unverkennbare Dialektik der öffentlichen und privaten Belange. Es war keinesfalls nur die Eleganz der gelungenen Junktur oder überraschenden Wendung, auch nicht nur der Variationsreichtum der im Einzelwerk selbst so oft changierenden sprachlichen Handlungen und thematischen Anknüpfungen, die den modernen Autor faszinierten. Vielmehr ließ sich in der Vielfalt der textuellen Kombinationen auch, ja eigentlich in erster Linie genau das symbolisch nachvollziehen, was die historische Tagesordnung der beginnenden Neuzeit kennzeichnete: die subjektive Pluralisierung lebensweltlicher Möglichkeiten, Herausforderungen und Traditionen, also die nun problematische Potentialität älterer Verbindlichkeiten, mentaler Einstellungen, philosophischer wie religiöser Angebote oder auch sozialer wie politischer Denkfiguren. Angesichts der von Horaz feinnervig verarbeiteten Komplexität seiner Lebenswelt verwundert es nicht, daß in der Horazphilologie Ströme von Tinte geflossen sind in dem Bemühen, diese oder jene Position des Autors im Einzelwerk, in wechselnden Werkgruppen oder im biographischen Kontinuum zu differenzieren. Dies gilt gewiß nicht zuletzt für die Frage nach Horazens Religiosität, nach seiner literarisch faßbaren, im individuellen Lebensvollzug aufscheinenden oder auch nach Maßgabe der Staatsmythologie reflektierten Frömmigkeit. 1
Im Hintergrund meiner Ausführungen, selbstverständlich nicht als weiterführender Beitrag zur Horazforschung gedacht, steht vor allem die große Monographie von Fraenkel 1967; zu Horazens literarischem Götterglauben empfand ich nach wie vor als lehrreich den Aufsatz von Oppermann 1956, Neudr. 1972; über die neuere Forschung unterrichtet der Bericht von Doblhofer 1992, hier bes. (»Horaz und die Philosophie«. »Horaz und die Religion«) S. 67-73; mein persönliches Horazbild habe ich mit Hinweisen zur Horazrezeption in einem kleinen Essay zum 2000. Todestag skizziert, zuerst abgedruckt in der FAZ, nun greifbar in Kühlmann 1996, S. 7-16.
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>Pluralisierung< von Frömmigkeit - Glaube und Aberglaube in Celtis' Ode I. 16
Im Gefüge der literarischen Rollen, die Horaz in seinen Werken, zumal den lyrischen einnahm, dominierte, selbst wenn man von dem halb scherzhaften Hinweis auf den »Epicuri de grege porcum« (epist. 1,4,16) absieht, das Bekenntnis zur philosophischen Lebenslehre Epikurs, grundiert von dem biographischen Freiheitsimperativ des »nullius addictus iurare in verba magistri« (epist. 1,1,14). Gleichwohl beherrschte, verwandte, zitierte oder integrierte Horaz alle Formen der hymnischen oder gebetshaften Lyrik, wandte sich an die alten Götter im feierlich-repräsentativen oder auch intimen Ton, in der offenkundigen Allegorisierung der mythischen Numina wie auch, bei Gelegenheit, im jeweils durchsichtigen Rückgriff auf die hergebrachte Aretalogie der mit Augustus wieder zu Ehren gebrachten Kultfiguren. Manche Gedichte scheinen quasi-religiöse Erschütterungen anzudeuten, auch wenn die eigene eudämonistische Glücksphilosophie kaum andere Varianten religiöser Gedankengänge zuließ als die prekäre, die so neuzeitlich anmutende Konfrontation des desillusionierten, des gefährdeten, des urban-sensiblen Subjekts mit den unkalkulierbaren Mächten der Tyche-Fortuna. Oft zitiert und als Konfession verstanden wurde der Beginn der Ode 1,34 (»Parcus deorum cultor et infrequens«)2 - soweit jedenfalls auch dem Leser der Renaissance zu entschlüsseln, daß emotionale Frömmigkeit oder reservierte Anteilnahme am öffentlichen Götterkult als charakteristisches Moment des privaten Lebenshabitus erscheinen mußten. Horaz machte vor, wie sich die Sprache religiöser Haltungen und Handlungen ästhetisch integrieren ließ und dabei zugleich den Freiraum einer religiös-kulturellen Selbstbestimmung und Selbsterforschung offenbarte. Wer wie Celtis Horaz im lebensweltlichen Erfahrungszusammenhang einer noch spätmittelalterlichen Frömmigkeit las, war demgemäß mit spektakulären Antithesen epochaler und psychologischer Befindlichkeiten konfrontiert und mußte zwangsläufig statt der christlichen Heilssorge im Werke des paganen Autors ebenso Anstöße wie Darstellungsmuster finden, die das eigene, das Verhältnis des modernen Ich zu seinem Gott oder seinen Göttern zur Frage stellte. Mit dem Formcharakter der antiken Praetexte ließ sich in je verschiedenen Färbungen, mit inneren und äußeren Hemmungen, doch selbst in tabuisierten Grenzzonen der christlichen Dogmatik auch ihr Reflexionsgehalt assimilieren.3
2
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Vgl. Fraenkel 1967, S. 300-304; die neuere Literatur ist aufgeführt bei Doblhofer 1992. S. 162f.; vgl. zum einzelnen die zusammenfassende, teils paraphrasierende Interpretation von Syndikus 1989. S. 2 9 8 - 3 1 0 . Vorausgesetzt werden hier meine grundsätzlicheren Thesen zur christlichen Antikerezeption in der Spannung von Selektion, Adaption und Assimilation (Kühlmann 1993).
>Pluralisierung< von Frömmigkeit - Glaube und Aberglaube in Celtis' Ode I, 16
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Unter diesen hermeneutischen Prämissen, in übergreifenden literaturhistorischen Befunden mehr als genug befestigt, empfiehlt es sich, die sechzehnte Ode in Celtis' erstem Odenbuch, veröffentlicht in der von den Freunden veranstalteten postumen Sammlung von 1513, ins Auge zu fassen: 4 AD EPVLUM DISSIDEMONEM
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is
MIraris nullis templis mea labra moueri Murmure dentifrago. Est ratio, taciti quia cernunt pectoris ora Numina magna poli. Miraris videas raris me templa deorum Passibus obterere. Est deus in nobis, non est quod numina pictis Aedibus intuear. Miraris campos liquidos Phoebumque calentem Me cupidum expetere. Hic mihi magna Iouis subit omnipotentis imago, Templaque summa dei. Silua placet musis, vrbs est inimica poetis. Et male sana cohors. I nunc, & stolidis deride numina verbis Nostra procax Sepule.
Die sechzehn Verse im Muster der zweiten archilochischen Strophenform rücken das Gedicht einerseits in die Nähe des antiken Archegeten der anlaßbezogenen Personalinvektive.5 In seiner Knappheit offeriert der Text zugleich den Stilduktus eines pragmatisch motivierten, situationsgebundenen, also nicht frei reflektierenden, teils apologetisch, teils polemisch instrumentierten Epigramms. Dem entspricht auch der Anredecharakter, die bereits im Titel markierte Wendung an einen ungenannten, charakterologisch disqualifizierten Widersacher: AD SEPVLUMDISSIDEMONEM. Der Graezismus des sinntragenden und, wie bald zu sehen, thematisch ausschlaggebenden Attributs erweist sich als eine lexikalische Preziosität, die Aufmerksamkeit weckt. Es wird angedeutet, daß Celtis nichts Geringeres unternimmt, als die konventionelle Frömmigkeit eines Kritikers auf der Folie der eigenen, hier neu bestimmten Religiosität als »Aberglauben« zu bezeichnen und so den Vorwurf einer quasi-heidnischen Heterodoxie oder jedenfalls anrüchigen religiösen Indifferenz auf dem Wege einer retorsio criminis mit
4
5
Der Text wird hier zitiert - auf der Basis der Ausgabe von 1513 - nach dem Neudruck (mit Übersetzung und kleinem Kommentar) in: Humanistische Lyrik 1997, S. 32f., 948f. Hier auch eine größere Auswahl der Celtisschen Lyrik mit bio-bibliographischen Hinweisen: S. 2 - 1 3 7 , 9 2 0 - 1 0 1 9 : soweit ich sehe, hat sich in der Celtis-Forschung bisher nur Forster speziell mit diesem Gedicht beschäftigt: 1948, S. 74-78: dort werden einige Linien vor allem zu den Amores ausgezogen, auf die ich hier nur beiläufig am Schluß zu sprechen komme. Die Form wohl nach Horaz, carm. 4,7: der Begriff >Archilochisch< war seit Erasmus' Adagia (11,2,57, s. ed. Payr 1972, S. 516f.) auch in der Neuzeit sprichwörtlich: »Archilochi poetae mordacitas vulgo celebratissima fuit.«
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>Pluralisierung< von Frömmigkeit - Glaube und Aberglaube in Celtis' Ode I. 16
veränderten Vorzeichen auf den Angeredeten selbst zurückzubiegen. Wodurch Celtis mit der Wort- und Bedeutungsgeschichte des Begriffes Deisidaimonia (also der Furcht vor einem numinosen >DaimonPluralisierung< von Frömmigkeit - Glaube und Aberglaube in Celtis' Ode I, 16
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und Selbstdisqualifikation des imaginären Gesprächspartners beglaubigt. Faßt man die im einzelnen zu entschlüsselnden Diskurselemente der Kontroverse zusammen, geht es um nichts anderes, als um die Relevanz formaler Frömmigkeitspraxis, d. h. um das Verhältnis von konventionellen Zeichen christlicher Gesinnung und innerer Hinwendung zu der bedeutsamerweise von Celtis in heidnischen Vokabeln benannten Macht und Gegenwart des Göttlichen. Indem die religiöse Sinnwelt in paganer Semantik vorgestellt wird (»nullis templis«, V. 1; »numina magna poli«, V.4; »templa deorum«, V.5; »numina«, V.7, »Iouis omnipotentis imago«, V. 11) unterliegt die Diktion offenkundig einem Verdacht, den Erasmus von Rotterdam später in seinem Ciceronianus (zuerst 1528)7 artikulierte - dem Verdacht, daß die antikisierende Sprache den dogmatischen Gehalt und kulturellen Eigenwert der christlichen Rede verdunkele und ins Beliebige verfälsche. Celtis' Wortwahl entspricht durchaus dem Vorwurf, in der Behandlung christlicher Frömmigkeit und ihrer Formen die Historizität der christlichen Moderne zu verfehlen und damit das Gemeinte im beliebigen Spielraum uneigentlicher, ästhetisch motivierter Stilkunst außer Acht zu lassen. Stilistische Assimilierung der antiken Bezeichnungen verfällt dem Verdacht eines Neopaganismus - nicht ohne Grund, wenn man bedenkt, daß bei Celtis »Gott« im Singular als Instanz der platonischen Dichterinspiration ( V.7: »Est deus in nobis«) auftaucht. Literarische Frömmigkeit nur in Gestalt eines Dichterevangeliums? Celtis macht klar, daß seine Wortwahl nicht Kriterien ästhetischer Eleganz und lexikalischer Homogenität entspricht, sondern auf tiefgreifende Differenzen, hier recht polemisch gefärbte, zurückgeht. Erasmus ließ seinen Dialogisten Bulephorus im Ciceronianus gegen den klassizistischen Purismus auch die Kluft von innerer, authentischer und äußerer, rhetorisierter Rede ins Feld führen: »Ex intimis enim venis, non in cute nascitur oratio quae moratur auditorem.« 8 Eigentlich paßte dieses Argument nicht zur kulturphilosophischen und stilkritischen Frontbildung des Ciceronianus, denn wenn es auf innere und praktische Frömmigkeit ankommt, wird dann der Vorwurf gegen eine paganisierende Sprache nicht gegenstandslos? Celtis, der Verehrer der kosmischen »numina«, biegt die antirhetorische Spitze um in den Gegensatz von schweigender Herzensfrömmigkeit und dem »zungenbrecherischen Gemurmel« geistloser Lippenfrömmigkeit. Es geht nicht um die Autonomie der christlichen Moderne und ihre spezifische Semiotik, sondern grundsätzlich um die Eigentlichkeit und Sinnhaftigkeit des im geformten und gesprochenen Wort gültigen Gebets. Hier darf man ex silentio einen Problemhintergrund vermuten, den Erasmus in seiner Abhandlung »über 7
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Hier benutzt und zitiert in der Ausgabe von Payr 1972: zum Problemgehalt dieses Werkes zuletzt Müller 1999. Ed. Payr 1972. S. 194. Benutzt und zitiert wird hier die Erasmus-Ausgabe von Joannes Clericus (Opera Omnia), Tomus Quintus, 1704. Nachdr. 1962, Sp.1099-1131.
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das Gebet« (Modus orandi Deum, 1524)" mit einer unverkennbaren Skrupulosität diskutierte, ging es hier immer doch auch um die Auseinandersetzung mit jener seit Lukrez und den Referaten bei Cicero (vor allem in De natura deorum) bekannten epikureischen Doktrin, nach welcher sich die Götter in den Intermundien der Welten nicht um die Menschen kümmern. Gewiß, Celtis, der naturphilosophisch interessierte Platoniker spart solche Fragen aus und konnte bei Gelegenheit formgewandte Legenden- und Votivgedichte verfassen.1" Doch stehen diese an der Peripherie seines Werkes. In der Antwort an »Sepulus« manifestiert sich stattdessen eine epochale gedankliche Kongruenz mit der später wiederum von Erasmus wirkungsvoll vorgetragenen Kritik am kirchlichjudaistischen Zeremonialwesen: ablesbar etwa im Enchiridion Militis Christian! (1503) n oder im Colloquium vom »Geistlichen Gastmahl« (Convivium Religiosum). Gerade bei den Geistlichen entdeckte Erasmus die Spuren des jüdischen »Aberglaubens« - den äußersten Gegensatz zur paulinischen Freiheit in Christo und zu einer in tatkräftiger Liebe erfüllten Geistfrömmigkeit, in der Christus eigentlich nur noch als großer moralischer Lehrer und vergöttlichtes Vorbild erscheint. Celtis' aggressive Formulierung, in der das Lippengebet denunziert wird und dem schweigenden Sprechen des Herzens kontrastiert (V.l^l), entspricht der Diskrepanz von Innen und Außen, wie sie auch Erasmus formulierte: »Psallis lingua corporea, sed intus ausculta, quid dicat animus. Ore benedicis, et corde maledicis. [...] Beati igitur, qui intus audiunt verbum dei.«12 Im selben Enchiridion wird - bis zum Wörtlichen analog - vorgetragen, was Celtis seinem Kritiker zu antworten weiß: »Non strepitus ille labiorum, sed ardens animi votum tanquam intentissima quaepiam vox ferit aures divinas« (S. 78), oder zum Thema Kirchgang: »Ne tu mihi ilico caritatem esse dicas in templo frequentem esse, signis divorum procumbere, cereolos accendere, numeratas
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Dazu zählen die Sebaldus-Ode (III, 10), die Ode auf das Grabmal der Heiligen Walburga in Eichstätt (11,30) und die Dankverse an Maria für die Errettung aus Krankheit (Epigr. V, 4) neben der Bitte an Maria um die Eintracht der deutschen Fürsten (Oden 11,8). Schäfer 1976, S. 23 erwähnt diese Texte in seiner thematischen Gruppierung der Oden und stellt sie an die Seite von acht Hymnen an antike Gottheiten. Die Götterfiguren werden von Celtis »als Allegorien auf den Begriff gebracht«, doch »scheinen sie nicht einfach eine poetische Einkleidung zu sein« (Schäfer). In der Tat empfand man nicht nur an der theologischen Fakultät der Universität Wien derartige Dichtungen als Provokation (Schäfer a.a.O.). Im späteren deutschen Humanismus kam es nur vereinzelt zu einer poetisch-fiktiven Restitution des antik-mythischen Götterglaubens und so zu einer Reprise vorchristlicher hymnischer Gebetslyrik. Zu einem solchen Beispiel der poetischen Revokation der christlichen Mythenallegorese vgl. nun die Studie von Kühlmann 1999. Auf die hier herangezogenen Erasmischen Werke kann ich nicht weiter eingehen, erst recht nicht auf die mittlerweile schier unübersehbare Forschung; der Leser wird sich bei Bedarf in gängigen Gesamtdarstellungen beraten finden (Stupperich und Halkin ζ. B.). Für das Enchiridion sei immerhin verwiesen auf die ältere instruktive Arbeit von Stupperich 1978. Erasmus, Enchiridion, ed. Welzig 1968, 234; nach dieser Ausgabe auch die folgenden Zitate.
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preculas iterare« (S. 224). Was so in religiöse Protreptik platonisch-paulinischer Provenienz umgesetzt werden konnte, entfaltete Erasmus' Gebetstraktat als katechetische Quaestio: 13 Jam illud quaeri solet, utrum exigatur oris ac vocis deprecatio, an sufficiat tacitus [vgl. Celtis V.2: taciti pectoris, W. K.] petentis affectus? Equidem arbitror, hoc esse liberum in privatis deprecationibus, utrum malis simul & labiis sonare quod animo flagitas, an tacitis votis dumtaxat sollicitare Dei clementiam, quae nihil moratur voces nostras. Ac saepenumero plus impetrant tacita suspiria lacrymaeque, quam magni clamores.
Auch ohne direkten historischen Konnex mit Erasmus zeugt Celtis' Gedicht von seiner literarischen Teilhabe an der frühneuzeitlichen Revision von Frömmigkeitspraktiken und ihrer latenten Dogmatik bzw. mentalen Fundierung. Zwar konnte das »stille Sprechen des Herzens« biblisch mit Stellen wie Kol. 3,16 begründet werden (»singet dem herrn in ewrem Herzen«), doch dominiert in der poetischen Formulierung der Reiz des aggressiven Kolorits (etwa in dem unklassischen Neologismus des Adjektivs »dentifragus«, V.2), gewiß auch der Reiz der genuin dichterischen Allusion. Denn wird man daran zweifeln, daß sich bereits im ersten Vers des Gedichts der Horazkenner zu Wort meldete? Die Junktur »mea labra moueri« ruft doch wohl unüberhörbar und in durchaus intertextueller Bedeutungsakkumulation das heuchlerische Gebet jener fragwürdiger Ehrenmänner ins Gedächtnis, das Horaz in einer seiner Episteln (1,16,59-62) vorführt:' 4 >Iane paterApollopulchra Laverna, da mihi fallere, da iusto sanctoque videri, noctem peccatis et fraudibus obice nubem.
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getischen Redevollzug des Celtisschen Gedichts und berichten von kritischen oder dümmlichen Anwürfen der Frommen im Lande, auch von dem eigenen Widerwillen gegen das Formelwesen der monastischen oder halbmagischen Volksliturgie. Wenn Celtis die Landliebe der Dichter, die musische Vorliebe für Haine und Wälder hervorhebt (V. 13), gewiß auch in Erinnerung an Horaz (z.B. epist. 2,2,77), signiert er so in der lokalen Symbolik den Willen zur Sezession einer intellektuellen Elite, als deren Protagonist die Figur des »Poeta« fungiert. Ein Brief Mutians vom August 1505 führt einige der in Celtis' Abrechnung mit »Sepulus« sichtbaren Denkfiguren und integrativen geistigen Haltungen zusammen: den Abstand von der elitäre Absonderung verhindernden Stadt, den Genuß einer Natur, die in ihrer numinosen Eindrücklichkeit und emotionalen Bewegung erfreut, und die Grundzüge einer platonischen Theologie, die hinter allen Namen den einen Gott vermutete:22 [...] Nam Schonatibus benignum celum aspirat. Aure perflant sane, salubres, raro boant mugiuntque venti. [...] N e s c i o , q u i d a l i i . e g o c e r t e rustica negotia(paucisexceptis) honesta et minime sordida esse arbitror. Faveant tibi rustica numina Flora, Nais, Oreas, Napee, Dryas, Pan, Fauni, Satyrisci, Sileni, Pales et duo magni parentes Jupiter pater et Tellus mater, Ceres et Venus et Priapus, Robigo, Lympha et bonus Eventus. Hic deus ultimus s u m m a pietate colendus est, quoniam sine successu et bono eventu frustra laboramus. [...] Est unus deus et una dea, sed sunt multa uti numina et nomina, exempli gratia: Jupiter, Sol, Apollo, Moses, Christus, Luna, Ceres, Proserpina, Tellus, Maria. Sed hec cave enuncies. Sunt enim occultanda silentio tanquam Eleusinarum dearum mysteria. Utendum est fabulis atque enigmatum integumentis in re sacra. Tu love, hoc est optimo m a x i m o deo, propitio contemne tacitus deos minutos. Q u u m Iovern nomino, Christum intelligo et verum Deum. Satis des his nimium assurgentibus. [...]
Ob sich hinter »Sepulus« der Ingolstädter Professor Johann Permeter von Adorf (gest. 1505) verbirgt, wie Forster vermutet,21 muß offen bleiben. Celtis hegte den Verdacht, Adorf verbreite Celtis' ketzerische Ansichten zu Fragen der Beichte, Kommunion und anderer Glaubensartikel. So wie Mutian seine Freunde zum Schweigen aufforderte, wenn es um die Bekundung einer dogmatisch wesentlich verkürzten Privatreligion ging, so hatte auch Celtis offenbar Grund, um den Ruf seiner Rechtgläubigkeit besorgt zu sein. Dies läßt sich aus Adorfs Antwortschreiben erschließen: 24 Scias denique de confessione, comunione et religione tua apud nullum mentionem e u m aliquam habuisse nisi ob famae tuae defensionem resistendae detractioni de te factae duobus dumtaxat amicissimis Gabriele et Sixto doctoribus demptis, quibus post multiplicem inquisitionem religionis tuae Adorff animo et intentione consulendi famae tuae hac in re verbum fecit, quos seit bonis tuis et naturae et fortunae et gratiae favere et non contrariari.
Der Poet qualifiziert sich als Philosoph, nimmt sich das Recht heraus, im Namen eigener Wahrnehmungs- und Deutungskompetenz sein Weltbild als das eigene ~ 3 24
Brief an den Zisterzienser Heinrich Fastnacht, genannt Urban, vom August (nach d e m 21.) 1505, zitiert nach ed. Gillert 1890. Bd. 1, Nr. 15, S. 22f. Forster 1948, S. 76. Celtis, Briefwechsel, ed. Rupprich, Nr. 19, S. 34.
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zu entwerfen und, wie in diesem Gedicht, auch gegen Kritiker zu verteidigen. Was Jan-Dirk Müller für die Zeit um 1500 als Prozeß einer Formierung und Ausdifferenzierung der »laikalen Intelligenz« beschrieben hat,25 emanzipierte potentiell auch den Dichter und sein Geschäft vom Odium einer lediglich artistischen Sprachfertigkeit - allerdings nur im kleinsten Kreis von Gebildeten und, blickt man auf das reformatorische Jahrhundert voraus, nur vorläufig, nur im Schatten drohender religiös-fundamentalistischer Retraktationen. In seinen großen Zyklen, vor allem in den Amores zielte Celtis auf den symbolischen Zusammenhang der eigenen Biographie und zugleich die harmonikale Erschließung des geographischen, ja des kosmologischen Erfahrungsraums. Seine säkulare Frömmigkeit huldigte, wie in dem hier behandelten Gedicht, dem Poetengott Phoebus und in ihm dem deistisch allegorisierbaren Numen, das nicht in der Bibel gesucht, nicht im liturgischen Kultus verehrt, sondern in der geheimen Konsonanz der Natur zu ergründen war. Celtis' Epigramm auf dem Titelholzschnitt der Quatuor libri Amonim (Nürnberg 1502) läßt keinen Zweifel daran aufkommen, wo er seine »Templa summa dei« (V. 12) suchte:26 Quicquid habet Coelum quid Terra quid Aer et aequor Quicquid in humanis rebus et esse potest Et deus in toto quicquid facit igneus orbe Philosophia meo pectore cuncta gero.
Wenn Celtis hier von der Philosophie in seiner »Brust« spricht, erhellt sich auch die Formulierung im zweiten Distichon unseres Gedichtes, die Sprache des »taciturn pectus« (V. 3). Mit Recht hat Franz-Josef Worstbrock in einem wegweisenden Aufsatz 27 Celtis als säkularen Dichter gezeichnet und die Schlußwendung seines Wiener Memorialbildes (»vivo«) nicht als Leitwort christlicher Hoffnung, sondern als Botschaft poetischer Unsterblichkeit verstanden. Bedenkt man das Ganze des Celtisschen Lebenswerkes, auf das in dieser kleinen Interpretation einige Schlaglicher fallen mögen, drängen sich grundsätzliche Überlegungen auf: Die Frage nach dem Verhältnis von Humanismus und Christentum oder die Dichotomie von Heidentum und Christentum greift zu kurz, unterschlägt das, was sich im Terminus der frühneuzeitlichen >Pluralisierung< von Weltbildern, Zuständigkeiten, Deutungshoheiten, Erfahrungszonen, Rationalisierungsschüben und subjektivierten Denksystemen ansprechen läßt. Gerade vor der Reformation, die ja als eine der Gegenbewegungen zum säkularen Modernisierungsvorgang zu
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Müller 1982, bes. S. 48-55. Vor allem Wuttke hat sich in detaillierten Studien mit den Amores und auch mit diesem Epigramm beschäftigt; vgl. exemplarisch Wuttke 1985 und 1986. hier S. 705ff. Celtis' enzyklopädisches Philosophieverständnis spiegelt sich in Ode 11,11: Ad Sigismundum Fusilium Vratislaviensem de his, quae futurus philosophns scire debeat. Worstbrock 1995, bes. S. 22f. gegen die christliche Inanspruchnahme durch Wuttke.
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verstehen ist, aber auch im späteren 16. Jahrhundert, verbergen sich unter dem Lemma des »Christlichen«, selbst wenn man die späteren konfessionalistischen Demarkationen außer Acht läßt, ganz verschiedene kulturanthropologische Ausgangspunkte des nicht mehr genuin theologischen, sondern philosophischen Denkens und der literarisch symbolisierten Frömmigkeit. Zwischen Savonarola und Lorenz Valla oder Pomponius Laetus, zwischen Luther und Erasmus, zwischen Agrippa von Nettesheim und Melanchthon, zwischen dem christlichen Schulhumanismus und den vom inneren Licht geleiteten Spiritualisten ließen sich ebensowenig Brücken bauen wie später zwischen den Orthodoxen, den Neologen und den Pietisten. Celtis' Gedicht gegen den abergläubischen Sepulus offenbart im polemischen Moment eine der vielen geistigen Bruchlinien der Frühen Neuzeit.28 Und die Antikerezeption? Sie vollzog sich nicht im Sinne eines wilhelminischen Gymnasialklassizismus, auch nicht im abgehobenen Literatenkult, sondern mitten im Konfliktszenario der Epoche, ja als eine ihrer aufschlußreichsten Indizien. Denn in der Antike war längst vollzogen und literarisch sichtbar, nachzulesen, aufzugreifen und produktiv zu verarbeiten, was der Moderne noch bevorstand.
Literaturnachweise (Celtis, Konrad) - Der Briefwechsel des Konrad Celtis. Gesammelt, hrsg. und erläutert von Hans Rupprich. München 1934 ( Veröffentlichungen der Kommission zur Erforschung der Geschichte der Reformation und Gegenreformation. Humanistenbriefe III. Bd.). (Celtis, Konrad) - Fünf Bücher Epigramme von Konrad Celtes. Hrsg. von Dr. Karl Hartfelder. Berlin 1881. Doblhofer, Ernst: Horaz in der Forschung nach 1957. Darmstadt 1992 (Erträge der Forschung, Bd. 279). Erasmus von Rotterdam: Opera Omnia. Tomus quintus qui continet quae ad pietatem instituunt. Hildesheim 1962. Nachdr. der Ausgabe Leiden 1704 (Opera Omnia [...], recognovit Joannes Clericus, Tomus V). Erasmus von Rotterdam: Colloquia Familiaria. Vertraute Gespräche. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von WernerWelzig. Darmstadt 1967 (Ausgewählte Schriften, Sechster Bd.).
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Sie wirken auf vertrackte Weise in manchen Äußerungen der Forschung nach und führen zu - sagen wir - den merkwürdigsten Signalen der Hilflosigkeit. Vgl. exemplarisch Spitz 1963. S. 109: »Celtis lacked depth and spirituality. Far f r o m righteous, he had no real consciousness of sin and seemed incapable of self-examination or reprobation. His religion was synergistic and mechanical [! W. K.]. Celtis is typical of the theological uncertainty of the intellectuals as well as of the masses at the end of the Middle Ages.«
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Epistola ad Paulum Volzium. Brief an Paul Volz. - Enchiridion Militis Christiani. Handbüchlein eines christlichen Streiters. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Werner Welzig. Darmstadt 1968 (Ausgewählte Schriften, Erster Band) - Dialogus cui Titulus Ciceronianus sive de optimo dicendi genere. Der Ciceronianer oder der beste Stil. - Adagiorum Chiliades (Adagia Selecta). Mehrere tausend Sprichwörterund sprichwörtliche Redensarten (Auswahl). Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Theresia Payr. Darmstadt 1972 (Ausgewählte Schriften, Siebenter Band). Forster, Leonard: Selections from Conrad Celtis 1459-1508. Edited with Translation and Commentary. Cambridge 1948. Fraenkel, Eduard: Horaz. Darmstadt 1967 (engl. 1957). Halbauer, Fritz: Mutianus Rufus und seine geistesgeschichtliche Stellung. Leipzig und Berlin 1929 (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance, Bd. 38). Halkin, Leon E.: Erasmus von Rotterdam. Eine Biographie. Aus dem Französischen von Enrico Heinemann. Zürich 1989. Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch und deutsch. In Zusammenarbeit mit C. Bodamer, L. Ciaren, J. Huber, V. Probst, W. Schibel und W. Straube ausgewählt, übersetzt, erläutert und hrsg. von Wilhelm Kühlmann, Robert Seidel und Hermann Wiegand. Frankfurt 1997 (Bibliothek der Frühen Neuzeit, Bd. 5 - Bibliothek deutscher Klassiker 146). Kühlmann, Wilhelm: Poeten und Puritaner. Christliche und pagane Poesie im deutschen Humanismus - Mit einem Exkurs zur Prudentius-Rezeption in Deutschland, in: Pirckheimer-Jahrbuch 8 (1993), S. 149-180. - Die Vernunft der Musen. Ein Vorausblick auf den zweitausendsten Todestag des Dichters Horaz, in: ders.: Literarische Miniaturen. Zum 50. Geburtstag hrsg. von Hermann Wiegand. Heidelberg 1996, S. 7-16. - Pagane Frömmigkeit und lyrische Erlebnisfiktion. Präsenz und Funktion des antiken Mythos in Petrus Lotichius' Secundus Elegie Ad Lunam, in: Renaissancekultur und antike Mythologie, hrsg. von Bodo Guthmüller und Wilhelm Kühlmann. Tübingen 1999 (Frühe Neuzeit, Bd. 50), S. 149-166. Ludwig, Walther: Antike Götter und christlicher Glaube - die Hymni naturales von Marullo. Hamburg 1992 (Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e. V., Hamburg, Jahrgang 10,1992, Heft 2) Müller, Jan-Dirk: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I. München 1982 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, Bd. 2). - Warum Cicero? Erasmus' Ciceronianus und das Problem der Autorität, in: Scientia Poetica 3 (1999), S. 20^16. (Mutianus, Conradus) - Der Briefwechsel des Conradus Mutianus. Gesammelt und bearbeitet von Dr. Karl Gillert. 2 Bde. Halle 1890.
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Luthers Psaltervorrede von 1528 als poetologische Urkunde frühneuzeitlicher Lyrik und der lateinische Psalter des Eobanus Hessus
Bekanntlich stellt sich die Trias der Großgattungen Epik, Lyrik und Dramatik als ein Theorieprodukt des späten 18. und des 19. Jahrhunderts dar und besaß einen antiken Ansatzpunkt allenfalls in den drei sog. Redekriterien des spätantiken Grammatikers Diomedes. 1 Einzelne Formulierungen der rinascimentalen Poetik, vor allem bei Minturno, 2 legten zwar eine Dreiteilung der Poesie insgesamt nahe, doch gerade im Fall der >Lyrik< orientierte sich das Schreibprogramm der frühneuzeitlichen Autoren im Rahmen der humanistischen imitatio-Ästhetik nicht an abstrakten Merkmalsbestimmungen, sondern an Leitcorpora mit Musterautoren (Horaz, Catull, römische Elegiker, Martial). Die Unterschiede der Formensprache, teilweise auch der thematischen Dominanten, zwischen lyrisch-melischer, elegischer oder epigrammatischer Tradition, von Sonderformen wie der Bukolik, der Episteldichtung oder von der Integration späterer Neuentdeckungen (etwa der Anakreontik) 3 ganz abgesehen, wurden nicht unter den gemeinsamen poetologischen Begriff der kürzeren Versdichtung oder gar einer einheitlichen Sprech- und Gefühlshaltung subsumiert. 4 Unter diesen Prämissen setzte die sich anbahnende Inkulturation der gesamten antiken, also im wesentlichen >heidnischen< Schriftkultur einen weitgefächerten und komplizieren Adaptionsprozeß in Gang. Er implizierte zwar die Verdrängung mancher unliebsamer Werke in den intellektuellen Untergrund (man denke etwa an Lukrez und die sog. obzönen Erotica), verstand sich aber ansonsten als christliche Assimilation vorchristlicher Denkfiguren und Aussagemuster, gegebenenfalls nach Maßgabe dogmatisch einwandfreier
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Dazu umfassend Stefan Trappen: Gattungspoetik. Studien zur Poetik des 16. bis 19. Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre. Heidelberg 1998 (Beihefte zum Euphorion, H. 40). S. Trappen, ebd. S. 15. Dazu W. Kühlmann: »Amor liberalise. Ästhetischer Lebensentwurf und Christianisierung der neulateinischen Anakreontik in der Ära des europäischen Späthumanismus, in: Das Ende der Renaissance: Europäische Kultur um 1600. Vorträge hrsg. von August Buck und Tibor Klaniczay. Wiesbaden 1987 (Wolfenbiitteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung. Bd. 6), S. 165-186; in diesem Band Beitrag Nr. 17. Den »offenen Gattungsbegriff« gerade im Hinblick auf die >Lyrik< betont auch Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 1. Epochen- und Gattungsprobleme. Reformationszeit. Tübingen 1987, bes. Kap. 1,1,a, S. 36^14.
Luthers Psaltervorrede
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(etwa allegorisierender) Substitution oder Transformation in einen moralisch gesicherten Aussagekonnex. 5 Dieser Prozeß war nach der Reformation im Zeichen der namentlich von Melanchthon propagierten Synthese von eruditio und pietas begleitet von der Suche nach den kanonischen Wurzeln einer sacra poesis in deutlicher Rivalität zum latent paganen Kulturangebot von Teilen der Humanistendichtung. Man fand diese Wurzeln der sacra poesis in der Rückbesinnung auf die ältere Hymnentradition sowie auf die spätantike Christianisierung paganer Texttypen etwa in Gestalt der im 16. Jahrhundert mächtig ausgreifenden Bibelepik. Dazu kam, und davon ist hier zu reden, der Psalter: ein Werk, das neben anderen biblischen Texten (darunter das Hohe Lied, Teile des Buches Hiob und die Klagelieder Jeremiae) trotz seiner unantiken, demgemäß zunächst schwer zu klassifizierenden Form als lyrisch-melisch, also als Zusammenstellung variationsreicher >Lieder< im Verbund von Text und Vokalgesang zu denken war. Die gesamte christliche Bibelrhetorik der Frühen Neuzeit, ja schon die frühhumanistische »Dichtungsapologie im Namen der Bibel« (Dyck) berief sich seit Petrarca gern auf David als Dichter der Psalmen (Ep. fam. X,4):6 Die Väter des Alten Testaments. Moses. Job. David. Salomon, Jeremias, machten Gebrauch von epischen und anderen Gedichtformen, und selbst der Psalter Davids, den ihr Tag und Nacht singt, ist im Hebräischen in Versen abgefaßt. weshalb ich ihn nicht ohne Grund und nicht unziemlich einen Dichter der Christen zu nennen wage.
Auch Coluccio Salutati (Epistolario XII, 20; Brief vom 21.9. 1401) wies Kritik von Theologen zurück und meinte, gerade die Poesie des Psalters stehe der göttlichen Ausdrucksweise nahe:7 Die Wahrheit dieser Behauptung wird bewiesen durch die Tatsache, daß der Verfasser der Psalmen - sei es David allein oder vielleicht noch andere, die ich jetzt nicht aufzählen möchte - , als er die Psalmen niederschrieb, darauf achtete, sie in Versen zu binden, was das
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Dazu umfassend W. Kühlmann: Poeten und Puritaner: Christliche und pagane Poesie im deutschen Humanismus - Mit einem Exkurs zur Prudentius-Rezeption in Deutschland, in: Humanismus und Theologie in der frühen Neuzeit, hrsg. von Hanns Kerner. Nürnberg 1993 (Pirckheimer-Jahrbuch, Bd. 8), S. 149-180: in diesem Band Beitrag Nr. 4. Z u m apologetischen Diskurs des christlichen Humanismus in der Auseinandersetzung mit den Kirchenvätern s. auch Reinhart Herzog: Veritas Fucata. Hermeneutik und Poetik in der Frührenaissance, in: Die Pluralität der Welten. Aspekte der Renaissance in der Romania. München 1987, S. 107-136, zu Typus und Bandbreite der lateinischen geistlichen Lyrik im lutherischen Humanismus s. jetzt. Walther Ludwig: Christliche Dichtung des 16. Jahrhunderts - Die »Poemata sacra« des Georg Fabricius. Göttingen 2001 (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, I. phil-hist. Klasse, Nr. 4/2001). Vgl. Joachim Dyck. Athen und Jerusalem. Die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1977. hier bes. Kap. III: Dichtungsapologie im Namen der Bibel, hier das Petrarca-Zitat (zweisprachig), S. 35. Zitiert hier nach der zweisprachigen Ausgabe des Briefes (mit der Übersetzung von Eckhard Kessler), in: Eugenio Garin: Geschichte und Dokumente der abendländischen Pädagogik II. Humanismus. Reinbek b. Hamburg 1966, S. 134.
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Luthers Psaltervorrede von 1528 eigenste Geschäft der Dichter ist; die Psalmen sind nämlich im Hebräischen in Trimetern und Tetrametern geschrieben. Und es gibt noch anderes mehr in der Heiligen Schrift, was in Versen verfaßt ist, wie manche Lieder und zum größten Teil das Buch Hiob, ja auch die Klagelieder Jeremias sollen nach metrischen Gesetzen geschrieben sein.
Im Wettstreit zwischen »Athen und Jerusalem« (Dyck) konkurrierte der Psalter also mit der paganen Poesie und besaß, über die alte Vulgatafassung und ältere Versionen der Muttersprachen vermittelt, eine besondere poetisch-liturgische Dignität. Es waren die deutsche Prosaübersetzung Luthers (zuerst 1524, überarbeitet 1531), eingebettet in exegetische Arbeiten und fortgeführt in literarisch-pastoralen Bemühungen (Psalmlieder, s Predigten, Summarien, die Psalmenvorlesung von 1513/15)," bald auch die calvinistischen Psalmlieder, die weit über ein Jahrhundert lang den bislang bibliographisch zwar in ersten Ansätzen kartographierten, keinesfalls aber philologisch erschlossenen Kontinent der lateinischen und muttersprachlichen Psalmdichtung 10 maßgeblich beeinflußten. Dieser Gesamtkomplex der Psalmdichtung umfaßte ein Gestaltungsspektrum, das von möglichst wortgetreuer Translation bis hin zu ausdeutender und amplifizierender, ja bewußt ästhetisch nobilitierter Paraphrase und freien Nachdichtung reichte. Selbstverständlich blieb die Psalmdichtung des 16. und 17. Jahrhunderts grundsätzlich an den Bibeltext gebunden. Sie konnte sich eigentlich auch 8
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Zu den Psalmliedern (darunter der Bearbeitung der sieben Bußpsalmen) im Zusammenhang der Lutherschen Liederdichtung s. Gerhard Hahn: Das Evangelium als literarische Anweisung. Zu Luthers Stellung in der Geschichte des deutschen kirchlichen Liedes. München 1981; Kemper (wie Anm. 4), bes. S. 180, 189. Zu Luthers Revision der Psalter-Übersetzung, auch zur neuen Vorrede von 1528, s. die zusammenfassende Darstellung von Martin Brecht: Martin Luther. 3 Bde. Studienausgabe. Stuttgart 1994, hier Bd 3: Die Erhaltung der Kirche 1532-1546, bes. S. 108-113; vgl. hier auch das Gesamtregister sub verbo >Psalmen, Psalter Eine B e s t a n d s a u f n a h m e der einschlägigen neulateinischen Bibeldichtung steht aus: Informationen und Schlaglichter bieten - fast ganz auf das muttersprachliche Textfeld konzentriert - Klaus Peter Ewald: Engagierte Dichtung im 17. Jahrhundert. Studie zur
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übersehbare Masse der Psalmparaphrasen in lyrisch-antikisierenden Formen, 16 spiegelte nicht nur den literarischen Bedarf frommer Leser und nicht nur die Marktgängigkeit der Andachts- und Erbauungsliteratur. Christliche Schulmeister und Pfarrer vermochten in der Bibeldichtung die Rolle des eleganten Poeten mit dem Postulat christlicher Heilssorge und Bibeltreue zum Ausgleich zu bringen. Wer sich den »carmina sacra« widmete, verstand die Arbeit des »poeta doctus« zugleich als Vollzug religiöser Meditation. Dabei trat nicht selten der ästhetische Anspruch und der Werkcharakter des Gedichts hinter dem Bedürfnis zurück, den Akt des Schreibens und den Akt frommer Hingabe zu verschmelzen. Für dieses »performative« Verständnis christlicher Lyrik sprechen viele biographische Dokumente, in denen die Personalunion des kompetenten Dichters und frommen Christen bewiesen wurde, der17 selbst bey seinem gesunden Leben / und in wehrender Kranckheit / viel gottseliger newer Gebett / Carmina und allerley Trostsprtich / jhm zu einer Erleichterung von newem gemacht: Als den 130 Psalmen Davids durante morbo, Jambicis versibus reddirt, und das tröstliche Gebett / Herr JESU CHrist wahrer Mensch und GOtt / in carmen Elegiacum vertirt.
Kritiker wie Verteidiger der humanistischen »litterae« beriefen sich mit gleichem Recht auf die Kirchenväter. Dies gilt auch für die - in Deutschland - erste, in scharfem Ton und in der literarischen Öffentlichkeit ausgetragene Kontroverse zwischen einem theologisierenden Poeten und gebildeten Theologen. Gewiß nicht alle, aber doch einige für die Zukunft entscheidende Frontlinien werden hier erkennbar, die das literarische Leben in Deutschland mitbestimmten: Ich meine den Streit zwischen dem in Ingolstadt und Freiburg wirkenden Celtis-Schüler Jacob Locher (1471-1528), genannt »Philomusus«, und Jacob Wimpfeling (1450-1528), dem führenden Kopf des älteren südwestdeutschen Humanismus. Wie Rudolf von Langen (1483-1519) oder Johannes Murmellius (1480-1517) in Westfalen 18 drang auch Wimpfeling auf eine in die Bahnen
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Dokumentation und funktionsanalytischen Bestimmung des »Psalmdichtungsphänomens«. Diss. Freiburg i. Br. 1975. Stuttgart 1975; Hans-Henrik Krummacher: Der junge Gryphius und die Tradition. Studien zu den Perikopensonetten und Passionsliedern. München 1976; die neulateinische Dichtung ebenfalls nur am Rande behandeln: Inka Bach / Helmut Galle: Deutsche Psalmendichtung vom 16. bis 20. Jahrhundert (...). Berlin 1989 (Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker. N.F. 95). Aus: Michael Philipp(us) Beuther(us): Christliche Leichenpredigt, Bey der Begräbnuß deß Ehrwürdigen und Wohlgelehrten Herren M. Pantaleon Candidi (...). Neustadt a. d. H. 1608. S. 28 (Exemplar U B Heidelberg); zu dem Geistlichen und fruchtbaren neulateinischen Dichter P. Candidus (1540-1608) s. den Artikel (sub verbo) von W. Kühlmann, in: Killy (wie Anm. 1), Bd. 2. München 1989, S. 354. Zu Langen und Murmellius vgl. die Artikel (sub verbo) von W. Kühlmann, in: Killy (wie Anm. Γ). Bd. 7, München 1990. S. 144 bzw. Bd. 8. München 1990. S. 301f.; Murmellius beschäftigte sich eingehend mit Prudentius und gab mehrere seiner Werke heraus; er stützte sich dabei auf die Bibliothek Rudolf von Langens. wo er den ersten Band der bei Aldus Manutius erschienenen Poetae christiani veteres (1501) fand; vgl. Dietrich Reichling, Johannes Murmellius (...). Freiburg 1880, Nachdruck N i e u w k o o p 1963, passim (Register!).
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humanistischer Literarizität gelenkte Reform des Ordens- und Weltklerus, und wie Murmellius in Münster veröffentlichte auch Wimpfeling Einführungen und kompilatorische Lehrbücher, in denen zu diesem Zweck Leitbegriffe und Leittexte der humanistisch modernisierten »artes« gesammelt und moralpädagogisch aufbereitet wurden.19 Als Locher sich in einer 1506 erschienenen Kampfschrift heftig gegen die akademische Herrschaft der Scholastik und gegen die Verachtung der neuen Poesie zur Wehr setzte20 und von dieser in Handgreiflichkeiten ausartenden Polemik auch Freunde Wimpfelings betroffen waren, ließ Wimpfeling eine scharfe Abrechnung Contra turpem libellum Philomusi (Straßburg 1510) erscheinen, die er als Defensio theologiae scholasticae & neotericorum verstanden wissen wollte.21 Auf den ersten Blick erscheint diese gegenseitige Verketzerung sachlich kaum gerechtfertigt, denn Locher stützte sich in der Verteidigung der Poesie ausdrücklich auf die Kirchenväter bzw. die christlichen Dichter der Spätantike und huldigte dem biblischen Sängern David und Salomon ebenso wie der »heiligen Theologie«, die bei ihm allerdings ein Diadem trug, das in sieben Edelsteinen die sieben freien Künste repräsentieren sollte. Bedenklicher war, daß die Kompetenzen des Dichters und des Theologen ineinander übergingen, daß Homer als »theologus sapiens« auftrat, der christliche und der antike Himmel, Gott und Jupiter, kontaminiert waren und daß Locher schließlich ganz unverkennbar wie
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Neben Wimpfelings »Isidoneus Germanicus« (drei Ausgaben bis 1500) ist seine »Adolescentia« heranzuziehen (acht Drucke zwischen 1500-1515). die in einer umfassend erläuterten Ausgabe vorliegt; Jacob Wimpfelings Adolescentia. Unter Mitarbeit von Franz Josef Worstbrock eingeleitet, kommentiert und herausgegeben von Otto Herding. München 1965 (Jacobi Wimpfelingi Opera Selecta, I); erwünschten Aufschluß zu allen geistesund personalgeschichtlichen Zusammenhängen bietet nun auch der vorzüglich edierte Briefwechsel: Jakob Wimpfeling. Briefwechsel. Kritische Ausgabe mit Einleitung und Kommentar. Zwei Bände, München 1990 (Jacobi Wimpfelingi Opera Selecta III/1-III/2); hier im Anhang ein nützlicher Literatur- und Quellennachweis; zum Biographischen noch lesenswert vor allem Joseph Knepper: Jakob Wimpfeling (1450-1528). Sein Leben und seine Werke. Freiburg i.Br. 1902 (Erläuterungen und Ergänzungen zu Janssens Geschichte des deutschen Volkes, III. Band, 2.-4. Heft); mit Wimpfelings »Adolescentia« wäre zu vergleichen Johannes Murmellius' Scoparius in barbariei propugnatores (1517). im Neudruck hrsg. von Dr. A. Börner. Münster 1895 (Ausgewählte Werke des Münsterischen Humanisten Johannes Murmellius, Heft V). In der dreiteiligen Schrift: Comparatio Sterilis Mulae ad musam (...). Nürnberg 1506; dazu die genaue Beschreibung bei Günther Heidloff: Untersuchungen zu Leben und Werk des Humanisten Jakob Locher Philomusus (1471-1528). Diss. Freiburg i.Br. 1975. S. 74-77 sowie zum biographischen Zusammenhang S. 163f.; vgl. auch Knepper (wie Anm. 19), S. 213ff. und Joseph Schlecht: Zu Wimpfelings Fehden mit Jakob Locher und Paul Lang, in: Festgabe für Karl Theodor von Heigel. München 1903, S. 236-265; ferner den Briefwechsel (wie Anm. 19), passim (s. Register sub verbo Locher!); zu Locher jetzt auch den Artikel (sub verbo) von W. Kühlmann, in: Killy (wie Anm. 1). Bd. 7. München 1990. S. 317f. Ich benutze eine Kopie, für deren Vermittlung ich Prof. Dr. Dieter Mertens zu Dank verpflichtet bin. Der Widmungsbrief an Philipp von Flersheim ist abgedruckt in: Briefwechsel (wie Anm. 19). Nr. 264. S. 659-661.
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sein Lehrer Conrad Celtis den »studia humanitatis« nicht nur Hilfsdienste im kirchlichen Erziehungswesen übertragen wollte. Sein Bild des poeta-vates machte den Dichter zum Repräsentanten neuzeitlicher Intellektualität, in der nicht nur Welt- und Selbsterkenntnis des Gebildeten, sondern auch die Ausdrucksformen der Frömmigkeit großen Vorbildern der heidnischen Antike verpflichtet wurden. Wimpfelings polemische Antwort ist aufschlußreich, denn sie weist in vielen Punkten auf die Bedrängnis »der Musen« voraus, die sich in Deutschland im Gefolge der reformatorischen Auseinandersetzungen, d. h. aber der Retheologisierung des öffentlichen Lebens abzeichnete und die durch den Melanchthonschen Bildungskompromiß bis ins 18. Jahrhundert nur mühsam und nur in Teilbereichen abgewehrt werden konnte. Ich gehe im folgenden also von Wimpfelings Angriff auf Locher aus, um im Vorausblick einige topische Konfliktzonen zu umreißen.
Wimpfeling wirft Locher vor, die Poesie »in den Himmel zu heben«, die »tiefsinnige Dialektik und spekulative Theologie« aber auf »obszöne« Weise zu verunglimpfen. 22 Mit dem Hinweis darauf, daß viele Würdenträger und namhafte Vertreter der höheren Fakultäten sich kaum um die Dichtung kümmern und dennoch großen Nutzen für den Staat (politia, res publica) und die Kirche erbringen, wurde nicht nur die Position der akademischen Poetik in der Rangordnung der Fakultäten zur Disposition gestellt, sondern auch die Einheit von »doctrina« und »virtus« zum Maßstab einer öffentlichen Wirksamkeit der Literatur und Dichtung erhoben. Gewiß ging es auch um die Tatsache, daß Locher angeblich akademische Hörer den ernsthaften Studien entfremdete. Der Poet, der auf die »geziemende Ernsthaftigkeit« verzichtet, der in der Manier von Schauspielern »unzüchtige« Dichter auf dem Katheder interpretiert und so den wohlfeilen »Applaus« sucht und findet, verstößt nicht nur gegen Standesnormen, sondern gibt der Jugend literarische Beispiele von Zügellosigkeit
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So in der Widmungsvorrede: »in quo subtilis dialectica theologiaque speculativa prosa et carmine typisque obscoenissimis subsannatur et parvipenditur, ipsa vero poetica tollit usque ad astra.« So in Kap. II: »Nasonis & aliorum venena sub melle propinantium versiculos tugendo plorandoque concinnunt: ut histrionicis gestibus ac foemineis ulutatibus: gravitati virili prorsus indecoris: simplicissimos auditorum animos reddant attentos. demulcentque iuvenum aures: ut sibi applaudere & in ora vultus suos convertere videantur. Sicut curiosae anus & barbari agricolae ad cantum möllern & leves gestus histrionis cuiuspiam aut lyricinae dissutis malis suspiciunt atque auscultant.« - (Kap. V. recte IV): »spurcities inquam: turpitudo: fabulae: nugae: libidinis & amoris suscitabula verba impia: facta obscoena: quae & cogitatus infundent amarissimos atque ad libidinem inflammant.«
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an die Hand: »Schmutz, Schändlichkeit, Fabeln und Schnurren als Anreiz für Lust und Liebe, ruchlose Formulierungen, obszöne Geschehnisse«. 23 Diese Argumentation zielte nicht nur auf eine Reprise der platonischen Dichterkritik, sondern auf eine Zensur des Kanons. Wimpfeling schätzte den in Verstechnik und rhetorischer Prosa bewanderten Gelehrten, doch diese Kompetenz sollte in der Lektüre anerkannter neuerer Vorbilder - wie z.B. Petrarca und Baptista Mantuanus 24 - und unverfänglicher Mustertexte der Antike eingeübt werden. Gegen die unzüchtigen Produkte der Catull, Properz, Tibull, Ovid, Juvenal und Martial stehen Vergil und zum Beispiel der Uber Moralium des Papst Gregors d. Gr.25 Selbstverständlich untermauert Wimpfeling seine Ansicht mit vielen Autoritäten, darunter anerkannten Literaten wie Hermolaus Barbaras und Giovanni Francesco Pico della Mirandola. 26 Vor allem die rhetorische »refutatio« des fünften Kapitels verlangte überdies den Primat der rhetorischen Erziehung vor der Lektüre der Poeten. Ciceros Tuskulanen und seine Lehrschrift De officiis27 bilden den äußersten Gegenpol der methodisch
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Baptista Mantuanus blieb als »Christian Maro« bis ins 17. Jahrhundert ein Leitautor des betont christlichen Humanismus; vgl. die Bemerkungen Herdings in der AdolescentiaAusgabe, wie Anm. 19. S. 5 4 - 5 8 . sowie die Nachweise im Briefwechsel (Register!); Einblicke in die spätere Rezeption bietet Harry Vredeveld: Baptista Mantuanus' Satiric Eclogues and their Influence on the Bucolicon and Bucolicorum Idyllia of Eobanus Hessus, in: Daphnis 14 (1985), S. 4 6 1 ^ 9 6 . Kap. III: »Ubinam divinissimus papa Gregorius: ubi ceteri multi theologi profundissimi? ubi expertissimi medici nobilissimos suos libros saecularium poetarum carminibus (quae teste Hieronymo cibus sunt daemonum) resperserunt? Nonne liber Gregorii moralium utilissimus est: honestissimus est: ad dei amorem devotionem-quem excitandam aptissimus est? Et non in eo neque Nasonis nec Iuvenalis aut alterius spurcissimi poetae carmina seu versus invenies.« Zu den Werken Gregors und zum (Euvre der in dieser Reihe genannten Kirchenväter, worauf hier nicht weiter einzugehen ist. bieten die elementaren Informationen nach wie vor Bertold Altaner/Alfred Stuiber: Patrologie. Leben, Schriften und Lehre der Kirchenväter. 7. neubearb. Auflage. Freiburg usw. 1966. Mit Bezug auf die platonische Dichterkritik meint Wimpfeling (Kap. V, recte IV) offensichtlich Ermolao Barbaros Orationes contra poetas. Er las sie in einer Straßburger Ausgabe von 1508; näheres in den Erläuterungen des Briefwechsels (wie A n m . 19), S. 599; - Wimpfeling kannte Giovanni Francesco, den Neffen des älteren Pico, persönlich und empfahl auch brieflich (s. Briefwechsel, S. 661f.) dessen De Studio divinae et humanae philosophiae libri duo, Bologna 1497. Straßburg 1507; zu den weiter im Text angesprochenen sermones des Antonius Codrus (Antonio Codro), erschienen Bologna 1502. s. die Angaben im Briefwechsel (wie Anm. 19), S. 45. Die sich an Erasmus' Ciceronianus anschließende - nicht nur stilgeschichtlich wichtige, sondern auch Aspekte einer spirituellen »Entchristlichung« beleuchtenden Diskussion muß ich hier ausklammern (vgl. aber Anm. 51); im europäischen Umblick dazu materialreich Christian Mouchel: Ciceron et Seneque dans la rhetorique de la Renaissance. Marburg 1990 (Ars rhetorica, Bd. 3). Kap. V: »Quapropter ut breviter dicam quae de poeticis literis sentio (ut de Seneca & Lactantio taceam) in officiis Tullii: in tusculanis eius quaestionibus maior inest moralitas: maior philosophiae nervus & elegantia: maior immortalitas atque futurae vitae persuasio, quam in omnibus poetis gentilibus: qui fabulas: qui bella qui fictas heroum laudes: qui amatoria scribunt: aut alias quascumque vanitates & insanias falsas.«
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»prinzipienlosen« Dichterexegese und mithin zu Autoren, »die Fabeln, die Kriege, die das fiktive Lob von Helden und Liebesgeschichten verfassen«. 28 Mit dieser Akzentuierung präludiert Wimpfeling in mehrfacher Hinsicht dem Gesetz der Selektion, dem der Kanon des christlichen Schulhumanismus bis ins 18. Jahrhundert unterliegen wird. Es wird zum Beispiel nicht Cicero, der Skeptiker und verfängliche Autor von De natura deorum sein, der den Gebildeten empfohlen wird, sondern der Rhetor Cicero und der Verfasser einer zwar vorchristlichen, aber jederzeit assimilierbaren stoizistischen Tugendkonzeption. Ob Wimpfeling von Lochers erotisch freizügigen Panthia-Elegien 29 (gedruckt 1495) Kenntnis besaß, vermag ich nicht zu sagen, doch hätte sich der Vorwurf der Obszönität auf sie beziehen können. In Wimpfelings Polemik deutet sich schon an, daß in Deutschland die Libertinage der altrömischen Liebeselegie nur bei wenigen Autoren direkte Nachfolge finden wird: ansatzweise bei Celtis (1459-1508), in vielleicht betonter Provokation bei Simon Lemnius (1511—1550),30 kaum mehr bei Lotichius (1528-1560). Zwar war das antike Elegienkorpus den neulateinischen Dichtern jederzeit präsent, doch die fiktive Welt der »amores« stand in kaum überbrückbarer Konkurrenz zu den sozial gebotenen Lebensformen des 16. Jahrhunderts. Die Möglichkeit einer modernen Adaption der römischen Liebeselegie hing also auf die Dauer ab von der Versicherung ihres spielerischen, ihres »nicht-mimetischen« Charakters, also der Anerkennung jener ästhetischen Konventionen, deren Geltung von Wimpfeling und vielen späteren Kritikern bestritten wurde. Die topische Trennung von »lasciva pagina« und »vita casta«,' 1 die künftige Entschärfung der Liebesdichtung zum bloßen Exerzierfeld kombinatorischer »inventio«,' 2 die mögliche Reduktion des erotisch Gefährlichen auf die Erlebnissphäre der unreifen Jugend, 31 schließlich die bloße Übernahme gattungsspezifischer Formalien bei partieller oder totaler Auswechselung der Themen und Gegenstände, diese und andere Phänomene und Argumentationslinien der humanistischen Dichtung des 16. und 17. Jahrhunderts reagierten sichtlich auf die von Wimpfeling paradigmatisch vorgetragene Kritik.
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Vgl. dazu mit Textbeispielen Heidloff (wie Anm. 20), S. 178-192. Vgl. jetzt: Simon Lemnius: A m o r u m Libri IV. Liebeselegien in vier Büchern. Nach dem einzigen Druck von 1542 herausgegeben und übersetzt von Lothar Mündt. Bern usw. 1988 (Bibliotheca Neolatina, Bd. 2); dazu L. Mündt: Von Wittenberg nach Chur: Zu Leben und Werk des Simon Lemnius in den Jahren ab 1539, in: Daphnis 17 (1988), S. 163-222. Locus classicus: Catull, carm. 16; später Ovid Trist. II, V. 353f.; Martial I, 4, ähnlich XI, 15: zur späteren Verwendung der Topik s. Jürgen Stenzel: »si vis me flere - Musa iocosa mea«. Zwei poetologische Argumente in der deutschen Dichtung des 17. und 18. Jahrhunderts, in: D V j S 48 (1974),'s. 650-671, spez. S. 666f. So Opitz im »Buch von der Deutschen Poeterey«, Kap. III (wie Anm. 15), S. 19. Exemplarisch die »Beschluß-Elegie« des Martin Opitz in seinen »Weltlichen Poemata« (Teil II, 1644): Nachdruck, hrsg. von Erich Trunz. Tübingen 1975 (Deutsche Neudrucke. Reihe Barock, 3), S. 394f.
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Nur im Hochzeitsgedicht, im Epithalamion, konnte vergleichsweise unangefochten sexuelles Begehren, konnten Motive wie die »militiae amoris« konserviert werden, weil der religiöse und bürgerlich-rechtliche Normrahmen der Ehe und der erhoffte Kindersegen unmittelbar das Aussagespektrum bestimmten. An die Stelle der »divina puella« trat nicht selten die wirkliche oder die erhoffte Ehefrau, und auf sie, auf das »foedus legitimum« ließen sich ohne Gewissenbisse - im Rahmen eines spezifischen Tugendprogramms - emotionale Nuancen, Bilder des Zusammenlebens und idyllische Glücksphantasien der »Alten« übertragen. 14 Wie dieser Prozeß der »Transformation« der altrömischen Liebeselegie sich als »Verchristlichung« paganer Freizügigkeit zu erkennen gibt, so deuten bereits die Titel vieler poetischer Werke 34
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Dazu im einzelnen W. Kühlmann: Die verstorbene Geliebte - die verstorbene Gattin: Zum Bild der Frau in der elegischen Dichtung des deutschen Humanismus (Jacob Micyllus und Petrus Lotichius Secundus), in: Die Frau in der Renaissance. Hrsg. von Paul G. Schmidt. Wiesbaden 1994 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung. Bd. 14), S. 21-54 (in diesem Band Beitrag Nr. 8); zum Epithalamion s. W. Kühlmann: Militat omnis amans. Petrarkistische Ovidimitatio und bürgerliches Epithalamion bei Martin Opitz, in: Daphnis 7 (1978). S. 199-214 (in diesem Band Beitrag Nr. 21). Grundlegend Eckart Schäfer: Deutscher Horaz. Conrad Celtis - Georg Fabricius - Paul Melissus - Jacob Balde. Die Nachwirkung des Horaz in der neulateinischen Dichtung Deutschlands. Wiesbaden 1976. - Martial blieb zwar unangefochten Modell besonders der arguten Epigrammatik, wurde jedoch im 17. Jahrhundert teilweise durch den Waliser John Owen ersetzt, dessen Epigrammwerke mehrfach ins Deutsche übertragen wurden. Der Pastor Johannes Burmeister veröffentlichte: Martialis Renati Parodiarum Sacrarum Pars prima (media, ultima), quibus apposita M. Val. Martialis Epigrammata. Goslar 1612. - dies, um »teneram iuventam ex cloaca ethnicae foeditatis ad officium Christianae pietatis educere«. Im Jahr 1621 ließ Burmeister dann einen »Plautus Renatus« folgen: vgl. die beschreibenden Bemerkungen bei Richard Levy: Martial und die deutsche Epigrammatik des siebzehnten Jahrhunderts. Stuttgart 1903, S. 1 lf. Weit verbreitet war dann die von »allen Obszönitäten gereinigte« Martial-Edition, die der Jesuit Matthäus Rader (1561-1634) besorgte (Erstdruck Ingolstadt 1599) und später (1602) durch eine wissenschaftliche und kommentierte Martial-Ausgabe ergänzte. Dies gilt zum Beispiel nicht nur für die christliche Substitution der »Amores« (Liebe zu Gott bzw. Liebe Gottes als neues Thema) bei G. Fabricius - s. u. Anm. 61 - , sondern auch für die Christianisierung der »Heroides«, deren prominenteste Neuschöpfung nun in einer kritischen Ausgabe vorliegt: Helius Eobanus Hessus: Dichtungen. Lateinisch und Deutsch. Hrsg. und übersetzt von Harry Vredeveld. Dritter Bd. Dichtungen der Jahre 1528-1537. Bern usw. 1990 (Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken. Bd. 39): hier Hessus' Heroidum Libri Tres in der revidierten Fassung von 1532: zu diesem Werk hat Vredeveld zahlreiche Vorstudien veröffentlicht, die in seinem Artikel (sub verbo) bei Killy (wie Anm. 1), Bd. 5. München 1990, S. 282-285. aufgeführt sind. Gerade für die »Heroiden« verfügen wir über eine einzigartige Untersuchung, die im gesamteuropäischen Rahmen die Anstrengungen der Christianisierung nachzeichnet: Heinrich Dörrie: Der heroische Brief. Bestandsaufnahme. Geschichte. Kritik einer humanistisch-barocken Dichtungsgattung. Berlin 1985. Dörries Werk ist auch deshalb so ertragreich, weil es entschlossen die gewohnten Epochengrenzen zwischen Renaissance, Reformation und »Barock« außer Acht läßt und so die paradigmatische Verbindlichkeit des antiken Gattungsmusters bis ins 18. Jahrhundert verfolgen kann. - Ausblenden muß ich hier selbstverständlich die Tradition der moralisierenden, auch die verfängliche Mythologie allegorisch entkräftenden Kommentare der Metamorphosen, die bis ins Mittelalter zurückreichen und
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des 16. und 17. Jahrhunderts an, daß formalen Modellen moderne Themen substituiert wurden. Im Zeichen eines »christlichen« Horaz, Martial, 35 Ovid,16 Lukrez 37 und Terenz38 entwickelten sich die Verfahren einer »parodia seria« oder »parodia sacra«, die großenteils noch die Lyrik namhafter Jesuiten prägte und deren Techniken exemplarisch durch die Arbeiten von Eckart Schäfer, 39 Theodor Verweyen und Günther Witting40 erforscht sind. Humanistische imitatio entfaltete sich so nicht selten in produktiver Auseinandersetzung zwischen der gebotenen Verehrung der »Klassiker« und aktueller moraldidaktischer Restriktion, und für jeden Autor wird im einzelnen der Spielraum zu vermessen sein, der sich unter dem Gebot der »Nachahmung durch Nicht-Nachahmung« 41 eröffnete. Daß manchmal bereits im CEuvre eines Autors überraschende Brüche und thematisch abrupte Wendungen zwischen heidnischer Unbefangenheit und zerknirschter Revokation zu beobachten sind, vermag beispielsweise die anakreontische Lyrik des späten 16. und des frühen 17. Jahrhunderts zu belegen. Die anakreontische Verherrlichung des »amor liberalis«, die Symbolwelt unheroisch-entspannter Lebensführung und erotischen Vergnügens, die sich eben erst gegen petrarkistische Entero-
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von denen aus dem deutschen Kulturraum das 1554 erschienene Werk von Georg Sabinus (1508-1560) hervorragt, das tatsächlich wohl großenteils von Melanchthon inspiriert ist; dazu - mangels einer SpezialStudie - die knappe Charakterisierung von M a x Toppen: Die Gründung der Universität Königsberg und das Leben ihres ersten Rectors Georg Sabinus. Königsberg 1844. S. 262-279; den größeren literarischen Zusammenhang (Sabinus knapp erwähnt) rekonstruiert Robert Guthmüller: Der Mythos zwischen Theologie und Poetik, in: Die Antike-Rezeption in den Wissenschaften während der Renaissance. Hrsg. von August Buck und Klaus Heitmann. Weinheim 1983 (Mitteilung X der Kommission für Humanismusforschung), S. 129-148. Während die Lukrezrezeption vor allem des 18. Jahrhunderts leidlich erforscht ist. liegen die Lukrez entgegenwirkenden Dichtungen des 16. Jahrhunderts. Deutschland betreffend, noch ganz im Dunkeln. Vgl. exemplarisch den Hinweis auf ein Gedicht »de rerum natura« des im Elsaß wirkenden, stark von Paracelsus beeinflußten Michael Toxites (1515-1581) bei Georg Ellinger: Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands. Bd. I - I I I . l (mehr nicht ersch.). Berlin und Leipzig 1929-1933. spez. Bd. II: Die neulateinische Literatur Deutschlands in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts. Berlin und Leipzig 1929. S. 189. Die Christianisierung und Moralisierung der antiken Komödie gehört zum Argumentationsfundus der Dramenliteratur des 16. Jahrhunderts überhaupt; im Titel nahm darauf Bezug der Haarlemer Rektor Cornelius Schonaeus (1540-1611): Terentius Christian seu comoediae sacrae tribus partibus distinctae (Erstdruck 1592); dazu im Gesamtzusammenhang James A. Parente, Jr.: Religious Drama and the Humanist Tradition. Christian Theatre in Germany and in the Netherlands 1500-1680. Leiden usw. 1987 (Studies in the History of Christian Thought, Vol. X X - X I X ) . S. 15 und passim. S.o. Anm. 35.; vgl. bes. S. 92ff. zu den Verfahren der »intertextuellen« Adaption. Th. Verweyen/G. Witting: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur. Eine systematische Einführung. Darmstadt 1979; ergänzend dies.: Die Kontrafaktur (...). Konstanz 1987. So der Titel einer Ode des Jacob Balde: Paradoxum. Q. Horatium Flaccum imitari se nonnumquam non imitando: s. Text, Übersetzung und Erläuterungen bei Schäfer (wie Anm. 35), S. 146ff.
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tisierung durchzusetzen begann, wurde zum Beispiel bei Caspar von Barth alsbald im Widerruf epikureischer »voluptas« aufgelöst. Im Zeichen eines »Anacreon philosophus« war dann nicht mehr Amor der Meister des guten Lebens, sondern der Schmerz und der Gedanke der irdischen vanitas.42 Wimpfeling ging in seinem Angriff auf Locher weiter als es die späteren Möglichkeiten der genrespezifischen Substitution und Transformation andeuten. Die Tilgung des antiken Musenanrufs - ein Element der Mythoskritik - zugunsten einer Anrufung Gottes oder - wie bei Baptista Mantuanus - einer Wendung an die Jungfrau Maria entsprach dem Willen, selbst die heidnische Dichterkrönung abzuwerten 4 ' und den Vermittlungswert der Literatur generell von jener christlich-moralischen Rückbesinnung und klerikalen Reform bestimmen zu lassen, deren Autoritäten er in Geiler von Kaysersberg, aber auch in rigorosen Stimmen der patristischen Literatur- und Dichterkritik 44 zu Wort kommen ließ. Wimpfelings Mahnungen dürfen als das innerhalb des christlich-humanistischen Lagers wohl am weitesten vorgeschobene Programm einer moralisch-religiösen Zensur der heidnischen Überlieferung angesehen werden. Sie äußerte sich in Wimpfelings Widmungsbrief zu Giovanni Antonio Campanos Verteidigung der Theologen gegen die Poeten45 ebenso wie etwa in seinem Nachwort (1502) zum Kreuzgedicht des Hrabanus Maurus:46
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Dazu im einzelnen W. Kühlmann: »Amor überaus«. Ästhetischer Lebensentwurf und Christianisierung der neulateinischen Anakreontik in der Ära des europäischen Späthumanismus. in: Das Ende der Renaissance um 1600. Hrsg. von August Buck und Tibor Klaniczay. Wiesbaden 1987 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung. Bd. 6). S. 165-186. (in diesem Band Beitrag Nr. 17). Wimpfeling. Contra turpem libellum Philomusi (Straßburg 1510); Zitatquelle wie oben, hier Kap. V (recte IV): »Quapropter admirari non sufficio: quod tantae dignitatis: tantae excellentiae laurea censent poetica (quam revera nihil esse Petrarcha in animo suo sensit in epistolis de rebus familiaribus Lib. II. epistola XX.) ut qui illam consecutus fuerit: omnium aliarum literarum quandoque contemptor (...).« So ζ. B. in Kap. V: Augustinus. De Civitate Dei: Origenes (»homelia VII sup. lib. Iosue«): »Si poetam legeris modulatis versibus & praefulgido carmine deos deasque texentes: delectaris eloquentiae suavitate: lingua aurea est. si eam sustuleris & posueris in tabernaculo tuo: si introduxeris in cor tuum ea quae ab illis afferunt: polities o m n e m ecclesiam dei.« Ferner Hinweise auf Isidor v. Sevilla/ Cassiodor, Alexander von Haies, später in Kap. VI auch auf Lactantius. Briefwechsel (wie Anm. 19), Nr. 230, S. 5 9 6 - 5 9 9 , gerichtet an den Neffen Johannes Spiegel. Abgedruckt mit einem Kommentar in: Briefwechsel (wie Anm. 19), Nr. 115 b, S. 354—357, das Zitat S. 356: »Asuesce deinceps christianos lectitare poetas, qui tibi non minus quam gentiles latinitatem, elegantiam, tropos, bonos mores syllabarumque mensuras suppeditare possunt. Recipiatur nunc in manus pro Lucretio Rabanus, pro Vergilio Sedulius, pro Ovidio Alcimus, pro Propertio Lactantius, pro Statio Arator, pro Catullo Prosper, pro Tibullo Iuvencus, pro Horatio Prudentius, pro Martiale Epigrammata Engelhardi Scintillae et Hermanni Buschii, pro Lucano Gualterus, pro Iuvenale Baptista Mantuanus. Sic christiani ephebi ex christianis poetis a christianis praeceptoribus ad Christi honorem Christiane instituentur.«
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Gewöhne dich also daran, immer wieder die christlichen Poeten zu lesen, die dir nicht weniger als die heidnischen Latinität, Eleganz, rhetorische Tropen, gutes Verhalten und die Messung der Silben beibringen können. Man soll also nun in die Hände nehmen: Hrabanus an Stelle des Lukrez, Sedulius für Vergil, Alcimus für Ovid, Lactantius für Properz, Arator für Statius, Prosper für Catull, Iuvencus für Tibull, Prudentius für Horaz, anstelle der Epigramme des Martial die des Engelhard Funck und Hermann von dem Busche, für Lucan Gualterus, für Iuvenal Baptista Mantuanus. So werden christliche Schüler anhand christlicher Poeten von christlichen Lehrern auf christliche Weise zur Ehre Christi erzogen.
Wimpfeling mußte in solcher Kanonrevision davon ausgehen, daß die verpönten heidnischen Dichter von christlichen Schülern und Lehrern bereits gelesen wurden. Dies gehörte zur Symptomatik kulturkritischer Ängste, und es gehörte ebenfalls zur Doppelbödigkeit katechetischer Diatriben, daß sie nicht selten ein Tableau des Verbotenen und zugleich Reizvollen entwarfen, - daß also Lektüreverbot den Stachel kaum verhohlener Attraktion in sich trug. Vielleicht darf man so gegen den Strich auch entsprechende Verse aus der Feder von Wimpfelings Zeit- und Gesinnungsgenossen Johannes Murmellius lesen, der die »deutsche Jugend« ausdrücklich zu gewissenhafter Auswahl der möglichen Musterautoren aufforderte: 47 (...)
Grosse Verschiedenheit traun, dir zeigen die lieblichen Verse, Weder sie wolle du lesen gesammt, noch sämmtlich verachten; Nicht sie kennen jedoch, ist besser, als lesen mit Schuld sie. Unter den Dichtern ein Theil, nicht gering, singt zärtliche Lieb' in Zuchtlosen Weisen allein, in üppig verwegenen Versen. Lehrte mit reichlichem Bacchus Cythera zu mengen die Muse Tejischen Greises vordem, so lehrte die lesbische Sappho Mägdlein sündige Liebe; dich, Lyde, blendenden Reizes, Feiert' von Battus der Spross; es rühmte die Battis der Coer. Voll auch der Cypria ist das Schauspiel des feinen Menander; Aristides verfasste milesische Schmach in Gesängen Schändlicher Art, und beschmutzt ist der Sybaritis Verfasser. Wage verschämten Gesichtes doch Keiner das Werk Elephantis' Je zu lesen und nur in die züchtigen Hände zu nehmen. Lesbia preiset Catull's süss klingender, aber nicht minder Loser Gesang; auch Lieder, der Zucht baar, stellte der kleine Calvus an's Licht; es lehrt' der pelignische Dichter, die Kunst zu Lieben'; des Ticidas wie des M e m m i u s Verse sind schamlos. Anser, Cinna und Cato, der weiche Tibullus und Gallus Sangen, Getändel der Lieb' und Properz ihr schreckliches Feuer Spielend; und Er, den, ragend an Kunst, einst Bilbilis sandte. Schrieb Epigramme gar schnöd' in süss einschmeichelnden Schriften. Fern denn halte dir die und die Uebrigen, welche Cupido's
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Auszug aus Murmellius: Ad iuventutem Germanicam (entstanden 1506), hier zitiert nach der zweisprachigen Ausgabe von Dietrich Reichling: Ausgewählte Gedichte von Johannes Murmellius. Urtext und metrische Übersetzung. Heiligenstadt 1881 (Beilage zum Programm des Königl. Gymnasiums zu Heiligenstadt 1881. Progr. No. 200), S. 54-60, spez. S. 57/59, V. 50^81.
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Poeten und Puritaner Waffen behandeln, dass nicht auch dich er heimlich verwunde. Nicht in argloser Brust du die grausigen Flammen empfahest. Wirf auch Mimen hinweg, die voll von schmutzigen Scherzen, Und priapeische Possen in unehrbarem Gedichte. Was von dem Soccus dir nun künd' ich und dem schwülst'gen Cothurnus? Hör' sie, wofern die Mitte sie halten, und weise ein Lehrer Sie mit Vorsicht erklärt, das Ausgelassene meidend. Lern' vielfältige Sitten der Menschen, und Latiums Sprache Mehre dir und, wenn Blumen du sammelst, verschmähe das Gift drin. (...)
Wohl kaum ein anderer Autor der christlichen Spätantike war so wie Prudentius (348 - ca. 405) dazu geeignet, Wimpfelings Christianisierungsprogramm zu beglaubigen. Hatte doch der Autor der Psychomachia, mehr aber noch der Dichter der »Märtyrerhymnen« (Peristephanon) und des »Tagesliederbuchs« (Cathemerinon Liber) schon früh den Ruhm eines »Christianorum Horatius« 48 für sich gewonnen und damit jene Verfahren der thematischen Substitution und kontextuellen Transformation vorgeprägt, die den frommen Musenjüngern der Moderne eine Synthese von Glaubensfestigkeit, erbaulichen Anspruch und poetischer Eleganz versprachen. Dank der Forschungen von Otto Herding und Dieter Mertens wissen wir, daß Wimpfeling Prudentius nicht nur in seinen pädagogischen Traktaten empfahl, sondern auch eine Vorlesung zu einigen Hymnen hielt.40 Gewiß von solchen Empfehlungen nicht unbeeinflußt, veröffentlichte Wimpfelings Neffe Jacob Spiegel (ca. 1483-1547) eine kommentierte Ausgabe von Prudentius' Hymnus de miraculis Christi ad omnes horns, die in der humanistischen Sodalitas von Schlettstadt beifällig aufgenommen und dem
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Den Stand der Prudentiusforschung diskutiert Klaus Thraede: Studien zu Sprache und Stil des Prudentius. Göttingen 1965 (Hypomnemata, Heft 13); hier S. 13 zur Herkunft des rühmenden Beinamens; eine Studie zur Prudentius-Rezeption in Deutschland ist mir. von den noch anzuführenden Hinweisen abgesehen, nicht bekannt; als leider unter Rezeptionsgesichtspunkten völlig unergiebig erweist sich die kleine Arbeit von Edward Kennedy Rand: Prudentius and Christian Humanism, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 51 (1920). S. 71-83; der offenkundige Einfluß der Psychomachia auf das allegorische Figurenarsenal des dramatischen Schrifttums sowie auf epische Werke muß hier außer Betracht bleiben. Briefwechsel (wie Anm. 19), S. 566; vorher hatte in Wien schon Johannes Cuspinian über Prudentius gelesen und 1494 eine emendierte Ausgabe der »Hymnen« erscheinen lassen: s. Hans Ankwicz v. Kleehoven: Der Wiener Humanist Johannes Cuspinian. (...). Graz-Köln 1959. S. 13; die Widmungsvorrede ist abgedruckt in: Johann Cuspinians Briefwechsel, gesammelt, hrsg. und erläutert von H. Ankwicz v. Kleehoven. München 1933. Nr. 1, S. 1; weitere Lektürehinweise auch S. 17. Dazu alles weitere in: Wimpfeling, Briefwechsel, wie Anm. 19. S. 840-846 mit dem Abdruck von Widmung und Nachwort; einige Bemerkungen zu Spiegels Kommentar bei
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königlichen Großschatzmeister Jakob Villinger gewidmet wurde ( Schlettstadt 1520).5,1 Später erschien der Kommentar Spiegels zusammen mit Adnotationen, die der Jurist Johannes Sichardus (1499-1552) zur Psychomachia und Erasmus von Rotterdam zu einigen Hymnen vorgelegt hatten.51 Dem bedeutendsten Dichter der christlichen Spätantike war damit - nach den ersten Inkunabeldrucken 52 - j e n e philologische Aufmerksamkeit gesichert, die sonst berühmte Namen der heidnischen Literatur auf sich zogen. Verfolgt man die Rezeptionsspur weiter ins 16. Jahrhundert, zeichnet sich ab, daß Melanchthons Schulreform und das hier entwickelte Programm der »pietas docta« den besten Nährboden für eine erneute Hinwendung nicht nur zu Prudentius, sondern auch zur hymnologischen Tradition der christlichen Latinität überhaupt anbot.53 Es waren vor allem namhafte Vertreter des sächsischen Schulhumanismus, die sich damit in den Dienst des reformatorischen Erneuerungswerks stellten, dem Luthertum die legitime Erbschaft der altchrist-
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Thomas Burger: Jakob Spiegel. Ein humanistischer Jurist des 16. Jahrhunderts. Diss. jur. Freiburg i. Br. (masch.) 1973, S. 134-136; zum Bildungshorizont Spiegels wichtig Karl Heinz Burmeister: Die Bibliothek des Jakob Spiegel, in: Das Verhältnis der Humanisten zum Buch. Hrsg. von Fritz Krafft und Dieter Wuttke. Boppard 1977 (Kommission für Humanismusforschung. Mitteilung IV). S. 163-182: vgl. neuerdings auch Peter Schäffer: Jacob Spiegel. Reflections and Shadows, in: Daphnis 19 (1990), S. 363-377. Aurelii Prudentii Clementis, V. C. Sacra, quae extant. Poemata omnia (...) quibus Acesserunt in totum quidem Opus, loan. Sichardi succincta Scholia: in aliquot vero Hymnos D. Erasmi Roterodami & Iacobi Spiegeiii Commentaria. Basel: Henricus Petri 1562 (VD 16, Nr. Ρ 5131); zu Sichardus vgl. den Artikel (sub verbo), in: Contemporaries of Erasmus, hrsg. von Peter J. Bietenholz. 3 Bände. Toronto usw. 1985-1988, hier Bd. 3. S. 247; die »Scholien« zu Prudentius erschienen zuerst 1527 in Basel bei Andreas Cratander: s. P. S. Allen: Opus epistolarumDes. Erasmi Roterodami. Oxford 1906-1958. Bd. VII. S. 82 (VD 16, Nr. Ρ 5129); Erasmus' Kommentare wurden 1524 bei Froben gedruckt: Allen, ibid. Bd. I. S. 13; auch sonst kam Erasmus des öfteren auf Prudentius zu sprechen: s. Allen, ibid. Bd. VI. S. 390 (Vorrede zurlrenaeus-Ausgabe); Bd. X, S. lf.; besonders aufschlußreich ist ein Brief des Jahres 1527 an Francisco Varga, Professor an der Universität von Alcalä; Erasmus polemisiert hier gegen die Ciceronianer, die es schlecht vertragen, daß der Name Christi in den »bona literae« erklingt: »Pontano heben sie in den Himmel, und Augustinus und Hieronymus sind ihnen unerträglich. Ich aber stelle eine einzige Ode des Prudentius, in der Jesus besungen wird, über eine ganze Schiffsladung von Versen des Pontano. wenn ich auch seine Bildung und Beredsamkeit zu schätzen weiß. Bei diesen Leuten gilt es als größere Schuld, wenn einer kein Ciceronianer, als wenn er kein Christ ist.« Der Brief bei Allen, ibid., Bd. VII, Nr. 1885, S. 191-195, spez. 193f.; hier zitiert nach Leon E. Halkin: Erasmus von Rotterdam. Eine Biographie. Aus dem Französischen von Enrico Heinemann. Zürich 1989, S. 246; vgl. auch S. 32 zu früheren Briefzeugnissen, in denen Prudentius, Ambrosius oder Iuvencus gegen Catull, Tibull, Properz und Ovid ausgespielt werden. Vgl. Ludwig Hain: Repertoriumbibliographicum (...). Bd. 11,2. Nachdr. Milano 1966, S."l63, Nr. 13432-437. Melanchthon gab 1538 Prudentius' Peristephanon opus de Martyribus in Leipzig mit einer Vorrede heraus: s. Melanchthons Briefwechsel. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. Hrsg. von Heinz Scheible. Bd. 2. Regesten 1110-2335. Stuttgart-Bad Cannstatt 1978. Nr. 1976. S. 346; vgl. zu einem Prudentius-Zitat ibid. Bd. 5 (1987), Nr. 4868. S. 169.
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liehen Literatur sichern wollten und mit der katechetischen Disziplinierung der eleganten Latinität an zwei Fronten zugleich kämpften: als lateinische Philologen, Lehrer und Poeten gegen die Strömungen evangelischer »simplicitas«, d. h. einer zum Teil offenen Bildungsfeindlichkeit 54 und als christliche Autoren gegen die unterschiedslose Integration »lasziver« Poeten und »atheistischer« Philosophen in das aktuelle Lehr- und Lektürepensum. Daß auch die sich anbahnenden innerprotestantischen Konflikte (Gnesiolutheraner gegen Melanchthonianer)55 dazu beigetragen haben, stärker als bisher an die altchristliche Latinität anzuknüpfen, liegt nahe, wäre jedoch noch in weiteren Forschungen nachzuweisen. Neben Adam Siber (1516-1584), dem Rektor der Fürstenschule von Grimma,56 neben dem Jenaer Arzt und Professor Andreas Ellinger (1526-1582) 57 und neben dem Lübecker Reformator Hermann Bonnus (1504-1548), 5S einem Murmellius-Schüler, muß Georg Fabricius (1516-1571), Schulrektor in Meißen, als Schlüsselfigur für die Aufnahme und Verbreitung der christlichen Hymnendichtung gelten: dies nicht nur wegen seiner weitläufigen Produktion und überregionalen Wirkung, sondern auch wegen der erkennbaren Interdependenz von philologischer bzw. editorischer Tätigkeit und deren kreativer Umsetzung in ein umfangreiches CEuvre von »carmina sacra«. Während Fabricius' Anlehnung an Horaz von Eckart Schäfer im einzelnen analysiert wurde,5'' hat seine Prudentius-Nachfolge selbst bei Ellinger bisher kaum Beachtung gefunden. Im Unterricht wurden von Fabricius »Hymnen« und »Paeane« des Prudentius, 54
Dazu die Darstellung von Jan-Dirk Müller (wie Anm. 1), S. 23 Iff. Dazu jetzt W. Kühlmann: Zum literarischen Profil des Kryptocalvinismus in Kursachsen: Der »Poet« Johannes Major (1533-1600), in: U m die Vormacht im Reich. Christian I sächsischer Kurfürst (1586-91). Dresden 1992 (Dresdner Hefte, 10. Jg.. Heft 29.1/92). S. 43-50. (in diesem Band Beitrag Nr. 11). 56 Zu ihm und zum gesamten Umkreis einer »Erneuerung der christlichen Poesie« s. die klassische Darstellung von Ellinger (wie Anm. 37), Kap. III, S. 150-178: zu Siber grundlegend K. Kirchner: Adam Siber und das Chemnitzer Lyceum in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Mitteilungen des Vereins für Chemnitzer Geschichte V. Jahrbuch für 1884-86 (1887), S. 3-206, hier u.a. S. 135: Prudentius vertreten in Siber: Breviarium Christianum: continens Doctrinam, Preces, Cantica et Hymnos ecclesiae. Leipzig 1575. 57 Er gab heraus: Hymnorum Ecclesiasticorum libri III, Frankfurt/M. 1578; vgl. den Artikel von W. Kühlmann, in: Killy (wie Anm. 1), Bd. 3. München 1989. S. 238." 58 Vgl. Ellinger (wie Anm. 37), S. 162. 5 '' Schäfer, wie Anm. 35, S. 45-64 vor allem zu Fabricius' Odaruin libri tres (Basel 1552): Einzeleditionen früher, später in die Gesamtausgabe (wie Anm. 61) aufgenommen: im Buch II der Oden. spez. Nr. 8ff., übernahm Fabricius metrische Muster des Prudentius. »qui primus suam lyram ad laudes Dei omnipotentis, & martyrum sanctorum praeconia adhibuit«. (Ed. 1552); eine Gesamtcharakteristik bei Ellinger (wie Anm. 37), S. 150-157; ferner heranzuziehen nunmehr der Artikel von Hermann Wiegand (sub verbo), in: Killy (wie Anm. 1), Bd. 3, München 1989, S. 320f., sowie Wiegands Analyse von Fabricius' Darstellung seiner Italienreise (1539-1543); s. Wiegand: Hodoeporica. Studien zur neulateinischen Reisedichtung des deutschen Kulturraums im 16. Jahrhundert. Baden-Baden 1984 (Saecvla Spiritalia. Bd. 12). S. 80-91; bio-bibliographischer Abriß S. 483-486. Wichtig besonders für die ältere regionalgeschichtliche Literatur die Abhandlung von 55
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Sedulius und Venantius Fortunatas erläutert.60 Die Stationen des christlichen Festkalenders begleitete Fabricius mit einer - nicht zuletzt Prudentius ausschreibenden - Anthologie patristischer Texte.61 Für den Schulgebrauch bestimmt waren zwei Bücher mit »Hymnen«, ergänzt durch eine Sammlung lateinischer Gebetslyrik.62 Fabricius' Hommage an Prudentius äußert sich hier zunächst in der Makrostruktur des Zyklus: Die einzelnen Gedichte sind wie beim Cathemerinon Uber den Stunden des Tages zugeordnet, bilden also insgesamt ein lateinisches »Stundenbuch« privater Andacht, möglicherweise auch die Textvorlage des schulinternen Chorgesangs. 61 Mit der souveränen Beherrschung stilistischer Mittel bekundet sich zugleich die Absicht, Dichtung in den Alltag gebildeter Christen einzubinden und ihn mit poetischen Meditationen zu strukturieren. Indem sich der Zyklus auf die Lebens- und Leidensgeschichte Christi konzentrierte, war die Kernzone lutherischer Theologie abgedeckt, und indem den einzelnen Gedichten biblische Zitate, darunter Psalmsentenzen vorgeschaltet wurden, konnte der lateinische Poet zugleich die Nachfolge Davids, des biblischen Sängers, antreten.64 Fabricius läßt keinen Zweifel daran, daß seine Hymnensammlung die Festtagslyrik und De-tempore-Dichtung der alten Kirche fortsetzen will. Piatons Gebot, nur den Göttern »Hymnen« zu singen, erscheint sinngemäß erfüllt;
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Kurt Hannemann: Der Humanist Georg Fabricius in Meißen. Das Luthermonotessaron in Wittenberg und Leipzig und der Heliandpraefatiokodex aus Naumburg a. d. Saale, in: Instituto Universitario Orientale di Napoli. Annali. Sezione Germanica XVII. Filologia Germanica. Napoli 1974. S. 7-109. Georgii Fabricii Chemnicensis in Paeanas Tres. Prudentii, Seduli. Fortunati. De vita & morte Christi, in Hymnos tres alios Prudenti, & in Romanum Märtyrern brevis expositio. Leipzig 1568. Historiarum Sacrarum e poetis veteribus Christianis Libri II. Leipzig 1566. De Historia et meditatione mortis Christi, & de usitatis Ecclesiae Christianae festis ac temporibus, Hymnorum Libri II, Item, Pietatis puerilis Liber I. Basel 1563; wieder aufgenommen in die Gesamtausgabe: Poematorum Sacrorum Libri XXV Ex postrema autoris recognitione. Basel 1567; hier auch (Pars Altera, S. 172ff.) Fabricius' Amorum filii DEi Uber umis, eine parodia sacra der Ovidschen Amoves. Mehrfach hat Fabricius angedeutet, daß er sich besonders der religiösen Lyrik des Marcus Antonius Flaminius (zu ihm Ellinger [wie Anm. 37], Bd. 1, S. 209-215 sowie die Monographie von Carol Maddison. London 1965) verpflichtet fühlte, dessen Werk er vielleicht bei seiner Italienreise kennenlernte: im Anhang der Odarum Libri Tres (Basel 1552) veröffentlichte er Flaminios »De rebus Divinis Carmina« mit Briefbeigaben; auch Siber bezog sich ausdrücklich auf Flaminius' geistliche Lyrik: s. Kirchner (wie Anm. 56). S. 153. An Prudentius' Märtyrerhymnen erinnert wohl S. 57f.: De Stephano Protomartyre. Später wurden dann auch programmatische Sentenzen des Prudentius geistlichen Gedichten vorgeschaltet: so z.B. in Verbindung mit Bernhard von Clairvaux bei Wilhelm Alard: s. W. Kühlmann (wie Anm. 42). S. 185 Wie Anm. 62 (Basel 1563). Widmungsepistel an die Brüder Blasius. Jacobus und Andreas - mit autobiographischen Erinnerungen - . hier S. 10f.: »Hymnorum itaque usus, cum & Ecclesiae perpetuus, & civitatibus bene constitutis fuerit peculiaris, retinendus omnino est. vel ob hanc caussam: ne aut Orpheus, aut Homerus, aut Callimachus, in fabulis extollendis, quam nos in veri Dei laudibus concinendis, fuisse diligentiores atque ardentiores videantur.«
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damit ist aber auch die Konkurrenz zur Hymnenliteratur des Heidentums festgeschrieben: 65 Der Gebrauch der Hymnen, insofern er eine ständige Gewohnheit der alten Kirche und eine Besonderheit der wohlgeordneten Gemeinwesen war, ist gänzlich beizubehalten, besonders aus dem folgenden Grund: damit nämlich nicht Orpheus oder Homer oder Callimachus, indem sie märchenhafte Geschehnisse preisen, sorgfältiger und eifriger gewesen zu sein scheinen als wir, indem wir das Lob des wahren Gottes singen.
Die hier angedeutete Rivalität paganer und christlicher Dichtung und das daraus abgeleitete literarische Konzept fanden ihren monumentalen Ausdruck in Fabricius' kommentierter Sammlung der Poetarum Veterum Ecclesiasticorum Opera Christiana, 1562 in Basel bei Johannes Oporinus erschienen. 66 Das eindrucksvolle Kompendium bezeugt - abseits seiner Gebrauchsfunktionen - auch den Versuch der historisch-philologischen Rekonstruktion des mittlerweile fast vergessenen literarischen Lebens der christlichen Spätantike. Fabricius' Vorwort muß als zentrales und weiterwirkendes Dokument einer Revitalisierung altkirchlicher Literatur verstanden werden und somit als Schlüsseltext für die über den Kreis der Melanchthon-Schüler hinausreichende Ausbildung und Pflege kirchlich gebundener Versdichtung und poetischer Andachtsliteratur. Daß sich der postreformatorische Humanismus des Luthertums auf diese Weise nicht nur der von den Jesuiten geförderten literarischen Erziehung entgegenstellte, sondern zugleich - nicht ohne dauernde Bezugnahme - eine Alternative zur Entfaltung der muttersprachlichen Andachtslyrik anbieten wollte, verleiht den Anstrengungen des Fabricius ihre für die Literaturgeschichte des 16. Jahrhunderts insgesamt kaum zu überschätzende Bedeutung. Fabricius' Vorwort führt den Leser in die Zeit der altchristlichen Märtyrer und zeichnet Faktoren der Bedrängnis und Verfolgung des wahren Christentums, die offenkundig in Analogie zu eigenen Erfahrungen beurteilt werden sollen. Indem weitläufig der Kampf der Kirchenväter gegen die »poetae lascivi« und die »morum corrumptores« des Heidentums rekapituliert wird, findet der Autor zugleich den polemischen Ansatz, sich gegen eine unbefangene Übernahme des heidnisch Fremden in den eigenen Kulturzusammenhang zu wehren:67 Auch ich gerate nun zu dieser Zeit sehr in Zorn über manche Interpreten, die anhand von Büchern der Poeten, schändlich und verbrecherisch Dinge eröffnen, die den Ohren vieler unerhört sind, unseren sittlichen Gewohnheiten gänzlich unbekannt, Interpreten, die den schamlosen Schoß sogar der Sirenen entblößen.
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Poetarum Veterum Ecclesiasticorum Opera Christiana, & operum reliquiae atque fragmenta: Thesaurus Catholicae et Orthodoxae Ecclesiae, & Antiquitatis religiosae, ad utilitatem iuventutis Scholasticae: Collectus, emendatus, digestus; & Commentatio quoque expositus, diligentia & Studio Georgii Fabricii Chemnicensis. Basileae, per Joannem Oporinum o. J. (1562). Ibid., S. 4f.: »& ego nunc hoc tempore valde irascor quibusdam interpretibus, qui in Poetarum libris, res multorum auribus non auditas, moribus nostris plane ignotas, turpiter & scelerate aperiunt, & ipsarum Sirenum sinus nudant impudicos.«
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Fabricius will ausdrücklich nicht die »literarum cognitionis (...) studia« zurückweisen, sondern sie auf »Gott und das Heil der Menschen« verpflichten. Daß in dieser Verpflichtung vor allem die moralische Integrität des Individuums und die moralischen Normen des sozialen Lebens gemeint sind, mithin auch die Stabilität der politischen Ordnung, ist im Rekurs auf Scipio, den von Cicero verherrlichten Führer der altrömischen Aristokratie, angedeutet.® Prudentius und die anderen altchristlichen Dichter verkörpern die gelungene Synthese von »Studium« und »religio«, und deshalb, meint Fabricius, sind sie »auch unseren Zeiten nützlich«: nicht nur als christliche Literaten, sondern als gesellschaftlich hochgestellte Männer, die das Vorurteil widerlegen können, die mit dem Staatswesen »Beschäftigten« sollten sich nicht um die Religion kümmern. Gerade Prudentius, der römische »praefectus urbi«, vermag so die um sich greifende religiöse Indifferenz, wenn nicht sogar den irreligiösen Machiavellismus zu widerlegen. Daß dieser Argumentation gerade im nationalen Rahmen besondere Dringlichkeit zukommt, belegt Fabricius mit der Erinnerung an die lateinische Vorrede des altsächsischen Heliand und die Sorge Ludwigs des Frommen für die »Konservierung« selbst der muttersprachlichen geistlichen Literatur.60 Mit der Erinnerung an den altsächsischen »Heliand« ist auch die ebenfalls bislang verpönte altchristliche Dichtung in ihrem Wert bestätigt. Auch Fabricius bekennt sich zur »Schuld« des Vergessens, der Schuld eines auf »neglectio« und »calumnia« beruhenden Vorurteils:70 Bedauerlicherweise war ich selbst viele Jahre lang in dieser Schuld, und ich bekenne dies, um andere vorsichtiger und weniger leichtgläubig zu machen. Bei Ludovicus Vives hatte ich in den Büchern »De corruptis disciplinis« diese Worte gelesen: Juvencus, Sedulius, Prosper und Paulinus sind schmutzige und aufgewirbelte Gewässer.
Auf Grund dieses Verdiktes habe er sich, so Fabricius weiter, von der Lektüre der genannten Autoren ferngehalten, um seine Sprache nicht zu verderben.71 6S
Ibid., S. 5: »Iudicabat praeclare Scipio Romanus, Remp. esse plane infelicem, stantibus moenibus, ruentibus moribus: nos quoque similiter inutilem & perniciosam iudicamus earn palaestram literariam, in qua excolitur sermo, corrumpitur animus: unde videlicet prodeant iuvenes & viri politis Unguis, impiis pectoribus.« 6 " Ibid., S. 7: »(..jLudovicietiamlmp. cognomento Pii (...), quilibrumquendamabhomine plebeio, vate non ignobili, lingua Saxonia scriptum conservari voluit.« Es folgt ein Zitat aus der lateinischen Praefatio des »Heliand«: zu Fabricius' Rolle bei der Entdeckung dieses Werks s. Hannemann (wie Anm. 58). 70 Ibid., S. 8: »In eädem culpa, quod pudet, plurimis annis ipse fui: idque fateor, ut alios reddam cautiores, minusque credulos. Legeram in libris de Corruptis disciplinis apud Lud. Vivem, haec verba: Iuvencus, Sedulius, Prosper, Paulinus, lutulentae & pertubatae sunt aquae.« Fabricius bezieht sich auf Vives' De tradendis Disciplinis libri V, hier Lib. III. cap. IX: Ioannis Ludovici Vivis Valentini opera omnia. Tom. VI. Nachdruck der Ausgabe 1785: London 1964, S. 343. 71 Ibid., S. 8: »Noveram autem e Christianis, excepto Prudentio, neminem: neque eum magnifecissem, nisi Lipsiae audivissem Casp. Bornerum, hymnos eius interpretantem eruditissime: quam lectionem ä viro clarissimo Petro Mosellano, sibi quasi per manus traditam, fideli possessione ad usum publicum multos annos retinuit.«
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Poeten und Puritaner Von den christlichen Poeten kannte ich, abgesehen von Prudentius, niemanden; und auch ihn hätte ich nicht hochgeschätzt, wenn ich nicht in Leipzig Caspar Bornerus gehört hätte, der die Hymnen sehr gelehrt auslegte: diese Vorlesung, die ihm von dem hochberühmten Petrus Mosellanus gleichsam in die Hand weitergereicht war, machte er sich zu treuem Besitz und hielt sie zu großem öffentlichen Nutzen viele Jahre lang.
Über Petrus Mosellanus (1493/94-1524) 72 und den Leipziger Professor Caspar Bornerus (1492-1545)" also wurde Prudentius im akademischen Unterricht weitergegeben. Fabricius dürfte die 1533 in Leipzig gedruckte Ausgabe des Liber Cathemerinon benutzt haben, die von einem Brief des Mosellanus an Herzog Georg von Sachsen eingeleitet wurde, in dem die Hymnen des Prudentius für den Schulgebrauch empfohlen werden.74 Im selben Jahr und im selben Verlag erschienen Melodiae Prudentianae et in Virgilium magna ex parte natae, komponiert von zwei Lehrern der Leipziger Thomasschule. Textausgabe und Notenbuch gehörten wahrscheinlich zusammen. 75 Freilich belegt gerade Fabricius' Einleitung zu seiner Sammlung altchristlicher Dichter, daß der zentrale Einwand des humanistischen Klassizismus schwer zu entkräften war, der Einwand nämlich, daß die Autoren der Spätantike nicht zu den reinen »Quellen« sprachlicher und stilistischer Eleganz zu zählen seien. Fabricius greift - in der Auseinandersetzung mit Vives - die topische Wasser- und Quellmetaphorik auf, um sie zugleich anzuerkennen und zu korrigieren:76
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Zu Mosellanus, seit 1517 Professor in Leipzig, s. den Artikel von Stefan Rhein (sub verbo), in: Killy (wie Anm. 1), Bd. 8, München 1990, S. 235f. Nach seiner Immatrikulation Leipzig (1535) hörte Fabricius bei Borner, der von 1520-1539 auch Rektor der Thomasschule war. Zu ihm s. Richard Kallmeier: Caspar Borner in seiner Bedeutung für die Reformation und die Leipziger Universität. Diss. Leipzig 1898: weiteres bei J. v. Pollet (Ed.): Julius Pflug. Correspondance. Tome I: 1510-1539, Leiden 1969, S. 103f. Aurelii Prudentii Clementis (...) Liber »Kathemerinon« (im Original griechisch), id est, opus rerum diurnarum, in usum iuventutis editus. Adiecta est Petri Mosellani epistola. N a m Leonardi Quercini ineptum de pientißimo (so!) poeta iudicium nihil moramur. Anno M.D.XXXIII. Lipsiae excudebat Nicolaus Faber. Mense Maio. - Vorangegangen war schon im selben Verlag, wohl noch von Mosellanus besorgt, eine Ausgabe des Jahres 1522: nach V D 16, Nr. Ρ 5134. Dazu im einzelnen Otto Clemen: Melodiae Prudentianae. Leipzig 1533, in: ders.: Kleine Schriften zur Reformationsgeschichte (1897-1944). Hrsg. von Ernst Koch. Bd. VIII ( 1 9 8 9 - 1 9 5 0 ) . Leipzig 1987, S. 1 2 6 - 1 2 7 ; Sebastian Neumeister: Vergils »Aenaeis« - gesungen, in: Gerhard Rohlfs zum 85. Geburtstag gewidmet. Romania Cantat. (...). Bd. II, Interpretationen (...). Hrsg. von Francisco J. Oroz Arizcuren (...). Tübingen 1990, S. 11-14. Wie A n m . 66, Vorrede, S. 8: »Concedamus igitur illi (d.i. Vives, W.K.), coenosas & turbidas esse: tarnen fontes ipsi, unde manant, puri limpidique sunt: in quos etsi luti nonnihil aut sordidum est barbaris tempestatibus invectum, tarnen salubritas & medicina repudianda non fuit«. Die Quellmetaphorik der Renaissanceliteratur (»ad fontes«) wird hier sichtlich mit der biblischen Wasser- und Quellmetaphorik kontaminiert (etwa nach Psalm 36.10; 74,15; Joh. 4,13; Off. 21,6; 22,1).
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Gestehen wir also zu, daß die Gewässer (der altchristlichen Dichter, W. K.) schmutzig und trüb sind: trotzdem sind die Quellen, woraus sie strömen, rein und klar.
Auch die Bäder von Cumae, Puteoli und Baiae enthalten verunreinigtes Wasser, und doch kümmern sich die Heilungssuchenden nicht darum, sondern um den Heilungs-»Effekt«: 77 In ähnlicher Weise zielen wir bei den Schriftstellern auf Wahrheit und Erkenntnis ab, auch wenn die Färbe- und Reizmittel anderer Dinge fehlen: zumal bei denen, die unseren Seelen heilkräftige und vollends himmlische Medizin gewähren. Denn das ist nicht das einzige Ziel der gelehrten Studien, eine ausgebildete und wortgewandte Zunge zu besitzen, sondern einen Geist, der gebildet wird und überfließt im Wissen um große und nützliche Dinge. Aber überhaupt keine anderen Dinge sind größer, fruchtbringender und würdiger als die Erfahrung von Frömmigkeit und Religion, die aus diesen Schriftstellern gewonnen werden kann: und darin können sie, auch wenn sie sonst nicht hervorragen, dennoch den Leser besser und heiliger entlassen.
Mit dieser Apologie stoßen wir auf das Fundament eines christlich-humanistischen Kulturprogramms, das noch im 17. Jahrhundert seine Tragfähigkeit bewies und in der gesamten Spannweite poetologischer Selbstverständigung seinen Widerhall fand.78 Es wird im einzelnen auch zu überprüfen sein, ob und inwieweit sich z.B. die christianisierte Aneignung der horazischen Lyrik oder die deutschsprachige Liederdichtung de facto den Rekurs auf Prudentius zu Nutze machte. Freilich ist die hier in Frage kommende literarische Landschaft kaum in ersten Schritten betreten, und es wird die Aufgabe künftiger Forschung sein, der historischen Realisation jenes literarischen Programms nachzugehen.
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Ibid., S. 8: »Similiratione veritatem & cognitionemin Scriptoribus amplectamur, etiamsi desint rerum aliarum pigmenta aut lenocinia: praesertim in iis qui salutarem animis nostris & plane coelestem adhibent medicinam. Non enim finis studiorum & doctrinae unicus est, ut linguam perpolitam & volubilem habeas: sed ut colatur & abundet rerum magnarum & utilium scientia animus. Omnino autem nulla res maiores, fructuosiores, digniores sunt, quam pietatis & religionis peritia, quae peti ex his scriptoribus potest: in quibus etiamsi alia non excellunt, tarnen Lectorem meliorem & sanctiorem possunt dimittere.« Der Argumentationskomplex wirkt vor allem in der Vorredenpoetik der geistlichen Poesie weiter; exemplarisch Andreas Gryphius in der Vorrede seiner Thrätien über das Leiden Jesu Christi, (1625, später publiziert als Buch IV der Oden): der Hinweis auf Prudentius neben anderen »Vätern«: »Wie herrlich betrachtet Prudentius die Auferstehung der Todten in dem iiberaußschönen Begräbnüß-Gedichte?«: nach A. Gryphius: Oden und Epigramme. Hrsg. von Marian Szyrocki. Tübingen 1964 (Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke, Bd. 2), S. 99. - Der Frage, wie Prudentius mittelbar in der deutschsprachigen geistlichen Liedproduktion bzw. Andachtslyrik nachgewirkt hat, bin ich nicht nachgegangen. Selbständige deutsche Übersetzungen scheinen für das 16. Jahrhundert sehr selten zu sein: nur ein niederdeutscher »Trostpsalm« (1574) im VD 16, Nr. P. 5143. Jedoch existiert als Handschrift der Fürstlich Oeningen-Wallersteinschen Bibliothek (Harburg, Ms. 13,4°, 10) eine deutsche Übersetzung des »Gesangbuchs« (also wohl des Liber Cathemerinon) von Adam Reißner (1500-1580): Literatur in Bayerisch Schwaben. Hrsg. von Hans Pörnbacher. Ausstellungskatalog Augsburg 1979. Weißenhorn 1979 (Beiträge zur Landeskunde von S c h w a b e n , ^ . 6), S. 74, Nr. 135 a.
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Fabricius jedenfalls widersetzte sich mit beachtlicher Energie der säkularen Kultur jener, die »gänzlich in den Sorgen und den Begehrlichkeiten der Welt untergetaucht waren«.79 Von Fabricius aus läßt sich in diesem Zusammenhang auch das gerade im sächsischen Gelehrtenschulwesen verankerte Interesse an Prudentius weiterverfolgen, bis hin zu der sorgfältig kommentierten Gesamtausgabe des Johannes Weitzius (1575-1642), s0 der in Gotha lehrte, und bis hin zu dem Wittenberger Professor August Buchner (1591-1661), der seinen Studenten die kommentierte Ausgabe des Hymnus de Christi Domini et Salvatoris nostri natali dedizierte und eine besondere Vorliebe für Prudentius bekundete. 81
Die Fragen einer christlichen Legitimation und Überformung humanistischer Dichtung im Gefolge der bildungsgeschichtlichen Wende der europäischen Renaissance läßt sich, wie ich andeuten möchte, nicht nur in der epochalen Konzentration auf einzelne Möglichkeiten der Allianz und auf typische Muster der Konfrontation behandeln. Vielmehr ist davon ein Problem- und Argumentationskonnex des 15. bis 18. Jahrhunderts betroffen, in dem sich mögliche Positionen unter verschiedenen sozialen Umständen zu immer neuen - darunter auch gattungsspezifischen - Mustern verbanden. Die viel bedachte Auseinandersetzung zwischen Humanismus und Reformation stellt dabei nur eine Etappe dar. Denn wie am Beispiel Wimpfelings abzulesen ist, waren rigorose Wendungen christlicher Kulturkritik bereits den Reformbestrebungen der alten Kirche inhärent, und was später die Jesuiten, was lutherische Geistliche bzw. unnachgiebige Calvinisten gegen die mondäne Verselbständigung eines sich langsam herausbildenden höfisch-akademischen, religiös desinteressierten literarischen Milieus vorzutragen wußten, besaß bereits im 16. Jahrhundert eine eigene Tradition. In Deutschland, so hat es den Anschein, wurden die puristi-
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Vorrede, wie oben. S. 9: »haec vero fundamenta etiam sunt salutis & beatitudinis, quam assequi certe omnes cupiunt, non plane amentes, aut toti immersi curis & cupiditatibus mundi, brevissime cum ipsis perituri.« Auretii Prudentii Clementis V. C. Opera. Hanau 1613, - ein sorgfältig kommentiertes, die älteren Arbeiten und Testimonien verarbeitendes Werk von fast eintausend Seiten; zu Weitz vgl. Zedier 54, 1747. Sp. 1480f.; an diese Gesamtausgabe schließt sich die durch Nicolaus Heinsius kommentierte Edition der Opera an: Köln 1701 (Erstdruck wohl um 1667; mir nicht bekannt). Wittenberg 1643; die Vorrede auch abgedruckt in: Augusti Buchneri Epistolarum Partes Tres (...). Frankfurt und Leipzig 1707. S. 852-858; vgl. auch S. 511 (Brief an Joachim Morsius ohne Datum): »... item si quae ad Prudentium habeas (gemeint sind Handschriften, W. K.), si communicaveris, me prorsus feceris beneficii tui. Equidem tenerrime amo ilium poetam, turn ob ingenium elegans & Poeticum plane, tum ob singularem illam & vere priscam pietatem.«
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sehen Argumente gegen eine schrankenlose Verehrung der Antike vor allem dort aufgegriffen, wo sich in städtischen Zentren Impulse der Reformorthodoxie geltend machten: in Straßburg und Nürnberg82 zum Beispiel. Der Kampf gegen die eigene Rationalität der Künste, d. h. gegen die Etablierung eines von der religiös-politischen Heilssorge abgekoppelten kulturellen Systems, war hier nur ein Faktor der allumfassenden sozialen Kontrolle. Einer der Protagonisten dieser Reformorthodoxie, Johann Valentin Andreae (1586-1654), bietet in seiner Biographie und in seinem Werk mancherlei Fingerzeige für die fortdauernden Spannungen, die der Versuch einer Christianisierung des antiken Erbes und der säkularen Renaissanceliteratur auslöste. Es war Andreae, der zum Beispiel die »weltliche« Literaturpflege der »Fruchtbringenden Gesellschaft« mit harscher Kritik bedachte,83 und es war Andreae, der seinen verehrten Lehrer, den Tübinger Theologen Matthias Hafenreffer (1561-1619), wieder einmal die Klage über poetische Gottlosigkeit vortragen ließ:84 Ich enthalte mich an dieser Stelle nicht des Vorwurfs der Gottlosigkeit in der Literatur: Deukalion eher als Noah, Phaeton eher als die Sonne Josuas oder auch Ezechiels, das Vlies Jasons eher als das des Gideon, das Haupt der Gorgo eher als das Weib Lots, die Leier des Amphion eher als die Harfe Davids - daß diese und die anderen unzähligen Spielereien [in der Dichtung] gegenüber der allerhöchsten Wahrheit bei den Christen Wertschätzung genießen und in wahrhaft dichterischer Freiheit verfeinert werden, ist etwas, was ich niemals billige. Mit diesen Mythen die Jugend vertraut zu machen bedeutet, eine GOTT entrissene Blume dem Satan auszuliefern. Gibt es denn nichts anderes, was mein Sohn, der Christus geweiht ist, lernen soll, als was der Teufel erdichtet hat? Oder sind die heiligen und vom Geist G O T T E S erfüllten Geschichten so völlig ohne Bildung, daß die Spielereien eines Ovid sie übertreffen? Ach, wie lasterhaft ist doch die Christenheit, da Christus uns letztlich kaum im Alter bekannt wird und schmeckt. Infolgedessen ist alles voll von Mythen, für religiöse, die Gemeinde angehende Geschichten ist nirgendwo Raum.
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Vgl. die besonders bittere Polemik gegen die antike Mythologie bei dem Nürnberger Sigmund von Birken: s. Dyck, wie Anm. 7, passim, sowie Theodor Verweyen: Daphnes Metamorphosen. Zur Problematik der Tradition mittelalterlicher Denkformen im 17. Jahrhundert am Beispiel des Programma Poeticum Sigmund von Birkens, in: Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. Festschrift für Günther Weydt. Hrsg. von W. Rasch, H. Geulen und K. Haberkamm. B e r n - M ü n c h e n 1972, S. 319-379. An den Straßburger Kirchenpräses Johannes Schmidt (17.9.1646): »Talium nugarum, quas eruditionis nomine venditant, j a m dudum satus, hoc genus hominum semipaganum, imo bis paganum abhorreo; quam enim non colluviem impietatis, lutulentiam gentilitatis, monstra verborum rebus sacris, odis & numeris germanis, vernaculaeque linguae sub illis Fructifera, verius Mortifera, societate inferunt«, zitiert nach: Ungedruckte Schreiben und Auszüge von Schreiben von D. Johann Valentin Andreä (...) an D. Johann Schmidt (...) von den Jahren 1633 bis 1654, in: (Mosers) Patriotisches Archiv VI (1787), S. 285-360, spez. S. 347 (Nr. 32). Johann Valentin Andreae: Mora Philologica (geschrieben spätestens 1611/12), in: ders.: In bene meritos Gratitudo. Straßburg 1633, S. 161-196, S. 177: hier nach der deutschen Übersetzung in der zweisprachigen Werkausgabe Andreaes: Gesammelte Schriften, Bd. 2: Nachrufe, Autobiographische Schriften, Cosmoxenus, bearbeitet, übersetzt und kommentiert von Frank Böhling, Roland Edighoffer, Wilhelm Kühlmann, Werner Straube. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 254f.
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Die Allianz von geistlicher Erbaulichkeit und gelehrtem Kunstbewußtsein war zweifellos zerbrechlich, und mit der Verehrung der antiken Dichter verbanden sich Skrupel, die sich zum Beispiel in frommer Allegorisierung der poetischen Mythologie nicht immer entkräften ließen. Bei Rompier von Löwenhalt (1605-1674), dem Oberhaupt der Straßburger Tannengesellschaft, lesen wir so das aufschlußreiche persönliche Bekenntnis eines vom religiösen Purismus überwältigten Poeten (hier im Auszug): 85 Wie oft versuch ich mich / die fäder Gott zu weihen! Und gleichwol reisst die Wält mit ihren lappereien Mich allezeit zuruck / verführt mich dergestalt Daß auch in meiner sei die Fromheit schier erkaltt. Es ist ein stehter krieg in meinen blöden sinnen: Von oben kommt bißweil ein himlisches beginnen: Gleich hänckt sich von der Wält ein zehntnerstein daran. Der zieht mich undersich daß ich nicht fliehen kan. Nim ich ein gutes buch / und will von Gottes wesen / Gebotten und verbot / in andacht etwas lesen: So mischt die eütelkeit des Haidenthums sich ein.
Selbst der so weltläufige Patrizier Georg Philipp Harsdörffer (1607-1658), Oberhaupt der Nürnberger »Pegnitzschäfer«, wollte am gegebenen Ort, nämlich in einem Werk christlicher Erbauung, nicht darauf verzichten, die »heidnische« Dichtung vor ein christliches Tribunal zu fordern, das sich nun freilich aus »älteren Gerichtsherren« zusammensetzt: 86 Die Poeterey / aus Piatonis Regiment vertrieben / hat ihre Eingehör bey den Christen genommen / und eine schlechte Herberg bestanden. Als sie aber in den Gesellschafften lieb und angenehm gewesen / ist ihr der Muht gewachsen / und hat angefangen / sich sehr verdächtig zu erzeigen / deßwegen sie auch für Gericht gefordert / und von ihrer Religion und Sitten befragt worden. Diese holdselige Jungfrau hat sich mit grosser Freundlichkeit zu der reinen Religion und zu allen Tugenden bekennet / daß viel der Meinung gewesen / man solte sie gerechtfertiget wieder in ihr Haus gehen lassen. Die altern Gerichtsherren aber haben sie gefragt / was ihre grosse Gemeinschaft mit den Heydnischen Scribenten / die Bulerdienste / die Heucheley / die Trinkgesellschafft und die Wetterwendische Freud e n · und Trauerliedlein bedeute? da ein Gottergebenes Herz auch die Gelegenheit zu sündigen meiden / die Heydnischen Abgötter aber auch nicht in dem Mund haben soll. Darauf sich die Poeterey erkläret / daß sie ihre bishero begangene Fehler bekenne / alle Götzen=Namen unterlassen / und dem königlichen Poeten künfftig folgen wolle / welches Parnassus der Berg Zion gewesen.
Es ist hier nicht mein Thema, weiter auf das Syndrom apologetischer Figuren einzugehen, mit denen das »Spielerische«, das Ästhetisch-Uneigentliche, der 85
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Des Jesaias Rompiers von Löwenhalt erstes gebiisch seiner Reim-getichte 1647. mit einem Nachwort, Kommentaren und bibliographischem Anhang hrsg. von W. Kühlmann und Walter E. Schäfer. Tübingen 1988 (Deutsche Neudrucke. Reihe Barock, Bd. 38), S. 45f. G. Ph. Harsdörffer: Nathan und Jotham: das ist Geistliche Weltliche Lehrgedichte. Band I—II. Neudruck der Ausgabe Nürnberg 1659, hrsg. und eingeleitet von Guillaume van Gemert. Frankfurt/M. 1991 (Texte der Frühen Neuzeit 4). hier Bd. II. Nr. 86, S. 316.
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neu-heidnischen Poesie gerechtfertigt wurde. Nur wenige der Poeten verstiegen sich zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung, die nicht die katechetische Aufgabe der Theologen, sondern ihren kulturpolitischen Machtanspruch ins Visier nahm. Zu diesen wenigen gehört Nicodemus Frischlin (1547-1590), der unbotmäßige Poet, dessen Widerborstigkeit in manchen Einzelheiten (etwa in der Konfrontation von poetischer Lektur und akademischer Hierarchie) an die Proteste Lochers erinnert. 87 Frischlin wandte sich gegen die Monopolisierung der öffentlichen Rede bei den »von Gott verordneten Lenkern von Staat und Kirche«. Moralische Kritik an den sozialen Gebrechen der Zeit, gestützt auf die Heilige Schrift und die »libri philosophici«, gehe »alle Menschen« an, soweit sie Urteils- und artikulationsfähig seien. Im Zeichen nicht der säkularen »curiositas«, sondern im Auftrag christlicher »Caritas« reservierte Frischlin den Literaten und Philosophen ein universales Mitspracherecht. Auf diese Weise rief er noch einmal eines der großen Bewegungsmomente der europäischen Renaissance ins Gedächtnis: 88 Deshalb ist die Meinung jener zu schwächen, die für sich allein beanspruchen, die Geheimnisse des Himmels zu kennen; die davon träumen, ihnen allein sei die himmlische Wissenschaft reserviert, und die glauben, daß die moralische Kritik den Poeten. Philosophen und christlichen Rednern nicht zukomme.
Wohlgemerkt: »den christlichen Rednern«. Die Auflösung der »sapiens atque eloquens pietas« stand erst im 18. Jahrhundert auf der kulturgeschichtlichen Tagesordnung. Was aber denn diese Formel für das Alltagsgeschäft des Poeten zu bedeuten hatte, darüber ließ sich streiten, weniger in öffentlicher Rede als in der Faktizität der sich erbaulichen Zwecken immer wieder entziehenden Dichtung.
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Vgl. zu Frischlin zusammenfassend mit allen Literaturhinweisen W. Kühlmann: Nicodemus Frischlin (1547-1590) - der unbequeme Dichter, in: Humanismus im deutschen Südwesten. Hrsg. von Paul G. Schmidt. Sigmaringen 1993. Aus Frischlins Vorrede zu den 1586 veröffentlichten Gedichten des Schlesiers Salomo Frencelius. in: N. Frischlin: Methodus Declamandi (...). Epistolae et Praefationes. Straßburg 1606. S. 148-156. hier S. 150: »Quare minuenda est illorum opinio, qui sibi solis datum judicant, mysteria nosse coelorum: qui doctrinam caelestem ad se solos pertinere somniant: & qui censuram morum a Poetis. Philosophis & Oratoribus Christianis, alienam esse credunt.«
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»Die Vorbereitung auf die Nationalisierung der europäischen Kulturen beginnt schon Jahrhunderte vor der Aufklärung, sie ist Teil jener gesamteuropäischen Bewegung, die wir Humanismus zu nennen gewohnt sind.« Diese Feststellung des Münchener Historikers Winfried Schulze trifft zu.' Politische Konsolidierungsprozesse wurden flankiert von Vorstellungen eines moralischen Habitus, in denen sich das jeweils Eigene und Fremde der Nationalcharaktere literarisch verfestigte. Nicht nur in dieser Hinsicht präsentiert sich der mentale Vorgang nationaler Integration als ein eminent literarischer. Freilich ist mit verschiedenen Fraktionen sowie sozialen und regionalen Einbindungen der humanistischen Literaturproduktion zu rechnen. Der offensiv patriotische Flügel des vorreformatorischen deutschen Humanismus, vertreten durch Gestalten wie Ulrich von Hutten (1488-1523) und Jacob Wimpfeling (1450-1528), hatte, literaturpädagogischer Gemeinsamkeiten unerachtet, nichts oder nur wenig zu tun mit dem pazifistischen Weltbürgertum eines Erasmus von Rotterdam (1469-1536). 2 Überdies konnte sich die Ausbildung eines nationalen >WirGefühls< im 16. Jahrhundert vorläufig noch nicht auf die Realität, ja noch nicht einmal auf die begründbare Programmatik einer homogenen deutschen 1
2
Winfried Schulze: »Sua cuique nationi discrimina«. Nationales Denken und nationale Vorurteile in der Frühen Neuzeit. In: Die Deutschen und die andern: Patriotismus. Nationalgefühl und Nationalismus in der deutschen Geschichte. Acta Ising 1996. Hrsg. von Ministerialrat Dr. Stefan Krimm und Oberstudienrat Dr. Wieland Zirbs. München 1997. S. 32-66, hier S. 51: zur Rolle des Humanismus vgl. auch die größeren Darstellungen von Hagen Schulze: Staat und Nation in der europäischen Geschichte. München 1994. spez. S. 140-144; Wolfgang Hardtwig: Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland 1500-1914. Ausgewählte Aufsätze. Göttingen 1994. hier Kap. 1 und 2. Zugänge zu der weitläufigen Diskussion um das Nationalbewußtsein der vorrevolutionären Jahrhunderte, d. h. vor der rousseauistisch interpretierten >VolksnationAkademisierung< auf den deutschen Reichstagen im 15. und 16. Jahrhundert. In: Im Spannungsfeld von Recht und Ritual. Hrsg. von Heinz Duchard und Gert Melville. Köln/Weimar/Wien 1997, S. 423^446; ferner Dieter Mertens: Die Rede als institutionalisierte Kommunikation im Zeitalter des Humanismus. In: ebd., S. 401^121; ders.: »Europa, id est patria, domus propria, sedes nostra...« Zu Funktionen und Überlieferung lateinischer Türkenreden im 15. Jahrhundert. In: Europa und die osmanische Expansion im ausgehenden Mittelalter. Hrsg. von Franz-Reiner Erkens. Berlin 1997, S. 3 9 - 5 7 . Z u m literarischen F o r u m des Reichstags s. Dieter Mertens: Der Reichstag und die Künste. In: Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz-Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Wolfgang Harms und Jan-Dirk Müller. Stuttgart/Leipzig 1997, S. 2 9 5 - 3 1 4 . "
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rungseliten bestimmte Funktionsräume zuzuweisen und die ästhetische Faktur solcher Texte zugleich als Indiz ihres politischen Wirkungsanspruchs zu verstehen. Im Zuge dieser bisher nur ansatzweise geleisteten Neubestimmung der humanistischen Dichtung möchte ich im folgenden - zur Illustration des Gemeinten - einige Beispiele jener politischen Lyrik vorführen, die in jeweils verschiedener Motiv- und Formensprache das Projekt der deutschen Nation als aktuelles Schreibprogramm manifest werden ließ.
In Anlehnung an die römische Dichterkrönung Petrarcas gehörte es bis ins 17. Jahrhundert zu den besonderen kaiserlichen Prärogativen, bei den Reichstagen namhafte oder auch, von heute aus gesehen, eher zweitrangige Literaten zu Dichtern zu krönen. Allein Friedrich III. und Maximilian I. verpflichteten sich mit der Verleihung dieses korporationsrechtlich durchaus exzentrischen Titels etwa vierzig schreibgewandte Gelehrte und begründeten so, intentional jedenfalls, eine publizistisch wirksame Allianz zwischen humanistischen Intellektuellen und dem obersten Repräsentanten der Reichsnation. 24 Reichspolitik gehörte zum Themenfundus, ja zum Legitimationsauftrag der Dichtung, und schier unüberschaubar erstreckt sich der Kontinent eines poetischen Schrifttums, das bis in die reformatorischen Kämpfe der Jahrhundertmitte hinein den inneren Frieden des Reiches mit seiner außenpolitischen Machtentfaltung mahnend und klagend zur Deckung zu bringen suchte. Fast immer wurde dabei das altrömische Imperium in seiner augusteischen Glanzzeit als normstiftendes politisches wie kulturelles Bezugsmodell assoziiert. In diesem Modell war auch den Literaten eine ideell wie materiell, also eine >mäzenatisch< geförderte Rolle im Rahmen der kaiserlichen Kulturpolitik zugewiesen. So verwundert es nicht, daß Konrad Celtis mit seinem Huldigungsgedicht (Od. 1,1) an Kaiser Friedrich III., ursprünglich in erweiterter Form als Dank für die Dichterkrönung in Nürnberg (18.4.1487) konzipiert, den späteren Druck seiner Lyrica eröffnete - so wie Horaz seine Odenkollektion mit einem Gedicht
24
Dazu maßgeblich die Forschungen von Dieter Mertens: »Bebelius ... patriam Sueviam ... restituit«. Der poeta laureatus zwischen Reich und Territorium. In: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 42 (1983). S. 145-173; ders.: Maximilians gekrönte Dichter über Krieg und Frieden. In: Krieg und Frieden im Horizont des Renaissancehumanismus. Hrsg. von Franz-Iosef Worstbrock. Weinheim 1986 (Mitteilungen der Kommission für Humanismusforschung der DFG, 13). S. 105-123; ders.: Zu Sozialgeschichte und Funktion des poeta laureatus im Zeitalter Maximilians I. In: Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts. Hrsg. von Rainer Christoph Schwinges. Berlin 1996 (Zeitschrift für historische Forschung. Beiheft 18). S. 327-348.
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an den Gönner Maecenas hatte beginnen lassen. Zugleich wird im rückwärtsgewandten Prophetengestus die Vision einer »goldenen« Friedenszeit erneuert, im panegyrischen Ton dem Kaiser als »König der Könige« als politische Mission vorgetragen, nicht ohne daß - nach der Horazallusion - nun auch die Friedensdichtung Vergils, vor allem dessen vierte Ekloge, im gelehrten Praetext aufscheint: 25 CAesar magnificis laudibus inclytus, Rex regum, & dominus maxime principum. Si quis prisca tuis tempora saeculis Vel conferre velit regna prioribus, Non te crede queunt vincere gloria. Te viuo redeunt aurea saecula, Et pax atque fides, canaque sanctitas, Et vitae integritas atque benignitas. Germanis populis, te duce, maximus Laudis surgit honos, dum fugit horrida Morum barbaries, foedaque saecula Commutata nitent per vaga sidera. Saltamus, canimus, nec male pingimus. Et chordas resonas pollice tangimus. Nil nobis peregre est difficile, aut modo Rimantes varijs artibus abditam Naturae Seriem, Dorica & Itala Miscentes pariter non sine gloria. Te viuo, latijs gloria litteris, Antiquumque decus iam redit artibus. (Größter Kaiser, berühmt durch großartige Verdienste, König der Könige und Herr der Fürsten, mag einer die alten Zeiten deiner Ära vergleichen oder dein Königtum früheren, glaube mir, sie können dich nicht an Ruhm übertreffen. Da du lebst, kehrt das Goldene Zeitalter wieder, der Friede, die Treue und die altbewährte Unschuld, auch die Lauterkeit der Lebensführung und die Güte. Den Stämmen Deutschlands wachsen unter deiner Führung höchster R u h m und höchstes Ansehen zu, da die ungeschlachte Roheit der Sitten weicht und die schlimmen Zeiten mit dem Lauf der Gestirne verwandelt erglänzen. Wir tanzen, singen Lieder, malen nicht übel und bringen mit dem Daumen die Saiten zum Klingen. Nichts, was aus der Fremde kommt, ist für uns schwierig, so, wenn wir mit vielfältiger Kunst den geheimnisvollen Zusammenhang der Natur ergründen und nicht ohne R u h m Griechisches und Römisches gleichermaßen verbinden. D a du lebst, kehrt der lateinischen Literatur der R u h m wieder und den Künsten die alte Ehre, wenn die einzelnen Kenntnisse wieder ans Licht treten, die griechische und römische Männer gewonnen hatten, die Anwohner des Nils und die, die das Zweistromland am Euphrat bewohnen.)
Das künftige Friedensreich ist nicht zu denken ohne den erfolgreichen Kampf gegen die »Barbarei«. Jedes Herrschaftsprogramm implizierte im Entwurf der humanistischen Laudationspoesie, die fast immer auch als versgebundener Fürstenspiegel auftrat, ein Kulturprogramm, beide wie selbstverständlich eingebunden in die wechselseitige Verweiskraft von Paziflerungs- und Zivilisierungsmaximen. Celtis läßt keinen Zweifel daran, daß er als Repräsentant 25
Zit. nach HL, S. 12f. (V. 1 - 2 0 aus: Ad Fridericum Caesarem pro laurea proseutice).
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kollektiver Wünsche vom Kaiser etwas erhofft, was in der doppelseitigen, eigentlich widersprüchlichen Applikation der tacitistischen Protreptik angelegt war: die Revitalisierung, d. h. die handlungs- und entscheidungsrelevante Geltung vergessener >Tugendenintroitus< in die Stadt (V. 93-128), sorgfältigst beschrieben und ohne Spitzen gegen die Altgläubigen und gegen die Vertreter der Kurie erneut ganz auf die Sozialsymbolik des Zeremoniells abgestellt. Wiederum mit einer ortsbezogenen Ekphrasis wendet sich schließlich der Blick zum Rathaus ( V. 130). Nicht die Gebäude, vielmehr bildnerische Darstellungen des Innenraums werden beschrieben (V. 131-140), die ikonographisch eine Kontinuität von Germanengeschichte und Reichsgeschichte suggerieren (V. 131). Nationale >MemoriaTextsorten< der pragmatischen Publizistik, fiktionalen Gestaltung und einer auf das Exotische gerichteten Neugier erfaßte. Die solcherart durch immer neue Hiobsbotschaften eingeschärfte Dringlichkeit der Türkenfrage prägte ein thematisch abgrenzbares >ArgumentationssystemWarum?Warumsoll ich Gutes erwarten?< Die Christenheit hat kein Haupt, dem alle gehorchen wollten. Nicht dem Papst und nicht dem Kaiser gibt man, was ihnen gebührt. Es findet sich keine Ehrfurcht und kein Gehorsam. Als wären sie Fabeln und Bildertafeln, so betrachten wir Papst und Kaiser. Einen eigenen König hat jede Stadt. So viele Fürsten gibt's als Häuser. Wie kannst Du so vielen Köpfen, als den christlichen Erdteil lenken, zu einem Kriegszug raten? Doch gut; nehmen wir an, daß sich alle Könige zum Kampf zusammenfinden! W e m willst Du die Führung anvertrauen? Welche Ordnung wird im Heere herrschen? Welche militärische Zucht? Welcher Gehorsam? Wer wird die große Schar ernähren? Wer wird die mannigfaltigen Sprachen verstehen? Wer wird die bunten Sitten lenken? Wer wird die Engländer mit den Franzosen befreunden? Wer die Genuesen mir den Aragonesen vereinen? Wer die Deutschen mit den Ungarn und den Böhmen versöhnen? Wenn man wenige gegen die Türken führt, wird man leicht unterliegen; wenn viele, wird man der Verwirrung anheimfallen. Überall sind Schwierigkeiten. [...] Sage nun an, was in der völlig unsichern Lage zu hoffen oder zu fürchten sei. Betrachte dann die Sitten der Menschen und erwäge die Taten unsrer Fürsten! Wie tief gähnt der Abgrund des Geizes, wie groß ist die Trägheit, wie mächtig die Gier!« Zu den Hoffnungen und Illusionen der fehlschlagenden Kreuzzugspläne, d. h. zum historischen Hintergrund dieses Briefes bes. instruktiv Heribert Müller: Kreuzzugspläne und Kreuzzugspolitik des Herzogs Philipp des Guten von Burgund. Göttingen 1963 (Schriftenreihe der historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 51), bes. S. 5 9 - 8 0 .
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Mallem opinionem meam esse falsissimam ac mendacis quam veri prophete nomen. dicam tarnen, quod meus presagit animus, non spero, quod opto; nil boni menti mee persuadere possum, quare, inquis? quare, inquam, ego bene sperem? Christianitas nullum habet caput, cui parere omnes velint; neque summo sacerdoti neque imperatori, que sua sunt, dantur. nulla reverentia, nulla obedientia est. tanquam ficta nomina, picta capita sint, ita papam imperatoremque respicimus. suum queque civitas regem habet, tot sunt principes, quot domus. quomodo tot capitibus, quot regunt Christianum orbem, arma sumere suadebis? age dicito concurrere in bellum cunctos reges, cui ducatum dabis? quis ordo in exercitu erit? que disciplina militaris? que obedientia? quis pascet tantum populum? quis intelliget varias linguas? quis reget diversos mores? quis Anglicos amicabit Gallicis? quis Januenses conjunget Arragonensibus? quis Theutones Ungaris Bohemisque conciliabit? si paucos contra Turcos ducis, facile succumbis, si multos, confunderis. undique sunt angustie. [...] Ede nunc, in tanta rerum varietate quid sperandum aut timendum sit. intuere deinde mores hominum ac nostrorum principum facta considera. quantus avaritie sinus patet, quanta inertia, quanta voracitas!
Die hier angedeutete Diagnose zielte auf Rivalitäten aller Art, mithin auf die Interdependenz der äußeren und inneren Schwächen der neuen europäischen Staatenordnung, darf aber auch als Folie für die nicht mehr abreißenden Appelle an die Handlungskraft und den inneren Einigungswillen des römisch-deutschen Reiches zitiert werden. Dessen Rolle als praesumptiver Vormacht des nomen Christianum historisch abzusichern und gleichzeitig zu aktualisieren war das zentrale Anliegen der humanistischen, d. h. von der gebildeten Führungsschicht getragenen Literatur, und dies umso mehr, als meistens anstelle politisch einlösbarer Hoffnungen nur noch die moralisch, retrospektiv und persuasiv einklagbare Gewißheit einer abendländischen Mission des deutschen Kaisertums zu artikulieren war. Dem Literaturhistoriker bietet sich hier ein weites Spektrum unerledigter Aufgaben der philologischen Grundlagenforschung wie auch der Einzelanalyse. Dies gilt für den Nachweis von Bildern und historischen Verständigungsmustern an den Grenzen des (westlichen) >Eigenen< und des (östlichen) >FremdenErotisches< hin gewichtend Cornelia Kleinlogel: Exotik-Erotik. Zur Geschichte des Türkenbildes in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit (1453-1800). Frankfurt/M., Bern usw. 1989 (Bochumer Schriften zur deutschen Literatur, Bd. 8); ferner der dritte Band von Göllner, wie Anm. 3, sowie Ehrenfried Hermann: Türke und Osmanenreich in der Vorstellung der Zeitgenossen Luthers. Ein Beitrag zur Untersuchung des deutschen Türkenschrifttum. Diss. phil. Freiburg i. Br. 1961; Robert Schwoebel: The Shadow of the Crescent: The Renaissance Image of the Turk (1453-1517). New York 1967; Gert Melville: Die Wahrheit des Eigenen und die Wirklichkeit des Fremden. Über f r ü h e A u g e n z e u g e n des osmanischen Reiches. In: Europa und die osmanische Expansion, wie Anm. 60, S. 7 9 - 1 0 2 ; einschlägig nun der Sammelbd. von Franz Bosbach (Hg.): Feindbilder. Die Darstellung des Gegners in der politischen Publizistik des Mittelalters und der Neuzeit. Köln, Weimar, Wien 1992 (Bayreuther Historische Kolloquien, Bd. 6).
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sammenhang von Diskurs- und funktionaler Formgeschichte im gegenseitigen Verweis von Anlässen, Darstellunginteressen und Darstellungsmitteln, hier vor allem an Beispielen humanistischer Lyrik ins Auge gefaßt, umfaßt die ganze Bandbreite lateinischer wie muttersprachlicher Literatur. Zu den daraus sich ableitenden methodischen Prämissen gehört selbstverständlich die Erkenntnis, daß auch die exemplarische Untersuchung von Teilsektoren der Türkenpublizistik nicht umhinkommt, den kontextuellen Voraussetzungs-, Wirkungs- und Anspielungsraum wenigstens insoweit auszuleuchten, als dadurch der literarisch-historische Ort des Einzeltextes hinreichend bestimmt werden kann. Selbstverständlich ist vorab in Rechnung zu stellen, daß breite Publikumsschichten des Reformationsjahrhunderts, vor allem in den Städten, in erster Linie durch Druckmedien des - oft durch Holzschnitte illustrierten - Tagesschrifttums informiert wurden, das sich im Genre des Flugblatts, 8 der Flugschrift oder des sog. Ereignis- bzw. Zeitungsliedes" der Wechselfälle des Krieges, aber auch der mentalen Einstimmung der Leser- und Hörerschaft annahm. Unter dem Einfluß solcher >zeytungen< beschrieb zum Beispiel Hans Sachs (1494-1576) zwischen 1529-1542 in zahlreichen Türkenliedern, zum Teil als Kontrafakturen volksläufiger Liedtöne verfaßt,10 Blutdurst und Schandtaten des Feindes, nicht ohne bei Gelegenheit die christlichen Streiter zur tapferen Gegenwehr zu ermuntern.11 Exotische Requisiten konnten - etwa in der Beschreibung von Beutestücken - triste Greuelpropaganda bisweilen auflockern, doch dominierte nicht nur in Sachs' Darstellungsstrategie der angeblich notorische Hang des Türken zu einem gerade an den unschuldigen Frauen und Kindern gestillten Sadismus:12 s
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Vgl. die zusammenfassende Darstellung in dem glänzenden Werk von Winfried Schulze: Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung. München 1978, bes. S. 21-66, sowie die exemplarischen Analysen in: Michael Schilling: Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen des illustrierten Flugblatts in Deutschland bis um 1700. Tübingen 1990 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. Bd. 29), passim (s. Register) mit Hinweisen auf die neueren Editionen bzw. Verzeichnisse der Bildpublizistik. Z u s a m m e n f a s s e n d dazu Senol Özyurt: Die Türkenlieder und das Türkenbild in der deutschen Volksüberlieferung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. München 1972: auch mit älteren Beispielen, j e d o c h vor allem für die Spätzeit ergiebig Bertrand Michael B u c h m a n n : Türkenlieder zu den Türkenkriegen und besonders zur zweiten Wiener Türkenbelagerung. Wien, Köln, Graz 1983: grundlegend Rolf Wilhelm Brednich: Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jahrhunderts. 2 Bde. Baden-Baden 1974/75 (Bibliotheca Bibliographica Aureliana, Bd. 55 und 60). Z u m »Türkenthema im Werk von Hans Sachs« s. Kleinlogel, wie Anm. 7. S. 5 5 - 7 0 . So etwa in dem als Flugblatt verbreiteten Preislied »Eyn lob der f r u m m e n Landßknecht zu Wyen«, auch unter dem Titel »Ein lob des redlichen krieg-volck in der duerkischen pelegrung der stat Wien. I n d e m t h o n : Es kam ein alter Schweizer gangen«: s. Hans Sachs: Werke. Hg. von Adalbert von Keller und Edmund Goetze. 26 Bde. Stuttgart 1870-1908. Ndr. Hildesheim 1964. hier Bd. XXII. S. 151-154. Aus »Die duerckisch pelagerung der stat Wien«. Ed. Keller/Goetze, ebd., Bd. XXII, S. 141-150, hier S. 149, S t r o p h e ^ .
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Der Poet und das Reich Was er den selben abent Weips-pild ζ ν wegen pracht. Mit den selben sie habent Schentlich gethon die nacht. Darnach die armen frawen Hat die diranisch schar All lebendig zerhawen Der doch ob dawsent war.
Türkische Lüsternheit gibt sich (ein Text zu Holzschnitten von Hans Guldenmundt, 1530) im Mund der herzlosen Soldaten freimütig zu erkennen:13 Wir mammelucken. stradiothen. Reytten in den strayffenden rotten. Was wir fahen von meyd und frawen, Ir kleyd wir ob dem knye abhawen. Füren sie also mit uns weck Durch wasser, kott und dorenheck. Also wir groß mutwillen treyben Mit junckfrawen und jungen weyben. Die alten schlagen wir zu todt. D e m Christen-glawben zu eim spot.
Auf diesem Boden der literarisch auf ein eindeutiges Feindbild eingestimmten Öffentlichkeit gediehen historiographische Reprisen des mittelalterlichen Kreuzzugsmythos, beflügelt von der Energie, mit der Kaiser Maximilian den Herrschaftsanspruch seines Hauses auch mit dem Kampf gegen die widerchristlichen Mächte begründete 14 und so dynastisches Prestige mit Vorstellungen
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S. Ed. Keller/Goetze, ebd., Bd. XXIV, S. 2 t . Der Plan eines Kreuzzugs gegen die Ungläubigen gehörte bekanntlich zu den Konstanten in Maximilians Außenpolitik, demgemäß auch zum Themenkreis der von ihm zur ästhetischen Kultivierung des eigenen Nachruhms angeregten Dichtung; s. dazu insgesamt Jan-Dirk Müller: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I. München 1982 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, Bd. 2), hier S. 109ff. und passim. Der Maximilians R u h m verherrlichende italienische Humanist Riccardus Bartholinus (ca. 1470-1550) füllte das dritte Buch seines an Vergil angelehnten Heldenepos Austrias (Straßburg 1516) über die Taten des Austriacus Heros vor allem im Bayrischen Erbfolgekrieg von 1504/05 mit einem Exkurs über die Geschichte der Türken und die Eroberung von Byzanz, verkündete am Ende jedoch die Siegeszuversicht des Kaisers. Der poetische Text integrierte dabei in der Rede eines Rhapsoden und der Redeantwort des Kaisers Formen der auf den Reichstagen praktizierten Türkenrhetorik (dazu s.u.): s. zum Werk Bartholinos bes. Müller, S. 174-179, sowie (mit ausführlicher Inhaltsangabe) Stephan Füssel: Riccardus Bartholinus Perusinus. Humanistische Panegyrik am Hofe Maximilians I. Baden-Baden 1987 (Saecula Spiritalia, Bd. 16), bes. S. 168-174, spez. S. 174f. zu Buch III; ergänzend ders.: Dichtung und Politik um 1500. Das »Haus Österreich« in Selbstdarstellung, Volkslied und panegyrischen Carmina. In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil von den Anfängen im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert (1050-1750). Unter Mitwirkung von Fritz Peter Knapp (Mittelalter) hg. von Herbert Zeman. Graz 1986, S. 803-831; das riesige Feld der neulateinischen Panegyrik, zumeist auch mit antiosmanischer Protreptik, wird nun in bibliographischer Überschau exemplarisch gesichtet von Franz Römer und Elisabeth Klecker: Poetische Habsburg-Panegyrik in
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über die hegemoniale Schutzfunktion des Kaisertums zur Deckung brachte. In Druckmetropolen wie Basel wurde zum Beispiel Sebastian Brants Geschichte Jerusalems (1495)' 5 in fixem Sensorium für die Ansprüche des Marktes bald auch von Werken eines Johannes Gast,16 Heinrich Pantaleon,17 Celio Agostino Curione ls und Johannes Basilius Herold1· ergänzt, die den heiligen Krieg der Vorfahren und die Führungsaufgabe des Kaisers allen Versäumnissen der Gegenwart nostalgisch und unverdrossen entgegenhielten. Als komplementäre Schöpfung zu Brants Geschichtswerk darf ein längerer Gedichtzyklus des Jahres 1497 gelten, der bald in Brants Varia Carmina (1498) einrückte, vor allem aber im Vorspann der Jacob Locher (1471-1528) zu verdankenden lateinischen Version des »Narrenschiffs« (1497ff.) internationale Verbreitung gewann.20
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lateinischer Sprache. Bestände der Österreichischen Nationalbibliothek als Grundlage eines Forschungsprojekts. In: biblos. Beiträge zu Buch. Bibliothek und Schrift 43. H. 3 - 4 (1994). S. 183-198; zum historischen Hintergrund vgl. Georg Wagner: Der letzte Tiirkenkreuzzugsplan Kaiser Maximilians I. aus dem Jahre 1517. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichte 77 (1969). S. 314-353. Sebastian Brant: De origine et conversatione bonorum regum et laude Civitatis Hierosolymae cum exhortatione eiusdem recuperandae. Basel 1495: in deutscher Übersetzung von Johann Frey (Von dem Anfang und Wesen der hailigen Statt Jerusalem). Straßburg 1518; dazu sowie über Brants Lyrik und die Revitalisierung mittelalterlicher Denkfiguren s. William Gilbert: Sebastian Brant. Conservative Humanist. In: Archiv für Reformationsgeschichte 46 (1955), S. 145-167; zu Brants Werk s. jetzt das Porträt von Hermann Wiegand: Sebastian Brant (1457-1521). Ein streitbarer Publizist an der Schwelle der Neuzeit. In: Humanismus im deutschen Südwesten. Biographische Profile. [...]. Hg. von Paul Gerhard Schmidt. Sigmaringen 1993, S. 77-104. " Johannes Gast (1500-1552) publizierte 1544 eine humanistische Kompilation des Florentiners Benedetto Accolti aus verschiedenen Chronisten der Kreuzzüge: De bello contra barbaros a Christianis gesto pro Christi sepulchro et Judaea recuperandis Benedicti de Acoltis Aretini libri IV; s. Peter Bietenholz: Der italienische Humanismus und die Blütezeit des Buchdrucks in Basel. [...] Basel und Stuttgart 1959 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft). S. 104, sowie ebd. im publikationshistorischen Überblick S. 101-105 (»Das Abendland und die Türkengefahr«). Im Sinne eines überkonfessionellen Kreuzritterideals das Werk des vor allem durch sein »Deutscher Nation Heldenbuch« ( 1 5 6 7 - 6 9 . 4. Aufl. 1588) bekannten Pantaleon (1522-1595): Militaris ordinis Johannitarum Rhodiorum aut Melitensiumequitumrerum memorabilium[...] gestarumadpraesentemusque 1581 annumhistorianova.Basel 1581; vgl. die Charakteristik des Werkes bei Andreas Burckhardt: Johannes Basilius Herold: Kaiser und Reich im protestantischen Schrifttum des Basler Buchdrucks um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Basel, Stuttgart 1967 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, Bd. 104). S. 239; schon vorher hatte Pantaleon ein Werk Paolo Giovios übersetzt: Von der Türkischen Kaiser Herkommen. Aufgang und Regiment. [...]. Basel 1564. Der Sohn des Theologen und bekannten Glaubensflüchtlings veröffentlichte eine mehrfach nachgedruckte, auch ins Deutsche übersetzte Geschichte der frühen islamischen Expansion (Sarracenicae historiae libri tres, 1567 u. ö.); zu ihm und auch zu einschlägigen Werken und Kompilationen des Vaters s. Burckhardt, wie Anm. 17. S. 17f. und bes. 237f. Zu Herolds zahlreichen Editionen. Kompilationen und eigenen Werken, darunter die De bello sacro continuatae historiae libri VI (Basel 1549). gedacht als Fortsetzung der Historia belli sacri des Wilhelm von Tyrus. s. die lehrreiche Darstellung von Burckhardt, wie Anm. 17. S. 2 2 5 - 2 4 8 . spez. 235f.
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Im Nachweis einer Hierarchie der himmlischen Mächte sichert Brant zuerst irdische Ordnungspostulate wider die Melancholie von Verlusterfahrungen ab.21 Schöpfungstheologisch und heilsgeschichtlich beglaubigte Sinnüberzeugungen finden ihr geschichtsphilosophisches Analogon im Zentrum dieses Zyklus, einem Lehrgedicht über die Translatio imperii,12 und indem Brant gemäß den erprobten Allegoresen der Danielprophetie 23 der Reihe nach Glanz, Würde und Untergang der Imperien mustert, rückt auch die Romana monorchia in eine Gefahrenzone, die den Verlust des »Szepters« signalisiert.24 Mittelalterliche Konflikte zwischen Papst und Kaiser und der auch vom kirchlichen Schisma verursachte Untergang des Constantinopolitanum Imperium erweisen sich als Menetekel einer angstvoll und zugleich aktivistisch umgesetzten Krisengewißheit. Die Uneinigkeit im Reich wird so unter dem Titel der Turci irruptio ausgemalt, 25 um freilich abschließend mit den Beschlüssen des Reichstages von Worms26 hoffnungsreiche Aussichten auf eine von Maximilian garantierte Friedensordnung in helles Licht zu tauchen. Immer wieder bezog Brant in reichs20
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Ich benutze und zitiere hier die jüngst erschienene Edition von Thomas Wilhetmi (Hg.): Sebastian Brant: Kleine Texte. 3 Bde. (Bd 1 . 1 . 1 . 2 . 2 ) Stuttgart-Bad Cannstatt 1998 (Arbeiten und Editionen zur Mittleren Deutschen Literatur. Neue Folge. Bd. 3.1.1.-3.2), hier spez. Bd. 1.2. S. 3 2 1 - 3 3 8 (Nr. 195). dazu die überlieferungsgeschichtlichen Nachweise in Bd. 2, S. 88f.: De Corrupto ordine vivendi pereuntibus. Inventio nova. Sebastiani Brant. So in den auf ein astrologisch-prognostisches, auf das Jahr 1503 vorausweisendes Einleitungsgedicht folgenden Versabschnitten mit den Überschriften: Ordo angelice Jerarchie, Ordo humani generis, Ordo regni universalis. S. 332-334; zur Legitimationsfunktion dieses Theorems für die Kulturphilosophie der zeitgenössischen deutschen Humanisten s. Franz-Joseph Worstbrock: Translatio artium. Über die Herkunft einer kulturhistorischen Theorie. In: Archiv für Kulturgeschichte 47 (1965). S. 1 - 2 2 . Grundlegend dazu Werner Goez: Translatio Imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Tübingen 1958. Die deutsche Nation, beginnend mit Karl d. Gr. (ein »Francus«, nicht ein »Gallus«!: S. 332). trägt dieses Szepter seit 700 Jahren. Nun aber die Situation (S. 330): [...] »Cernimus hoc pacto nullam sub Caesare terrain / Stare diu: paret rex quia nullus ei: / Atque instar regum: populique, urbesque. fideles / Imperio quondam: libera abire student: / N e m o magis curat regni defendere honorem: / Sed privata magis c o m m o d a cuique placent. [...].« (V. 309-314). Ed. Wilhelmi, wie Anm. 20, S. 334: »[...] Germanos vero genitos de germine. quondam / Ac vere fratres, fama fuisse canit. / Nulla sed ο superi est hodie concordia nostris / Germanis: nec pax: lex nec amicitiae: / Sed cuncti inter se grassantur more leonum: /Raptorisque student vivere more lupi. / Heu quantum vereor bella horrida, bella nephanda: / Intestina simul surgere, et ire procul. / N a m rhenum (metus est) undandum sanguine multo: / Neve Istri fontes. stagna cruoris agant: / Dii superi, talem Germano avertite pestem: / Proelia pellatis Theutonicoque solo. / Longius in Turcos, Arabesque, et Achaica regna / Haec bellona ferox pulsa. et abacta ruat. / Regna etenim divisa cadunt: aditus datur hosti / Perfacilis: dispar vertit aratra iugum.« (V. 4 5 5 ^ 7 0 ) . Türkenängste saßen tief und drangen bis in die Phantasien und Träume vor. Der zeitweise den Täufern nahestehende Spiritualist Clemens Ziegler z.B. hatte derartige Träume und Visionen: »So sah er >dunkelhäutige< Söldnerhaufen das Rheintal hinaufziehen, die das Land verwüsten. In einem anderen
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patriotischen Gedichten Stellung zum Türkenproblem. Auf die »exhortatio« Maximilians zielte ausdrücklich ein 1498 erschienener Einzeldruck, der - mit späteren Varianten - ebenfalls in die gleichzeitig erschienene Gedichtsammlung aufgenommen wurde.27 In bemerkenswerter Änderung der Darstellungsoptik greift Brant hier zum Mittel der Prosopopoiie,28 indem der Sultan auf eine gegen ihn gerichtete Invektive antwortet. Möglicherweise kannte Brant frühere humanistische Phantasieprodukte, in denen der Sultan auf jenen Brief reagierte, mit dem Papst Pius II. seinen Widersacher zur Bekehrung aufforderte. 29 Brant läßt den Sultan als Propheten wider Willen berichten, »wie die Türken einst aus der felsigen und unwirtlichen Gegend des Kaspischen Meers aufgebrochen seien
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Traum schaute er, wie das Straßburger Münster in einen Pferdestall verwandelt und in Gegenwart des Ammeisters die katholische Messe zelebriert wird. Mehrfach erblickte er einen schwerkranken Kaiser, der versucht, das Evangelium zu verkünden, aber daran von seinen türkischen Ratgebern gehindert wird«; nach Klaus Deppermann: Melchior Hoffman. Soziale Unruhen und apokalyptische Visionen im Zeitalter der Reformation. Göttingen 1979, spez. S. 156f. Ob nur der große Wormser Reichstag von 1495 oder auch der kleinere des Jahres 1496 gemeint ist, wird nicht angegeben und ließe sich wohl erst in vergleichender Durchsicht der historischen Quellen abklären. Ed. Wilhelmi, wie Anm. 20, Bd. 1.2. Nr. 244. S. 411-416: Thurcorum terror et potentia. Ad cuiusdamLeonhardi Clementis in Turcum invectivam: Sultat Othomanidae responsio: per Sebastianum Brant in honorem, exhortationemque Serenissimae regiae maiestatis divi maximiliani etc. conficta. Anno 98. kal: septembribus [sie!]. Dazu neuerdings die wichtige Studie von Walther Ludwig: Eine unbekannte Variante der Varia Carmina Sebastian Brants und die Prophezeiungen des Ps.-Methodius. Ein Beitrag zur Türkenkriegspropaganda um 1500. In: Daphnis 26 (1997), S. 263-299. Ludwig identifiziert den im Gedichttitel angesprochenen Leonhardus Clemens (als Humanist: Casselius). zeichnet seine Beziehungen zu Brant anhand bisher unbekannter Gedichte, bestimmt in diesem Zusammenhang eine bisher so gut wie unbeachtete Textvariante der Varia Carmina (Ad divum Maximilianum regem etc. Exhortatio) und führt ein in die Brants Mentalität prägende. Gedanken des joachimitischen Endkaisertums aufgreifende Literatur der Prophetien und Prognostiken, die sich auf den Text dieses später hinzugefügten Gedichtes in manchen Einzelzügen auswirken. Immer zu vgl. der locus classicus der rhetorischen Theorie, nämlich Quintilian, inst. orat. IX, 2, 2 9 - 3 7 : hier genau passend die Formulierung: »his et adversariorum cogitationes velut secum loquentium protrahimus«, wobei freilich Brant gegen Quintilians folgende Einschränkung verstößt: »qui tarnen ita d e m u m a fide non abhorreant, si ea locutos finxerimus, quae cogitasse eos non sit absurdum.« Vgl. die Hinweise bei Ludwig, wie Anm. 27. S. 270 und Reinhold F. Glei: Pius Aeneas und der Islam. Der Brief des Papstes an den Eroberer Konstantinopels. In: Gerhard Binder und Konrad Ehrlich (Hg.): Religiöse Kommunikation - Formen und Praxis vor der Neuzeit. (Stätten und Formen der Kommunikation im Altertum VI, Bd. 26), S. 301-325; hier S. 324 mit Beispielen zur Verbreitung fiktiver Antwortbriefe des Sultans an Pius II. Bei Johannes Opornius in Basel erschien 1554 sogar eine ganze Sammlung derartiger, durchweg gefälschter Briefe: Mahumetis Magni Turcorum imperatoris epistolae, Syrica, Graeca et Scythica linguis conscriptae, perque Landinum Eq. Hierosolymitanum latine versae, in: Epistolarum Laconicarum, atque Selectarum Farragines duae [...] Gilberti Cognati [i. e. Gilbert Cousin] Nozereni opera in studiosorum usum iam olim collectae, et nunc rursum magna aeeeßione locupletae, S. 4 6 4 - 5 0 6 ; die Titelaufnahme hier nach Glei.
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und sich erobernd immer mehr ausgedehnt hätten. Unterstützt worden sei ihr Vordringen durch die Sorglosigkeit und Feigheit der Herren Roms, durch die von den Himmlischen bestraften Frevel und die verderbte Religion ihrer Gegner sowie durch die innere Zwietracht der Christen. So sei es den Türken überall, in Asien, in Afrika und in Europa, gelungen ihre Eroberungen zu machen. Der Vater des Sprechers habe Byzanz erobert und das dortige Reich beseitigt. Der Sprecher wird dadurch als der zur Zeit regierende türkische Sultan, also Bajasid II., gekennzeichnet. Nun droht der Sprecher, das restliche Europa an sich zu bringen. Nur einen fürchte er: den römischen König Maximilian. Wenn dieser die europäischen Reiche zum Frieden untereinander bringe und mit ihrer vereinten Macht gegen ihn ziehe, sei es um ihn geschehen. Nur Maximilian könne die Türken besiegen. Maximilian sei dieser Sieg von den Himmlischen vorbehalten worden. Ihm selbst sei es bestimmt, von ihm gefangen genommen zu werden. Doch dann wolle er lieber zuvor noch den christlichen Glauben annehmen. Maximilian sei kein früherer und kein künftiger König gleich.«30 Eine Trauerelegie (1518) auf den Tod Maximilians, offenbar schon vorher entstanden, sollte schließlich alle auf den verstorbenen Kaiser gerichteten Hoffnungen wohl auch auf den Nachfolger überleiten:31 [...] Rumpe moras Caesar. Thurci pete regna nephandi, Excute et a Christi, lora, flagella, grege. Tempus adest Caesar, ovibus succurrere Christi, Morsibus expositis, dentibus atque lupi, Vos ο christigenae, Regesque ducesque, venite Hoc ad opus sacrum, perplacitumque deo, Nolite ο virtus Germana et vivida corda Desipere, et Thurcis linquere regna, et opes. Egregias animas proavorum, iter atque sequamur Maiorum (neque enim degenerasse licet) Qui virtute sua, sudore, armisque pararunt Sacratum Christi sanguine, saepe locum. Ne sinite Imperium sacrum, populumque fidelem Foedari a Thurcis, spurcidicisque viris, Sit bona pax vobis concordia sancta fidesque Omnibus unanimis, cura, timorque dei, Vincere sic facile est Thurcasque, et Barbara tela, Evenient vobis sie orientis opes. Per sacros thalamos, per spem, per vota Nepotum, Templaque, perque aras, per pia thura, focos. Per mortem horrendam per membra, et viscera Christi
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Ich zitiere die von Ludwig vorgelegte Paraphrase, wie Anm. 27, S. 270. Ed. Wilhelmi, wie A n m . 20, Bd. 1.2, Nr. 452. S. 605-607: Ad divum Maximilianum invictissimum, cunctosque Christiani nominis prineipes et populos, Naenia Sebastiani Brant, In Thurcarum nyciteria, cum arripiendae in eosdem expeditionis exhortatione, hier zitiert der Schlußteil des Gedichts (V. 65-96). Die weiteren, darunter auch deutschsprachigen Türkengedichte Brants findet man leicht anhand des von Wilhelmi beigegebenen Sachregisters in Bd. 2 (sub verbo >TiirkenClientel< des Kaisers aufgenommene Konrad Celtis (1459-1508) wandte sich in bewegter lyrischer Rede an Friedrich III., als der Fürstentag von Nürnberg (1487 ) erfolgreiche Bemühungen um die Bündelung der Abwehrkräfte zu verheißen schien,32 und es war neben Celtis auch der Freiburger, später in Tübingen und Ingolstadt lehrende >Poet< Jacob Locher,11 der Elemente des panegyrischen Trionfotheaters mit klassizistischen Formen des
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Gedruckt als erstes Gedicht des Liber E p o d o n ( z u s a m m e n mit den vier Büchern der Oden: Straßburg 1513), greifbar in der A u s g a b e von Felicitas Pindter (Hg.): Conradus Celtis Protucius: Libri O d a r u m quattuor. Liber E p o d o n . C a r m e n seculare. Leipzig 1937, S. 103-106: Ad Caesarem Fridericum, d u m contra Turcos principes convocasset. Zu Celtis
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neuen Renaissancedramas verknüpfte und - nach dem Vorgang einer dramatisch inszenierten Historia de rege Franciae - die Anwesenheit Maximilians in Freiburg (1495) dazu benutzte, seine Tragedia de Thurcis et Soldano vorzustellen: eher ein Hör- als ein Schaustück, durchsetzt mit Klagemonologen und mit der Verwandlung >des Türken< zur Ausgeburt der Hölle, vergleichbar der schrecklichen Gewalt des Unterweltgottes Pluto und jener Giganten, die einst wider die hohe und helle Macht der olympischen Götter kämpften. 34 Die von vielen Details der politischen und militärischen Lage abstrahierende Appellationsdichtung dieser Art sollte deshalb nicht als historisch marginal oder gar als realitätsblind bezeichnet werden. Der hohe Ton, in dem etwa Celtis die Bemühungen des Fürstentages mit der Aura einer Wiederkehr goldener Zeiten verherrlichte, ,5 entsprach der Aufgabe, Vorstellungsmodelle und Maximen des historischen und zugleich moralischen Bewußtseins bei den Inhabern der Macht und den Urhebern der Ohnmacht zu aktivieren. Lob und Tadel, Ruhmesverheißung und lyrische Klage bewegten sich in den Bahnen des genus demonstrativum, indem sie die konkrete historische Kalkulation oft genug übersprangen, um auf der Ebene der moralisch-reichsromantischen Projektionen finite Erfahrungen in allgemeingültiges Handlungswissen zu transformieren und in der poetisch erhöhten Rede den Konsens der angesprochenen und gemeinten Mächte unter evidenten Kategorien der Willensbildung einzufordern. Sowohl das protojournalistische Tagesschrifttum wie auch die adhortative oder enkomiastische Poesie der Gelehrten waren flankiert von Textsorten, in denen
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jetzt heranzuziehen die kommentierte und bibliographisch fundierte Auswahlausgabe in: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. [...] Hg. von W. Kühlmann, Robert Seidel und Hermann Wiegand. Frankfurt/M. 1997 (Bibliothek Deutscher Klassiker. Bd. 146. Bibliothek der Frühen Neuzeit. Bd. 5), S. 11-137 mit dem Kommentar S. 920-1019. Zu ihm s. den zusammenfassenden Artikel von W. Kühlmann. In: Literaturlexikon. Hg. von Walther Killy. Bd. 1 - 1 2 . München. Gütersloh 1989ff„ hier Bd. 7 (1990). S. 3 1 7 f „ sowie das Autorenporträt von Bernhard Coppel: Jakob Locher Philomusus (1471-1528). Musenliebe als M a x i m e . In: H u m a n i s m u s im deutschen Südwesten, wie A n m . 15, S. 151-178. Typologisch vergleichbar Celtis' Festspiel Ludus Dianae (Erstdruck 1501. dann in: Quatuor libri A m o r u m [...]. Nürnberg 1502): vgl. den Neudruck mit deutscher Übersetzung in: Konrad Celtis. Poeta laureatus, ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von Kurt Adel. Graz. Wien 1960 (Stiasny-Biicherei, Bd. 62), S. 9 0 - 1 0 5 ; zur Tiirkenadhortatio bes. S. 9 4 - 9 7 . So die interpretierende Charakterisierung der Stücke von Bernhard Coppel: Jacob Locher und seine in Freiburg aufgeführten Dramen. In: Acta Conventus Neo-Latini Amstelodamensis. Hg. von Pierre Tuynman u. a. München 1979. S. 258-272. Auszüge des Türkendramas (Vorrede, 1. Akt. Schlußrede an die Zuschauer) sind in deutscher Übersetzung abgedruckt in: Der deutsche Renaissance-Humanismus. Hg. von Winfried Trillitzsch. Frankfurt/M. 1981. S. 2 3 6 - 2 4 8 Celtis. Ed. Pindter, wie Anm. 32, S. 104 (die ersten Verse): »Aurata nobis iam rediere tempora / Laudata priscis vatibus, / D u m Fridericus Caesar invictissimus / Vocat in senatum principes, / Ut Hostium nunc imminentium turbinem / Prosternat altis viribus.« Ähnlich auch in Celtis' Dankgedicht zur Dichterkrönung: s. Text und Erläuterung in: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts, wie Anm. 32. S. 12.
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geistliche Sinnstiftung in fromme Verhaltensdidaxe überging. Argumentative Bestände der politisch-historischen Rhetorik wurden dabei fast immer überlagert, zumindest aber durchsetzt von Denkfiguren einer theokratischen Geschichtsdeutung, in welcher >der Türke< als Zuchtinstrument Gottes fungierte.36 Die historischen Ereignisse verwandelten sich so zu Indizien göttlichen Zorns, Zeichen einer im göttlichen Heilshandeln abgesicherten Warnung und Strafandrohung, wobei sich in den Zerwürfnissen und im Eigennutz der Potentaten nicht mehr und nicht weniger zu spiegeln schien als der universale Verfall des religiös-moralischen Pflichtbewußtseins nach Maßgabe ständischer Ordnungsverheißungen. Unter dem Eindruck eines gerade im frühen Luthertum verbreiteten Endzeitbewußtseins ließ sich die religiöse Diatribe durch Projektionen verstärken, die nach biblischen Bildern den eschatologischen Endkampf wider den Antichristen auf die aktuelle Situation übertrugen.37 Nach dem Vorbild Luthers bildete sich in diesem Zusammenhang in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein eigenständiger Typus der >Türkengebete< heraus,38 manchmal im Anhang thematisch koordinierter Predigten oder Chroniken gedruckt,30 oft in Städten und Territorien von der Obrigkeit angeordnet, demgemäß in separaten Einzeldrucken oder Sammlungen publiziert, welche auch - manchmal bereits im Titel - die besonderen Aufgaben des »Kriegsmanns« mit seelsorglichem Eifer in den Blick nahmen.40 Daneben eröffnet sich das weite Terrain der neuerdings von Dieter Mertens41 für das späte Mittelalter untersuchten »institutionalisierten Kommunikation«
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Dazu J. W. Bohnstedt: The infidel scourge of God. The Turkish menace as seen by German pamphleteers of the Reformation era. Philadelphia 1968. Die schwankende Haltung Luthers in seinen diversen Schriften und Äußerungen zum Türkenproblem ist des öfteren behandelt. Daß sich der Türkensturm auch zur Inkrimination der jeweils anderen Konfession ausnützen ließ, belegen viele Zeugnisse. Dazu Arno Seifert: Der Rückzug der biblischen Prophetie aus der neueren Geschichte. Studien zur Geschichte der Reichstheologie des frühneuzeitlichen deutschen Protestantismus. Köln, Wien 1990. hier bes. Kap. 2: »Die Entdeckung des türkischen Antichrist« (S. 11-20). Dazu im knappen Überblick Paul Althaus: Forschungen zur evangelischen Gebetsliteratur. Gütersloh 1927. Ndr. Hildesheim 1966. S. 145-147: vgl. auch Carl I. Cosack: Zur Literatur der Türkengebete im 16. und 17. Jahrhundert. In: Bernhard Weiss: Zur Geschichte der evangelisch ascetischen Literatur in Deutschland. Basel, Ludwigsburg 1871. S. 163-242. So veröffentlichte der Magdeburger Pfarrer Esaias Heidenreich 1582 zwölf Türkenpredigten über den 79. Psalm mit j e einem Gebet am Schluß der Predigten (s. V D 16. Η 1321); auch der »Unterricht vom Tiircken« (1567; V D 16, F 2798) des Magdeburger Pfarrers Chilianus Friederich ging aus Predigten hervor. Michael Babst ließ eine »Tiirckische Chronika« (1593; V D 16, Β 306) mit elf Gebeten erscheinen. Zu den umfangreichen Sammlungen gehörte das »Betbuch [...] wider den Erbfeind christlichen Namens, den [...] Tiircken« (Frankfurt a . 0 . 1 5 9 5 ; V D 16. L 1361) des Berliner Domprobstes Matthäus Leudholdt; weitere Hinweise auch bei W. Schulze, wie Anm. 8, bes. S. 37f., zu Sammlungen und Drucken von Türkengebeten und Türkenpredigten vor allem auf Initiative territorialer Obrigkeiten. Martin Behem (Prediger im schlesischen Lauban) legte z.B. 1593 zu Leipzig ein »Kriegesmann« betiteltes Werk für die Soldaten vor (VD 16, Β 1503).
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in Form der oratorischen Praxis: darunter jener auf bekannte Exempel zurückweisenden geistlichen Kasualberedsamkeit, die in differenzierten Publikumsbezügen und in der Spannung von Dispositionen der sog. >Themapredigt< und der humanistischen Epideiktik nicht zuletzt das bisher offenbar kaum eigens untersuchte Genus der >Türkenpredigt< ausbildete.42 Als moralistische Auslegung (enarratio) des 28. Psalms läßt sich auch die illusionslose, Töne des eifernden Reichspatriotismus vermeidende Consultatio de hello Tu reis inferendo (1530) des Erasmus von Rotterdam dem >geistlichen< Textfeld zuordnen. Im Rückgriff auf Giovanni Battista Egnazios De Caesaribus (Venedig 1516) arbeitet Erasmus einen langen Exkurs zur Geschichte der Türken in seine Abhandlung ein. 4 ' Sie bestätigt zwar stereotype Urteile über türkische Barbarei, läuft aber keineswegs darauf zu, einen Krieg gegen die östliche Großmacht umstandslos zu empfehlen. Ob man diesen Krieg führen müsse, wurde auch sonst in deliberativer Rede behandelt, ohne daß die Legitimität dieses Krieges ernsthaft in Zweifel gezogen worden wäre.44 Erasmus hält sich von radikalpazifistischen Theoremen fern, meldet aber unhörbar seine Skepsis gegen die aktuelle Kreuzzugspropaganda an, hinter der er nur die trügerischen Machenschaften des Papstes oder gar des Kaisers wittert. Auf die Kardinalfrage »Unde igitur illis [den Türken, W. K.] tantus rerum successus?« 45 gibt es für Erasmus nur eine Antwort: den Hinweis auf die Herrschsucht und Habsucht der Christen. Gegen die Türken erfolgreich zu sein setze voraus, den »Türken im eigenen Herzen«, d.h. Geiz, Ehrgeiz, Herrschsucht, Mangel an Frömmigkeit, Wollust, Betrug, Haß und Neid zu besiegen.46 Die türkische Bedrohung zeige, woran es in der Christenheit fehle: an dem Willen zu einer allgemeinen und erkennbaren Besserung der Lebens41
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Dieter Mertens: Die Rede als institutionalisierte Kommunikation im Zeitalter des Humanismus. In: Im Spannungsfeld von Recht und Ritual. Soziale Kommunikation in Mittelalter und früher Neuzeit. Hg. von Heinz Duchardt und Gert Melville. Köln. Weimar. Wien 1997. S. 4 0 1 ^ 2 1 . Eine Gesamtdarstellung dieses Predigttypus habe ich nicht gefunden; man muß sich an Einzelstudien halten: vgl. Siegfried Raeder: Die Türkenpredigt des lacob Andreae. In: Theologen und Theologie an der Universität Tübingen. Beiträge zur Geschichte der evangelisch-theologischen Fakultät. Hg. von Martin Brecht. Tübingen 1977 (Contubernium, Bd. 15), S. 9 6 - 1 2 2 : E. Kappe: Die Geschichte der Türkenpredigt in Wien. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte der Stadt während der Türkenzeit. Diss. phil. Wien 1949; zu Luther s. hier den Beitrag von Martin Brecht. Ich benutzte hier die hervorragend eingeleitete und kommentierte, auch bibliographisch sehr ergiebige Edition von A. G. Weiler, in: Opera Omnia Desiderii Erasmi Roterodami [...]. Ordinis quinti, Tomus tertius. Amsterdam, New York usw. 1986. S. 1 - 8 2 : Utilissima consultatio de bello Turcis inferendo. et obiter enarratus Psalmus XXVIII; zur Resonanz der politisch-moralischen Protreptik des Erasmus in der zeitgenössischen Literatur vgl. lean Lebeau: Sixt Bircks »ludith« (1539), Erasmus und der Türkenkrieg. In: Daphnis 9 (1980). S. 679-698. lohannes Cochlaeus (1479-1552). der bekannte Gegner Luthers, behandelte so in einem eigenen Werk (Dialogus de bello contra Turcas, 1529) die auseinandergehenden Ansichten zum Türkenkrieg (darunter die zuerst zögernde Haltung Luthers); s. Göllner, wie Anm. 3. Bd. III. S. 196f." Ed. Weiler, wie Anm. 43. S. 50.
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führung. Indem Erasmus die Frage nach dem bellum iustum kompromißlos zu einer Abrechnung mit christlicher Herrschaftspraxis und Alltagsbarbarei ausbaut, schließt sich seine Consultatio an frühere Stellungnahmen an, die er bereits in seiner Querela pacts,41 in seinem Adagium Dulce bellum inexpertis4S oder in seinem Brief (1518) an den Abt Paulus Volz von Hugshofen im Elsaß40 ausgesprochen hatte und die bisweilen begleitet waren von Randbemerkungen, die im Umkreis der Türkenpublizistik durchaus unbequeme Einsichten eröffneten: Ob ein Mann, der gegen die Türken kämpfe, in den Himmel komme, hänge ab von seiner moralischen Erneuerung, nicht aber von dieser seiner militärischen Leistung, außerdem handele es sich bei den Türken als Muslimen ja eigentlich um »halbe Christen«, insofern diese ja Moses und Christus als Propheten ansähen. Der umfangreiche historiographische Binnenteil der Consultatio macht darauf aufmerksam, daß den Redenschreibern und Traktatisten während des 16. Jahrhunderts auch in Deutschland eine nicht mehr abreißende Serie historischer, manchmal zugleich kulturgeographisch angelegter Geschichtswerke diversen Zuschnitts zur Verfügung standen. Von der Tiirckische[n] Chronick (1513) des in Straßburg bzw. Schaffhausen lebenden Mediziners und breitenwirksamen Publizisten Johannes Adelphus Muling (ca. 1485-1523) 50 oder des Wiener Humanisten Johannes Cuspinian (1473-1529) Werken" läßt sich der Prozeß einer Vertiefung und Verdichtung der >turkologischen< Informationen
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Ebd. Formulierungen wie (S. 52 bzw. 62): »An pietati Turcarum hic successus tribuetur? Nequaquam. An virtuti? Gens est effoeminata luxu, nec alia re quam latrociniis formidanda. Quid igitur causae? Nostris vitiis illi debent suas victorias, pugnauimus aduersus illos, sed vt res ipsa clamitat, irato Deo nostra. Iisdem enim studiis arma mouemus in Turcas, quibus illi ditiones alienas occupant. Trahimur regnandi libidine. inhiamus opibus. et vt dicam in summa. Turcae pugnamus cum Turcis. Quin ipsa rerum gestarum historia satis indicat, nostris dissidiis. nostra ambitione, nostratiumperfidia grauissimis cladibus semper fuisse datum locum.« - »Vbi nunc verae fidei. vbi christianae charitatis, vbi pacis et concordiae vestigia? Quo vnquam seculo plus licuit fraudibus. audaciae, rapinae et imposturis? Et interim ceu germani christiani Turcas detestamur. Si nobis succedere cupimus. vt Turcas a nostris cervicibus depellamus, prius teterrimum Turcarum genus ex animis nostris exigamus, auaritiam. ambitionem, dominandi libidinem. nostri fiduciam, impietatem, luxum, voluptatum amorem. fraudulentiam, iram, odium, inuidiam [...].« Hier u. a.: »Si cupimus Turcas ad Christi religionem adducere, prius ipsi simus christiani«. Vgl. dazu mit weiterer Erörterung der einschlägigen Zeugnisse Weiler, wie Anm. 43, bes. S."24-26. S. Weiler, wie Anm. 43. S. 25. Der Widmungsbrief zu Erasmus' Enchiridion militis christiani: s. Weiler, wie Anm. 43, S. 26. Zu ihm der ausführliche Artikel (mit kompletter Werkbibliographie) von Bodo Gotzkowsky, in: Die deutsche Literatur. Biographisches und bibliographisches Lexikon. Reihe II. Die deutsche Literatur zwischen 1450 und 1620. [...] Hg. von Hans-Gert Roloff. Lieferung 3 und 4, Bern usw. 1985, S. 188-244, hier spez. S. 196f. mit Hinweisen auf Adelphus' Historia von Rhodis (nach einer lateinischen Vorlage) und seine Barbarossa-Biographie; vgl. Bernhard Gorceix: Le turc dans les lettres allemandes aux 16e et 17e siecles. lohannes Adelphus et Abraham a Sancta Clara, in: Revue d'Allemagne 13 (1981). S. 2 1 6 - 2 3 7 .
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bis hin etwa zu Johannes Leunclavius' Historiae Musulmanae Turcorurn, de monumentis ipsorum exscriptae, libri XVIII (Frankfurt/M. 1591) verfolgen.' 2 Löwenklau kannte Konstantinopel und die östlichen Kriegsschauplätze aus eigener Anschauung, vertiefte sich sowohl in die byzantinischen wie auch die türkischen Quellen und vermochte so, vielleicht auch beeinflußt von seinem habsburgkritischen Kryptocalvinismus, dem östlichen Gegner Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Solchen historiographischen Interessen kamen manche Poeten mit Formen einer Memorialpoesie entgegen, wie wir sie etwa in epigrammartig gefaßten Reihen mit Kurzporträts der türkischen Herrscher, zumeist im Kontrapost zu analogen Serien der abendländischen Kaiser, antreffen." Zugleich ist die Wirkung der - oft mit historischen und kritisch vergleichenden Betrachtungen angereicherten - Reiseliteratur in Anschlag zu bringen: nicht nur 51
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Seine Turcica waren größtenteils inseriert in der monumentalen Darstellung der Caesares (gedruckt in Straßburg 1540). einer Porträtreihe der römischen und byzantinischen Kaiser, aber auch der türkischen Herrscher: Abhandlungen über türkische Institutuionen und den Ursprung der Türken nebst einer Schrift des ungarischen Freundes Felix Petantius aus Ragusa. Bibliothekar der Bibliotheca Corvinia (»Auf welchen Wegen die Türken anzugreifen seien«). S. dazu im einzelnen mit vielen Schlaglichtern auf die politischen Verhandlungen der Zeit, von denen sich Cuspinian bestimmt wußte, Hans AnkwiczKleehoven: Der Wiener Humanist Johannes Cuspinian. Gelehrter und Diplomat zur Zeit Kaiser Maximilians I. Graz-Köln 1959, passim bes. S. 207f„ 2 7 4 - 2 7 9 . Nach der Niederlage bei Mohacs schrieb Cuspinian eine flammende Oratio protreptica ad Sacri Ro. Imp. Principes et proceres, ut bellum suscipiant contra Turcum cum descriptione conflictus, nuper in Hungaria facti [...], erschienen zu Wien im Dezember 1526 und begleitet von lateinischen Gedichten des Caspar Ursinus Velius und Johannes Alexander Brassicanus: dazu Ankwicz-Kleehoven, S. 236-239. In deutscher Sprache erschien von ihm eine N e u w Chronica sowie die Übersetzung des genannten lateinischen Werkes unter dem Titel Neuw Muselmanische Histori: vgl. Schulze, wie Anm. 8, S. 28. sowie den Artikel (sub verbo Löwenklau) von Dieter Metzler in: N D B 15 (1987). S. 95f. Der zum Umkreis Melanchthons gehörende Poet Zacharias Orth (ca. 1535-1579) publizierte z.B. im Jahre 1563 in Wittenberg (Kontakte mit Joachim Camerarius d.Ä.) vier sich ergänzende Werke mit griechischen (!) Elegien über die griechischen, römischen und deutschen Kaiser, dabei die Caesares Cuspinians (s. o.) und Paolo Giovios Commentarii de rebus Turcicis (vielleicht nach der Ausgabe Wittenberg 1537) benutzend; vgl. die Zitate und Paraphrasen in Ernst Heinrich Zober: Des M. Zacharias Orthus [...] Lobgedicht auf Stralsund [...]. Stralsund 1831, S. 2 2 - 2 8 ; zum Autor nun auch W. Kühlmann: Z u m Profil des postreformatorischen Humanismus in Pommern: Zacharias Orth (ca. 1535-1579) und sein Lobgedicht auf Stralsund - Mit Bemerkungen zur Gattungsfunktion der »laus urbis«. In: Pommern in der Frühen Neuzeit. Literatur und Kultur in Stadt und Region. Hg. von W. Kiihlmann und Horst Langer. Tübingen 1994 (Frühe Neuzeit, Bd. 19), S. 101-124. Auch der aus Schlesien stammende Caspar Ursinus Velius (1493-1534). in der Umgebung Ferdinands I. mit den ungarischen Angelegenheiten befaßt, deshalb auch Verfasser zahlreicher Türkengedichte und Schriften zur aktuellen Situation bzw. Geschichte Ungarns, berücksichtigte in seiner S a m m l u n g von Monosticha über die römischen und griechischen Kaiser auch vier türkische Sultane (Wien 1528); zu ihm nach wie vor grundlegend Gustav Bauch: Caspar Ursinus Velius. Der Hofhistoriograph Ferdinands I. und Maximilians II. Budapest 1886. hier zu den Monosticha S. 57 sowie passim zum Türkenthema: u.a. S. 63 zu einer in Aachen gehaltenen Festrede zur Wahl Ferdinands I., in der die türkische Bedrohung ebenso eindringlich akzentuiert wurde wie
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im Gefolge der traditionellen Pilgerreisen ins Heilige Land,' 4 sondern auch aus der Feder offizieller Legaten und halbprivater Besucher, die intimeren Einblick in die Lebens- und Machtverhältnisse der Hohen Pforte gewannen. Es muß hier genügen, an die lateinischen Reisegedichte (Hodoeporica) des Deutschungarn Paulus Rubigallus/Rothan (1523-1585) und des niederländischen Humanisten Hugo Favoli(n)us (1523-1585 )55 oder die den Schematismus der Schreckensberichte überwindenden Reisebriefe des Niederländers Augerius Gislenius Busbequius (Ogier Ghiselin de Busbeq, 1520/21—1591)56 zu erinnern. Manche dieser Tagebücher57 und Briefrelationen, erst recht einige spätere Erfahrungspro-
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in der bald darauf gedruckten Querela Austriae, sive epistola ad reliquam Germaniam (Augsburg 1532). - Zu Ursinus Velius jetzt auch heranzuziehen die Textauswahl mit Übersetzung und Kommentar in: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts, wie Anm. 32, S. 139-157, 1020-1032. - Georg Sabinus (zu ihm s.u. Abschnitt II; hier wie Anm. 68, 1581. S. 2 0 0 - 2 3 6 ) legte in zwei Büchern Porträtgedichte deutscher Kaiser von Karl d. Gr. bis Karl V. vor (De Caesaribus Germanicis); hier wird selbstverständlich (vor allem zu Fridericus Secundus, S. 2 1 8 - 2 2 1 ) auch der Kreuzzüge gedacht. Vgl. die zusammenfassende Darstellung (mit Literaturhinweisen) von Gerhard Wolf: Die deutschsprachigen Reiseberichte des Spätmittelalters. In: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Hg. von Peter J. Brenner. Frankfurt/M. 1989 (suhrkamp tb. 2097), S. 81-116; ergänzend einschlägige Aufsätze von Peter Moraw, Ernst Bremer und Klaus Ridder in: Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit [...]. Amsterdam - Atlanta. G A 1992 (Chloe, Bd. 13). Ausführlich dazu das für die Gattung grundlegende Werk von Hermann Wiegand: Hodoeporica. Studien zur neulateinischen Reisedichtung des deutschen Kulturraums im 16. Jahrhundert. Mit einer Bio-Bibliographie der Autoren und Drucke. Baden-Baden 1984 (Saecula Spiritalia. Bd. 12), S. 145-176, hier auch zum Iter Byzantinum des kaiserlichen Kriegsrates Henricus Porsius; ergänzend (mit Textauszügen, didaktisch aufbereitet) ders.: Imago Turcae. Das Türkenbild der frühen Neuzeit im Lateinunterricht der Oberstufe. In: Der Altsprachliche Unterricht XXXVI, Heft 6 (1993). S. 12-36 (zu Paulus Rubigallus, Hugo Favolinus, Ioannes Boemus und Augerius Gislenius Busbequius). Busbequius war von 1554 bis 1562 kaiserlicher Gesandter bei der Hohen Pforte; seine Legationis Turcicae Epistolae Quatuor erschienen u.a. 1581/82 in Antwerpen; vgl. die Ausgabe: Ogier Ghiselin de Busbeq: Omnia quae extant Opera. Ndr. der Ausgabe Basel 1740. Einleitung von Rudolf Neck. Graz 1968; bereits 1596 erschien eine deutsche Übertragung; eine neuere Übersetzung legte Wolfram von den Steinen vor: Vier Briefe aus der Türkei von Ogier Ghiselin von Busbeck. Erlangen 1926; eine niederländische Neuausgabe (ed. von Martels) erschien 1994 in Hilversum; vgl. die nun maßgebliche Darstellung vonZweder Rudolf Willem Maria von Martels: Augerius Gislenius. Leven en werk van de keizerlijke gezant aan het hof van Süleyman de Grote. Diss. Groningen 1989, sowie ders.: Het leven van Ogier van Boesbeke (Augerius Busbequius; 1520/21-1591) [...]. In: De Franse Nederlanden 18 (1993), S. 2 0 3 - 2 1 7 ; ergänzend heranzuziehen die Sammlung von Karl Teply: Kaiserliche Gesandtschaften ans Goldene Horn. Stuttgart 1968 (Bibliothek klassischer Reiseberichte) und Einzelausgaben wie den Bericht des Gesandtschaftspredigers Salomon Schweigger: Eine newe Reyßbeschreibung auß Teutschland Nach Konstantinopel und Jerusalem. Nürnberg 1608. Nachdruck, eingeleitet und hg. von Rudolf Neck. Graz 1964 (Frühe Reisen und Seefahrten in Originalberichten. Bd. 3); dazu neuerdings Wolfgang Neuber: »Türkisches« Zeremoniell. Alterität und Vertrautheit der Osmanischen Herrschaftsdemonstration am Beispiel von Salomon Schweiggers Reyßbeschreibung (1608), in: Zeremoniell in der Krise. Störung und Nostalgie. Hg. von
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tokolle derer, die in türkische Gefangenschaft geraten waren,58 blieben vorerst nur als ungedrucktes Manuskript erhalten. Ins Zentrum der von der humanistischen Intelligenz getragenen Literatur, zugleich an den Ort ihres größten Wirkungsanspruchs und ihrer bedeutsamsten kontextuellen, gleichsam synergetischen Verflechtung führt aber erst das weite Spektrum jener - zumeist bald auch in gedruckter Form präsentierten - Beredsamkeit, die sich seit den sog. Türkenreichstagen (1454/55) in Regensburg, Frankfurt und Wiener Neustadt bis etwa zur Mitte des 16. Jahrhunderts gerade in einem Strom gedruckter >Türkenreden< Bahn brachen. Vor allem Wolfgang Helmrath59 und Dieter Mertens60 haben sich neuerdings dieses Schrifttums und seiner zuerst als mündlicher Intervention und Repräsentation zu denkenden
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Bernhard Jahn. Thomas Rahn, Claudia Schnitzer. Marburg 1998, S. 78-88; ferner Michael von Saurau: Orttentliche Beschreybung der Rayß gehen Constantinopel, mit der Pottschaft von Kaysser maximilian dem anderen in die diirgkey abgeferdigt, anno 1567. eingeleitet und hg. von Konrad Wickert. Erlangen 1987 (Erlanger Forschungen. Reihe A. Bd. 40). Berühmt die Tagebücher des zeitweise im Dienste Anton Fuggers tätigen, 1553 mit Busbeq in die Türkei reisenden Hans Dernschwamm (1494-1568); vgl. Hans Dernschwamms Tagebuch einer Reise nach Konstantinopel und Kleinasien (1553-55). Nach der Urschrift im Fugger-Archiv hg. und erläutert von Franz Babinger. München 1923 (Studien zur Fugger-Geschichte. Heft 7). Neudruck mit einem Nachwort von R o m a n Schnur. Berlin - M ü n c h e n 1986. Exemplarisch Karl Teply (Hg.): Michael Heberer von Bretten, Aegyptica Servitus. Wahrhafte Beschreibung einer Dreyjaehrigen Dienstbarkeit / So zu Alexandrien in Egypten ihren Anfang / und zu Constantinopel ihre Endschaftt genommen [ursprünglich Heidelberg 1610]. Graz 1967 (Frühe Reisen und Seefahrten in Originalberichten, Bd. 6); dazu die Monographie von Hugo Fröhlich: Johann Heberer von Bretten, der »churpfältzische Robinson«. Speyer 1965 (Veröffentlichungen der Pfälzischen Gesellschaft der Wissenschaften, Bd. 50); Karl Teply (Hg.): Johann Wild, Reysbeschreibung eines gefangenen Christen anno 1604. Stuttgart 1964 (Bibliothek klassischer Reiseberichte); zeitweise in türkischer Gefangenschaft befand sich auch der durch zahlreiche Turcica hervorgetretene Ungar kroatischer Abstammung B. Georgievits (Gjorjevic); zu seinem Werk jetzt ausführlich Reinhard Klockow: Bartholomäus Georgievits oder die Verwandlung von Leben in Literatur. In: Daphnis 26 (1997), S. 1 - 3 2 . Vgl. die demnächst wohl im Druck vorliegende Kölner Habilitationsschrift: Die Reichstagsreden des Enea Silvio Piccolomini 1445/55. Studien zu Reichstag und Rhetorik; wie ich aus dem mir von Herrn Helmrath dankenswerterweise übersandten Inhaltsverzeichnis entnehme, ist in diesem Werk auch ein »Katalog der Reden (1401-1596)« vorgesehen; selbst eine notwendigerweise unvollständige Bibliographie wäre höchst erwünscht. In Helmraths Forschungen und den weiteren Forschungsstand führt ein sein Aufsatz: Rhetorik und >Akademisierung< auf den deutschen Reichstagen im 15. und 16. Jahrhundert. In: Im Spannungsfeld von Recht und Ritual, wie Anm. 41. S. 423-446, bes. S. 440-442 zur Rolle der Türkenreden in der aetas Maximilianea. - Kontrastive Stil- und Strukturuntersuchungen, zum Teil im Blick auf antike Anregungen, liegen vor von J[ürgen] Blusch: Enea Silvio Piccolomini und Giannantonio Campano. Die unterschiedlichen Darstellungsprinzipien in ihren Türkenreden. In: Humanistica Lovaniensia XXVIII (1979). S. 78-178. Vgl. die maßgeblichen Studien: Europäischer Friede und Türkenkrieg im Spätmittelalter. In: Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Heinz Duchard. Köln. Wien 1991, S. 4 5 - 9 0 . hier bes. S. 72ff. zur Rolle der Türkenreden im Feld der weitläufigen Publizistik. Für Jakob Wimpfeling z.B. zählten die Reden eines Enea Silvio. Campano und Bessarion zu den »Klassikern« des Genres: so Mertens, ebd..
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Einbindung in die Verhandlungswirklichkeit der Reichstage angenommen und unter anderem die Ausstrahlung und genrestiftende Wirkung von Autoren wie Enea Silvio (Frankfurter Rede von 1454), Giovanni Antonio Campano (Rede zum >Großen Christentag< 1471) oder Kardinal Bessarion (Nürnberger Rede von 1460) herausgearbeitet. Als Druckerzeugnisse dürfen die Reichstagsreden der Reichspublizistik 61 zugerechnet werden, damit auch als Teilsektor einer genuin politisch-literarischen Reichsöffentlichkeit gelten. Was die Redner zur Sprache brachten, waren nicht die juristischen oder diplomatischen Spitzfindigkeiten der Verhandlungen, betraf nicht die zeremoniellen Vorgänge, auch kaum die Voten, Propositionen und verbindlichen Beschlüsse der Unterhändler. Gerade die >Türkenreden< bekräftigten vielmehr den schon im Zusammentritt des Reichstags symbolisierten Reichspatriotismus - in der Spannung jeweils zu Tagesinteressen und in der diskursiven Vermittlung aktueller Konflikte mit den als verbindlich apostrophierten >Gemeinplätzen< des politisch-moralischen Wissens."2 Literarisches >Medium< solcher in der Interferenz moralischer Topik und politischer Parteilichkeit artikulierten Protreptik war die rhetorisch >expolierte< Prunkrede in ihrer von Fall zu Fall unterschiedlichen Ausrichtung auf die Regeln des genus suasorium und genus demonstrativum. Die pragmatischen Dimensionen dieser humanistischen Redekultur erschließen sich erst in ihrem historisch-situativen Kontext. Beispielsweise stand Ulrich von Huttens Exhortatoria an die deutschen Fürsten Ut Bellum in Turcas concorditer suscipiant, gedacht für den Augsburger Reichstag von 1518, dort aber zum Leidwesen des Autors von einer Rede des Italieners Riccardo Bartholini verdrängt,63 auch in den nachfolgenden Publikationen im Umfeld konkurrierender Oratorio:'1'
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S. 72, Anm. 98; ferner ders.: »Europa, id est patria, domus propria, sedes nostra...«. Zu Funktionen und Überlieferung lateinischer Türkenreden im 15. Jahrhundert. In: Europa und die osmanische Expansion im ausgehenden Mittelalter, hg. von Franz-Reiner Erkens. Berlin 1997. S. 3 9 - 5 7 ; Der Reichstag und die Künste. In: Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz-Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag. Hg. von Wolfgang Harms und Jan-Dirk Müller. Stuttgart, Leipzig 1997, S. 295-314; dazu kommt der bereits oben erwähnte Aufsatz von 1997. wie Anm. 41, Zu Gegenstand und Begriff s. bes. Friedrich Hermann Schubert: Die deutschen Reichstage in der Staatslehre der Frühen Neuzeit. Göttingen 1966 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 7). bes. Kap. V I - V I I , S. 158-298. Es gilt hier die seit Cicero hervorgehobene, später u. a. von Melanchthon aufgegriffene philosophisch-moralische Funktion der loci communes, wie sie u. a. von Lothar Bornscheuer (Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt 1976) bekräftigt wurde. Jeder locus communis hat demnach (S. 96f.) »die doppelte Funktion, einerseits Problemdiskussionen im R a h m e n des gesellschaftlichen Normsystems zu halten, andererseits die interpretatorische Reflexionskraft immer neu voranzutreiben«. Vgl. dazu im einzelnen Mertens, Der Reichstag und die Künste, wie Anm. 60. S. 302;David Friedrich Strauß: Ulrich von Hutten. Leipzig 1858, Kap. 10. S. 2 9 4 - 3 3 0 ; Hajo Holborn: Ulrich von Hutten. Göttingen 1968 (Kleine Vandenhoeck-Reihe, 266). S. 9 3 - 9 7 .
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darunter der Rede des Kardinallegaten Thomas Caietan über den Türkenzehnten, der ablehnenden Exhortatio »viri cuiusdam doctissimi«, der diversen Konsultationsvorlagen von Seiten des Kaisers und der Fürsten, aber auch der teils in Prosa, teils in Gedichtform operierenden Stellungnahmen anderer Reichtagsteilnehmer. An Huttens Beispiel wie auch den Hervorbringungen vieler anderer vom Kaiser gerade auf den Reichstagen gekrönter Dichter läßt sich, wie vor allem Jan-Dirk Müller6'' und Dieter Mertens® gezeigt haben, »das symbiotische Verhältnis« des Herrschers und des Literaten nachweisen, und es dürfte kein anderes Genus geben, das diese »Symbiose« präziser dokumentieren könnte als die mit dem Türkenproblem befaßte >oratioArgumenteOrator< in diplomatischen Diensten, bald auch als Leitfigur einer nicht kleinen Schar von Schülern und Anhängern, überregionaler Anerkennung erfreute. 60 An seinem (Euvre, wenn auch keinesfalls nicht nur an seinem, lassen sich hartnäkkige Mißverständnisse korrigieren, die irrige Meinung nämlich, als trete die deutsche Literatur mit dem Fortschritt der konfessionellen Spaltung in die vom Religionsstreit bewirkte »lutherische Pause< ein, oder die gleichfalls haltlose Sichtweise, nach der sich ausgerechnet die an die Herrschaftseliten adressierte neulateinische Dichtung kaum aus dem lastenden Schulstaub erhoben habe. Gerade die politische Poesie des Sabinus hielt sich von konfessioneller Polemik fern, konstituierte sich stattdessen in der Schnittzone dreier kulturpolitischer Anforderungsprofile: 1. der in seinen Vers- und Prosawerken propagierten Kontinuität der Reichshistorie und imperialen Protreptik, mithin in der mit allem Nachdruck fortgeschriebenen Erinnerung an den praesumptiven reichspolitischen Konsens der aetas Maximilianea; 2. der poetischen Dienstleistung für das Territorialfürstentum, in diesem Fall die Brandenburgischen Hohenzollern, denen sich Sabinus nicht nur durch 68
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Die längeren Elegien sind im Textanhang (TA) mit einer Übersetzung abgedruckt; teilweise stütze ich mich dabei wie auch bei den erläuternden Ausführungen auf die neuere Auswahledition: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts, wie Anm. 32. spez. zu Sabinus S. 5 0 0 - 5 3 8 ; kommentierender Anhang mit bibliographischer Einleitung S. 1240-1270; im übrigen liegt folgende Ausgabe zugrunde: Poemata Georgii Sabini Brandeburgensis V. Cl. et numero librorum et aliis additis aucta, et emendatius denuo edita. Leipzig 1581 (im folgenden abgekürzt >Poe.introitus< in die Stadt (V. 93-128), sorgfältigst beschrieben und ohne Spitzen gegen die Altgläubigen und gegen die Vertreter der Kurie erneut ganz auf die Sozialsymbolik des Zeremoniells abgestellt. Wiederum mit einer ortsbezogenen Ekphrasis wendet sich schließlich der Blick zum Rathaus (V. 130). Nicht die Gebäude, vielmehr bildnerische Darstellungen des Innenraums™ werden beschrieben (V. 131-140), die ikonographisch eine Kontinuität von Germanengeschichte und Reichsgeschichte suggerieren (V. 131!). Nationale >Memorianomen Christianum< gegen die Türken verteidigt. Entsprechende Gedichte durchziehen Sabinus' (Euvre. Sie können hier nur exemplarisch und kursorisch angesprochen werden, beginnend mit Elegie I, 7 (Poe. S. 29-38). S1 Joachim hatte Karl V. auf dem Türkenfeldzug nach der ersten Belagerung Wiens begleitet. Was nun zu >besingen< ist, erscheint unter dem Titel De reditu loachimi IL Marchionis Brand eburgensis depulsis Turcis, An. MDXXXII. Wiederum wird dem jubelnden Empfang an der Spree die von altrömischer Triumphalkultur gespeiste Bildphantasie unterlegt. Die Mark freut 7
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Dazu weiteres in der Studie von Kühlmann, wie Anm. 69. Zu Joachim II. s. A D B 14 (1881), S. 7 8 - 8 6 (Th. Hirsch). N D B 10 (1974), S. 4 3 6 - 4 3 8 (Johannes Schultze). In die historischen Zusammenhänge führen ein Manfred Rudersdorf und Anton Schindling: Kurbrandenburg. In: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hg.): Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500-1600. 2. Der Nordosten. Münster 1993, S. 3 4 - 6 7 : ferner W. Walter Delius: Die Kirchenpolitik des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg in den Jahren 1535-1541. In: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 4 0 (1965), S. 86-123. Zusammen mit anderen Texten, darunter der Elegie an Johann Cario (El. I, 6), zuerst gedruckt 1533 in Wittenberg; s. V D 16. S 104; Toppen, wie Anm. 69. S. 2.
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sich so, »ut cum magnanimos excepit Roma Quirites,/ Si qua triumphandi gloria parta fuit«. Joachim setzt in seinen Taten das »Ducis Arminij nobile opus« fort, dessen historisch problematische Analogiebeziehungen von den topischen Greuelgemälden türkischer Gewaltherrschaft verdrängt werden. Geschildert werden die Kampfesmühen des jungen Markgrafen in einem exotischen Gelände, nachdem vorher Begrüßung und Umarmung des jungen Helden durch seinen Vater Joachim I. szenisch erzählt und der enkomiastische Tatsachenbericht einem adeligen Kampfgefährten aufgetragen ist. Der Thronfolger erscheint in der Aura eines tapferen Reiterführers, der sich mit Gegnern plagen muß, die, Räubern gleich, alle Finten kennen und alle Schlupflöcher benutzen. Zum siegreichen Ende des Feldzugs habe Joachim maßgeblich beigetragen, zweitausend Türken getötet, das bereits besiegte Landvolk aus der Gefangenschaft befreit und drohendem Verderben entrissen.82 In direkter Anrede des Triumphators wird der Lohn des Kaisers berufen, der Joachim neben glänzenden Geschenken mit der Würde eines Ritters vom Goldenen Sporn belohnt, was Sabinus nicht ohne Hinweis auf die Perspektive der Untertanen kommentieren läßt. Eigentlich habe Joachim die »Bürgerkrone« verliehen werden müssen: »Hie tua cum multos seruärit dextera cives,/ Ciuica danda fuit iure corona tibi.«' Der Einsatz für das Reich verträgt sich durchaus mit dynastischem Tatenruhm. Sojedenfalls legt es die eingeflochtene Episode nahe, die an den Empfang des jungen Johann Cicero von Brandenburg durch seinen Vater Albrecht Achilles (reg. 1470-1486) nach dessen Rückkehr von einem Feldzug gegen die Hussiten erinnert. Das Gedicht schließt nicht mit der wohlgesetzten Antwort des heimkehrenden Feldherrn ab, sondern läßt im Munde eines von Algen und Moos bedeckten Flußgottes, also mit dem erprobten Mittel der oratorischen Prosopopoiie und nicht ohne Anklänge an sollenne Formeln horazischer wie vergilischer Dichtung, das Endziel des die Türken besiegenden Weltkaisertums verkünden.84 s:
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Der Feldzug des Jahres 1532 richtete sich besonders gegen die türkischen Invasionstruppen. die ins Alpennordland bis an die Enns vorgestoßen waren und von denen besonders die Ost- und Südsteiermark betroffen war. Die türkischen Verbände wurden im R a u m Leobersdorf-Enzenfeld gestellt und »nahezu aufgerieben«: dies nach Karl Teply: Das österreichische Türkenkriegszeitalter. In: Zygmunt Abrahamowicz u. a.: Die Türkenkriege in der historischen Forschung. Wien 1983, S. 3Of. mit Hinweisen auf weitere Literatur, darunter Gertrud Gerharl: Die Niederlage der Türken am Steinfeld 1532. Wien 1974 (Militärhistorische Schriftenreihe, 26). - Sabinus hat der Taten Joachims selbstverständlich auch in anderen Gedichten gedacht, darunter den unter die Epigramme gesetzten Versen (Poe. S. 273f.) De Ioachimo II. Marchione Brandeburgensi exercitum contra Turcas in expeditionem educente augurium sowie, unmittelbar folgend. Trophaeum eiusdem Marchionis. Die >Bürgerkrone< aus Eichenlaub wurde ursprünglich einem römischen Bürger verliehen, der einem anderen römischen Bürger das Leben gerettet hatte (Gellius 5,6,11-14). Poe. S. 36: »Salue magnanimum genus armipotentis Achillis,/ O ' decus, ο patriae spes IOACHIME tuae:/Vindice quo pulsus Thracumregnator ab Istro/Cessit. & amissomilite terga dedit. Olim tempus erit, Solymorum duetor ad vrbem/ C A E S A R I S auspicio cum pia bella geres:/ Et tua cum vacuas submittet ad arma phatretras,/ Tota triumphanti Turcia capta manu.«
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Indem schließlich der Empfang Joachims durch die jubelnde Bevölkerung, im Schein des Feuerwerks und unter dem Getön der Böllerschüsse, vergegenwärtigt wird, reproduziert der Text wie bei dem oben zitierten Reichstagsgedicht den Verlauf des Zeremoniells, ja markiert so auch seinen eigenen, den literarischen Beitrag zur »pompa« des triumphierenden Fürsten. 85 Zu Triumphen gab es später allerdings wenig Anlaß. Als Führer eines Reichskontingents von ca. 50000 Mann nahm Joachim II. auch am Türkenfeldzug des Jahres 1542 teil. Er endigte in einem Desaster. Joachim mußte die Belagerung Pests abbrechen, bald darauf nahmen die Türken Gran. Sabinus feierte den Aufbruch Joachims mit einem feierlichen Propemptikon (El. IV, 7; Poe. S. 107-111), das vom biblischen Samson bis zum homerischen Achill die erhabensten Exempel des Kriegsruhms zitierte. Nach der Rückkehr galt es, für den geschmähten Verlierer einzutreten. Dichtung im Dienst persönlicher und dynastischer Memoria gibt sich hier als direkte Ansprache an die »Nachwelt« (Ad Posteritäten, El. VI, 15; Poe. S. 190-195) zu erkennen, 86 zugleich als Apologie gegen Kritiker, in diesem Fall gegen den italienischen Humanisten Paolo Giovio/Paulus Iovius (1483-1552), der im 42. Buch seiner Historiae Sui Temp oris (1552) Joachims Auftreten in Ungarn vernichtend beurteilt hatte.87 In der Personalunion des
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Zur Topik und zum literarischen Einzugsbereich des Darstellungstypus s. Jan-Dirk Müller: Der siegreiche Fürst im Entwurf des Gelehrten. Zu den Anfängen eines höfischen Humanismus in Heidelberg. In: Höfischer Humanismus. Hg. von August Buck. Weinheim 1989 (Mitteilung XVI der Kommission für Humanismusforschung), S. 17-50. Der sonst autobiographisch instrumentierte Darstellungstypus, bekannt seit Petrarcas Brief an die Nachwelt, wird hier den Zwecken fürstlicher Reputation dienstbar gemacht: vgl. als lyrisches Beispiel des autobiographischen Typus eine berühmte Elegie des Eobanus Hessus, nun zweisprachig greifbar in: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts, wie Anm. 32, S. 328-337. mit dem Kommentar S. 1140-1143; eine an Johann Sleidanus, also den protestantischen Historiker, gerichtete Verteidigungsepistel für Joachim II. (verzeichnet V D 16, S 112). 1546 erschienen zu Frankfurt/Oder, gedruckt im epistolarischen Anhang der Poemata, S. 4 7 4 ^ 8 1 . entspricht im einzelnen den in der Elegie vorgebrachten Gründen für den Mißerfolg Joachims. Sleidanus soll in seine Commentarii deshalb ein Lob Joachims einflechten (S. 479). Gleichzeitig entwirft Sabinus ein Charakterporträt Joachims u. a. mit der Feststellung: »Nec deest communi saluti Germaniae in publicis negocijs« (S. 480). Paulus Iovius: Historiarum Sui Temporis Tomus Secundus. Florenz 1552; dazu nun die Neuausgabe, hg. von D. Visconti und T. C. Price Zimmermann. In: Pauli Iovii Opera. Bd. Iff. R o m 1956ff.; hier die Historiae als Bd. 3 - 5 ; zu Joachims Feldzug speziell Bd. 5 (Historiarum Sui Temporis Tomi Secundi Pars Altera). R o m 1985. Buch 42. S. 107-127. Schmerzlich wirken Passagen wie (S. 110): »Gravis enim nec insolitus de Turcis timor, quanquam magnificis verbis egregie tegeretur. Germanorum animis incesserat usque adeo ut plane rudis imperator, quanquam ingenio fortis, minime festinandum putaret ne suae gentis exercitus in ea loca demitteretur a quibus, adverso d e m u m flumine, nisi parta victoria difficilis esset receptus. Ex arcano enim consilii decreto statuisse ferebatur nullam pro Pannoniae regno vel dimicationis vel certi periculi aleam subire; sed tueri tantum Noricos fines et Germaniae vires ostentare; quibus deterreri posset Barbarus si. veluti concessa Pannonia minime contentus, Germanos quoque lacessere cogitaret.«, ferner besonders S. 116: » Q u u m in muro pugnaretur, Ioachimus ipse et Hunganotus usque adeo infami consilio et loco (ab omni tormentorum discrimine subducti) pugnae
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Dichters und Historikers referiert Sabinus getreulich die >causaWahrheit< des Kriegsgeschehens zu erörtern. So veränderte der gegebene Anlaß sowohl den thematischen Zuschnitt und den Referenzwert des poetischen Berichts als auch die Haltung des Schreibenden, der alle heroischen Illusionen auflöst, um seinen Landesherrn vom Odium persönlicher Schuld zu entlasten. Adhortative Propaganda weicht einer nüchternen Bestandsaufnahme: Die Reichstruppen waren zu Beginn des Feldzugs noch gar nicht anwesend und sammelten sich erst langsam; ein Teil wurde plötzlich »nach Hause« abberufen, als sich die Kunde verbreitete, der Kaiser habe Schiffbruch erlitten und den Tod gefunden. Frankreich bedrohte kaiserliches Gebiet im Westen und in den Niederlanden. In Deutschland wurde um Braunschweig gekämpft. Ungarn stellte keine Hilfstruppen, hatte mit sich zu tun, mit seiner inneren Zwietracht. Auch der ungarische Adel leistete nur zögernd seinen Dienst: »Ardua res ipsis est visa, lacessere Turcam,/ Marte domi nostros impediente duces.« Mittlerweile verfloß die der Kriegführung günstige Jahreszeit. Artillerie und Belagerungsgerät fehlten oder wurden zu spät geliefert. Selbst die Elemente verweigerten Hilfe, denn die vom Sturm aufgepeitschten Donauwellen ließen die Lastenflöße nicht vorwärtskommen. Der feuchte Herbst verursachte Seuchen, dazu fehlte es überall an Geld. »Krank, nackt und hilflos« (»Aeger, nuper, inops«) verlangte das Heer seine Besoldung. Was hätte der Feldherr tun sollen? Sehr wohl sei Joachim vor der belagerten Stadt hoch auf einem Pferd gesehen worden. Dies könne von den Beteiligten bezeugt werden.
eventum expectabant ut Torniellus atque Fotiscus ad eos accersendos non obscura eius flagitii cum obiurgatione contenderint ut confirmandis militum animis collocandisque praesidiis, qui uni summae imperii potestatem tenerent, adesse et conspici vellent: sed, nostris fortiter repulsis, Barbari nihil se commoverunt. Ita in castris sublatus est omnis tumultus et curandis vulneribus militi quies data: sub noctem vero Ioachimus duces in consilium vocavit disputatumque est gravibus sententiis an abscedere incoepto quam expugnandi oppidi discrimen iterum subire satius foret: quum a plerisque Germanis ea quae tutissima, uti longe optima, probaretur.« Dazu der bittere Kommentar (S. 117): »Erant militum omnium animi, si iterum moenia quaeterentur, ad praestandam supremi conatus operam intenti paratique; sed dux ipse, reputatione periculi, ab omni sua parata laude discesserat uti ignarus belli aut certe, quod potius de generoso credi velim, octovirali iudicio circunscriptus quandam hesterno certamine, dum cuncta armis tormentisque perstreperent, ita cruento spectaculo subtractus fuerat ut nusquam conspiceretur: uno ferme ex omnibus regulis Mauritio Saxone excellenti virtute Germanorum decus tuente. Ob id veteres plerique Germani milites eius ignobilis consilii dedecus, confusis tristi pudore animis. non ferebant: atroci quodam fremitu indignantes paucorum ignavia publicum invictae gentis nomen prodi.« - Zu Giovios »Historien«, darunter auch zur Schilderung des Tiirkenfeldzugs s. T. C. Price Zimmermann: Paolo Giovio. The Historian and the Crisis of the Sixteenth-Century Italy. Princeton, N.J. 1995, spez. S. 180-182.
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Ließ sich das Gedicht von 1532 noch so arrangieren, daß Joachim als siegreicher Feldherr die Forderungen der Reichstagselegie glorreich Realität werden ließ, zieht Sabinus' Plädoyer für den geschlagenen Heimkehrer den Vorhang vor der Kriegswirklichkeit, damit aber auch vor allem Folgen der »discors respublica« zurück. Der Nimbus der Reichsherrlichkeit blieb ein Gedankenprojekt, die einige Nation ein gedankliches Konstrukt, eine literarische Projektion längst fraglicher imperialer Integrationskraft. Sabinus hielt trotz aller Ernüchterung grundsätzlich daran fest, besonders deutlich in einer Elegie (VI, 8, hier TA, Nr. 2) an Herzog Albrecht von Preußen (Poe. S. 178-182), die das Türkenthema auf die Wahrung des inneren Friedens zuspitzte und so zu jenen Stimmen gehörte, die Albrecht dazu bewogen, sich nur mit symbolischen Gesten am Schmalkaldischen Krieg zu beteiligen. Aktualität verfängt sich hier in einem Netz literarisch beglaubigter Erfahrungen, die ein historisches Gesetz unterstreichen: den Verfall großer Reiche und das Unglück von Herrschern infolge des Krieges, speziell des »Bürgerblut vergießenden« (V. 10) inneren Krieges. Das Modell der römischen Bürgerkriege präformiert die Situation in Deutschland kurz vor dem Schmalkaldischen Krieg. Im Rückblick auf den Niedergang des byzantinischen Reiches (V. 1 Iff.) und die Uneinigkeit der Ungarn (V. 17-20) führt Sabinus wiederum den Reichsdiskurs und den Türkendiskurs zusammen, nostalgisch illuminiert von der Erinnerung an eine vertane Lösungschance: das Friedensprojekt Maximilians I. (V. 29f.): »Devincere pios optato foedere reges,/ Conatusque domi tollere bella fuit.« Sabinus scheut sich nicht, auch die vermittelnde Rolle des Humanistenpapstes Enea Silvio/Pius II zu erwähnen (V. 45f.). Der Poet profiliert sich als Sachwalter vergangener und nun vereitelter Größe. So wirkt er in Gegenwart und Zukunft: Agent einer Erinnerung, die politisches Handeln bestimmen soll (V. 49-52). Indem er die Rüstungen Karls V. zugleich mit den Perserkriegen Alexanders und mit dem Vermächtnis Maximilians assoziiert, setzt sich Sabinus zugleich ein für die Parteinahme des preußischen Herzogs im Streben nach innerem Frieden und im Kampf gegen die Türken (V. 61-74). Den Feldzug Alexanders gegen die Perser, ermöglicht durch die Einheit der griechischen Stämme und Staaten, hatte Sabinus schon 1532 in einem Brief an den Mainzer Erzbischof Albrecht (»Albertus«), zugleich Kanzler des Reichs, als Vorbild für erfolgreiches Handeln vor Augen gestellt. Der Widmungsbrief begleitete die eben erst vollendete lateinische Übersetzung einer Rede des Isokrates an König Philipp von Makedonien:®
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Die Sammlung der Poemata enthält einen Anhang mit Briefen von und an Sabinus: hier der Brief an Albrecht ohne Datum aus dem Jahre 1532. S. 4 2 0 - 4 2 2 . spez. hier zit. S. 420: »Exhibeo enim tibi orationem Isocratis, in qua vir illis temporibus autoritatis summae in vniversa Graecia, & concordia publicae cupidissimus, hortatur Philippum Regem Macedonum, qui ad id tempus bellum cum Atheniensibus gesserat. vt pacem cum Graecis ciuitatibus omnibus faciat, & constituta domi concordia bellum in Asiam cum socijs transferat: & non modo Graecos, sed etiam patriam metu seruitutis liberet.« Die
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[...] Ich übergebe dir nämlich eine Rede des Isokrates, in welcher dieser, ein Mann seinerzeit von höchstem Ansehen in Griechenland und mit allen Kräften um staatliche Eintracht bemüht, Philipp, den König der Makedonen, der bis dahin Krieg mit den Athenern geführt hatte, dazu ermahnt, mit allen griechischen Stadtstaaten Frieden zu schließen und, nach der Besiegelung staatlicher Eintracht zu Hause, den Krieg mit den Bundesgenossen nach Asien zu übertragen, um nicht nur die Griechen, sondern das Vaterland von der Furcht zu befreien, zu Knechten zu werden. [...]
Wie Isokrates einst an Philipp solle sich Albrecht an Kaiser Karl V. wenden:8'' [...] Während manche andere den besten Fürsten gegen das Vaterland aufstacheln, wissen wir recht genau, daß Dein amtliches Ansehen sich ganz auf Frieden und Ruhe Deutschlands richtet. [...]
Geschickt konstruiert die Elegie ein Verhältnis historischer Analogien: So wie Karl V. durch seine Abkunft Verpflichtungen auferlegt sind (V. 47f.), so präsentiert sich auch in Herzog Albrecht die Kontinuität von Kaiser und Reich über den Bruch der Generationen hinweg. Denn es war Albrecht, der als junger Mann bereits unter Maximilian I. im italienischen Feldzug diente, ja damals den Kaiser als militärischen Lehrer und Mentor erleben durfte ( V. 75-86). Deshalb entspricht der politischen Situation wie der gemeinsamen historischen Erinnerung des Kaisers und des Landesherrn ein historiographisches Werk, das Sabinus Herzog Albrecht - gleichsam wie Vergil dem Kaiser Augustus - vorlegen und widmen möchte, in Dankbarkeit für gewährte Wohltaten (V. 87ff.). Solange das für die Zukunft versprochene Epos auf Albrechts Taten »im homerischen Versmaß« (V. 97f.) noch nicht vorliegt, soll der Herzog Vorlieb nehmen mit der (bei Überreichung des Gedichts wohl als Manuskript beiliegenden, erst Jahre später gedruckten) Narratio deliberationis Maximiliani Imperatoris Romanorum de hello Tureieo. Et brevis historia temporum eorum, quibus haec suscepta fuit [...]. 90 Die in dieser Darstellung noch einmal berufene Erbschaft der aetas Maximilianea, gipfelnd in des Kaisers Proposition zum Türkenkrieg beim Reichstag von 1518, schlägt noch einmal eine Erinnerungsbrücke zwischen den konfessionellen Parteien, schließlich sogar über die Entzweiungen des Schmalkaldischen Krieges hinweg.
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Übersetzung erschien 1531 in Wittenberg unter dem Titel: Oratio Isocratis ad Philippum R e g e m Macedonium de concordia domi constituenda et bello transferendo in Asiam contra barbaros, conuersa ex graeca a Georgio Sabino (s. V D 16, S 1552). Ebd., S. 4 2 l f . : »Cumque alij nonnulli incitent optimumPrincipem aduersus patriam, non obscure cognouimus te autoritatemtuam omnem ad pacemtranquillitatemque Germaniae conferre.« Nachgewiesen ist die Ausgabe Leipzig 1551; vgl. die Beschreibung bei Toppen, wie Anm. 69, S. 6f.; hier die behandelte Elegie VI, 8 als Dedikationsgedicht; weitere Drucke in den Consilia bellica contra Turcam explicata. Eisleben 1603 und 1604 (Angabe nach Toppen). Zumindest Teile der Schrift, darunter Sabinus' Praefatio gingen dann offenbar ein in die turkologische Sammlung von Nicolaus Reusner (s. o. Anm. 67) und in Melchior Goldasts Collectio constitutionum imperialium. Tom. I. Frankfurt/M. 1615: s. den Textabdruck mit Quellenhinweisen in U. von Huttens Schriften, ed. Böcking, Fünfter Bd., wie Anm. 64, S. 176-183.
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Daß Appelle solcher Art auf die Dauer erfolglos blieben, läßt sich am Schicksal eines lyrisch-allegorischen Schreibtypus ablesen, der namentlich durch Sabinus in das Repertoire politischer Lyrik aufgenommen wurde. Bereits Petrarca hatte mit der Figur der leidenden und trauernden Roma 91 und mit der Anrede an das »heilige Land Italien« Muster eines patriotischen Appells entwickelt, damit auch den öffentlichen Auftrag der Dichtung bekräftigt. Indem Sabinus »Germania« an Kaiser Ferdinand schreiben läßt (El. 1,4, Poe. S. 14-18)92 oder sich - gerade im Blick auf die Katastrophen im Südosten des Reiches - selbst »An Germania« wendet (Ad Germanianv, El. III, 12, Poe. S. 95f.),"3 bekräftigte er einen Darstellungswillen, der sich von der Personalpanegyrik löste, bis in die Jahre des Dreißigjährigen Krieges abrufbar blieb und noch bei Autoren wie Rompier von Löwenhalt in Straßburg94 oder Paul Fleming in Sachsen95 die politisch-militärischen Katastrophen des Reiches in kollektiver Trauer oder flammender Empörung zur Sprache brachte.
An die Bemühungen des Humanistenpapstes Pius II. um die Einheit des nomen Christianum wider die Türken ließ sich fast ohne Vorbehalte erinnern, nach der Reformation jedoch dominierte lutherische Polemik gegen die »Hure Babylon«, während Vermittlungsbemühungen fortdauerten und ein Bündnis der christli91
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Petrarcas Versepistel an Papst Clemens VI. ist in einer Übersetzung leicht greifbar in: Summa poetica. Griechische und lateinische Dichtung. Lyrik von der christlichen Antike bis zum Humanismus. Hg. von Carl Fischer. München 1967, S. 644-654. Bezeichnenderweise abgedruckt in Reusners R e d e n s a m m l u n g , wie A n m . 67. Bd. I. S. 197-200. sowie in einem turkologischen Werk von David Peifer d. Α.: IMPERATORES Turcici, LibeVLVS D E VITA, PROGRESSV. & rebus gestis principum gen/tis Mahumeticae, Elegiaco carmine conscri/ptus, ä DAVIDE PEIFERO Lipsico. [...] (ELEGIA D E C A E / S A R I B V S TVRCICIS, DAVI-dis PEIFERI [...] autore F R I D E R I C O TRAVBOTO Salcensi.) (AD [...] Electores, reliquos inclytos in concilio Augustensi Germanorum principes, Lod. Heliani carmen exhortatorium.) (GERMANIA A D R E G E M Ferdinandum, per Georg. Sabinum.); Titelaufnahme hier nach V D 16, S. 126. Vgl. den zweisprachigen Textabdruck mit Kommentar in: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts, wie Anm. 32, S. 526f. und S. 1262-1264: zur epistolarisch-rhetorischen Verwendung der Germania-Allegorese s. auch Heinrich Dörrie: Der heroische Brief. Bestandsaufnahme. Geschichte, Kritik einer humanistisch-barocken Literaturgattung. Berlin 1968, S. 4 5 3 - 4 6 3 . Vgl. Des Jesaias Rompiers von Löwenhalt erstes gebiisch seiner Reim-getichte. 1647. [...] Hg. von W. Kühlmann und Walter E. Schäfer. Tübingen 1988 (Deutsche Neudrucke. Reihe Barock, 38). S. 87-90: Das rasend Teütschland. Paul Fleming: Schreiben vertriebener Frau Germanien an ihre Söhne/ oder die Churfiirsten Fürsten und Stände im TeutschLande (1631. auch in lateinischer Fassung): dazu Heinz Entner: Paul Fleming. Leipzig 1989. S. 193-204. Nun im Zusammenhang auch W. Kühlmann: Krieg und Frieden in der Literatur des 17. Jahrhunderts. In: 1648. Krieg und Frieden in Europa. [Ausstellungskatalog Münster-Osnabrück]. Hg. von Klaus Bußmann und Heinz Schilling. 3 Bde.. hier Textbd. II. Kunst und Kultur. [Münster 1998], S. 329-337.
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chen Mächte dringlicher denn je erschien. In diese Vermittlungsbemühungen war auch Sabinus eingeschaltet, und zwar über Pietro Bembo, den berühmten italienischen Humanisten, den Sabinus seit seiner italienischen Reise (1533/34) verehrte und mit dem ihn eine rege, auch im Austausch von Gedichten gepflegte Korrespondenz verband.96 Bembo, seit 1539 römischer Kardinal, konnte zwar beim Papst nicht die erbetenen Privilegien für die Universität Königsberg erwirken, gleichwohl unterrichtete ihn Sabinus über seine privaten Umstände und über seinen literarischen Ehrgeiz. Umgekehrt versuchte Bembo im Vorfeld des Reichstages von 1541 über Sabinus Einfluß auf Melanchthon zu nehmen und ein Scheitern der Ausgleichsverhandlungen durch ein Bündnis gemäßigter Kräfte auf beiden Seiten zu verhindern. Wie sich in diesem Gesprächszusammenhang die Rolle des Papstes thematisieren ließ, ohne daß heikle Titulaturen und Machtverhältnisse berührt wurden, zeigt in ihrer allegorisierenden Technik die erste Elegie des vierten Buches (Poe. S. 101-108; hier TA, Nr. 3). Indem der einflußreiche Kardinal in den Rahmenteilen des Gedichts (V. 1-10, 147-190) direkt angeredet wird, kommt der persönliche Charakter der Versepistel zur Geltung. Gestalterischer Ehrgeiz und diplomatische Raffinesse verbinden sich in einer poetischen Strategie, die den Text auch als Appell an den Papst erkennen läßt. Nach der Brieferöffnung setzt Sabinus ein mit der knappen Schilderung eines Winterspaziergangs in Frankfurt/Oder (V. 11—24) zu Beginn des Jahres 1542, wie sich aus einigen Indizien ergibt. Entsetzen und Empörung über die Greuel der Türken bzw. die Unfähigkeit und Untätigkeit der christlichen Herrscher machen sich Luft in einem sorgenvollen Monolog (V. 25-92), der, die Sprachgewalt eines Pindar und Orpheus herbeiwünschend, den Siegeszug des Feindes seit der Einnahme von Konstantinopel vor Augen führt, alte Kreuzzugsherrlichkeiten, darunter die Einnahme Jerusalems (1229), beruft und in der Schilderung türkischer Schandtaten auch als lateinische Transposition umlaufender deutscher Türkenlieder gelten darf. Alles kommt in diesem Text darauf an, das Leiden der unterjochten Christen in drastischen Bildern, also mit pathosgeladener rhetorischer >Evidenz< vor Augen zu führen (vgl. V. 51 ff., 77ff.). So wird die Frage exponiert, wie dem Elend Abhilfe zu schaffen sei. Die bereits in der Klage
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Zum historischen Kontext s. Gustav Kawerau: Die Versuche, Melanchthon zur katholischen Kirche zurückzuführen. Halle 1902; Bembo und Contarini (auch er zählte zu Sabinus' Briefpartnern) als Exponenten der irenisch eingestellten Fraktion in R o m erwähnt auch in dem glänzenden, heute leider fast vergessenen Werk von Friedrich Heer: Die Dritte Kraft. Der europäische Humanismus zwischen den Fronten des konfessionellen Zeitalters. Frankfurt/M. 1906. Vier der an Bembo gerichteten Elegien, darunter auch die im folgenden behandelte Elegie IV, 1. sind nun mit Übersetzung greifbar in: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts, wie Anm. 32, S. 512-525, S. 528-539, dazu die Kommentare mit weiteren Hinweisen S. 1255-1262, S. 1264-1270. Z u m Tode Bembos richtete Alexander Suchtenus (d. i. Alexander von Suchten) an Sabinus eine bewegte Trauerelegie, abgedruckt im Liber Adoptivus der Poemata des Sabinus, S. 391-393; zu Bembo zusammenfassend der Artikel von C[arlo] Dionisotti. In: Dizionario Biografico Degli Italiani. Bd. 8. R o m 1966. S. 133-151.
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implizierte Antwort gewinnt in einer mythologisch-allegoretischen Fiktion tröstende Realität. Dem Dichter erscheint - nicht ohne Ovidreminiszenzen - der altrömische Gott Janus (V. 95ff.), bewehrt mit den Schlüsseln des Himmelsreiches, also den so umstrittenen Insignien päpstlicher Macht (V. lOlf.). Es ist Janus, der die Einigkeit des Reiches und die Vertreibung der Türken ankündigt ( V. 105-122). Was der »Torwächter der Himmelshalle« prophezeit, scheint auf Erden schon verwirklicht zu werden, im Bund der Fürsten mit dem Kaiser, in einem Bund, der dem Haus Hohenzollern mit dem Kurfürsten Joachim II. eine prominente Rolle zuerkennt. Ihm gilt die Ansprache der V. 131-146, in denen sich die Epistel an Bembo in ein Glückwunsch- und Abschiedsgedicht an den Feldherrn verwandelt. Reichspolitik, fürstlicher Ruhm und päpstlicher Segen kommen in solcher Textfiktion zur Deckung. Die Bitte um Unterstützung durch Bembo (V. 147ff. ) zielt auf Rom und die Kurie, aber auch auf die Venezianer (V. 183). Dabei kann der konfessionelle Konflikt nicht verschwiegen werden. Der politisch-militärischen Allianz soll eine einige, wieder zu einigende Kirche entsprechen. Bembo repräsentiert solche Hoffnungen, denn an ihm liegt es, sich zum Anwalt des auch vom Kaiser gewünschten Konzils zu machen (V. 187f.) - über den bekannten Widerstand des Papstes hinweg.97 Sabinus' Gedichte machen den Blick frei für eine noch ungeschriebene Geschichte der deutschen, aber nicht nur deutschsprachigen Lyrik der Frühen Neuzeit, eine Geschichte, die vorläufig noch nicht geschrieben werden kann, weil der weite Kontinent sehr oft hochrangiger Texte längst noch nicht hinreichend vermessen, geschweige denn philologisch erschlossen ist. Im Zuge der laufenden und der noch anstehenden Forschungen dürfte sich das literarische Epochenbild des 16. und auch noch des 17. Jahrhunderts nachhaltig verändern, vorausgesetzt, daß die Demarkationslinien der Nationalphilologien, Vorurteile und Reflexe des 19. Jahrhunderts, gegenstandslos werden und die ästhetischen Kommunikationsformen des alten Reiches in ihrer Vielfalt und Tiefe, in ihrer Zweisprachigkeit, in ihrer literarischen >Codierung< und in ihrer sozialen Funktionalität ernst genommen werden. Gerade das Türkenschrifttum bezeugt Formen einer das ganze Reich bewegenden literarischen Öffentlichkeit, wie sie nach dem Dreißigjährigen Krieg erst wieder - mutatis mutandis - im Schrifttum des deutschen Vormärz begegnen wird - und auch dann wird die neuralgische Frage nach der Einheit und Zukunft der deutschen Nation nicht selten noch in Diskursen abgehandelt werden, die Figuren des am Türkenthema entzündeten Reichspatriotismus wieder zum Leben erwecken.
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Von der Hoffnung auf »concordia« geprägt sind gerade die 1541 ausgetauschten Briefe: Sabinus' Glückwunsch an B e m b o zur Kardinalswürde, geschrieben in Regensburg, und Bembos Antwort aus R o m (Poe. S. 4 4 9 ^ 5 2 ) ; hier auch S. 4 5 2 - 4 5 4 Sabinus' Brief an Kardinal Caspare Contarini, ebenfalls vom Regensburger Reichstag, mit klagenden Berichten vom Vordringen der Türken, u.a.: »Videbam te acerrimam adhibere contentionem, ut discordiae Germanicae dirimerentur: & constitutapace, communi consilio atque animo Turcis in vestibulo Germaniae grassantibus arma inferremus« (S. 453).
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Textanhang Vorlage: Poemata Georgii Sabini Brandenburgensis V. Cl. et numero librorum et aliis additis aucta, et emendatius denuo edita. Leipzig 1581 (Nachdruck der Ausgabe 1563); Textaufnahme hier für Nr. 1 und 3 nach dem zweisprachigen Abdruck in: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts (wie Anm. 32), S. 504-513 und S. 528-537; in den Zeilenkommentaren ebd. S. 1246-1255 und S. 1264-1270 findet der Leser ergänzende Hinweise, darunter auch auf die stilistische und lexikalische Assimilation antiker Vorlagen, also die intertextuelle Faktur der Texte. Textaufnahme für Nr. 2 nach meinem mit W. Straube verfaßten Aufsatz; hier Text, Übersetzung und Kommentar im Anhang.
Nr. 1: S. 3-9 (Elegiantm
Liberi.)
Ad Eobanum Hessum de adventu Caroli V. Caesaris. Elegia II. A D E O B A N V M H E S S V M DE A D V E N T V C A R O L I V . C A E S A R I S .
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Quod legis Augusta tibi mittit ab vrbe Sabinus Carmen, amicitiae deditus Hesse tuae. Hinc, vbi vicinos Lycus irrigat Alpibus agros, Sueuaque Boiorum separat arua solo. Accipe, si qua tenet rerum te cura nouarum. Quae fuit hlc isto p o m p a peracta die. Carolus Ausonijs quo venit C A E S A R ab oris: Digna quidem res est cognitione tua. Concaua siderei quo tempore brachia Cancri Coeperat adductis vtere Phoebus equis, Arctabatque dies noctis longissimus vmbras. Sole Lycaonio iam propiore polo: Et noua maturis instabat fructibus aestas, Actaque purpurei tempora veris erant: C A E S A R ab Italia per Norica iugera tendens. Moenibus hue nostris approperabat iter. Uix bene contigerat praemissus nuncius vrbem, Certaque Principibus fama relata fuit: Mox coit imperij cum nobilitate Senatus. Omnis in occursum turbaque laeta ruit. Haud secus, ac victis cum dicitur hostibus olim Excepisse suos obuia R o m a Duces. Mille bis electi iuuenes e ciuibus ibant. Nota quibus saeui praelia Martis erant. Hi patriae solito frameas de more gerebant, Transuerso cincti militis ense latus. Caetera cornipedum pars terga premebat equorum. Ordine qua ciues pone secuta fuit.
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Urbs stat in excelso procul edita vertice montis, Incola Fridburgum nomine turba vocat. C a m p u s odoratis nitidissimus adiacet herbis Mollis & aprico gramine terra viret: Obuius hic factus c u m C A E S A R euntibus esset, O m n e s . quotquot erant, desiluere Duces. Tunc, tuus excipiens illum Moguntia praesul, Haec dedit ornatis verba diserta modis: Felix ille dies, nostris quo redditus oris, Hesperio incolumis C A E S A R ab orbe venis: Quo repetita tuos iterum Germania vultus Conspicit, & fruitur numine laeta tuo, Tantus es inuicto qui pectore, tantus & armis; Quantus ab Augusti tempore n e m o fuit. Nam mihi si rerum percurrere gesta tuarum, Si licet hoc coram te m e m o r a r e loco: Insignes omni superas virtute Monarchas, Quos dedit, aut v n q u a m Teutonis ora dabit. Quae toties Aquilas iniustis terruit armis, Concidit ante tuos G A L L I A victa pedes: Captiuumque pati conspexit vincula Regem, Qui s u m m u s nostri nominis hostis erat. Debellata tuis accessit R O M A triumphis, Iniussu q u a n q u a m capta sit ilia tuo: Quique suis orbem Tiberinus subdidit vndis, Te d o m i n u m domitis esse fatetur aquis. Paret, & Adriacus stabili leo foedere iunctus, Caesareas rapidis vnguibus horret aues. Qui pelago terraque potens, hostilibus armis Acriter imperio restitit ante tuo. Sentit adhuc obsessa tuas Florentia vires, Iamque tibi victas porrigit iIIa manus. Ergo tot aduersos cum debellaueris hostes, Cognite laudato C A R O L E maior auo, Nos tibi gratamur reduci, superosque precamur, Tempora quo vitae sint diuturna tuae: Uictor vt ä nostro depellas limine Turcas, Teutona qui valido milite regna petunt. Moestaque dant saevo grassantes funera ferro, Pannoniae miseros dum populantur agros. Q u o d nisi crudeles tua dextera vicerit hostes, Nos sumus infestis praeda futura Getis. At nisi m e veterum fallunt oracula vatum, Sentiet vltrices impia turba manus. Tempus enim S o l y m a m quo castra locabis ad vrbern Affore, fatidici praecinuere senes: Quoque Saracenum coges victricibus armis, Subdere Caesareo barbara colla iugo. Hanc vtinam nobis optato Lucifer ortu Prouocet, hanc roseo mox vehat axe diem. Talia f a c u n d o postquam dedit ore: secutum Ultima sermonis m u r m u r equestre fuit. Audijt vt quando Ciceronem R o m a loquentem, C l a m o s o fremuit concio tota foro.
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Principibus vero paucis pro tempore verbis. Ipse suo grates nomine Caesar agit. Et quia se prono condebat lumine Titan, Ocyus inceptum carpere pergit iter. Iamque propinquantes vt moenia celsa subibant, Pulsa sub aerijs turribus aera sonant: Intonat ex altis & machina bellica muris, Sulphureo rapidos quae iacit igne globos. Compita speetantis populi stant plena viarum, Augustumque frequens turba coarctat iter. Saxoniae proceres intrabant ordine primi, Proximus his socios Marchio iunxit equos. Pone sequebantur, latis quibus Hessia terris, Imposuitque suis nomina Rhenus aquis. Quique colunt patrijs flauentem sedibus Istrum, Quique tenent Francis edita rura iugis. Praeterea celebri quos alluit amne Uisurgis, Uuestphala coeruleis qui rigat arua vadis. Quid tibi commemorem, qui nobile nomen Iberi, Diuitis & ripas deseruere Tagi? Incomperta mihi quorum nee nomina constant. His neque conueniunt versibus apta meis. Innumeri iuuenes misto clangore tubarum, Quassabant agili tympana pulsa manu. Binaque Caesarei gestabant seeptra ministri, Imperij summos qui praeiere Duces: Ε quibus auratum Septemuir praetulit ensem, Saxoniam placida qui modo pace regit. Hac igitur longa procerum stipante caterua, Atque Ducum tanta concomitante manu. Ipse figurata picti sub imagine coeli, Inuectus niueo CAROLVS ibat equo. Omnis in hunc oculos defixos turba tenebat, Omnibus his populis solus in ore fuit. Inde Bohemorum qui regna vetusta gubernat, Proximus ä Diuo Caesare frater erat. Ultimus Orator Romani praesulis ibat, Nomine Campeium se vocat ille suo. Insignis Tyrio quem murice mula vehebat. Mos vt in Hesperijs vrbibus esse solet. Tempora puniceus cingebat operta galerus, Cardinei qualem nominis ordo gerit. Tunc iter Austriaci proceres Heduique secuti, Atque Tridentinus continuabat eques. Uindelicique suo redeuntes agmine ciues, Qui prius egressi moenibus vrbis erant. Ardua sublimi spectatur culmine turris, Hie vbi stat medio curia iuneta foro. Quae Germanorum veteres ex ordine Reges, Pictaque clarorum continet acta Ducum. Hfc fera robusti miscent vbi praelia Cimbri, Attonito pauidos milite Carbo fugit. Nexa gerit Scaurus captiuo vineula collo, Caesus & hostili Manlius ense cadit.
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Impiger Arminius Romanos exuit armis. Quo duce libertas nostra redemta fuit. Parte alia Scythicis egressum finibus Hunnum, Primus Otho forti pectore victor agit. Multus ad hanc turrim longo stetit ordine clerus, Caesare contigua praetereunte via. Omnibus abraso detonsi vertice crines. Omnibus ex humeris Candida vestis erat. Inde sacram diuae subeuntes virginis aedem. Carmine solenni concinuere preces. Arboreis stabant decoratae frondibus arae, Sparsaque iactatis templa fuere rosis. Interea toto subducta crepuscula coelo, Ortaque roriferae tempora noctis erant. Dimissis igitur Ducibus, cum fratre subibat CAROLVS hospitij tecta propinqua sui. Atque ita, quam celebri res tota sit acta triumpho. Omnia descriptis ordine rebus habes. Caetera praesenti coram sermone loquemur. Tempore quo repetam moenia vestra: Vale.
An Eobanus Hessus über die Ankunft des Kaisers Karl V. II. Elegie. Das Gedicht, welches du liest, sendet aus Augsburg dir Sabinus, der dir ganz in Freundschaft ergeben ist, mein Hessus, von dem Ort, wo der Lech die den Alpen benachbarten Felder bewässert und das schwäbische Land vom Gebiet Bayerns trennt. Vernimm, wenn du dich für Neuigkeiten interessierst, welch ein festlicher Zug hier an dem Tage aufgeführt wurde, an dem Kaiser Karl von den Gestaden Italiens kam; ist doch die Sache es wert, daß du sie kennenlernst. Es war die Zeit, da Phoebus seine Pferde mit straffem Zügel zu den gekrümmten Scheren des Sternbildes Krebs zu leiten begonnen hatte (10) und der längste Tag die Schatten der Nacht verkürzte. Die Sonne näherte sich dem lycaonischen Pol, ein neuer Sommer stand mit reifen Früchten bevor, und die Zeiten des purpurfarbenen Frühlings waren vergangen: D a näherte sich der Kaiser, der von Italien über das norische Gebirge seinen Weg nahm, unseren Mauern. Kaum war der vorausgesandte Bote glücklich in der Stadt angelangt und den Fürsten genaue Kunde übermittelt worden, als der Rat mit dem Adel des Reiches zusammentrat und das ganze Volk frohgestimmt zum E m p f a n g eilte, (20) nicht anders, als einst R o m seinen Feldherren nach Überwindung der Feinde entgegengezogen sein und sie empfangen haben soll. Zweitausend aus der Bürgerschaft erlesene Jünglinge zogen aus, denen die Kämpfe des wilden Krieges vertraut waren. Sie trugen nach dem überkommen Brauch ihrer Vaterstadt Spieße und waren gegürtet mit dem schräg herabhängenden Soldatenschwert. Die übrige Mannschaft saß auf den Rücken hufetragender Rosse und folgte in rechter Ordnung unmittelbar auf die Bürger. Eine Stadt erhebt sich hoch auf dem ragenden Gipfel eines Berges, die Einwohner nennen sie Friedberg. (30) Ein herrliches Feld mit duftigen Kräutern liegt nahebei, und die weiche Erde ist grün von lieblichem Grase. Als der Kaiser hier auf die ihm Entgegenziehenden traf, sprangen alle Fürsten, die in großer Zahl anwesend waren, (von ihren Pferden) ab. Dein Bischof, Mainz, begrüßte ihn und sprach in geschmückter Rede folgende gewandte Worte: »Glücklich der Tag, an dem Du, unserem Lande wiedergegeben, unversehrt, mein Kaiser, aus Hesperien kommst, (der Tag) an dem Deutschland, das du wiederum aufsuchst, erneut dein Antlitz erblickt und froh deine huldreiche Gegenwart genießt. (40) Der du so groß bist mit deinem unbezwingbaren Mute, so groß durch die Macht deiner Waffen, wie keiner seit der Zeit des Augustus. Denn wenn es mir erlaubt ist, kurz deine Taten durchzugehen und an sie vor dir an diesem Orte zu erinnern: Du übertriffst an Tugend alle
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bedeutenden Herrscher, die einst Deutschlands Erde hervorbrachte oder die sie hervorbringen wird. Frankreich, das so oft die Adler mit ungerechten Kriegen zu erschrecken suchte, fiel bezwungen dir zu Füssen u n d mußte sehen, daß sein gefangener König, der der schlimmste Feind unseres Namens war, (50) Fesseln erduldet. Vollends besiegt, gehört auch Rom zu deinen Triumphen, obgleich es ohne deinen Befehl e i n g e n o m m e n wurde, u n d der Tiber, der seinen Wogen den Erdkreis unterwarf, bekennt mit b e z w u n g e n e m Strome, daß du sein Herr seist. Auch der L ö w e der Adria gehorcht erschaudernd, nunmehr in unverbrüchlichem Vertrage verbunden, trotz seiner reißenden Pranken den Vögeln des Kaisers, er, der, zu Meer und zu Land mächtig, zuvor mit heftigen Waffen deiner Herrschaft Widerstand leistete. Jetzt noch belagert, spürt Florenz deine Kräfte, und schon streckt es dir besiegt seine Hände hin. (60) Da du so viele hartnäckige Feinde gänzlich bezwungen hast, Karl, der du als größer erkannt bist als dein gepriesener Großvater, beglückwünschen wir dich zu deiner Rückkehr und bitten die Himmlischen, daß deine Lebenszeit lange dauern möge, so daß du von unserer Grenze siegreich die Türken vertreiben kannst, die mit starker Heeresmacht das Deutsche Reich heimsuchen und, mit w ü t e n d e m Schwerte ausschwärmend, schlimmen Tod bringen, w ä h r e n d sie die elenden Fluren Pannoniens verwüsten. Sollte aber deine Rechte die grausamen Feinde nicht besiegen können, werden wir künftig den feindseligen Türken zur Beute. (70) Wenn mich indessen die Wahrsagungen der alten Seher nicht trügen, wird die gottlose Schar deine rächende Hand fühlen. Denn schicksalskundige Greise haben verkündet, es werde eine Zeit k o m m e n , zu der du dein Lager vor Jerusalem aufschlagen u n d zu der du mit siegreichen Waffen die Sarazenen bezwingen werdest, u m ihren Barbarenhals unter das kaiserliche Joch zu beugen. M ö g e uns der Morgenstern doch mit seinem ersehnten A u f g a n g diesen Tag heraufführen, diesen Tag bald auf seinem rosenfarbigen Gefährt bringen!« N a c h d e m er solches mit beredtem M u n d gesprochen hatte, folgte seinen letzten Worten beifällige Z u s t i m m u n g der Reiter, (80) so wie, als einst Rom der Rede Ciceros lauschte, die ganze Versammlung auf dem lärmenden Forum murmelte. Der Kürze der Zeit entsprechend, dankte der Kaiser indessen den Fürsten mit w e n i g e n Worten persönlich. Und da sich Titan mit sinkendem Licht verbarg, setzte er den begonnenen Weg rascher fort. Als sie nunmehr sich näherten u n d unter den hohen Mauern vorbeigingen, tönen die Trompeten am Fuß der himmelragenden Türme, u n d Kriegsgerät schallt von den hohen Mauern, das mit schwefligem Feuer blitzschnelle Kugeln verschießt. (90) Die Kreuzungen der Wege sind gefüllt von schaulustigem Volk, u n d zahlreiche Zuschauer engen den Weg des Kaisers ein. Der O r d n u n g g e m ä ß betraten als erste Sachsens Vornehme die Stadt, und als nächster reihte der Markgraf von Brandenburg seine Pferde an. Ihm folgten die auf d e m Fuß, denen Hessen mit seinen weiten Fluren, und die, denen der Rhein mit seinen Wogen den Namen gab; danach die, die in ihren ererbten Sitzen am Ufer der gelblichen Donau wohnen, u n d die auf Frankens Bergen hochgelegene Felder innehaben, dazu die, die mit bekanntem Strome die Weser benetzt; sie benetzt mit blauen Wassern die Fluren Westfalens. (100) Was soll ich die erwähnen, die den edlen Namen Spaniens tragen u n d die Ufer des reichen Tejo verließen? Ihre N a m e n konnte ich nicht sicher in Erfahrung bringen, u n d sie f ü g e n sich nicht passend in diese meine Verse. Zahllose Jünglinge schlugen schnell mit den Händen zum Klang der Trompeten die Pauken, u n d Diener des Kaisers, die vor den höchsten Fürsten des Reichs schritten, hielten die beiden Szepter. Unter den Fürsten trug der Kurfürst das vergoldete Schwert voran, der jetzt in sanftem Frieden Sachsen regiert. (110) Ihn begleitete eine lange Reihe von Vornehmen und eine große Schar von Fürsten folgte ihm nach. Unter einem Baldachin, der den Himmel darstellte, folgte hoch auf einem schneeweißen Rosse Karl in eigener Person. Alles Volk hielt unverwandt die Augen auf ihn gerichtet, alle diese Menschen sprachen nur über ihn. Darauf kam er, der das alte Reich der Böhmen beherrscht, als Bruder der nächste beim erhabenen Kaiser. Als letzter schritt der Gesandte des römischen Bischofs einher, er nennt sich C a m p e g g i o mit Namen. (120) Ihn trug ein Maultier, geschmückt mit Tyrischem Purpur, wie es in den Städten Hesperiens Brauch zu sein pflegt. Seine Schläfen u m g a b eine purpurfarbige Kappe, wie ihn der Stand der Kardinäle trägt. Darauf folgten die Edlen Österreichs u n d aus Burgund. Der Ritter aus Trient
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reihte sich an s o w i e die z u r ü c k k e h r e n d e n B ü r g e r A u g s b u r g s , die z u v o r aus d e n M a u e r n der Stadt g e z o g e n w a r e n . M a n kann einen steilragenden T u r m mit h o h e r S p i t z e sehen, w o mitten auf d e m M a r k t , i h m v e r b u n d e n , d a s R a t h a u s steht. ( 1 3 0 ) In i h m zeigt m a n sich der R e i h e n a c h die alten K ö n i g e der D e u t s c h e n u n d in G e m ä l d e n die Taten der b e r ü h m t e n Fürsten. Hier, w o die k r ä f t i g e n K i m b e r n d e n w i l d e n K a m p f e r ö f f n e n , f l i e h t C a r b o mit seinen bestürtzten S o l d a t e n vor den A n g s t E r w e c k e n d e n . S c a u r u s trägt Fesseln u m seinen g e f a n g e n e n Hals u n d , g e t r o f f e n von f e i n d l i c h e m S c h w e r t , fällt M a n l i u s . K ü h n b e r a u b t A r m i n i u s die R ö m e r der W a f f e n , u n t e r dessen F ü h r u n g w i r u n s e r e Freiheit w i e d e r e r l a n g ten. A n a n d e r e r Stelle vertreibt O t t o I. d e n aus d e m G e b i e t S k y t h i e n s a u f g e b r o c h e n e n H u n n e n siegreich mit t a p f e r e m M u t e . (140) Viele Kleriker s t a n d e n in langer R e i h e bei d i e s e m T u r m , als der Kaiser auf der a n g r e n z e n d e n Straße seinen W e g n a h m . A l l e n w a r e n ihre H a a r e auf g l a t t g e s c h o r e n e m Scheitel e n t f e r n t , allen fiel ein w e i ß e s G e w a n d von d e n S c h u l t e r n . D a r a u f b e t r a t e n sie die der H e i l i g e n J u n g f r a u g e w e i h t e K i r c h e u n d s a n g e n Fürbitten in f e i e r l i c h e m Lied. Mit L a u b von B ä u m e n w a r e n die Altäre g e s c h m ü c k t , u n d die Kirche w a r ü b e r s ä t von h i n g e s t r e u t e n R o s e n . U n t e r d e s s e n w a r die A b e n d d ä m m e r u n g g a n z v o m H i m m e l g e s c h w u n d e n , u n d die Z e i t e n der t a u b r i n g e n d e n N a c h t w a r e n a n g e b r o c h e n . (150) Karl entließ also die Fürsten u n d z o g sich mit s e i n e m B r u d e r in die benachbarte, ihm b e s t i m m t e Herberge zurück. Somit hast du die B e s c h r e i b u n g der G e s c h e h n i s s e , w i e sie in f e i e r l i c h e m Z u g e stattfanden, nach der R e i h e n f o l g e . D a s Ü b r i g e w e r d e n w i r m i t e i n a n d e r p e r s ö n l i c h b e s p r e c h e n , w e n n ich e u r e M a u e r n w i e d e r a u f s u c h e n werde. Leb wohl!
Nr. 2: S. 178-182 (Elegiarum Liber VI.)
A D I L L U S T R I S S I M U M Principem Albertum, M A R C H I O N E M Brandeburgensem, p r i m u m Prussiae Ducem. E l e g i a VIII.
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Est Erebi pestis, q u a e tristibus implicat o r b e m Dissidiis, p a s s i m d i r a q u e bella serit, A T E n o m e n habet: validis h a e c g e n t i b u s o l i m , T e r r a r u m & d o m i n i s exitiosa fuit. H a e c A g a m e m n o n i a s affecit clade c o h o r t e s , C i n c t a q u i b u s Priami m o e n i a regis erant: H a e c q u o q u e T h e s i d a s , h a e c regna p o t e n t i a f r e g i t Inuicti M a c e d ü m q u a e p e p e r e r e d u c e s . H a e c simul i m p e r i j spoliauit h o n o r e Quirites, D u m f e r a ciuili s a n g u i n e bella g e r u n t . T h r e i c i a s e a d e m g e n t e s h a e c pestis & v r b e s Perdidit, A r g o l i c a s h a e c labefecit o p e s . T u n c vbi p r o r u p i t S c y t h i c i s O t h o m a n n u s a b oris, H e l l e s p o n t i a c a s & superauit aquas, N a m q u e v o l u n t a t e s distraxit & a g m i n a r e g u m , Iunctis ille q u i b u s terga d a t u r u s erat. H a e c q u o q u e d i s c o r d e s h o c t e m p o r e copulit H u n n o s , Turpi seruitio triste subire i u g u m . D u m g e m i n o s q u a e r u n t reges: scissique d u a b u s Partibus, h u e illuc a r m a c r u e n t a f e r u n t . D e n i q u e G e r m a n i s n u n c bella d o m e s t i c a n o b i s Excitat, ac t u r b a s irrequieta facit.
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Nosque feris itidem conatur prodere Turcis, Alter in alterius dum mouet arma necern. Vidit id imperij moderator & arbiter olim. Qui genuit patrem C A R O L E Quinte tuum Utque graues casus, tristesque auerteret orbi Clades, & patriae d a m n a timenda suae, Deuincire pios optato foedere reges, Conatusque domi tollere bella fuit, Fortior vt iunctis in proelia viribus iret, Saeuaque grassantis frangeret arma Scythae, Huius enim rabiem cohibere, piosque tueri, Esse D E O gratum non dubitabat opus. Ante sed armatus quam sese mouit in hostem, Et regum sociae quam coiere manus, Optimus in medio belli molimine Princeps, Funere sublatus praeueniente fuit: Atque opus inceptum (proh tristia fata) reliquit. Immortale decus quo pariturus erat. Inuida mors, quare regum conatibus obstas, Pro lacero Christi qui grege bella mouent? Fallor? an illius quod es olim victa triumpho. Pro Mahometigena stat fauor hoste tuus? Nam sic pontificem Turcis q u o q u e bella parantem Diceris A e n e a m saeua tulisse Pium. Ne tarnen ignorent haec Caesaris acta nepotes. Acta boni debent quae meminisse duces. Sunt calamo conscripta meo: nam talia refert A' memori semper posteritate legi. Olim forsan erunt quos haec explere iuuabit Consilia, & studio pacis amante sequi. At veluti q u o n d a m patris induit arma peremti, Rex qui Pellaea natus in vrbe fuit: Atque triumphata confecit Perside bellum, Ipsius genitor quod meditatus erat: Sic quoque nunc vtinam se Carolus armet in hostem, Exoptata suo bellaque sumat auo. Ast ego quicquid id est operis, tibi dedico Princeps Laeta Borussorum quo duce gaudet humus. Nee dubito, quin pacis amans, hostisque Scytharum Talia diuini Principis acta probes. Nam quoties audis ciuilia bella moueri. Inter Christicolas Marte furente duces, Et Scythicum nostra gaudentem lite tyrannum, Omnia victrici carpere regna manu, Ipse gernens, imo suspiria pectore ducis, Temporis & nostri tristia fata doles. Teque licet multis exhausta laboribus aetas Occupet, arma tarnen sumere dura iuvat: C u m q u e pharetratis committere praelia Turcis, Et proeul ad Solymas castra locata sequi: Si m o d o suseipiat concors Germania bellum, Suppetiasque piis, auxiliumque ferat. Viuenti quoque carus eras: duetore sub illo Tempora militiae prima f u e r e tuae.
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Euganeos quando populos vrbesque premebat, Martius Adriacae quas leo gentis habet. Saepius ille tuis applaudens fortibus ausis, Macte animi, aiebat, macte: vir acer eris. Et quaecunque tenes belli praecepta gerendi, Tyroni senior tradidit ille tibi. Te peditum cuneos, & equestres ducere turmas. Te docuit tuto ponere castra loco: Explorare vias. nee aperto praelia tantüm Marte, sed hostili conseruisse dolo. Adde quod ipse meos tibi consecro iure labores. Pro meritis videar gratus vt esse tuis. Namque meae peragunt secura quod ocia Musae, Id tua nimirum eura benigna facit. Ampla mihi tribuis Studiorum praemia vati, Caesare Virgilius qualia dante tulit. Aurea quid referam, quorum mihi multa dedisti, Poeula? quid celsae splendida tecta domus? Pro quibus ingratum me ne qua redarguat aetas, Nominis est aequum me meminisse tui. Tempus erit, laudum praeconia quando tuarum Maeonijs peragat nostra Thalia modis: Namque opus institui, validae quo praelia dextrae, Atque tuae laudes commemorabo togae. Möns vbi sublimis Helicon se tollit in auras. Roscida Musarum floribus arua nitent. Quos neque Sol aestu. Boreas neque frigore laedit, Nee spoliant vlli veris honore dies, His tibi contexam de floribus ipse coronam, Ε dueibus qualem nemo sub axe gerit. Interea Princeps hunc aeeipe quaeso libellum, Qui licet eloquij forsitan arte caret, Attamen egregias res continet. actaque pacis: Quo tibi praeeipue nomine gratus erit.
An den Durchlauchtigsten Fürsten Albrecht, Markgrafen von Brandenburg, ersten Herzog von Preußen Von Erebus geht Unheil aus, das den Erdkreis mit schmerzlicher Zwietracht überzieht und überall schreckliche Kriege verursacht - es trägt den Namen Ate: Dieses brachte einst den mächtigen Völkern und Herren der Welt Verderben. Dieses stürzte die Truppen des Agamemnon ins Unglück, die die Stadt von König Priamos umzingelt hatten: auch bezwang dieses die Athener und die mächtigen Reiche, die die unbesiegbaren Führer der Makedonen eroberten. Dieses beraubte auch die römischen Bürger des Glanzes ihrer Herrschaft, als sie, Bürgerblut vergießend, schreckliche Kriege führten. (10) Eben dieses Unheil entmachtete damals die Stämme und Städte Thrakiens und ließ die Streitkräfte der Griechen wanken, als der Türke von Skythiens Küste aus hervorbrach und den Hellespont überwand, denn er störte die Pläne und die Heere der verbündeten Könige, vor denen er schon auf der Flucht war. Dieses Unheil zwang auch derzeit die uneinigen Ungarn, schmerzlich unter das Joch zu gehen in schmachvoller Knechtschaft. Während sie zwei Könige wählten, gespalten in zwei Teile, erhoben sie ihre Waffen blutvergießend mal hierhin, mal dorthin. (20) Schließlich entfacht dieses Unheil uns Deutschen eben einen Bürgerkrieg und sorgt rastlos für Streit. Und ebenso versucht es, uns den grausamen Türken verräterisch auszuliefern, während man gegenseitig zu den Waffen greift, um den anderen zu töten. Augenzeuge
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davon war schon vor Zeiten des Reiches Lenker u n d Gebieter, der Deinen Vater, Karl V., gezeugt hat. Und u m der Welt schwere Unglücksfälle und schmerzliche Niederlagen u n d f ü r sein Vaterland furchtbare Schäden abzuwenden, versuchte er, die f r o m m e n Fürsten mit einem erwünschten Vertrag zu binden und im Reich Kriege zu verbieten, (30) u m entschlossener mit einer vereinigten Streitmacht in Schlachten zu ziehen u n d die grausamen Waffen des ungestümen Scythen zu bezwingen. Denn deren K a m p f w u t abzuwehren und die F r o m m e n zu schützen, zweifelte er nicht, sei ein Gott wohlgefälliges Werk. Aber bevor er bewaffnet aufbrach gegen den Feind u n d die verbündeten Truppen der Könige sich sammelten, wurde der hochangesehene Kaiser mitten in den B e m ü h u n g e n u m diesen Krieg vorzeitig vom Tode dahingerafft. Und so ließ er ein begonnenes Werk zurück (ach, welch trauriges Schicksal!), mit d e m er sich anschickte, unsterblichen R u h m zu erwerben. (40) Mißgünstiger Tod, warum behinderst Du die Anstrengungen der Fürsten, die zugunsten der zerrissenen Christenheit Kriege f ü h r e n ? Täusche ich mich, oder begünstigst Du, da Du einst durch den Sieg Christi überwunden wurdest, eben den m o h a m m e d a n i schen Feind? Denn so sagt man. Du habest Papst Aeneas Pius, als er ebenfalls gegen die Türken rüstete, unerbittlich fortgerissen. Damit jedoch die Enkel des Kaisers seine Taten genau kennen. Taten, die die rechtschaffenen Herrscher nicht vergessen dürfen, h a b e ich sie mit meiner Feder niedergeschrieben, denn es k o m m t darauf an, daß solche Taten von der Nachwelt, ihrer stets gedenkend, gelesen werden. (50) Es wird möglicherweise auch welche geben, denen es Freude machen wird, diese Pläne auszuführen und ihnen mit friedliebendem Eifer zu folgen. Aber wie einst der König, der in Pella geboren war, die Waffen seines Vaters nach dessen E r m o r d u n g anlegte und im Triumph über Persien einen Krieg beendete, den sein Vater vorbereitet hatte, so m ö g e doch auch jetzt Karl sich gegen den Feind bewaffnen und die von seinem Großvater ersehnten Kriege unternehmen! Ich aber w i d m e dies, was immer f ü r ein Werk es auch sei. Dir, mein Fürst, über den als Herzog sich das Land der Preußen von Herzen freut. (60) Und ich zweifle nicht, daß Du bei Deinem Streben nach Frieden und als Feind der Skythen solche Taten des erhabenen Kaisers billigst. Denn immer wenn Du vernimmst, daß vom wütenden Mars Bürgerkriege begonnen werden zwischen den christlichen Herrschern und daß der skythische Gewaltherrscher, der sich über unseren Streit freut, alle Reiche mit einer siegreichen Schar von Kriegern langsam durchzieht, klagst Du dabei selbst u n d seufzest tief im Innersten u n d bejammerst das schmerzliche Geschick unserer Zeit. M a g Dich auch das von vielen Notständen erschöpfte Zeitalter in Beschlag nehmen, so macht es dennoch Freude, unbeugsam die Waffen zu ergreifen (70), den köchertragenden Türken Schlachten zu liefern u n d ihre weithin bis Jerusalem errichteten Festungen aufzusuchen, w e n n nur Deutschland sich einträchtig zu einem Krieg entschließt und den F r o m m e n Beistand und Hilfe leistet. Als jener Kaiser noch lebte, warst Du von ihm geschätzt: Unter seiner Führung bestandest Du die ersten Gefahren Deines Kriegsdienstes, als er den venezianischen Völkern u n d Städten hart zusetzte, die der kriegerische L ö w e des Adriatischen Volkes beherrscht. Jener Kaiser äußerte sich recht oft beifällig über Deine unerschrockenen, wagemutigen Taten: »Heil Dir ob Deines Mutes«, sagte er, »Heil: Du wirst ein Mann voller Tatkraft sein!« (80) Und alle Regeln der Kriegsführung, die Du beherrschst, hat jener als der Ältere Dir, dem Neuling, anvertraut. Er lehrte Dich, die keilförmige Aufstellung der Infanterie u n d die Reiterschwadronen anzuführen und Lager an einem geschützten Ort aufzuschlagen, Wege ausfindig zu machen und nicht nur in einer offenen Feldschlacht, sondern auch mit feindlicher Tücke zu k ä m p f e n . Hinzu k o m m t noch, daß ich selber Dir mit Recht meine Arbeit ehrfürchtig zueigne, u m mich erkenntlich zu zeigen für Deine Verdienste u m mich. Denn Deine gütige Obhut bewirkt zweifellos, daß meine M u s e n in sicherem Frieden leben. (90) Du verleihst mir als Dichter reichlich Belohnungen f ü r meine künstlerischen Leistungen, wie sie aus der Hand des Kaisers Vergil erhielt. Wozu soll ich die goldenen Becher zur Sprache bringen, von denen Du mir viele gegeben hast, w o z u das glänzende Dach meines hochragenden Hauses? Damit das Zeitalter mich nicht etwa als undankbar angesichts Deiner Verdienste hinstellt, ist es recht und billig, daß ich mich auf Dein Ansehen besinne. Die Zeit wird k o m m e n , da unsere Thalia die Lobrede auf Deine ruhmvollen
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Taten im homerischen Versmaß halten wird. Denn ich habe ein Werk begonnen, in dem ich von den Gefechten, die Du mit starker Hand bestandest, und von Deinem ruhmvollen Wirken im Frieden berichten werde. (100) Wo das Helikon-Gebirge hoch in die Lüfte ragt, strotzen die betauten Gefilde der Musen von Blumen, denen weder der Sonnengott mit seiner Hitze noch der Nordwind mit seiner Kälte zusetzt noch irgendwelche Tage die Anmut des Frühlings nehmen. Aus diesen Blumen werde ich persönlich Dir einen Kranz binden, wie ihn niemand von den Herrschern unterm Himmelsgewölbe trägt. Unterdessen jedoch nimm bitte, mein Fürst, dieses Büchlein entgegen, welches, wenn es auch vielleicht nicht Kunstfertigkeit der Sprache besitzt, dennoch hervorragende Kriegstaten und Friedenswerke enthält. Deswegen wird es Dir besonders willkommen sein.
Nr. 3: S. 101-108 (Elegiarum Liber IV.)
A D CARDINALEM PETRVM BEMBVM.
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ILle Sabinorum qui gaudet nomine vates, Te procul ä Viadri Bembe salutat aquis. Cuius ad algentes ludit modo carmina ripas, Aoniae tangens plectra sonora lyrae. Si fortasse rogas, quibus amnis hie erret in oris, Teutona Vandalico separat arua solo: Quemque alias Viadrum Germania nuncupat, idem Dictus ab indigents Odera nomen habet. Sed moror ipse tuas longis ambagibus aures, Accipe nostra procul quid tibi Musa ferat: Annua forte dies aderat, cum prisca biformem Tybridis vrbs Ianum deuenerata fuit, Prouidus vt coeli custos emittere pacem. Et rigida vellet condere bella sera, Moenibus exieram solus, vinetaque lustrans. Per niue candentes ingrediebar agros: Uersabamque graues moesto sub pectore curas, Temporis expendens tristia fata mei: Ut iuga Dalmatiae, ripasque binominis Istri, Turca Pelethronijs depopuletur equis. Arma nec Europae capiant vltricia reges, Effera gens quorum Marte domanda fuit. Ergo trahens imo suspiria corde, fremebam, Haecque dabam gelidis verba ferenda notis: Nunc ego Dircaeus vates, fidibusque canoris Inclitus Oeagri filius esse velim: Non vt aues, rigidasque feras, nec saxa, vel ornos Ducere, sed regum corda mouere, queam. Dicite summa quibus rerum concessa potestas, Uestra quis ignauus pectora torpor habet? Quod non indomitum hello compescitis hostem, Cuius Pannoniam dextera caede replet. M e miserum, quantas clades hic barbarus orbi Intulit, est quarum commeminisse dolor. Aeoliae domitis mare Thracibus abstulit Helles,
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Captaque Byzanti moenia victor habet. Phoenicum vastauit agros, quaeque altus opacat Florida palmifero vertice rura Thabor. Caedibus impleuit septemplicis oppida Nili, A c te te Carpathio marmore cincta Rhodos. Saeuit in Istricolas iam nunc, Budaque potitus Austriacis praedam finibus hostis agit. Ne fera praedonis victoria longius iret. Cura pijs Ducibus suscipienda fuit. Graecia si rapta Menela'i coniuge bellum Gessit, & est hostern fortiter vlta suum: Cur coelestis erunt Christi sine vindice gentes? Nullus an innocui sanguinis vltor erit? Proque tot abductis hominum, caesisque piorum Millibus, Europam sumere bella piget? Heu quanto miseri gemitu suspiria ducunt, Diripuit quorum barbara turba lares: Quique manus vincti duris post terga cathenis, Uerbera coguntur tortaque lora pati: Quod non sacrilegi Mahometi numen adorant, Te sed adorantes optime C H R I S T E colunt. Ah si fata darent reduces hoc tempore reges, Francia quos olim, Sueuia quosüe tulit: Non ita falcato saeuiret acynace passim, Moestaque crudelis funera praedo daret. Fortibus indomitos Auares compescuit armis Magnus ab Hectoreis C A R O L V S ortus auis: Atque Saracenis, qui Betica regna tenebant, Hesperij captas orbis ademit opes. Primus in Armenia F R I D E R I C V S castra locauit: A d S o l y m o s alter trans mare signa tulit. Hac deeus Heroes quondam sibi laude parabant, Insitus hie animi regibus ardor erat. Non vt dissidijs ciuilibus arma mouerent, Exitioque suos Marte furente darent: Sed procul arcentes vt auitis sedibus hostem. Pro patriae gererent bella salute suae. At modo nulla gerunt nisi bella domestica reges, Sustinet ex Ducibus praelia nemo foris. Alter in alterius sic viscera saeuit, vt olim Gens quae C a d m e o semine nata fuit. E f f e r u s interea grassatur Turca per orbem, Qui contundendus fulmine martis erat: Templa prophanatis & disijt impius aris, Stupraque cum saeua caede nefanda facit. Non sie acta furit rabie Gangetica tigris, Si qua vel est catulis orba leaena suis: Nuper vt ille furens, violentis saeuijt armis, Hic ubi Pannoniam Noricus Ister adit. Sepibus infantum suffixa cadauera pendent, Ubera matronis ense resecta iacent. Nee tarnen e summis Europae regibus vllum Afficit, & clades haec miseranda mouet. Felices animae, nostro quibus attulit aeuo
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Funeris extremam mors properata diern: Ne Geticos metuant arcus, possintque ruentis Excidium patriae triste videre suae. Haec vbi verba leues iactabam questus ad auras, Iamque petiturus moenia rursus eram. E c c e bifrons, alto delapsus ab aethere, Ianus Astitit: ancipiti territus ore fui. Utque tremit ventis agitata palustris arundo, Sic mea concussit luridus ossa pauor. Uli Sithonia candens niue barba rigebat, Aegoceri tectum vellere corpus erat: Dextera gestabat baculum manus: inque sinistra Clauis, qua superüm panditur aula, fuit. Utque niues humeris, gelidos excussit & imbres, Anteriore loquens hos dedit ore sonos: Desine mirari solos quos F R A N C I A reges, Quosüe potens olim Sueuia marte, tulit. Nondum tota iacet virtus extincta, supersunt Hoc fera quos acuent tempore bella Duces. E c c e suis quae nunc Germania dissidet armis, Concordi iunget f o e d e r a p a c e domi: Proque focis, arisque, & libertate tuenda, Sumpta pharetratis inferet arma Getis. A f f e c t u m miseris tot cladibus asseret Istrum, Graiaque barbarico subdita regna iugo, Inde etiam ducens longinqua per aequora classem Figet Idumaeo clara trophaea solo. Non est fractus adhuc rex Ferdinandus, & alter Augusti titulum qui modo frater habet. Hie aget Hesperiae fortes in praelia gentes, Ille Bohemorum robore bella geret. Ergo pone metum, tristes ac siste querelas. Quem metuis posthac non metuendus erit. Dixit, & in tenues euanidus exijt auras. Et mea conijciens sparsit in ora niuern. At non vana mihi coelestis ianitor aulae Rettulit, imperij iam coiere Duces: Et modo confirmant aeterno foedere pacem, Omnibus inque Getas viribus arma parant. Martia terribili feriuntur tympana pulsu, Tolluntur medio bellica signa foro. E x Ducibus verö, quos pugnae accincta sequentur A g m i n a , septemuir Marchio, primus erit. Marchio Teutonici pronepos animosus Achillis, Uirtutis specimen qui dedit ante suae, Austriacis cum te grassantem depulit oris, Uertit & in celerem saeue Tomita f u g a m . I, decus imperij, patriaeque tuere salutem, I tua quo virtus te I O A C H I M E vocat: Te pridem cupidis expectat Acha'ia votis, Ut semel excutiat triste redemta iugum. Maenalus inclinat prona tibi rupe cacumen, Aduentu gaudent Pindus & Ossa tuo. Nec metuas enses, nec spicula tincta veneno,
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Prospera suscipies auspice bella D E O . Ille tuus protector erit, partoque triumpho Ut laetus redeas victor ab hoste dabit. At R o m a n a pio quo Flamine curia gaudet, O ' sacer A o n i d u m nobile B E M B E decus: Te decet hortari Venetos, p o p u l u m q u e Quirini, Quos tua dulce loquens flectere lingua potest: O m n i b u s inuadant vt e u n d e m viribus hostem, Subsidio nobis, neu superemur, eant. Nam velut accurrunt exciti sedibus omnes, C u m vagus incensa Mulciber vrbe furit: Sic quoque vos sumtis accurrere conuenit armis, Ne rigidis simus praeda cruenta Getis. Graecia suppetias olim si Thracibus isset, Subdita Turcarum non foret ipsa iugo: Nee m o d o lugeret superatus ab hostibus Ister Poeona si Dana'is terra tulisset o p e m . Quare vestra nisi vicinos arma iuuabunt, Tristia (crede mihi) vos quoque fata manent, Nee minus alternae discordia semina litis Tollere, B E M B E tuae pars pietatis erit: Et sedare graues motus, quos tempore nostro Turbata populus relligione facit. Nam cum praeeipue Latij sacer ordo senatus Te colat, inque oculis vrbs Tyberina ferat: Optimus assertor fidei, pacisque sequester, Uulnera fomentis nostra iuuare potes. Respice quas h o m i n u m reddens pro crimine mortem, Abluit ipse suo sanguine C H R I S T U S oues: Optatamque gregi pastorum confice pacern, Q u o r u m dissidium tristia damna parit. Nam fera dum motis certamina litibus instant, Excubias nullus pro grege pastor agit. Destituuntur oues & ruptis sepibus audent Undique raptores in pecus ire lupi. S u m m u s in illustri Deus hac te sede locauit, Ingenijque tibi flumina larga dedit: Ut tua conciliet rnitern facundia p a c e m , Et verae partes relligionis agat. Ergo tuos Venetos hortare, tuosque Quirites, Ut sua nobiscum iungere castra velint: I m m a n e m q u e iuuent armis excindere gentern. Quae nos exitio, sit nisi fracta, dabit. Effice concilium simul vt solenne vocetur, Elucescat vbi gloria vera DEI. Id cupit, id votis ardentibus optat, id vnum Expetit, & C H R I S T I te pia sponsa rogat.
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An Kardinal Pietro Bembo. I. Elegie. Der Dichter, der gern den Namen der Sabiner trägt, grüßt dich, Bembo, aus der Ferne von den Wassern der Oder, an deren frierenden Ufern er nun das Spiel der Dichtung treibt, indem er die wohltönenden Saiten der Aonischen Leier anschlägt. Wenn Du etwa fragst, in welchem Land dieser Strom seinen Weg sucht: Er trennt die deutschen Fluren vom Vandalischen Boden. Deutschland nennt ihn sonst »Viadrus«, von den Einheimischen aber hat er den Namen »Oder«. Doch ich halte deine Ohren mit langem Herumreden hin. Vernimm, was unsere Muse dir aus der Ferne bringt! (10) Es war gerade der Tag des Jahres, an dem die alte Tiberstadt den zwiegestaltigen Janus verehrte, auf daß der Wächter des Himmels vorsorglich den Frieden herauslassen und den Krieg mit starkem Riegel zurückhalten wolle. Ich war allein vor die Mauern gegangen und schritt, die Weingärten betrachtend, durch die schneeglänzenden Fluren. Dabei wendete ich betrübten Herzens schwere Sorgen hin und her und erwog das traurige Geschick meiner Zeit: wie der Türke die Höhen Dalmatiens und die Ufer der zwiefach benannten Donau mit seinen Pelethronischen Rossen verwüstet, (20) ohne daß die Könige Europas zu den rächenden Waffen eilen, von deren Kriegsmacht das wilde Volk schon hätte bezwungen sein müssen. Ich seufzte also aus tiefstem Herzen, murrte und gab den eisigen Winden die folgenden Worte mit auf den Weg: »Gern wäre ich jetzt der Dircaeische Dichter und der durch seine wohlklingenden Saiten berühmte Sohn des Oeagrus, - nicht, um die Vögel und das störrische Wild oder die Felsen und die Bergeschen hinter mir her zu führen, sondern um die Herzen der Könige bewegen zu können. Ihr, denen die Regierungsgewalt gegeben ist, sagt doch, welch feige Lähmung hat eure Herzen ergriffen? (30) Daß ihr nicht bändigt durch Krieg den zügellosen Feind, dessen Rechte Pannonien mit Mord überzieht? Ich Elender, welche Niederlagen hat doch dieser Barbar der Welt zugefügt! Es schmerzt, an sie zu denken. Er hat die Thraker bezwungen, ihnen den Äolischen Hellespont weggenommen und beherrscht als Sieger die eroberten Mauern von Byzanz. Er hat die Fluren der Phönizier und die blühenden Gefilde, denen der hohe Tabor mit palmentragendem Gipfel Schatten spendet, verwüstet. Mit Mord hat er die Städte des siebenarmigen Nils und dich, mit Karpathischem Marmor befestigtes Rhodos, erfüllt. (40) Jetzt wütet er schon gegen die Anwohner der Donau und führt, nach Einnahme Budas, aus österreichischem Gebiet als Feind die Beute fort. Damit der wilde Siegeszug des Räubers nicht weitergehe, hätten die frommen Fürsten Vorsorge treffen müssen. Wenn Griechenland nach dem Raub der Gemahlin des Menelaos Krieg führte und sich kraftvoll an dem Feind rächte, warum werden dann die Völker des himmlischen Christus ohne Beschützer sein? Wird es denn keinen Rächer für das unschuldige Blut geben? Und hat Europa keine Lust, für so viele Tausende verschleppter und ermordeter Frommer den Krieg aufzunehmen? (50) Weh, mit welchem Stöhnen seufzen die Elenden tief auf, deren Heim die barbarische Horde zerstört hat und die, mit harten Ketten die Hände auf den Rücken gefesselt, Schläge und Peitschenhiebe erdulden müssen, weil sie nicht den gottlosen Mohammed als heilig anbeten, sondern dich, bester Christus, verehren! Ach, wenn das Schicksal in unserer Zeit wieder die Könige heraufführte, die einst der Franken- oder der Schwabenstamm hervorgebracht haben, dann würde der grausame Räuber nicht überall mit dem Krummschwert wüten und traurigen Tod verbreiten. (60) Mit starken Waffen bändigte die zügellosen Awaren der große Karl vom Stamm Hektars, und er entriß den Sarazenen, die das Betische Reich beherrschten, die von ihnen eroberten Schätze der Hesperischen Welt. Friedrich der Erste schlug in Armenien sein Heerlager auf, und der Zweite führte sein Heer über das Meer nach Jerusalem. Mit solchen Ruhmestaten erwarben einst sich Ehre die Helden, und solch brennendes Verlangen beherrschte die Herzen der Könige: nicht im Bürgerkrieg zu den Waffen greifen und die eigenen Landsleute dem Untergang im Wüten des Krieges preiszugeben, (70) sondern den Feind von den Wohnsitzen der Vorväter fernzuhalten und für das Wohl ihres Vaterlandes Krieg zu führen. Aber jetzt führen die Könige nur noch innere Kriege; keiner der Fürsten hält draußen Angriffen stand. Der eine wütet so gegen des anderen
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Fleisch u n d Blut wie einst das Geschlecht, das aus d e m Samen des C a d m u s geboren war. Unterdessen schwärmt auf d e m Erdkreis der wilde Türke umher, den der Blitzstrahl des Krieges schon hätte zerschmettern müssen, und zerstört gottlos die Kirchen, entweiht die Altäre u n d begeht, grausam mordend, entsetzliche Gewaltverbrechen. (80) So rast nicht der Tiger des Ganges in seiner Wut, noch die Löwin, die ihrer Jungen beraubt wurde, wie jener unlängst mit Waffengewalt grausam raste, dort w o die Donau von Noricum nach Pannonien hinüberfließt. Da hängen, an Zäunen aufgespießt, Leichen von Kindern, u n d Mutterbrüste, vom Schwert abgehauen, liegen umher. Doch dieses jammervolle Unglück rührt und bewegt von den größten Königen Europas nicht einen. Glücklich die Seelen, denen ein früher Tod in unserer Zeit den letzten Tag, den Tag des Begräbnisses, schon gebracht hat: (90) daß sie die getischen Pfeile nicht zu fürchten und den traurigen Unterg a n g ihres z u s a m m e n b r e c h e n d e n Vaterlandes nicht mitanzusehen brauchen.« Als ich diese Worte klagend in die leichten Lüfte ausgestoßen hatte und gerade wieder zu den Stadtmauern zurückkehren wollte, siehe, da stand, aus dem hohen Äther herabgeglitten, der zweistirnige Janus vor mir, und ich erschrak vor d e m Doppelgesicht. Und wie, vom Winde bewegt, das Schilf im S u m p f e zittert, so erschütterte fahl machender Schrecken meine Gebeine. Ihm starrte der Bart weiß von Sithonischem Schnee, und sein Leib war mit einem Widdervlies bedeckt. (100) Die rechte Hand f ü h r t e einen Stab, u n d in der linken war der Schlüssel, der die Halle der Himmlischen aufschließt. Indem er Schnee und gefrorenes Regenwasser von den Schultern schüttelte, ertönten die folgenden Worte aus seinem vorderen Munde: »Höre auf, nur die Könige zu bewundern, die Franken oder das kriegsgewaltige Schwaben einst hervorgebracht haben. Noch ist die Tatkraft nicht ganz erloschen; es gibt in dieser Zeit noch Fürsten, die ein wilder Krieg anspornen wird. Siehe, Deutschland, das jetzt mit Waffengewalt streitet, wird sich im Innern in einmütigem Frieden vertragen, (110) z u m Schutz von Herd, Altar und Freiheit zu den Waffen greifen u n d sie gegen die köchertragenden Türken w e n d e n . Es wird den von so j a m m e r v o l l e r Verheerung heimgesuchten Donaustrom und die dem Joch der Barbaren unterworfenen griechischen Königreiche verteidigen u n d danach sogar eine Flotte über das weite Meer führen und herrliche Siegeszeichen in Palästinas Erde pflanzen. Noch ist König Ferdinand nicht geschlagen u n d auch nicht sein Bruder, der jetzt den Kaisertitel trägt. Dieser wird die tapferen Völker Hesperiens in den Kampf schicken, jener mit Hilfe der starken Böhmen den Krieg führen. (120) Lege also die Furcht ab und stelle dein trauriges Klagen ein: Der, den du fürchtest, wird künftig nicht mehr zu fürchten sein.« Sprach's und hob sich hinweg, in dünne L ü f t e vergehend, und besprühte mein Gesicht mit Schnee. Unwahres hat mir der Torwächter der Himmelshalle nicht verkündet: Schon sind die Fürsten des Reiches zusammengetreten, und gerade befestigen sie mit ewigem Vertrag den Frieden und rüsten mit aller Kraft eine Streitmacht gegen die Türken. Die Kriegspauken werden mit schrecklichem Getön geschlagen, u n d mitten auf dem Marktplatz erheben sich die Zeichen des Krieges. (130) Von den Fürsten jedoch, denen die zum Kampf gegürteten Scharen folgen werden, wird der märkische Kurfürst der erste sein. Der Markgraf, der hochgemute Urenkel des deutschen Achilles, der früher bereits seine Tatkraft bewiesen hat, indem er dich, du wilder Gete, als du umherschwärmtest, aus österreichischem Gebiet vertrieb und in hastige Flucht schlug. Geh voran, Zier des Reiches, und wahre das Wohl des Vaterlandes; gehe, wohin dich deine Tatkraft, Joachim, ruft. Schon längst erwartet dich Achaia mit heißen W ü n s c h e n , daß es endlich befreit werden u n d das traurige Joch abschütteln möge. (140) Der Maenalus neigt seinen Fels und beugt den Gipfel vor dir; Pindus und Ossa freuen sich über deine Ankunft. Fürchte weder die Schwerter noch die giftgetränkten Pfeilspitzen: Du wirst im Zeichen Gottes einen glücklichen Kriegszug unternehmen. Er wird dein Beschützer sein u n d dir vergönnen, einen Triumph zu erringen u n d als Sieger f r o h v o m Feinde z u r ü c k z u k e h r e n . D o c h du, dessen sich die römische Kurie als eines f r o m m e n Priesters erfreut, o, ehrwürdiger Bembo, edle Zier der Musen, dir ziemt es, die Venezianer und das Volk des Quirinus, die deine wohlredende Z u n g e zu lenken vermag, anzutreiben, (150) auf daß sie mit all ihren Kräften denselben Feind angreifen und uns zu Hilfe k o m m e n , damit wir nicht überwunden werden. Denn so, wie alle.
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aus ihren Häusern aufgescheucht, herbeilaufen, wenn der schweifende Mulciber in der in Brand gesetzten Stadt wütet, so sollt auch ihr die Waffen ergreifen und herbeieilen, damit wir nicht den grausamen Türken zur blutigen Beute werden. Wenn Griechenland einst den Thrakern Beistand geleistet hätte, dann wäre es selbst nicht unter das türkische Joch geraten, und der vom Feind ü b e r w u n d e n e Donaustrom trauerte jetzt nicht, wenn Mazedonien den Griechen geholfen hätte. (160) Daher wartet auch auf euch - glaub' es mir - , wenn eure Waffen nicht euren Nachbarn helfen, ein trauriges Schicksal. Und ebensosehr wird es die Sache deiner Frömmigkeit sein, Bembo, aus dem wechselseitigen Streit die S a m e n der Zwietracht zu entfernen und den tiefgehenden Aufruhr, den in unserer Zeit das Volk wegen der religiösen Wirren erregt, zu besänftigen. Denn da der ehrwürdige Stand der Senatoren von Latium dich ausnehmend schätzt und die Tiberstadt dich sehr wert hält, kannst du als bester Verteidiger des Glaubens u n d Vermittler des Friedens unseren Wunden Linderung bringen. (170) Denke an die Schafe, die Christus selbst mit seinem Blute reingewaschen hat, als er u m des Menschen Sünde willen den Tod erlitt, u n d stelle den der Herde erwünschten Frieden unter den Hirten her, deren Uneinigkeit trauriges Unheil hervorbringt! Denn während sie nach Ausbruch des Streits auf wildem Kampf bestehen, hält kein Hirt für die Herde Wache. Die Schafe werden im Stich gelassen, und die räuberischen W ö l f e wagen es, überall die Hürden einzureißen u n d auf die Tiere loszugehen. Der höchste Gott hat dich auf diesen ruhmvollen Platz gestellt und dir reiche Geistesgaben verliehen, (180) damit deine Beredtsamkeit milden Frieden stifte und als Anwalt der wahren Religion spreche. So ermuntere also deine Venezianer u n d deine Quiriten, ihre Kriegslager willig mit uns zu vereinen und zu helfen, das schreckliche Volk, das uns, wenn man es nicht bricht, verderben wird, mit Waffengewalt zu vernichten. Wirke darauf hin, daß zugleich ein feierliches Konzil einberufen werde, w o die wahre Ehre Gottes hervorleuchten soll. Dies begehrt, dies verlangt mit heißen W ü n s c h e n , dies allein fordert und erbittet von dir die f r o m m e Braut Christi. (190)
Selbstverständigung im Leiden: Zur Bewältigung von Krankheitserfahrungen im versgebundenen Schrifttum der Frühen Neuzeit (P. Lotichius Secundus, Nathan Chytraeus, Andreas Gryphius)
Die Notwendigkeit einer umfassenden Ansicht leuchtet aber auch schon aus der Beschaffenheit der Literatur selbst hervor. Die europäische Literatur bildet ein zusammenhängendes Ganzes, wo alle Zweige innigst verwebt sind, eines auf das andere sich gründet, durch dieses erklärt und ergänzt wird. Friedrich Schlegel Geschichte der europäischen Literatur, 1803/04.
Krankheiten gehören zu den elementaren Erfahrungen des Menschen, Erfahrungen mit dem eigenen Körper und der Hinfälligkeit des Nächsten, von dessen Schicksal man sich betroffen fühlt. Nur scheinbar sind diese >pathogenen< Erfahrungen dem historischen Prozeß sozialer Selbstverständigung entzogen. Jenseits eines - immerhin vielleicht möglichen - sprachfernen und begriffslosen, gleichsam vegetativen Vorgangs des Erleidens artikuliert sich in der spontanen wie auch in der literarisch bewußt geformten Rede über eigenes und fremdes Krank-Sein immer eine Vielfalt von Selbst- und Fremdbeobachtungen, ein Komplex spontaner Deutungen und kulturell vermittelter Einstellungen. Bereits die Diagnose der somatischen Störung setzt Leitbilder der Gesundheit, der körperlichen Harmonie, voraus, zugleich aber auch die Position, die der Wert der Gesundheit in der mentalen Hierarchie des Gewünschten, und des überhaupt Wünschbaren einnimmt.' Erst die begründeten oder begründbaren
Weiterführendes zu diesen Vorüberlegungen bietet eine Reihe von Abhandlungen und Darstellungen, von denen ich nur nenne: Emanuel Berghoff: Entwicklungsgeschichte des Krankheitsbegriffs. Wien 21947: Walder Brednow: Der Kranke und seine Krankheit. Leipzig 1961 (Nova Acta Leopoldina, N. F. Nummer 152, Bd. 24); Heinrich Schipperges: Homo Patiens. Zur Geschichte des kranken Menschen. München 1985; Dietrich von Engelhardt: Der Umgang des Kranken mit der Krankheit im Medium der Literatur. In: Ethische Probleme der modernen Medizin. Hg. von Helmut Piechioviak. Mainz 1985, S. 158-176; Der Mensch und sein Körper. Von der Antike bis heute. Hg. von Arthur E. Imhof. München 1983.
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Erwartungen, in denen sich Wohlbefinden bestimmt, umreißen Art und Ausmaß des Schocks, der durch Schmerzen und das Versagen der leiblichen Funktionen ausgelöst wird. Das Verhältnis, in dem Krankheitssymptome als Abweichung vom Normalzustand erscheinen, regelt sich dabei nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie nach den Parametern des somatischen Funktionierens, dem Postulat der Selbsterhaltung, jedenfalls nicht in der Frühen Neuzeit, in der Leiden und Tod in übergreifenden Sinnzusammenhängen gedeutet waren. Diese Sinnzusammenhänge, die jeden rein säkularen Erklärungs- und Handlungskonnex der Medizin - in der Spannweite von Diagnose, Prognose und Therapie - überwölbten, prägten alltagsweltliche Wertvorstellungen und mentale Gewißheiten, ja vorab bereits den Fragezusammenhang, in dem die Grenzziehung zwischen dem Gesunden und dem Kranken überhaupt zur Sprache kommen und problematisiert werden konnte. Von der Verinnerlichung dieser Sinnangebote hing zweifellos auch der psychische Anteil der Krankheitserfahrungen ab. Denn der Umgang des Kranken mit sich selbst oder der des Gesunden mit dem kranken Anderen umgreift in der Auseinandersetzung mit somatischen Störungen damals wie heute auch die emotionale Reaktion auf das Versagen der eigenen Leiblichkeit. Körperliche Störungen sind und waren zugleich psychische Anfechtungen, Herausforderungen und Verstörungen. Es ist unbestreitbar, daß in der Frühen Neuzeit die Bewältigung der Krankheitserfahrungen in der sinnstiftenden Rede über die psycho-physische Gefährdung des kranken Menschen besondere Dringlichkeit besaß: angesichts der Omnipräsenz des Todes in einer Wirklichkeit, die - nicht nur in den großen Seuchenzügen - medizinische Kunst immer wieder zur Ohnmacht verdammte und Gefühlsreaktionen der Angst und der Wehrlosigkeit hervorrief. 2 Die ungeheure Masse des christlichen Gebrauchsschrifttums, in dem die Tröstungen der christlichen Heilszusage in Konzepte geistlichen Handelns umgesetzt wurden und das - im Horizont der meclitatio mortis - die Energien des Einzelnen auf die Bewältigung des Sterbens als exemplarischer, moralisch und soteriologisch entscheidender Lebensleistung hin konzentrierte,' diese Masse des geistlichen Schrifttums zeigt ebenso die lebenswirksame Macht des Christentums wie Bedürfnisse, denen sich die christliche Verkündigung und ihre Vertreter zu stellen hatten. Über die maßgeblich vom christlichen Erbauungsschrifttum getragene
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Vgl. das bekannte Werk von Jean Delumeau: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts. 2 Bde. Reinbek b. Hamburg 1985 (Rowohlt-Taschenbuch 7919/7920). Vgl. Ferdinand van Ingen: Vanitas und Memento Mori in der deutschen Barocklyrik. Groningen 1966: zur Tradition Rainer Rudolf: Ars moriendi. Von der Kunst des heilsamen Lebens und Sterbens. Köln-Graz 1957 (Forschungen zur Volkskunde 39); Luise Klein: Die Bereitung zum Sterben. Studien zu den frühen reformatorischen Sterbebüchern. Diss. Göttingen 1959; sehr ergiebig Rolf Hartmann: Das Autobiographische in der Basler Leichenrede. Basel-Stuttgart 1963; Rudolf Mohr: Protestantische Theologie und Frömmigkeit im Angesicht des Todes während des Barockzeitalters, hauptsächlich auf Grund hessischer Leichenpredigten. Diss. Marburg 1964.
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Literatur- und Mentalitätsgeschichte des Todes liegt mittlerweile, wie bekannt, eine Fülle von Darstellungen und Untersuchungen vor.4 Als damit nicht identisch, wenngleich als in mancher Hinsicht nahestehend bzw. konkurrierend erweist sich eine lyrische Schreibtradition, der ich mich im folgenden zunächst zuwenden möchte: dem Gedichttypus mit der topischen Überschrift De se aegrotante. Dieser Typus hatte seit dem Renaissancehumanismus, d. h. zunächst in lateinischer Sprache einen beachtlichen Anteil am Erscheinungsbild und Themenradius zahlreicher Gedichtsammlungen. 5 Der strukturelle Zusammenhang dieses lyrischen Genres war gewährleistet durch seinen autobiographischen Aussagemodus und durch die gleichbleibende situative Voraussetzung der lyrischen Rede. In ihr setzt sich ein dichtendes Ich mit dem - wie auch immer authentischen - Erlebnis seiner Erkrankung und des körperlichen Leidens auseinander. Für eine literatur- und mentalitätsgeschichtliche Einordnung ist die Tatsache bemerkenswert, daß derartige Gedichte über das kranke Ich in der frühen Aufklärungsepoche aus dem poetischen Kanon weitgehend verschwanden und später eigentlich nur bei Heinrich Heine - in der Parodie etablierter Aussagemuster - noch einmal aufgegriffen wurden.6 Das von Leibniz und Christian Wolff formulierte Denkpostulat der »besten aller Welten«, der damit korrespondierende Glücks- und Vollkommenheitsanspruch des individuellen Lebensvollzugs, auch die Tabuisierung des Übels zugunsten einer von der Verstörung des Subjekts absehenden Erschließung der irdischen und kosmischen Harmonie ließen offensichtlich gegen Mitte des 18. Jahrhun-
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A m bekanntesten, jedoch für die deutschen Quellen weniger von Belang: Philippe Aries: Geschichte des Todes (franz. 1978). München 1982 (dtv-Taschenbuch 4407); als anregend. jedoch nicht historisch ausgerichtet, oft auch eher assoziativ verfahrend erweist sich das Buch von Thomas H. Macho: Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung. Frankfurt/M. 1987 (edition suhrkamp 1419); einen Querschnitt bieten Hans Hellmut Jansen (Hg.): Der Tod in Dichtung. Philosophie und Kunst. Darmstadt 21989; Paul Richard Blum (Hg.): Studien zur Thematik des Todes im 16. Jahrhundert. Wolfenbüttel 1983 (Wolfenbiitteler Forschungen, Bd. 22); dazu immer noch aufschlußreich die älteren Arbeiten von Walter Rehm: Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik. Halle/S. 1928 (Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Buchreihe. Bd. 14); Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert: Das Problem des Todes in der deutschen Lyrik des 17. Jahrhunderts. Leipzig 1931;ders.: Der triumphierende und der besiegte Tod in der Wort- und Bildkunst des Barock. Berlin 1975; weiterführend die Arbeiten zur Leichenpredigt, vor allem (neben Maria Fürstenwald, Sibylle Rusterholz und Eberhard Winkler) die drei von Rudolf Lenz herausgegebenen Bände: Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften. Bd. 1 - 3 . Köln. Wien 1975-1984. Nicht berücksichtigt ist diese Traditionsbindung bei der kursorischen Behandlung von Krankheitslyrik (u.a. zu Gryphius) in dem Werk von Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 2. Konfessionalismus. Tübingen 1987. S. 8 9 - 1 2 6 (»Arzneikunst in Not und Poesie als Medizin«). Vgl. Wilhelm Kühlmann: Abschied von der »Sterbekunst« - Heinrich Heines Briefe und Gedichte aus der »Matratzengruft«. In: Der Tod in Dichtung. Philosophie und Kunst, wie Anm. 4. S. 327-336.
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derts das Leiden des mit seiner versagenden Natur konfrontierten Ichs nicht mehr poesiewürdig erscheinen, 7 - sieht man ab von Randzonen des geistlichen Schrifttums und dem psychosomatischen Problemkomplex der Melancholie. 8 Insofern haben wir es mit einem lyrischen Textcorpus zu tun, an dem sich nicht nur, wie schon lange gefordert," die Konstanz thematischer und genrespezifischer Traditionen über die lateinisch-deutsche Sprachgrenze hinaus erforschen läßt, sondern auch der epochenspezifische Wechsel literarischen Aussageverhaltens, literarischer Gestaltungsschwerpunkte, Bewußtseinslagen und Wirkungsansprüche verfolgt werden kann: im Spannungsfeld humanistischer und >barocker< und in der Konkurrenz eher säkular-diesseitiger und entschieden christlich-transzendenter Bewältigung von Krankheitserfahrungen.
Als Ausgangspunkt eines analytischen Vergleichs bietet sich Andreas Gryphius' zu Recht berühmtes Sonett Threnen in schwerer Kmnckheit an (Erstdruck 1643; datiert 1640). Es gehört zu einer Gruppe thematisch verwandter Sonette, in denen weniger der mögliche biographische Anlaß als der Impuls zu meditativer Reflexion zum Ausdruck kommt, der sich für den Dichter Gryphius offensichtlich mit Krankheitserfahrungen verband. Das Gedicht lautet:10
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Für die Schwundform des Typus ist wohl exemplarisch Friedrich von Hagedorns »In einer schweren, oft schmerzhaften Krankheit«: Abdruck in: F. v. H.: Gedichte. Hg. von Alfred Anger. Stuttgart 1968 (Reclams UB 1321-23), S. 170, - oder Christian Friedrich Daniel Schubart: »An meine Gattin. In einer Krankheit« (1778). In ders.: Sämmtliche Gedichte. Zwei Bde. Frankfurt/M. 1829. hier Bd. II. S. 162-165; sehr traditionell dagegen noch Nikolaus Dietrich Giseke: In einer langwierigen schweren Krankheit. In ders.: Poetische Werke. Hg. von Carl Christian Gärtner. Braunschweig 1767, S. 84. Über die einschlägige Forschung unterrichtet Wolfram Mauser: Melancholieforschung des 18. Jahrhunderts zwischen Ikonographie und Ideologiekritik. Auseinandersetzung mit den bisherigen Ergebnissen und Thesen zu einem Neuansatz. In: Lessing Yearbook XIII (1981), S. 253-277; zum weiteren Umkreis jetzt die referierenden und bibliographischen Beiträge in der Zeitschrift »Das achtzehnte Jahrhundert«. Jahrgang 14. Heft 2 (1990): »Die Aufklärung und ihr Körper. Beiträge zur Leibesgeschichte im 18. Jahrhundert«. Karl Otto Conrady: Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts. Bonn 1962 (Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur 4), S. 267: »Die Linie der Lyrik in Deutschland verläuft nicht über Hans Sachs zu Opitz, sondern über Celtis, Eoban Hesse. Petrus Lotichius Secundus. Schede Melissus und Posthius ins 17. Jahrhundert. Es bedürfte gesonderter (dringend erwünschter), umfangreicher Einzeluntersuchungen, auch die thematischen Verflechtungen freizulegen und zu beschreiben. Erst nach Erfüllung dieser Aufgabe wäre die Gültigkeit der Behauptung vom Zusammenhang der Lyrik beider Jahrhunderte ganz erwiesen.« Andreas Gryphius: Sonette. Hg. von Marian Szyrocki. Tübingen 1963 (Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke, Bd. 1). S. 59; vgl. hier auch die thematisch verwandten Gedichte S. 8f„ 60f. und 78.
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Threnen in Schwerer Kranckheit MJr ist ich weis nicht wie / ich seufftze für vndt für. Ich weine tag vndt nacht / ich sitz in tausend schmertzen; Vndt tausendt fürcht ich noch / die krafft in meinem hertzen Verschwindt / der geist verschmacht / die Hände sincken mir. Die wangen werden bleich / der schönen äugen zier Vergeht / gleich als der Schnee der schon verbrandten kertzen Die Seele wird besturmbt gleich wie die see im mertzen. Was ist dis leben doch! was sindt wir / ich vnd ihr? Was bilden wir vns ein! was wündtschen wir zu haben? Jtzt sindt wir hoch vndt gros / vndt morgen schon vergraben: Jtz blumen / morgen kott / wir sindt ein windt ein schäum. Ein nebel / eine bach / ein reiff / ein taw' ein schatten. Jtz was vndt morgen nichts / vnd was sind vnser thaten? ein mitt viel herber angst durchaus vermischter träum.
Wolfram Mauser hat den Text im größeren Zusammenhang der vanitas-Topik gültig interpretiert und unter anderem die heilsgeschichtliche Botschaft der Verse herausgearbeitet." Freilich ist von Heil nicht ausdrücklich die Rede, vielmehr geht es dem Autor zunächst nur um die Evokation der emotionalen Erschütterung und der geistigen Verunsicherung, die durch »tausend Schmerzen« hervorgerufen werden. Vergleicht man dies Gedicht mit geistlichen Liedern des 16. Jahrhunderts, fällt auf, daß die im Christusglauben angelegte Heilshoffnung nicht mehr ausgesprochen wird.12 So entspricht etwa ein autobiographisches Pestlied (1519) Zwingiis (Ein Christenlich gscitig gesteh durch Η. Z. als er mit pestilentz angriffen ward)13 ganz und gar nicht der bei Gryphius zu beobachtenden Textstrategie. Zwingli gliedert sein Gedicht in drei Teile: »Im anfang der kranckheit - In miten der kranckheit - Jn der Besserung«. Im Mittelteil findet sich auch hier die von Gryphius im Sonetteingang ästhetisch intensivierte Diagnose: »Wee vnd angst faßt / min seel und lyb.« Doch diese Feststellung ist eingerahmt von der Bitte um Gottes Trost, von der Gewißheit der Erlösung und der Hoffnung auf göttliche Gnade. Christus soll in der Anfechtung der Krankheit für den Leidenden den Kampf
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Wolfram Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert. Die >Sonette< des Andreas Gryphius. München 1976, bes. S. 138ff.; ders.: Was ist dies Leben doch? Z u m Gedicht »Thränen in schwerer Krankheit« von Andreas Gryphius. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 1. Renaissance und Barock. Hg. von Volker Meid. Stuttgart 1982 (Reclame UB 7890), S. 2 2 3 - 2 3 0 . Z u m Vergleich s. etwa die bei Philipp Wackernagel (Hg.) abgedruckten Lieder: Das deutsche Kirchenlied [...], Dritter Band. Leipzig 1870: Nr. 840, 866, 1259: Vierter Band. Leipzig 1874: Nr. 176, 674, 678, 790, 1294/Weiteren Aufschluß geben die Sachregister! Hier zitiert nach: Deutsche Literatur des 16. Jahrhunderts. Hg. von Adalbert Eischenbroich. Zwei Bde. München usw. 1981, Bd. I, S. 64f.; vgl. Andreas Walther: Zwingiis Pestlied. Ein Beitrag zur Dogmengeschichte der Reformationszeit. In: Neue kirchliche Zeitschrift 12 (1901), S. 813-827; Oskar Fahrner: Huldrych Zwingli. Seine Entwicklung zum Reformator 1506-1520. Zürich 1946, S. 347-376.
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führen. In diesem Anruf ist bereits der Anhaltspunkt für die Perspektive auf »besserung« gegeben, auf ein Leben, das freilich auf den Tod als >der Sünde Sold< unweigerlich zuläuft. 14 Trotz solcher Gewißheit aber stellt Zwingli die Auseinandersetzung mit der Krankheit als einen nicht aussichtslosen Kampf dar, in dem die Glaubensenergien des Ich geweckt, mit der körperlichen auch die moralische restitutio in integrum< nicht ausgeschlossen wird und zuletzt gar das »fröhliche« Ertragen von »trutz und boch in dieser wält«, also eine Stärkung des von geistlichem Trost ermutigten Willens zur Selbstbehauptung angesagt ist. Von Gryphius dagegen werden nicht Heilshoffnung und Kampfbereitschaft beschworen. Vielmehr macht er Front gegen eine offenbar als bedrohlich empfundene, weil im eigenen Ich angelegte säkulare Einstellung zur Welt. Gerade in der genuin lutherischen Tradition und gerade in Predigten zu Katastrophen und Seuchen hatte die Polemik gegen das »sichere Leben« des >Weltmenschen< einen festen Platz: das sichere Leben derer, die, im Alltag religiöser Sinngebung nicht bedürftig, nicht Geduld und Frömmigkeit oder gar Rechtgläubigkeit demonstrieren wollten, sondern sich in >SicherheitExperientznatürlichen< Menschen, mit dem Menschen, soweit er nur Natur ist. Seine Hinfälligkeit bildet sich hier nicht in der biblischen Geschichte ab, sondern in jener - u. a. durch die Psalmen vermittelten - Metaphernreihe (V. 11/12), in der nicht die schöne Ordnung der natürlichen Dinge, sondern ihre Vergänglichkeit herausgestrichen ist. Die fatale Vergänglichkeit der Dinge als Prinzip universaler Naturgesetzlichkeit begrenzt dogmatisch den
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Zur Rolle der Krankheit im Zusammenhang einer Theologie der Sünde vgl. das äußerst aufschluß- und materialreiche, auch für Gryphius belangreiche Werk von Endre Zsindely: Krankheit und Heilung im älteren Pietismus. Zürich-Stuttgart 1962, bes. S. 53ff. Krieg, Teuerung und Pest sind als Strafe Gottes und Vorboten des jüngsten Gerichts exemplarisch z.B. behandelt bei Cyriacus Spangenberg: Historia von der flechtenden Kranckheit derPestilentz [...]. o . 0 . 1 5 5 2 ; hier auch die Vorrede von Nicolaus Gallus (fol. A ij v.): »Der andere teil [der Menschen - W. K ] als auff unser Seiten / bessert sich sein fast nichts uberal / viel missbrauchens noch zum schantdeckel jrer Sünde / oder zum sicherern leben ...«; Krankheit und Not sind Erziehungsmittel zum rechten Glauben, denn: »Die Menschen sind in der Wahrheit allezeit sicher, meinen, es werde immer also bleiben und kein Noth, noch Fahr haben.« So Luther: Tischreden. WA. 6. Bd. Weimar 1921, Nr. 6579, S. 53: vgl. auch ebd. S. 33 sowie Luther: Briefwechsel. WA. 12. Bd.. S. 188.
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Spielraum der Ich-Aussprache. 16 Diese aber zielt - latent polemisch - auf die anthropologische Selbstverständigung im Horizont säkularer Gottlosigkeit. Die Frage nach der Substanz »dieses« Lebens (V. 8) - suggestiv wird das andere, das jenseitige Leben vorausgesetzt, aber nicht genannt - denunziert grundlegende Überzeugungen und Verhaltenssicherheiten des modernen Menschen. In der Krankheit und durch sie scheint widerrufbar, was in Wahrheit moderne Personalität charakterisiert: der Stolz auf die eigene Leistung, die sich in Taten manifestiert (»und was sind unser Thaten?«, V. 14), mehr noch: die Art und Weise, wie sich dieses Ich in seinen Wünschen und in seiner Phantasie als Subjekt der eigenen Weltorientierung entwirft (»Was bilden wir uns ein! was wünschen wir zu haben?«, V. 9). Emotionale und gedankliche Spontaneität der »Einbildung«, Selbstbehauptung durch Aneignung und Besitz, dadurch die Kategorien einer über gewöhnliches Maß hinausreichenden Position des Ich in der Welt (»hoch und groß«) verfallen dem Gestus der in der Drohung des Todes enthaltenen metaphysischen Entwertung. Die kreatürliche Angst vor dem Tod, in dem sich in der poetischen Überredungskunst des Autors die Sinn- und Aussichtslosigkeit individueller Selbstbemächtigung unwiderleglich begründen lassen soll, umkreist letzthin nur ein einziges Argument: die Zukunftslosigkeit und Diskontinuität jeder Art von Selbstverwirklichung eines endlichen Wesens. Es gelingt Gryphius, diese - von heute aus gesehen - Dürftigkeit der Grundargumentation deshalb zu verschleiern, weil die Evidenz des kranken Körpers und die entsprechenden Reflexe des Bewußtseins so geschildert werden, daß das ästhetisch eindrucksvolle Bild der Betroffenheit und mentalen Erschütterung störende Argumente ausblendet. Nicht zuletzt darin lag offensichtlich die auffällige Attraktivität des Krankheitsthemas für Gryphius, daß am Beispiel des kranken Menschen die Hoffnung auf ein nach Maßgabe von Glück und Erfolg gelingendes Leben, damit aber die im Ich wirksame Dynamik der anthropologischen und sozialen Säkularisierung zurückzudrängen war. Daß der Dichter damit zugleich die Möglichkeit ausschlug, sich auch noch in Krankheit und Tod individueller Lebensleistung zu vergewissern, illustriert kontrastiv die fast gleichzeitig entstandene Grabschrift Paul Flemings, in der dieser kurz vor seinem Tod die Bilanz der eigenen Existenz im Symbol des gelungenen Werks zusammenfaßte. 17 Was für Gryphius zu zeigen ist, gilt generell für den lyrischen Typus De se aegrogante. Nicht der Gegenstand und der Anlaß des Textes per se bestimmten den Aussagecharakter der Gedichte. Die drastische Schilderung des Siechtums hat vielmehr argumentative Funktionen im Zusammenhang einer poetischen Botschaft, die - noch in der Dialektik verweigerter Autonomie - auf die mög16
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Zur Funktion der vanitas-Topik im sozialen Zusammenhang vgl. die zweifellos zutreffenden Ableitungen von Wolfram Mauser: Dichtung. Religion und Gesellschaft, wie Anm. 11, S. 119ff. Vgl. Wilhelm Kühlmann: Sterben als heroischer Akt. Zu Paul Heinings »Grabschrift«. In: Gedichte und Interpretationen, wie Anm. 11, S. 168-175.
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liehe Rollenidentität des Subjekts abzielte, eine Rollenidentität, die soziale Werthierarchien implizierte. Gryphius wollte am Porträt des Leidenden religiöse Heilsbedürftigkeit demonstrieren, ohne - im Vernichtungskreislauf der zur >vanitas< verdammten natürlichen Existenz der Welt und des Menschen - den Christus medicus1* unmittelbar erfahren zu können. In Opposition zu moderner Lebens-Sicherheit bejahte und begriff Gryphius - in der Interdependenz von Leiden und Heil19 - die Krankheit so, wie es Blaise Pascal dogmatisch prägnant konstatierte: »les maux de mon corps ne sont autre chose que la punition et la figure tout ensemble des maux de l'äme.« 20 Der psychosomatische Verismus wird hier deutlicher in eine religiös-metaphysische Meditation umgeformt als in früheren Sonetten, wo die Elemente der Valediktionsrede im Angesicht des Todes, also auch die schmerzliche Vergegenwärtigung sozialer Beziehungen (An die umbstehenden Freunde) eine bedeutende Rolle spielt.21 Daß Gryphius nicht auf eine Traditionslinie einschwenkt, die vor allem auf den sechsten Psalm rekurriert, also den Charakter des Gebets betont (»Miserere mei Domine, quoniam infirmus sum...«)," hängt damit zusammen, daß in seinen Krankheitsgedichten trotz lutherischer Vanitas-Protreptik der humanistische Typus der lebensgeschichtlichen Momentaufnahme bzw. krisenhaften Selbstvergewisserung und die Gattungstradition der Klage immer noch lebendig waren. Wenn Gryphius ein Sonett aus dem Jahre 1636 Trawerklcige des Autors / in sehr schwerer Kranckheits nennt, so bleibt trotz der unantiken Form offensichtlich die Aussagehaltung der Elegie, also die seelische Bewegung der klassischen >querimonia< bzw. >miseratio< erhalten.24 Zwar ist es richtig, 18
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Dazu Martin Honecker: Christus medicus. In: Der kranke Mensch in Mittelalter und Renaissance. Hg. von Peter Wunderli. Düsseldorf 1986 (Studia humaniora, Bd. 5), S. 2 7 - 4 3 . Zu dieser zentralen Denk- und Sinnfigur des »barocken« Jahrhunderts vgl. Mauser: Dichtung. Religion und Gesellschaft, wie Anm. 10, S. 152ff. Das Zitat aus Pascal: Priere Pour Demander de Dieu Le Bon Usage Des Maladies. In: ders.: (Euvres Completes, ed. Jaques Chevalier. Paris: Gallimard 1954 (Bibliotheque de la Pleiade 34), S. 605-614, spez. S. 609. Gryphius: Sonette, wie A n m . 10, S. 60f.; zur poetischen Valediktionsrede des »Dahinsterbenden« an die Freunde vgl. aus dem neulateinischen Bereich beispielhaft ein Gedicht des Domenicus Baudius (1561-1613): »Alloquium moribundi ad Amicos«. In ders.: Poemata. Nova editio et prioribus Auctior. Amsterdam 1640, S. 4 7 - 5 3 : Referat bei Ellinger; Bd. II, wie Anm. 26; S. 164. Vgl. die Verarbeitung dieses Psalms bei Hermann Hugo S. J.: Pia Desideria. Nachdruck der Ausgabe Antwerpen 1632. Hg. von Ernst Benz. Hildesheim-New York 1971 (Emblematisches Cabinet, Bd. 1), S. 19-29, (Lib. I. 3) mit dem Kommentar des Verfassers. Gryphius: Sonette, wie Anm. 10. S. 8. Zu diesem schon antiken Verständniskonzept - neben der Tradition der erotischen Elegie - s. im einzelnen Walther Ludwig: Petrus Lotichius Secundus and the Roman Elegists: Prolegomena to a Study of Neo-latin Elegy. In: Classical Influences on European Culture A . D . 1 5 0 0 - 1 7 0 0 . Ed. by R . R . Bolgar. Cambridge 1976, S. 171-190 (spez. 174-177); abgedruckt auch in W. Ludwig: Litterae Neolatinae. Schriften zur neulateinischen Literatur. Hg. von Ludwig Braun u. a. München 1989 (Humanistische Bibliothek, Reihe I. Abhandlungen, Bd. 35), S. 202-217.
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wie Erich Trunz hervorhob, daß Gryphius' Krankheitsgedichte als Sonette auf entsprechende und in ihrer Art beeindruckende, teilweise von Martin Opitz übersetzte Vorbilder der französischen Pleiade zurückweisen: Ronsards Derniers vers und Desportes' Zyklus De la mort vor allem.25 Doch hinter und teilweise neben allen muttersprachlichen Versionen wirkte das lateinische Vorbild, d.h. in und durch alle Varianten der europäischen Renaissancedichtung gleichsam als Prototyp des Genres vorab Tibulls dritte Elegie des ersten Buches, daneben auch Ovid, Trist. III, 3. Hierauf bezogen sich die in >imitatio< und >aemulatioPoliceyhumanitashumanitas< und sozialer Wirklichkeit. Aus der satirischen >indignatio< über diese Diskrepanz erwächst die aggressive Haltung des Autors. Sie setzt sich fort im letzten Teil des Gedichts ( V. 1 lOff.), in dem - ein höchst sensibler Argumentationsbereich - die theologische Deu-
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Ich konnte ihn bisher aus der mir zugänglichen lokalgeschichtlichen Literatur nicht identifizieren. Ob Chytraeus' spätere Gegner, die ihn wegen »Kryptocalvinismus« vertrieben, zu der Zeit des Gedichts schon in Rostock wirkten, weiß ich nicht. In Frage kommen ggf. D. Schacht, Prof. der Theologie und Archidiakon an St. Marien, und Lucas Bacmeister, ebenfalls Theologieprofessor und Pastor an St. Marien; nach M. Krey: Andenken an die Rostockschen Gelehrten aus den letzten lahrhunderten. Zweites Stück. Rostock 1815. S. 36-40, spez. S. 38.
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tung und Bewältigung der Seuche zur Sprache kommen. In offenkundiger Anspielung auf einen Rostocker lutherischen Geistlichen49 attackiert Chytraeus borniertes Gottvertrauen, in dem Frömmigkeit zum Vorwand für Tatenlosigkeit verkommt. Mit der fiktiven Rede »Buffalions«, der den drohenden Tod in floskelhafter Katechese und mit billigen Trostparolen bewältigen will, wird eine Konvention geistlicher Rede gebrandmarkt, die außer Acht läßt, worauf Chytraeus Wert legt: Die Bedeutung der Kategorie des »Nützlichen« für die Steuerung menschlichen Handelns und die Synthese von wahrer Frömmigkeit und weltimmanenter »Klugheit« (V. 141: »prudentia sancta«). Das Publikum und der Angegriffene dürften bemerkt haben, daß Chytraeus in der Opposition von blindem Gottvertrauen und praktischer Sorgfaltspflicht der Verantwortlichen zum Teil wörtlich auf den >locus classicus< der protestantischen Pestliteratur anspielte, nämlich auf Luthers Behandlung der Frage Ob man vor dem Sterben fliehen möge (1527).50 Luther hatte, in offenkundigen argumentativen Schwierigkeiten, eine Kasuistik der moralischen und sozialen Verpflichtungen für die von der Pest Betroffenen entwickelt, die Möglichkeit sozusagen regungs- und aktionslosen Gottvertrauens eingeräumt, aber nicht verabsolutiert. Im Schlußteil seiner Epistel entnimmt Chytraeus dem Lutherschen Gutachten die modellhaften Paradigmen und Paradoxa, an denen sich die natürliche Reaktion des Menschen und sein natürliches Recht auf Selbsterhaltung demonstrieren ließen. Der lutherische Prediger sollte mit den Waffen des Reformators geschlagen werden." Die Erfahrung der Pest bildet für Chytraeus den Anstoß zur Änderung des privaten und öffentlichen Lebens, einer »emendatio vitae« (V. 175). Die Seuche ist kein Gegenstand frommer Meditation und geistlicher Exerzitien, sondern die Gelegenheit, den Freiraum auszumessen und durch die Tat zu bekräftigen, der dem einzelnen auf Grund seiner >humanitas< trotz der Unausweichlichkeit des Übels zukommt. Ob sich in dieser Haltung des Autors bereits Konflikte andeuten, die ihn später zur Konversion zum Calvinismus veranlaßten, wäre weiter zu überprüfen. Nicht nur für die Deutung der einzelnen Gedichte, sondern gleichermaßen für eine ordnende und historisch gewichtende Bestandsaufnahme der Leidens- und Krankheitslyrik des deutschen Kulturraums in ihrer thematischen und formalen Bandbreite ist literatur- und mentalitätsgeschichtlich noch viel zu tun. Es dürfte klar geworden sein, daß globale Begriffsraster wie etwa die Subsumierung auch dieser Lyrik unter die Epochensignaturen des Konfessionalismus das komplexe literarische Bild des 16. und 17. Jahrhunderts verzerren.
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Vgl. Martin Luthers Werke. Weimarer Ausgabe. 23. Bd. Weimar 1901, S. 3 3 7 - 3 8 6 (mit den Anmerkungen). Vgl. ebd. S. 347 (der natürliche und biblisch gerechtfertigte Trieb der Selbsterhaltung); S. 352 (Vergleich mit dem brennenden Haus); S. 365 (Warnung. Gott nicht zu versuchen).
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1. PETRUS LOTICHIUS SECUNDUS: Elegiarum Liber I, Elegia VI.: AD MICHAELEM BEUTHERUM: De se aegrotante Zitiert nach: Petrus Lotichius Secundus: Poemata Omnia. Ed. Petrus Burmannus Secundus. Tom. MI. Amsterdam 1754, hier Tom. I., S. 42-50
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l a m tepet a Zephyris iterum spirantibus aer, Blandaque purpurei tempora veris eunt. Fugit hiems adoperta gelu, Boreaeque furentis Frigore concretas Sol liquefecit aquas. A l m a parens laeto se vestit cespite tellus. Arbor & umbrosas induit alta comas. Et nemorum solamen avis sub fronde latentem Unguibus & docili construit ore larem. Agricolamque seges molli delectat in herba, Heu seges hie domino non resecanda suo! Sed trueis hoc belli vitium est. frugesque recentes Praedator celeri proterit Hunnus equo. Vere nitent sulci, ver mollibus utile pratis: Natus & aprici tempore veris Amor, Cultus ager pecori victum, custodibus umbram Sufficit herbosi vallis opaca soli. Dumque levi tenerum meditatur arundine carmen Pastor. & alternis ludit avena modis: Luxuriant saliuntque greges, & saepe canentis Rustica balatu carmina rumpit ovis. Interea tacitos calor ossibus excitat ignes, Ipsaque cum tota corpora mente vigent. Ergo erat, ut patriam (reditum si fata dedissent) Hiberno peterem non remorante gelu. Aut doctis viridi Musis operatus in aevo. Niterer ingenio nomen habere meo. Forsitan & nitidos olim pro casside crines Ambiret foliis laurus odora suis. Nunc iaceo cunctis defectus viribus aeger, Solus, in ignotis, miles inopsque locis. Omne perit iuvenile decus, totumque perurit Immensus lateris. non sine febre, dolor. Deficit & ducens vitales spiritus auras. Oraque vix praestant arida vocis iter. Scilicet haec mortis dantur mihi signa propinquae. Viximus: exacto tempore, fata vocant. A t non hoc olim puerum sperare iubebat Fatidico Celebris Noricus ore senex. Sed fore qui seros famam proferret in annos. Sacraretque alta nomen in arce suum. Astra fefellerunt. primoque in flore iuventae Auferor. heu. fallax & breve vita bonum! Non mihi iam patriae superest spes ulla videndae, Manibus haec tellus est habitanda meis. Ergo nec in nota saltern regione quiescam. Nec monumenta meum corpus avita tegent? Qua pater ilicibus ripam praetexit & alnis
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Cynthius, & leni murmurat unda sono. Ο mihi si gelidae, rigui de f o n t e petitus Acidis, has fauces haustus inundet aquae! Q u a m iuvat herboso versare in cespite corpus! Ο ripae medio dulce cubile die! Frigida Pegasides vestro date pocula vati, Utilis & rapido m e levet igne liquor. Ferte salutiferas herbas, & si qua per orbern Gramina Paeoniis usibus apta virent. M e miserum, quanto succensus torqueor aestu! Q u a m rapidos ictus sentit utrumque latus! Nee cibus ora juvat, nee mulcet lumina somnus, Astra licet prono fessa Boote cadant. Cuncta silent, carpunt hominesque feraeque soporem, Densaque compositas occulit arbor aves. Sola dolet m e c u m , nostras imitata querelas. Et plenum gemitus dat Philomela sonum. Hortorumque sedens vicinis abdita ramis, Arguto varios integrat ore modos. Carminibus sua fata levat felieior ales Daulias: invalido nil opis ilia ferunt. Nil artes herbaeque valent, succique potentes: Nil placidum coeli tempus & aura iuvant. Testor, amice, Deos, fortunatosque piorum Vos adeo manes, Elysiumque nernus. Non ego, quod rapior primis inglorius annis. Fata moror, quamvis vivere dulce foret. Tu facis, ah miseranda parens, tua serior aetas, Tempus in exiguum cur superesse velim. Ne tanti tibi morte mea sim caussa doloris. Et desolatae certa ruina domus. Si tarnen importuna feret me Parca, leguntque Ultima fatales hie mihi fila Deae: Officium saltern tumulo largire supremum. C u m repetes patriae, culte poeta, solum. Ossaque praeteriens ne calcet operta viator, Fac lapis inscriptis indicet ilia notis. Et duo sint versus: HIC MILITIS O S S A S E C U N D I , IPSAQUE, PRO PATRIA Q U A E TULIT, A R M A JACENT. Perfer & haec miserae mandata novissima matri, Ne violet lacrimis gaudia nostra suis. Nee tibi apud Superos sit vilis f a m a sepulti, Floreat in libris sed diuturna tuis. Illam post obitus, lucis solamen ademtae. Si mereor, cineres spem sine ferre meos. Tunc ego non Pario caesum de marmore bustum, Gentis odoriferae nec mihi dona velim. Sed laetus pietate tua, divisa beatis Manibus Elysii sancta vireta colam. A r e n t e m q u e sitim relevans felicibus undis, Ipsius ex vitae fonte perenne bibam. Cara vale genetrix, & tu germane, sororque, Et m e m o r absentis si quis amicus eris. Tuque loci, vates, consors natalis, & aegro Terra mihi patriae non repetenda, vale.
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Übersetzung nach: Des P. Lotichius Secundus Elegieen. Aus dem Lateinischen übersetzt von Ernst Gottlob Köstlin [...], herausgegeben von Friedrich Blum. Halle 1826, S. 29-35.
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Mild ist wieder die Luft von der Zephyrn laulichem Anhauch, Und in dem purpurnen Lenz wiegt sich die heitere Zeit; Winter entfloh von Gestöber umsaust; und alle Gewässer. Jüngst vom Norde gelähmt, thauen an feurigem Strahl. Lieblicher Rasen umhüllet die freundliche Mutter, die Erde, Und mit schattigem Laub ragt der gebreitete Baum; Vögel, die Wonne des Hains, bau'n nun mit geschmeidigem Schnabel Und mit der Klau, ihr Haus unter dem bergenden Zweig; Ackerer freun sich der Saat, die weich aufsprossend umherwallt, Ach! doch ernten sie hier nicht die gereifete Frucht. Folgt j a dem Kriege der Fluch! Da malmet der plündernde Hunne Mit dem getummelten Roß' nieder die keimende Saat. Frühling schimmert aus Furchen, und Frühling kleidet die Wiesen; Amors schlummernde Macht wecket der sonnige Lenz, Heerden erquicket saftreiches Gefild, und die Hüter im Thalgrund Ruhn auf kühligem Gras unter dem Schattengebüsch. Während der Hirt ein Lied auf schmächtigem Rohre sich aussinnt. Und zu der R ö t e Getön mischet den hellen Gesang. Schwelgt frohtrippelnd die Heerd'; und oft durch hallende Lieder Drängt sich der heisere Laut blockender Lämmer hindurch. Aber indeß wühlt fiebrische Gluth durch meine Gebeine. Reget in Seel und Leib wechselnde Schauer empor. Hätt' ich die Heimath doch (so Geschick mir gönnte die Rückkehr) Auch kalt lähmenden Frost männlich bekämpfend, erstrebt! Wohl, vom Jüngling herauf ein Vertrauter belehrender Musen, Schuf ich in sinnendem Geist Werke für ewigen Ruhm; Oder ich trug vielleicht, statt eiserner Haube des Krieges, Lorbeers duftendes Laub über dem schimmernden Haar. Und nun lieg' ich erkrankt und gelähmt an den innersten Kräften Einsam, dürftig und fremd zwischen dem Lagergeräusch. Jugendglanz bleicht mählig dahin; bei herrschendem Fieber Quält mich unendlicher Schmerz, welcher die Seite durchglüht. Selber nach Luft, die stärkend belebt, ringt bänglich der Athem, Schwer drängt Stimme sich vor aus dem vertrockneten Mund. Sichere Zeichen fürwahr! des behend annahenden Todes. Habe gelebet! die Zeit endet, es ruft das Geschick! Aber der Norische Greis, der gefeierte, hatte dem Knaben, Zukunftahnend vordem andere Dinge vertraut. Sieh! verkündet' er mir, dich preisen die späten Geschlechter, Und dein Denkmal strahlt einst in der Halle des Ruhms. Und nun täuscht das Gestirn, hin welk' ich im Lenze der Tage. Gabe des Lebens! wie kurz bist du, wie trügerisch nur! Jegliche Hoffnung schwindet, die Heimath wieder zu sehen; Künftig umirrt mein Geist diesen entfernten Bezirk. Also werd' ich auch nicht ausruhn in befreundeter Erde, Also decken auch nicht ahnliche Maale den Leib? Wo mein Vater gepflanzt Stecheichen an Cinthius Ufern, Der mit Erlen und Fluth holdes Gemurmel erregt. Ο daß Sprudel, geschöpft an bewässerndem Borne des Acis, Diesen vertrockneten Gaum letzten mit kühlendem Guß!
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Wie so behaglich, den Leib auf grasiger Wiese zu dehnen. Mittagsschlummer zu fahn neben dem säuselnden Bach! Musen! reicht den Pocal. den erquickenden, euerem Dichter, Daß dein Linderungs=Quell dämpfe die sengende Gluth; Reicht heilkräftige Pflanzen und einsam keimende Kräuter, Die Päonische Kunst suchet in Thal und Gebirg. Ich Elender verschmacht' an der dörrenden Flamme des Fiebers: Welch ein stechender Puls rieselt die Hüften hinab! Nahrung widert dem Gaum, kein Schlummer erquicket die Augen, Neige Bootes im Schwärm sinkender Sterne sich auch. Ringsum Schweigen und Schlaf, hold Menschen und Thiere betäubend, Vögel, zur Ruhe gesellt, hegt der umlaubete Baum. Nur Philomela, mit mir zu gemeinsamem Kummer vereinigt. Zieht langstöhnenden Hall aus der beklommenen Brust; Sitzet versteckt in dem dichtesten Baum angränzender Gärten, Stets aufs neue mit Macht schmetternd in wechselndem Ton. Klagruf mildert den Harm dem beglückteren Daulischen Vogel: Mir hinsiechendem, ach! schmeicheln die Lieder umsonst! Wirkungslos sind Kunst und Kraut und die edelsten Säfte, Unwohlthätig sogar Lenz und die kosende Luft. Mögen die Götter, ο Freund! und die Manen verstorbener Frommen Und der Elysische Hain zeugen: ich sträube mich nicht, Auch in des Lebens Beginn, ruhmlos zu den Schatten zu wandern, Wünschte der Jüngling gleich, länger die Sonne zu schaun. Du nur wirkst, ο Mutter! ja du Trostwürdige Greisin, Daß ich noch einige Zeit wünschte dem Leben zu weihn. Siehe, damit mein Tod nicht kränkenden Schmerz dir bereite, Nicht das verödete Haus sinke zu Trümmern dahin. Raffte die Parze mich hier feindselig, und drehten des Schicksals Göttinnen meines Gespinnst's äußersten Faden hinab: Letze sodann, zum Abschiedsgruß, mir den Hügel des Grabes, Wie du den Heimathgrund, lieblicher Sänger! betrittst; Und daß Wanderer nicht am Gebein hinschreiten mit Kaltsinn, Zeichne den Ort ein Stein, dem du die Worte vertraust, Nur zwo Zeilen: »das Grab des Lotichius. Neben der Waffe, Welche dem Lande gedient, schlummert der Krieger anitzt.« Melde du auch dies letzte Begehr der bekümmerten Mutter, Daß mit Thränen sie nicht unsere Freuden vergällt. Und dann ehre den Ruf des Verstorbenen unter den Menschen: Mög' er für und für blühen in deinem Gesang. Bin ich des Nachruhms würdig, des Trostes im düsteren Tode: Ο so schenke dem Staub diesen erquicklichen Trost! Und ich wünsche mir nicht aus Parischem Marmor ein Grabmal, Wollte des Weihrauchs nicht, welchen Arabien beut; Sondern bewohne sofort Elysiums heilige Fluren, Deiner beharrlichen Treu unten den Manen gedenk. Lösche den brennenden Durst aus heiterer Woge des Bornes, Welcher in seligem Thal ewig dem Leben entquillt. Mutter, gehabe dich wohl! Lebt wohl, ο Bruder und Schwester! Und ihr Freunde gesammt, die ihr des Fernen gedenkt. Heil dir Jugendgenoß, ο Sänger, und dir du geliebte Heimath, die das Geschick sehnlichen Wünschen entrückt.
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2. C O N T R A P E S T E M EPISTOLA SATYRICA NATHANIS C H Y T R A E I [...] ROSTOCHII A P U D I A C O B U M L U C I U M Anno M D L X X I I X Nach dem Einzeldruck; Exemplar in Konvolut der UB Freiburg, Signatur: D 8152 b; vorhanden auch in HAB Wolfenbüttel. Mit geringfügigen Abweichungen vor allem der Leseradresse auch abgedruckt in: Nathan Chytraeus: Poematum Praeter Sacra Omnium Libri Septendecim. Rostock 1579, S. 315-320. Zur Text wiedergäbe: Der Wechsel von u/v und i/j ist normalisiert; ß erscheint als ss; Ligaturen und Abkürzungen sind mit Ausnahme von »&« aufgelöst. Zwei offenkundige Druckfehler sind verbessert. [Leseradresse] L E C T O R I C A N D I D O S. Hie ego non unam gentemve urbemve, sed omnes Hoc ipso, si sint, nomine pungo reos. Non alios igitur, sed te quoque crede notari, Si labem hie videas, conscius ipse tuam. Quin illam emenda, licuit semperque licebit Parcere personis, dicere de vitiis. [Text] NATHANIS C H Y T R A E I EPISTOLA S A T Y R I C A C O N T R A PESTEM. A D D. A N T O N I U M W I T T E R S H E M I U M , IC. C L . E T P A T R O N U M S. observandissimum.
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Dum lue pestifera circumdamur undique. & oras Nunc etiam nostras pestis primordia tangunt. Vis scire ecquid agam? Antoni carissime Musis. Astraeae Themidisque decus, Suadaeque disertae: Accipe, ni grave sit, studiis, velut hactenus, omni Conatu incumbo, securus caetera, quamvis Paulo post ad me Ventura pericla videnti Neptunum procul e terra spectare furentem Forte esset satius. Sed quem fugiamve sequarve Nescio, tarn late cirum haec contagio serpit. Praeterea aegrotare foris cum coniuge. natis Et teneris. homini quam sit grave, triste, dolendum, Cuivis credibile est. his caros adde libellos, Quis sine vitalem despero ducere vitam. Aequo igitur promptoque animo cum coniuge fida, Cumque libris. totaque domo, natisque manebo, CHristo uno fretus, custos qui maximus olim Ut potuit. sie in mediis defendere flammis Iam quoque vult poteritque suos. Veruntamen idem Torqueor interdum. nonnunquam rideo miros Hoc sub sole homines, satis expurgare cicutae Quos nullae poterunt. decimus vix labitur annus. Cum saevam, immanem. et solo sermone tremendam
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Experti pestem, heu aliquot millena per urbes Amisere h o m i n u m , tantum exsuperante veneno. Quin multos, qui nunc vivunt, aggressa, fideli Indignos medicorum opera indignosque salute, Restitui pestis passa est, ut p o s t m o d o nossent C u m sibi, tum patriae, carisque cavere propinquis. Sed nihil effectum est, antiqua incuria, (dura Molliter ut dicam) cunctos tenet, inde venenum Spernitur, & nihili est, patet atrae ianua pesti, Q u a n d o c u n q u e volet certam hie sibi ponere sedem. Cur i t a p e r s u a s u m mihi sit, nisi displicet, audi. Optimus hie equidem est ipsisque Aquilonibus aer Pervius, & putridus non crebro obnoxius austris. Temperies coeli, ratione situsque loeique Non culpanda foret, nisi stulti insania vulgi Ipsam se infieeret, eunetis rationibus aures Turpiter occludens, atque ingeniosa sagaxque Perniciem in propriam, servari velle negaret. Si libet aspicito plateas, quam sordibus illae O m n i m o d i s sint infeetae. iam putre cadaver Anseris, aut suis, aut felis, capraeve canisve Olfacies mane impransus. mictum atque cacatum Ex olidis multos cernes erumpere cryptis, Una ubi c u m porcis (quis non porcescere dicat) Sunt geniti, facti, educti, pascuntur ibidem Turpis harae indigenae a pueris ad sera senectae Tempora, c o m m u n i sine sensu, & naribus orbi. Q u a s cryptas si praetereat quis mane, cloacae Halitus usque adeo taeter sentitur, ut ipse Miretur se non motu vel sensibus orbum Concidere, accepta ut plaga procumbit humi bos. Q u o d si olidis iterum obscoeni subiere cavernis, Pondere deposito; in vicis hinc inde trilibres Aspicies merdas, cognatis pabula porcis. Hinc vetula e f f u n d e n s lasanum f u m o s a loquaxque Prodit, & indigno refugit foetore relicto. Procede ulterius, iam te lutulenta premet sus, Iam vacca aut hircus. quin ipsis denique templis, Inque sepulchretis porcos errare videbis. Et voripernarum tumulos atque ossa (nefandum) Impune eruere, ut clades mortesque suilli Sic ulciscantur generis, quid docta lycea Iam tibi c o m m e m o r e m , quid castas Palladis arces? Sub quibus impuros turpes iam pascere scrofas Non pudet, usque adeo porcis sunt omnia plena, Excipiasque nisi bipedes, evicero, non tot Esse homines hie quot porci. numerare licebit, (Quid rides?) m e si dubites tibi dicere verum. Crede mihi, invenies, teque ipso iudice, multos. In quis, nil hominis, praeter vocemque oculosque Agnosces, corpusque illos sine peetore dices. Quin porcis mage degeneres quandoque videbis Non paucos. nam porcellos scrofa ipsa putatur Q u o s peperit, sic compleeti, & constanter amare.
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Ut f l a m m a s quoque per medias, per tela, per enses Irritata ruat, si quis fortasse tenello Vi noceat catulo. Verum hi, mirabile, porci, Quos bipedes modo dicebam, sine corde, voracem Exosi sobolem ablegant, ο turpe relatu! In loca pestifera, ut citius lethale venenum Imbibere, atque mori possint, patresque levare Impensis, quas turba fami indignata requirit. Verum si natos ista ratione liceret Tollere, cur illos idem non reste vel ense, (Tantundem est) tollis? minor est cruciatus in illis. Et mortis brevior via, quam si peste peribunt. Ο infelices cerebri, quos ipse Melampus Cum tribus Anticyris nulla sanaverit arte! Verum de porcis haec hactenus. altera labes Hanc sequitur, non dissimilis par paene priori: Quod pestis quoque cum rabies mire effera saevit, Nilominus tamen in templis extraque sepulchra Extinctis statuunt, plenisque cadavera acervis Accumulant; templum est cunctos commune sepulcrum. Atque adeo qui non sacram tumulatur ad aram. Is coelo excludi quoque creditur. ergo sepulcra In templis e f f o s s a patent noctesque diesque: Iuxta homines supraque sedent, dum sacra frequentant. Saepe etiam, quos non aliquot videre per annos, Correptos peste invisunt, ultroque salutant. Si velit ipsa Salus nequeat servare saluti Infensos propriae. vere sic mortua vivam Turba vorat: totis luctatur funera vicis: Campanum sonat aes semper, pluresque subinde Allicit admonitu, pallentes morte futura, Ut totam paulatim urbem Libitina peragret. Verum Buffalion, sapientum octavus, & inter Coecos non lusco absimilis, cum pestis inaudit Sic meminisse alios, irritamenta veneni Ut tollenda putent, neglecta incendia vires Sumere quod videant, non restinguenda labore Quantumvis magno, scintillam extinguere primam Cum minimus possit: cum, dico, talia inaudit Octavus sapiens, barba trepidante profatur: Cur me pestiferis properas arcere venenis? Nil opus est. Deus ipse suos custodiet, etsi Porcorum in stabulis degant, mediisve cloacae Latrinis. quem mors atris circumvolat alis Concedente Deo, nullum hunc apotheca, vel ullae Mundiciae poterunt subducere, terminus illi A fato fixus nulla evitabilis arte est. Usque adeone mori miserum? mors ultima meta Imponit curis finem finemque labori, Quam qui sustinuit praesenti peste peremptus, Hunc neque dira f a m e s , nec Turcicus auferet ensis, Non laterum dolor, aut tussis, non curva podagra. Dii tibi dent libram ellebori. si forte recuses; Dent pro sermone hoc tria tintinnabula calvo
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Gestamen capiti, cui tantum subsit acumen. Nil opus est risu, talem fert iure corollam. Qui sequitur nocitura, fugit, quae profore cernit. Attamen interea sapientum octave, roganti Auscultare mihi non sit grave, paucula dicam. Vult Deus & servare potest, Deus ille Deorum Omnipotens, qui cuncta videt, qui cuncta gubernat, A mediis non dependens causisque secundis. Quis negat hoc? nemo, verum Deus optimus idem Vult etiam ut q u a e d a m prudentia sancta periclum Declinet, non ut mediis iustisque piisque ( N a m q u e hi se indignos plane divina ope reddunt) Neglectis, vel de celsae te vertice turris Deiicias, cum per scalas descendere possis. Non pedibus te vult fluvios transire lacusque, Scapha tibi aut pontes cum sint: non denique rupem Aut fossam te vult praeter non ire patentem Sed te praecipitare, licet vicinia clamet, Hie fossa est ingens, hie rapes maxima, cepto Tramite desiste, & certum non quaere periclum. N u m . si aliquando tuum Vulcanus scandere tectum Incipiet, veterem f l a m m a incendente culinam. Dum ruere atque o m n e s ignern restinguere cernes, Tu superis fretus, socors segnisque sedebis, Aut etiam m a g n o insanus clamore vetabis, Ne dextram admoveant operi, q u a n d o omnia possint N u m i n a neglecto nobis praebere labore. Pulchre equidem sapies, lacrymoso non sine fine. Quid faciunt aliud? qui nullo muneris ipsos Urgente officio, nullo cogente, venenis Mortiferis sese obiiciunt, c u m vivere possint. Si tamen ilia animosa fides in pectore regnat Ο sapiens octave tuo, ut vel sponte perire Sic libeat: licitum esto tibi, non patria m a g n a m Iacturam faciei tali pereunte cuculo. Invitum servare nefas, morere ergo libenter. Dum solus pereas, nec totam audaculus u r b e m E x e m p l o inficias pravo dictisque silendis. Haec tibi dictabam, merito celebrande patrone. C u m nuper p r i m a e lethalia sernina pestis Hie sese exererent, paullatim & spargere virus Latius inciperent. quod nunc tamen optimus ille AEternusque parens miro compressit amore. Aut potius, nisi nos vitam e m e n d e m u s , in horas istulit haud multas. tu quae tibi mitto benigno Accipe & humano, velut accipis omnia, vultu. R O S T O C H I I , Ibid. Novernb. A N N O M. D. L X X V I I .
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Übersetzung (für Mithilfe danke ich Herrn Robert Seidel). Dem geneigten Leser einen Gruß. Hier bezeichne ich nicht ein Volk oder eine Stadt, sondern alle, wenn sie es denn sind, mit diesem und keinem anderen Namen: Schuldige. Glaube daher nicht, nur andere seien gemeint, sondern fühle dich ebenso angesprochen, wenn du selbst hier, schuldbewußt, deinen eigenen Makel siehst. Beseitige ihn vielmehr; es war immer erlaubt und wird immer erlaubt sein, die einzelnen zu schonen, aber über ihre Fehler zu sprechen! Während wir auf allen Seiten von einer verderbenbringenden Seuche umgeben sind und schon jetzt die ersten Ausläufer der Pest unser Land berühren, willst du wissen, was ich da mache, Anton, Liebling der Musen, Zierde der Astraea und Themis und der gewandten Suada? (5) Vernimm dies, wenn es dir nicht lästig ist: Den Studien bin ich wie bisher mit allem Eifer hingegeben, im übrigen sorglos, obgleich es vielleicht besser wäre für mich, der ich die Gefahr bald schon herannahen sehe, fern von diesem Lande dem wütenden Neptun zuzusehen. Doch wen ich fliehen oder wem ich folgen soll, (10) weiß ich nicht, so weit breitet sich die Seuche schon ringsum aus. Außerdem: In der Fremde krank zu sein mit der Gattin und den zarten Kleinen - wie schlimm, wie traurig, wie schmerzlich das für einen Mann ist, kann jeder verstehen. Nimm dazu die lieben Büchlein, ohne die ich am wahren Leben verzweifle. (15) Daher werde ich gleichmütigen und bereiten Sinnes mit der treuen Gattin, mit den Büchern, dem ganzen Hausstand und den Kindern hierbleiben, allein auf Christus vertrauend, der, wie er es einst vermochte, so auch nun als der große Beschützer die Seinen inmitten der Flammen schützen will und kann. Aber dennoch (20) ärgere ich mich auch bisweilen, und manchmal lache ich über die seltsamen Menschen unter diesem Himmel, die kein Schierling hinreichend wird kurieren können. Kaum vergeht das zehnte Jahr, seitdem sie die wilde, rasende und schon bei der bloßen Erwähnung zittern machende Pest erfahren und - ach - Tausende von Menschen in ihren Städten (25) verloren haben, und nur die Seuche obsiegte. Ja sogar viele von denen, die jetzt noch leben, hat sie angegriffen - unwürdig sind sie der treusorgenden Hilfe der Ärzte und unwürdig der Rettung - und hat es gestattet, daß sie wiederhergestellt würden, damit sie es später verstünden, für sich selbst, für die Heimat und die lieben Angehörigen Vorsorge zu treffen. (30) Aber nichts ist erreicht worden, die alte Sorglosigkeit - daß ich Schlimmes mit milden Worten sage! - hält alle gefangen. Daher wird die Seuche mißachtet und gilt für nichts, die Tür steht der schwarzen Pest offen, wann immer sie sich hier ein festes Lager aufschlagen will. Warum ich davon überzeugt bin, das vernimm, wenn es dir nicht mißfällt: (35) Das beste Klima herrscht hier, es läßt selbst die Nordwinde herein und ist dem fauligen Süd nicht häufig ausgesetzt. Die Wetterverhältnisse wären von der Beschaffenheit der Lage und des Ortes her nicht verantwortlich zu machen - wenn nicht das Volk in seinem törichten Wahnsinn selbst die Ansteckung vorantriebe, die Ohren vor allen Vernunftgründen (40) schmählich verschließend, und überschlau und besserwisserisch in sein eigenes Verderben stürzte und es ablehnte, sich retten zu lassen. Wenn es dir recht ist, so schau die Straßen an, mit wie vielfältigem Schmutz sie verseucht sind. Schon wirst du den faulenden Leichnam einer Gans oder eines Schweins riechen, einer Katze, eines Hundes oder einer Ziege - ( 4 5 ) morgens vor dem Frühstück! Du wirst viele sehen, die zum Pissen und Scheißen aus den stinkenden Gewölben hervorkommen, wo sie zusammen mit den Schweinen gezeugt - wer wollte nicht sagen: »zu Schweinen gemacht«? - , hervorgebracht, aufgezogen worden sind und sich ebendort auch ernähren, Bewohner eines schändlichen Kobens, von Kindheit an (50) bis in die spätesten Zeiten des Alters, ohne Gemeinsinn - und ohne Nasen! Wenn an diesen Gewölben einer morgens vorübergeht, zieht ihm solch ein widerlicher Geruch in die Nase, daß er sich wundert, nicht der Bewegung und der Sinne beraubt zusammenzubrechen, so wie ein Rind, das einen Schlag bekommen hat, auf die Erde fällt. (55) Wenn die schmutzigen Kerle dann wieder in ihre stinkenden Keller schleichen, nachdem sie ihren »Ballast« abgeworfen haben, dann wirst du in den Gassen überall drei Pfund schwere Scheißhaufen sehen, Futter für die Schweine, ihre Verwandten! Dort kommt eine
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verräucherte und geschwätzige Vettel hervor, leert ihren Nachttopf aus u n d verschwindet, ekligen Gestank zurücklassend. (60) G e h weiter, bald stößt dich ein kotbeschmiertes Schwein, bald eine Kuh oder ein Bock. Ja selbst in den Tempeln schließlich u n d auf den Friedhöfen wirst du Schweine u m h e r l a u f e n und in den Gräbern u n d Knochen der Schinkenverzehrer - scheußlich! - ungestraft herumgraben sehen, (65) die sich so für das Töten u n d Schlachten des Schweinegeschlechtes rächen wollen. Was soll ich dir noch von den gelehrten Schulen berichten, was von den reinen Burgen der Pallas, vor denen die schändlichen Kerle sich nicht mehr scheuen, ihre schmutzigen Säue weiden zu lassen; so sehr ist alles von Schweinen voll. Und wenn du nicht die zweifüßigen (sc. Schweine) ausnimmst, werde ich dir beweisen, (70) daß es hier nicht so viele Menschen gibt wie Schweine. Du magst nachzählen - was lachst du? - wenn du daran zweifelst, daß ich dir die Wahrheit sage. G l a u b mir, du wirst, auch wenn du selbst urteilst, viele finden, in denen du nichts von einem Menschen erkennst außer S t i m m e und Augen, und du wirst sagen, diese seien Körper ohne Seele. (75) Ja du wirst zuweilen nicht wenige finden, die noch v e r k o m m e n e r als Schweine sind. Denn man sagt, daß selbst eine Sau die Ferkel, die sie geboren hat, so entschlossen umsorgt u n d liebt, daß sie sogar in ihrer Wut mitten durch Feuer, G e s c h o ß h a g e l u n d Schwerter stürzt, wenn einer vielleicht ihrem Jungen (80) Gewalt antun will. Aber diese Schweine hier - nicht zu glauben - die ich gerade z w e i f ü ß i g genannt habe, hassen auf herzlose Weise ihre »gefräßigen« Kinder und schaffen sie - wie furchtbar zu berichten! - an verseuchte Orte, damit sie schneller die todbringende Seuche a u f n e h m e n und sterben u n d die Väter von den Ausgaben befreien, (85) die die kleine Schar, den Hunger verachtend, fordert. Aber w e n n es erlaubt wäre, die Kinder auf diese Weise zu beseitigen, w a r u m beseitigst du sie nicht gleich mit einem Strick oder einem Schwert - das ist ebensoviel. Kleiner ist die Qual mit diesen, und der Weg zum Tode ist kürzer, als wenn sie durch die Pest zugrundegehen. (90) Ο ihr Verstandesberaubten, die selbst ein M e l a m p u s mit drei Anticyras wohl durch keine Kunst heilen dürfte! - Doch soviel über die Schweine; eine andere Verseuchung folgt dieser, nicht unähnlich der vorigen, j a ihr sogar fast gleich. Weil man nämlich, auch wenn das Wüten der Pest überall rast und tobt, (95) nichtsdestoweniger in den Kirchen und davor den Dahingerafften Gräber errichtet und die Leichname auf große Haufen stapelt, deshalb ist die Kirche f ü r alle ein gemeinsames Grab. Und wirklich: Wer nicht bei d e m heiligen Altar begraben wird, der, so glaubt man, wird auch vom Himmel ausgeschlossen. (100) Also stehen in den Kirchenbezirken die ausgehobenen Gräber Tag und Nacht offen. Davor u n d daneben sitzen die Menschen, die den Gottesdienst besuchen. Oft suchen sie auch die, die sie jahrelang nicht gesehen haben, auf, nachdem sie von der Pest befallen sind, und entbieten ihnen freiwillig den letzten Gruß. Selbst die Göttin der Gesundheit könnte, auch wenn sie wollte, diejenigen nicht retten, (105) die ihre eigene Gesundheit b e k ä m p f e n . So verschlingt in der Tat die Schar der Toten die der Lebenden: In allen Gassen k ä m p f t der Tod. Das Erz der Glocken erklingt immerzu, u n d immer mehr Menschen, bleich vom bevorstehenden Tod, lockt es mit seiner Mahnung an, so daß Libitina allmählich durch die ganze Stadt zieht. (110) Doch als Buffalion, der achte der Weisen u n d unter Blinden einem Einäugigen nicht unähnlich, davon hört, daß andere über die Pest so reden, daß sie glauben, der Herd der Seuche müsse beseitigt werden, weil man sehe, daß vernachlässigte Brände an Gewalt zunähmen und durch keine (115) noch so große M ü h e zu löschen seien, w ä h r e n d den ersten Funken schon die kleinste Anstrengung ersticken könne - als, sage ich, der achte Weise dies hört, spricht er mit bebendem Bart: »Warum beeilst du dich, mich von der todbringenden Seuche fernzuhalten? Das braucht es nicht. Gott selbst wird die Seinen beschützen, (120) auch w e n n sie in Ställen leben oder mitten in den Abwasserkanälen. Wen der Tod mit Zustimmung Gottes auf schwarzen Flügeln umflattert, den werden nichts, keine Apotheke und keine feinen Kniffe, ihm entziehen können, dem Ende, das ihm vom Schicksal gesetzt ist, kann man durch keine Kunst ausweichen. (125) Ist denn Sterben so ein Unglück? Der Tod, die letzte Wegmarke, setzt den Sorgen u n d der M ü h e ein Ende. Wer ihn erleidet, von der gegenwärtigen Pest dahingerafft, den wird nicht bitterer Hunger
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Selbstverstimdigung
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u n d nicht das türkische Schwert töten, nicht der Schmerz in der Brust, nicht der Husten u n d nicht die lähmende Podagra.« (130) Die Götter mögen dir ein P f u n d Nieswurz gegen den Wahnsinn geben. Wenn du das aber ablehnst, sollen sie dir f ü r diese Worte drei Schellen als Zierde für deinen kahlen Kopf geben, in d e m solch ein Scharfsinn ist. Da gibt es nichts zu lachen, einen solchen Ehrenkranz trägt mit Recht, wer d e m Schädlichen folgt u n d vor dem flieht, was er als nützlich erkennen muß. (135) Dennoch, mein achter Weiser, m ö g e es dir einstweilen nicht lästig sein, mir, der ich darum bitte, zuzuhören; ich will etwas Weniges sagen: Gott will u n d kann retten, j e n e r allmächtige Gott der Götter, der alles sieht und alles lenkt und von Zweit- und Zwischengründen nicht abhängig ist. (140) Wer streitet das ab? Niemand. Doch der beste Gott will ebenso auch, daß eine gewisse f r o m m e Klugheit die G e f a h r ablenkt, und nicht, daß du, rechtschaffene u n d f r o m m e Mittel vernachlässigend - denn solche Menschen machen sich der göttliche Hilfe völlig u n w ü r d i g - (145) dich von der Spitze eines hohen Turmes hinabstürzt, wenn du über die Treppe hinuntersteigen könntest. Er will nicht, daß du mit den Füßen Flüsse u n d Seen überquerst, wenn dir ein Kahn oder Brücken zur Verfügung stehen. Endlich will er auch nicht, daß du an einem Abgrund oder einer offenen Grube nicht vorübergehst, sondern dich hineinstürzt, obgleich die Herumstehenden rufen: (150) »Da ist eine große Grube, da ein gewaltiger Abgrund, laß ab von dem eingeschlagenen Weg u n d suche nicht die sichere Gefahr!« Wirst du etwa, wenn einmal Vulkan dein Dach zu besteigen beginnt u n d die F l a m m e die alte Küche in Brand steckt, wirst du dann, während du alle heranstürzen u n d das Feuer löschen siehst, (155) den Göttern vertrauend, sorglos und untätig herumsitzen oder gar - Wahnsinniger! - mit großem Geschrei verbieten, Hand ans Werk zu legen, weil die höheren Mächte uns j a alles ohne eigene M ü h e gewähren? Da wirst du schön verständig sein, doch nicht ohne Tränen am Ende! - (160) Was tun aber anderes diejenigen, die, ohne daß eine Verpflichtung dazu sie drängt u n d zwingt, sich der todbringenden Seuche entgegenwerfen, obwohl sie leben könnten? Wenn aber dennoch dieser glühende Eifer in deiner Brust herrscht, du achter Weiser, daß es dir also beliebt, sogar freiwillig zugrunde zu gehen: (165) Das sei dir erlaubt. Keinen großen Verlust wird die Heimat erleiden, wenn ein solcher Gimpel untergeht. Einen gegen seinen Willen zu retten ist Unrecht, stirb also mit Freuden, wenn du nur allein stirbst und nicht - Waghalsiger! - die ganze Stadt mit deinem schlechten Beispiel u n d deinen unseligen Reden ansteckst. (170) Dies habe ich dir geschrieben, mein zu Recht verehrenswtirdiger Förderer, als seit einiger Zeit die ersten tödlichen Keime der Seuche sich hier zeigten u n d die Ansteckung weiter zu verbreiten begannen. Diese hat nun aber doch jener beste, ewige Vater mit seiner unglaublichen Liebe unterdrückt (175) oder vielmehr, wenn wir nicht unsere Lebensverhältnisse verbessern, für wenige Stunden aufgeschoben. Du aber nimm, was ich dir schicke, mit gütigem u n d freundlichem Blick auf, so wie du alles a u f n i m m s t . Rostock, den 13. November 1577
Von der erotischen Elegie zum bürgerlichen Ehelob Bilder der Weiblichkeit in der Dichtung des deutschen Humanismus (Jacob Micyllus und Petrus Lotichius Secundus) Eine historische Rückschau, die weniger der systematischen Analyse vergangener Lebensverhältnisse und Bewußtseinslagen als vielmehr aktuellen Legitimationsbedürfnissen und (flauen-(politischer Deklamatorik bzw. Erbaulichkeit dienstbar gemacht ist, wird sich nur mit einem gewissen Schauder dem Kernbereich der alteuropäischen Gesellschaft zuwenden: der Ordnung des >ganzen Hauseshellenistischen< Liebeselegie, deren Darstellungstraditionen nur zum Teil in den manchmal floskelhaft erstarrten Petrarkismus übernommen werden konnten. Nicht ganz konnte getilgt werden, daß die erotische Elegie des alten Rom subversive Potenzen in sich barg, ja von Anfang an gegen die altrömische Haus-Ordnung gerichtet war, die - zur christlichen Ehelehre verwandelt - ihrer Substanz nach unangefochten das Feld behauptete. Die erotische Elegie der römischen Autorentrias Tibull, Properz, Ovid, an ihrer Seite der Vorgänger Catull, war das Produkt einer von Staats- und Moraldoktrinen weithin enttäuschten Intelligenz, die sich um die Rollenbilder des »Pater Familias« und die Ehrbarkeit der altrömischen »Matrone« - in der Literatur jedenfalls - nicht mehr kümmerte. Nicht die Ehefrau, sondern die gebildete Hetäre, die »formosa« und »docta puella«, entfaltete ihre schmerzlich bedrückende und lustvoll entrückende Anziehungskraft. Die fiktive Welt der »amores« stand in Konkurrenz zur sozial gebotenen Lebensform des Berufs und der Ehe. Der Mann war nicht Machthaber, sondern Sklave einer »domina«, hingegeben dem »servitium amoris«, abhängig von Launen und Capricen des anderen Geschlechts, nicht moralisch autark, sondern affektbedroht, ja bei vollem Bewußtsein erotisch verfallen und haltlos.8 Wie konnte das in der antiken, d. h. römischen Liebeselegie ausgebildete erotische »Spiel« der Geschlechter integriert werden in die literarische Kultur der frühen Neuzeit, deren soziale Rahmenbedingungen nach wie vor von der religiös abgesicherten Ordnung des ganzen Hauses bestimmt war? Diese sich aufdrängende Frage veranlaßt zugleich die Suche nach möglichen Erweiterungsund Transformationsvorgängen, in denen die elegische Gattungstradition sich dem tatsächlichen oder normativ vorgegebenen Lebenszusammenhang ihrer modernen christlichen Nachfolger, der Lebensform der Ehe nämlich, öffnete. Die Frage ist verschieden zu beantworten: zunächst im Hinweis auf Fakten, die hier nur stichworthaft angesprochen werden sollen. Die Möglichkeit einer modernen Adaption der römischen Liebeselegie hing ab von der dauernden Versicherung ihres literarisch-fiktiven, also nicht-»mimetischen« Charakters und Realitätsbezugs. Dem entsprach etwa die spätere These des Martin Opitz, daß Liebesdichtung nur ein »Wetzstein« des Verstandes, also ein Exerzierfeld der kombinatorischen >inventio< bedeutete." Dem entsprach auch schon seit Ovid die vielberufene Genealogie literarischer Vorbilder,1" dem entsprach auch 8
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Vgl. die zusammenfassenden Darstellungen von Niklas Holzberg: Die römische Liebeselegie. Eine Einführung, Darmstadt 1990. bes. S. 12ff. (mit Literaturnachweisen) sowie Eckhard Lefevre: Die unaugusteischen Züge der augusteischen Literatur, in: Saeculum Augustum II. Religion und Literatur, hrsg. von Gerhard Binder. Darmstadt 1988 (Wege derForschung, Bd. 512). S. 174-196. spez. 184ff. So in Opitzens Buch von der Deutschen Poeterey (1624), Kap. III. Ovid Trist. II 413ff.; vgl. auch Properz II 34 b: so dann ähnlich in der neulat. Dichtung wie ζ. B. bei Paul Fleming (in seinen Suavia): Paul Flemings Lateinische Gedichte, hrsg. von J. M. Lappenberg. Stuttgart 1863. Repr. Amsterdam 1969, Nr. 13, S. 117-119.
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die strenge Trennung von »lasciva pagina« und »vita casta«11 oder die Form der apologetischen >revocatioLibri Odarumvates< mit einer antikisierenden Aura umgibt. Die Elegie erweist sich als Demonstration der ihr innewohnenden Poetik, als Manifest, das in der Assimilation heidnischer Frömmigkeit der Figur des Dichters huldigt, Anspruch und Wirkung seines Ruhms in der Bewältigung emotionaler Konflikte zugleich entdeckt und als fiktive Praxis demonstriert. In ihrer situativen Absicherung und polyhistorischen Einfärbung gehört die Elegie wie so viele andere zu den Exempel der Humanistendichtung, zu Texten, die sich selbst thematisieren, indem sie den Poeten feiern und gegenüber möglicher Kritik in Schutz nehmen. So darf der zweite Hauptteil der Elegie, der weit ausgreifende Lobgesang auf die das Dunkel erleuchtende weibliche Gottheit, als historische Antithese zu der nachmals so epochemachenden Klage betrachtet werden, die der klassische Schiller unter dem Titel Die Götter Griechenlands anstimmte. Schiller trauerte um die entgötterte, die nur noch mechanischen Gesetzen gehorchende Natur und damit um den Verlust der Identität von Dichtung, Wirklichkeitsbild und mythischer Phantasie.31 Lotichius verwandelt die Gegebenheiten des Natürlichen 29
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Lotichius hat den bekannten Stoff sehr eigenwillig in einer eigenen Elegie aufgegriffen; dazu erhellend Peter Leberecht Schmidt: >... unde utriusque poetae elegans artificium admirari licebitAnsprechbarkeit< (affabilitas) des Reichsoberhauptes voraus, die einen geradezu vertraulichvertrauensvollen Appell nahelegte:16 Ο keiser, du vil werder man, thuo dich an bapst nit keren.
Gleichzeitig ließ sich jedoch das Mißtrauen der Reichsstände gegen habsburgische Großmachtgelüste aktivieren. Die Interessen der »deutschen Nation« wurden in solchen Fällen umstandslos mit jenem Schlagwort deutscher »Libertät« grundiert, das im taciteischen Germanenmythos moralisch-ethnologische Interpretamente ausbildete und noch in der Publizistik, aber auch in der anspruchsvollen politischen Dichtung des Dreißigjährigen Krieges abrufbar blieb.17 Karl V. mußte sich auf seine wahren Absichten hin befragen lassen:18 Karle, sag an die Sachen, die heimlich treiben dich! Deutschland wilt eigen machen dem haus zu Ostereich, ein monarchie wilt richten an. Plus ultra soll noch weiter gan, do ligt der hund begraben.
Kolloquiale, ja subliterarische Redewendungen (»do ligt der hund begraben«) verbinden sich hier mit einem Motto, unter dem man die Expansionsgelüste des spanischen Weltreiches assoziierte (»Plus ultra«).10
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Dazu im Blick auf benachbarte Sektoren der zeitgenössischen Publizistik W. Kühlmann: Der Poet und das Reich - Politische, kontextuelle und ästhetische Dimensionen der humanistischen Türkenlyrik in Deutschland, in: Europa und die Türken in der Renaissance, hg. von Bodo Guthmüller und W. Kühlmann. Tübingen 2000, S. 193-248. Zit. nach Liliencron (wie Anm. 9), Bd. 4, S. 327, Nr. 525, aus dem Lied: Ein warnung an Carolum, daß er sich den bapst nit laß verführen (Strophe 3, V. lf.). So u.a. in Gedichten G. R. Weckherlins; dazu im weiteren Überblick W. Kühlmann: Krieg und Frieden in der Literatur des 17. Jahrhunderts, in: 1648. Krieg und Frieden in Europa. Ausstellungskatalog und Textbde. Münster 1998, hier Textbd. II: Kunst und Kultur, S. 329-337. Nach Liliencron (wie Anm. 9), Bd. 4, S. 333, Nr. 527: Ein new lied auf itzige kriegsleufte gemacht, einem ehrlichen landsknecht W. P. zu gefallen (hier Strophe 5). Die Devise veranschaulichte unter Karl V. zusammen mit dem symbolischen Zeichen der »Säulen des Herkules«, oft eingerahmt vom Erdglobus, den Gedanken der Universalherrschaft, damit auch die Verpflichtung zur Bekehrung der Heiden in der Neuen Welt. Karls Gegner veränderten die Formulierung je nach Bedarf in »non plus ultra«; vgl. im einzelnen Hermann Walter: Die Säulen des Herkules - Biographie eines Symbols, in: Die Allegorese des antiken Mythos, hg. von Hans-Jürgen Horn und Hermann Walter. Wiesbaden 1997 (WolfenbüttelerForschungen,Bd. 75), S. 169-213, spez. 1 8 3 - 1 8 9 - m i t Hinweisen auf die ältere Forschung. - Ich danke Herrn Walter für die Zusendung eines Sonderdrucks seiner Informationsdichten Studie.
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Im Bruderzwist, genauer: Vetternzwist zwischen den beiden sächsischen Herrschaftslinien, den Ernestinern in Gestalt des zum Märtyrer stilisierten, schließlich seiner Kurwürde beraubten Johann Friedrich von Sachsen, und den Albertinern in Gestalt des >machiavellistischen< Herzogs Moritz von Sachsen fanden die Autoren willkommene Möglichkeiten der Personalisierung, ja der sentimentalen Gegenüberstellung höchst divergenter Persönlichkeitsbilder und Handlungsprofile. Das Stimmengewirr der gegensätzlichen Erzähllieder und Pamphlete erprobte Rede- und Darstellungstechniken, die sowohl literarisch beglaubigt wie alltagsweltlich überzeugend wirkten. Ein raffiniertes Beispiel der Fiktionalisierung fassen wir ζ. B. unter dem Titel Meister herzog Moritzen beicht, reuw und bekäntnus: ein »Zu Magdeburg bey Michael Lotther« 1551 gedruckter Text.20 In 102 Versen vermeidet der Autor gewohnte Formschemata. Denn statt strophischer oder in Reimpaaren gruppierten Verse wird hier konsequent eine identische Reimassonanz auf »-ich« durchgehalten und damit jener skrupellose Egoismus symbolisiert, der in der Rollenrede des Herzogs, dem Verzweiflungsmonolog eines neuen »Judas«, als Motivation des eigenen politischen Handelns zutage tritt. Rücksichtslosigkeit gegenüber Kaiser und Reich, erst recht gegen den frommen lutherischen Vetter, wird in seiner Orgie der Selbstbezichtigung illustriert, die Verletzungen christlicher Tugenden und Standespflichten biographisch wie historisch mit der Aura des Authentischen umgibt und mit dem Bekenntnispathos eines seiner verdienten Strafe entgegensehenden Verbrechers vorführt. Bereits die ersten Verse modellieren die biblisch vorgeprägte Typik der Judas-Figur an (V. 1-25): ich armer man bekenne mich vor kaiser, könig und dem rieh, man. weib, auch j u n g und alten glich, wie meniglich wol weiß, daß ich nit fürstlich hab gehalten mich. An meinem vater sicherlich, hab treuw und glaub zerrißen ich. das mueß ich sagen öffentlich, dai'umb mit Judas wiirdiglich ewige pein beschuldet ich. Wer bistu dann? so fragstu mich: Moritz, ein herzog der was ich. also benampt mein vater mich. Recht wider ehr da handlet ich, dann zeitlich ehr verfueret mich.
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Die folgenden Zitate n a c h d e m Abdruck bei Liliencron (wie Anm. 9), Nr. 586, S. 497f. Michael Lotter (1529-ca. 1556). Sohn des in Leipzig und dann in Wittenberg wirkenden Druckers Melchior Lotter d . Ä . (ca. 1470-1549). gehörte neben Hans Walther und Christian Rödinger zu den produktiven Druckerverlegern Magdeburgs, die sich rege am Vertrieb des Tagesschriftums beteiligten; s. zusammenfassend sub verbo >Magdeburg< den Artikel in: Lexikon des gesamten Buchwesens. Lieferung 33. Stuttgart 1995. S. 19f. (C. Allschner).
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zuo eim Verräter worden ich an dem, der doch erzogen mich von jugend auf ganz väterlich, mit Judas kuß dem danket ich. Des römischen königs trost ich mich, hab aller treuw vergeßen ich, die mir bewisen christenlich, mein vetter herzog Friderich der f r o m m e fürst; das reuwet mich, wie soll und mag das bueßen ich?
Judas ist nicht nur Exempel des Verrats, sondern dogmatisch gesichertes Beispiel einer auch durch das Heilshandeln Gottes nicht mehr einzuholenden Verzweiflung, die sich hier in drastischen Selbstverwünschungen entlädt, ja die zeitgenössischen Stereotype der Teufelsbündnerei bis hin zu einer an Satan selbst gerichteten Gebetsparodie ausbaut (V. 64-91): D e m teufel hab gedienet ich mit leib und seel, der hole mich, nicht beßer hab beschuldet ich! Das gottes wort beklaget mich, mein seel und leib muoß ewiglich des teufels sein, das weiß ich, das würt mein amen sicherlich, kein Interim mag helfen mich. Kom Lucifer hie, da bin ich, nim leib und seel iez lebendich, eh dann ich selb erhänge mich, keins andern hab zuo warten ich. Mein chur ist doch bestendig glich wie Absolonis königrich. Kein großer böswicht ist, dann ich, des alle weit bezeuget mich, wolt were nie geboren ich! Höllischer Sathan, tröste mich! Mein herren hab verrathen ich, das reuwet iezt von herzen mich, und kan es doch nit wenden ich, kein buoß noch reuw mag helfen mich. In Sünden muoß verzagen ich, dem Cain und dem Juda glich, auf gnad hab nit zuo hoffen ich, der teufel hat betrogen mich, dem hab zuo viel geglaubet ich, iezt lachet er und spottet mich.
Ähnlich der im späteren Bänkellied so oft strapazierten moraldidaktischen Schlußwendung, der >UrgichtTeufelswerk< und >Pfaffenwerk< unmißverständlich gleichsetzt und die Autorposition noch in der Stimme des verdammten Herzogs markiert (V. 102): »evangeli, gott gesegne dich!«
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Manche Texte der Liedpublizistik erschienen namenlos oder unter einem Namenskürzel. Manche deuten auf Verfasser, die sonst literarisch nicht hervorgetreten sind. Andere wurden von bekannten gelehrten Autoren verfaßt, die über das Rüstzeug rhetorischer Bildung verfügten. An Energie und Durchschlagskraft, an einer niemals temperierten Radikalität altlutherischer Angriffslust kam in Magdeburg wohl kein anderer Autor dem heute fast nur noch als Fabeldichter bekannten Erasmus Alberus (um 1500-1553 ) gleich.21 Seine gegen das Interim gerichteten Schriften waren flankiert von katechetischen Werken und geistlichen Liedern. Im Zuge der Friedensverhandlung stellte sich heraus, daß Alberus' Aggressivität nicht mehr zur neuen politischen Lage paßte. Moritz bestand darauf, ihn aus Magdeburg auszuweisen, woraufhin der streitbare Praedikant in norddeutsche Städte auswich und nach einigem Hin und Her noch eine Pfarrstelle in Neubrandenburg fand. Alberus zuzuschreiben ist ein auf den 14. August 1550 datierter Text mit dem Titel Ein lied und vermanung an die landsknechte, daß sie der armen Christenheit und ihrem lieben vaterlande beistehen und die voirether und vorherer desselben strafen wollen.22 Schon wenige Kostproben aus dem sich auf einunddreißig Strophen ausdehnenden Text vermitteln einen Eindruck von dem an des Psalmen, an biblisch-prophetischen Vorbildern und an den frühen Manifesten Luthers geschulten Agitationsstil des Liedes, das auch die auf Ulrich von Hutten zurückgehende antirömische Polemik anklingen läßt (Str. 1-6, 9, 14, 20-21): Wolauf, ihr lieben landsknecht, und steht dem wort gotts bei! wir haben ein sach, die ist gerecht, der Herr sein gnad verleih, daß uns m ö g wol gelingen, weil wir das wort gotts han, dai'von uns ab wil dringen der römisch curtisan. Gen himel schreigt der Christen blut. das sie vergoßen han; ihr landsknecht, faßet ein freidigen mut und greifts nür dapfer an; das wirt euch gott vergelten, die ihr für sein wort streit, er ist in ewern gezelten, weil ihr sein diener seit.
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Vgl. die neue, mit allen bibliographischen Hilfen versehene Ausgabe von Wolfgang Harms und Herfried Vögel in Verbindung mit Ludger Lieb: Erasmus Alberus. Die Fabeln. Die erweiterte Ausgabe von 1550 mit Kommentar sowie die Erstfassung von 1534. Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit, Bd. 33); nützlich der Überblick von Ute Mennecke-Haustein (sub verbo), in: Literatur-Lexikon, hg. von Walther Killy, Bd. 1 - 1 5 . Gütersloh. München 1988-1993, hier Bd. 1. S. 92-94? Abgedruckt bei Liliencron (wie Anm. 9), Bd. 4. S. 500-504, Nr. 587; danach hier zitiert.
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Greift an die falschen Christen, die uns verrathen han, die gottlosen papisten, greift flugs die schelmen an; die freiheit helfen erhalten der teutschen nation und last den lieben gott walten, er ist selbst ewer Ion. Schlagt flugs in die verherer, sie haben gott geschendt, es seind verfluchte krieger, wie sie sanct Johannes nent. Kein glück sie mehr sollen haben, es kömpt ihr keiner darvon, ihr fleisch gehört den raben, ist ihr verdienter Ion. Thut, wie die Machabeer und streitet für gottes wort, greift an die lands verherer, rechnet den großen mord im teutschen land begangen und ander schelmenstück, erstochen und gehangen, sie haben nun kein glück. Sie haben das werde deutsche land verheret und verwüst, sie haben mordbrenner außgesandt und ihre lust gebüst; das ewig hellisch fewer das wirt ihn noch zu theil, das lachen wirt ihn thewer, dann sie sehenden gottes heil.
[...] Die frawenschender greift flugs an, die sodomitisch art, nit seit den schelmen underthan, sie seint schon gar verstart; greift an die losen tropfen, sie haben kein herz nit mehr, flugs solt ihr auf sie klopfen, ist euch ein ewige ehr.
[...] Greift an die taler juristen, wie sie Martinus nent, das seint die böse Christen, die Deutschland haben zertrent; es sol ihn nit gedeien
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ihre große Schelmerei, das land muß sie außspeien nach Luthers prophecei.
[...] Die sach, darumb wir kempfen, die ist für gott gerecht, den Entchrist wollen wir dempfen. darumb seit ihr gotts knecht; der Entchrist hat uns all verfürt mit seiner abgötterei, darumb uns allen wol gebürt, zu strafen die ketzerei. Er bracht uns umb das zeitlich gut und ewig Seligkeit, er hat auch viel unschuldig blut vergoßen weit und breit, das wil gott zeitlich rechen und hernach ewiglich, darumb solt ihr in sie stechen, da sal keiner säumen sich.
[...] Alberus benutzt eine achtzeilige Strophenform, die in weltlicher wie geistlicher Lieddichtung verbreitet war, auch bekannten Beispielen zeitgeschichtlicher Lieder gern zugrundegelegt wurde.23 Der Sprecher wendet sich an die Landsknechte und konstruiert ein Feindbild, das die »gottlosen papisten« (Str. 3 ), die reichsrechtlich argumentierenden Juristen (als »böse Christen«, Str. 14) und die ihr Herrschaftsrecht mißbrauchenden »tyrannen« (Str. 18) zu einer dämonischen Allianz glaubens- und vaterlandsloser, von Lastern zerfressener Widersacher vereinigt. Die »Sache« (causa), um die es geht, wird mit Luthers Glaubensbotschaft (dazu bes. Str. 26/27) identifiziert. Der gegenwärtige Kampf trägt das Signum einer endzeitlichen Kraftprobe (Str. 20), und die sich an das Evangelium haltenden Landsknechte ( Str. 27) dürfen auf Gottes Hilfe vertrauen, die sich schon im Widerstand der Makabäer (Str. 5) und im Untergang des »stolzen Pharao« (Str. 24) heilsgeschichtlich beglaubigte. Referierende Sprachhandlungen treten zurück gegenüber appellativen und affektiven Stilformen, die Erinnerungen an die bereits publizistisch ausgeschlachtete Greuelpropaganda der verflossenen Kriegsjahre benutzen und auch vor Versatzstücken >anti-welscher< Polemik (»frawenschender«, »sodomitisch art«; Str. 9) nicht zurückschrecken.24 Im Lied wird die 23
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Vgl. die Belege und statistischen Nachweise von Horst Joachim Franck: Handbuch der deutschen Strophenformen. München, Wien 1980, S. 5 7 3 - 5 8 0 . Bilder geiler Unzucht, darunter der Homosexualität, wurden bereits in frühhumanistischer Literatur polemisch auf die Italiener wie auf die »Gallier« übertragen und kontrastierten Vorstellungen einer nach Tacitus' »Germania« rekonstruierten, angeblich wesenseigenen deutschen »simplicitas«; vgl. exemplarisch die an körperlicher Drastik nicht zu
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höllische Verdammnis der Feinde bereits vorweggenommen und die im Namen der »Christenheit« geforderte »Ausrottung« der Feinde einem rächenden Gott zugeschrieben (Str. 7), der sich offenbar auch die Freiheitsrechte der »teutschen Nation« (Str. 3) besonders angelegen sein läßt. Die Schlußstrophen nennen einen fingierten Verfassernamen, hinter dem man Alberus vermuten darf, und laufen auf ein kurzes Gebet zu, das die Personaldeiktika des »Ich« und »Ihr« noch einmal zu einem Solidarität verheißenden »Uns« verschmelzen läßt (Str. 30/31): Der uns das liedlein hat gemacht. Huldselig ist sein nam. nach gottes reich er immer tracht. den Schelmen ist er gram, die Deutschland han verrathen. wünscht ihn das herzeleid; gott helf uns mit genaden zur ewigen Seligkeit! Darzu Sprech amen iderman und schlaget getrost darein, flugs schlag darein, wer schlagen kan. Christus wirt bei euch sein. Herr laß uns nit vorderben. gotts eingeborner son. ob ir auch solten sterben. so sei du unser Ion!
Alberus' fanatischer Kampf gegen die Papstkirche und ihre politischen Agenten zeichnete sich in weiteren Liedern ab, darunter dem eher berichtenden New lied von der belege rung der werden Stadt Magdeburgdas Einzelheiten der Raubzüge und Scharmützel im Vorfeld der Stadt nicht ohne Seitenhiebe auf »adelige« Untreue in der Nachbarschaft ausbreitet (Str. 10/11): Magdeburg die werde mutterstadt viel ungehorsam kinder hat. der adel auf dem lande der mutter nicht wil gehrosam sein, ist ihm ein große schände! Es ist den junkern ein ewige schand, daß sie ihr eigen Vaterland verwüsten und verderben, drumb wirt sie gott außrotten gar samt allen ihren erben.
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überbietenden Schilderungen, wie sie uns Konrad Celtis (1459-1508) im zweiten Buch seiner Amores (neunte Elegie) vorführt; abgedruckt in: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch und deutsch. [...] Ausgewählt, übersetzt, erläutert und hg. von W. Kühlmann. Robert Seidel und Hermann Wiegand. Frankfurt/M. 1997 (Bibliothek Deutscher Klassiker 146 - Bibliothek der Frühen Neuzeit, Bd. 5), S. 105-113 mit den Erläuterungen S. 1005-1008. Liliencron (wie Anm. 9), Bd. 4, S. 5 1 1 - 5 1 4 . Nr. 589; danach zitiert.
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Schon in Alberus' Hamburger Zeit fällt ein Flugblatt (gedruckt um die Jahreswende 1551), in dem ein Resümee der nun abgeschlossenen Belagerungskämpfe gezogen wird. Unter einem Holzschnitt, der das von Bordüren eingefaßte Magdeburger Stadtwappen zeigt (oberhalb des geöffneten Stadttores erscheint zwischen zwei Türmen auf der Mauer eine Jungfrau, die einen Kranz in der Rechten hält) sind zwei Textspalten gegenübergestellt; die linke in deutscher Sprache und mit »Erasmus Alberus« unterzeichnet, die rechte in lateinischen Distichen gehalten und mit dem Namenskürzel I. R. signiert, unter dem sich der Hamburger Stadtschreiber Johann Ritzenberg (gest. 1574) verbirgt.26 Alberus benutzt vertraute allegorische Techniken der Wappenexegese, in welcher er allerdings die etymologisch abgeleitete, sonst in zahlreichen Liedern strapazierte Verschränkung des Stadtnamens und -Wappens mit Vorstellungen geschändeter oder wehrhafter > Jungfräulichkeit* vermeidet und auch das ebenfalls gern ziteirte ikonographische Requisit des sächsischen Rautenkranzes außer Acht läßt: Meydeburg die heilige werde Stadt/ Ein Jungfraw für ein Waffen hat. Bedeut die heilige Christenheit/ Die Gott in ihrem hertzenleit Stercket und tröstet immerdar/ Und hilfft ihr fein aus aller fahr. Weichs er an itztgedachter Stadt/ Herlich und wol bewiesen hat. Gott sei lob/danck/preis/rhum und ehr/ Die Stadt Meidburg durchs Rote Meer Mit Gottes wort gegangen ist. Für ihr ging her der HErre Christ Der halft' ihr bald aus aller not/ Drumb dancken wir dem lieben Gott. Den last uns fürchten und vertrawen/ Und vhest uff sein verheissung bawen. Sein liebe handt ist nicht verkürtzt/ Der Herr hat seine feind gestiirtzt Inns Rote Meer durch seine macht/ Im staub und kot liegt all ihr pracht. An Magdenburg der Widderchrist/ Redlich zuschanden worden ist. Die selige/ werde Stadt fürwar Viel lenger denn ein gantzes iar/ Hat aussgestanden grosse fahr/ Von aller weit verlassen gar. Der Herr von himmel stund ihr bei/ Das sie ward aller sorgen frei. D r u m b danckt sie Gott inn ewigkeit/ Für seine grosse güdigkeit.
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Diese und andere Informationen verdanke ich dem einem Abdruck des Flugblatts beigegebenen Kommentar in der von W. Harms u. a. hg. Wolfenbütteler Flugblattsammlung (wie Anm. 8), Bd. III, Nr. 151, S. 294f.
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Die »heilige werde Stadt« Magdeburg vertritt nicht nur metonymisch, also >pars pro totoGemeinplätze< (loci communes) bezieht.27 In der Wirklichkeit des Redeaktes stellten diese Gemeinplätze strukturelle Elemente eines mit den Adressaten gemeinsamen Bewußtseins dar, auf das sich der Sprecher beziehen muß, um überzeugende Aussagen machen zu können.28 Die dogmatische Geltung göttlicher Eigenschaften (in diesem Fall >Stärke< und >Gütecausa< Magdeburgs erinnert an eine zugleich geschichtsüberhobene und in der Geschichte wirkende »verheissung«. Deshalb referiert der Reimpaartext nicht nur die überstandene Gefahr, sondern wandelt sich versweise zum >performativen< Dokument jenes Glaubensvollzugs und jener christlichen Dankespflicht, die von den Bürgern Magdeburgs erfüllt wird. Nur die lateinische Elegie läßt den aktuellen >FeindBabylon< regierenden Papst: Zeitgeschichte ist im
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S. die Ausführungen und Belege in W. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat [...]. Tübingen 1982 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. Bd. 3), S. 113-118." So Lothar Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt/M. 1976, bes. S. 96f. »Verzage nicht, du Häuflein klein«, so begann das Gebet, das Gustav Adolf vor der Schlacht bei Lützen gesprochen haben soll und das als »königlicher Schwanengesang« gedruckt wurde. Das Lied soll von Jacob Fabricius, d e m Beichtvater Gustav Adolfs, verfaßt worden sein: vgl. den Abdruck bei Eberhard Haufe (Hg.): Wir vergehn wie Rauch von starcken Winden. Deutsche Gedichte des 17. Jahrhunderts. 2 Bde. Berlin 1985, hier Bd. 1, S. 222.
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biblischen Heilshandeln Gottes bereits praefigurativ anwesend. Es überwölbt, im Glaubensvertrauen erfaßt, alle soziale Empirie, läßt alle politischen Kalkulationen hinter sich und kann in der siegreichen Wehrhaftigkeit Magdeburgs nur bestätigt werden. Magdeburg wird so »geheiligt« als Inbegriff und repräsentativer Ort einer geistlichen Haltung, die Alberus in bibelfester Überzeugungsarbeit typologisch absichert und literarisch ratifiziert.
Manche Flugblätter sprachen mit lateinischen Prosa- oder Verstexten das gelehrte Publikum an und nahmen so Rücksicht auf Kommunikationskreisläufe, die von den literarischen Paradigmen der humanistischen Renaissancedichtung10 bestimmt waren. Eines der berühmtesten Magdeburg-Gedichte stammt von einem Autor, der wie nur wenige den hohen ästhetischen Rang dieser humanistisch-lateinischen Lyrik in Deutschland repräsentierte, dem bereits von den Zeitgenossen als princeps poetarum gerühmten Petrus Lotichius Secundus (1528-1560)." Als Sohn eines Bauern im Hessischen geboren, zog es ihn 1546 zum Studium an die Universität Wittenberg, also in den Umkreis Melanchthons. Nachdem hier die Hochschule wegen des ausbrechenden Krieges geschlossen wurde, diente er eine Zeitlang als Soldat in Magdeburg, und eben diese Kriegserfahrungen (etwa vom November 1546 bis Mai 1547) prägten den Motivfundus und thematischen Rahmen seines elf Elegien umfassenden ersten Elegienbuchs, das 1551 in Paris zum Druck gegeben, später passagenweise umgearbeitet wurde.12 In privater Erlebnisperspektive deutet Lotichius hier die Spannung zwischen protestantischem Engagement und enttäuschtem 30
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Z u m literarischen Feld s. W. Kühlmann: Das Zeitalter des H u m a n i s m u s und der Reformation, in: Geschichte der deutschen Lyrik vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. von Walter Hinderer. Stuttgart 1983, S. 4 9 - 7 3 ; ferner ders./Hermann Wiegand: Artikel >Humanismus< u n d >Neulateinische Literatur< in: Literatur-Lexikon, hg. von Walther Killy. Bd. 13,14: Begriffe, Realien. Methoden, hg. von Volker Meid. Gütersloh. München 1992, 1993. hier Bd" 13, S. 4 2 1 - 4 2 6 bzw. Bd. 14, S. 150-158. Größere Teile seiner Lyrik sind nun abgedruckt und kommentiert in dem Band: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts (wie A n m . 24). begleitet von einer bio-bibliographischen Einleitung, die alle wichtige Literatur (darunter die wertvollen Studien von Eckart Schäfer und Bernhard Coppel) erfaßt und auswertet (S. 395^197: Text und Übersetzung; S. 1 1 7 8 - 1 2 3 9 Einleitendes samt K o m m e n t a r ) . Für schnelle I n f o r m a t i o n e n steht der zuverlässige Artikel von Bernhard Coppel in dem genannten, von W. Killy hg. Lexikon (wie A n m . 21), hier Bd. 7. 1990, S. 3 5 2 - 3 5 5 , zur Verfügung. Die im folgenden zitierten Auszüge u n d Übersetzungen richten sich nach d e m Abdruck in: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts (wie A n m . 24). und sind dort nach Angabe des Elegienbuches u n d der G e d i c h t n u m m e r sofort zu finden. - Zur Thematik des ersten Elegienbuches neuerdings im Horizont der deutschen u n d lateinischen Renaissancedichtung vor allem Hermann Wiegand: Krieg und Frieden im Werk des Petrus Lotichius Secundus, in: Unsere Heimat (Schlüchtern) 9 (1993), S. 131-153; eine hier nicht weiter herangezogene Elegie des Zyklus (I, 6) behandelt W. Kühlmann: Selbstverständigung
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Reichsbewußtsein an. Der Krieg erscheint nicht als Heldengemälde, sondern als Szenario der Barbarei, das immer wieder die Segnungen des Friedens als Wunschphantasie aufleuchten läßt. Mehrfach wird auf das bekannte Adagium des Erasmus (4. 1,1) angespielt, demnach der Krieg nur »für den süß ist, der ihn nicht kennt«." In der verfremdeten Rolle des Soldaten wird sich Lotichius schmerzlich seiner eigenen Bestimmung bewußt. Es ist die des Poeten, der sich im Kreis gebildeter Freunde auf das literarische Werk konzentrieren kann. Bereits die erste Elegie, spätestens kurz vor der Schlacht bei Mühlberg (24.4.1547) geschrieben, läßt an der Hingabe für die Sache Johann Friedrichs von Sachsen keine Zweifel, doch in bedeutsamem Kontrast zum anbrechenden Frühling stehen die düsteren Aussichten auf dem Kriegsschauplatz. Lotichius beschreibt dem Adressaten des Gedichts Beobachtungen und Gefühle des im befestigten Magdeburg eingeschlossenen Soldaten (El. 1,1, V. 15-28): At pax dulcis abest, zephyrisque tepentibus, hostes In caput innocui Principis arma ferunt. Nee mihi fas portas vltra procedere. nee me Commoda purpurei veris in vrbe iuuant. Ardua de solido stant propugnacula saxo, Et nouus indueta murus obitur aqua. Agger & in vacuas praeeeps attollitur auras. Densaque suggesta texta replentur humo. Ipse nouis equitum comitantibus imminet alis Caesar, & armati detinet hostis iter. Interea lucent totis incendia campis, Quo vocat errantes praeda, vel ira. Duces. Dissultant fremitu colles, & ferrea late Ponder, sulphureis ignibus acta, volant. (Übersetzung: Aber der süße Friede ist fern, und jetzt, da die lauen Frühlingswinde wehen, erheben die Feinde ihre Waffen gegen das Haupt des unschuldigen Fürsten. Weder darf ich über die Tore hinausgehen, noch erfreuen mich in der Stadt die Reize des purpurnen Frühlings. Bollwerke aus festem Felsen ragen steil auf, und eine neue Mauer wird umspült von hergeleitetem Wasser; ein Wall erhebt sich hoch in die freien Lüfte, und ein dichtes Flechtwerk ist aufgefüllt mit herbeigeschaffter Erde. Der Kaiser selbst droht, begleitet von neu ausgehobenen Reiterschwadronen, und hält den Z u g seines bewaffneten Feindes auf. Inzwischen leuchten Feuer überall auf den Feldern, wo die Beute oder ihr Zorn die umherschweifenden Heerführer hinlockt. Die Hügel hallen von Getöse wider, und weithin fliegen die eisernen Kugeln, von schweflichtem Feuer getrieben.)
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im Leiden. Zur Bewältigung von Krankheitserfahrungen im versgebundenen Schrifttum der Frühen Neuzeit (P. Lotichius Secundus, Nathan Chytraeus, Andreas Gryphius), in: Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit. Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte, hg. von Udo Benzenhöfer und W. Ktihlmann. Tübingen 1992 (Frühe Neuzeit, Bd. 10), S. 1-29. Dies im Kontrapost zum ebenfalls intertextuell verarbeiteten Horazischen »Dulce et decorum est pro patria mori«: El. I, 5 1 - 5 4 : 2,72: 9,26; 11,8. Für diese und alle weiteren Einzelheiten einer Kommentierung, die den zeitgenössischen und antiken Anspielungshorizont der Verse und damit auch ihre stilistischen Valeurs freilegt, verweise ich auf den Kommentar in der Ausgabe der Humanistischen Lyrik des 16. Jahrhunderts (wie Anm. 24), S. 1182ff.
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Hier und auch sonst wird kein Hehl daraus gemacht, daß der Krieg ein Gemetzel ist, das die »große Mutter Deutschland« vernichtet. Das seivitium des militärischen Dienstes läßt den Gedanken eines Kampfes für die Freiheit, ja alle patriotische Sinngebung der erlebten Geschichte oft in den Hintergrund treten.34 Während der eigene Vater stirbt, wird Lotichius zu seinem Schmerz in Magdeburg festgehalten. ,5 Glücksvisionen familiärer Gemeinsamkeit, eingebettet in die idyllischen Bilder bukolisch-ländlicher Zurückgezogenheit, all die vereitelten Hoffnungen auf glückliche Heimkehr,1" sind zunächst nichts als Zukunftsträume eines Dichters, der sich als maroder studentischer Söldner wiederfindet (El. I, 6 V. 29-36): Nunc iaceo cunctis defectus viribus aeger. Solus in ignotis miles, inopsque locis. Omne perit iuuvenile decus. totumque perurit Immensus lateris, non sine febre, dolor. Deficit & ducens vitales spiritus auras. Oraque vix praestant arida vocis iter. Scilicet haec mortis dantur mihi signa propinquae, Viximus. exacto tempore, fata vocant. (Übersetzung: Nun aber liege ich krank und völlig entkräftet als einsamer und mittelloser Soldat in der Fremde. Aller Glanz der Jugend ist dahin, und im ganzen Körper wütet unendlicher Schmerz, von Fieber begleitet. Der Atem, der die lebenspendenden Lüfte einzeiht, wird schwächer, und mit Mühe nur gibt der ausgedörrte Mund den Weg der Stimme frei. Damit wird mir gewiß ein Zeichen des nahen Todes gegeben: Wir haben gelebt, die Zeit ist abgelaufen, und das Schicksal ruft.)
Immer wieder treiben die Gedichte den absurden Kontrast zwischen kulturellem Lebensentwurf und erschreckender biographischer Wirklichkeit hervor. So auch die achte Elegie »Über die lange Dauer des Krieges und der Feinde Grausamkeit«, ein einsamer Monolog, der sich an die Wälder nahe der Elbe richtet und das Treiben der kaiserlichen Hilfstruppen (Ungarn, Kroaten, Spanier) empört als katastrophale Steigerung des deutschen »Bürgerkriegs« beklagt (El. I, 8, V. 37-50): Quid mihi uobiscum est, infamia Caesaris, Hunnis Cur niger Arctoas potat Iberus aquas? Quisquis es, inuisum te semper Erynnies atrae, Ultrices dirae proditionis, agant. Qui placidam furijs populi turbare quietem Ausus es. & castris hos sociare tuis. Quod precor, eueniet, mouere cacumina quercus, Syluaque concussis annuit alta comis. 34 35
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El. I, 2, bes. V. 6 - 2 2 : hier der Blick auf die magna parens Germania, V. 13. El. I, 4: Durch alle Gefahren wäre ich. Vater, aus dem belagerten Magdeburg an Dein Sterbebett geeilt. Doch »wer hätte mitten durch die Schwerter des Kaisers kühn bis an die von Kälte erstarrten Wasser der Elbe vordringen können?« (V. 55ff.). El. 1.4, V. 17-30; I, 6. V. 23ff.; stattdessen die imaginäre Grabschrift des sterbenden Soldaten (V. 85f.): »Hic militis ossa Secundi/ Ipsaque pro patria quae tulit, arma iacent.«
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In patriae clades, ignominiamque ruentis, Die age, eiuilis non satis ensis erat? Cor dolet, ac penitus tremor intima concutit ossa, Cum subeunt oculis omnia visa meis. Quanta sitis nostri stricto semel ense cruoris? Quantus in immani pectore caedis amor? (Übersetzung: Was habe ich mit euch zu schaffen, ihr Hunnen, Schande des Kaisers? Warum trinkt der dunkelhäutige Iberer von nördlichen Wassern? Wer du auch bist, dich Verhaßten sollen immer die schwarzen Erinnyen jagen, die grausigen Rächerinnen des Verrats, dich, der du die behagliche Ruhe des Volkes mit der rasenden Soldateska zu stören und solche Menschen in deine Truppen einzureihen wagtest. Meine Bitte wird sich erfüllen: Die Eichen haben ihre Kronen bewegt, und der hohe Wald hat mit rauschendem Laub zugestimmt. Zu Fall und Schmach des niedersinkenden Vaterlandes, sag doch, reichte dazu nicht der Bürgerkrieg? Das Herz blutet mir, und tief im Innern läßt ein Beben mein Mark erzittern, wenn all das, was ich gesehen habe, vor meine Augen tritt. Wie groß ist der Durst nach unserem eigenen Blut, wenn das Schwert erst einmal gezückt ist, wie groß im grausamen Herzen die Mordlust?)
Immer wieder vergegenwärtigt Lotichius den Feuerschein der brennenden Dörfer, die Flucht der Bauern und ihrer Familien, die Beutezüge der Soldateska. Dieser Barbarei kontrastiert ein das Elegienbuch durchziehender alternativer Entwurf des menschlichen Miteinanders. Er findet in dem auf die Sprache gegründeten Bewußtsein des Dichters seine derzeit vereitelte Hoffnung auf Verwirklichung. Immerhin werden Konfigurationen vorgestellt, in denen die Gesetze des Krieges außer Kraft treten und sich gebildete Mitmenschlichkeit über die Fronten hinweg bewährt. So vor allem in der zweitletzten, der zehnten Elegie, die dem Freunde Christophorus Herdesianus von einem Abenteuer zweier Freunde während der Reise durch das Kriegsgebiet berichtet. Das Elend der Bedrohten und Beraubten, in deren Verstecke sich die Reisenden flüchten müssen, dorthin, wo die Klagen der Mütter und das Geschrei der Kinder ertönen, bildet die Darstellungsfolie für ein wunderbares Ereignis, das andere Solidaritäten als die der politisch-militärischen Allianzen realisiert. Als die Freunde, ihren Schlupfwinkel verlassend, auf freiem Feld von einer feindlichen Reiterschwadron aufgefangen werden, entspinnt sich ein kurzer, aber denkwürdiger Dialog mit dem fremden Offizier (El. I, 10, V. 57-72):" Ventum erat in campum, redit hostis, & ecce cohortis Ductor, anhelanti nos petit acer equo. Stamus, & Aoniae cultores dieimus artis. Immunes belli nos habuisse manus. Nomen ad Aonidum, Iuuenes confidite, dixit, Nos etiam mites erudiere Deae. Quod si forte proeul vestras peruenit ad aures, Sincerus priscis Actius ortus auis. Actius Hesperijs fama bene notus in oris, Pinguia Sebethi qua rigat arua liquor. 37
Der im Zitat beziehungsreich eingeflochtene N a m e des »Actius Sincerus« bezeichnet den italienischen Renaissancedichter Jacopo Sannazaro aus Neapel (1456-1530).
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Uli ego me veteri consanguinitate p r o p i n q u u m Glorior, & vates, Vatis amicus, amo. Impia nee praedae me traxit in arma cupido. C u m populis terras cura videre fuit. Sic ait, & nobis, vbi Caesar agebat, in vrbem Exhibuit tutas ipse cohorsque vias. (Übersetzung: Kaum waren wir auf das freie Feld gelangt, da kehrt der Feind zurück, und sieh, der Führer der Schwadron hält mit schnaubendem Pferd auf uns zu. Wir bleiben stehen und sagen, wir Jünger der musischen Kunst hätten unsere Hände vom Kriegsgeschäft rein gehalten. Auf das Wort >Muse< hin sagt er: >Habt Vertrauen, ihr Jünglinge, auch mich haben die milden Göttinnen erzogen. Wenn aus der Ferne zu euren Ohren etwa schon der N a m e des Actius Sincerus gedrungen ist, der aus altern Geschlecht stammt, Actius, der in italischen Landen weithin berühmt ist, dort, w o das Wasser des Sebethus fette Äcker bewässert - mit ihm durch alte Blutsbande verwandt zu sein rühme ich mich u n d liebe, selbst Freund eines Dichters, die Dichter. Mich hat nicht ruchlose Gier nach Beute zu den Waffen gezogen, vielmehr war ich darauf aus, L a n d und Leute kennenzulernen.< So sprach er und gewährte uns zu der Stadt, w o der Kaiser sich aufhielt, mit seiner Schwadron sicheres Geleit.)
Bereits im ersten Buch hatte Lotichius, vielleicht im Nachhinein, also vor der Drucklegung, den Text ex eventu retuschierend, die ungünstigen Aussichten der protestantischen Kriegspartei anklingen lassen. Eine den aktuellen politischen Nachrichten zu verdankende Reaktion auf das durch Herzog Moritz' Wendung gegen den Kaiser höchst komplizierte politische Kräftespiel läßt die wohl berühmteste Elegie jener Jahre erkennen: eine in das zweite Buch eingerückte ( II, 4), vielleicht in Paris zu Papier gebrachte Phantasmagorie, gerichtet an Joachim Camerarius d.Ä., eine der Leitfiguren des reformatorischen deutschen Humanismus. Beschrieben werden zwei Traumbilder. Dem Schlafenden erscheint in allegorischer Personifikation zunächst die bedrängte Stadt und beklagt in direkter Rede die Gnadenlosigkeit ihrer Gegner.® Obwohl grundsätzlich treu zu Kaiser und Reich stehend, sieht sie totaler Vernichtung entgegen. Dies entspricht der Situation kurz vor Ende der Kämpfe (11,4, V. 17-70): Ergo tremens, quis me manet exitus, inquit? an vltra Sors mea, quo tandem progrediatur, habet? En ego, quam foui tot secula fortiter vrbem, Nobile cui de m e nomen habere dedi. Efferus ex imis euertere sedibus hostis Nititur, & veniae ius superesse negat. Hic pietatis honos? ea libertatis amatae Gratia? quid fieret, si scelus ausa forern? Prosit, & excuset, quod sum mihi conscia recti Et caput in patriae nulla quod arma tuli.
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Die Faktur erinnert an T r a u m e r z ä h l u n g e n wie bei Lotichius' Lieblingsdichter Tibull (3,4,17ff.) oder an nächtliche Erscheinungen in epischer Dichtung (etwa Vergil, Aen. 8,29ff.). Die Personifikation einer Stadt war in der antiken wie frühneuzeitlichen R o m dichtung vorgebildet (Martial, Claudian). A u c h die Mauerkrone des Wappens gehörte z u m Bildarsenal der alten Romvorstellung.
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Sed prodesse parum est: labes hinc prima malorum. Hoc miserae (verum si profitemur) obest. Moenia debueram natalia prodere, texi: Fida nec innocuis ciuibus esse, fui. At decus hinc nostrae quondam meruere puellae, Ad quas & populi summa relata sui: Gratia vindicibus iam nulla rependitur armis. Cum tulerint aliae praemia, plector ego. Quid faciam? qua spe nitar? quo lumina flectam? Vnde petam fessis perdita rebus opern? Non mea connubijs operatur in vrbe iuuentus, Pace bona casti gaudet Amoris opus. Squalida vastatis apparent frugibus arua: Hostis ab agricola non sinit arua coli. Nec lego purpureos in serta recentia flores: Non mihi flos pratis mollibus vllus hiat. Funera bis vidi campis indigna meorum, Damna bis aduerso tristia Marte tuli. Hei mihi, qualis erit (quod abominor) exitus vrbis, Concidet hostili si reserata manu? Quis tenerum pauidae latus hauriet ense puellae, Virginitas cuius praeda latronis erit? Haec, oculi quaecunque vident, cinis omnia fient, Utraque dicetur flebile ripa solum. Ergo dies veniet, qua moenia nulla tuebor, Paruaque restabit nominis vmbra mei. Quaque fuit murus teram proscindet arator, Urbsque sub his, dicet, collibus alta fuit. Quid grauius, victore Geta, miseranda tulissem, Caesare quam magno bella gerente fero? Atque vtinam saeui potius mea viscera Thraces, Persaque, & extremus dilaceraret Arabs. Hoc tarnen infelix casus solarer acerbos: Vulnera cognatae sunt grauiora manus. Maiorum tumulos, sacrasque Tuistonis vmbras Testor, & haec tacito sidera fixa polo. Me seruasse fidem: Si mentior, vltima nunquam. Quae patior, tantis hora sit vlla malis. Et tarnen vt furijs insurgit atrocibus hostis: Si libet in cineres saeuiat ille meos. Herbiferae valles, gelidique in vallibus amnes, Quidquid & in terris dulce relinquo, vale. Este mei memores ripae, Nymphaeque sorores. Longa mea in vestris regna fuere locis. (Übersetzung: So sagte sie [die Jungfrau, Wappenfigur der Stadt] grollend: »Welch ein Ende wartet auf mich, oder kann mein Schicksal es denn noch weiter treiben? Siehe, die Stadt, die ich so viele Jahrhunderte lang tapfer beschützt habe und der ich meinen edlen Namen als Geschenk überließ, die möchte ein wilder Feind mit aller Gewalt von Grund auf zerstören und leugnet, daß noch ein Anrecht auf Gnade bestehe. Ist dies die Anerkennung frommer Gesinnung? Dies der Lohn für Freiheitsliebe? Was würde erst geschehen, wenn ich ein Verbrechen gewagt hätte? Möge es mir nützen und mich von Schuld freisprechen, daß ich mir meines rechten Handelns bewußt bin und daß ich nicht gegen das Haupt des Vaterlandes zu Felde gezogen bin. Aber >nützen< ist noch zu wenig. Der Sturz ins Unheil begann damit, und dies, um die Wahrheit zu sagen, schadet mir Armen: Ich hätte die
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heimatlichen Mauern verraten sollen, habe sie aber geschützt, und hätte nicht treu zu den unschuldigen Bürgern halten dürfen, habe es aber getan. Aber damit haben einst unsere Mädchen Ehre verdient, denen selbst die wichtigsten Belange des Volkes anvertraut wurden. Doch kein Dank wird den schützenden Waffen mehr erstattet; während andere Lohn davongetragen haben, werde ich bestraft. Was soll ich tun? Auf welche H o f f n u n g mich stützen? Wohin mein Auge wenden? Woher soll ich Arme Hilfe holen in der verzweifelten Lage? Meine j u n g e n Leute in der Stadt w i d m e n sich nicht den Werken des Ehestandes; nur im w o h l t u e n d e n Frieden gedeiht die u n s c h u l d i g e Liebe. Trostlos zeigen sich die Felder, nachdem die Ernten vernichtet sind: Der Feind läßt nicht zu, daß die Äcker vom L a n d m a n n bebaut werden. Auch sammle ich keine purpurfarbenen Blumen zu frischen Kränzen: Keine einzige Blume öffnet sich mir auf den weichen Wiesen. Z w e i m a l sah ich auf der Walstatt den schmählichen Untergang der Meinen; zweimal ertrug ich Verlust u n d Trauer bei widrigem Kriegsglück. Weh mir, was f ü r ein E n d e wird die Stadt nehmen, wenn sie fällt (was Gott verhüte), die Tore geöffnet von feindlicher Hand? Wer wird den zarten Leib des f u r c h t s a m e n M ä d c h e n s mit seinem Schwert d u r c h b o h r e n ? Welchem Räuber wird die Jungfräulichkeit zum O p f e r fallen? Dies alles, was meine Augen sehen, wird gänzlich zu Asche werden; beide Ufer werden >Boden der Tränen< heißen. Also wird der Tag k o m m e n , an dem ich keine Mauern mehr schütze und kaum noch ein Schatten meines Namens übrig bleiben wird. Und w o eine Mauer war, wird der Bauer die Erde durchpflügen u n d sagen: >Unter diesen Hügeln war einst eine hochgebaute Stadt.< Hätte mich der Türke besiegt, was hätte ich E r b a r m e n s w ü r d i g e Schlimmeres ertragen als nun, da der große Kaiser gegen mich Krieg führt? Und möchten mich doch lieber die grimmen Thraker zerfleischen, der Perser und der Araber vom Ende der Welt! Unglücklich zwar, würde ich mich trotzdem damit über mein grausames Unglück trösten: Mehr schmerzen Wunden von verwandter Hand. Bei den Gräbern der Ahnen u n d den heiligen Schatten Tuistos bezeuge ich es und bei diesen Sternen, angeheftet am schweigenden Firmament: daß ich die Treue bewahrt! Wenn ich lüge, möge niemals den großen Übeln, die ich erdulde, eine letzte Stunde schlagen! Und trotzdem erhebt sich der Feind wie mit schrecklichen Furien: Mag er noch, wenn's denn beliebt, gegen meine Asche wüten! Ihr grasreichen Täler, ihr kühlen Flüsse in den Tälern u n d alles, was ich auf Erden Liebreizendes zurücklasse, lebt wohl! Gedenkt meiner, ihr Ufer u n d ihr verschwisterten N y m p h e n ; in euren Gefilden war lange mein Reich.«)
Der zweite Teil der Elegie zeigt den Dichter in grübelnder Meditation über diese Erscheinung. Inmitten einer düster-geheimnisvollen Naturszene verwandelt sich die Umgebung, einem Tagtraum ähnelnd, in ein sinnträchtiges Wunderzeichen. Die Vögel des Waldes gruppieren sich zu allegorischen Formationen, die zunächst chiffrenartig den Kampf des Kaisers (des Adlers ) gegen die lutherischen Stände (sie stehen im Zeichen des Schwans, des mit Luther identifizierten Vogels) symbolisieren. Dann evoziert der Text die mit dem Frontwechsel des kaiserlichen Feldherrn heraufbeschworene neue Lage. Lotichius konnte wohl schon wissen, daß Moritz von Sachsen nun als Vorkämpfer der deutschen »Libertät« gegen Karl V. zog und diesen zum Vertrag von Passau zwang (2.8.1552). Damit war die Sache der Protestanten gerettet, freilich in geheimem Bündnis mit den Franzosen. Bereits von den Zeitgenossen wurden die Tierbilder politisch gedeutet. Die Rettung des deutschen Protestantismus, die neuen Kämpfe gegen den Kaiser, die zuerst den Sieg und dann den Frieden ankündigten, restituieren auf der gewählten Bildebene eine friedvolle Szenerie, die im Wunsch des lyrischen Ich eine düstere Geschichtsepisode abzuschließen scheint (V. 97-102):
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Mox paucae redeunt, & ouantes Sole reducto, Paulatim molli pace fruuntur aues. Et niue candidior, veluti iam fata vocarent, Fundit olor dulces ad vada nota sonos. Protinus exclamo, superi mea visa secundent: Inque Notos, quidquid triste minantur, eat. (Übersetzung: Bald kommen die Vögel in kleinen Gruppen zurück, und frohlockend über die Wiederkehr der Sonne, genießen sie nacheinander wieder den behaglichen Frieden. Und als ob das Schicksal schon riefe, läßt der Schwan, weißer als Schnee, am vertrauten Gewässer seinen süßen Gesang hören. Sogleich rufe ich aus: Mögen die Götter meine Gesichte zum Guten wenden, und möge alles, was sie Trauriges androhen, mit dem Sturmwind verwehen!)
Freilich mündet das Gedicht in kryptische Andeutungen, in eine Sprachgeste des Schweigens und Verschweigens, und die Anrede an den Freund Camerarius offeriert dem Leser auch die Möglichkeit, den Text als zukunftsweisende, freilich noch verhüllte Prophetie »künftiger Schicksale« zu entschlüsseln (V. 105-108): Haec tibi, cui fas est casus aperire futuros, Carminibus volui non reticere meis. Plura quidem vidi, sed quae caelanda putaui, Valle sub arcana caetera quercus habet. (Übersetzung: Dies wollte ich dir, dem ich künftiges Schicksal enthüllen darf, nicht verschweigen in meinem Lied. Zwar habe ich mehr noch gesehen, aber das übrige, was ich glaubte verheimlichen zu müssen, weiß nur die Eiche in einem verschwiegenen Tal.)
Achtzig Jahre später, als die Truppen der Liga unter Führung Tillys Magdeburg belagerten, einnahmen, ausraubten und in wütender Brandschatzung zerstörten, erinnerte man sich mit Vorliebe an Lotichius' Magdeburg-Elegie. Um das Jahr 1631 jedenfalls erschien eine Reihe z.T. zweisprachiger Ausgaben, darunter eine deutsche Fassung, die man gelegentlich zu Unrecht Martin Opitz zuschrieb, die tatsächlich aber von dem Leipziger Drucker Gregor Ritzsch (1584-1643) stammte.39 Ob Lotichius die Katastrophe der Stadt in den oben zitierten Versen 39
Vgl. alles Nähere bei Marian Sperberg-McQueen: Did Opitz Translate Lotichius's Elegy on Magdeburg, in: Modern Language Notes 96 (1981), S. 604-612: die Übersetzung von Ritzsch ist abgedruckt in: Spätmittelalter-Humanismus-Reformation. Texte und Zeugnisse, hg. von Hedwig Heger. Zweiter Teilbd. Blütezeit des Humanismus und Reformation. München 1978 (Deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse II, 2), S. 4 7 9 - 4 8 5 . Verzeichnet sind mindestens neun Einzelausgaben der als Flugschrift gedruckten Übersetzung: vgl. Werner Lahne: Magdeburgs Zerstörung in der zeitgenössischen Publizistik. Magdeburg 1931 (Gedenkschrift des Magdeburger Geschichtsvereins zum 10. Mai 1931), hier im Verzeichnis der mehr als zweihundert »Flugschriften« spez. Nr. 71-79, S. 227-229. Was Lahne zu Lotichius' Elegie anmerkt (»hypochondrische Laune des guten Lotichius«; S. 183f.), verrät bornierte Ahnungslosigkeit.
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vorausgesagt, etwa auch im geheimnisvollen Schlußteil der Elegie geheimnisvoll angedeutet habe, wurde noch in einer Dissertation des 18. Jahrhunderts, 40 ja selbst in einem Artikel des Magdeburger Generalanzeigers aus dem Jahre 1926 (Nr. 280) behandelt. 41 Auch ein seinerzeit einmal anonym gedrucktes, sonst nur handschriftlich überliefertes Epigramm des Schlesiers Martin Opitz (1597-1639) zog Parallelen zwischen Magdeburgs Bedrohung durch Karl V. und dem Angriff der ligistischen Feldherrn, des Grafen Tilly.42 Der vergleichsweise lakonische Kommentar, geschrieben in einer Lebensphase (1626-32), in der sich Opitz dem katholischen Breslauer Statthalter Karl Hannibal von Dohna verdingt hatte, läßt sich mit der eher teilnahmslos wirkenden Übersetzung vergleichen, die Opitz einem lateinischen Gedicht des Hugo Grotius über den Fall der hugenottischen Seefestung La Rochelle angedeihen ließ.43 Jedenfalls hält sich der Verfasser von der Emphase jener Klagegesänge, jener empörten Aufschreie, jener hochrhetorisierten Invektiven fern, die das Erscheinungsbild der nach Hunderten zu zählenden Publikationen des Tagesschrifttums prägten - auf protestantischer Seite. Die immer wieder polemisch ausgebeutete Antithese zwischen dem groben »Freier« Tilly und der reinen »Jungfrau« Magdeburg, Leitmotiv auch mancher Flugblätter,44 dient Opitz nur zu einem nüchternen >concettistischen< Witz, was manche informierten Zeitgenossen mit Bitterkeit zur Kenntnis nahmen. Der in Distichen geschriebenen lateinischen Version gab Opitz eine deutsche Übersetzung bei:45 Die stets alleine schlieff, die züchtig' alte magdt. Von tausenden gehofft, vnd tausenden versagt. Die Carl zuvor, vnd itzt der Marggraf hat begehret Doch j e n e m nie. und dem nicht länger war gewehret. (Weil jener Ehlich war. vnd dieser Bischoff ist, vndt keine Jungfraw Jhr ein frembdes Bett erkiest.) Kriegt Tylli, also kömpt itzt keusch mit keuschen Flammen vnd Jungfraw vnd gesell, vnd alt vnd alt zusammen.
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Sebastian Kortholt (Professor in Kiel): Disquisitio utrum Petrus Lotichius Secundus obsidionem urbis Magdeburgensis praedixerit. Kiel 1703. Paulig: Magdeburg im Glänze neulateinischer Poesie: nach Lahne (wie Anm. 39), S. 183f. Es wurde 1889 von Reifferscheid gedruckt und liegt in drei verschiedenen zeitgenössischen Abschriften vor. Näheres bei Martin Bircher/Marian Szyrocki: Die züchtig' alte Magd - Die weiland schöne Dirn, in: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 4 (1977), S. 80f. Hier auch die »GegenVerß Anonymi«. Claus Lenz verwies auf einen Abdruck in der »Reichs-Zeitung« des Jahrgangs 1631 und weitere Rezeptionsspuren im 17. Jahrhundert: Die Jungfrau und der Poet - Martin Opitz über die Eroberung Magdeburgs, in: Simpliciana IX (1987). S. 193-203. Es erschien 1629 in zwei Drucken jeweils lateinisch-deutsch: vgl. den Abdruck in M. Opitz: Gesammelte Werke, hg. von George Schulz-Behrend. Bd. IV, 1. Teil. Stuttgart 1989. S. 324-328. Vgl. etwa Ed. Harms. Wolfenbütteler Sammlung, Teil/Bd. II (wie A n m . 8), Nr. 227, S. 400f.; zeitweilig bestanden Pläne, Magdeburg als »Marienburg«, also als katholischen Vorposten, wiederauferstehen zu lassen; dazu ebd. das Flugblatt Nr. 235. S. 410f., mit weiteren Hinweisen. Hier zitiert nach Bircher/Szyrocki (wie Anm. 42), S. 81.
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Es würde die hier gebotenen Darstellungsgrenzen sprengen, auch nur ansatzweise das Spektrum der um 1631 flutartig anschwellenden Magdeburg-Publizistik zu mustern. Gegenüber 1551 hatten sich, publikations- und formtypologisch betrachtet, die massenwirksamen Verbreitungsmedien der literarischen Propaganda noch kaum verändert. Allerdings griffen namhafte Autoren nun auf jene ästhetisch eleganteren Techniken der seit Opitz eingeführten Alexandrinerdichtung zurück, distanzierten sich auf diese Weise von den mittlerweile unbeholfen wirkenden Darstellungsweisen der zeitgeschichtlichen Lieddichtung und Knittelversdidaxe. Selbst eher irenisch eingestellte Verfasser, die wie Diederich von dem Werder (1584-1657) später durchaus Erasmischen Friedensträumen anhingen,46 legten die sattsam bekannte Topik Magdeburgischer Jungfräulichkeit einer flammenden Invektive zugrunde, in welcher der angeblich allen fraulichen Reizen abholde >Korporal< Tilly die Rolle des teuflischen Unholds abgeben mußte. Personalisierung war geboten, damals wie heute, und Feinheiten der historischen Analyse (das von den Magdeburgern ausgeschlagene Kapitulationsangebot, die fragwürdige Rolle des städtischen Rats und seines militärischen Beraters, Dieterich von Falckenberg, die vergebliche Hoffnung auf den zögernden Gustav Adolf) ließen sich nicht in agitatorischer Lyrik unterbringen, deren Pathos etwas von der Enttäuschung verrät, die den Protestantismus mit den Interessen der >deutschen NationKlageamplificatio< »omnes generales sententiae sive axiomata« beigezogen werden. Sibaeus' erstes Distichon enthält ein derart allgemeingültiges »Axiom«: »Die häufige Veränderung der Dinge ist für die Guten schädlich«. Der Satz fungiert ebenso als rhetorischer Gemeinplatz wie Sibbes Hinweis auf die in der geforderten Ratsentscheidung nötigen Tugenden der »prudentia«, »pietas« und »honestas«. Diese werden zugleich a contrario, vom Gegenteil her, beleuchtet, - nämlich im Kontrast zur Gottlosigkeit und Bildungslosigkeit in den von den Türken unterjochten Gebieten. Da diesem Mahngedicht panegyrische Verse auf Heinrich Storck folgen, die dessen Verdienste um die Stadtbefestigung rühmen, ist suggestiv und assoziativ die innenpolitische Sorge um die rechte christli-
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Z u m Problemfeld vgl. Martin Honecker: Cura religionis Magistrates Christiani. Studien zum Kirchenrecht im Luthertum des 17. Jahrhunderts, insbesondere bei Johann Gerhard. München 1968 (Jus Ecclesiasticum 7), spez. S. llOff. Ludolf Hanemann, der von 1562-71 amtierte (?): nach Julius Jaeger: Die Schola Carolina Osnaburgensis. Festschrift zur Elfhundertjahrfeier des Königlichen Gymnasium Carolinum zu Osnabrück. Osnabrück 1904, S. 28.
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che Schule mit der äußeren Verteidigung und Sicherung der Stadt, ja mit dem verheerenden Wirken des türkischen »Erbfeinds« verknüpft. Die aufgerufenen Tugenden stellen Strukturelemente eines postulativ gemeinsamen Bewußtsteins dar, auf das sich der Redner beziehen muß, um wirkkräftige Aussagen machen zu können und die aktuelle Frage im Spektrum möglicher Problemdefinitionen als moralische zu bestimmen. Sibaeus verstand so mit Melanchthon die »loci communes« als »formae rerum«, in denen sich die Vielfalt der Erfahrungen auf ethische und anthropologische Grundkategorien hin systematisieren und reduzieren ließen. Gerade die Opposition von »pietas« und »impietas« war für Melanchthon der »primus locus« des christlichen Rhetors, Leitfigur aller »loci communes« im Sinne von »Lebensregeln, von deren Geltung die Menschen überzeugt sind« und die gleichsam naturgesetzliche Plausibilität beanspruchen dürfen. Es ist im Lichte dieser Analyse schlüssig, wenn Sibaeus der poetischen >adhortatio< an den Rat Gedichte an noch lebende und offenbar befreundete Ratsmitglieder folgen läßt, auf deren Zustimmung er wohl vertrauen konnte: Gedichte an den Ratsschreiber Christophorus Gerenberg (zu ihm s.u.), den Stadtkämmerer Rudolph Hammaker (1528-1594), 47 den noch jungen »Patrizier« Theodor Bremer und den mäzenatisch freigebigen Bürger Christophorus Glasemaker, gräzisiert »Hyalopaeus«. Den Abschluß des Buchs bildet ein Lobgedicht auf Melanchthon (S. Diij, r.-v.), den großen »Praeceptor«. Sibbes Verse lassen erkennen, daß angesichts der innerprotestantischen Auseinandersetzungen und der auch in Osnabrück vordringenden Polemik gegen Sakramentierer, d.h. wohl auch die des »Kryptocalvinismus« verdächtigten Melanchthonianer ein derart eindeutiges Bekenntnis nicht selbstverständlich war. Gegen die »pravae
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Ratsherr und Bürgermeister von 1565-1587; vorher Studium in Erfurt und Wittenberg (1549); vgl. Hamelmann, wie Anm. 15. S. 202, sowie I. Das älteste Stadtbuch von Osnabrück. II. Das Legerbuch des Bürgermeisters Rudolf Hammacher zu Osnabrück. Hrsg. von E. Fink. Osnabrück 1927 (Osnabrücker Geschichtsquellen IV); Friedrich Lodtmann: Die letzten Hexen Osnabrücks und ihre Richter. In: Osnabrücker Mitteilungen 10 (1875). S. 9 7 - 2 0 0 ; hier 189ff. Epitaphien auf Hammaker; Judith McAlister-Hermann: Rudolf Hammacher (1528-1595). Osnabrücker Bürgermeister, pater familias und Hexenverfolger [...]. In: Sprache und Herrschaft 14 (1983). S. 130-163. U m den Prediger Wilhelm Voß, der des Zwinglianismus beschuldigt wurde, entspann sich eine auseinandersetzung, die den Osnabrücker Rat veranlaßte, sich (mit Publikation vom 25. Juli 1563) ausdrücklich zur unveränderten Augsburger Konfession zu bekennen. Rudolf Hammaker. Georg von Lengerke, aber auch Sibbes Freund Christoph Gerenberg waren Wortführer der Altlutheraner: vgl. die Darstellung bei [Johann] C[arl Bertram] Stiive: Geschichte des Hochstifts Osnabrück von 1508 bis 1623. Zweiter Theil. Nachdr. der Ausgabe 1872. Osnabrück 1970, S. 201-203. Die Osnabrücker Prädikanten veröffentlichten 1565 eine Schrift »jegen de Sacramentarios«; vgl. Spiegel wie Anm. 28, S. 85f.; Sibbes Bekenntnis zu Melanchthon scheint auf eine vermittelnde Position hinzudeuten; seine Verehrung entspricht der Bedeutung Melanchthons für die geistige Orientierung zahlreicher Humanisten der postreformatorischen Ära; zu entsprechenden Gedichten vgl. Kühlmann, wie Anm. 44. S. 36ff.; ferner Manfred P. Fleischer: Melanchthon as Praeceptor of Late-Humanist Poetry. In: Sixteenth Century Journal 20 (1989), No. 4. S. 559-580.
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sectae« wird deshalb das Bündnis von Luther und Melanchthon beschworen. 48 Der Dichter will in seinem Lehrer weiterhin den »verae doctrinae doctor & auctor & conservator« verehren:49 Deshalb wird er den Titel eines Lehrers behalten, mögen auch unfähige Schüler ihm die gerechte Belohnung verweigern. Wir betrauern das traurige Schicksal eines solchen Meisters, dem künftige Jahrhunderte nichts Ähnliches an die Seite stellen werden. Nichts Schlimmeres gibt es auf der Welt als die Undankbaren. Mögen sie zu den Raben verschwinden und ihren verdienten Lohn finden!
Die hier apostrophierten Gegner Melanchthons verschmelzen im Gedicht mit nicht qualifizierten »Neuerungssüchtigen«, deren religiöse Überzeugung sich nach dem kruden Vorteil und dem Geschmack der Masse (populus, vulgus) ausrichtet. Am Ende des Lyrikbuches steht das persönliche Bekenntnis des Reformationshumanisten: In Liebe habe ich dies meinem Lehrer gesungen, unbekümmert um alles, was die neidische Menge bellt.
Der 1565 nachgereichte Lyrikfaszikel setzt ein mit einem im asklepiadeischen Versmaß, also metrisch kunstvoll geschriebenen Huldigungsgedicht an den frischgebackenen Bürgermeister Rudolph Hammaker und den eben ernannten Stadtschreiber Georg Lengerick (d.i. von Lengerke, ca. 1542-1614). Beide werden angeredet als »beste Freunde« (»summi amici«) des eben (8.3.1565) verstorbenen Stadtsekretärs Christopherus Gerenberg aus Lage bei Osnabrück.5" Sibaeus will nicht nur gratulieren, sondern bittet darum, die ihm ehemals von Gerenberg erwiesene Gunst und Förderung weiterhin zukommen zu lassen. Der Freund des Verstorbenen wendet sich an die zu Ehren gekommenen »Freunde des Freundes«, um ein neues »Klientelverhältnis« zwischen dem armen Schulpoeten 49
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Fol. Diij (r.v.): »[...] Hinc praeeeptoris n o m e n retinebit, inertes Discipuli q u a m v i s praemia iusta negent. Tristia nos tanti lugemus fata Magistri. Secula sui similem nulla futura dabunt. Ingrati, quibus est toto nil peius in orbe, ad Corvos abeant, praemia digna ferant. [... der Schluß:] Haec Praeceptori cecini Sibbaeus amando, Nil curans quiquid livida turba latret.« Gerenberg war Stadtschreiber von 1554 bis 1562; ein lat. Grabepitaph (des Simon Hagemann aus Lemgo, seit 1563 in Osnabrück) zum Tode Gerenbergs ist mit Angabe des Sterbetages abgedruckt in: Geschichte des Fürstenthums und des Hochstifts Osnabrück. Theil I. II. Osnabrück 1792. spez. Theil U. S. 23 (in: Der Ossenburggeschen Chronica Drüdder Deil); Exemplar ÜB Osnabrück. Eine Abschrift des Epitaphs auch Stadtarchiv Osnabrück (Dep. 3 b IV, Nr. 1. Bl. 81 v.: Ratsprotokollbuch; hier Bl. 82v. ein Bericht über den Tod Gerenbergs. Näheres über ihn und die anderen Stadtsekretäre (Lengerick/ Lengerke, Hetlage) ist in einer umfassenden Untersuchung von Frau Dr. Judith McAlisterHermann zu den Osnabrücker Niedergerichtsprotokollen zu erwarten; vgl. einstweilen McAlister-Hermann: Hochdeutsch und Niederdeutsch in der Schreibpraxis des späten 16. Jahrhunderts. Eine literarische Sprachbiographie in der Erforschung sprachlicher Verhältnisse in einer norddeutschen Stadt. In: Stadtsprachenforschung [...]. Hrsg. von Gerhard Bauer. Göppingen 1988 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 488). S. 169-237. spez. Kap. III. S. 173ff.: Der Osnabrücker Stadtschreiber Georg von Lengerke (ca. 1542-1614).
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und den mächtigen Ratsherren zu begründen." Das folgende große Epicedium auf Gerenberg versteht sich deshalb nicht nur als Ehrengedächtnis, sondern im Funktionszusammenhang des Lyrikcorpus zugleich als Begründung der im ersten Gedicht vorgetragenen Bitte. So ist zu verstehen, daß Sibaeus in dieser lyrischen Totenfeier alle rhetorischen Register seines Könnens zieht (S. Aijaiij,v.): Epicedium Clarissimi, etc. ut supra.
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CEde dolor, tantisper abi dolor improbe tandem. D u m plorem clare tristia fata uiri, Tristia fata uiri, qui uix praestantior alter Numinibus uisus Hasa beata tuis. N a m modo luctificas haec exigit hora querelas, Teque pij luctus nunc Elegia decent. Non tarnen exhaustus lachrymis, fractusque dolore Nominibus potero promere digna tuis. Ipsa comas igitur turba, & tua pectora tunde, Hic tibi non ficti causa doloris erit. Cur ita? decessit tua laus, tua gloria Lagus, Fatorum immiti lege iubente mori. Et iacet in parua tantus uir conditus urna. Quem pia non totum Vuestphala cepit humus, Cuius sparsa uolant uarias benefacta per oras Quas sibi subiectas uesper & ortus habent. Cui sacer ingenij uires largitus Apollo, Plena Medusaeae pocula fudit aquae. Rupe sub Aonia quem lactauere Camoenae. Quem fouit placido Pallas amica sinu. Inter tot cygnos quo uix foelicius alter, Aonijs cecinit carmina docta modis. Nec solo meruit praeclaram carmine laudem. Hoc aliquid maius quo celebretur habet. Quantum excelluerit dicendo iure disertus. Non erit ut m e m o r e m temporis huius opus. Hic, ni spreuisset, potuit de rhetore Consul Effectus fasces rite tulisse suos. Vir tantus moritur, medium vix transijt aeuum, Viuere quod potuit, ni Deus abripuit. Heu mihi quam fragilis vita est mortalibus aegris Quam tenet haec constans perpetuumque nihil. Nascimur, & rursus fatis occumbimus atris. Et calcanda semel semita dura necis. Vt subito pereunt ornantes pascua flores, Vtque cadit summo flumine bulla natans, Sic hominis vita est, quae cum pulcherrima floret Per necis immotae tela cruenta cadit.
Wie Anm. 29, Fasz. b (fol. A): Ad ciariss, prudentissimosque viros D. Rodolphum Hammakerum Consulem, & D. Georgium Lengerick Secretarium recens creates, Clariß. & Praestantiß. viri, D. Christophori Gerenbergi Lagensis summos amicos, novae dignitatis gratulatio; hier V. 18f.: »Interea, electus consul, sub signa Sibaeum Suscipe quaeso tua. Atque suis votis concedere iura clientis Vir celebrande velis.«
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Paeonijs mors est truculenta potentior herbis Et veniunt aequo fata seuera pede. Quin igitur cristas animi demittimus altas, Atque precamur opem, supplice voce, Dei: Adiutor veniet praesens fortisque roganti, Non etenim miseros deseruisse potest. Hinc igitur diuum L a g u s correptus in aulam Ducit in angelico gaudia laeta choro. Et fruitur laeta nunc consuetudine Christi, Synaicoque canit carmina grata Deo. Gaudeat ille licet, tarnen inclyta turba sororum, Et Pallas toto pectore maesta dolent. Nam dea cum fatis hunc L a g u m vidit ademptum Vestibus ipsa nigris vndique cincta venit. Hanc comitabantur doctae ex Helicone sorores Quarum singultus multus in ore fuit. Cumque videt gelidum viuo sine flamine corpus En lachrymae inceptos impediere sonos. Incipit ast animo tandem meliore recepto: Ο pie vir multos viuere digne dies. Quae te dira lues rapuit, quae causaue mortis Cur inimica tibi Parca seuera fuit? Siccine nunc vir docte iaces mi L a g e peremptae? Vnica qui moestae spes genitricis eras. Sic ne immature discedis morte, relicta Coniuge cum nata tristibus ac miseris. Tu nobis sublatus abes, rapit optima primum. Et peiora diu Parca fouere solet. Barbaras, & nullis aliquis virtutibus aptus Viuacis corui secula tutus aget. At si quis studijs paulum profecit honestis, Indolis & specimen non triuiale dedit. Continuo limis notat hunc fortuna retortis, Continuo hunc Lachesis sub sua iura trahit. Hie tenor, haec rapidi torrens violentia fati est. Quam nimium toto vendicat orbe tenax. Sic dixit Pallas, doctae assensere sorores, Adgemuisse statim visus Apollo fuit. Sic tua L a g e sacrae deflerunt funera musae, Luxit & abiecta tristis Apollo lyra. Sed tu Pieridum iustissima gloria L a g e Viuis, nee totus mortuus esse potes. Viuis, & humani rides ludibria luctus, Nec tangit sensus nostra querela tuos. Cumque sit haud vlli tua mens obnoxia morti, Certus es ingenij non monumenta mori. lila nec extinguit Iouis ira, nec vlla vetustas. Omnia cum pereant, hic bona f a m a manet. Hic bona f a m a manet, quamuis nos cedere fato Cogimur, ut fato cedere quemque decet. Hei mihi quod preeibus fatales flectere diuas Nemo potest, & quod mors sua quenque manet. Si uitae possent, pietas sermoque disertus, Tempora Nestoreos ducere adusque dies.
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Vnus qui pylij superaret secula pensi, Christophorus noster dignus amicus erat. Fallitur extinctum tarnen hie qui credit amicum, Iam rursus moestis uiuit ab exquijs. Ergo m o d u m tandem p o n a m u s luctibus, istud Inscriptum tumulo distichon ille ferat: Lagus in hac iaceo cineres tumulatus arena, Fama uolat terris, spiritus astra subit.
Trauergedicht auf den hochberühmten usw. [Christoph Gerenberg aus Lage] Weiche, ο Schmerz, geh fort, böser Schmerz, wenigstens einmal so lange, bis ich das traurige Schicksal des bedeutenden Mannes beweint habe, der größer als jeder andere deinen Göttern, glückliche Hase, erschienen ist. Denn nun fordert diese Stunde jammervolle Klagen, und f r o m m e Trauer ist dir, Elegie, angemessen. Dennoch werde ich nicht, vom Weinen erschöpft und vom Schmerz gebrochen, etwas hervorbringen können, das deines Namens würdig ist. Daher: Zerraufe dir selbst das Haar u n d schlage dir die Brust; (10) hier wird es Anlaß zu echten Schmerzensäußerungen geben. Warum das? - Hingegangen ist der Mann aus Lage, dein Stolz, dein R u h m , da das unbarmherzige Gesetz des Schicksals ihm zu sterben befahl. Und nun liegt, geborgen in einer kleinen Urne, ein so großer Mann, den doch nicht allein die f r o m m e westfälische Erde a u f g e n o m m e n hat. Seine Wohltaten sind verbreitet über alle Länder, die A b e n d und Morgen unter ihrer Herrschaft haben. Ihm hat der mächtige Apoll schöpferische Kraft geschenkt und den Becher mit dem Wasser der Musenquelle vollgeschenkt. Er, den die C a m ö n e n unter dem aonischen Felsen nährten, den die freundliche Pallas an ihrer sanften Brust wärmte. (20) Unter so vielen Schwänen hat kaum ein anderer leichter gelehrte Lieder nach der Weise der Musen gesungen. Aber nicht allein mit seinem Gesang hat er sich besonderen R u h m verdient: Er hat noch etwas Größeres als dies, weshalb er gefeiert wird. Wie sehr er als Rechtskundiger hervorragte, das zu berichten ist es jetzt nicht an der Zeit. Da hätte er, wenn er es nicht verschmäht hätte, aus einem Anwalt zu einem Bürgermeister werden und zu Recht seine Amtsabzeichen tragen können. Und ein solcher Mann stirbt, kaum die Hälfte der Zeit hat er durchmessen, die er hätte leben können, wenn sie ihm Gott nicht g e n o m m e n hätte. (30) Weh mir, wie zerbrechlich ist das Leben der schwachen Sterblichen, wie hat dieses Leben doch so gar nichts Beständiges und Dauerndes! Wir werden geboren und erliegen wieder dem dunklen Schicksal, und einmal ist der harte Weg des Todes zu betreten. Gerade wie mit einem Male die Blumen vergehen, die die Wiesen schmücken, u n d wie die Blase zerplatzt, die auf der Oberfläche des Flusses schwimmt, so ist auch das Leben der Menschen, das, wenn es am schönsten erblüht ist, von den blutigen Geschossen des unbeweglichen Todes zu Fall gebracht wird. Mächtiger als die päonischen Heilkräuter ist der grimmige Tod, und mit gleichmäßigem Schritt kommt das strenge Schicksal. (40) Warum lassen wir da nicht den geschwollenen H a h n e n k a m m unseres Geistes sinken und erflehen Gottes Hilfe mit flehender Stimme? Der Helfer wird k o m m e n u n d dem Bittenden mächtig zur Seite treten, denn er kann die Unglücklichen nicht im Stich lassen. Daher erlebt der Mann aus Lage, nachdem er von hier an den göttlichen Hof abberufen ist, Freude und Glück im Chor der Engel. Und er genießt nun den freudigen U m g a n g mit Christus, und er singt Dankeslieder dem Gott vom Berge Sinai. Doch m a g auch jener glücklich sein, so empfinden doch die ruhmreiche Schar der Musen und Pallas Trauer u n d Schmerz in ihrer ganzen Brust. (50) Denn als die Göttin sah, daß unser Lagus vom Schicksal hinweggerafft worden war, da kam sie in schwarze G e w ä n d e r eingehüllt daher. Es begleiteten sie die gelehrten Schwestern vom Helikon, deren Gesichter vom vielen Schluchzen gezeichnet waren. Und als sie den kalten Körper ohne lebendigen H a u c h erblickte, weh, da versagten die Tränen ihr die Stimme. D a n n aber begann sie, als sie endlich wieder in besserer Verfassung war: »Du f r o m m e r M a n n , würdig, noch viele Tage zu leben. Welch schreckliche Seuche oder welch Greuel des Todes raffte dich hinweg? W a r u m war die feindliche Parze so streng mit dir? (60) So liegst du, gelehrter Mann, mein Lagus, vor mir, die ich nun ganz vernichtet
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bin, du, der du die einzige H o f f n u n g deiner traurigen Mutter warst? So entschwindest du durch einen unzeitigen Tod und läßt deine Gattin u n d deine Tochter betrübt und unglücklich zurück. Du bist uns g e n o m m e n und dahin; das Beste raubt die Parze zuerst, u n d das Schlechtere pflegt sie lange zu hüten. Ein Barbar, der zu keinen vorbildlichen Handlungen taugt, der wird sicher das Alter eines langlebigen Raben erreichen. Doch wenn einer in den ehrenvollen Studien ein wenig vorangekommen ist u n d ungewöhnliche Zeichen von Begabung verraten hat, (70) auf den späht sie sogleich mit schielenden, verdrehten Augen, den nimmt Lachesis sogleich in ihre Gewalt. Dies ist der Lauf, dies die reißende Gewalt des schnellen Schicksals, die dieses allzu beharrlich auf der ganzen Welt beansprucht.« So sprach Pallas, die gelehrten Schwestern pflichteten ihr bei, sogleich schien auch Apoll zustimmend zu seufzen. So beweinten die göttlichen Musen deinen Tod, mein Lagus, u n d betrübt warf Apoll die Leier weg und trauerte auch. Doch du, würdigstes Ruhmesblatt der Musen, mein Lagus, du lebst, du kannst nicht ganz tot sein. (80) Du lebst u n d verlachst das Spiel menschlicher Trauer, deine Sinne berührt unsere Klage nicht. Und da dein Geist keinem Tod verfallen ist, kannst du gewiß sein, daß die Erinnerung an deine Gaben nicht untergeht. Diese löscht nicht der Zorn Jupiters aus u n d nicht das Alter; w ä h r e n d alles untergeht, bleibt das gute Ansehen erhalten. Das gute Ansehen bleibt erhalten, wenngleich w i r g e z w u n g e n sind, d e m Schicksal zu w e i c h e n , w i e es j e d e m z u g e m e s s e n ist, d e m Schicksal zu weichen. Weh mir, daß keiner mit Bitten die Schicksalsgöttinnen erweichen kann u n d auf j e d e n sein Tod wartet. (90) Wenn Frömmigkeit u n d eine gewandte Rede es vermöchten, die Lebenszeit bis auf das Alter eines Nestor auszudehnen - der einzige, der würdig wäre, die Länge der pylischen Zeitspanne [met. für das hohe Alter des Pyliers Nestor] zu übertreffen, das wäre unser geliebter Christoph. Doch es täuscht sich hier, wer glaubt, der Freund sei ausgelöscht: Schon lebt er nach d e m traurigen Tod! Also laßt uns endlich d e m Trauern ein M a ß setzen, und jener m ö g e diesen Zweizeiler auf seinem Grabmal haben: Ich, Lagus, liege hier als Asche in diesem Sande beigesetzt, mein R u h m fliegt über die Lande, mein Geist bis zu den Sternen.
Wie in Ovids Klage um den toten Tibull ( Am. 111,9) spricht zuerst der Dichter über den Dichter, wollte sich doch Gerenberg selbst in lateinischer Verskunst bewähren; drei dieser Gedichte hatte Sibaeus in dem 1564 gedruckten Band mit abgekürzten Verfasserinsignien aufgenommen 52 und so die für die gelehrte Freundschaft konstitutive Gemeinsamkeit der musischen Interessen bezeugt. Wie bei Ovid wird in allegorischer Apostrophe der personifizierten »Elegie« die gattungsspezifische Einordnung der Klage (»querela«) signalisiert (V. 6). Die ersten fünf Distichen dienen, wie im Epicedium üblich, der lamentatio über den gepriesenen Toten, hier verbunden mit dem Zeugnis eigener Betroffenheit, die literarischem Ehrgeiz im Wege steht.53 Es folgt die topische laudatio seiner Verdienste, beginnend mit einer hyperbolischen Bestätigung des weit über Westfalen hinausreichenden »Ruhms« ( V. 14—16). Diese Verdienste bestehen aus der Sicht des Dichters zunächst in Gerenbergs dichterisch-gelehrter Produktivität (V. 17-22), erst dann folgt der Preis seiner rhetorischen und juristischen Kompe-
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Wie A n m . 29, Fasz. a, fol. Biiiij-C (v.) Zur gattungsspezifischen Struktur vgl. Hans-Henrik K r u m m a c h e r : D a s barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung i m 17. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 8 9 - 1 4 7 ; z u m topischen H i n w e i s auf die Schreibsituation (hier V. 5ff.) vgl. auch das grundlegende B u c h von Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977, spez. S. 166ff.
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tenz, (V. 23-28), die ihm, wenn er dies gewollt hätte, das Amt des Bürgermeisters hätte eintragen können. Es schließt sich ein zweiter Teil der lamentatio an, in dem unter dem metaphorisch umschriebenen Gesichtspunkt der Hinfälligkeit des menschlichen Lebens der konkrete Traueranlaß rhetorisch >amplifiziert< wird ( V. 31 -42). Die Betroffenheit der Trauergemeinde ist so nicht nur im gemeinsamen Schmerz, sondern auch in der alle angehenden Vorläufigkeit der menschlichen Existenz zur Sprache gebracht. Der Tote erscheint als Exempel einer kollektiven Grunderfahrung, die aber zugleich die christlichen Trostangebote (V. 43^19) evoziert. Hier wie im Schlußteil des Gedichts geht die lamentatio in die für diesen Gedichttypus geforderte consolatio über und damit in die Beschwichtigung der Trauer. Erregung und Besänftigung der Affekte bestimmen den gedanklichen Ablauf der lyrischen Rede. Beiden Zielen dient auch, von Sibaeus zweifellos als besonders ehrgeiziger Kunstgriff verstanden, der allegorisch konstruierte Auftritt der Pallas Athene, Patronin der Gelehrsamkeit und der Musen. Ihre Klage und die darauf bezogene Anrede des Verstorbenen durch den Dichter (V. 77ff.) dienen dazu, dem in der Metaphorik der Psalmen ausgedrückten Bewußsein der Kreatürlichkeit den Preis der musisch-gelehrten Leistung und damit das - nun in paganer Mythologie ( Apollo, Musen, Parzen) ausgedrückte - Versprechen eines Fortlebens in und durch den Geist (»mens«, »ingenium«, V, 83f.) an die Seite zu stellen. Dieses Fortleben erscheint als »bona fama«, in der beide Zentraltugenden des Toten und gleichermaßen des christlichen Humanismus, »pietas sermoque disertus« (V. 91), vor der Vergeßlichkeit der Nachwelt geschützt sind. Wie die ältere antikisierende Renaissancepoesie beschwört auch dies Gedicht ein durch Leistung zu sicherndes Nachleben des großen Individuums. Die fiktive Rede der antiken Göttin und der dichterische Kommentar entkräften die zur vanitas-Klage gehörende Entwertung bewiesener Tüchtigkeit. Das Schlußdistichon, wie oft im Epicedium eine imaginäre Grabschrift, deutet christliche Jenseitshoffnung an, setzt sie aber in eine lakonische Parallele zur Gewißheit einer Überwindung des Todes, die auf Erden durch soziale Anerkennung (»fama«) gewährleistet ist. Struktur, stilistischer ornatus, aber auch der argumentative Einzugsbereich dieses Epicediums unterscheiden sich nicht von ähnlichen Poemen der humanistisch-neulateinischen Tradition. In Gerenberg, dem gelehrten Sekretär, pries Sibaeus die »studia honesta« (V. 69) angesichts einer um sich greifenden »Barbarei« (vgl. V. 67f.). Mit solcher Zeitklage, einer dunklen Folie für die laudatio des Toten, stellte sich der Dichter in die Nachfolge eines Rudolph von Langen und Hermann von dem Busche, - als Verteidiger und betroffener Repräsentant einer von Teilen des städtischen Patriziats geförderten Bildungselite. Ich kenne keine Gedichtsammlung der Zeit, in der dieses sozialgeschichtlich signifikante Bündnis in ähnlich markanter Weise strukturbildend geworden wäre. So wird man Domann, dem erwähnten Gegner des verärgerten Lipsius, wohl nicht ganz das Recht dazu absprechen, selbst in den städtischen Schulmeistern noch den alten Glanz des westfälischen Humanismus wiederzuerkennen.
Zum Profil des postreformatorischen Humanismus in Pommern: Zacharias Orth (ca. 1535-1579) und sein Lobgedicht auf Stralsund - Mit Bemerkungen zur Gattungsfunktion der laus urbis
Wer heute darauf besteht, auch die lateinische Literatur deutscher Autoren als wichtigen Faktor der nationalen Kulturentwicklung zu begreifen, stößt kaum mehr auf ernstzunehmenden Widerspruch. Frühere Neigungen, die lateinische Seite der frühneuzeitlichen Schriftkultur in sprachpatriotischer Optik zu disqualifizieren oder nach Maßgabe goethezeitlicher Kategorien abzuwerten,' finden nur noch vereinzelt Resonanz. Denn mittlerweile läßt sich nicht mehr verkennen, daß zentrale literarische Entwicklungslinien bis hin zu den großen Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts nicht in der muttersprachlichen, sondern in der lateinischen Versdichtung des 16. Jahrhunderts auszuziehen sind.2 So standesbewußt die gelehrten Dichter ihre Bildungskompetenz auch als Moment sozialsymbolischer Abgrenzung kultivierten, so fraglos empfanden sie ihr Tun als nationalen Auftrag, als Beitrag zu einer deutschen Dichtung, die im Rekurs auf die großen Muster der Antike zugleich Vorbilder der Romania aufgreifen und mit ihnen in einen fruchtbaren Wettbewerb treten sollte. Gewiß, gerade die Versdichtung des Reformationsjahrhunderts bezog sich in deutschlateinischer Koexistenz oder Symbiose auf heterogene Formkonventionen, Verwendungszusammenhänge und thematische Dominanten. Doch das moralistische Literaturprogramm der studia humanitatis, das seit der italienischen Renaissance einen Kernbereich kultureller Selbstverständigung ausmachte, fand auch nach der Aufbruchphase des deutschen Frühhumanismus weiterhin
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Zur Forschungsgeschichte grundlegend Günter Hess: Deutsche Literaturgeschichte und neulateinische Literatur. Aspekte einer gestörten Rezeption. In: Acta Neo-Latini Amstelodamensis, hg. von Pierre Tuynman. München 1979 (Humanistische Bibliothek. Reihe I, Bd. 26), S. 493-538: zum Thema insgesamt vgl. Wilhelm Kühlmann: Nationalliteratur und Latinität: Zum Problem der Zweisprachigkeit in der frühneuzeitlichen Literaturbewegung Deutschlands. In: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber. Tübingen 1989 (Frühe Neuzeit, Bd. 1), S. 164-206; dazu auch neuerdings meine Rezension der ersten beiden Bände von Hans-Georg Kempers »Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit«. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik XX. Heft 2 (1988), S. 137-144. So schon Karl Otto Conrady: Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts. Bonn 1962 (Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur. Bd. 4). spez. S. 267.
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seinen sozialen Ort und seine soziale Anbindung: vornehmlich in den Schulen und Universitäten, von dort aus aber ausstrahlend bis ins 18. Jahrhundert auf einen ständeübergreifenden Erziehungsentwurf. Im Zeichen der studia humanitatis wurde literarische Gewandtheit zum auszeichnenden Moment des individuellen Habitus, einer moralistischen Verhaltensreflexion und einer Bewußtseinswirklichkeit, in der die komplexen Spannungen zwischen personaler Identität und sozialer Erfahrung immer von neuem bedacht und formuliert werden konnten. Die Humanisten nobilitierten den gelehrten Dichter zur Leitgestalt kultureller Kompetenz und festigten den Sinn sowohl für die pragmatische Verfügbarkeit wie auch für die affektiven und ästhetischen Dimensionen von Rede und Schrift. Auch nach den Umbrüchen der Reformation, durch die säkulare Impulse der Weltaneignung einstweilen zurückgedrängt wurden, blieben die grundlegenden Ziele und Methoden des gelehrten Bildungswesens unangetastet, ja sie verdichteten sich im Wirken des Straßburger Akademiedirektors Johannes Sturm (1507-1589) und - mehr noch - in der ausgreifenden Programmatik und Tätigkeit Melanchthons (1497-1560) zum Leitbild der ütterata pietas, d. h. der Kombination von Sprachkultur und moralisch-religiöser, späterhin manchmal konfessionalistisch verengter Gesinnungsfestigkeit. 3 Die Schulung von ratio und oratio sowie die Lektüre der antiken Musterautoren als Fundament eines auf res und verba ausgerichteten Bildungswissens waren Voraussetzungen gelehrter Poesie und zugleich Lernziele der die humanistisch-neulateinische Literatur tragenden und fördernden Institutionen. Was an Gelehrtenschulen eingeübt und was in der produktiven Aneignung der Latinität von einzelnen geleistet wurde, trat dabei immer wieder in einen unverkennbaren Zusammenhang mit kulturellen Bedürfnissen, die von außerschulischen Instanzen angemahnt wurden: Die gelehrte Dichtung des 16. Jahrhunderts war zwar akademisch geprägt, bezog sich jedoch fast immer auch auf das soziale Umfeld von Hof, Stadt und Kirche. Dies umso mehr, als die antikisierende Dichtung keine einsame Selbstaussprache förderte, sondern in der Regel dialogisch angelegt war. Gerade die humanistisch-neulateinische
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Zusammenfassend zur frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur Erich Trunz: Der deutsche Späthumanismus als Standeskultur (1932). In: Richard Alewyn (Hg.): Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche. Köln-Berlin. 3. Aufl. 1968 (Neue Wissenschaftliche Bibliothek. Bd. 7), S. 147-181: Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. Bd. 3): Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983 (Studien zur deutschen Literatur. Bd. 75). - Zugang zur k a u m überschaubaren Melanchthon-Literatur bietet nunmehr der einschlägige Artikel von Heinz Scheible. In: Literatur-Lexikon. Hg. von Walther Killy. Bd. 8. München 1990. S. 8 8 - 9 2 : Melanchthon als Bezugsfigur der zeitgenössischen und späteren Dichter ist bisher, von Ellinger (s. u.) abgesehen, leider nur ansatzweise ins Auge gefaßt; vgl. Manfred P. Fleischer: Melanchthon as Praeceptor of Late-Humanist Poetry. In: The Sixteenth Century Journal X X (1989). S. 5 5 9 - 5 7 9 .
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Lyrik unter Einschluß ihrer epischen Grenzformen, zu denen auch das Städtelob gehört, richtete sich an bestimmte Adressaten, ist zu verstehen in einem literarischen wie auch historisch-aktuellen Anspielungshorizont, das heißt aber in Rücksicht auf sozial definierte Darstellungsinteressen und Schreibsituationen. Mit diesen charakteristischen Merkmalen der neulateinischen Literatur generell und der Versdichtung speziell ist zugleich erwünscht, was den thematischen Schwerpunkt dieser Tagung bildet: eine auch regionale Betrachtungsweise. Wohlgemerkt: >Regional< bedeutet nicht >provinziellLiterarizität< ermöglichten oder stimulierten. Dieser historische Auftrag der literaturwissenschaftlichen Analyse und auch Geschichtsschreibung verlangt für die hier interessierende Epoche unabdingbar und vorab eine >positivistische< Erfassung und Erschließung aller nötigen Informationen, aus denen sich das literarische Wirken und der literarische Anspruch einzelner Autoren ablesen läßt. Denn gerade für die Frühe Neuzeit ist in Hinsicht elementarer faktographischer, ja selbst bibliographischer Basisarbeit noch lange nicht das geleistet, was in Teilsektoren späterer Perioden mittlerweile als selbstverständlich verfügbarer Wissensfundus vorhanden ist. Mit diesen Vorbemerkungen möchte ich umreißen, was von diesem Vortrag zu erwarten ist: Ich möchte Ihnen eine literarische Gestalt des protestantischen Humanismus vorstellen, die in Vorpommern geboren wurde, hier in mehreren Phasen ihres Lebens wirkte, die als Jünger und Schüler Melanchthons so wie 4
Die vorliegende Studie schließt sich an meine älteren Arbeiten an. die dem Versuch einer regionalgeschichtlichen Lektüre humanistischer Lyrik gewidmet sind; vgl. u.a.: Zur literarischen Lebensform im deutschen Späthumanismus. Der pfälzische Dramatiker Theodor Rhodius (ca. 1575-1625) in seiner Lyrik und in seinen Briefen. In: Daphnis 17, Heft 4 (1988). S. 6 7 1 - 7 4 9 ( = ganzes Heft!) - mit weiteren Hinweisen; zum literarischen Profil des Rryptocalvinismus in Kursachsen - Der »Poet« Johannes Major (1533-1600). In: Dresdner Hefte 10. Jg., Heft 29 (1992), S. 4 3 - 5 0 ; Westfälischer Gelehrtenhumanismus und städtisches Patriziat. Die Gedichte des Osnabrücker Poeten Henricus Sibaeus (Heinrich Sibbe) in der Perspektive regionaler Kulturraumforschung. In: Daphnis 22 (1993), S. 4 4 3 - 4 7 2 .
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andere Autoren in anderen Regionen das literarische Programm Melanchthons verwirklichte und in ihrem wichtigsten Werk, dem ausladenden epischen Lobgedicht auf Stralsund, zugleich die Interessenallianz zwischen dem humanistischen Dichter und dem bürgerlichen Patriziat verdeutlichen wollte. Gerade die urbane Einbindung eines Großteils der neulateinischen Literatur, ganz zu schweigen von der städtischen Verankerung des gelehrten Schulbetriebs sowie der affinen Institutionen des Druck- und Verlagswesens, gehört zu einem kulturhistorischen Phänomenkomplex, der in der Städteforschung der letzten Jahrzehnte mit gutem Grund besondere Aufmerksamkeit gefunden hat.5 Was für andere Regionen teilweise bereits in Angriff genommen worden ist, muß im Anschluß an frühere Forschungen" zukünftig auch für die Städte Pommerns in verstärktem Maße untersucht werden. Zacharias Orth, dessen Werdegang nur nach Maßgabe spärlicher Daten rekonstruiert werden kann, wird zwar in wichtigen Nachschlagewerken berücksichtigt, zumal in Georg Ellingers heute noch grundlegender Geschichte der neulateinischen Lyrik.7 Doch diese Aufmerksamkeit ist eigentlich nur Ernst Heinrich Zober (1799-1869), dem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wohl bedeutendsten >Heimatforscher< Stralsunds, zu verdanken. Als Stralsunder Gymnasiallehrer, Stadtbibliothekar und Mitglied der Gesellschaft für pommersche Geschichte und Altertumskunde, gab er 1831 Orths Lobgedicht auf Stralsund
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Aus den zahlreichen Arbeiten und wichtigen Sammelwerken sei exemplarisch angeführt: Heinz Schilling: Die politische Elite nordwestdeutscher Städte in den religiösen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts. In: Stadtbürgertum und Adel in der Reformation. Studien zur Sozialgeschichte der Reformation in England und Deutschland. Hg. von Wolfgang J. M o m m s e n in Verbindung mit Peter Alter und Robert W. Scribner. Stuttgart 1979 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Bd. 5), S. 2 3 5 - 3 0 8 : ders.: Vergleichende Betrachtungen zur Geschichte der bürgerlichen Eliten in Nordwestdeutschland und in den Niederlanden. In: Bürgerliche Eliten in den Niederlanden und in Nordwestdeutschland. Studien zur Sozialgeschichte des europäischen Bürgertums im Mittelalter und in der Neuzeit. Hg. von Heinz Schilling und Hermann Diederiks. KölnWien 1985, S. 1 - 3 2 ; ferner: Humanismus und höfisch-städtische Eliten im 16. Jahrhundert. Hg. von Klaus Malettke und Jürgen Voss. Bonn 1989 (Pariser Historische Studien. Bd. 27). hier u.a. Beiträge zu Braunschweig, Köln und Frankfurt; auf die Bedeutung der Kasualdichtung für die Erforschung der Urbanen Kultur weist mit Nachdruck Klaus Garber: Stadt-Kultur und Barock-Begriff. Zur Kritik eines Epochenbegriffs am Paradigma der bürgerlich-gelehrten humanistischen Literatur des 17. Jahrhunderts. In: Europäische Städte im Zeitalter des Barock. Gestalt - Kultur - Sozialgefüge. Hg. von Kersten Krüger. Köln-Wien 1988. Die Autoren des pommerschen Späthumanismus sind literaturwissenschaftlich und im größeren Rahmen bisher, soweit ich sehe, nur von Wilhelm Bethke in einer wertvollen Untersuchung behandelt worden: Die dramatische Dichtung P o m m e r n s im 16. und 17. Jahrhundert. Diss. phil. Berlin 1937. Gedruckt: Stettin 1938. Georg Ellinger: Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im sechzehnten Jahrhundert. Bd. I-III, hier Bd. II: Die neulateinische Lyrik Deutschlands in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts. Berlin und Leipzig 1929. Neudruck 1969. zu Orth S. 2 8 3 - 2 8 6 ; einen Überblick bietet der A D B - A r t i k e f v o n Pyl (Bd. 24. 1887, S. 443-145).
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(1562 in Rostock gedruckt) in einer zweisprachigen kommentierten Ausgabe heraus und versah diese Edition mit einem heute noch unentbehrlichen biobibliographischen Vorspann.8 Zober gehört zu einer Formation von Gelehrten, die im 19. und 20. Jahrhundert zwar zumeist am Rande der akademischen Welt ihren Platz fanden, doch in der Traditionspflege des humanistischen Gymnasiums das Interesse an der humanistisch-lateinischen Literaturbewegung auch dann nicht verloren, als eine deutschtümelnde Germanistik die weittragenden Anregungen der europäischen Renaissance leichthin zugunsten einer deutschreformatorischen Emphase verdrängten. Zober ist - in seinem Rahmen - zu vergleichen mit ähnlichen Protagonisten der deutschen Humanismusforschung: mit Georg Ellinger, Gustav Bauch, mit Adalbert Horawitz oder - im pfälzischen Raum - mit Karl Hartfelder. Wir haben allen Grund, dieser Männer mit Achtung zu gedenken. Meine eigenen, in den letzten Monaten vorangetriebenen Erkundungen können nur einige Dokumente und Fakten beitragen, die das bereits von Zober gesammelte biographische Material ergänzen. Zacharias Orth wurde etwa im Jahre 1535 in Stralsund geboren." Eintragungen in Büchern, die sich aus seinem Nachlaß in der Stralsunder Rats- bzw. Stadtbibliothek (bis heute?) erhalten haben, machen gewiß, daß er zeitweise die Gelehrtenschule in Lübeck besuchte. Spätestens in den Jahren 1555 bis 1557 finden wir Orth an der Universität Rostock eingeschrieben, wo er alsbald (1556) aus der Hand des Jakob Heraklides, der sich als kaiserlicher Pfalzgraf bezeichnen durfte, den Dichterlorbeer erhielt. Heraklides, eine der merkwürdigsten Abenteurergestalten des 16. Jahrhunderts, Adoptivsohn eines griechischen Condottiere, zuletzt Feldherr und Despot von Moldavien, muß Orth auch mäzenatisch unterstützt haben. Als frischgebackener Magister (18.5.1557) konnte
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Ernst Heinrich Zober: Des M. Zacharias Orthus geborenen Stralsunders und gekrönten Dichters Lobgedicht auf Stralsund. Einleitung, lateinische Urschrift. Uebersetzung, A n m e r k u n g e n und Anhang. Stralsund 1831 (im folgenden zitiert als »Zober«): hier im Vorspann S. 1 4 - 3 4 das bis heute maßgebende Werkverzeichnis. Der Originaltitel lautet: Inclytae urbis Stralsundae origo et res gestae, ex veris historiis conscriptae, ad Amplissimum Senatum populumque Sundensem. a Μ. Zacharia Ortho Sundensi, Poeta Laureato. Rostochii excudit Stephanus Myliander. Anno M.D.LXII. Die Orth betreffenden Titelaufnahmen im »Verzeichnis deutscher Drucke des 16. Jahrhunderts« (I. Abt.. Bd. 15, München 1989. Nr. Ο 9 5 3 - 9 5 7 ) enthalten, gemessen an Zober, nur einen Bruchteil der Orthschen Publikationen, ergänzen das Zobersche Werkverzeichnis allerdings durch den Hinweis auf drei Kasualgedichte (O 953-955). Soweit nicht anders angegeben, stütze ich mich in der folgenden Lebensskizze auf die Angaben Zobers bzw. die von ihm benutzten und zitierten Quellen. - Eine späte, in manchen Passagen durchaus vergleichbare Nachfolge fand Orths Stralsund-Epos übrigens in: Fr. Furchau, Prediger zu St. Johannis: Lobspruch der Stadt Stralsund bey ihrem dritten Reformations-Jubelfeste am 4.ten May 1823. Stralsund (1823). - Exemplar in der UB Greifswald. Vgl. Ernst Friedländer (Hg.): Aeltere Universitäts-Matrikeln. II. Universität Greifswald. Erster Band (1456/1645). Leipzig 1893 (Publicationen aus dem K. Preußischen Staatsarchiven, 52. Bd.), spez. S. 231. und zu den folgenden, Greifswald betreffenden Daten auch S. 256. 258. 266, 278. Daraus ergeben sich kleinere Korrekturen gegenüber den Angaben Zobers.
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Orth in Rostock bereits Vorlesungen halten, begab sich aber schon 1557 nach Wittenberg, offenbar angezogen vom Ruf Melanchthons, dem er treu ergeben blieb und der ihm noch auf dem Sterbebett einen aufmunternden Briefgruß zukommen ließ.1" In Gedichten huldigte Orth seinem Lehrer und hielt unter der Anleitung Melanchthons auch eine öffentliche Vorlesung über Homer. Dieser Vorlesung schickte Orth eine Rede über die Dichtkunst voraus.11 Nicht ohne Empfehlung Melanchthons wurde er bereits im Jahre 1559 als Professor für Poesie nach Greifswald berufen, übernahm, wie damals nicht unüblich, zeitweise auch die Auslegung der klassischen Historiker. Seine rege Lehrtätigkeit (Vorlesungen über Herodot, Thukydides, Ovid, Cicero und Florus) währte bis 1561. Anschließend begab sich Orth zunächst nach Schweden, dann wohl direkt nach Wittenberg. Der Wittenberger Aufenthalt dauerte - mit Unterbrechungen - bis 1564. In dieser Zeit publizierte Orth neben seinem Lobgedicht auf Stralsund nicht nur ein Bändchen mit lateinischen Elegien (1562),12 sondern auch vier in griechischer Sprache geschriebene Gedichtwerke mit historischen Porträts der byzantinischen, römischen, »türkischen« und deutschen Kaiser (1563). Mit diesen ehrgeizigen Leistungsbeweisen wollte Orth nicht nur seine philogische Könnerschaft unterstreichen, sondern auch seinen Sinn für historisch-politische Zusammenhänge demonstrieren. Da Melanchthon im Jahre 1560 gestorben war, schloß sich Orth an Melanchthons Weggefährten, an Joachim Camerarius (1500-1574), den Leipziger Professor und großen Gräzisten, an." Vier bisher 10
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Melanchthon verfaßte am Osterfest (14.4.) 1560 drei Briefe an den Pommerschen Superintendenten Jacob Runge, dessen Bruder Andreas (dieser war Orths Kollege als Prof. der Redekunst in Greifswald 1559/60: Zober S. 6f.) und an Orth: vgl. den Textabdruck bei Robert Stupperich: Melanchthons Anteil an der Reformation in Pommern. In: Archiv für Refomiationsgeschichte 51 (1960), S. 208-222, zu Orth spez. S. 221f.; zum neugefundenen Original des Briefes an J. Runge nunmehr Heinz Scheible: Melanchthons Abschiedsbrief an seinen Schüler Jacob Runge. Eine Neuerwerbung der Badischen Landesbibliothek. In: Bibliothek und Wissenschaft 23 (1989). S. 2 6 8 - 2 9 0 - mit umfassenden Literaturhinweisen zu Melanchthons Verbindungen nach Pommern. Ich danke Herrn Dr. Scheible für freundliche Hinweise bei der Vorbereitung dieses Beitrags. Oratio de arte poetica recitata Witebergae a Zacharia Ortho cum publice inchoaret enarrationem Odysseae Homeri. Cum praefatione Philippi Melanthonis (so!). Wittenberg 1558; Melanchthons Vorrede besteht aus einem Schreiben an Johann Friedrich, den Bischof von Cammin und späteren Herzog, in dem Orth ausdrücklich »patriae usui et ornamento« empfohlen wird; ohne diese Empfehlung abgedruckt im Corpus Refor-matorum (ed. Bretschneider) IX. 6 0 2 - 6 0 7 ; vgl. Dr. L. Neubauer: Ein Nachtrag zum Corpus Reformatorum. In: Altpreußische Monatsschrift 28 (1891/92), S. 246-274, spez. S. 270; zitiert auch schon von Zober, S. 15f. Zach. Orthi Pomerani, poetae laureati, carminum liber primus. Rostock 1572; hier nach Zober, S. 18, der auf einen möglichen Erstdruck des Werks von 1561 hinweist und die in dem Band gesammelten 17 Elegien aufzählt. Das hier gedruckte Epicedium auf Herzog Philipp (Zober S. 16, Nr. 3) hat sich auch als Einzeldruck erhalten: s. die Angaben bei Scheible, wie Anm. 10, S. 277. Ellinger, wie Anm. 7, charakterisiert die Sammlung und zitiert aus dem an Melanchthon gerichteten Huldigungsgedicht: »[...] non ingenii tantum formator et artis. Corporis et pariter causa salutis eras.« Zu ihm umfassend Frank Baron (Hg.): Joachim Camerarius (1500-1574). Beiträge zur Geschichte des Humanismus im Zeitalter der Reformation. München 1978.
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unbekannte Briefe Orths - erhalten in der Münchener Collectio Camerariana (leider ohne Jahresdatum und teilweise ohne Anschrift) - werfen Schlaglichter auf die Situation und Lebensstrategie des Schreibers. Der erste (?) Brief vom 28. November 1562 (?) - s. den Abdruck im Anhang - erwähnt seine vergeblichen Hoffnungen, am Hof des Erzbischofs von Magdeburg eine Stelle zu finden. Camerarius erhält die Manuskripte der poetischen Kaiserhistorien zur Durchsicht. Ein Stoßseufzer Orths beleuchtet die offensichtlich bedrängte Lebenslage: »Aber die Poeten schreiben in diesem Jahrhundert nicht um des Ruhmes, sondern um des Hungers willen«. Zugleich läßt der Brief erkennen, daß Orth sich seinen Unterhalt offensichtlich auch als Korrektor in einer Wittenberger Druckerei verdiente. Im folgenden (?) Brief erinnert Orth ausdrücklich daran, daß er durch den Tod Melanchthons seines »Lehrers und Vaters« beraubt sei. Er habe nun nur noch Camerarius, zu dem er sich wie zu einem Anker flüchte. Melanchthon habe ihn Camerarius, seinem alten Freund, empfohlen. Er sendet den zweiten Teil der Kaisergedichte (Caesares) und beabsichtigt, sie im nächsten Sommer zu publizieren. Ausdrücklich weist Orth daraufhin, er sei nun in dem Alter, in dem er »seine Studien einem festen Ziel zuwenden müsse« (»Quia iam aetatis sum, ut ad certum scopum omnia studia mea semel mihi dirigenda sint.«). Es folgt ein Bericht über Neuigkeiten. Bei einem Besuch am Stettiner Hof erfuhr Orth manches über aktuelle politische und militärische Vorgänge. Sorgen machte ihm das Vordringen einer Seuche (»dysenteria«) in Pommern. Ein Tübinger Matrikeleintrag14 vom 27. Juni 1564 scheint zu belegen, daß Orth nicht umsonst an Camerarius' Wohlwollen appelliert hatte. Orth zeichnet hier nämlich als »praeceptor« zweier aus Nürnberg stammender Studenten, deren Betreuung ihm doch wohl Camerarius, vielleicht durch seinen gleichnamigen Sohn, seit 1564 Nürnberger Stadtarzt, vermittelt haben dürfte. Im letzten der Briefe deutet sich bereits die Aussicht auf eine neue Stellung an. Camerarius wird gebeten, ihn brieflich an »Herrn Stoius«, den Leibarzt Herzog Albrechts von Preußen, zu empfehlen. In der Tat erhielt Orth bald die Stelle eines Aufsehers und Praeceptors am Alumnat der Königsberger Akademie (1566-70). 15 Allerdings wollte Orth sich wie so viele gelehrte Humanisten eine Reise nach Italien offenbar nicht entgehen lassen. Gelegenheit mag sich ihm wiederum als Reisebegleiter begüterter Studenten geboten lassen. Jedenfalls bezeugen Einträge in seine Bücher wie auch eine Stammbuchwidmung, 16 daß er 1572/73 Padua und 14
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Heinrich Hermelink: Die Matrikeln der Universität Tübingen. Erster Band: Die Matrikeln von 1477-1600. Stuttgart 1906. S. 447. Nr. 5 4 - 5 6 . Dazu vgl. Ernst Heinrich Zober: Drei Briefe an Herzog Albrecht von Preußen. Stralsund 1854. " Stammbuch Jacob Heckeiberger in Hohenberg (Königl. Bibl. Kopenhagen. Tottske Sämling, Nr. 1282): Z. Orth zeichnet hier am 26.5.1573 in Padua mit einem griechischen Zitat aus Menander, das er ins Lateinische übersetzt: »Nec levis ingenuas animum coluisse per artes/ Cura sit, et linguas edidicisse duas«; dazu tritt das Stammbuch Valentin Tenner (Sächsische LB Dresden) mit einer Eintragung aus Tübingen vom 28.4.1565: »Ut ameris amabilis esto«.
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Venedig besuchte. Zwei Hochzeitsgedichte, die er 1575 in Wolfenbüttel, d.h. in einer Druckerei der »Heinrichstadt« (»Henricopolis« ) publizierte, 17 können einen Aufenthalt im Umkreis des Braunschweiger Hofes wahrscheinlich machen. Für das Frühjahr 1578 ist Orth wieder in Stettin bezeugt, dann muß er nach Vorpommern zurückgekehrt sein. Orth starb in der Stadt Barth am 2. August 1579. Insgesamt also ein Lebensweg, der über die Niederungen des später so vielgeschmähten Schulstaubs nicht weit hinausführte und Orth kaum jemals von Existenzsorgen befreite. Ein lurastudium, das Orth zeitweise vielleicht ins Auge faßte,' s hätte Karriereaussichten eröffnet. Doch selbst in Stralsund, seiner Heimatstadt, fand der Poet und Magister offensichtlich kein dauerndes Unterkommen. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß Orth 1562 sein episches Lobgedicht auf Stralsund dem Stadtrat überreichte und dafür ein Ehrengeschenk von dreißig Talern erhielt. Nicolaus Genzkow, einer der vier Bürgermeister, und Joachim Klinkow, namhafter Ratsherr, erhöhten Orths Belohnung offensichtlich noch aus ihrer privaten Schatulle.'"
Orths Lobgedicht auf seine Heimatstadt, fast zweitausend Verse (elegische Distichen) umfassend, läßt sich nur in einer form- und vor allem funktionsgeschichtlichen Betrachtung des Gattungszusammenhangs verstehen. Aspekte der panegyrischen Strategie und topischen Struktur des Genres führen auf die Frage nach Darstellungsbedürfnissen, denen die laudes urbis ihre so ungemeine Attraktivität verdankten. Dazu möchte ich vorab folgende Thesen bzw. literaturhistorische Befunde skizzenhaft in Erinnerung rufen: 1. Das humanistisch-lateinische Städtelob, zumeist in Versen, seltener in Prosa verfaßt, instrumentiert Techniken der deklamatorischen Paränese. Deskriptive Gegenstandsbezüge verbinden sich dabei mit epideiktisch-appellativen, normstiftenden bzw. normbestätigenden Aussageformen. Dadurch wie auch durch den besonderen ästhetischen Gattungsanspruch und Form willen, der nicht selten durch separate Publikationen beglaubigt wurde, unterscheiden sich die humanistischen Städtegedichte - trotz aller vom Gegenstand her gegebenen Momente der Kontinuität - von Traditionen der mittelalterlichen Stadtbeschreibung, die überwiegend in Werke anders gearteten Zuschnitts eingelegt waren. 20 17 18
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Titelaufnahme in V D 16, wie Anm. 8, Nr. Ο 954, 955. Im Biichernachlaß Orths fand sich auch ein Exemplar des »Jus civile«, das von Bartholomaeus Sastrow erworben wurde: Zober. S. 13. Vgl. die Aufzeichnungen in: Dr. Nicolaus Gentzkows Tagebuch [...]. Hg. von Ernst Zober. Greifswald 1870, S. 162f. Dazu grundlegend, wenn auch für die humanistische Tradition weniger ergiebig Hartmut Kugler: Die Vorstellung der Stadt in der Literatur des deutschen Mittelalters. MünchenZürich 1986 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittel-
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2. Im Anschluß an erste Beispiele des 15. Jahrhunderts erlebte die humanistische laus urbis ihre Hochblüte im 16. Jahrhundert. Nach durchaus vorläufiger Erfassung des Quellenmaterials 2 ' haben wir es in dieser Zeit mit fast zweihundert Texten zu tun, die sich über das gesamte alte Reichsgebiet samt seinen Grenzzonen verteilen, vornehmlich aber den südwestdeutschen und sächsisch-böhmischen Städteraum betreffen. 3. Das humanistische Städtelob berührt sich thematisch mit benachbarten Formen der literarischen Kulturtopographie: vor allem mit dem - manchmal zyklisch komponierten - Städteepigramm und den Exkursen des humanistischen Reisegedichts (Hodoeporicum).21 Zielgruppe, Sachgehalt und mentale Verankerung der Texte bewirkten selbstverständlich mancherlei Überschneidungen mit didaktischen bzw. pragmatisch informativen Formen der Urbanen
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alters, Bd. 88); Paul Gerhard Schmidt: Mittelalterliches und humanistisches Städtelob. In: Die Rezeption der Antike. Z u m Problem der Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance. Hamburg 1981 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Renaissanceforschung, Bd. 1), S. 119-127. Die hier und im folgenden genannte Literatur enthält umfangreiche Hinweise auf Forschungsarbeiten, die ich nur zum kleinsten Teil im gegebenen Rahmen erwähnen kann. Neben der nach Städten geordneten Werkliste bei Kugler, wie Anm. 20, ist immer noch zurückzugreifen auf das seinerzeit bahnbrechende Werk von William Hammer: Latin and German Encomia of Cities. Diss. Chicago 1937; Einblicke in den Überlieferungsbestand gewähren ferner Joseph Neff (Hg.): Helius Eobanus Hessus. Noriberga Illustrata und andere Städtegedichte. Berlin 1896 (Lateinische Litteraturdenkmäler des XV. und XVI. Jahrhunderts, Bd. 12) - Einleitung!; vgl. neuerdings - mit einem Schweipunkt auf niederländischen Zeugnissen - die auch für die antike Grundlegung des Genres wichtige Untersuchung von Franciscus Petrus Thomas Slits: Het Latijnse Stedegedicht. Oorsprong en Ontwikkeling tot in de zeventiende Eeuw. Diss. Nijmegen. Amsterdam 1990. An neueren Einzeluntersuchungen zum neulateinischen Typus seien exemplarisch wenigstens angeführt Hermann Bücker: Das Lobgedicht des Johannes Murmellius auf die Stadt Münster und ihren Gelehrtenkreis. In: Westfälische Zeitschrift 111 (1961), S. 5 1 - 7 4 ; Jürgen Stohlmann: Z u m Lobe Kölns. Die Stadtansicht von 1531 und die »Flora« des Hermann von dem Busche. In: Jb. des Kölner Geschichtsvereins 51 (1980), S. 1 - 5 6 ; Hartmut Kugler: Stadt und Landschaft im humanistischen Denken. In: Humanismus und Ökonomie. Hg. von Heinrich Lutz. Weinheim 1983 (Mitteilung VIII der Kommission für Humanismusforschung), S. 159-182; Walther Ludwig: Multa importari, multa exportarier inde: Ein humanistisches Loblied auf Hamburg aus dem Jahre 1573. In: Humanistica Lovaniensia XXXII (1983), S. 2 8 9 - 3 0 8 ; abgedruckt auch in ders.: Litterae Neolatinae. Schriften zur neulateinischen Literatur. München 1989 (Humanistische Bibliothek, Reihe I, Bd. 35), S. 131-144; ders.: J. P. Ludwigs Lobrede auf die Reichsstadt Schwäbisch-Hall und die Schulrhetorik des siebzehnten Jahrhunderts. In: Jahrbuch des Historischen Vereins für Württembergisch Franken 74 (1990), S. 2 4 7 - 2 9 4 ; zur Kontinuität im 17. Jahrhundert gleichfalls Herbert W. Wurster: Johann Beers »Beschreibung der Stadt Regenspurg«. Ein wiedergefundenes Lobgedicht. In: Daphnis 9 (1980), S. 163-190; für die lateinische Verherrlichung einer ausländischen Metropole durch einen deutschen Humanisten vgl. Odette Sauvage: »Lutetiae Descriptio« d'Eustathe de Knobeisdorf. In: Acta Conventus Neo-Latini Turonensis. Hg. von Jean-Claude Margolin. Bd. I—II. Paris 1980 (De Petrarque ä Descartes XXXVIII), Bd. II, S. 1147-1154. Dazu grundlegend Hermann Wiegand: Hodoeporica. Studien zur neulateinischen Reisedichtung. Baden-Baden 1984 (Saecula Spiritalia, Bd. 12); zum Städteepigramm exemplarisch (zu J. C. Scaliger) s. Slits, wie Anm. 21, S. 259ff.
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Gebrauchsliteratur. Dazu zählen z.B. das Chronikschrifttum oder die vereinzelt vorkommende sozialkatechetische Form des »Stadtspiegels«.21 Die stets gefährdete Identität der Stadt nach innen (Verfassungskonflikte und Machtkämpfe) wie auch nach außen (Druck der Handelskonkurrenten bzw. benachbarten Territorien) rief einen Bedarf an Literatur hervor, die sowohl sozialdisziplinierende wie repräsentative Funktionen wahrnehmen sollte. So verwundert es nicht, daß sich in den großen Zentren auch muttersprachliche Autoren aus dem Umkreis der Meistersinger das Genre des Städtelobs angelegen sein ließen. Am Beispiel Nürnbergs etwa läßt sich beobachten, daß die Städtedichtungen eines Hans Rosenplüt oder Hans Sachs24 von dem großangelegten Prosawerk des Conrad Celtis (1459-1508) 25 und jenem - epochal herausragenden - Gedichtzyklus, den Eobanus Hessus (1488-1540) der Urbs Noriberga widmete (1532), gleichsam überboten wurden.26 4. Über mittelalterliche Traditionen hinweg konnten die Humanisten und poetae docti direkt auf antike Anregungen zurückgreifen, die im Lob Athens oder Roms Archetypen der abendländischen Städtekultur gegenwärtig hielten. Das Rom-Thema überschnitt sich dabei in der lateinischen Überlieferung nicht selten mit Mustern der panegyrischen Landesbeschreibung (laudes Italiae).11 Hier war bereits vorgeprägt, was ein Charakteristikum im Schaffen nicht weniger
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Vgl. Heinz-Dieter Heinemann: Stadtspiegel und Stadtlob als »Gebrauchsliteratur« im 15. Jahrhundert. In: Niederlande und Nord Westdeutschland. Studien zur Regional-und Stadtgeschichte Nordwestkontinentaleuropas im Mittelalter und in der Neuzeit. Franz Petri zum 80. Geburtstag. Hg. von Wilfried Ehbrecht und Heinz Schilling. Köln-Wien 1983 (Städteforschung. Reihe A. Bd. 15), S. 121-135; für den mentalen Hintergrund des Städtelobs und seine typologische Struktur mit Gewinn heranzuziehen Heinrich Schmidt: Die deutschen Städtechroniken als Spiegel des bürgerlichen Selbstverständnisses. Göttingen 1958 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Schrift 3). Das »Städtelob« ist nur am Rande der ansonsten instruktiven Untersuchung von Erich Kleinschmidt behandelt: Stadt und Literatur in der Frühen Neuzeit. Köln-Wien 1982 (Literatur und Leben. Bd. 22). Dazu vgl. im einzelnen Kugler. wie Anm. 20, S. 210ff.; zu Sachs speziell auch: Maria E. Müller: Der Poet der Moralität. Untersuchungen zu Hans Sachs. Bern usw. 1985 (Arbeiten zur Mittleren Deutschen Literatur und Sprache, Bd. 15), S. 148-53. Dazu mit dem Text Albert Werminghoff: Conrad Celtis und sein Buch über Nürnberg. Freiburg i. Br. 1912: zum Kontext Jean Lebeau: L'Eloge de Nuremberg dans la tradition populaire et la litterature humaniste de 1477 ä 1522. In: Hommage ä Dürer. Strasbourg 1972. S. 15-35. Die Textausgabe Neffs, wie Anm. 21, ist nun überholt durch die von Harry Vredeveld besorgte historisch-kritische und zweisprachige Ausgabe in: Helius Eobanus Hessus. Dichtungen. Lateinisch und Deutsch. Dritter Band. Dichtungen der Jahre 1528-1537. Bern usw. 1990 (Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken Bd. 39), S. 183-267. Materialreich dazu Carl Joachim Classen: Die Stadt im Spiegel der Descriptiones und Laudes urbium in der antiken und mittelalterlichen Literatur bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts. Hildesheim-New York 1980 (Beiträge zur Altertumswissenschaft, Bd. 2); von Nutzen nunmehr die sachkundige Auswahl von Bernhard Kytzler (Hg.): Laudes Italiae. Griechische und lateinische Texte. Zweisprachig. Stuttgart 1988 (Reclams UB 8510).
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Humanisten bildet: die Einbindung des Städtelobs in Vorhaben der regional, wenn nicht sogar national orientierten Kulturgeographie. 28 5. Ebenfalls über mittelalterliche Traditionen hinweg fanden die Humanisten in rhetorischen Handbüchern der Antike die praecepta gegenständlicher Panegyrik im allgemeinen und des Städtelobs im besonderen. Neben den Griechen Menander und Dionysios von Halikarnass 20 kam dabei einem Passus in Quintilians bekanntem Rhetoriklehrbuch besondere Autorität zu. Quintilian empfahl folgende topologische Gesichtspunkte: 10 a) Gründung und Alter der Stadt; b) faktische Leistungen der Bürger; c) Lage und Befestigung der Stadt; d) öffentliche Bauten im Hinblick auf Ehre, Nutzen und Schönheit; e) Ausgriff auf die Umgebung und das landschaftliche Ambiente der Stadt. 6. An Quintilians Topik läßt sich wegweisend für das 16. Jahrhundert ablesen: Was vordergründig auf die Verherrlichung von »Gegenständen« bezogen war, wurde tatsächlich so gut wie immer als Ergebnis, Bedingung, Voraussetzung
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Bekanntlich gehörte Celtis' Lobschrift zum R u h m Nürnbergs zu dem unvollendeten Plan einer »Germania illustrata«, in der Deutschland wohl in erster Linie als Städtelandschaft dargestellt worden wäre: s. Kugler. wie Anm. 20. S. 222f.; anregend zu weiteren Überlegungen Gerhard Theuerkauf: Accipe Germanam pingentia carmina terram. Stadt und Landesbeschreibungen des Mittelalters und der Renaissance als Quellen der Sozialgeschichte. In: Archiv für Kulturgeschichte 65 (1983). S. 89-116. Zu Menander (3. Jhdt. nach Chr.) eingehend: Classen, wie Anm. 27, S. 16f.; Kugler. wie Anm. 20. S. 26f.: Ausgabe: Menander rhetor: Peri epideiktikon. In: Conrad Bursian: Der Rhetor Menandros und seine Schriften. In: Abhandlungen der philosophisch-historischen Classe der Kgl. bayer. Akad. der Wissenschaften 16. 3. München 1882. S. 1 - 1 1 5 . hier S. 30-68. - Dionysios von Harlikarnass (1. Jhdt. n. Chr.) legte in seiner »Ars Rhetorica«, hier zitiert nach der späteren Ausgabe der Opera Omnia (Volumen Quintum. Leipzig 1775. S. 228), ein topisches Muster der Ortsbeschreibung im Rahmen der »oratio panegyrica« fest: Deinceps vrbis laudes. vbi conuentus celebratur, vel a situ, vel ab ortu. recensere oportebit. in quo sane, quis deus, aut heros, eius conditor exstiterit. aut si aliquid habebis, quod de eo in medium possis afferre: si quid [...] ab eo vrbi praeclarum, vel hello, vel pace, gestum fuerit. Congruet etiam de magnitudine, si ampla, vel parua sit. aliquid dicere: quod pulchritudine excellit: quod, licet parua, potentia tarnen cum amplissimis est adaequata: deinde quaecunque ad templorum, aut in his donariorum, publicorum priuatorumque aedificiorum ornamentum attinent: sicuti Herodotus q u o d a m in loco, quinque et sex tabulatorum aedificia Babyloni esse dicit: dein si fluuius sit magnus, purus, et nitidus, vel regionem incolentibus vtilis: si itidem aliqua fuerit fabula de ciuitate; nam et hoc pacto multum suauitatis habebit oratio.« Quintilian: De institutione oratoriaIII, 7 , 2 6 - 2 8 : »Laudantur autem urbes similiter atque homines, nam pro parente est conditor, et multum auctoritatis adfert vetustas, ut iis, qui terra dicuntur orti, et virtutes ac vitia circa res gestas eadem quae in singulis: ilia propria, quae ex loci positione ac munitione sunt, cives illis ut hominibus liberi sunt decori. est laus et operum: in quibus honor, utilitas, pulchritudo, auctor spectari solet. honor ut in templis, utilitas ut in muris, pulchritudo vel auctor utrubique. est et locorum, qualis Siciliae apud Ciceronem: in quibus similiter speciem et utilitatem intuemur, speciem maritimis, planis, amoenis, utilitatem salubribus, fertilibus.«
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oder als Raum menschlichen Handelns erfaßt. Gewiß, Kategorien wie »Schönheit« und »Nutzen« von Einrichtungen, Bauten oder Örtlichkeiten bestimmten die Wertsystematik der laus urbis. Doch in den Realien manifestierten sich dabei vor allem Erfolge und Sinnpostulate der Bürgergemeinschaft. Indem das Gedicht die Stadt als sozialen Erfahrungsraum feierte und ihre historische Dignität mit offenkundiger Spitze gegen konkurrente Traditionen dynastischfeudaler Panegyrik und Legitimationspflege hervorhob, bestätigte es zwei fundamentale Leitvorstellungen: die der persönlichen, d. h. in Personen oder Verwaltungsgremien verkörperten Leistung für das Gemeinwohl und die des in der äußeren und inneren Verfassung der Stadt zur Erscheinung kommenden Harmonie- und Ordnungswillens. So entsprach das im Städtegedicht greifbare Angebot der schreibenden Intelligenz dem Gemeinschaftsethos und dem Integrations· bzw. Behauptungsstreben der Urbanen Sozietät, vor allem aber dem Selbstverständnis der die Verwaltung tragenden städtischen Führungsschicht. Wie kein anderes Genre des 16. Jahrhunderts erweist sich die laus urbis als Indiz einer - zumindest projektiven - Interessenverbindung zwischen akademischen Gelehrtenbürgertum und den um politisch-ökonomische Wohlfahrt der Stadt besorgten erwerbsbürgerlichen Gruppen. 7. Diese funktionsgeschichtliche Basis der Städtedichtung lenkt den Blick auf den Neueinsatz der laus urbis im kulturellen Verbund der europäischen Renaissanceliteratur. Denn in den Schemata und Exempeln der Antike lebte die historische Wirklichkeit der hellenistisch-römischen Polis und die Gloriole der freien Bürger-Republik weiter. Es war der oberitalienische Städteraum, in dem das Lob der antiken Stadtmetropolen als erinnerungsträchtige Bekräftigung urbaner Machtentfaltung gelesen wurde und ohne weiteres von den Vertretern des civic humanism (Η. Baron) 3 ' auf stadtpatriotische Zwecke und aktuelle historische Konstellationen zu übertragen war. Gerade in der neueren Forschung ist nachgewiesen, daß Leonardo Brunis Lobschrift auf die Republik Florenz (1403/04) unmittelbar wie in weiterer Sicht deutsche Werke beeinflußte. 32 Noch
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Hans Baron: The Crisis of the Early Italian Renaissance. Civic Humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny. Zwei Bände. Princeton N.Y. 1955. Brunis Laudatio Fiorentinae Urbis wurde herausgegeben und erörtert von Hans Baron: From Petrarch to Leonardo Bruni. Studies in Humanistic and Political Literature. Chicago and London 1968, spez. S. 217ff. sowie S. 102ff. und 15Iff.; zur Nachwirkung (Enea Silvio) s. Kugler, wie Anm. 20, S. 199ff.; Berthe Widmer: Enea Silvios Lob der Stadt Basel und seine Vorlagen. In: Baseler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 58./59. Band (1959). S. 111-138: Hermann Goldbrunner: Laudatio Urbis. Zu neueren Untersuchungen über das humanistische Städtelob. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 63 (1983), S. 3 1 3 - 3 2 8 : zum weiteren Umkreis auch August Buck: »Laus Venetiae« und Politik im 16. Jahrhundert. In: Archiv für Kulturgeschichte 57 (1975), S. 186-194, sowie ders.: Der bürgerliche Humanismus in Florenz. In: August Buck und Tibor Klaniczay (Hgg.): Sozialgeschichtliche Fragestellungen in der Renaissanceforschung. Wiesbaden 1992 (Wolfenbiitteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung. Bd. 13), S. 17-30.
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das humanistische Städtelob des postreformatorischen Humanismus präsentiert sich so als phasenverschobene Adaption signifikanter literarischer Modelle der italienischen Renaissance.
Orths Stralsund-Dichtung gleicht auf weiten Strecken einem historischen Heldenepos. Heldenepen aber, deren >Materie< per se einen angemessenen rhetorischen ornatus beanspruchte, begannen traditionell mit einem poetischen exordium, das die Erwartungen des Publikums auf den Autor sowie auf Gegenstand und Thema des Werkes lenkte. Orth eröffnet den präludierenden Anfangsabschnitt seines Werkes (V. 1—146) freilich nicht mit einer Variation des topischen Musenanrufs, sondern mit einer autobiographisch gefärbten Fiktion. Er erzählt von der Erscheinung einer »Göttin«, einer trauernden Frauengestalt mit bleichem Antlitz und tränenbenetzten Wangen. Die Erscheinung stellt sich als »Sundina Strela« vor, also als allegorische Figur der Heimatstadt, die sich von ihrem Zögling (»alumnus«) vernachlässigt fühlt. Als emblematisches Zeichen trägt sie auf ihrem Haupt den Mauerkranz, nicht unüblich in antiken Texten (etwa Ovid, Fast. IV, 224), doch hier vielleicht auch eine huldigende Anspielung auf einer der berühmtesten deutsch-lateinischen Gedichte der Zeit: auf des Petrus Lotichius Secundus Elegie über die Belagerung der - ebenfalls in Trauerpose personifizierten - Stadt Magdeburg (El. II, 4)." Der Text wird Orth spätestens seit der von seinem »praeceptor« Camerarius besorgten ersten posthumen Sammelausgabe (Leipzig 1561) bekannt gewesen sein. Im Zwiegespräch zwischen der Stadt-»Göttin« und dem Autor-Ich wird dem Leser die Schreibkonzeption des Gedichts vermittelt. Bisher, so bekennt der Dichter, habe er in elegischen Versen fremde Potentaten besungen, ohne auf die nötige Anteilnahme zu stoßen. Erst nun wird ein Versäumnis wieder gutgemacht, wird die Stadt zum Gegenstand, zum Adressaten und - zwischen den Zeilen - auch zum gewünschten Patron des Poeten. Denn dem Andenken 34 bürgerlicher Tüchtigkeit zu dienen liegt gerade im Fall Stralsunds nahe, fehlt es doch ausgerechnet dieser Stadt an poetischem Nachruhm. Der Dichter will gleichsam auf einen Nachholbedarf aufmerksam machen, wo doch so viele »Städtlein«
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Der Text nun mit einer späteren Übersetzung leicht greifbar in Hedwig Heger (Hg.): Spätmittelalter. Humanismus. Reformation. Zweiter Teilband. Blütezeit des Humanismus und Reformation. München 1978. S. 4 7 9 - 8 5 . Die Leitfunktion dieser Vorstellung hat Jan-Dirk Müller in einer maßgeblichen Untersuchung für den höfischen Bereich herausgearbeitet: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft um Maximilian I. München 1982 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, Bd. 2). Seine Ergebnisse gelten - mutatis mutandis - auch für die Rolle der schreibenden Gelehrten im städtischen Raum.
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bereits ihr poetisches Monument gefunden haben. In der Klage der Stadtgöttin wird ein Denkmal Stralsunder Taten und Stralsunder Helden angemahnt, die durchaus mit den berühmten Heroengestalten der antiken Städte, mit Scipio und Camillus z.B., zu vergleichen seien (V. 45-60; 85-90): Quod mea nullius sunt praelia compta poesi, Quodque nec historica commemorata fide. Cingantur reliquae pretiosis vestibus urbes, Indult aeternis quas pia Musa stolis; Non ego, cuius adhuc nullis cantata poetis Ornatu caruit gloria vera suo." Hanc quamvis toto volitans vulgaverit orbe Fania, sed officio non tarnen usa tuo. Hunc egone tantum potui sperare dolorem, Quum primum digitis exciperere meis? Ut caneres alios sublimi carmine Reges. Qui bene de studiis non meruere tuis: Amplius et patriae - quid dicam? - verius imo Desineres matris commeminisse tuae, Ceu Lethe tibi pota foret vel aquatica lothos. Unquam ne posses proh! memor esse mei.
[...] Cur mea non potius fers inclyta facta per orbem, Bellaque seu terra, seu mihi gesta mari? Scipiadas geminos recitas fortemque Camillum. Magnum Miltiaden Archidamumque senem. Nonne ego praestantes peperi quoque Marte nepotes, Quos potes excelsis annumerare viris? (Übers.. Zober, S. 82f: [...] weil meine Schlachten weder durch Jemandes Dichtkunst verherrlicht, noch treu nach der Geschichte erzählt sind. Immerhin mögen die übrigen Städte mit Prachtgewändern sich gürten, welche die fromme Muse ihnen anlegt in ewigem Schmuck; nicht so ich. deren wahrer Ruhm, noch von keinem Dichter besungen, bisher seines Schmuck entbehrt hat. Hat ihn gleich das fliegende Gerücht auf dem ganzen Erdkreis verbreitet, so hat er doch Deines Dienstes sich nicht erfreut. Konnte ich wohl erwarten, solchen Schmerz zu erleben, da Du von meinen Händen zuerst aufgenommen wardst? dass Du besingen würdest in erhabenem Sange andere Herrscher, die sonder Verdienst sind um Deine Bestrebungen; und dass Du aufhören würdest fürder Deines Vaterlandes - was sag ich? - ja vielmehr Deiner Mutter zu gedenken, als hättest Du getrunken aus dem Lethe oder vom wasserliebenden Lothos, dass Du - ach! - nie meiner eingedenk sein konntest. [...] warum verbreitest Du nicht lieber meine hochberühmten Thaten auf der Erde, und die Kriege, so von mir zu Wasser oder zu Lande geführt sind? Das Scipionenpaar erhebst Du und den tapfern Camillus, den grossen Miltiades und den ergrauten Archidamus; habe ich denn nicht auch kriegerische Enkel geboren, die Du erhabenen Männern beigesellen kannst? Jene, die Du besingst, verdienten durch nichts Anderes ewigen Ruhm, als durch Eifer um ihr Vaterland.)
Die willfährige Antwort des poetischen Ichs unterrichtet den Leser vor allem über den Gattungscharakter des Textes, versteht sich also auch als ästhetisch 35
Der Begriff »ornatus« hat den Doppelsinn der stiltypologischen Kleider-Metapher, verdeutlicht also den Stilwillen des Autors.
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wertender Rezeptionskommentar. Das gegenüber lyrischer Dichtung erhabenere Werk - in Vergilscher Phrase ein »maius opus« (V. 4) - gilt nicht mehr den »facta potentum«, wohl aber dem heroischen Glanz der Stadtgeschichte. Indem Orth die von Horaz und den römischen Elegikern (z.B. Properz III 9,43f.) bereits strapazierte Figur der >recusatio< aufgreift (der Lyriker fühlt sich eigentlich unberufen zum Heldenepos), um sich dann doch - mit Hilfe Thalias, der Muse der Geschichtsschreibung - ans Werk zu machen, wird dem Leser klar: Was Orth vorlegt, soll mit den episch-historischen Dichtwerken des Altertums verglichen werden. Nach einem enkomiastischen Einschub (V. 147-258) rekapituliert der erste Hauptteil der Dichtung (V. 259-886) den Erfolg gemeinsamen bürgerlichen Handelns. Orth stützt sich auf historische Quellen, vor allem die »Vandalenchronik« (Vandalia) des Albert Krantz (1448-1517). 16 Zielpunkt der episch umgesetzten Stadtgeschichte ist der Aufstieg Stralsunds; zwar über Krisen, große Gefahren und eine Niederlage, die gegen Lübeck, hinweg, doch in der > Aristie< wehrhaften Bürgersinns gleichsam als gottgewollte Belohnung erscheinend. Der Erzählbogen spannt sich so von der Gründung der Stadt durch Waldemar von Dänemark und den Slavenfürsten Jaromar bis hin zu den letzten glorreichen Siegen, in denen sich die Souveränität der Stadtrepublik behauptete: dem Sieg (1316) über den von Dänemark angeführten Fürstenbund im sog. Sundischen Krieg (aus Lösegeld und Beute ließ sich das Rathaus finanzieren) und dem Sieg über die berüchtigten, als >Vitalienbrüder< bekannten Seeräuber (ca. 1392). Es wäre verfehlt, bei allem farbigen Erzählkolorit in diesen Schilderungen nur den Reiz abenteuerlicher Vorgänge zu suchen. Orths Werk verteidigt in der Rückblende die im Innern und im Äußern stets gefährdete Autonomie der Bürgerschaft. Kaum eine Kommune in Deutschland, die es versäumte, militärische Erfolge in einer Vielzahl von symbolischen Handlungen und literarischen Medien im Gedächtnis zu halten: angefangen von feierlichen Gedenktagen, bleibenden Stiftungen und Zeremonien (Festessen u. dgl.), sinnträchtigen Bildern und Zeichen bis hin zu Formen schriftlicher Erinnerung in der Stadtchronistik, in der Spruchliteratur und in Liedern. Geschichte, so aufbereitet und eingebunden in ein »civic ritual«," stiftete normprägendes Wissen und die Handlungsmaximen der Urbanen Solidargemeinschaft - jedenfalls postulativ über alle Schichten und Interessengegensätze hinweg. Orths ästhetischer Aufwand, geeignet, das bloß Faktische im Wertbewußtsein zu überhöhen und im Feld erhabener Exempel projektionshaft zu beglaubigen, war unter diesen Auspizien durchaus willkommen. Deshalb zögert Orth nicht, 36
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Die von Zober im Kommentar seiner Edition angeführten Quellen wie auch die von ihm vermerkten Anspielungen auf Stellen antiker Dichtung möchte und kann ich selbstverständlich hier nicht im einzelnen aufführen. Zu den hier skizzierten Zusammenhängen instruktiv und materialreich nunmehr Klaus Graf: Schlachtengedenken in der Stadt. In: Stadt und Krieg. Hg. von Bernhard Kirchgässer und Günter Scholz. Sigmaringen 1989 (Stadt in der Geschichte. Bd. 15), S. 83-104.
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sich die Stilistika und Formelemente altrömischer Epik in ostentativer Belesenheit zunutze zu machen. Lübecks Zug gegen Stralsund erscheint so im Widerschein des letzthin unglücklichen Kampfes der Griechen gegen die Trojaner; feindliche Könige werden von dämonischen Mächten getrieben; die besiegten Vitalienbrüder finden Hilfe bei Neptun, der in die Unterwelt hinabsteigt und dort mit wohlgesetzter Rede - in Erinnerung an Vergil, Aeneis VII 312ff. ( Abstieg Junos in die Unterwelt) - die Furien des Styx gegen die Stadt mobil macht (V. 765ff.). Rhetorisch ausgefeilte Figurenrede, allegorischer Götterapparat, ekphrastische Einlagen und Ortsbeschreibungen als epische Ruhepunkte, feierlich periphrastische Zeitangaben mit mythologischer Referenz, wiederholte - den epischen Stilgestus betonende - Vergleiche, direkte, vom Erzähler pathetisch abgehobene Analogien zwischen dem kämpfenden Stralsund und den berühmten Metropolen des Altertums (Rom, Karthago), kurz: Es gibt kaum eines der bei Vergil zu studierenden, stil- und strukturprägenden Merkmale des klassischen Heldenepos, das Orth nicht seinem spezifischen Darstellungswillen unterwirft und seine Heimatstadt so in die Aura unvergänglicher Wehrhaftigkeit hüllt. Dabei sind das Telos dieser Geschichten und der Erzählstandpunkt des Autors von Anfang an vorgegeben. Denn zwischen Einleitung und epischen Bericht schiebt Orth, wie gesagt, einen Hymnus auf die Stadt (V. 147-258). Geradezu lehrbuchmäßig präsentiert diese Passage das topische Spektrum des Städtelobs und seine Kunst detailfreudiger Genremalerei (s. hier den Abdruck im Anhang, II). So erscheint im ganzen die militärische Selbstbehauptung der Stadt, die Geschichte ihrer Siege und überwundenen Niederlagen, nur als Vorbereitung jener Huldigung, die den letzten Teil des Werk ausfüllt (V. 887ff.). Stralsund wird mit dem »dreifachen« Hafen des antiken Syrakus verglichen. Die Stelle des getreidereichen Sizilien nimmt nun Rügen ein. Die durch Befestigungen und Waffenschmieden geschützte Stadt entfaltet alle ihre Reize: in den ebenso nützlichen wie angenehm-erholsamen Gärten der Vorstädte; im Treiben der Bürger, die sich im Spiel Erholung gönnen und doch moralischen Anstand wahren; in prächtigen Häusern, zumal dem Rathaus, in denen sich auch ein durch Handel erworbener Wohlstand spiegelt, den erst Gottesfurcht und Frömmigkeit verdienen. »Ehrbares Leben, unsträfliche Sitten, Rechtlichkeit und Treue« haben freilich ihre Gewähr nicht nur in der Gottesfurcht, sondern gleichermaßen in einer gerechten und fähigen Verwaltung. Orth setzt an diesem Punkt seiner Darstellung den Bürgermeistern bzw. Altbürgermeistern Franz Wessel (1487-1570), Nikolaus Genzkow (1502-1576) und Joachim Klinkow (1518-1601) ein poetisches Denkmal. In ihnen soll sich paradigmatisch verkörpern, worauf es Orth sichtlich ankommt: die Vereinigung bürgerlicher Tugenden und literarischer Bildung. Denn darauf beruht - so Orths abschließender Appell - die Pflege des Schulwesens. Stralsund erhielt - nach Zober - erst 1560 eine größere Gelehrtenschule. Wir dürfen uns vorstellen, daß Orth seine verstreuten Elegien drucken ließ und sein Stadtepos vorlegte in der Hoffnung, an dieser Schule als Rektor Fuß zu fassen. Das Professorenamt an der Universität scheint
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Humanismus
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ihn jedenfalls nicht befriedigt zu haben. (»Poeten« wurden schlecht besoldet. ) Kein Wunder, daß er den Stadtvätern suggerierte, auch die künftigen Theologen, Mediziner und Juristen als Bannerträger städtischen Nachruhms anzusehen. Doch Orths Wink mit dem poetischen Zaunpfahl scheint ihm außer klingender Münze keine sichere berufliche Position verschafft zu haben. Nur so ist zu verstehen, daß er nach Wittenberg zurückkehrte, anstelle bürgerlicher Heldentaten nun die Reihe der Kaiser bedichtete und sich nach anderen Mäzenen umsehen mußte. Orths und anderer Humanisten umtriebiges Leben war nicht Resultat von Rastlosigkeit und >WanderlustReinike Voss de Olde< in der spiithiimcmistischen
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auf die Künste der >prudentia< angewiesenen Staatsmanns. Unter den wenigen muttersprachlichen Büchern, die in akademisch-hodegetischen, den künftigen >politicus< ansprechenden Traktaten als Pflichtlektüre erwähnt wurden, fand sich deshalb auch die Reinike-Dic\Aung·. bei Caspar Dornau (1577-1632) etwa, dem Lehrer des Martin Opitz und Professor in Beuthen 3 , auch bei dem aus Linz stammenden Georg Gumpelzheimer (geb. 1596), dessen Erziehungsschriften von Johann Michael Moscherosch herausgegeben und mit zusätzlichen Exzerpten angereichert wurden.4 Reinike entsprach - verschlagen, grausam und erfolgreich - dem Antibild des christlichen Politikers: »Germanorum Machiavellus«, so lautete die knappe Diagnose des Heidelberger Juristen Marquard Freher in einem Brief an Melchior Goldast. 5 Im 17. Jahrhundert ließ sich jedenfalls in den südlichen Niederlanden die Fuchs-Epik sogar als Schulbuch benutzen/' H. Menke konnte sich hier wie bei anderen Nachweisen vor allem auf buchgeschichtliche Indizien (Besitz vermerke, Lagerkataloge usw.) stützen. Die Anziehungskraft des Reinike wird dadurch ebenso illustriert wie durch zahlreiche literarische Erinnerungen, ζ. B. bei Fischart und - mit niederdeutschem Patriotismus - bei Johann Lauremberg. 7 Der bisher unbeachtete Text, den ich im folgenden vorstelle, knüpft in mehrfacher Hinsicht an die bekannten Rezeptionslinien und Wirkungsräume an. Er wurde - erstens - am Oberrhein geschrieben, in Heidelberg, also in der Nähe Fischarts und Hartmann Schoppers, der die lateinische Fassung des Reinike verfaßte (erschienen 1567)8, er trägt - zweitens - biographisch begründbare Züge eines niederdeutschen Regionalpatriotismus, indem er das alte Epos in das ästhetisch gehobene Repertoire
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C. Dornavius: Charidemus, hoc est, de m o r u m pulchritudine, necessitate, utilitate, ad civilem conversationem Oratio Auspicialis. Beuthen 1617. hier im angehängten »Syllabus authorum ad ethopraxian pertinentium« (ausführliche Literaturliste für die ideale Bibliothek eines Politikers), spez. fol. Η (1). Dazu W. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat (...) Tübingen 1982 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 3), spez. S. 140-148; Jörg-Ulrich Fechner: Der Lehr- und Lektüreplan des Schönaichianums als bildungsgeschichtliche Voraussetzung der Literatur, in: Barocksymposium 1974. Stadt-Schule-Universität-Buchwesen. Hg. von Albrecht Schöne. München 1976, S.325-334. Georgius Gumpelzhaimerus: Gymnasma de exercitiis academicorum [...]: [ges. Titelblatt und Pag.] Dissertatio de politico [...] opera & studio Joh. Mich. Moscherosch. Straßburg 1652 (zuerst 1621); hierin der Vorrede von 1621: »Ja das gantze Politische Hoffregiment und das Römische Bapstumb ist unter dem Namen Reinicken Fuchs überaus künstlich und weißlich beschrieben.« Moscherosch hat 1652 den Passus »und das Römische Bapstumb« gestrichen. Zu Gumpelzheimers Werk vgl. Kühlmann, wie Anm. 3, S. 346f. Virorum eil. et doctorum ad Michaelem Goldastum (...) Epistolae. Frankfurt/Speyer 1688. S. 195 (vom 23.10.1607). Menke (1975/76, wie Anm. 1), spez. S. 115. J. Lauremberg: Niederdeutsche Scherzgedichte. 1552. Hgg. v. W. Braune. Halle 1879 (Neudrucke deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 16-17), S. 66f. Dazu auch Günter Hess: Deutsch-Lateinische Narrenzunft. (...) München 1971 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, Bd. 41). S. 3 4 6 - 3 4 8 u. ö. (s. Register).
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humanistischer Versdichtung zu integrieren bemüht ist; er belegt - drittens - beispielhaft wie m. W. kein anderes Rezeptionszeugnis die Rolle der Reinike-Epen im Kontext höfisch-politischer Adelserziehung auch des akademischen Milieus. Daß gerade der Adel zum Leser- und Käuferkreis des Werks gehörte9, wird damit bekräftigt und auf mögliche Lektüreinteressen hin dokumentiert. Wir haben überdies das Glück, die im einzelnen begründete Empfehlung des »poema Saxonicum« nicht nur genau datieren (29. Mai 1580), sondern sie auch auf die Lebensgeschichte des Autors und des Adressaten beziehen zu können. Verfasser ist der Heidelberger Professor für lateinische Sprache und Rhetorik (1563), nach 1584 auch für Poesie, Lambertus Pithopoeus. 10 Er stammte, 1539 geboren, aus Deventer und lebte nach dem Tod des Vaters (1545) jahrelang in Rostock (Schul- und Studienzeit bis zum Frühjahr 1558). Sehr wohl möglich also, daß sich in der Hochschätzung des Reinike noch Erinnerungen an die frühe Lektüre einer seinerzeit aktuellen Neuerscheinung niederschlagen. Nach dem weiteren Studium bei Melanchthon in Wittenberg (dort Mag. 1559) kehrte Pithopoeus vorübergehend in seine Heimat zurück, um schließlich 1563 einem attraktiven Ruf auf die Stelle eines Lehrers am Heidelberger Pädagogium zu folgen. Das geistige Profil dieses Gelehrten unterscheidet sich nicht von dem seiner akademischen Kollegen: in der emphatischen Verteidigung musischliterarischer Bildung und in der Strenge, mit der die Grundsätze lateinischhumanistischer Ausbildung verkündet und verwirklicht wurden. Auch der Adressat des Gedichts kam aus dem niederdeutschen Raum, Sproß eines bedeutenden pommerschen Adelsgeschlechts: Adrian Borck(e), am 14.11.1577 in Heidelberg immatrikuliert, also etwa Mitte der sechziger Jahre geboren. 11 Einen akademischen Grad hat Borck wie viele Vertreter der Nobilität nicht angenommen. Er ließ sich mit einigen anderen Junkern vorzugsweise von Pithopoeus unterrichten, war offenbar ein besonders begabter " 10
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Menke (1975/76. wie Anm. 1 ) . S . 122ff. Zu ihm im einzelnen die sorgfältigen personalgeschichtlichen Forschungen von Dieter Mertens: Zu Heidelberger Dichtern von Schede zu Zincgref, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 103 (1974). S. 2 0 0 - 2 4 1 . spez. S. 21 Off. Ich erspare mir. die dort gesammelten Nachweise hier zu wiederholen. Nach Abfassung des Beitrags fand ich in der UB Wroclaw (Breslau) folgende Gedichtsammlungen des Pithopoeus, die bei Mertens nicht erwähnt sind: Poematum Liber Sextus (-Liber Septimus). Heidelbergae typis Abrahami Smesmanni, impensis Bernhard Altini M D X C I : hier (Lib VII., S. 86ff.) weitere Gedichte an Borck. spez. S. 89 ein Propempticon: »Meo Adriano Borckio, Heidelbergae in Italiam abeunti. 20. Septembr. anno 1589«. Diese offenbar zweite Italienreise Borcks ist (vgl. Mertens 1. c., S. 219) einzuordnen zwischen die Aufenthalte in Pommern (1587) und in der Kurpfalz (1593). Bis zum März 1591 wirkte Borck als Syndicus der »deutschen Nation« an der Universität Padua: vgl. Annalen der deutschen Nation in Padua. In: Blätter des Vereins für Landeskunde von Niederösterreich 15 (1881). spez. S. 402; ferner von Pithopoeus: Nuptiae Palatinae seu Poematum Lamberti Ludolfi Pithopoei Daventriensis Liber Octavus, qui est Siluarum Quinctus ad Fridericum IV Electorem Palatinum. Heidelbergae typis Abrahami Smesmanni MDXCIV. A u c h zu B o r c k s. die ausführliche Darstellung bei Mertens, wie A n m . 10. spez. S. 218ff.
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und geliebter Schüler. Denn Pithopoeus widmete ihm ein ganzes Buch seiner 1585 erschienenen Lyriksammlung, enthaltend auch mehrere Gedichte und Briefe, die Lehrer und Zögling einander zusandten.12 Daß Borck für das >Regiment< bestimmt war, ergab sich aus seiner Herkunft, manifestierte sich auch im alsbald absehbaren Studiengang. Im Oktober 1580 zog er nach Basel, um lurisprudenz zu studieren, schloß später eine ausgedehnte >peregrinatio< an, die ihn bis in die Türkei führte, und stellte sich nach vorübergehendem Aufenthalt in Pommern schließlich der Kurpfalz zur Verfügung. Eine Berufung zum Kanzler des Herzogs von Pommern lehnte er ab, eine 1604 erwähnte Kandidatur für den Heidelberger Oberrat scheiterte - vielleicht wegen Borcks schlechtem Gesundheitszustand. Stattdessen wirkte der standhafte Calvinist, ein, wie man lesen konnte, durchaus religiöser Charakter, von 1597 bis zu seinem Tode (1618) am Reichskammergericht zu Speyer. Ein Mann also, dem es von vornherein zukam, in der >großen Welt< zu wirken, in der die Gesetze der >ars aulica< galten, die Normen der »honesta pietas< dagegen angesichts eines latenten >Atheismus< oft nur noch proklamatorische Verbindlichkeit besaßen. Es hat also seinen prospektiven Sinn, wenn Pithopoeus dem verehrten und geschätzten Schüler - gleichsam als literarisches >viaticum< - einige Monate vor der einstweiligen Trennung das Poema Reinike Voss schenkte. Wie hoch ihm, dem klassisch gebildeten Professor, dies Werk stand und was aus ihm zu lernen sei, davon handelt der im folgenden mitgeteilte protreptische Verstraktat.11
In Poema Saxonicum REINIKE VOSS DE OLDE. ad ornatissimum pietate. modestia. eruditione, & generis nobilitate iuuenem. D. A D R I A N U M BORCK POMERANUM.
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Hunc tibi Pithopoeus, Adriane Iucundißime, de nota libellum Commendo meliore, doque dono, Ut lectum quater. & quater relectum Alte sensibus intimis reponas. Est hoc Saxonica quidem poema Descriptum (quis enim negare tentet. Quod res indicat euidenter ipsa?)
Poematum Lamberti Ludolfi Pithopoei Dauentriensis Libri IV [...]. Neapoli Nemetum [d.i. Neustadt a. d. Η.]: M. Harnisch 1585 (UB Freiburg). Das A. Borck gewidmete vierte Buch hier S. 240ff.; die Gedichte und Briefe bes. S. 361ff. Wie Anm. 12, S. 309-322; textgetreuer Abdruck mit beigefügter Zeitenzählung. Statt einer Übersetzung gebe ich im Anschtuß an den Text eine interpretierende Analyse.
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Lingua, Reinike Voß de Olde dictum: At si quis facileis & eleganteis Rhythmos, & numeros sua fluenteis Sponte, alti & placidi instar amnis, aucti Hiberna niue. & imbre continente, Nil durum in quibus est, nihil coactum; Et poematis huius expolitam Totam totius elocutionem, Non praeiudicio occupatus vllo, Attenta meditatione spectet; Et aptam Seriem ordinemque rerum Toto carmine rite singularum Expendat tacitus frequensque verset, Quanta sollicitudine atque cura, Quisquis carminis huius est poeta, Omni ex parte poeticum decorum In cunctis animantibus laboret Expreßisse bonis ubique verbis, Cuitisque ingenij, loci, statüsque, Ortus, temporis, atque dignitatis, Consuetudinis & negotiorum, Aetatum, officij, sodalramque, Personae studiique, ceterarum Et circum ratione stantiarum Seruata; egregiämque perspicacis Et raram ingenij sagacitatem, A c motus celeres & excitatos, Acumenque nouum atque singulare Argute inueniendi & erudite, Täm bellum, lepidum, decens venustum Figmentum; insuper & facetiarum, Iocorümque modos amoeniorum Sexcentos, sale sparsa multo & acri A c mordacia dicta, quae legentum Profunde penetrant & audientum Menteis vi tacita, sed efficace, Non sine eximia suauitate; Et risus hilaris sub inuolucro, Mira calliditate veritatem Teetam, in tempore μαλθακώς peritam Σκληρά dicere apud potentiores, Contra quos nimia seueritate, Candidäque nimis, nimisque aperta Morum simplicitate, liberoue Sermonis nimium rgore, nunquam Quidquam proficias, agäsque recte; Aequam quin etiam bonämque caussam Agendo male, vel male eloquendo, Non rarö facias malam atque iniquam: Haec, inquam, volet, Adriane, in isto Si vel singula quis, vel uniuersa Libro, non obiter, nee oscitanter, Sed crebro repetita, & erudito Digna ac conueniente lectione
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Obseruare, fideliterque secum Ponderare; meo quidem videbit Ille iudicio, fatebitürque Lübens, posse poema comparari Hoc, cuiuis veterum aut recentioram Scriptorum. Latio, sonoue Graeco, Genti Teutonicae vel usitato, Quotquot materiam suopte Marte, Seu certis numeris, metroque certo, Seu nullis numeris, metroque nullo Tractärunt similem, suique doctis Censendum ingenij edidere foetum. Ergo volue, reuolue diligenter Et saepe, hanc lepidam, modumque supra Bellam, me monitore, versipellis Vulpis Reinike (qua magis disertus Et vafer veterator alter, unquam Non fuit, nee erit, nee est, darique Α nullo poteritue cogitari) Fabellum, sub imagine eleganti Carentum ratione bestiarum, Quales sunt Leo cum sua Leaena, Cum lupa lupus, & dolosa Vulpes, Quae palmam reliquas in hoc theatro Omnes obtinet inter & trimphum, Tum melis, socia & comes fidelis Vafrae vulpis, equique contumaces. Cumque vrso, timidus lepus, canisque. Et simplex aries, vagtisque felis, Cumque hircis olidi greges caprarum. Tum turpes quoque simiae, atque asellus infelix animal, voräxque coruus, Anserque improbus, & siticulosa Cornix, exeubitorque gallus, atque Pica garrula, grus, ciconiaeque. Et quas pratereä referre, longum. Quae, tanquam in tabula, tibi potentis Ad viuum exprimit atque pingit aulae Mores, ingenium, dolos & arteis; Ex qua, simplicitas, amorque recti. Cum pudicitia pudor, fidesque. Et cum iustitia aequitas, Deique Timor serius, & decorus ordo in Cunctis consilijs, negotiisque. Et cum sobrietate temperatus Omnium, quibus haec carere, rerum, Vita non potis est, & aequus usus, Candorque haud aliud tegens dolose Clausuni pectore, quam reuelet ore. Et constantia, conscientiaeque Bonae, & debita cura veritatis, Tuendique probos & innocenteis Sincerum Studium, mamisque promtae Vim contra, insidias & improborum;
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In s u m m a , pietas, & o m n e h o n e s t u m Exsulare procul iubentur vsque E x t r e m o s G a r a m a n t a s a t q u e ad Indos: In qua, calliditas a m o r q u e p r a u i , Impudicitia, i m p u d e n t i a , a t q u e Fides p e r f i d i o s a , i n i q u i t ä s q u e C ü m q u e iniustitia, Dei p r o f a n u s C o n t e m t u s , m a n i f e s t u s inter o m n e s , Infandtisque atheismus, & supina O m n i s relligionis, & f u t u r a e Vitae irrisio, nullus i n f e r o r u m M e t u s , s u p p l i c i i q u e sempiterni, A t q u e ά τ α ξ ί α turpis & p u d e n d a in C u n c t i s consilijs, n e g o t i s q u e ; Q u f s regni tarnen a t q u e s u b d i t o r u m S a l u s gloria, vita, c o n t i n e n t u r ; T u m f o e d a ebrietas, m o d i q u e luxus O m n i s nescius, a t q u e t e m p e r a t i Rerum usus, h o m i n u m quibus carere Vita non potuit, potest nee u n q u a m L i u o r q u e u s q u e aliud t e g e n s d o l o s o C l a u s u m p e c t o r e , q u a m reuelet ore, P r o m t a dextera, sed m i n a x sinistra, Lingua blandula, fraudulenta corda. Verba s p l e n d i d a , s p l e n d i d a e q u e n u g a e , P r o m i s s a aurea, destituta rebus, Et s o p h i s m a t a m e l l e tineta dulei; Inconstantia, c o n s c i e n t i a e q u e B o n a e , c u r ä q u e nulla veritatis, Immo ardens odium, calumniaeque Et m e n d a c i a , & i m p r o b i susurri, Premendique bonos & innocenteis Q u a e s i t u m Studium, l a b o r q u e suauis; In s u m m a , i m p i e t a s , & o m n i s astus S u n t s u m m o in pretio, valent, v i g e n t q u e . R e g n a n t , i m p e r i u m & tenent s u p r e m u m , και π ρ ά τ τ ε ι ό κ ό λ α ξ άει α ρ ι σ τ α , Έ ν δέ δ ε ύ τ ε ρ α π ά σ ι σ υ κ ο φ ά ν τ η ς . Haec nosse omnia, & Adriane, primis A b annis m e m o r i t e n e r e m e n t e . Ex h o c vel simili petita libro, ( Q u a m u i s , iudice m e , libellus iste H a c in m a t e r i a antecellit o m n e s ) Salus, utilitäsque s u m m a c u n c t i s Est, s e d p r a e e i p u e , b e n i g n i t a t e Dei, nobilibus, p o t e n t i b ü s q u e , Q u i b u s contigit e s s e p r o c r e a t o s Ex auis, atauis, parentibtisque, Vt artes varias, d o l o s q u e m i r o s A t q u e incredibileis p o t e n t i s aulae, Et v e n e n a liquore tecta suaui, Discant, non p r o p r i o m a l o , s u ä q u e , S t u l t o r u m , experientia, m a g i s t r a ; S e d ex h a c s p e c u l o velut nitente,
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Vulpis Reinike fabula dolosae. Fecisse ex aliis periela scitum est. Ex vsu tibi quae sient, bonoque. Ergo conspicuum, Adriane gentis Antiquae celebrisque Borckiorum Decus, prasidramque dulce quondam Et m a g n u m columen future vitam Si longam tibi, quod precorque & opto, Valentemque benigna prorogärit Dei dextera temperantis aequo Terras imperio, fretumque, & astra, Q u a n d o tu quoque nobili atque longo Stirpis sanguine, stemmatisque aurorum Censeris, generis tui vetustum Splendorem, propria stude tueri Virtute, ut facis, integräque vita, Et perge egregia eruditione O m a r e & pietate, moribüsque Castis, ingenuis, probis, modestis, Ac f u g a ebrietatis atque luxus; Et hac in viridi tua iuuenta, Dum vires animi sinunt, suoque Stant adhuc solidae tibi integraeque Vires robore corporis, m e t ü m q u e Extra o m n e m positus periculorum, Liberque ä grauium negotiorum Mole diffieili & laboriosa, Nee euris animum d o m u s alendae Distentus varijs edacibüsque, Uni viuis adhuc tibi quietus, Securasque, quid orbis in remota Parte, Cantaber atque bellicosus Scytes cogitet, & nouos tumultus Cui paret metuendus ense & arcu, C u m iucundo hilaris legis sodali. Honesta recreatione mentis, Sensibus vacuis & otiosis, In molli torulo, cubiculoue Solo, virginibus nouem sacrato, Aut grata patulae arboris sub umbra, Ad riuum tremulae supinus undae, Herbae graminis incubans tenacis. C u m notae interioris aut Falerni, Aut Chij veteris cado benigno, Q u o vates Venusinus, aut C r e m o n a e Vicinus nimiüm, calescat igni, Q u a s Dauus, Geta, Phormio, Syrüsque Fraudes in proprios, d o l ü m q u e tendant Heros, quid metuat, velitue Chremes, A Dijs quid moneat p e t e n d u m Aquinas Vero, sed nimiüm salace versu. Cur nouam paret expeditionem Caesar Heluetios & in Britannos, Q u o discrimine syllogismus absit
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E n t h y m e m a t e curto, et εισαγωγή, Quid Antonius atque Crassus olim De tota ratione disputärint Dicendi, valeäntne plüs benigni Dotes ingenij, arte regulisque, Et quis nomine dignus Eloquentis; Istis ergo, Dei benignitate Adhuc dum frueris bonis beatus, Interdum posita seueriore Camoena, grauioribtisque scriptis, Iocosae quoque sume plectra Musae, Miscens stultitiam breuem b o n ä m q u e Serijs studijs. Probante Flacco, Dulce desipere est loco, modoque. Ac velut medicus venena prudens Et herbas bene nosse pestilenteis Sedulo studet atque diligenter, Non hoc consilio, vel hac, vel illa Aegrotantibus vt propinet vnquam, Sed contra potiüs caute Ut ipsus fugiat scienter, atque Ceteris eadem cauenda monstret: Sic & tu simili m e m e n t o cura, Ex hoc Reinike Voß pereleganti C o m m e n t o , ingenium, dolos, & arteis, Et mores duplices, & atra dulci Qua sub melle aconita delitescunt, Perspexisse potentis, Adriane, Aulae multiplicesque captiones, Non vt has imitando comprobare U n q u ä m collibeat tibi, sed omneis Mature ut tibi cognitas suescas Vitare, ac cane peius, & malo angue Oderis, fugias, & exsecreris. Nam quisquis sapit, & pius, bonüsque, Castus, sobrius, integer, modestus, Verax, Candidus, omnis osor astus, Firma ac propisiti tenace mente Esse, & perpetuö cupit manere, & Vitam sub lare proprio quietam Ac laetam exigere; is vel alta nunquam Aulae limina tangat & superba Regum culmina, splendidäsque turreis, Vel ingressus in has sernel, labores Mature inde pedern procul referre, Nec u n q u a m in tumidam reuertat aulam, Expersque inuidiaeque morsutimque, Quos infigere amat calumniantum Venenata, maligna, dira lingua, Nec saeuum & metuens n o u u m tumultum Fortunae instabili volantis axe, Et rerum varias vicesque miras. Id tantüm meditetur atque curet. Q u o d Deo queat & bonis probare.
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Haec scire ut melrasque certiüsque, Et praestare simul queas per o m n e m , Q u a e tibi super est agenda, vitam, Istud Reinike Voß de Olde bellum Et plenum ingenuis p o e m a ludis, Ne te poeniteat quater relectum Relegisse quater, frequentrasque; Praeter hoc tarnen, Adriane, castos Mores propter, & eruditionis Praeclarum Studium, modestiämque, Fortibus iuuenem & bonis creatum Q u a e decent, generisque stemmata ornant, A m a n d e & merito mihi colende, Nocturna terere & m a n u diurna Te Plautum haud pigeat, Terentramque, Et dextra m o n u m e n t a Tullianae. Tum Caij quoque Caesaris labores Gallicos, Lybicos, Ibericosque, Succo nectareo suauiores, R o m a n a e q u e decus perenne linguae, Atque Aristoteles libros decentes Οίκους, ήθεα, πόλεις, & illos Q u o s de Rhetorica, Poeticäque Scriptos arte reliquit; Adriane Hic adiunge breuem, sed elegantem Sallustf historiam, Paterculique, Plutarchum, Tacitümque, Liuiümque, Et sanctas Senecae utriusque Chartas, Suetonf quoque Caesares tremendos, Florum, Polybramque, Curtramque, Et Persf, Iuuenalis, atque Horatf Mordaceis satyras nimisque veras, Salsi & carmina casta Martialis, Tum nostri quoque fabulas Falerni, Nec non scripta diserta Comminaei, Et magni chronicos libros Philippi, Cui nomen dedit atra terra d a r u m . Hos ergo simileisque claßicorum Auctorum vigili, Adriane, libros Si volues studio, ut facis, Latine "Εξιν perspicue, eleganter, apte Dicendi tibi comparabis, atque Olim inter numerabere eloquenteis Postremo m i n i m e loco, vel istud, Vel quos praeterita audiere secla; Ad haec egregria tuum replebis Rerum cognitione plurimarum. Pectus hoc iuuenile, & optimarum. Et mores h o m i n u m , vrbitimque leges Multarum varias legendo disces, Nec p a r u a m sapientiam, m o d ü m q u e Cautae sic bene prouidaeque vitae Adquires, tibi cuius in f u t u r u m . Et praesens queat esse certus vsus.
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Tum sophismata, splendidosque f u m o s Vulpis Reinike cum potentis aulae Blandis insidijs, dolisque, plene Nouisse, & poteris periculo absque Odisse, & placida frui quiete, Virtutis studiosus artiümque, Cultorque aßiduus nouem sororum. Hos tui studio atque amore scriptos Versus hendecasyllabos, sereno &, Ut soles, hilari, Adriane, vultu Accipe, atque mei memor, p o e m a Hoc vulpis lege Reinke versipellis Frequens, & leuidense munus istud Boni consulito, optimo profectum Et corde ingenuo, tuique amante. Verüm pluribus hactenus, nimisque Quae fortaße probare copiose Conatus tibi sum, nimis benignus Curae & temporis, illa cuncta rursüs In n o u e m cape comprehensa verbis: A U L A E N O S S E C U P I S D O L O S POTENTIS? Istum perlege sedulus libellum. Eitelbergae, IV kalend. VI. tileis, anno ä nato Christo M D X X C .
Das Gedicht ist in bequemen phaläkischen Elfsilblern abgefaßt (vgl. V. 341). Als gebundene Rede war es dem Genus der >oratio commendatitia< zuzuordnen ( V. 3: »commendo«), deren Argumente man aus dem Bereich des >honestum< (dies eher für die Empfehlung von Personen) und dem des >utile< wählte. Auch das gewinnende Lob des Adressaten gehörte zur Strategie einer Empfehlungsschrift.' 4 Pithopoeus läßt es reichlich einfließen, jedoch ohne adulatorische Übertreibung, eher an ein adeliges Selbstverständnis appellierend, aus dem die Kraft der Selbstbehauptung gegen die Gefahren einer unmoralischen Welt geschöpft werden sollte, einer Selbstbehauptung, die es in der sittlich-moralischen Erziehung des reformatischen Humanismus abzusichern galt (V. 174ff.). Der Text gliedert sich in Argumentationseinheiten, deren Übergänge durch die Wiederaufnahme der Anrede markiert werden (so etwa V. 58, 75, 155, 286, 340). Trotz der exkurshaften Ausweitung des Gedankengangs bleibt der Bezug auf Reinike Voss durchgehend gewahrt. Stichwortartig kann man die Versrede folgendermaßen strukturieren: 14
Die entsprechenden Regeln exemplarisch bei Gerhardus Joannes Vossius: C o m m e n t a riorum Rhetoricorum ( . . . ) Libri Sex. (5. Aufl.) Marburg 1681 (zuerst 1630), hier Pars Prima. Lib. III, Cap. VII, Nr. IV, S. 403ff.
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V. 1 - 5 :
V. V.
V.
V.
(der Exordialtopik entsprechend): Anlaß: die Schenkung des Buchs - metasprachliche Einordnung der Rede: »commendo« - Thema: ein Buch von besonderem Wert (»libellus de nota meliore«; vgl. die Steigerung V. 158f.) - Telos: die Empfehlung und Begründung wiederholter und intensiver Lektüre; 6-57: Charakterisierung und Bewertung des Werks in sprachlicher und formaler Hinsicht; 58-74: erste Zusammenfassung des ästhetischen Urteils (»iudicium«, V. 65) im Vergleich zu muttersprachlicher und antiker Literatur mit ähnlicher Thematik (»materia«, V. 70); 75-101: Hervorhebung von Wirklichkeitsbezug und Abbildcharakter des Figurenhandelns; - Betonung des »Realismus« (V. 99f.: »tamquam in tabula« - »ad vivum exprimit«); 102-154: abstrahierend-moralistische Kritik der im Reinike dargestellten Weltszene;
V. 155-258: Gebrauchswert der Dichtung unter dem Gesichtspunkt der »utilitas« (V. 160); hierin eingeschoben (V. 174-238) mit einer Apostrophe des Adressaten: personale Voraussetzungen und besonderer Nutzen der Lektüre als einer ästhetischen Vermittlung von Welterfahrung - >digressio< über den humanistischen Autorenkanon; V. 259-285: Antithese zwischen sittlicher Integrität und höfischer, von »fortuna« (V. 275) diktierter Wirklichkeit; V. 286-339: Wiederaufnahme und assoziative Ergänzung des Entwurfs einer humanistischen >ratio studiorumexordiumReinike Voss de Olde< in der späthuwanistischen
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Produkt sorgfältiger künstlerischer Mühe (V. 22). Demgemäß entspricht es in dispositioneller Hinsicht (V. 19: »ordo rerum«) wie auch vor allem in der inneren Wahrscheinlichkeit der fiktiven Rollenträger (»personae«, V. 31) der horazischen Zentralnorm, dem Gesetz des »poetischen Decorum« (V. 24). Das verschiedene Ethos der Tiergestalten (in einzelnen dazu dann V. 78ff.) wurde eingehalten, der motivierende Kontextbezug ihres Verhaltens (Rücksicht auf die »ratio circumstantiarum«, V. 32) ist gewahrt. Der Fähigkeit zu adäquater elocutio und dipositio gesellt sich demnach im ganzen die Gabe scharfsinniger Erfindung (»acumen inveniendi«, V. 36/37). Die besondere Eigenart der erfundenen Erzählung (»figmentum«, V. 39) liegt - so fährt Pithopoeus fort - in ihrem komisch-satirischen Grundzug und Wirkungspotential. Beide Varianten der seit Cicero kodifizierten Richtungen des rhetorischen Witzes sind vertreten: die heiter-entspannende Form des freien Scherzes (»risus hilaris«, V. 46, als Leserreaktion) wie auch, ja wohl vorzugsweise die satirisch-bissige Aggressivität"', die Hörer und Leser nachdrücklich bewegt (»profunde penetrare«, V. 43). Gefallen findet offensichtlich die sententiöse oder apophthegmatische Verknappung der Figurenrede. Sie fungiert als Modus eines verhüllenden, verdeckten Sprechens, das die »Veritas« der Aussage im Angesicht der Mächtigen verheimlichen muß (V. 47ff.).17 Eine solche Akzentuierung entspricht der Aktualität einer im Zeichen von >brevitas< stehenden Diktion, die auf das prudentistische Verhaltensmuster als Motivationsgrund eines witzigen und anspielungsreichen Redeverhaltens zurückzuführen ist.18 Gerade wer im gut quintilianischen Sinne als Anwalt einer »bona caussa« Erfolg haben will (»proficere«, vgl. V. 53/54), ist auf sprachtaktische Verhüllungszwänge angewiesen. Pithopoeus hat diese im Reinike zu studierenden Formen rhetorischer Selbstdarstellung nicht nur an einer Stelle auf die Gesetze höfischer Rationalität bezogen (vgl. V. 27Iff., V. 353). In der Spannung von Wahrheitsanspruch und Verhüllung der Aussage ist offenbar nicht nur die Figurenrede, also in erster Linie die Sprache des Fuchses, erfaßt, sondern auch der intentionale Charakter des Gesamtwerks, einer Tierfabel (V. 82f.), die ihre tiefere Bedeutung nur indirekt preisgibt. Diese uneigentliche Abbildungsfunktion ist in zweifacher Hinsicht aufzulösen: zum ersten in der vom Leser zu leistenden Übertragung auf die »mores aulae« (V. 100/101),
"> Das kennzeichnende Attribut »mordax« (V. 42) verwendet P. bezeichnenderweise auch für Werke der römischen Satiriker (V. 310). 17 V. 48/49 ein Sophokles-Zitat (nach Auskunft der Lexika), auf deutsch: »etwas Hartes auf milde Weise sagen«. Ich bin diesen und anderen Imitationsbezügen nicht weiter nachgegangen, da die poetische Eigenleistung des Verf. hier nicht behandelt wird. Daß wir mit zahlreichen Anspielungen auf antike Literatur zu rechnen haben, ist selbstverständlich: wie etwa auch V. 262 die Erinnerung an die bekannte, stoisch gefärbte >Römerode< des Horaz (carm. III, 3. V. 1). sozusagen ein Leitzitat der hofkritischen Literatur. 18 Dazu im einzelnen Theodor Verweyen: Apophthegma und Scherzrede. Die Geschichte einer einfachen Gattung und ihrer Entfaltung im 17. Jahrhundert. Bad Hoburg v. d. H. usw. 1970 (Linguistica et Litteraria, Bd. 5) sowie Kühlmann, wie Anm. 3. S. 229-255.
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zum andern in der kontrafaktischen Bewertung eines satirisch-realistisch dargestellten Welttheaters (V. 86), in dem - als einem >mundus perversus< - die geforderten Konsequenzen von Tugendlohn und Sündenstrafe aufgehoben sind, ja alle Tugendnormen (V. 102ff.) »ins Exil verwiesen werden« (V. 118). Prudentistische Lebenslehre und moralisch fundierte Lektüreanweisung stehen unvermittelt nebeneinander. Reinike ist nützlich für den, der sich auf die Realität einzustellen hat. Doch was er in diesem Dichtwerk vorfindet, bleibt gleichzeitig ein warnendes, ex negativo zu interpretierendes Exempelaggregat, gleichsam (so V. 239ff.) ein Bündel giftiger Kräuter, die der Arzt kennen muß, um sie zu meiden. Das private Tugendethos, die abzufordernde Leistung einer »vita integra«, sich erfüllend in »pietas« und »eruditio« (V. 186ff.), steht in einer unleugbaren Diskrepanz zu einer von machiavellistischer Kabale beherrschten Fortuna-Sphäre. Vielleicht ist es gerade dieser doppelte, auf eine nur noch rollenhafte Lebenswirklichkeit zielende »sensus« der Reinike-DidcAung, der zu wiederholter und besonders sorgfältiger Lektüre auffordert. Jedenfalls zögert Pithopoeus nicht, das »poema Saxonicum« in eine Reihe mit jedem anderen einschlägigen muttersprachlichen oder antiken Werk zu stellen (V. 66f.). Daß sein Urteil im Gelehrtenkreis nicht alleinstand, belegt ein späteres Epigramm eines katholischen Autors, gerichtet an den vermeintlichen Verfasser der Rostocker Redaktion, Carolus Baumannfus):'" Ni sis nonnusquam vanellus; major Homero major Virgilio, Carole, tu mihi sis.
Hervorgehoben werden muß, daß Pithopoeus, vom Reinike ausgehend, zu grundsätzlichen Dimensionen einer Theorie ästhetischer Lust vorstößt. Diese wird gerade dadurch erzeugt, daß der Leser als Leser einem füchsischen Welttreiben ohne eigene Gefahr, »non proprio malo suaque experientia« (V. 168ff. ) zuschauen kann. Fiktives wie sonst auch historisch beglaubigtes Figurenhandeln egalisiert sich in dem vergnüglichen Nutzen, den fremde Erfahrungen vermitteln. Der Leser ist von Einlösungs- und Bewährungszwängen entlastet; die Lektüre ist deshalb gerade in einem noch jugendlichen Entwicklungsstadium zu empfehlen, einer Lebensphase, die von Sorglosigkeit und Freiheit gekennzeichnet ist (V. 191 ff.). Die biographischen Momente eines solchen jugendlichen >genus vitae< verschmelzen in der Wendung zu humanistischer Bildungsprotreptik auffallenderweise mit einem in bukolischen Tönen gefärbten Genregemälde humanistisch-literarischer Sodalität (V. 205ff.). Freilich - darauf
19
Bartoldus Nihusius: Disticha. Libri Quatuor. Accedit ejusdem E p i g r a m m a t u m Liber Singularis. Köln: J. Kinckius 1642. hier Lib. II. Nr. CXXXII S. 30 (Titel: »In Carolum B a u m a n n u m , Megalopolitanum, qui (ut Rollenhagius memorat) ex aulico Iuliacensi solitarius Rostochii edidit idiomate vernaculo poema. cujus Epigraphe. Reineke Voss«). Über die Tradition der Zuschreibung des Epos an Baumann s. Menke (1975/76, wie Anm. 1). S. 128f.
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legt der akademische Lehrer Pithopoeus Wert - setzt die im humanistischen Refugium genußvoll angelesene Welterfahrung das methodische und ausgreifende Studium der antiken Autoren voraus. Das Lob des Reinike mündet also mit doppeltem Anlauf in ein hodegetisches, freilich unsystematisch vorgetragenes Tableau des akademischen curriculums ( V. 215ff., 292ff., hier mit Erinnerung an Horaz, Ars p. V. 269f. ). Gemeint ist jedenfalls sowohl ein rezeptiver wie produktiver (V. 318ff.) Umgang mit den antiken Autoren. In ζ. T. periphrastischer Andeutung werden zunächst die klassischen Dichter berufen: Horaz und Vergil (V. 215/16), dann das Figurenarsenal der römischen Komödie, auch Iuvenal (nach seinem Heimatort, V. 220). Der Erinnerung an die Cäsarischen Kommentarien schließt sich die Zweiheit der Grunddisziplinen an: Logik (V. 224f.) und Rhetorik, hier vertreten durch Ciceros De Oratore (V. 227f.). Das ethopolitische wie rhetorisch-logische Grundwissen des Aristoteles darf natürlich nicht fehlen (V. 299/300). Auf die für den künftigen Mann von Welt unentbehrlichen Historiker (V. 299ff.) folgen - der Gedanke wendet sich allmählich zum Reinike zurück - die Moralphilosophen (Plutarch, Seneca, ibid.) sowie die Satiriker unter Einschluß des Epigramms als >kurzer Satire< (vertreten durch Martial, V. 311). Nur zwei moderne, ihrem Gehalt nach durchaus komplementär-kontrastierende Werke finden noch Zugang zur Phalanx der »classici auctores« (V. 316/17): das Geschichtswerk Melanchthons (mit latinisierendem Witz: »atra terra«, V. 315) und die in der Bibliothek des zeitgenössischen Politikers unabdingbaren Memoiren des Philippe de Commines (gedruckt vollständig Paris 1546). Antipapistische Polemik fehlt in Pithopoeus< poetischem Reinike->Essayfinsteren MittelaltersWarum< gehörte zum zeitkritischen Diskurs der Hexenliteratur. Man verständigte sich auf Überlegungen wie: »Ach es ist dieses eine gewisse anzeigung / deß gerechten Gerichtes Gottes / daß er nicht alß ein Vatter / sondern alß ein zorniger gerechter Richter / wegen der grossen beharlichen undanckbarkeit ungehorsames / Verachtung / und hindansetzung seines heiligen und allein seeligmachenden Wortes / mit einziehung seines Geistes und Gnaden straffe/ und in einen verkehrten sinn darhingebe / und weil die Leute der Warheit nicht gläuben wollen / sie in Irrthumb fallen lasse / das sie der Lügen glauben müssen.« So Samsonius (wie Anm. 13). fol. Eij.
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Schmidt11 darauf hin, daß der Widerstand gegen Hexenverbrennungen nicht aus der Bevölkerung kam, auch nicht etwa dem calvinistischen Bekenntnis zu verdanken war, sondern in bestimmten Rechtsauffassungen und juristischen Praktiken der kurpfälzischen Behörden wurzelte. Diese Skepsis gegen das vage Indiziengespinst der Hexenanklagen wurde gestützt von den ersten gelehrten Werken, die sich dem Hexenglauben entgegenstellten. Gerade in Heidelberg genoß lohann Weyer (Wierius, 1515-1588 ), Calvinist, Mediziner und Leibarzt des Herzogs von Kleve, mit seinem epochemachenden, psychologisch fundierten Traktat De praestigiis daemonum, et incantationibus, ac veneficiis Libri V (Basel 1563 u.ö.) außerordentliches Ansehen.' 2 Hier wirkte seit 1561 auch der Mathematikprofessor Hermann Witekind (eigentl. Wilcken, 1522-1603), der unter dem Namen Augustin Lercheimer im Gefolge Weyers ein Christlich bedencken und erinnenmg von Zauberey (Heidelberg, 1585 u. ä.) drucken ließ und die ablehnende Haltung der kurpfälzischen Regierung gewiß bestärkte.31
Schedes Gedichte lassen nichts erahnen von den Einsichten des Mediziners Weyer, daß nämlich der Hexenwahn, von dem ja auch viele Opfer befallen waren, etwas zu tun haben konnte mit psychischen Verstörungen und den Spielen der 31
32
31
Die Kurpfalz, in: Hexen und Hexenverfolgung im deutschen Südwesten, Aufsatzband (wieAnm. 7), S. 207-217. Vgl. die englische Übersetzung: Witches, Devils, and Doctors in the Renaissance. Johann Weyer. De praestigiis daemonum, hrsg. von George Mora, Benjamin Kohl, John Shea u. a. Binghamton Ν. Y. 1991 (Medieval & Renaissance Texts & Studies. Bd. 73); zu Weyer nun die Aufsätze von H.C. Erik Midelfort, Willem Frijhoff und G. J. Stronks in: Vom Unfug des Hexen-Processes (wie Anm. 8), S. 53-89; zu erinnern ist allerdings daran, daß Thomas Erastus, der namhafte Mediziner (1524-1583), der seit 1558 in Heidelberg lehrte und eine führende Rolle in der reformierten Landeskirche spielte, gegen Weyer energisch für die Hinrichtung der Hexen eintrat (De Lamiis seit strygibus, Basel 1577/78. Amberg 1606); zu Erastus s. W. Kühlmann und Joachim Teile: Humanismus und Medizin an der Universität Heidelberg im 16. Jahrhundert, in: Semper apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386-1986. Festschrift in sechs Bänden. Bd. I [...]. hrsg. von Wilhelm Doerr u.a. Berlin, Heidelberg usw. 1986. S. 255-290. spez. S. 265-271. Grundlegend: Augustin Lercheimer (Professor H. Witekind in Heidelberg) und seine Schrift wider den Hexenwahn. Lebensgeschichtliches und Abdruck der letzten vom Verfasser besorgten Ausgabe von 1597. Sprachlich bearbeitet durch Anton Birlinger, hrsg. von Carl Binz. Strassburg 1888; dazu jetzt die Studie von Otto Ulbricht: Der sozialkritische unter den Gegnern: Hermann Witekind und sein Christlich bedencken und erjnneritng von Zauberey von 1585. in: Vom Unfug des Hexen-Processes (wie Anm. 8). S. 99-128; ferner (betr. Weyer. Lercheimer und das sog. Faustbuch) Frank Baron: Faustus on Trial. The Origins of Johann Spies's »Historia« in an Age of Witch Hunting. Tübingen 1992 (Frühe Neuzeit. Bd. 9), spez. S. 127-146 (»The Trial of Faustus: The Legacy of Witchcraft and Learned Magic«).
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Phantasie. Der Hilferuf gegen den Zaubergesang (incantamentum) einer vagen, zahlenmäßig angstvoll vergrößerten (V. 1) Menge von Unholden setzt Theoreme voraus, wie sie bei Agrippa zu finden waren und im Rückgriff zum Beispiel auf Apuleius und Lukan illustriert wurden.34 Das Gedicht wirkt wie ein Gegengesang gegen jene »incantamentorum mirabilis potentia«, die nach Agrippa »beinahe die ganze Natur umzustürzen« vermag und die in Ovids Medea, dem Urbild der Giftmischerin (venefica), ihre prominenteste, geradezu literarisch nobilierte Demonstrationsfigur gefunden hatte.35 Nichts ist in diesen Gedichten auch zu verspüren von jener Ironie, jenem Bewußsein einer nur literarischen Inszenierung, mit der einst Horaz in seinen Epoden und Satiren das Treiben der Hexe Canidia aufs Korn nahm36 oder von jener spielerisch-fiktionalisierten Leichtigkeit, mit der Tibull in seinen Elegien die magischen Handlungen und Sprüche einer Zauberin in seine elegische Liebesklage verwob.37 Insofern haben Schedes Texte allenfalls im weitesten thematischen Umkreis etwas zu tun mit Motiven der Zauberei und Nekromantie, wie sie schon Konrad Celtis, der deutsche >ErzhumanistKröte< verstanden; Friedrich Gundolf übersetzte die Passage (hier zitiert nach Fraenkel, wie Anm. 36, S. 76): »Molches Aug und Frosches Daum / Eidechsenbein und Eulenflaum. / Natternrachen. Blindschleichmund. / Balg der Speckmaus, Zung vom Hund.« Das
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was im Gedicht als ganz persönliche Heimsuchung vorgestellt wird (V. 14ff.) und was vielleicht die peinlichen Erfahrungen eines alternden Mannes umschreibt, war in den einschlägigen dämonologischen Traktaten auf seine diabolischen Ursachen zurückgeführt und mit trefflichen Exempeln belegt. Der Malleus Maleficarum gab genaue Auskunft« über die Art, wie sie [die Hexen, W. K.] die Zeugungskraft zu hemmen pflegen«: 40 Über die Art aber, wie sie die Zeugungskraft zu hemmen pflegen, sowohl bei Menschen, als auch bei Tieren, auch bei beiden Geschlechtern, kann der Leser aus dem, was oben in der Frage gesagt ist, ob die Dämonen durch die Hexen die Sinne der Menschen zu Liebe oder Haß wandeln können, unterrichtet sein, wo nach Lösung der Argumente eine spezielle Erklärung gegeben wird über die Art, wie sie mit Zulassung Gottes die Zeugungskraft zu hemmen imstande seien. Hier ist jedoch zu bemerken, daß eine solche Hinderung von innen und außen bewirkt wird; innerlich aber geschieht sie durch jene zweifach: erstens, wenn sie direkt die Erektion des Gliedes, die zur Befruchtung nötig ist, unterdrücken; und das möge nicht unmöglich erscheinen, da sie ja auch sonst die natürliche Bewegung in einem Gliede hindern können. Zweitens, wenn sie die Sendung der Geister zu den Gliedern, in denen die bewegende Kraft ist, verhindern, indem sie gleichsam die Samenwege versperren, daß er nicht zu den Gefäßen der Zeugung gelangt, oder nicht ausgeschieden oder ausgeschickt wird. Äußerlich bewirken sie bisweilen Hinderung durch Zauberbilder oder durch den Genuß von Kräutern, auch durch äußere Mittel, wie Testikeln der Hähne. Doch ist nicht zu meinen, daß ein Mann durch die Kraft solcher Dinge impotent würde; sondern durch die geheime Kraft der Dämonen, die derartige Hexen täuschen, können sie durch solche dann die Zeugungskraft behexen, daß nämlich der Mann der Frau nicht beiwohnen und die Frau nicht empfangen kann. [...] Eine andere Geschichte trug sich in Reichshofen vor wenigen und zwar kaum vier Jahren zu. Dort war eine sehr berüchtigte Hexe, die durch bloße Berührung und zu jeder Stunde zu hexen und Frühgeburt zu bewirken wußte. Als dort die Frau eines Großen schwanger geworden war und zu ihrer Pflege eine Hebamme zu sich genommen hatte und von derselben gewarnt worden war, aus dem Schlosse zu gehen, und daß sie sich besonders vor
40
einschlägige Material - auch aus der dämonologischen Fachliteratur - findet man sub verbo »Frosch« bzw. »Kröte« in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hrsg. [...] von Hanns Bächtold-Stäubli. Bd. III. Berlin und Leipzig 1930/1931, Sp. 124-142 bzw. Bd. V. Ebd. 1932/1933, Sp. 608-635. Zit. nach Institoris/Sprenger (Ausgabe wie Anm. 1), S. 75f. bzw. 77f. des zweiten Teils (Kap. 7). Schadenzauber gehörte zu den topischen Themen einschlägiger Handbücher - unter anderem von Bartholomäus Carrichter: Von gründlicher Heilung der zauberischen Schäden. Straßburg 1608, Frankfurt/M., Leipzig 1772 (!); Georg Abraham Mercklin: Sylloge physico-medicinalium casuum incantationis. Nürnberg 1698, 1715; Eberhard Gockelius: Tractatus [...] Oder [...]Bericht von dem Beschreyen und Verzaubern/Auch denen darauß entsprungenen Kranckheiten und zauberischen Schäden. Frankfurt/M., Leipzig 1699; Emanuel König: Von zauberischen Schäden /und derselben Heylung. Basel 1691; zu den hier wirksamen Texttraditionen s. Richard Kieckhefer: Magie im Mittelalter (englisch 1990). München 1995 (dtv-Tb. 4651), bes. S. 85-102, sowie Will-Erich Peuckert (am Beispiel des Trithemius): Pansophie. Ein Versuch zur Geschichte der weißen und schwarzen Magie. Berlin 3 1976, bes. S. 74ff.; weiteres mit Literaturhinweisen bei Heide Dienst: Magische Vorstellungen und Hexenverfolgungen in den österreichischen Landen (15. bis 18. Jahrhundert) in: Erich Zöllner (Hrsg.): Wellen der Verfolgung in der österreichischen Geschichte. Wien 1986 (Schriften des Instituts für Österreichkunde, Bd. 48), S. 70-94. - Für diese Hinweise danke ich meinem Mitarbeiter Dr. Joachim Teile.
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der Unterredung und dem Umgange mit der vorerwähnten Hexe hüten sollte, so ging sie doch nach einigen Wochen, uneingedenk jener Warnung, aus dem Schlosse, um einige Frauen in einer Gesellschaft zu besuchen. Als sie dort eine Weile gesessen, kam die Hexe dazu und berührte die Herrin, wie um sie zu begrüßen, über dem Bauche mit beiden Händen. Plötzlich bemerkte sie, daß sich das Kind in schmerzhafter Weise bewegte. Als sie erschreckt darüber nach Hause zurückkehrte und die Sache der Hebamme erzählte, rief diese: »Wehe, nun hast du dein Kind verloren!« Und wie sie es vorausgesagt, so zeigte es sich bei der Geburt. Denn sie tat keine eigentliche Frühgeburt, sondern gebar allmählich, bald Stücke des Kopfes, bald der Hände und Füße. Gewiß eine harte Züchtigung nach Gottes Zulassung, zu seiner Strafe, nämlich des Gatten, der solche Hexen strafen und die dem Schöpfer angetane Schmach rächen sollte.
So sehr sich Schede mit Agrippa als dem Theoretiker verbaler Zauberei einig weiß, so eindeutig distanziert er sich am Schluß der Verse vom Zutrauen auf »menschliche Kunst« (V. 23) in Gestalt gängiger Hilfsmittel der weißen oder schwarzen Magie. Nicht die apotropäischen »Amulette«, 41 sondern der von Gott gesandte Schutzengel, in antikisierender Periphrase mit dem Götterboten Hermes überblendet, 42 soll den Schadenzauber abwenden. Man darf sich fragen, warum Schede seine Ängste in der Artistik der Odenform verbalisierte. Vielleicht wirkt hier die Überzeugung von der magischen Macht kunstvoller Dichtung nach, von der Agrippa seine Leser am Beispiel antiker Autoren überzeugen wollte. Jedenfalls entsprach der poetische Ehrgeiz Schedes auch nach den Regeln des rhetorischen Decorum der gesellschaftlichen wie religiösen Bedeutung eines Themas, in dem eigene Erfahrungen exemplarisch verallgemeinert werden konnten. So ist auch zu verstehen, daß Schedes zweites Gedicht in der äußerst seltenen, eigentlich nur bei Catull (carm. 17) und in der Appendix Vergiliana (Priap. 3) greifbaren Metrik des priapeischen Verses abgefaßt ist, gehörte doch Priap, der sexuell eindeutige Gartengott zu den segenbringenden Numina der antiken Literatur. Anders als in seiner Ode strapaziert Schede nun die reihende Struktur des Fluch- und Schimpfgedichtes, der Dime (darauf gleich das erste Wort anspielend) und das ins Negative gewendete aretalogische Schema des lyrischen Genus laudativum, strukturbildend im wiederholten Appellativum (Vos, V. 4 , 7 , 9 , 1 3 ) . Schaden und Unheil, die in den pseudovergilschen Dime dem bösen Feind an den Hals gewünscht werden (Dürre, Brand, Überschwemmung usw.),43 erscheinen hier - mutatis mutandis
41
42
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Dazu einschlägig und ausführlich Agrippa (wie Anm. 14), bes. Kap. I 33 »De signaculis et characteribus rerum naturalium« (S. 147ff.) - im Zusammenhang der kosmologischen Sympathielehre - sowie ibid. Kap. 47 über magische »anuli«, »quatenus muniunt contra aegritudines, venena, hostes, cacodaemones et contra quaevis alia noxia [...].« (S. 174). Der »caduceus« - auch »caduceum« im Neutrum - (V. 22) als Zeichen des Hermes/Merkur. einer der vielen lexikalischen Graecismen bei Schede; der Gott sonst bei Vergil oder Horaz eher mit dem Attribut der virga bezeichnet, zumal als Hermes Psychopompos; vgl. etwa Vergil Aen. 4,242; Horaz carm. 1.10,18; das Mercuriale caduceum dann eher in der Spätantike, z.B. bei Apuleius, Met. 11,10. Vgl. dazu und zu den Priapea die Ausführungen von Karl Büchner: P. Vergilius Maro. Der Dichter der Römer. Stuttgart 1961 (Sonderdruck aus Pauly-Wissowa, Realencyklopädie der classischen Altertumswissenschaften). Sp. 109-113 bzw. 48f.
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- als Werk der namenlosen Hexenschar: Betroffen vom Zauber ist das Getier in Stall und Feld, ist auch die Ernte an Wein und Getreide, die von Hagelschauern und Schädlingen vernichtet wird (V. 9-20). Auch hier konstitutiert sich das Gedicht in seiner atemlosen Dynamik und in seiner von Empörung getragenen, in der Klimax der Anschuldigungen bis zum Vernichtungswillen gesteigerten Aggression als Gegengesang zu jenen Akten eines mörderischen fascinare (V. 5), von denen die gesamte Menschheit und die gesamte Natur bedroht erscheinen. Jede der Beschuldigungen, die hier gehäuft und in der für Schede typischen Stilfärbung, d. h. im Einbezug entlegener, oft griechischer, archaischer oder neologistischer Wortbildungen, ausgemalt werden,44 ließe sich in der akademischen Teufelsliteratur belegen. Ja, das Gedicht schreibt den imaginären Unholden zu, was diese unter den Einflüsterungen ihrer Peiniger auf der Folterbank schließlich »freiwillig« gestanden und was dann als erneuter Beweis des Hexentreibens in die einschlägigen Leitfäden und Kompendien aufgenommen werden konnte:45 Mehr zu Apfelbach, ehe sie in Verhaft gekommen vor 4 Wochen, sei sie in das Thal im Busch und auf den Hagen unterschiedlich zu zweimalen auf Tänze gefahren, dabei die Engel Martin Ehemans, Anna Melchior Werners Weiber, so allbereits hingerichtet, und andere ihre Gesellschaft, so kundlich, gewesen, Wetter habe sie auch helfen machen, das erste im Flecken Belsenberg sie und ihre Gespielen zusammengeholfen; im Hermuthäuserthal sei ein ziemlicher Regen hernach gekommen und »etzlicher maßen geflöst.« Item sie und ihre Gespielen haben abermals im Flecken Belsenberg einen Sturmwind gemacht, ferners auch sie und ihre Gesellschaft zu Lustbrunn ein Wetter: bei dem Althäuser Holz, so an der Herrn zu Mergentheim Felder stoßt, seien Kiesel, Regen und ein Wind hernach gekommen: und habe es geflöst. Vor ungefähr 2 oder 3 Jahren haben sie und ihre Gespielen zu Neunkirchen in dem Neunkircher Hölzlein ein Wetter gemacht, seien nur große Winde darauf erfolgt. Item zu Apfelbach am Tag Petri und Pauli habe sie das letzte Wetter oben bei der Eiche helfen machen; dabei seien gewesen die Anna Wörnerin, Engel Demennin, das Anna Fräulein und ihre 4 Buhlteufel. Item zu Belsenberg vor 12 Jahren, als sie noch ledig gewesen, haben sie und ihre Gespielen einen Reifen über den Oesterwald, im Willen die Eicheln zu verderben, gemacht, wie dann dieselben zum Theil und nicht gar verdorben.
44
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Vgl. hier die Lexeme bzw. Morpheme in Nr. 1: catharmata (V. 9); caduceo (V. 22); amolimina (V. 27); Nr. 2: mala capitis technä (V. 4); suestis (V. 5); bucera (V. 9); novemplice (V. 13); conglobassere und turbinare (V. 14f.); recepstis (V. 28); difficul (V. 40) und haud facul (V. 44); zum Epochencharakter solcher Stilzüge, deren Erforschung für die Lyrik im einzelnen noch aussteht, vgl. W. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 3), bes. Kap. V des Ersten Teils, S. 189-266. Zitate aus »Urgicht Apollonia Theobald Pflügers Inwohners zu Apfelbach [im Kreis Bad Mergentheim, W. K ] abtrünnigen Eheweibs«, zit. nach dem Abdruck bei P. Beck: Hexenprozesse aus dem Fränkischen. Fortsetzung, in: Württembergische Vierteljahreshefte für Landesgeschichte VII (1884). S. 7 6 - 8 0 . hier S. 79f. (Auszug aus dem Vernehmungsprotokoll).
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Der andere Reifen, so sie gemacht, sei kein rechter Reifen, sondern ein dicker Nebel geworden, damit sie die Baumblüthe verdorben haben. Item vor ungefähr 2 Jahren haben sie und ihre Gespielen zu Lustbrunn einen Reifen über die Weingärten gemacht, damit die Weinblüthe verdorben, sei auch desselben Jahrs wenig Wein daselbsten geworden. Weiters bekannt, sie und mehrgedachte ihre Gespielen zu Belsenberg haben dem Paulsen das ein Pferd auf der Herbstwaide in einen Erlenbusch hineingedrückt, welches frisch und gesund gewesen und alsbald abgestanden; die Roßhirten wären nicht weit davon gewesen und hätten miteinander gespielt; damit man sie nicht sollte sehen, hätten sie zusammengeholfen und einen Nebel gemacht.
Kein Zweifel, Schede vertraute, wie es später Gottlieb Spizel, ein namhafter süddeutscher Gelehrter formulierte, 46 in seinem Teufels- und Hexenglauben der so immer wieder beglaubigten »allgemeinen Experienz.« Unerklärliche Phänomene fanden in dieser »Experienz« ihre Aufklärung und im strafenden Akt der Behörden ihre Abhilfe. Deshalb von >Aberglauben< zu sprechen, ist historiographisch wenig sinnvoll, wenngleich nicht nur die erwähnten ersten Kritiker des Hexenwahns in ihren Büchern, sondern auch manche Humanisten in ihren Briefen deutliche Zweifel an der Dogmatik und Legalität der Verfolgungsprozeduren anmeldeten. Mit Recht wurde darauf hingewiesen, daß die Menschen der frühmodernen Welt, einer Welt »ohne Mitleid«, ihre Umwelt anders, unter anderen Erkenntnisprämissen, anderen Erfahrungsparametern und unter anderen Wissensvoraussetzungen, wahrnahmen, als heutiges Entsetzen nachvollziehen mag. Bezeichnenderweise beteuert auch Schede in seinem Gedicht (Nr. 2, V. 11), daß er selbst gesehen habe, wie ein Igneus Draco in den offenen Stall der Kühe geschlüpft sei und ihnen die Milch gestohlen habe. Was Schede gesehen hat, wissen wir nicht - vielleicht ein harmloses, vom Abendlicht beleuchtetes Tier. Doch zeigt die Textpassage, wie sich vermeintliche Wahrnehmung als Reproduktion angelesenen Wissens konstituiert. Der Satan als Draco (Drache oder Schlange) war in der bildkünstlerischen Imagologie omnipräsent, in Handbüchern geschildert und nicht zuletzt in der Bibel (etwa der »feurige Drache«, Jes. 14, 29) erwähnt. Schede hält sich frei von einigen Phantasien der Teufelsliteratur (Teufelsbuhlschaften, Fahrten auf dem Hexenbesen, usw.). Doch ist ihm gewiß, daß die Hexen eine widerchristliche Kraft darstellen, daß sie das Taufbündnis im Teufelspakt vorsätzlich gebrochen haben (V. 20ff.) und daß sie - wenn auch zum Schmerz der Christenheit - ihrer gerechten Strafe entgegensehen. Das Bild der castra hostica (V. 26), des Lagers, in das die Hexen »überlaufen«, macht die Welt wie schon bei Luther zum Kampfplatz zwischen Gott und Teufel,
46
Nach der hervorragend dokumentierten Fallstudie eines ebenfalls hochgelehrten Hexenglaubens in dem Werk von Dietrich Blaufuß: Reichsstadt und Pietismus. Philipp Jacob Spener und Gottlieb Spizel aus Augsburg. Neustadt a.d. Aisch 1977 (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns, Bd. 53\ S. 280ff„ hier S. 281. Hilfen und Hinweise bei der Vorbereitung diese Beitrags verdanke ich den Heidelberger »sodales«, insbesondere einer Oberseminar-Arbeit von Armin Grundke.
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dem »altbösen Feind«, und fordert dazu auf, die eigene Position eindeutig zu bestimmen. Hinter den Flammen des ewigen Feuers, hinter Qualen und Schmerz (V. 35-38), leuchtet in diesem Gedicht die Glut des irdischen Scheiterhaufens. Ja, Schede geht offenkundig so weit, auch den möglichen Widerruf der Hexen auf der Folterbank (paünodia\ V. 38ff.) nicht als strafmildernden Tatbestand zu betrachten: Der Teufel läßt seine Opfer, d. h. seine freiwilligen (V. 20-24) Helfershelfer, nicht los (V. 4CMI4). Gegen diese teuflische Macht, die der Dichter geradezu sinnlich, in klangmalerischer congeries der Attribute (V. 42: trahax, pen'ieaxqiie tenaxque) vergegenwärtigt, bleibt für die »verkommene Schar« (V. 45) der Unholde allenfalls die Hoffnung auf Gottes Erbarmen - zu ergänzen: nach ihrem verdienten Tod durch den irdischen Henker. Geschichtliche Forschungen führen nicht in einen Rosengarten, sondern zur Erfahrung einer hermetischen Fremde der Vergangenheit, die nur dann hermeneutisch aufgebrochen werden kann, wenn der Historiograph, hier als Literarhistoriker, moralische Urteile nicht mit analytischen Befunden verwechselt. Die Texte, auf die hier der Blick - ohne den Anspruch eines Detailkommentars - gerichtet werden sollte, lassen verfolgen, wie sich quälende lebensweltliche Herausforderungen mit historischen Stereotypen des Vorurteils und des zeitgenössischen (Schein-(Wissens überlagerten (auch im 20. Jahrhundert ja nicht ungewöhnlich) und sich in virtuosen Versen objektivieren konnten, die aus heutiger Sicht jeder >progressiven< Perspektive entbehren. Doch auch die Ängste des Subjekts im »Zeitalter der Angst« (P. Delumeau) zu entziffern lohnt sich, soll denn die Vergangenheit nicht - wie in manchen >feministischen< Ahnungslosigkeiten - zum Projektionsraum der gerade gängigen Meinungskonjunktur verzerrt werden.
Textanhang Aus: Melissi Meletematum Piorum Libri VIII [...]. Anno Christi MDVC. Recens Editi. [...] Veneunt Francoforti ad Maenum In Hieronymi Commelini Bibliopolio. 1. S. 120-131 (Liber IV.), abgedruckt mit leicht abweichender Übersetzung von Hermann Wiegand auch in: Parnassus Palatinus. Humanistische Dichtung in Heidelberg und der alten Kurpfalz. Lateinisch-Deutsch. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann und Hermann Wiegand. Heidelberg 1989, S. 104-105, sowie nun in: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch und deutsch. [...] ausgewählt, übersetzt, erläutert und herausgegeben von Wilhelm Kühlmann, Robert Seidel und Hermann Wiegand. Frankfurt/M. 1997 ( = Bibliothek der Frühen Neuzeit, Bd. 5), S. 850-853.
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AD DEUM. UT FASCINUM & INCANTAMENTUM VENEFICARUM CLEMENTER AVERTAT. ODE XV.
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H E U . nequiorum tantum hominum est, in his Grassantium oris praecipue, quibus Florere sacrosancta debet Relligio. pietasque dia, Ut polluant sese artibus impiae Plenis cicutae, & Cerbereä litis Spumä venenatisque succis. Pestiferaeque cruore ranae? Haec nempe monstra, & dira catharmata Portentaque, atri vi Cacodaemonis A c t a in furorem noxialem. & Horrificam rabiem nocendi, Queiscumque possint (grande nefas) modis. Ardent recentes laedere conjuges, Viroque tollunt acre robur. Et subolis minuunt propägem. D e f e n d e virus tale mihi & meae, Sacro ligatis foedere, mi Pater. N o s redde tutos fascinatum a Murmure, vipereäque linguä. Et mitte sanctum desuper A n g e l u m , C a d u c e o insignem, & medicamine N o n artis humanae, sed altä Lacteoli e regione callis D i g n e recepto. Quis melius poli D e sede nobis Antidotum ferat? C o l l o quis amolimina addat Pectoribusque potentiora? Amolimina] A m u l e t a intelligit.
A N GOTT, DASS ER G N Ä D I G DIE Z A U B E R E I U N D D A S B E S P R E C H E N HEXEN A B W E N D E N W O L L E
VON
Wehe, gibt es soviele Schurken, die besonders in diesen Gegenden wüten, in denen die heilige Religion blühen sollte und die göttliche Frömmigkeit, daß sie sich beflecken mit allen Künsten gottloser Giftmischerei, dem höllischen Schaum des Streites, den Zaubersäften und dem Blut des pestbringenden Frosches? Entbrennen doch diese Ungeheuer, diese gräßlichen A u s w ü r f e und Scheusale, von der schwarzen Macht des bösen Dämons getrieben zu schädlicher Raserei und schrecklicher Wut, Schaden zuzufügen, darauf, mit allen Mitteln, deren sie fähig sind (o große Schandtat), jungvermählte Gattinnen zu verletzen, rauben dem Gatten die Manneskraft und mindern die Zeugungsfähigkeit. Wende solches G i f t von mir und der Meinen, die wir in heiligem Bund vereint sind, mein Vater! Mache uns gefeit gegen das Raunen der Behexenden und ihre Schlangenzunge. Und sende uns v o m Himmel einen heiligen Engel, der mit dem Heroldsstab ausgezeichnet ist und mit einem Heilmittel, das nicht von menschlicher Kunst, sondern vom hohen W e g der Milchstraße in würdiger Weise empfangen wurde! Wer könnte uns ein besseres G e genmittel v o m Sitz des Himmels bringen? Wer könnte um Hals und Brust uns wirksamere A b w e h r z e i c h e n legen?
2. Ebd. S. 186-188 (Liber VI.) In veneficarum sagarumque incantamenta, & C h r i s t i a n ® fidei ejerationes. C A R M E N VIII.
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Dira monstra veneficae, noxiosaque sagae Turba, quae m a g i c i s nigri Ditis artibus usae Nemini prope parcitis; quid lucrive bonive E x mala capitis technä? Vos tenella puellüm M e m b r a , turn j u v e n u m & senum fascinare suestis Corda. vos vetitis nurüs virginesque pudicas Implicatis amoribus. vos necis genus o m n e E x s e c r a n d o homicidio perpetrare soletis. Vos. capras niveasque oves atque bücera damnis S a e c u l a adficere obviis, crimen aut scelus esse Pernegatis, & igneum (vidi e g o ipse) Draconem imMittere stabulis bourn, lacte eas spoliantem Singulis prope noctibus. vos novemplice cantu C o n g l o b a s s e r e grandines, excitare procellas, Turbinare animos Notüm; seit Ceres, seit Iachus: Hie meri. ilia adoris carens. Flora murmure vestro Mille millia pestium vermiumque nocentum Educata per has plagas adseverat, & ipsum Hoc Hamadryadum cohors. f l e b i l e s q u e N a p a e a e Conqueruntur & ingemunt. Pacta turpia inistis C u m manu C a c o d a e m o n u m sonte, f o e d i f r a g a e q u e Desciistis ab optimo m a x i m o q u e J E H O V A , L u b r i c ä instabiles fide, pravitate rebelles. Abnegastis item sacri jura sancta laväcri, Infideliter a D E I filio, duce nostra. Castra in hostica transfugae; nequiter quibus ipsam Vitam, & ipsam animam rato pignori opposuistis, Perfidumque Satanico stigma ab ungue recepstis; Quo nihil sceleratius taetriusve repertum est. Quale naufragium (o n e f a s ! ) unaquaeque subivit! Sponte posthabito D E O dum sinistra sequutae Vestra pectora Principi mancipastis Averni. Exulatis ab inclutä civitate J E H O V A E . N e m o quam malus incolit. G e n s ut optima vestram Christiana dolet v i c e m ! Poena v o s manet ingens, Igne perpetuo flagrans usque & usque, nec hilum Detrahens cruciatui p e s s i m o q u e dolori. M e n s licet resipisceret rectior. caneretve Sanior palinodiam; quod tamen f o r e & esse D i f f i c u l nimis arbitrer: hancce quisnam age praedam Hostis e manibus feris excutive rapive Posse crediderit? Trahax p e r v i c a x q u e tenaxque Quicquid is semel auferens occupaverit. illud Eius unguibus haud facul dimoverier aio. Si D E U M tamen, ο manus perditissima, vestri Vel parum miseresceret; gratia illius una Entheam bene p o s s e vos obtinere salutem Dico. & aetheriä dehinc porro sede potiri.
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Gegen die Zauberformeln der Giftmischerinnen u n d Zauberinnen und gegen die Verwerf u n g des christlichen Glaubens Gräßliche Scheusale seid ihr Zauberinnen u n d eine verderbliche Schar ihr Hexen, die ihr euch der magischen Künste des finsteren Höllenfürsten bedient und beinahe niemanden verschont! Wieviel Gewinn, wieviel Nutzen zieht ihr aus eurer üblen Kunst? Ihr pflegt der Knaben zarte Glieder u n d überdies die Herzen junger wie alter Männer zu verhexen. Ihr verwickelt j u n g e Frauen u n d keusche Mädchen in verbotene Liebschaften. Ihr pflegt alle Arten des Todes heraufzubeschwören, indem ihr die Mordtat herbeiwünscht. Ihr pflegt den Ziegen, den weißen Schafen u n d der N a c h k o m m e n s c h a f t der Rinder schlimmsten Schaden zuzufügen, leugnet, daß dies Untat oder gar Verbrechen sei, pflegt (Mit eigenen Augen habe ich es gesehen!) den feuerspeienden Drachen in die Unterstände der Kühe zu schicken, der ihnen beinahe in jeder Nacht die Milch stiehlt. Ihr pflegt unter n e u n f a c h e m Geheul Hagelschauer z u s a m m e n z u b a l l e n . Stürme zu entfachen, den Zorn der W i n d e heraufzubeschwören. Ceres weiß es, Iachus weiß es. Ihm nämlich fehlt der Wein, ihr das Getreide. Flora hatte Abertausende von Krankheiten und schädlichen W ü r m e r n , die euer G e m u r m e l genährt hat, über den ganzen Erdstrich ausgestreut. Dies beklagt die Schar der B a u m n y m p h e n , dies beklagen unter Tränen die N y m p h e n der Bergtäler, und tief seufzen sie auf. Einen üblen Pakt habt ihr geschlossen mit der grausen Schar böser D ä m o n e n . Das Recht habt ihr gebrochen und euch losgesagt vom gütigsten und höchsten Gott, ihr, die ihr im Glauben schwankt u n d wegen eurer Verdorbenheit aufrührerisch seid. Alsdann habt ihr die geheiligten Gesetzte der heiligen Taufe verleugnet, indem ihr treulos von Gottes Sohn, unserem Hirten, ins Lager des Feindes übergelaufen seid. In nichtswürdiger Weise habt ihr ihm sogar Leben und Seele sicher verpfändet und habt von der Klaue Satans ein schändliches Mal empfangen: Nichts läßt sich finden, das ruchloser und frevelhafter wäre. Welchem Elend (Welch ein Frevel!) hat sich j e d e von euch anheimgegeben! Indem ihr euch aus eigenem Antrieb von Gott abgewendet habt u n d Blendwerk gefolgt seid, habt ihr eure Herzen an den Fürsten der Hölle verkauft und das strahlende Reich Gottes verlassen, in dem kein Böser eine Wohnstatt findet. Wie empfindet doch die gute Christenheit Schmerz über euren Wandel! Eine gewaltige Strafe erwartet euch. Unentwegt lodernd vom ewigen Feuer, mindert sie Qual und grimmsten Schmerz auch nicht ein wenig. M a g auch der Geist wieder zur Besinnung k o m m e n oder nach seiner G e s u n d u n g alles widerrufen; ich möchte dennoch glauben, daß dies über alle Maßen schwer sein wird u n d ist: Wer könnte denn wohl meinen, daß sich eine solche Beute aus den grausamen Händen des Erzfeindes losreißen oder befreien können ließe? Was auch immer jener raffgierig, beharrlich und zäh an sich gerissen und in seinen Besitz g e n o m m e n hat, das, sage ich, läßt sich seinen Klauen nicht mehr leicht entwinden. Wenn Gott dennoch mit euch, ihr v e r k o m m e n e Schar, nur ein wenig Erbarmen hat, dann könnt ihr allein durch seine Gnade auf gute Weise glückverheißendes Heil erlangen und künftig in die himmlische Wohnstatt einziehen. Dies verkünde ich euch.
Humanistische »Geniedichtung« in Deutschland - Zu Paul Schede Melissus' »Ad Geniinn suum« (1574/75)
Die Ausleger haschen nach ihr, wie, um eine Vergleichung von Herrn Winkelmann zu entlehnen, bey einem fliegenden Jucken in der Haut, dessen Ort man nicht zu finden weis. Bald ist es ihnen die Sammlung aller Fähigkeiten; bald die Vollkommenheit derjenigen einzelnen, die uns die Natur mit auf die Welt gab. Man studirt, sagen einige, man sucht sein Talent; oft verfehlt man es: das Genie entdeckt sich selbst. Das Talent kann vergraben seyn, weil es keine Gelegenheit hat, vorzudringen; das Genie arbeitet sich durch alle Hindernisse hindurch. Das Genie erschafft; das Talent setzt nur ins Werk. Das Genie widmet sich erhabnen Wissenschaften und Künsten; der unbestimmbare Geist flattert auf alles. 1
Über das Studium des »fliegenden Hautjuckens«, mit dem hier Heinrich Wilhelm von Gerstenberg in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts die »Definition« des Genie-Begriffs verglich, ist die Forschung selbstverständlich längst hinausgekommen. Zuletzt hat Jochen Schmidt2 die Entwicklung eines Kunsttheorems verfolgt, das, zuerst in Anlehnung an rhetorische und vermögenspsychologische Systematisierungsversuche (Kongruenz zu »ingenium«), dann in der Aufnahme neuplatonischer Imaginations- und Schöpfungstheorien (Dichter als »alter Deus«) entwickelt, von Herder und dem jungen Goethe emphatisch als Aufwertung der natürlichen Kreativität und der alles Akademische abstreifenden Kraft ästhetischer Unmittelbarkeit gefeiert wurde. In dieser Phase profitierte die Vorstellung einer im Genie verkörperten »prometheischen« Schöpferlust von einer zweiten Überlieferungslinie, in der noch der religiös-mythische Ursprung des Begriffs erhalten war, der Name einer Gottheit, deren Walten zunächst nichts mit der ästhetischen Verständnisfunktion der Genie-Parole zu tun hat. In diesem »Genius« verbarg sich das von Hamann wiederentdeckte sokratische oder christliche Mythologem der Subjektivität, die Figur des »Daimonion«, auch jene klassisch gewordene Bestimmung der Horazischen Epistel, die das alte etymologische Substrat des Hilfen und Hinweise bei der Vorbereitung diese Beitrags verdanke ich den Heidelberger »sodales«, insbesondere einer Oberseminar-Arbeit von Armin Grundke. 1
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Heinrich Wilhelm von Gerstenberg, Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur (176670). Hrsg. von Alexander von Weilen. Stuttgart 1890 (Deutsche Literaturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts in Neudrucken 29/30), S. 220. Die Geschichte des Genie-Gedankens 1750-1945. 2 Bde. Darmstadt 1985,2. Aufl. 1988 (hier die ältere Literatur); vgl. auch die zusammenfassende Darstellung von R. Warning, Β. Fabian und J. Ritter sub verbo »Genie« in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter. Bd. 3. Darmstadt 1974, Sp. 279-309.
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Worts (Zusammenhang mit »gignere« - zeugen bzw. gezeugt werden) und damit den mit der Geburt und ihren astralen Bestimmungen signierten Inbegriff unverwechselbarer Individualität und Schicksalsgebundenheit zum Ausdruck brachte (Horaz, Epist. 2, S. 187-189): seit Genius, natale comes, qui temperat astrum, naturae deus humanae mentalis, in unum quodque caput voltu mutabilis, albus et ater.
Noch die ersten Verse in Goethes Wandrers Sturmlied wiesen nicht auf ein Kunstprogramm, sondern beschworen in der Anrufung des »Genius« individuelles Urvertrauen, die Sehnsucht nach ungestörter und unstörbarer Sicherheit, nach »Wärme« und Überwindung der äußeren Widerstände des Lebens. Vor allem Wendelin Schmidt-Denglet' hat den mythisch-figuralen, ursprünglich religiösen Charakter der »Genius«-Gestalt im Rekurs auf die Antike und die europäische Renaissance (Scaliger, Cardano, Lipsius) umrissen und mit der Vorstellung gebrochen, die Geschichte des neuzeitlichen Geniebegriffs habe bei Addison oder bei Batteux und Shaftesbury ihren vorerst einzigen Rückhalt. So gut wie unbeachtet blieb dabei allerdings die Frage, ob und wie sich möglicherweise - im Horizont der europäsichen Renaissance - mit der mythischen Figur des »Genius« Konzeptionen p o e t i s c h thematisierter Individualität verknüpfen konnten. Vorarbeiten zur einschlägigen Dichtung, erst recht diesbezügliche Vorarbeiten zur humanistischen Lyrik des deutschen Kulturraums sind kaum zu verzeichnen. 4 Deshalb empfiehlt sich ein exemplarischer Zugriff, vorläufige Bemerkungen zu einer, wenn nicht alles täuscht, recht frühen Elegie eines deutschen Dichters, dessen Werk auf protestantischer Seite als letzte große Nationaldichtung in lateinischer Sprache zu gelten hat. Paul Schede Melissus (1538-1602), dessen spärliche deutschsprachigen Versuche (Psalmübersetzungen und ein Sonett) hier nicht in Betracht kommen 5 und dessen noch kaum überschaubares lateinisches (Euvre durch die grundlegende Untersuchung Eckart Schäfers 6 wenigstens in seinem Kernbereich 3
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Jochen Schmidt: Genius. Zur Wirkungsgeschichte antiker Mythologeme in der Goethezeit. München 1978: vgl. S. 25ff. zur Interpretation der oben zitierten Stelle bei Horaz und spez. S. 3 I f f . zur Renaissanceliteratur und zu altertumskundlichen Dissertationen des 17. Jahrhunderts. Den hier genannten Arbeiten wäre hinzuzufügen Daniel Fahl: De Geniis Veterum. Wittenberg 1690 (Stabi München). Erhellend und materialreich, jedoch den Genius-Komplex nicht eigens behandelnd Christoph J. Steppich: Die Vorstellung vom göttlich inspirierten Dichter in der humanistischen Dichtungstheorie und Renaissance-Philosophie Italiens und in der Dichtungspraxis des deutschen Humanismus. Diss, masch. Albany 1986 (State University of New York). Vgl. Leonard Forster und Ulrich Fechner: Das deutsche Sonett des Melissus. In: Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. Festschrift für Günther Weydt. Bern/München 1972, S. 3 3 - 5 1 . Eckart Schäfer: Deutscher Horaz - Conrad Celtis, Georg Fabricius, Paul Melissus, Jacob Balde. Die Nachwirkung des Horaz in der neulateinischen Literatur. Wiesbaden 1976, hier S. 65-108: zum teilweise unveröffentlichten Spätwerk und zur handschriftlichen Überlieferung auch ders.. Die »Dornen« des Paul Melissus. In: Humanistica Lovaniensia 22 (1973),
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literarhistorisch gewürdigt ist, maß sich an den großen Vorgängern, an Celtis, Hutten und Lotichius. Auf Reisen in Italien (1577-79) 7 , bei einem Aufenthalt in Paris (1584-85), hier in engem Kontakt mit dem Dichterzirkel der »Pleiade« s , auch bei einem Abstecher nach London (1585)9 konnte er noch vor seiner endgültigen Anstellung als Bibliothekar der pfälzischen Palatina und als Heidelberger Hofrat 10 den gesamten Umkreis der zeitgenössischen Gelehrtenwelt durchmessen. In der großen Pariser Sammelausgabe (1586) der Schediasmata" stößt der Leser auf folgendes Gedicht: AD GENIVM SVVM
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Ο MIHI quanta animum fiducia, & ο mihi qualis Laetitia exhilarat corque jecurque, Geni! Conscia mens recti gestit, patefacta Decembri Non frustra est oculis ista fenestra meis. Quam dicam, nosti. nee opus, me dicere cuiquam Mortali. tacito gaudia servo sinu. Quid folia e platano necdum lapsura virenti Insolitus brumae dum prope finis adest? Me prius acris hierns mediis rigefecit aristis;
S. 2 1 7 - 2 5 2 ; ders.: Die Aura des Heiligenbergs. Eine späte petrarkistische Ode des Paulus Melissus (Schede). In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 1. Renaissance und Barock. Hrsg. von Volker Meid. Stuttgart 1982 (Reclam UB 7890). S. 111-123. Nach Schäfer liegt, soweit ich sehe, bisher nur eine weitere Interpretation eines Schede-Gedichts vor - von Eckard Lefevre: Paul Melissus' Parodien von Sappho 31 LP und Catull 51. In: Litterae Medii Aevi. Festschrift für Johannes Autenrieth zu ihrem 65. Geburtstag. Hrsg. von Michael Borgholte und Herrad Spilling. Sigmaringen 1988. S. 329-337. Dazu Enea Baimas: Paul Melissus viaggiatore italiano. Verona 1969 (Quaderni del Seminario di lingue e letterature moderne straniere dell'Universitä di Padova 1) - mir bisher nicht zugänglich; Lucia Rossetti: Appunti inediti sul soggiorno Padovano di Paul Melissus. In: Quaderni per la storia dell'Universitä di Padova 3 (1970), S. 9 1 - 9 9 . Dazu Pierre de Nolhac: Un Poete Rhenan, A m i de Pleiade. Paul Melissus. Paris 1923; vgl. nunmehr auch Annemarie Nilges: Imitation als Dialog. Die europäische Rezeption Ronsards in Renaissance und Frühbarock. Heidelberg 1988 (GRM. Beihefte. 7). Vgl. James E. Phillips: Elizabeth I as a latin Poet: An Epigram on Paul Melissus. In: Renaissance News 16 (1963), S. 2 8 9 - 2 9 8 . Vgl. dazu auch den Ausstellungskatalog Bibliotheca palatina. Heidelberg 1986 (passim., s. Register!), sowie die kommentierte Auswahl von Gedichten Schedes in: Parnassus Palatums. Humanistische Dichtung in Heidelberg und der alten Kurpfalz. Lateinisch-Deutsch. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann und Hermann Wiegand. Heidelberg 1989. S. 8 2 - 1 0 7 , Kommentar und bibliographischer Anhang S. 2 3 9 - 2 4 2 und S. 2 8 9 - 2 9 1 . Nach dem Tode hielt Abraham Scultetus die mit biographischen Reminiszenzen versehene Leichenpredigt, abgedruckt in ders.: Hochzeit-, Geburts-, Tauf-, Königliche Annehmungs- und LeichPredigten. Zusammengebracht und zum Truck verfertiget durch Reinhardum Guolffinum Liehensem. Frankfurt/M. 1620. S. 154-166. Schediasmata Poetica. Secundo edita multo auctoria. Paris (apud Arnoldum Sittartum sub scuto Coloniensi, monte divi Hilarij) 1586, hier: Pars Altera (ges. Pag.), Elegiarum Liber Quartus, S. 128-129; ich zitiere nach dieser zweiten, wohl von Schede noch in Paris vorbereiteten Ausgabe.
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Nunc aestas medio calfacit orta gelu: Virgineis Phoebe sub spicis inchoat annum, Vt voluit spicis claudere Virgineis. Quin geminas ardere faces, & quod fuit una, Natalis vidi nuper honore mei: Ac toties legit j a m mensa secunda racemos, Nominibus numero conveniente suis. O m n i a das alia ex aliis; das plurima visu Signa voluntati non aliena meae. Lacrimo prae rerum felici sorte. Tot astra Cogis in obsequium fulgere clara m e u m ? (Tempora me propter (nee vanum est credere) mutas? M e propter coeptum texere pergis opus? Texe opus & pertexe Geni. Te serta piabunt Florea, te dulcis cymbia plena meri. Hinc platanos posuisse novos, umbratile regnum, Non tibi ero frustra vere tepente memor. En tango f r o n t e m . Sedes in frontis aperto Est tibi, quam laetam semper amare soles. Accidat adversi quid, corrugata severum Praetorvis caperat illa superciliis. Tu facies, mea sit porrectior omnibus una, Laetior ut Divis omnibus unus ades.
Ich übersetze das Gedicht folgendermaßen: Welch große Zuversicht macht meinen Sinn heiter, was für eine Freude mein Herz u n d meine Leber, Genius! Mein Geist jubelt, ist sich des Rechten bewußt: nicht vergebens wurde im Dezember meinen Augen dies Fenster aufgetan. Von w e l c h e m ich spreche, weißt Du, und ich brauche es keinem Sterblichen zu sagen. In verschwiegener Brust bewahre ich die Freuden. Warum wollen die Blätter immer noch nicht von der grünenden Platane abfallen, wo doch beinahe das E n d e einer ungewöhnlichen Kälte da ist? Mich ließ vorher mitten unter den Ähren (als das Getreide in Ähren stand) ein grimmiger Winter erstarren. Jetzt wärmt ein Sommer, der mitten im Frost begann. Im Zeichen der jungfräulichen »Ähren« beginnt Phoebe das Jahr, so wie es ihr gefiel, es zu schließen im Zeichen jungfräulicher »Ähren«. Neulich sah ich doppelte Fackeln - und was sonst noch mit dabei war - zu Ehren meines Geburtstags erglühen, und ebenso oft sammelte schon ein zweites Mahl die Trauben, wobei die Zahl zu ihrem N a m e n paßte. Vorzeichen über Vorzeichen gibst Du; sehr viele Zeichen läßt Du mich sehen, die meinem Wunsche entsprechen. Z u Tränen bin ich gerührt durch den glücklichen G a n g des Schicksals. So viele Sterne zwingst Du, mir zu Gefallen hell zu erstrahlen? Meinetwegen (keine Einbildung ist dieser Glaube) änderst Du die Jahreszeiten, meinetwegen knüpfst Du weiter am begonnenen Werk? Webe u n d k n ü p f e das Werk weiter, Genius! Dir huldigen Blumenkränze, Dir Schalen, gefüllt mit süßem Wein. Dann werde ich im w ä r m e n d e n Frühling nicht umsonst daran denken. Dir neue Platanen, ein Schattenreich, zu pflanzen. Siehe, ich berühre die Stirn. Auf der offenen Stirn hast Du Deinen Sitz, die nach Deinem Wunsch immer fröhlich sein soll. M a g sich auch Widriges ereignen, m a g sich j e n e mit düsteren Augenbrauen zu finsteren Falten runzeln, Du wirst bewirken, daß meine Stirn allein glatter als alle (anderen) ist, wenn nur Du bei mir bist, mehr Freude als alle Götter spendend.
Kommentar V. 2:
Laetitia exhileraf. vgl. Martial 8.49(50), 6: »exhilarant gaudia nostra deos«; ferner Sil. 11,51.
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jecur: seit Homer, später im Zusammenhang der Humoralpathologie Sitz der Gefühle; vgl. z.B. Hör., Carm. 1.13,4. Conscia mens recti: nach dem emotionalen Bereich (cor, iecur) nun der rationale, bes. im stoischen Sinn verstanden; vgl. wörtlich Vergil, Aen. 1,604. Decembri: der Geburtstag des Dichters am 20. Dezember. (patefacta) fenestra: anspielungsreiche und doppeldeutige Formulierung; versteht man »oculis meis« als Dativ, ergibt sich eine Periphrase der Geburt i. S. von »meinen Augen ist das Fenster geöffnet worden« = ich habe das Licht der Welt erblickt; im Blick auf V. 14 bevorzuge ich diese Version; denkbar wäre auch - in Anlehnung etwa an Cicero, Tusc. 1.20, 46 (mit »oculis« als Ablativ) - Augen als »Fenster« des Geistes: eine noch bei Gottfried Keller angezogene Metapher. Mit V. 5 scheint Schede den esoterischen Zug der Fenster-Metapher hervorheben zu wollen.
platano: gerade dieser Baum in Anspielung auf die berühmte Platane, unter der Sokrates seine Gespräche führte (Plat., Phaedr. 229 c; Cie., De orat, 1,7)? Oder wegen ihrer großen Blätter - mit Bezug auf V. 25 (»umbratile regnum«)? Vgl. z.B. Vergil, Georg. 4,146. V. 9: actis liienis: nach Horaz, Cann. 1.4,1. V. 11: Phoebe sub spicis: »Spica« als Hauptstern der »Jungfrau« (darauf waohl »Phoebe« und »Vergineis« bezogen), die ein Ährenbüschel in der Hand trägt; bei Manilius, Astronom. 5, 270ff., Zeichen für Landbau, gute Ernte und Fruchtbarkeit; vgl. nunmehr die zweisprachige Ausgabe von Wolfgang Fels. Stuttgart 1990 (Reclams UB 8634). V. 13: geminas faces: wohl kaum als »Hochzeitsfackeln« zu verstehen, auch nicht - weil zeitlich nicht passend - auf das Sternbild der Zwillinge zu beziehen; wenn Schede nicht kryptisch auf eine andere Sternkonstellation verweist, liegt für »fax« die Bedeutung »Komet, Sternschnuppe« nahe: also ein besonderes, hier persönlich verstandenes prodigium; vgl. Cie., Cat. 1.3, 18; Lukrez 4, 206; »quod fuit una« würde dann vielleicht auf den begleitenden Meteoritenschwarm deuten. V. 15f:.secundus: hier ambivalent als Zahlwort und in der Bedeutung »günstig«, »glückverheißend« gebraucht: vgl. die folgende Interpretation! V. 16: Nominibus: poetischer Plural. V. 21: texere opus: wahrscheinlich doch eine Anspielung auf das dichterische Werk, d. h. das Erscheinen der zweiteiligen Schediasmata\ »texere« in literarischem Sinn, z.B. Cie., Farn. 9.21, 1. V. 23: piabunt: Auch bei Horaz, Epist. 2.1, 143f., huldigen die Bauern nach der Ernte dem »Genius« mit Blumen und Wein. V 27: infrontis aperto: Das Gegenteil wäre eine umwölkte Stirn; ähnlich Schede in Schediasmata (1586, P. I, S. 192): »nube carentem exporgere frontem«. V. 30: caperat: eine Konjektur (z.B. »caperet« oder »capiat«) verbietet sich; Schede gebraucht ein seltenes Wort der römischen Kaiserzeit (Plinius,
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Apuleius); vgl. das Lemma im »Oxford Latin Dictionary«. Freilich stört der Wechsel vom Konjunktiv in den Indikativ. Wieweit sich Schede sprachliche Lizenzen erlaubte, kann beim gegenwärtigen Forschungsstand nicht ermessen werden. Deshalb gebietet sich das Festhalten am gedruckten Text, soweit irgend möglich. V. 31: porrectior. vgl. »porrectior frons« bei Plautus, Cas. 281, und die Wendung »exporrigere frontem«. V. 32: units·. Im Sinne von »solus« ades: gewiß in Anspielung auf Tibulls Geburtstagsgedicht für Messala: 1.6, 49. Ein Gedicht, das in einem Monolog, d. h. im Anruf an den altrömischen Genius, den »comes natalis« und den persönlichen Schutzgott (»deus tutelaris« - ein wörtlicher Reflex noch in Goethes »Hüterfittichen«: Wandrers Sturmlied, V. 21), eine offenkundig biographisch bedeutsame Bilanz zieht. Das Ich spricht den Genius an und doch mit sich, ist jedenfalls nicht an ein menschliches Gegenüber gerichtet. Es spricht in Abkehr von planer Verständigung und Verkündigung, bewußt mehr verschweigend (V. 6!) als entschlüsselnd. Situativ ist dieses Sprechen begründet: im Rückblick und Vorausblick, in einem Moment, da der Schicksalsgang still zu stehen scheint und sich im Gelingen der Pläne und Entwürfe ( V. 19: »sors rerum«) gefühlshafte Heiterkeit, Selbstvertrauen und das Bewußtsein des rechten Handelns einstellen ( V. 1/2). Dieses Gefühl kulminiert in einer Sinnerfahrung (»non frustra« V. 4; 26), die im folgenden durch kosmische, astrale Zeichen und Prodigien (»omina«, V. 17) beglaubigt wird. Es sind Himmelszeichen, die sich am Geburtstag eingestellt haben (V. 13f.), und das eigene, unverwechselbare, dem Genius unterstellte Geschick glückverheißend auch in die Zukunft entwerfen. Verhalten legt Schede eine Datierung der Verse nahe. Sie sind nach seinem Geburtstag, also nach dem 20. Dezember geschrieben, im Winter, vielleicht am Jahresende. Da das Gedicht im abweichenden (!) Erstdruck (dazu s.u.!)12 inmitten anderer Elegien steht, die auf die Jahreswende 1574-75 verweisen11, darf man sich mit gutem Grund, worauf auch weitere Indizien hindeuten (s. u.!), dies Entstehungsdatum vorstellen. Doch nicht das Datum ist wichtig, wichtig ist die zeichenhafte Projektion des bedeutsamen Augenblicks, der emotional bewegten Lebensphase auf einen erstaunlichen und numinosen, durchaus ungewöhnlichen Naturvorgang. Die V. 7ff. erinnern an einen harten »Winter«, der in die Zeit des Sommers fiel, wo das Getreide zur Reife stand (V. 9). Nach dieser Kälteperiode, die das Ich »erstarren« ließ, ist nun, mitten im Winter,
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Schediasmatum Reliquiae. o . O . u . J. (1575) als zweiter Teil und Anhang der Schediasmata Poetica. Frankfurt 1574 (apud Georgium Corvinum, impensis Matthaei Harnisch, Bibliopolae Heydelbergensis). hier S. 407 in der Sammlung der »Spinae«. Ibid.. S. 402; »Eidem (d.i. Fr. Averlio). 20. Decembr. anno 1574«: S. 406: »Hexastichon (...) Anno 1575«: S. 414: »Deo (...) 25. Ian. 1575«.
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scheinbar der Sommer eingekehrt, und die Blätter der Platane sind noch nicht gefallen.14 »Mediis aristis« (V. 9) - das meint wohl nicht nur (vielleicht mit einer astralen Anspielung) die Fruchbarkeit einer Jahreszeit, sondern beruft auch - in mehrfacher metaphorischer Überblendung - das zur Reife gelangte Werk (vgl. »opus«, V. 23), dessen Fortsetzung und Vollendung dem Walten des Genius verdankt ist. Der Bildkomplex der - nunmehr verkehrten - Folge der Jahreszeiten, die Vertauschung von »Wärme« und »Kälte«, signiert jene unerwartete Erfüllung und Fruchtbarkeit, die auch dem Sternzeichen der Jungfrau mit der Ähre (V. 1 lf.) korrespondiert. Der Lauf der Natur und der »Zeiten« verkehrt sich zeichenhaft, um dem Ich zu »dienen«. Der Wille (»voluntas«, V. 18) des Dichters scheint sich zu erfüllen. Noch einmal wird der Zeichenkomplex von »Reife« und »Ernte« berufen (V. 15f.). Zum zweiten »Mahl«, zur zweiten Ernte konnten die Trauben gelesen werden (V. 15f.) - wohl also nach dem unerwarteten Wintereinbruch.' 5 Das Zahlwort (»secundus«) entspricht im Lateinischen der Bedeutung »glückverheißend«: deshalb wohl - im poetischen Plural - die zunächst rätselhafte Fügung »nominibus conveniente suis« (V. 16). Die im Aufleuchten und im Lauf der Gestirne, auch im zweiten »Sommer« der Winterzeit wirksame Gunst des Genius, der dem Willen des Ichs gehorcht (V. 19f.: »obsequium«), konkretisiert sich im »Werk« (»opus«), d. h. in der Vollendung und Fortsetzung des »Werks«: »texe-pertexe« (V. 22f.). Was aber ist dies »Werk«? Nicht doch der (wohl zur Herbstmesse) in Frankfurt erschienene erste Teil der Schediasmata (1574), dem bald darauf (1575) der »zweite« Teil folgen sollte. Schrieb Schede dies Gedicht im Blick auf die Publikation dieser zweiteiligen großen Gedichtsammlung, in dem sein Leben und Wirken, die Frucht seines Strebens, seine Reife und seine »ominöse« Bestimmung zum Dichter beglaubigt waren? Schrieb er also dies Gedicht im sicheren und freudigen, »zu Tränen gerührten« Vorausblick auf das Erscheinen des zweiten Werkteils (»coeptum opus«, V. 22)? Vielleicht nach der Zusage des Verlegers, befaßt mit der Korrektur und der Zusammenstellung des Vorhandenen? Dankbar - wie der Bauer nach der Ernte - seinem Genius opfernd (V. 24f.) und vorausblickend auf den Frühling, der im Schutz der sokratischen Platanen nunmehr eine »vita umbratilis« (vgl. V. 25)"', eine Zeit 14
Schede scheint diese Metapher der Hoffnung geliebt zu haben; so auch in unmittelbarer Umgebung des hier besprochenen Gedichts (Schediasmatum Reliquiae, Spinae, wie Anm. 12), S. 406: »In Pomum arborem« (ein Liebesgedicht an »Rosina«): das Bild des im Winter kahlen Baums mit noch grünen Blättern an der Spitze: ».. .Quod certos retines numeros sub frigore Iani, / Queis folia, in summo vertica nata, virent; / Est aliquid, quo spes mea nititur est. tua mecum / Quo facit. omnibus consolidata, fides.« 15 Ähnlich in einem Gedicht auf Jean-Jacques Boissard (unpag. Vorspann der Schediasmatum Reliquiae, wie Anm. 12, Nr. 3): Mitten im Winter träumt der Dichter von grünenden Reben und der Lese süßer Trauben. Auch hier - an seinem Geburtstag - dienen solche »somnia« als Hoffnungszeichen: »Delectant animum ludicra visa meum.« "> Das Leben im Schatten der Bäume gehört zur bukolischen Glücksphantasie, vor allem bei Vergil, etwa Georg. II S. 296f.; S. 489: III S. 332f. »Umbra« steht des öfteren fast synonym zu »otium« (Cicero. Seneca u. a.).
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der ruhigen und erwartungsvollen Muße verhieß? Kombinationen, unsichere gewiß, doch so könnte es gewesen sein. Genaueres wissen wir - vorläufig jedenfalls - nicht. Der Begriff »secundus« scheint jedenfalls auf den zweiten Teil der Schediasmata hinzuweisen. Symbolisch greift sich das Ich an die Stirn (V. 27). Die Stirn, metonymisch also die Geisteskraft des Menschen, ist der »Sitz« des Genius, freilich nicht die melancholisch umwölkte, sondern die »offene«, die heitere Stirn: Der Genius liebt Heiterkeit.17 Wo diese Gottheit das Ich begünstigt, im Ich wirkt und dem Ich zu sich selbst im erfüllten Augenblick verhilft, in der Gunst von Zeitumständen, die einmal auch auf die »voluntas« des Menschen zulaufen, dort ist Sicherheit: der sichere Blick in die Zukunft (»facies«, V. 31). In dieser Lebenssicherheit, in der Äußeres und Inneres in Einklang stehen, wird der Genius zum Gott der individuellen Person, zum Gott des wollenden und strebenden Subjekts, zu einem Gott, der mehr Freude als alle anderen Götter spendet (V. 32). Was Schede will, vermag allein (»unus«) diese Gottheit zu gewähren, wenn sie denn dem Ich als Objektivation und mystischer Einklang von »sors« und »voluntas« zur Seite steht (»adest«, V. 32). Daß der Genius sein Wohlwollen durch »omina« zu erkennen gibt, konnte Melissus schon in der Lyrik der Italiener finden. Bei Pontano z.B. wird er hymnisch bei der Geburt des Sohnes angerufen und mit Opfern verehrt18: ... sancte Geni, tibi solemnes prostratus ad aras fundo merum et multo laurus in igne crepat. Vota manent: sua signa deum testantur, et omen clara dedit celeri flamma voluta gradu. ipse et pacato movit sua vertice serta, et fragilis cecidit crine decente rosa...
Im antikisierenden »Code« der Humanistendichtung bleiben die Attribute der römischen Gottheit und ihre Funktionen erhalten: ihre Rolle als Schutzgeist, der - wie später der Schutzengel - dem Ich zur Seite steht, - so wie auch Orte, Städte, Länder, ja selbst Epochen in späterer Übertragung einen »Genius« besitzen. Der Genius des Individuums, dessen man gerade am Geburtstag gedenkt19, bereitet seinem Schützling Freude, ja verkörpert geradezu als mythische Verdoppelung
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Darauf deutet auch die Formulierung »genialis hiems« bei Vergil, Georg. 1. S. 302. Giovanni G. Pontano: Exsultatio De Filio Nato ( = D e Amore Coniugali X). zit. nach: Poeti Latini del Quattrocento. A cura di Francesco Arnaldi u. a. Milano/ Napoli o. J. (La Letteratura Italiana. Storia & Testi, Bd. 15), s. 470. So in den Geburtstagsgedichten bei Tibull 2.2,5: »ipse suos Genius adsit visurus honores«, auch in 1.7 (auf Messalla), spez. V. 49f.: »huc ades et Genium ludis centum choreis / concelebra et multo tempora funde mero«; vgl. weitere Ausführungen und Belege (Horaz etc.) im Kommentar (zur Stelle) von Kirby Flower Smith. The elegies of Albius Tibullus. Darmstadt 1971, S. 337. In Anlehnung an Tibull dann die Feier des eigenen Geburtstages bei Petrus Lotichius Secundus. El. II 8, spez. V. 67ff.: »Ipse novos Genius ludens ad pocula cantus / Audiat...«
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und gespiegelte Person den Willen zum Glück und seine Erfüllung: »quotiens voluptati operam damus, indulgere dicimur Genio.«20 Das Reich der himmlischen Genien ist - vor allem wohl in den pindarischen Oden - auch Gefilde des großen Dichters, der mit dem Bild des pindarischen Schwans gekennzeichnet ist21 und dessen himmlische Heimat jenseits der Sterne nicht nur Genien, sondern - in christlicher Überblendung der Mythen - auch Cherubine und Seraphine bewohnen22: Qvem tibi rear Vranien locum MAetherios inter Genios. melodiarum Olor scientissime, destinaturam superi Jovis fato? Chrysolithis alas amictus lucidissimis Super excel si Croni globum Evehere, choris nihil invidendus Animorum semper immortalium; Mediusque in cherubinis ac Seraphicis Oscen alitibus, ter-sanctum indeside Concines (auguror) voce Tonantem. Rape me tecum rape sub astra, si nec Auribus humanis ingrata, nec oribus indigna Caelitum modulor, melicae fidicen lyrae.
Indem der Genius das Unverwechselbare der Person fördert und behütet, konnte er in der feiernden Dichtung für die Person selbst einstehen. An Elisabeth I. von England richtete Melissus den Wunsch23: ... Sic Genius tuus Vigescat aeternum canorae Suavibus in numeris Thaleiae.
Mit dem Genius konnte sich auch der Begriff des »ingenium« verschränken 24 oder der Mensch selbst zum »Genius« werden - wie in einem Epigramm über Iulius Cäsar Scaliger 5 : 20
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Servius, Georg. 1.302 (im Gegensatz zu »Genium suum defraudare«); Schede spielt mehrfach mit diesem Begriff: »Eat hinc. eat hinc, precamur / Genio bene defensus« (Schediasmata 1586, wie Anm. 11, P. I, S. 130); - »Difficile est fraudare gulam Geniumve rebellem« (ibid., P. II, S. 48); - »Jocum Geniumque / I n s i m u l h e i c videas conjunctos cum patriis Diis / Nube carentem expergere frontem.« (ibid., P. I, S. 192). Etwa nach Horaz, Carm. IV.2,25; vgl. zur pindarischen Ode bei Schede Schäfer (1976) (Anm. 6), bes. S. 75ff. Schediasmata 1586, P. I (Anm. 11), S. 30: Epodos des Gedichtes »Ad Iosephum Zarlinum Claudiensem«. Schediasmata 1586, P. I (Anm. 11), S. 165. So auf eine verstorbene Bekannte. Schediasmata 1586, P. I (Anm. 11), S. 209: » . . . n o n potuit Dea, / Cuius tu Genium atque ingenium catum / Referre noras? ...« Schediasmatum Reliquiae 1575 (Anm 12), unpag. Vorspann; dem entspricht auch das Verständnis humanistischen Dichtens bei dem Pfälzer Theodor Rhodius (in einem Gedicht a n M . Freher): »Dumque meo Genio nequiquamobsistere conor, / N e faciam versus, nemo inhibere potest.« Das poetische »Studium« verschmilzt hier mit dem »naturae ductus«
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Unus ut est omnes Genij idem Scaliger aut est Omnibus ex Genijs natus homo - Genius.
Vor allem aber in Gedichten auf die toten Freunde haben die Humanisten das Genius-Mythologem bemüht, in Deutschland zuletzt z.B. Paul Fleming in Ad Genium J. Douzae oder - im Zusammenhang der neuerdings von Heinz Entner so treffend gewürdigten Freundschaft - in Ad Genium B. Glogeri, wo der Dichter den Geist des toten Freundes um Inspiration bittet.26 Wo in humanistischer Dichtung von »Genius« die Rede ist, geht es um Persönliches und - bei den Dichtern - um die dem eigenen Können und Wollen entspringende Leistung. Eine Leistung, die von den »Elucubrationen« des akademischen »Exercitiums« im Verweis auf platonische Unmittelbarkeit abgesetzt wird. Mit der Rolle des Schutzengels steht im Genius die Schicksalsbestimmung des Individuums, auch die Berufung zum Dichter zur Sprache, jene Bestimmung, die sich in der Konjunktion der Sterne - bis hin zu Goethe - symbolisch ankündigt. Schede übersteigert den Gedanken in seinem Gedicht, indem es das kosmische Geschehen nicht in seiner fatalen Regelmäßigkeit, sondern in der Ausnahme der vom Genius verkehrten Zeiten auf sich bezieht.27 In der »okkulten« Philosophie des Neuplatonismus war der Genius keine optische Fiktion, kein mythologischer »Schmuck«, sondern Inbegriff einer Kette von Influenzen und Korrespondenzen, die - so bei Agrippa von Nettesheim - astral gelenkt sind und in der ungestörten Wahl und Neigung des Menschen zu erkennen sind.28 Für Agrippa gibt es einen »Geniturae daemon« und einen »Profeßionis daemon«: letzterer gewährt den Erfolg, den der nicht von seinem Genius beflügelte Mensch nur mit Schweiß und Mühe erreicht29:
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"
des Dichters: s. Parnassus Palatinus (Anm. 10), S. 180f.; Jacob Balde S. J. betitelt später ein Gedicht (Lyr. IV 26): »Virtutis Genius«. Lateinische Gedichte, Hrsg. von J . M . Lappenberg. Stuttgart 1863, S. 109 bzw. S. 257; vgl. Heinz Entner, Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im dreißigjährigen Krieg. Leipzig 1989 (Reclams Universal-Bibliothek 1316), S. 173ff. und 233ff. Vgl. die Ode anFranciscus Modius (Schediasmata 1586, P I , wie Anm. 11, S. 485-87), in der das dichterische Selbstverständnis (»nascimur vates«) mit der Topik des platonischen »furor poeticus« und in der Berufung auf den »Genius« verkündet wird: »... sed idem (d. i. »Genius«, W.K.) Poetas / Numen ad certos agit incitata / Mente furores.« Das Gedicht ist von Schäfer (1976) (Anm. 6), S. 102ff. behandelt. Henrici Cornelii Agrippae ab Nettesheym: De occulta Philosophia. In: Opera, In Duos Tomos Digesta. Leiden o.J., S. 294(Libertertius,cap. XXI: »De obsequendo proprio genio, eiusque natura indaganda.«): »Horum itaque cumlaboriosa, & occultissima sit inquisitio, multö facilius ex nobis ipsis genij nostri naturam perquiremus, attendentes ad ea, quae ä primaeva aetate nullis contagiis districta, aut ea quae expurgatä mente ab inanibus curis, & sinistris affectibus, amotisque impedimentis suggerit animus, dictat naturae instinctus, coelumque inclinat. Haec procul dubio genij suadelae sunt, qui unicuique datus est ä principio suae nativitatis, eo nos ducens, & persuadens, quo nos illius sidus inclinat.« Ibid., S. 295 (Cap. XXII: Überschrift): Diese Ausführungen Agrippas hätten bei SchmidtDengler, wie Anm. 3, ausführlich behandelt werden müssen: sehr Erwägenswertes zur Einwirkung Agrippas (spez. Des hier beh. »Liber Tertius«) noch beim jungen Goethe liest man bei Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Bd. II München 1979, S. 92ff.
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Daemon vero professionis, hic datur ä sideribus, quibus talis professio vel seeta, quam h o m o aliquis professus fuerit, subiicitur, quem anima quando iam in hoc corpore electione uti coeperit, atque sibi mores induerit, latenter optat. Hic daemon mutator mutata professione, tum pro dignitate professionis, digniores ac etiam sublimiores adsunt nobis professionis daemones, qui successive curant hominem, qui alium & alium sibi indies comparat professionis custodem, prout conscendit de virtute in virtutem. Q u a n d o itaque professio c u m natura nostra consentit, similis nobis atque c u m genio concors adest professionis daemon, vitaque magis efficitur tranquilla, felix atque prospera: quando vero professionem genio subimus dissimilem vel contrariam, vita nobis redditur laboriosa & discordantibus patronis perturbata. Sic evenit ut proficiat aliquis in aliqua scientia, aut arte, aut ministerio, exiguo tempore & labore, qui in aliis multo sudore & studio frusträ laborat: & licet nulla scientia, nulla ars.
Wir dürfen annehmen, daß auch die poetische Semantik des »Genius« sich in einer je zu differenzierenden Weise mit Vorstellungen einer solchen magischganzheitlichen Anthropologie berührt. Jedenfalls ist hier der numinose Charakter des antiken Schutzgeistes erhalten und in eine kosmische Sympathielehre integriert, die freilich in Konkurrenz, ja in potentiell häretischer Front zu orthodoxen christlichen Glaubensüberzeugungen stand. Indem mit dem Walten des Genius innere Bestimmung und äußeres Schicksal, das Ensemble subjektiv erfahrener lebensbestimmender Mächte, jenseits aller pragmatischen Kontingenz angesprochen werden kann, kommt dem Genius gleichsam göttliche Macht in der Erschaffung und im gelingenden Leben des Individuums zu. An diesem Punkt werden also das heidnische Genius-Mythologem und die Bilder christlichen Gottvertrauens austauschbar. So verwundert es nur auf den ersten Blick, daß Schedes Gedicht Ad Genium suum (der Ausgabe von 1586) sich als zweite (oder gleichzeitige und erst später gedruckte?) Fassung eines Gedichts der Gedichtsammlung von 1575 erweist, auf die ich oben meine Erwägungen zur Datierung bezogen habe.30 Bis einschließlich V. 22 entspricht diese frühere Fassung der späteren, abgesehen von geringfügigen Änderungen: V. 1 V. 2 V. 6 V. 7
»Pater Optime« statt »flducia«; »simul« statt »Geni«; »laeter ovemque« statt »gaudia servo«; »pomo« statt »platano«.
Das Hauptmotiv, der auf den Dichter zulaufende Naturkreislauf in seiner ominösen Verkehrung, bleibt erhalten. Die Schlußverse (23ff.) lauten im früheren Druck: Agnosco tua dona, Pater; tua munera nosco: Indignum sanctis excipis eece modis. Non opis esse meae dignas persolvere grates, Sat scio, fas, h a b e a m ; fas, tibi semper agam. Quaeso, meis duret mens firma nepotibus olim: Fas, grates habeant; fas, tibi semper agant.
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Vgl. die A n g a b e n in A n m . 12.
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Statt des Griffs an die eigene Stirn und statt des Versprechens von Heiterkeit, Freude und Selbstgefühl hier also eher ein konventioneller Dank an Gott, der sogar noch auf die nächste Generation ausgedehnt wird. Kein Zweifel, das später gedruckte Gedicht wirkt schlüssiger, in sich konsequenter, verengt das Natur- und Astralmotiv nicht zur Topik des prosaischen Dankgebets an eine Macht, die ihren »Sitz« nicht »im« Menschen hat. Beide Versionen waren freilich austauschbar. 31 Schede hat jedenfalls später die »Genius«-Fassung bevorzugt, - vielleicht weil sie auch von Anfang an vorlag, und nur im Hinblick auf die seit 1570 bestehende enge Verbindung zu Kurfürst Friedrich III., dem strengen Calvinisten und Auftraggeber der verdeutschten Psalmen, für die Heidelberger Ausgabe entschärft wurde, von allzu paganer Mythologie gereinigt? Wir wissen es nicht. Das Genius-Gedicht Schedes gehört zum weiteren Einzugsbereich des häufigeren Typus »Ad se ipsum«, dessen Ausprägungen und Aus sage spektrum als monologisch-persönliche Lyrik im Umkreis humanistischer Dichtung und ihrer Anlässe ebenfalls noch nicht eigens untersucht ist. Doch das, um den alten Briest zu Worte kommen zu lassen, ist ein weites Feld.
31
Die Transformation geistlicher in weltliche Gedichte und umgekehrt gehörte zur zeitgenössischen Praxis der lyrischen »Kontrafaktur«. So verwandelt Schede das Gedicht »Christo Servatori« (Schediasmatum Reliquiae. 1575. wie Anm. 12. S. 394) später in ein Liebesgedicht: »Rosinam anhelat« (Schediasmata 1586, wie A n m 11. Ρ I, S. 118); zur Poetik dieser »Parodie« im Sinne des »thematischen Wechsels« vgl. Theodor Verweyen/ Gunter Witting: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur. Darmstadt 1979. spez. S. 22ff. sowie - auch am Beispiel Schedes - E. Schäfer (1976) (Anm. 6), bes. S. 92ff.
»Amor liberalis« Ästhetischer Lebensentwurf und Christianisierung der neulateinischen Anakreontik in der Ära des europäischen Späthumanismus
Die von deutschen Autoren um 1600 vorgelegte anakreontische Dichtung ist in lateinischer Sprache geschrieben und gehört zu den wenig erforschten, ja z.T. bisher bibliographisch kaum erfaßten Bezirken der Literaturgeschichte. Dies ist zunächst die Folge wissenschaftsökonomisch begründeter Abgrenzung von Disziplinen: der mittellateinischen Philologie, der Humanismus- und Renaissanceforschung und der nationalen, mithin muttersprachlich eingestellten Literaturwissenschaft. In dieser Abgrenzung spiegelt sich freilich auch eine Reihe zählebiger Vor- und Fehlurteile. Dazu gehören die bekannten Prämissen der nationalliberalen Literaturbetrachtung des 19. Jahrhunderts, durchweg verbunden mit Wertungskategorien der Genie- und Erlebnisästhetik'. Fast kritiklos wurde deshalb das z.B. von der Autorität eines Paul Joachimsen gestützte Periodisierungsschema festgeschrieben, um 1550 sei die humanistische Bewegung zu Ende, danach gebe es nur noch ein »Weiterschleppen von Formen ohne neuen Gehalt« 2 . Unter entschieden geistesgeschichtlichen Vorzeichen, sozusagen im Schatten der großen reformatorischen und gegenreformatorischen Ideenbewegungen, wirkte neulateinische Dichtung auf den ersten Blick wie eine sozial isolierte, entwicklungsunfähige und dabei höchst esoterisch-artistische Tradition neoscholastischer Sprachexerzitien. Anhaltspunkte für eine solche Einschätzung waren leicht zu finden in der ungebrochenen Kontinuität der humanistisch gelehrten Produktionsästhetik und in der schematisierten Praxis des akademischen Wissenschaftssystems 3 . Nur über 1
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Dazu Günter Hess: Deutsche Literaturgeschichte und neulateinische Literatur. Aspekte einer gestörten Rezeption, in: Acta Conventus Neo-Latini Amstelodamensis, hrsg. von P. Tuynman, München 1979 (Humanistische Bibliothek. Reihe I: Abhandlungen. Bd. 26). S. 493-538. Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Darmstadt 1969 (Nachdruck des 1930 erschienenen Aufsatzes), hier S. 58. Dazu kritisch Hans-Gert Roloff: Thomas Naogeorg und das Problem von Humanismus und Reformation, in: LHumanisme Allemand (1480-1540). XVIIIe Colloque International de Tours, MünchenParis 1979 (Humanistische Bibliothek. Reihe I: Abhandlungen. Bd. 38), S. 455^175. Dazu vor allem August Buck: Die »studia humanitatis« und ihre Methode, in ders.: Die humanistische Tradition in der Romania, Bad Homburg v. d. H. usw. 1968, S. 133-149: ferner ders.: Der Wissenschaftsbegriff des Renaissance-Humanismus, in: Wolfenbütteler Beiträge 2 (1973). S. 45-63.
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die Stufe der »imitatio« und im Blick auf die antiken Vorbilder, die »duces« der Gattungen, schien dem poeta doctus ein Wettbewerb mit den Leistungen des Altertums möglich. Das Ethos des »sequi«, wie es etwa Horaz und Quintilian für die römische Literatur postuliert hatten4, bot die Gewähr für konsenshaft abgesicherte literarische Normen, für das Verständnis von lyrischen Gattungen im Sinne stabiler literarischer Bezugssysteme. Demgegenüber konnten sich innovative Impulse des späthumanistischen Dichtens allerdings auf den im »aemulatio«-Begriff enthaltenen Originalitätsanspruch berufen 5 . Überdies äußerte sich die Historizität der lateinischen Literatur, ihre Reaktion auf die sich wandelnden sozialen Erfahrungen und Darstellungsbedürfnisse in einem veränderten Umgang mit den antiken Quellen. Zu beobachten waren Akzentverlagerungen innerhalb des literarischen Kanons" wie auch Veränderungen der Rezeptionsformen antiker Autoren. Die epochale Signatur des späthumanistischen Schrifttums, zugleich der Reflex seiner politisch-sozialen Rahmenbedingungen lag in der Tatsache, daß sich noch und vor allem im Medium des Lateinischen die geistige Führungsschicht Europas mit den Problemen und Konflikten des heraufziehenden Absolutismus auseinandersetzte. Unter heutigen Begriffen wie »Konfessionalisierung« und »Sozialdisziplinierung« verbarg sich ein Spektrum gleichlaufender, wenngleich widersprüchlicher Erfahrungen und ein vielschichtiges Syndrom intellektueller Herausforderungen. Bestimmte genuin humanistische Argumentationskomplexe und Diskursmuster boten sich zu deren Vermittlung an: ζ. B. die Diskussion über den »Verfall der Beredsamkeit« (im Rückgriff u.a. auf Tacitus), die Analogisierung zwischen Moderne und römischer Kaiserzeit (»similitudo temporum« z.B. bei Lipsius und Muret), die auch stilistisch folgenreiche Auseinandersetzung zwischen »Verbalismus« und »Realismus«. Die innere Entwicklung der humanistisch geprägten Literatur - bis weit ins 17. Jahrhundert hinein - zeigte sich in einem weitreichenden Wechsel der gattungsspezifischen Paradigmen: in der Rezeption des Seneca tragicus in Trauerspiel und Ordensdrama, des Seneca philosophus im Neostoizismus, in der Entfaltung des europäischen »Tacitismus« zum Reflexionsinstrument der politisch-historischen Philologie, schließlich in Gestalt
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Vgl. im größeren Zusammenhang Karl Maurer: Die Präsenz der römischen Dichtung in der europäischen Literatur, in: Latein und Europa, hrsg. von Karl Büchner, Stuttgart 1978. S. 2 4 3 - 2 8 1 . - Ich m u ß mich hier und im folgenden auf wenige Literaturhinweise beschränken. Dazu Hans-Joachim Lange: Aemulatio Veterum sive de optimo genere dicendi. Die Entstehung des Barockstils im XVI. Jahrhundert durch eine Geschmacksverschiebung in Richtung der Stile des manieristischen Typs, Bern-Frankfurt/M. 1974 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I. Bd. 99), spez. S. 113ff. In Deutschland wurde der Originalitätsgedanke. die Forderung nach »novitas«, bes. von Jacob Balde erhoben und in die Praxis umgesetzt. Vgl. vor allem Dieter Breuer: Oberdeutsche Literatur 1565-1650. Deutsche Literaturgeschichte und Territorialge schichte in frühabsolutistischer Zeit. München 1979 (Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte, Beiheft 11, Reihe B), spez. S. 249ff. Vgl. Lange (s. Anm. 5), S. 84-106.
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antiklassizistischer Strömungen, die ζ. T. unter dem Begriff des »Lipsianismus« zusammengefaßt wurden 7 . Nur im Gefolge dieser historischen Wandlung und Reaktionsfähigkeit behauptete sich die lateinische Literatur noch als stabile Komponente der bilingualen Literaturlandschaft, ja als noch unabdingbarer Bezugsrahmen auch der muttersprachlichen Bemühungen. Ich möchte in diesem Vortrag die Frage stellen, ob und inwieweit auch die Blüte der neulateinischen Anakreontik an der Schwelle des »barocken« Jahrhunderts in die von mir so skizzierte Gesamtentwicklung einzuordnen ist. Es geht mir also nicht darum, die gesamte Vielfalt der formalen Variationen oder der diversen Anlässe und Gegenstandsbereiche anakreontischen Dichtens abzuschreiten. Vielmehr beschränkte ich mich auf einige Beobachtungen und Thesen, die vielleicht Aufschluß über wichtige soziale Impulse anakreontischen Dichtens geben können, über die Gründe für die Attraktivität eines seinerzeit recht neuen Genres lyrischer Dichtung, in dem sich in fiktivem Rollenspiel gleichwohl bedeutsame Erfahrungen der Epoche und des Epochenwandels niederschlagen und auf diese Weise ästhetisch verarbeitet werden konnten. Dazu zunächst einige literarische Vorerinnerungen. Sie können anknüpfen an das Jahr 1554, an die editioprinceps des anakreontischen, d.h. zum größten Teil, wie wir heute wissen, pseudoanakreontischen Textkorpus durch den Franzosen Henricus Stephanus, d.i. Henri Estienne (1531-1598). Die von ihm beigegebene lateinische Übertragung von 31 Gedichten wurde wegweisend als Muster für die Nachahmung des genrespezifischen reimlosen Kurzverses (jambischer Dimeter) und der strophenlosen Odenform. Zwar wußte man schon vorher aus verstreuten Überlieferungen von der Bedeutung und der Schreibart des Archegeten der »musa iocosa« s , doch erst durch die Ausgabe des Stephanus war das komplette Motivarsenal des ganzen Liederzyklus überschaubar: eine 7
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Hierüber W. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 3), bes. S. 189ff., sowie ders.: Geschichte als Gegenwart: Formen der politischen Reflexion im deutschen Tacitismus des 17. Jahrhunderts, in: Respublica Litteraria. [...]. Akten des 5. Jahrestreffens des Internationalen Arbeitskreises für Barockliteratur, hrsg. von Sebastian Neumeister und Conrad Wiedemann. Wiesbaden 1987, S. 325-348. Über die Geschichte der Rezeption und Edition des anakreontischen Korpus orientieren gründlich und mit Nachweis der älteren Literatur im gemeineuropäischen Kontext Herbert Zeman: Die deutsche anakreontische Dichtung. Stuttgart 1972 (hier Abschnitt A): auch (in den einleitenden Kapiteln) Michael Baumann: Die Anakreonteen in englischen Übersetzungen. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der anakreontischen Sammlung. Heidelberg 1974 (Studien zum Fortwirken der Antike, Bd. 7): zu Stephanus und zu den Poeten-Philologen der französischen Pleiade vgl. Hans Widmann: Der Drucker-Verleger Henri II Estienne (Henricus II Stephanus), Mainz 1970: Rudolf Pfeiffer: Die klassische Philologie von Petrarcabis Mommsen, München 1982, S. 127-155, spez. 138f.: Anthony Grafton: Joseph Scaliger. Α Study in the History of Classical Scholarship, Oxford 1983 (Oxford-Warburg Studies), S. 79ff. mit den Anm. S. 261f.; Jean Jehasse: La Renaissance de la Critique. L'essor d e l ' H u m a n i s m e erudit de 1560 ä 1614, Saint-Etienne ο. J. (1976). spez. S. 72ff.
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fiktive Welt voll spielerischer Lebensfreude, erotischer und weinseliger Glückserfüllung, zugleich aber auch musisch-poetischer Spontaneität und Kreativität. Lyrik im Zeichen Anakreons gab die Möglichkeit, Nuancen des Genusses durchzuprobieren, Affekte auszuspielen und zu bejahen, da im Rückbezug auf das antike Muster die dargestellte Lebenswelt jederzeit als fiktiv, als rein ästhetische Imagination zu erkennen oder zu verteidigen war. Die apologetische Dichotomie von »musa iocosa« und »vita casta«", wie auch immer bis in die muttersprachliche Anakreontik des 18. lahrhunderts hinein angefochten1'1, fand ihren Rückhalt in der Legitimation antikisierender Kunstübung.
In welcher Beziehung aber stand die scheinbar so in sich geschlossene Welt des anakreontischen Spiels zur erfahrbaren Wirklichkeit und der sie prägenden Ideologie? Ich verfolge diese Frage anhand einiger Texte (s. Textanhang, im folgenden mit Τ abgekürzt), beginnend mit dem zweiten Gedicht der Anakreontica des lulius Caesar Scaliger (1484-1558), das zugleich mit den ersten französischen, von Belleau und Ronsard vorgelegten Übersetzungen bzw. Nachahmungen entstand11. Scaligers lateinischer Zyklus fand in Europa großen Widerhall, nicht zuletzt infolge seiner Autorität als Literaturtheoretiker. Daß seine erste anakreontische Ode den Anakreonteen Ronsards12 huldigt, ist ein Zeichen für die gegenseitige Anerkennung und Wechselwirkung lateinischer und muttersprachlicher Poesie in jener Zeit. Unser Gedicht (Τ 1) darf programmatischen Charakter beanspruchen. Scaliger spricht - das ist bedeutsam für die immanente Poetik des anakreontischen Genres schlechthin - sowohl von den gattungsspezifischen Stilkonventionen wie von bestimmten Verhaltensbildern des lyrischen Subjekts. In V. 4 zitiert er eine Passage aus der 14. Epode des Horaz: »non elaboratum ad pedem«: Wer wird mir. wer, den gefälligen Anacreon, den eleganten Alten, zum Reigen auffordern. nicht auf mühevoll gedrechseltem Fuß. (V. 1-4)
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Z u m Topos vgl. Jürgen Stenzel: »Si vis me flere« - »Musa iocosa mea«. Zwei poetologische Argumente in der deutschen Dichtung des 17. und 18. Jahrhunderts, in: DVJS 48 (1974), S. 650-671, bes. 666ff. Beispiele bei Christoph Pereis: Studien zur A u f n a h m e und Kritik der Rokokolyrik zwischen 1740 und 1760. Göttingen 1974 (Palaestra. Bd. 261), S. 21f„ 76f. und passim. SpezialStudien zu Scaligers Lyrik fehlen, soweit ich sehe; einige für mein Thema wenig ergiebige Bemerkungen bei Vernon Hall: Life of Julius Caesar Scaliger (1484-1558), Philadelphia 1950 (Transactions of the American Philosophical Society. New Series - Volume 40, Part 2), spez. S. 122ff., 140 b: Robert J. Clements: Literary Theory and Criticism in Scaliger's »Poemata«, in: Studies in Philology 51 (1954). S. 561-584. Vgl. Isidore Silver: The Intellectual Evolution of Ronsard. Bd. I. St. Louis 1969. hier S. 93ff. (Kap. IV: »Ronsard and the Humanists: Henri Estienne II«); Dieter Janik: Geschichte der Ode und der »Stances« von Ronsard bis Boileau, Bad Homburg v. d. H. usw. 1968 (Ars poetica, Bd. 2). S. 57ff.
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Strukturbildend ist die semantische Interferenz von stiltypologischen Begriffen einerseits und der Vergegenwärtigung sinnlich-körperlicher Empfindung, der Vorstellungen lebensbejahenden Glücks andererseits. Dies gilt für »blandus« und »elegans«, aber auch für den »non elaboratus pes«, also das schlichte Metrum, das zugleich den beschwingten Fuß des Tanzes meint. Die Befreiung von »elaborierter«, d. h. anspruchsvoller Kunstdichtung, der Artistik vor allem der pindarischen Ode11, wird in V. 10/11 noch einmal bekräftigt. Im Mittelpunkt steht ein Freiheitsappell. Die Freiheit des »amor liberalis« (V. 7), die sich in Küssen, Spielen, Singen und Trinken auslebt, steht gegen Knechtschaft, gegen Dienst: »Genug haben wir gedient« (V. 17). Freiheit ist unschätzbar, der Feind der Freiheit wird aus dem fiktiven Spielraum der Lebensfreude verwiesen (V. 23: »abito«). In diesem so abgegrenzten Bezirk, der eine esoterische Gemeinschaft des Dichters und seines Publikums gegen eine feindliche Umwelt imaginiert, können die alten »Mysterien« des Gesanges wiederkehren. So wie hier Scaliger haben auch bedeutende Theoretiker anakreontische Lyrik charakterisiert, am besten wohl der Jesuit Jacob Pontanus (1542-1626) in seinen Institutionum Poeticarum Libri Tres, Ingolstadt 1594. »Dulcis, blandus, venustus, floridus, suavis«, so lauten die Merkmale des anakreontischen Genus, in dem sich »facilitas« und »simplicitas« zu einer naiven Anmut zusammenfinden (»inaffectata iucunditas«) 14 . Freilich, der geistliche Autor konnte sich mit den »argumenta« des antiken Vorbildes nicht abfinden' 5 , Signal für die Ablösbarkeit der formalen Qualitäten von dem ursprünglich dazugehörigen Gegenstandsbereich, - ein Vorgang, auf den ich noch zu sprechen komme. Scaliger dagegen geht es noch nicht um eine Modernisierung Anakreons im Sinne einer Verchristlichung. Er nimmt die zeitgenössische Wirklichkeit in jenen Gestus der Weltabkehr hinein, den er bei seinem antiken Vorbild ausgeprägt fand. Was Welt, die Welt seiner Zeit bedeutete, erscheint in einem Gedicht (T 2) in einer Direktheit, die den schützenden Schein des »lusus« beinahe zu durchbrechen droht, freilich in einen Akt der Besinnung mündet, der den archimedischen Punkt anakreontischer Lebenskunst bezeichnet: 11
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Wie bei Ronsard (und bis ins 18. Jahrhundert, etwa bis Goethe), so auch bei Caspar von Barth (zu ihm s.u.). ausgedrückt in einem Epigramm (in: Epidorpidum [...] Lib. VIII. Frankfurt 1623. Buch VIII, Nr. XXVII): Anacreon: »Volens minuta Pindari insidet caudam / Ubi ille languet, ista celsius tendit«. Anacreon und Pindar, beide von Estienne herausgegeben, repräsentieren die polaren Möglichkeiten der zeitgenössischen und auch späteren Odendichtung; ihnen konnte deshalb auch gemeinsam gehuldigt werden, wie ζ. B. von Daniel Heinsius: Poematum editio nova, Amsterdam 1649, S. 207 (nach Schäfer [s. Anm. 39], S. 82). Zu Anacreon siehe Buch III, cap. 30. S. 140-143; über die antike Tradition zentraler Begriffe (wie »suavis«) handelt Baumann (s. Anm. 8). S. 16ff.; wie stabil die kritische Nomenklatur bis in die literaturkritische Diskussion des 18. Jahrhunderts hinein war, belegt, ohne daß der Verf. hierauf im einzelnen zu sprechen käme, die Untersuchung von Pereis (s. Anm. 10). S. 141: »Quae si studiosi imitabuntur, argumenta ipsa detestabuntur, ut item in Propertio, Horatio & aliis recte & Christiane fecerint.«
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Nach dem Exil, nach dem Morden, nach der Knechtschaft, nach der Flucht, nach den heftigen Drohungen, nach dem Wüten gegen meine Begabung, was zögerst Du, mein Geist? Steh ah vom Leid, sag ab den Klagen, laß ab. Dich zu quälen! Warum erquickst Du Dich nicht?
War dieser Monolog anders zu lesen als ein Stichwortpanorama zeitgenössischer Realitätserfahrung, in der die »publica mala« des Lipsius auch als private gedacht sind? Die erotische Wendung des Gedichts gibt sich als angemessene Reaktion auf die eigenen Anfechtungen. Die Gefangenschaft im Schoß der Geliebten (V. 10-12) erscheint als ein Akt des Triumphes über sich selbst (»tibi triumphare«), als ein Akt der Selbstbezwingung, der freilich im Widerspruch genau jene moralphilosophische Anweisung parodiert, die der Neostoizismus dem Weisen angesichts der »publica mala« empfahl. Stoische Selbstbeherrschung, die später vor allem Justus Lipsius (De constantia, 1584) als Sieg der Vernunft über die eigenen Affekte definierte, steht konträr zu der hier von Scaliger symbolisch vorgeschlagenen Selbstbemächtigung des Individuums. Stoische »magnitudo animi« konnte zwanglos mit den Leitbildern christlicher Askese verschmelzen, trug einen Freiheitsbegriff vor, der die moralischen und intellektuellen Energien des Einzelnen gegen spontane Glückswünsche und Befriedungsphantasien aktivierte. Nur der Mensch, der sich über die Gaukelbilder des eigenen »Wahns« (opinio) zu erheben wußte, schien in der Lage, sich angesichts einer krisengeschüttelten Welt der bleibenden kosmischen Ordnung zu versichern. Freiheit als Autonomie und Autarkie war so bezogen auf einen universalen Ordnungswillen, der schließlich das Staatsethos des 17. Jahrhunderts mittragen konnte und die Rollendisziplin des Individuums unterstützte. Paul Fleming hat bekanntlich die Imperative stoischer Lebensgestaltung in seinem Gedicht »An sich selbst« zuletzt sentenzenhaft zusammengefaßt: 16 Wer sein selbst Meister ist und sich beherrschen kann, dem ist die weite Welt und alles unterthan.
Auch Anakreon und die ihm folgende Lyrik kannte den Typus der Selbstmeditation (»De se ipso«) bis in die Zone der »meditatio mortis« hinein17. Doch statt der stoischen »constantia«, der Energieleistung des »resistere«, fanden die Autoren hier eine Alternative, den Rückzug auf ein Selbst, das sich nicht nur als vernunftgeleitetes Ego verstand. Scaligers »se resumere« (T 2, V. 9) aktiviert beispielhaft den Willen zu einem privaten Glück, das sich als erotisch-sinnliches versteht und das im Horizont des »carpe diem« die latente oder auch direkt berufene Gegenstimme zu den Postulaten asketischer Rollendisziplin bildete. 16
17
Vgl. W. Kühlmann: Selbstbehauptung und Selbstdisziplin. Zu Paul Flemings »An sich«, in: Renaissance und Barock. Gedichte und Interpretationen, hrsg. von Volker Meid, Stuttgart 1982 (RUB 7890), S. 159-166. In der Übersetzung des Lubinus (s. Angaben zu Τ 8) werden mehrere Gedichte durch Überschriften (»In se ipsum«) als meditative Rollenmonologe charakterisiert (Nr. IV, XI, XIII, XV, XVI, XXI, XXIV, XXV, XXXI, X X X I X u. ö. - Zählung nach Stephanus). Motiv ist jeweils die Abwehr der »cura mortis«, die Drohung des »irreparabile tempus«.
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In der ebenfalls von Anakreon vorformulierten Absage an Politik und Macht, zu deren Teilhabe die Einhaltung von Tugendnormen qualifizierte18, in der Absage an die Zwänge repräsentativer Lebensführung war in der Dichtung noch eine bedrohte Form von »humanitas« tradiert. Der namhafte deutsche Neulateiner Caspar von Barth (1587-1658)19, Schüler Taubmanns (1565-1613 )20, hat so in seinem anakreontischen Liederbuch das ferne Leitbild geradezu vergöttlicht (T 3): Feststeht, daß Anakreon ein göttlicher Mensch gewesen ist. Nicht stand er im Ruf. ein hoher Dichtersänger, ein martialischer gewesen zu sein; diese Tugend. Homer, soll Eurer Blindheit zugeschrieben werden. (V. 1-6)
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Zur sozialpolitischen und poetischen Funktion von Tugendforderungen im frühneuzeitlichen Staat ausführlich und mit reichen Belegen Wolfram Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert. Die »Sonnete« des Andreas Gryphius, München 1976, bes. S. 196ff. Das Werk Barths ist nun verdienstvoll katalogisiert durch Gerhard Dünnhaupt. Bibliographisches Handbuch der Barockliteratur. Bd. I—III, Stuttgart 1 9 8 0 - 8 1 , hier Bd. I, S. 2 5 4 - 2 7 3 ; die von mir im Textanhang herangezogenen Werke hier unter Nr. 14 II. bzw. 21 I (S. 109-167) nach Barths »Soliloquiorum rerum divinarum. Liber Primus«). Zu benutzen und zu vergleichen wäre für eine spezielle Untersuchung der Barth'schen Anakreontik auch seine Sammlung: Amabilium libri IV. Anacreonti modiperante decantati, Hanau 1612; Dünnhaupt Nr. 11. Die einzige zusammenfassende, durchaus lesenswerte Behandlung des Lyrikers Barths findet sich bei Adalbert Schroeter: Beiträge zur Geschichte der neulateinischen Poesie Deutschlands und Hollands, Berlin 1909 (Palaestra, Bd. LXXVII), S. 2 6 7 - 3 2 5 ; zu Leben und Werk nach wie vor grundlegend Johannes Hoffmeister: Kaspar von Barths Leben, Werke und sein Deutscher Phönix, Heidelberg 1931 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Heft XIX); einen Einblick in den kaum ausgeschöpften Nachlaß Barths gibt O. Clemen: Handschriften und Bücher aus dem Besitze Kaspar von Barths in der Zwickauer Ratsschulbibliothek, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 38 (1921), S. 267-289. Die ganz wenigen neueren Aufsätze zu Barth betreffen nicht seine lyrische Produktion. Taubmanns anakreontische Gedichte (»Anacreon Latinus«) finden sich in: Melodaesia sive Epulum Musaeum, Leipzig 1597, S. 123-142; er wurde besonders berühmt durch sein anakreontisches Hochzeitsgedicht auf Paul Schede Melissus. Daß gerade das Epithalamion anakreontische Motive aufnahm (neben selbstverständlich Anregungen Catulls, der Tradition der »Basia« wie auch des »Fescenninum« bei Claudian; ich kann auf diese und andere Zusammenhänge hier nicht weiter eingehen) hängt mit der Tatsache zusammen, daß bei einem sozial anerkannten Anlaß wie der Eheschließung auch »ioci petulantiores quae ab antiquis Fescenina carmina dicebantur« (Scaliger) erlaubt wurden; daß auch gegen diese heidnischen Restbestände christliche Eiferer ihre Stimme erhoben, zeigt sich in Sigmund von Birkens Anweisungen zum Epithalamion: vgl. dazu W. Kühlmann: Militat omnis amans. Petrarkistische Ovidimitatio und bürgerliches Epithalamion bei Martin Opitz, in: Daphnis 7 (1978), S. 199-214, spez. S. 210-213. - Taubmanns Wirken als Poet und Professor wurde schulbildend, nicht nur bei den Neulateinern (Barth, Alard, Hudemann, Zuberus, Buchner), sondern mittelbar auch bei den muttersprachlichen Autoren wie Zesen und Schirmer, den Schülern Buchners. Zu Taubmann fehlen seriöse neuere Untersuchungen; erwähnenswert die biographische Skizze von Michael Hofmann: Friedrich Taubmann aus Wonsees, in: Archiv für Geschichte von Oberfranken 45 (1965), S. 117-135 (hier Nachweis der älteren Arbeiten von Ebert und Ebeling sowie eine Werkbibliographie).
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Auch hier die gattungsspezifische Überlagerung einer Absage an die heroische Dichtung, die Gegenstände des hohen Stils - im Anschluß an die antiken Neoteriker 1 - und einer gleichzeitigen Palinodie von Denkbildern der Askese: Hättest Du Daphne besungen, wäre sie stehengeblieben, hätte das menschliche Antlitz behalten. (V. 13ff.)
Gian Lorenzo Berninis Statue der Metamorphose Daphnes (entstanden um 1623), auch der Laura-Mythos des Petrarkismus22 bilden den ideellen Gegensatz zu diesen Versen; das »menschliche Antlitz« enthält auch - im Zusammenhang gelesen - das Gegenbild zur versteinerten Miene des Stoikers. Barths frühe Gedichte behaupten die Philosophie des »voluptuose vivere«: so die Überschrift eines Anakreonteums in der 1597 erschienenen Übersetzung des Rostocker Professors Eilhard Lubinus (1565-1621) 23 . Es ist eine Philosophie, die sich theoretisch-libertinistischer Begründung enthält und den Namen Epikurs vermeidet, eine poetische Philosophie, die sich nur - in Deutschland jedenfalls - in Bildern und Szenen der Phantasie artikulierte. Doch im Preis der »felicitas«, auf die sich der Einzelne zurückziehen kann - die erotische Erfüllung hat paradigmatische Funktion - , steckt die Geste der Verweigerung gegenüber einer Bezähmung und Beherrschung der Natur, die sich zu allererst als Beherrschung des »natürlichen« Menschen programmierte. So verbindet sich der Preis des intimen Liebesglücks mit der Polemik gegen ein System von Verboten, für die (so Τ 4, V. 3 u. 8) repräsentativ die Namen der Stoiker Zeno und Cato stehen. Im mythologisch erhöhten Begriff der »Grazien«24, der später 21 22
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Vgl. Walter Wimmel: KallimachosinRom. Wiesbaden 1960(Hermes-Einzelschriften,Bd. 16). Motivgeschichtliches bei Yves F.-A. Giraud: La Fable de Daphne. Essai sur un type de Metamorphose Vegetale dans la L i t e r a t u r e et dans les arts j u s q u ' ä la fin du XVII e siecle, Geneve 1958 (Histoire des idees et critique litteraire, Vol. 92); zur christlichen Allegorese und damit antipaganen Spiritualisierung des Mythos s. exemplarisch Theodor Verweyen: Daphnes Metamorphosen. Zur Problematik der Tradition mittelalterlicher Denkformen im 17. Jahrhundert am Beispiel des »Programma Poeticum« Sigmund von Birkens. in: Rezeption und Produktion. Festschrift für Günther Weydt, Bern-München 1972, S. 319-379. Zur petrarkistischen Tradition in späthumanistischer Lyrik grundlegend nach wie vor Hans Pyritz: Paul Flemings Liebeslyrik. Zur Geschichte des Petrarkismus, Göttingen 1963 (Palaestra, Bd. 234); dazu ergänzend - auch über die Kontaktzonen mit der A n a k r e o n t i k - Gerhart Hoffmeister: Petrarkistische Lyrik, Stuttgart 1973 (Sammlung Metzler, Bd. 119), bes. S. 3ff„ 58ff. Vgl. die Angaben zu Τ 8; später erschien in Deutschland noch die Ausgabe des Tübinger Professors Friedrich Flayder: Anacreontis Tei Antiquissimi ac Amabilissimi Poetae Omnia, quae extant, cum triplici versione, ac Notis variis [...], Tübingen 1622. Lubinus edierte 1603-04 bei Commelin auch die Anthologia Graeca Palatina (nach Wilhelm Port: Hieronymus Commelinus ....Leipzig 1938. S. 41); die Literatur zu Lubinus ist aufgeführt von W. Schmidt-Biggemann: E. Lubins Begriff des Nihil, in: Archiv für Begriffsgeschichte 17(1973), S. 177ff. Im Titel der Sammlung und passim, häufig mit Bezeichnungen wie »lepos« verbunden: gemeint ist gleichzeitig die Anmut der Liebenden wie der »feine Witz« des Dichters, der als Poet den Reiz von Situationen und sinnlicher Schönheit zu erkennen und zu beschreiben weiß.
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in der entspannten Atmosphäre der Rokokoliteratur von zentraler Bedeutung werden wird25, findet sich das Beharren auf einem gefährdeten Begriff natürlicher »humanitas«. Wer nicht zu küssen versteht, sagt Barth, »ist unwürdig, im Mund der Humanitas genannt zu werden«26: Indignus est vocari Humanitatis ore.
Die Embleme der Zärtlichkeit, die anakreontische Taube etwa, und die Erfüllung des spontanen Verlangens in den Gefilden des antiken Amor verkörperten so potentiell eine Wunschwelt als verkehrte Wirklichkeit. Barth hat dies in einem kühnen Gedicht verdeutlicht, das zugleich als Musterbeispiel ehrgeiziger Aufnahme und Überbietung antiker Vorbilder analysiert werden könnte. Das lyrische Ich erscheint hier als fiktiver Zeuge, der über das Schicksal der Liebenden in der Unterwelt erzählen kann (T 5): »In den grünen Gefilden des Elysiums bin ich, Neaera, gewesen.« (V. 1-2) Der Autor stützt sich, bis in wörtliche Allusionen hinein, auf eine berühmte Elegie Tibulls, kennt vielleicht auch deren Adaptionen in der europäischen Renaissancedichtung, bei Ariost und Baif etwa27. V. 6 - 1 0 berichten von dem Reich der »frommen Liebenden«, die, von den anakreontischen Dichtern geleitet, ihren fröhlichen Reigen tanzen. Fromm sind jene nicht, weil sie sich dem Eros versagt haben. Denn im Gegenteil werden die »duri amantes« (V. 1 Iff.) von der Nemesis verfolgt, die sich dem Lebensgesetz der Frau einst nicht fügen wollten (V. 46): »quod foeminas decebat«. Begriffe wie »pius« und »decorus« werden hier ihrer konventionellen Bedeutung entkleidet. Barth greift auch auf die Unterweltbeschreibung Vergils (Aen. VI, spez. V. 440ff.) zurück, die »lugentes campi« der vom »durus amor« 25
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Vgl. Heinz Schlaffer: Musa iocosa. Gattungspoetik und Gattungsgeschichte der erotischen Dichtung in Deutschland, Stuttgart 1971. S. 1 lOf.; 118f. u.ö.: Franz Pomezny: Grazie und Grazien in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Hamburg-Leipzig 1900 (Beiträge zur Ästhetik 7). Amphitheatrum Gratiarum, wie Τ 3. Lib. I, IV. S. 4; ähnlich auch ibid V. XXIX: »Humanitatis inter- / Est maxime, profecto / In Amore quem erudiri, / Ut sudet ille Marti / Ut sudet iste libris. / Mechanicus ut alter / Laboribus senescat, / Scopum tarnen puellae / Scientiarum & artium / Habent ad unicam omnium. [...]« Zur Rolle der sinnlichen Poesie im Hinblick auf die Wiedergewinnung unverkürzter, standesübergreifender Menschlichkeit im 18. Jahrhundert (Hagedorn), s. Chr. Pereis (s. Anm. 10), bes. S. 50f. Vgl. Tibull, carm. I 3. bes. V. 57ff.; L. Ariosto, Orlando Furioso I, 6, Str. 7 2 - 7 5 : JeanAntoine de Baif. Amours de Meline (»Trois & quatre fois heureux, ...«, in: Evres en Rime. ed. Ch. Marty-Laveaux, Tom. I. Paris 1881, Nachdr. Geneve (1966), S. 72; zur poetischen Topik des »Ely sium« nützlich der Tibull-Kommentar von Kirby Flower Smith: The Elegies of Albius Tibullus, Darmstadt 1971, S. 254ff.
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heimgesuchten Heroinen28. Doch dieser »durus amor« ist hier nicht der todbringende Liebeskummer einer Dido etwa, sondern schlicht die erotische Verweigerung, die in ausgesuchten Qualen bestraft wird. Der Dichter kombiniert und erfindet eine Unterweltszenerie von makabrer Krudität, die ihresgleichen in der zeitgenössischen deutschen Lyrik wohl nicht gefunden hat. Ich versuche eine paraphrasierende Übersetzung der Vv. 11 —48: Dort ist die strenge Bestrafung der harten Liebenden zu sehen. Wie nämlich edle Mädchen, stolz über ihre Schönheit im Kreis der Lebenden, ohne Kleid und Schmuck, bis auf die Haut geschoren, mit eben der Grausamkeit, mit der sie die Jünglinge quälten, rufen, daß sie ohne Tod den Untergang erleiden. Der nach oben, an die Luft gerichtete Teil wird von Feuer gedörrt, unten aber von einem sich einherschlängelnden silbrigen Bach. Doch wenn sich die Lippen des lechzenden Mädchens gerade dem flüssigen Naß nähern, so hebt ein Windstoß plötzlich das Mädchen empor und neidet ihm die Flüssigkeit. Ein anderer Teil steht da emporgereckt, zu Marmor verwandelt. Aber der Marmor ist von der Art, daß er die Geißel spürt, die die Megaere schwingt. Noch ein anderer Teil ist dargeboten den allerschwärzesten Gestalten, welche Syena in den Orcus schickt, bietet ihnen die beneidenswerte Blume, die er hier der Anmut verweigerte. Wiesel irren hier und dort zur Strafe in dem gräulichen Gelände umher. Was haben jene?, fragte ich. Es sind, sagen sie, die harten und allzuharten Mädchen, die niemals das wollten, was den Frauen geziemte. Nun befiehlt die Nemesis den Stolzen, durch den Mund zu gebären. 29
Ausgesuchte, bizarre, ja obszöne Qualen also, die den Bildern des Elysiums kontrastieren. Zu der Topik des Elysiums können sich sonst auch die Vorstellungen der Goldenen Zeit und die Visionen der Insel der Seligen (»insulae beatae«) gesellen: so in einem Gedicht (T 6, spez. V. 20) des flämischen Jesuiten Nicolaus Susius (1572-1619) 10 . Was hier die Phantasie bewegt, ist auch der Genuß sinnlicher Empfindung: doch Susius zielt nicht auf erotische Erfüllung, sondern auf die nur poetisch zu beschwörende Befriedung im Verhältnis von Mensch und Natur. Sie wird beglaubigt im Zitat antiker Dichterlandschaften. Das Tempetal (V. 14), der klassische Musenort, ist erfüllt von schmeichelnden Körpergefühlen: im Duft der Blüten, dem Summen der Bienen, dem Säuseln des Flusses, dem »schmeichelnden« Himmel. Vorstellungen von Zärtlichkeit, die wiederum im Preis des personifizierten »iambus tenellus« (V. Iff.) ihre stilistische Korrespondenz finden.
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Vgl. zur Topik und Begrifflichkeit den Kommentar von Eduard Norden: P. Vergilius Maro. Aeneis Buch VI, 4. Aufl., Darmstadt 1957, S. 247ff. Nachrichten über das »Wiesel, durchs Maul gebärend« konnte Barth bei antiken Naturhistorikern finden, die auch in der Emblematik benutzt wurden; vgl. Arthur Henkel / Albrecht Schöne: Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Stuttgart 1967, Sp. 462/463 (mit Quellenangaben). Daß Barth die sprichwörtlichen »Tantalusqualen« aufgreift, ist offensichtlich. Die eiskalte Härte des Marmors gehört nicht nur zum Fundus petrarkistischer Attribute, sondern wird bei Barth auch ausdrücklich mit den Stoikern assoziiert: »An ludicrum hoc putabis, / Ludendo quod monemus? / Stoum repelle marmor [...]« (vgl. Schroeter [s. Anm. 19], S. 317). Vgl. De Backer-Sommervogel: Bibliotheque de la Compagnie de Jesus. 9 Bde. Bruxelles 1890-1900, spez. Bd. VII, Sp. 1720f.
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Doch das Gedicht beschreibt Vergangenheit, Erinnerungen des lyrischen Ich (V. 6: »olim mihi fuisti«, und V. 25: »Quam saepe pervolavi«). Nur in der Geste temporärer Distanzierung läßt sich noch das antikisierende Vorstellungsinventar der Goldenen Zeit berufen, die freie Spontaneität und Verfügbarkeit der Natur, in der (V. 22ff.)31: Ceres, das Getreide von selbst wächst, Bacchus, der Wein von selbst wächst, und das reine Gold wächst.
Anakreontische Lyrik berührt sich des öfteren wie in diesem Gedicht mit der Topik der Renaissance-Bukolik. Doch der anakreontische Autor bleibt im allgemeinen sprechendes Dichter-Ich. Jedenfalls bewegt er sich nicht in der Maskerade des barocken Schäferkostüms, das von neuem nicht mehr die ungezügelte Freiheit Arkadiens, sondern harmonistische, vom »Primat der Conduite« beherrschte Ordnungsbilder menschlichen Zusammenlebens zu entwickeln hatte' 2 . Das lyrische Ego versteht sich zwar als Rollenfigur (bei Barth zumeist, jedoch nicht in allen Gedichten unter dem Namen »Rosillus«), nicht aber als bukolische Allegorie. Störende Wirklichkeit wird zwar nicht dargestellt, aber in direkter Widerrede oder in der traurigen Geste des Abschieds benannt bzw. assoziiert. Gerade beim frühen Barth zeigt sich der individualistische Grundzug der späthumanistischen Anakreontik in Deutschland. In der Symbolwelt der erotischen Intimität ist zugleich die regulierende Disqualifizierung einer nur privaten, musisch-gelehrten Existenz abgewiesen 3 '. Dieser poetische Entwurf 31
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Neben Tibull hat auch Properz erotische Ungebundenheit mit den Bildern des Goldenen Zeitalters kombiniert: vgl. Schlaffer (s. Anm. 36), S. 46ff. Susius nennt zusätzlich das »purum aurum« und damit die aktuelle Gewalt, die das Traumglück arkadischer Frühe zerstört. Zu den hier nur anzudeutenden bewußtseinsgeschichtlichen Zusammenhängen der »aurea aetas«-Topik vgl. Kühlmann (s. Anm. 7), S. 136-165. Dazu - im Hinblick auf die Übergänge von der Renaissance-Bukolik zum Schäferroman des 17. Jahrhunderts - vor allem Erich Köhler: Absolutismus und Schäferroman: Honore d ' U r f e s »Astree«, in: Europäische Bukolik und Georgik, hrsg. von Klaus Garber, Darmstadt 1976 (Wege der Forschung, Bd. CCCLV), S. 266-270, sowie Conrad Wiedemann: Heroisch-Schäferlich-Geistlich. Zu einem möglichen Systemzusammenhang barocker Rollenhaltung, in: Schäferdichtung [...], hrsg. von Wilhelm Voßkamp, Hamburg 1977 (Dokumente des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur, Bd. 4), S. 9 6 - 1 2 2 , hier S. 112: »Wo nämlich Subjektivität als das »moi haissable« unter Verdikt steht, kann Freiheit des Menschen nicht [...] Freiheit zu sich, zu seiner Eigenart, seiner Natur sein, sondern nur Freiheit von sich, von seiner unberechenbaren Naturveranlagung, - und das heißt: Freiheit zur Form, zur Rolle. Daß solche Freiheit in der Schäferdichtung geradezu zelebriert wird, ist offensichtlich.« Sie wurde nicht nur im »Lob des Landlebens« gefeiert, sondern auch in zahlreichen Gedichten, die das Beisich-Sein des Ich als Preis der eigenen »Musen«, des vertrauten, häuslich-privaten Umgangs mit den antiken Dichtern, beschreiben. Musische Existenz bedeutet hier fast immer abwehrendes Rückzugsverhalten: humanistische Dichtung gerade in der sprachlichen Isolation des Lateins hat beglückende und kompensative Wirkung. So ζ. B. sehr deutlich in einem Gedicht von Daniel Heinsius: Poemata [...] Editio quarta, Leiden 1613, S. 514-516: »...Scilicet hos [nämlich die antiken Dichter, dabei auch Anacreon] cives habet Heinsius: Heinsius illic / C u m placidis Musis regna beata tenet.«
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einer von Kirche und Staat beargwöhnten hedonistischen Subjektivität findet - bei Taubmann und Barth vor allem - seine stilistische Entsprechung in der manieristischen Befreiung von klassizistischen Formkonventionen und Maßhalteforderungen. Barths Gedichte vernachlässigen logisch-argumentative Strukturierung zugunsten reiner Klangwirkungen, hervorgerufen durch gehäufte Diminutive und alle Möglichkeiten insistierenden Nennens, durch die Massierung von Anapher, Anadiplosis, polysyndetischer Reihen und Assonanzen 34 . Im Begriff des Spiels (lusus) ist nicht nur das Uneigentliche der evozierten poetischen Wirklichkeit gemeint, sondern auch der selbstverliebte Umgang mit einer Sprache, die gegebene Muster originell - auch unter Verwendung von Neologismen und Archaismen - genußvoll zu überbieten suchte. Barths mehrfach bezeugter Affekt gegen den Schulhumanismus paßt zu seiner stilistisch und gedanklich libertären Attitüde 1 '.
Freilich, im Feld der anakreontischen Lyrik selbst ließ sich um 1600 ein geistiger Umschwung beobachten, der auch in der Biographie so mancher Autoren der Spätrenaissance (z.B. eines Tasso, Donne u.a.) epochale mentale Veränderungen ankündigte 36 . Die Anakreontik, Produkt einer immerhin gerade möglich erscheinenden deutschen Spätrenaissance, geriet teilweise in den Sog der Christianisierung, in dem die latenten Momente epikureischer Weltfreude endgültig getilgt wurden 37 . Daß der Jesuit Susius, dem Verdikt des Pontanus 34
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37
Vgl. die Beispiele bei Schroeter (s. Anm. 19), bes. S. 298ff.; ferner die im Textanhang von Karl Otto Conrady abgedruckten Gedichte (von Barth, Taubmann und Zuberus): Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts, Bonn 1962 (Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur, Bd. 4); hier auch (S. 128ff.) zum Stilcharakter des »insistierenden Nennens«. Dazu Kühlmann (s. Anm. 7), S. 255-262 (hier auch zu Barths Reaktion auf Fischart). Vgl. Tibor Klaniczay: Renaissance und Manierismus [...], Berlin (Ost) 1977, bes. S. 79-133 (»Die Krise der Renaissance und der Manierismus«); Barths vielerwähnte Misanthropie entspricht der melancholischen Verunsicherung vieler Intellektueller seiner Zeit. Zur Kontinuität der Auseinandersetzung zwischen der reformatorischen Orthodoxie und dem latenten »Epikureismus« der humanistischen Dichter vgl. Jan-Dirk Müller: Zum Verhältnis von Reformation und Renaissance in der deutschen Literatur des 16. Jahrhunderts, in: Renaissance und Reformation. Gegensätze und Gemeinsamkeiten, hrsg. von August Buck, Wiesbaden 1984 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung, Bd. 5), S. 227-253: bezeichnenderweise wurde Barth von der Kanzel als »Atheist« verschrieen. Seine Eigenständigkeit als Dichter wurde wohl auch ermöglicht durch seine materiell unabhängige Existenz (als Gutsbesitzer und Privatgelehrter) und seine - im Unterschied zu den meisten anderen deutschen Neulateinern - fehlende Bindung an ein akademisches, kirchliches oder staatliches Amt. Im 18. Jahrhundert fand man vor allem bei Gleim freigeisterische Tendenzen (s. Pereis [s. Anm. 10], S. 92ff., 129ff.).
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folgend, die Schilderung erotischer Liebeserfüllung vermeidet, ist konsequent. Der erotische Aspekt wird auf eine zarte Geste reduziert, mit der der schöne Hals der Geliebten bekränzt wird (T 6, V. 30ff.). Doch die »bella puella« heißt Maria. Hier wird eine Möglichkeit der christlichen Assimilation anakreontischen Dichtens gewiesen. Der Weg dahin führt nicht nur über eine thematische Auswechslung der Inhalte, sondern auch über eine Adaption der anakreontischen Gefühlssprache an den Sinnbezirk des religiösen Lebens und die personalen Objekte christlicher Frömmigkeit. Dies wäre z.B. bei den Jesuiten Pontanus, Masen und Balde weiter zu verfolgen 18 . Die parodistische Christianisierung Anakreons, der so das Schicksal eines Martial, Terenz und Horaz erleidet, versteht sich als seriöse Textverarbeitung39. Sie stellt sich dem Gebot humanistischer imitatio und profitiert vom ästhetischen Reiz der antiken Vorlagen, deren Beherrschung der Parodist signalisiert, die jedoch dem eigenen Aussagewillen dienstbar gemacht werden. Ein Gedicht des in Schleswig-Holstein lebenden Pastors Guilielmus Alardus (1572-1645, Sproß einer bekannten Humanistenfamilie), illustriert Technik und geistige Zielrichtung des Verfahrens (Τ 7)40. Vorlage ist das erste Anacreonteum, das Alard wahrscheinlich in der lateinischen Übersetzung des Lubinus (T 8) benutzt hat. Ein Vergleich beider Gedichte, der hier nur ansatzweise durchgeführt werden soll, zeigt deutlich, wie Alard den sinntragenden Gedanken seiner Vorlage übernimmt: die Absage an die hohe Dichtung zusammen mit der Distanzierung von Krieg und Gewalt. V. 1 - 2 Anakreons werden in V. 1-4 zitiert und zugleich in rhetorischer Paraphrase amplifiziert. Die Namen des antiken Mythos (Atriden, Cadmus) sind freilich vermieden, die Kongruenz zwischen heroischem Gegenstandsbereich und epischer Dichtung wird durch ein gelehrtes Zitat aus den Annalen des Ennius (»Taratantara«) bekundet.41 Wiederholt wird der doppelte Anlauf des Gedankens im Zitat der »Herculis labores« (T 8, V. 7 - Τ 7, V. 19/20, 24). Der Dichter spricht den Gebildeten an, der diese Feinheiten
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Vgl. zur religiösen Anakreontik Herbert Zeman: Die Entfaltung der deutschen anakreontischen Dichtung des 17. Jahrhunderts an den Universitäten und ihre Wirkung im städtischen Lebensbereich, in: Stadt - Schule - Universität - Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhunden, hrsg. von Albrecht Schöne, München 1976. S. 396-409, bes. 404^107; Joseph Bielmann: Die Lyrik des Jacobus Pontanus S. J., in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 4 (1929), S. 83-102; zu Balde s. Breuer (s. Anm. 5), S. 266ff. Grundsätzlich zu Geschichte und Verfahren der humanistischen Parodie Eckart Schäfer: Deutscher Horaz. Conrad Celtis - Georg Fabricius - Paul Melissus - Jacob Balde. Die Nachwirkung des Horaz in der neulateinischen Dichtung Deutschlands, Wiesbaden 1976. bes. S. 92ff. und 157ff.; Theodor Verweyen - Gunther Witting: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur, Darmstadt 1979, bes. S. 22ff. und 118ff. Zur Person vgl. den Artikel sub verbo (von Nicoline Still) in: Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon, hrsg. von Olaf Klose und Eva Rudolph, Neumünster 1970ff., hier Bd. II (1971). S. 2 6 - 2 8 sowie - nach wie vor unübertroffen - J. Moller: Cimbria Litterata, 3 Bde., Kopenhagen 1744, hier Bd. I. S. 4 - 7 . Ennius frgm. 43 (Poetarum R o m a n o r u m Veterum Reliquiae, ed. E. Diehl, Bonn 1911).
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variierter Bezugnahme zu würdigen weiß. An die Stelle der dreifachen, jeweils nuancierten Zuwendung Anacreons zum poetischen »amor« tritt - ebenfalls dreifach herausgehoben (V. 7 , 2 2 , 3 1 ) - der Entschluß zu christlicher Dichtung, die im Namen »Jesus« ihr eigenes Programm findet. Dieser Programmwechsel wird durch ein vorgestelltes Zitat erläutert, damit aber zugleich ein eigener Traditionsraum der christlichen Poesie berufen. Die Verse Alards sollen die Forderung des Bernhard von Clairvaux erfüllen: »Wenn Du schreibst, schmeckt es mir nicht, wenn ich dort nicht den Namen Jesus lese.«42 Die gedankliche Wendung entspricht dem formgeschichtlichen Rückgriff auf altchristliche Dichtung, hier in Gestalt eines passenden Appells aus dem Cathemerion Uber, dem Tagesliederbuch des Aurelius Prudentius (gest. nach 405 n.Chr.)4'1. In Alards Parodie bleiben nicht nur die anakreontische Form und das Gedankengerüst des Gedichts erhalten. Die niedrige Stilebene und bewußte Musikalität des »carmen dulce« und »suave« dienen weiterhin dem Aussagebedürfnis privater Intimität. Doch diese ist nicht mehr die einer phantasiehaften Erfüllung sinnlicher Körperlichkeit, sondern die einer persönlichen Frömmigkeit und mystisch beeinflußten Erbauung, wie in der Berufung auf Bernhard angedeutet. In die individuelle Liebe zu Jesus kann das Potential an Formeln der Zärtlichkeit und jener Gestus der Weltabkehr übertragen werden, wie sie Alard und seine Zeitgenossen in der anakreontischen Textüberlieferung vorfanden. Auch Barth hat sich mit der vorhumanistisch-christlichen Dichtung beschäftigt, gerade hier auch - in der Kunst der Reime und Assonanzen - Anregungen für sein eigenes Schaffen gefunden 44 . Doch der Dichter, der dem als barbarisch verschrieenen Zeitalter nicht ohne Vorbehalte begegnete, jedenfalls als libertinistischer Verkünder aller Spielarten der erotischen Grazie begann, wandte sich in seinem Deutschen Phoenix (1626) schließlich frommer deutschsprachiger Lehrdichtung zu. Sein kurz vorher (1623) erschienener Anacreon
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Bernhard v. Clairvaux (Bernhardus Claravallensis): »Sermon. 15. in Cantic.« - so Alards Stellennachweis z u m gleichen Zitat in seiner zweiten großen S a m m l u n g geistlicher Anakreonteen (Excubiarum Piarum Centuria, Frankfurt 1607, hier S. 25). Z u m Charakter der christlichen Poesie bei Prudentius (mit Nachweis der Forschungsliteratur) vgl. Klaus Thraede: Studien zu Sprache und Stil des Prudentius. Göttingen 1965 (Hypomnemata, H. 13). Das Zitat: Beginn des »Hymnus Omnis Horae«, Nr. IX: Prudence, Tome I, ed. M. Lavarenne. Paris 1943. S. 49. Vgl. z.B. Barths Ausführungen zu dem Hildebert von Lavardin zugeschriebenen lateinischen Trojagedicht in: Adversariorum Commentariorum Libri Sexaginta, Frankfurt 1648, Lib. XXXI. cap. VII, S. 143 Iff. (»Rhythmum apud Graecos in carmine absolutissimarum elegantiarum aperte affectavit Anacreon. Q u e m secütos non paucos Latinorum arbitror, quorum nunc scripta funditus perierunt, pauca praeter fragmenta [...] Sed consonantium syllabarum in fine versuum nos hic Rhythmum appellamus.«) Daß sich in puncto »Rhythmus« (hier als »Reim«) auch Affinitäten zwischen anakreontischer - lateinischer und muttersprachlicher Lieddichtung entdecken ließen, liegt auf der Hand. Eine vergleichende Studie zu den Anlehnungs- und Rivalitätsverhältnissen wäre nützlich wie auch die noch ausstehende Untersuchung der Rezeption der christlich-mittelalterlichen Literatur bei Barth und im späthumanistischen Schrifttum überhaupt.
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Philosophus4>
ist ein fesselndes Zeugnis für die Veränderung literarischer Sinnhorizonte im Zeichen eines offenbar reaktivierbaren bzw. neuerlich überzeugenden anthropologischen Pessimismus, einer in Melancholie umschlagenden Konfrontation mit den lastenden Krisensymptomen der Zeit. Die Botschaft lustvoller humanitas war für den älter werdenden Dichter jedenfalls nicht mehr zeitgemäß. Nicht mehr Amor war nun der Meister des guten Lebens, sondern der Schmerz, der unbewegliche Tyrann: so lauten die ersten Verse eines kleinen Auszugs aus dem epische Ausmaße erreichenden lyrischen Monolog (T 9). Die Überzeugung, daß gemäß der christlichen Erlösungsbotschaft das Heil des Menschen im Leiden zu finden sei - die zentrale Denkfigur, wie W. Mauser nachgewiesen hat46, des christlichen Barockheroismus - findet hier ihren meditativen, von Trauer umsäumten Widerhall: Alles, was Du siehst in dieser letzten Welt, und alles Unsichtbare, was Du mit der Vernunft erfaßt, ist alles, alles zusammen, zusammen alles, alles zusammen, ist und bleibt Dein Feind. Mensch, und Dein Tyrann. (V. 17-24).
Wo vanitas-Gedanken (bei Barth nun häufig) bemüht wurden, konnte anakreontische Dichtung nicht ungebrochen fortgeschrieben werden. Daß der Name des Sängers aus Teos in den repräsentativen Poetiken des 17. Jahrhunderts nur am Rande auftaucht, hängt ohne Zweifel mit dem anarchischen Charakter seiner Dichterwelt zusammen, die sich repräsentativem Ordnungswillen nicht integrieren ließ, hängt vielleicht auch zusammen mit der manieristisch-hypertrophen Form anakreontischer Lyrik, wie sie Barth und Taubmann vorgelegt hatten. Freilich, vor allem Zesen und Schirmer bemühten sich - wie früher schon Weckherlin - auch um die Eindeutschung der anakreontischen Überlieferung 47 . Im bürgerlichen Gesellschaftslied, dort, wo sich in Städten, an Universitäten, sangbare Lyrik im festen Umkreis begrenzter sozialer Gruppen entfaltete, blieb auch, sei es denn in erkennbarer Kompensation moralistischer Konformitätszwänge, der latent libertinistische Individualismus der anakreontischen Dichterrolle abrufbar und akzeptiert48. Die Absage an alle Formen des 45
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Dünnhaupt (s. Anm. 19), Nr. 211: das Werk erschien 1655 noch einmal (wohl verändert, mir nur aus Zeman (s. Anm. 8), S. 322. bekannt; nicht zu entnehmen aus der Titelaufnahme bei Dünnhaupt, Nr. 21. la) unter dem Titel »Anacreon Theologus. Olim Philosophus«. In der Fassung von 1623 umfaßt das Gedicht 57 Seiten zu j e 32 Versen (!), ohne Zwischenüberschriften. jedoch in vierzeiligen Versgruppen graphisch untergliedert. S. Anm. 18, bes. S. 152ff. Zeman (s. Anm. 8 und 38), sowie (aufschlußreich für die Synthese von Einflüssen der verschiedenartigen Traditionen erotischer und geselliger Lyrik seit der Antike) auch ders.: Kaspar Stielers »Die geharnischte Venus«. Aspekte literaturwissenschaftlicher Deutung, in DVjS 48 (1974), S. 478-527; im einzelnen nach wie vor nützlich Helmut Lischner: Die Anakreontik in der deutschen weltlichen Lyrik des 17. Jahrhunderts, Diss. Breslau 1932;zu Zesen vgl. auch Ulrich Mache: Zesen als Poetiker, in: DVjS 41 (1967). S. 3 9 1 ^ 2 3 , bes. S. 407. Es ist bemerkenswert, daß gerade Anakreon zum »großen Lehrmeister« Johann Christian Günthers im Kreise seiner Leipziger Mitstudenten wurde: vgl. das Nachwort des Herausgebers zu J. Chr. Günther. Gesammelte Gedichte, hrsg. von Herbert Heckmann. München-Wien 1981. S. 428f.
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Heroismus und der Askese stand fürstenstaatlichem Ordnungswillen nicht zur Verfügung, gewann aber in der bürgerlichen Diesseitsfreude des 18. Jahrhunderts und ihrer ästhetischen Rehabilition von Sinnlichkeit gerade deshalb wohl neue Attraktivität. Wenn Heinz Schlaffer in seinem anregenden Buch über die Geschichte der Musa iocosa in Deutschland - »mangels Vorarbeiten«49 - die deutschen Neulateiner ausklammert, werden nicht nur historische Zusammenhänge ausgeblendet. Es wird auch eine bedenkenswerte epochenübergreifende Perspektive nicht verfolgt: Die Frage nämlich nach den formgeschichtlichen und literatursoziologischen Berührungspunkten anakreontischer Dichtung des späten 16. und frühen 18. Jahrhunderts. Enthalten in dieser Frage ist das Problem einer Kontinuität bzw. Affinität von deutscher Dichtung der Spätrenaissance und deutscher Dichtung der Aufklärung.
Textanhang 1. Aus: I. C. Scaliger: Poemcita. O. O. [Heidelberg] S. 472-525, hier S. 473
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1574:
Anacreontica,
Quis Anacreonta blandum Mihi quis senem elegantem suscitabit ad choreas Non elaboratum ad pedem? Age comites Lyaei Soluite iugum Camoenis, Vt amore liberali Repetamus illa prisca Concinendi mysteria: Nee pes cohibeat modos Qui citatur ad choreas. Satis inelyti Lyaei est Animus calore vinetus. Tetrica hinc facesse Musa. Claudicare mi iueundum Titubante gressu fari.
Schlaffer (s. Anm. 25), S. 8. D e m Leser von Schlaffers Werk wird klar, wie viele seiner Ergebnisse und Thesen (z.B. zur Begründung der antiheroischen Welt. S. 87ff.; zum »scherzhaften Stil«. S. 124ff.) bereits mögliche Grundpositionen der humanistischen »musa iocosa« und des damit zusammenhängenden bzw. koexistenten »Gesellschaftsliedes« vor 1700 benennen. D e m entspricht auch der Riickbezug auf Autoren des 17. Jahrhunderts bei Hagedorn (vgl. Pereis. wie Anm. 10. S. 40). Theodor Verweyen hat kritische und weiterführende Überlegungen zu Schlaffers Buch vorgelegt, welche die historische und philosophiegeschichtliche Einbettung der Rokoko-Anakreontik präzisieren (Emanzipation der Sinnlichkeit im Rokoko? [...] in: G R M 25. 1975, S. 276-306).
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Sat seruiuimus, seel non sat Lusimus, ludamus ergo, Cantillemus, & bibamus Basiemus basiemur. Precio libertas nullo Venditur, siquis grauatur. Nemo tenet hunc, abito. Numerosque mollicellos Flexuosus hie relinquat: Talis arcus est amoris. Tale caelum, talis aura. [...]
2. Ibid., S. 490
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Post exilia, post neces. Post seruitium, post fugam. Post praecipites minas. Post iras Genij mei, Anime mi, quid moraris? Absistere dolori. Abdicate te querelis, Desinere te macerare? Quin te ipsum resumis? Atque in gremio Pantheae, In nexibus eius comae Captiuus illi, tibi triumphare?
3. Aus: Tcirrcieus Hebius (d. i. Caspar von Barth): Amphitheatrum Gratiarum Libris XV, Anacreonte Modimperante constitutum. Hanau 1613, S. 6f. (Lib. I, XII)
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id
is
Anacreonta dium Hominem fuisse certum est. Non grandis illi vates Non Martius cluebat; Virtus, Homere, vestrae Sit caecitatis ista. Amabilem puellam, Laevi tenens lacerto est Prudenter osculatus. Ars artium haec suprema. Salve erudite vates, Apollinis magister. Te concinente Daphne Mansisset aut stetisset Hominis potita vultu. Apollo quod nequivit, Currensque cantitansque, Anacreon sine omni Queat ambitu osculando.
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4. Ibid., S. 37f. (Lib. III,
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Salta, puella, salta, Inebriare saltu. Z e n o n a quis vetantem Moratur, & boantem, Anacreon ubi hac stat? Salta, puella, salta, Inebriare saltu. Catona quis veretur Ubi Rosillus häc stat?
Ibid., S. 31 (Lib. III, X)
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In Elysi viretis Fui, Neaera, campi. Agitur quid, δ Rosille, In Elysi viretis Rogat Neara, campi? Regnum est piorum a m a n t u m Illic, Neaera, solum. Et amabiles Poetae Modimperant Choreis Anacreonte saltu. Durorum ibi severam Poenam est videre amantum. Ut nobileis puellae, Formositate in orbe Viventium superbae. Sine veste, cultu, ad imam Tonsae cutern usque semper, Torsere qua puellos, Crudelitate clament Sine morte se interire. Oppansa pars ad auras Torretur igne, subter Argenteo ambulante Rivo, sed ad fluentum C u m labra j a m propinquant Puellae anhelitantis Venti repente turbo Sursum elevat puellam Et invidet liquorem. Pars altera in supinum Mutata marmor adstat, Sed marmori illa secta est Ut sentiat flagellum Megaera quod coruscat. Pars prostituta porro Nigerrimis, ad Orcum Quotquot Syena mittit, Florem dat invidendum.
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Quem invidit heic Lepöri. Mustelae & hinc & illinc Loca foeta poena oberrant. Quid illae habent? rogabam. Sunt, inquiunt, puellae Nimis nimisque durae, Quae noluere quondam Quod foeminas decebat. Nunc ore parturire Nemesis jubet superbas. Quid caetera eloquar? sunt Horrenda, vita, dictu. Tu mitis esto nobis.
6. Aus: Nicola us Susius S../.: Opuscula Litteraria, Antwerpen S. 225: Anacreontaei Lusus, I: »Ad lambum«
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Iambe mi tenelle Venustule δ Iambe, Quem blaesulo fritinnit Anacreon susurro! Quam promptus obsequensque Olim mihi fuisti, Meum anteire nutum Pede aestuans volucri Per floridos Hymetti Saltus, thymumque, odorum. Qua garrulae pererrant Apes, domosque condunt, Penumque melle stipant: Frondosa perque Ternpe Amica regna veris. Et Chloridos cubile. Quae Peneus diserto Perambulat susurro: Perque insulas remotas, Sed insulas beatas. Qua blandiore caelo Ceresque sponte crescit, Bacchusque sponte crescit, Purumque crescit aurum. Quam saepe peruolaui Festiua prata tecum Et roscidas per herbas Venustulo repleui Manus sinusque flore, Queis Virgini corollare Bellissimam corollam Contexerem Mariae. Iam rursus hanc opellam
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Te flagito, δ I a m b e . Noli, p r o t e r u e , noli R e c a l c i t r a r e votis. Morose, quid renides? Nostrae hoc neges puellae, Sanctissimae puellae, Cultissimae puellae? C a u e , c a u e negare: N i m i s puella bella est.
7. Aus: Wilhelm Alarcl (Alardus): Turmae Sacrae sive Anacreon Latin us, idemque Christianus [...]. Leipzig 1624 [zuerst 1613], S. 163-65 ODE vi A d i m i t a t i o n e m A n a c r e o n t i s , o d a r i o p r i m o , q u o d inscribitur eis lyran. Prudent. Cathemerin. Da puer plectrum choreis Ut c a n a m fidelibus: Dulce carmen & melodum G e s t a Christi insignia: H u n c c a m a e n a nostra s o l u m P a n g a t . h u n c canat lyra. Berhardus. Si scribas, non sapit mihi, nisi legero ibi JESUM
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Martis cruenta pleno S o n a r e bella v e r s u C o n a b a r , a t q u e grandi Tenore classicorum Taratantara a e m u l a r i . S e d barbiti mihi u n u m Chordae sonare J E S U M Constanter appetebant, Et ista c l a s s i c o r u m Taratantara a b n u e b a n t . Mutare plectra pridem Nervös, lyramque totam J u b e b a t ille v a t u m Apollo praeses, atque A u d a c i o r e nisu. I n t e n t i o r e cantu. Et g r a n d i o r e plectro. Et l o n g i o r e versu Vel Herculis labores. Vel H e c t o r i s sonare.
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Sed usque & usque solum Nervi sonare JESUM Constanter appetebant. Et Herculis labores Cantare respuebant. Heroes ergo posthac, Valete; plectra nostrae Testudinis labores Negant sonare vestros: Nam barbiti mihi unum Chordae sonant JESUM.
8. Aus: Ei Ihard Lubinus: Anacreontis [...] quae restant carmina Rostock 1597, fol. A3
[...].
I De Lyra
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Volo sonare Atridas, Volo sonare Cadmum, Sed barbitus mihi unum Nervis refert amorem. Immuto fila nuper, Testudinemque totam: Et Herculis labores lam canto: sed lyra ista Contra sonat mi amores. Heroes ergo posthac Nobis valete: solos Lyra haec refert amores.
9. Aus: C. Barth: Soliloquiorum Rerum Divinarum Liber Primus. Anacreon Philosophus [S. 109-167], Frankfurt 1623, S. 114/115
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[...] Unus bonae Magister Dolor est fuitque vitae. Eritque porro semper, Immobilis Tyrannus. Incerta vita cum sit Certissimum istud unum est. Certas faceis Dolorum Dominari ubique rerum Quid vita jam putanda est Praeter gravem veternum. Quam nemo suscitare Praeter potest dolorem? [...]
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[...] Non est fuisse tanti Ut d u m vagi atque vani Sumus, o m n i u m Dolorum Exerceamur armis. Q u a e c u n q u e cernis orbern Per ultimum atque s u m m u m , Q u a e c u n q u e non videnda Ratione prendis usquam Sunt omnia, omnia una Una omnia, omnia una, Sunt & tui manebunt Höstes, homo, & tyranni. [...]
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Der vermaledeite Prometheus - Die antiparacelsistische Lyrik des Andreas Libavius und ihr historischer Kontext
Was sich anhand der um 1560 einsetzenden Editionswelle Paracelsischer und Pseudo-Paracelsischer Schriften verfolgen läßt und zunächst am Oberrhein mit den Namen eines Andreas von Bodenstein (1528-77),' Michael Toxites (1514-81) 2 und Gerhard Dorn (ca. 1530/35 - nach 1585)1 assoziiert werden muß, ist nichts Geringeres als das Entstehen einer wissenschaftlichen Bewegung, die bald auch in Schlesien4 sowie in weitgestreuten Urbanen wie höfischen Zentren, etwa seit Anfang der siebziger Jahre des 16. Jahrhunderts auch im Ausland, namentlich in Frankreich, kontroverse Debatten hervorrief. Soziales Kennzeichen dieser paracelsistischen Bewegung war ihre stände- und schichtenübergreifende Rekrutierungsenergie, die nicht nur das Interesse einiger Reichsfürsten und nicht weniger adeliger Potentaten erregte, sondern auch manche akademische Außenseiter unter den graduierten Medizinern, dazu Angehörige der praktischen Heilberufe, ja in wachsendem Maße auch naturkundlich bewegte Laien
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Zu Leben und Werk Bodensteins weiterführend, zugleich mit dem kommentierten Abdruck von vierundzwanzig seiner Vorreden zu Paracelsischen Editionen jetzt Kühlmann/Telle, Hrsg., Corpus Paracelsisticum, Bd. 1. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit, Bd. 59). - Zur Forschungsgeschichte und zum Forschungsstand ist immer heranzuziehen die sorgfältige. auch das europäische >Nachleben< des Paracelsus erfassende Bibliographie von Paulus (1997), ergänzend dazu nun der Sammelband mit Überblicksaufsätzen von Grell (Hrsg..1998). Zu Toxites zuletzt Kühlmann (1995). Dorns Lebensgang liegt weitgehend im Dunkeln; er studierte in Tübingen (Immatrikulation 1559). stand in Kontakt mit Bodenstein und Siderocrates (zu ihm s. Anm. 7), lebte am Oberrhein, zeitweise auch in Frankreich; seine Clavis totius philosophiae chymisticae sowie sein Uber de naturae luce mit einem Kapitel über die Physica Hermetis Trismegisti, dazu seine Congeries Paracelsicae Chemrae de transmutatione metallorwn sind abgedruckt im Theatrum Chemieum (Nachdr. 1981), Bd. 1. Zu Dorn maßgebend nun die Forschungen von Kahn (1994. 1998). Zum schlesisch-lausitzischen Paracelsistenkreis, darunter Johannes Huser (um 1545 - um 1600). Editor der ersten Gesamtausgabe der naturkundlichen Werke des Paracelsus (1589/91. Nachdr. 1971/3), ist nun auszugehen von Teile (1992) mit einem Teildruck der Huserschen Korrespondenz. Die Literatur zu den weiteren deutschen wie außerdeutschen Zentren des Paracelsismus ist angeführt in der Einleitung zu Kühlmann/Telle, Hrsg.. Corpus Paracelsisticum, Bd. 1.
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in ihren Bann zog. Medizinische, kosmologische wie anthropologische Demarkationslinien trennten den Paracelsismus in der Helle fortdauernder, zum Teil aggressiver Polemik von den Vertretern der Hochschuldisziplinen und den oft einem traditionalistischen Galenismus verhafteten Stadtärzten. Fast immer war diese Polemik begleitet von argumentativen Gesten einer eindeutigen Distanzierung auch gegenüber der obrigkeitlich akkreditierten Theologie. Indem der Paracelsismus im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts in Deutschland mit den älteren, auch den außerdeutschen Traditionen des neuplatonischen Hermetismus 5 verschmolz, konstituierte sich alternativ zum herrschenden Wissenschaftssystem und zu den konfessionalistischen Grabenkämpfen mit genau beobachteter, weil weitreichender Resonanz die intellektuelle Formation einer naturphilosophischen und sozialreformerischen Theosophie. 6 Sie fand samt ihren paracelsistischen Interpretamenten Anhänger unter den versprengten und verketzerten Schwenkfeldern, 7 spätestens um die Jahrhundertwende auch unter denen, die in Valentin Weigel (1533-88), einem eifrigen Paracelsus-Leser, 8 den epochalen Protagonisten einer mystisch-irenischen Frömmigkeit jenseits der postreformatorischen Deformation des >wahren< Christentums verehrten. Anstöße dieses in Gedankengängen der naturkundlich-hermetischen Theosophie verankerten Reformbegehrens sammelten sich, von Johann Arndt (1555-1521) aufgenommen," in der von Tübingen ausgehenden Rosenkreuzerbewegung um den jungen Valentin Andreae (1586-1654), 10 einer Bewegung, die sofort zahlreiche Federn aus dem Lager der Paracelsisten wie Antiparacelsisten in fieberhafte Aktivität versetzte und von den Antipoden der rosenkreuzerischen »Generalreformation« bis zum 18. Jahrhundert in ihren provokanten >Verirrungen< geradewegs auf Paracelsus zurückgeführt wurde.
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Zur historischen und diskursiven Kohärenz des Hernietismus und zum Stand der Forschung vgl. Kühlmann (1999). Zum Begriff - auch zur Abgrenzung vom Terminus >Pansophie< - mit Auswertung einschlägiger Quellen wertvoll Gilly (1977), bes. S. 86-92, dann weiterführend zur Formierung einer »Theophrastia Sancta« in Distanz zum Konfessionalismus ebenfalls Gilly (1994). Hervorzuheben ist der in Tübingen ausgebildete, auch mit Crollius befreundete Mediziner Samuel Siderocrates, d.i. S. Eisenmenger (1534-1585). zuletzt Leibarzt des Bischofs Marquard in Speyer. Siderocrates gab 1585 eine rabiate Cyclopaedia Paracelsica Christiana heraus (dazu im einzelnen Rhein.1995, sowie zu Leben und Werk auch Paulus, 1994. S. 35 lf.); zu seinen Schülern zählte der Schwenkfelder. Paracelsist und Chiliast Helisaeus Röslin (1544-1616); zu ihm s. Teile (zu Huser. 1992). S. 223f. sowie Gilly (1994), S. 439-446. Dazu im einzelnen die Arbeiten von Pfefferl (1988, 1994. 1995). Brieflich bekannte sich der junge Basler Medizinstudent (!) Arndt zu Paracelsus (dazu Schneider. 1991, 1995) und inserierte in seine überaus wirksamen und bis ins 19. Jahrhundert verbreiteten Vier Bücher vom Wahren Christentum Thesen und Formulierungen nicht nur von Paracelsus, sondern auch von Valentin Weigel (dazu Weber 1978). was erbitterte Federkriege auslöste, von denen auch der junge Andreae berührt wurde. Dazu im Überblick mit der Literatur Kühlmann (1996, 1998).
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Es zeichnete diese, hier nur andeutungsweise skizzierte Attraktivität, auch die publizistische wie sozialkritische Kontinuität des Paracelsismus in doxographischer Hinsicht aus, daß er in wechselnden Kombinationen und in synkretistischer Anlagerung und Neubesetzung älterer Theoriebestände experimentelle wie spekulative Anstrengungen sowohl der medizinischen und metallurgischen Alchemie in sich aufnahm, damit sogar die Kluft zwischen Hand- und Kopfarbeit zu überwinden suchte. Dergestalt usurpierte er den Namen einer »Philosophie«," die gegenüber den aristotelistisch dominierten Hochschuldisziplinen auch dadurch als durchaus >fortschrittlich< gelten sollte, daß sie ihren epistemologischen Neuansatz ebenso als Index der wissenschaftlichen Moderne, des angebrochenen historischen >KairosWiderlegung< der paracelsistischen Naturphilosophie besitzen wir ein herausragendes Dokument für die von Zeitgenossen beobachtete Verschmelzung des älteren Paracelsismus mit dem europäischen Hermetismus neuplatonischer Provenienz. Libavius wendet zunächst alle Energie darauf an, die biblische Semantik des Begriffes »Geist« (spiritus) auch im Rückgriff auf die Kirchenväter so von den Denk- und Redeweisen der weltweisen Philosophen (philosophi mundani) abzugrenzen, daß die platonisch-hermetische Theorieformation in eine Genealogie des ketzerischen Irrtums und der »blasphemischen«, ja »wahnsinnigen« Naturmagie verwandelt wird (S. 36):" Cognouimus enim spiritum qui ex Deo est. vt sciamus charismata eius spritualia, & sensum Christi. His rebus accommodantur & verba. Philosophi enim mundani suum habent loquendi modum; sed sapientia Dei longe alio vtitur sermone de quo Paulus agit. 1. Corinth. 2. vers. 1. Νon in sublimitate sermonis, aut sapientiae (Eloquentiae Oratoriae, aut Platonicae) non in persuasibilibus humanae sapientiae verbis, sed in osteiisione spiritus, & virtute. Ita & cap. 2. vers. 13. Hinc facile iudicari potest, quid sentiendum sit de Paracelsicorum Magorum praesumtione, qui cum aliquam voculam apud Pimandrum, vel Asclepium Hermetis, Platonem, Pythagoram, Aristotelem, Ciceronem, lamblichum, Proclum & similes inueniunt, consonantem vocabulis Spiritus Sancti. statim inde eliciunt mirifica mysteria. vt videre est in scriptis Agrippae, Marsilii Ficini, Tritemii, Pici. Pistorii, Crollii, & aliorum Magiae admiratorum.
Seitenweise werden häretische Theoreme vor allem aus Crollius' Basiüca-Vorrede zusammengetragen, pedantisch systematisiert und mit einem gewaltigen gelehrten Apparat zurückgewiesen. In den Mittelpunkt rücken dabei Kernfragen der Anthropologie, also der handlungsleitenden humanen Selbstverständigung, mithin die scharfsinnig durchschaute Abkehr der hermetischen Naturtheologie vom >postlapsarischen< Skeptizismus vor allem lutherischer Prägung. Auch die Auseinandersetzung um den Hermetismus vollzieht sich im Horizont der in zahlreichen Schriften (man denke nur an Jakob Böhmes Mysterium Magnuml) sichtbaren Neuinterpretation einer >Physica Mosaicaphilosophischen< Akkomodation der biblischen Schöpfungslehre. Libavius ent-
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in deutscher Sprache unterrichtet: Gegenbericht Von der Panacea Amwaldina/auff Georg vom Waldt davon aufgegangenen Bericht/ gestellet [...]. Frankfurt/M. 1595: zu Am Walds Leben und Werk maßgebend Müller-Jahncke (1994). Libavius. Examen, 1615. S. 36. Libavius' Briefe, darunter die an Schnitzer gerichteten, in der Cista Meclica (1625) abgedruckten, lassen Intention und Entstehung des Werkes verfolgen: vgl. dort etwaS. 168 (Nr. 59 vom 30. Oktober 1615): »Intramensemfortasse, si DEUS volet, sequentur exercitationes Paracelsicae ad Crollii admonitoriam; item examen Philosophiae Vitalis Johannis Hartmanni, & eorum, quae in fama fraternitatis de Rosea cruce habentur. Omnia in unum compacta, justi voluminis instar erunt, in quo, si unum displicet multa alia occurent & molestiam lenient. Paracelsici vero. quo oculi doleant, invenient.«
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deckte im Text Crolls und in den wahlverwandten Äußerungen der »magischen Paracelsisten« bereits auf den ersten Blick folgende »verabscheuungs würdige« Thesen (ich verkürze, paraphrasiere, ergänze und wähle aus):18 1. Der Mensch ist die Quintessenz der großen Welt (maior mundus). 2. Was der Mensch ist, läßt sich nicht in der Selbstreflexion, d. h. der geistlichen Introspektion des Menschen, sondern in der Betrachtung des Universums (maior mundus) erkennen. Denn in der substanzphilosophischen Kongruenz der »großen« und der »kleinen« Welt ist vorausgesetzt, daß der Mensch, indem er sich erkennt, alles, sogar Gott erkennt.' 9 3. Gegen Crolls Anlehnung auch an Pico della Mirandolas Rede De dignitate hominis40 und gegen das hermetische Diktum vom Menschen als dem »großen Wunder« (magnum miraculum) der Welt wird als gotteslästerlich angesehen, daß der Mensch aus dem »limus terrae« (»in Paracelsus' Verständnis«) und den himmlischen Sphaeren gebildet ist, Gott damit aber als »summus spagyrus« erscheint. 4. Demgemäß findet die Paracelsische Dreieinigkeit von Körper, Geist und Seele (Homo triunus)41 scharfe Ablehnung: Sie besagt, daß der Mensch seinem Körper nach aus den Elementen gebildet ist, jedoch zugleich über einen Sternengeist (spiritus sydereus) und einen Sternenkörper (corpus sydereum) verfügt, durch die er mit dem emanatistisch gedachten Ganzen der Welt zusammenhängt. Der christliche Begriff der von Gott eingehauchten Seele verschmilzt für Libavius mit Vorstellungen des geistigen Naturells und der humanen Intelligenz im Gesamtkonzept eines lebensphilosophischen Vitalismus (so ein Croll-Zitat unter anderen ausgezogen: ) »Spiritus & anima sunt vita corporis«. Diese »magische Empfehlung des Menschen (Magica hominis commendatio) und die platonisch-hermetische Verwandlung Gottes in eine naturmagische Instanz widerspricht in »wahnsinniger Blasphemie« dem »Mysterium der Menschwerdung Christi« und dem »Geheimnis der Erlösung«. Was Croll und seine geistigen Helfershelfer vorzutragen haben, immer wieder in Berufung auf die »deliramenta Hermetis« (S. 42), rückt insgesamt in das Dunkel einer »satanischen Lüge« (Sathanicum mendacium, S. 41).
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Ich übersetze und paraphrasiere im folgenden Formulierungen aus Libavius Examen, S. 3 6 - 4 2 . In diesen Punkten richtete sich de facto Libavius' Polemik auch gegen Valentin Weigel. spez. gegen dessen Schrift Gnothi seauton (zuerst handschriftlich um 1571. gedruckt Magdeburg 1615!), die nun in der maßgeblichen Ausgabe von Pfefferl (1996) vorliegt. VgL Kühlmann zu Croll (1992). S. 105f. Ganz ausklammern m u ß ich hier die theoalchemische, von d e m theosophischen Arzt Heinrich Khunrat (1560 - ca. 1605) und später wohl auch von dem in Gießen verurteilten Heinrich Nollius vertretene, die Paracelsische Kosmologie spiritualisierende Trinitätsspekulation; Zugänge zu Khunrath bietet der Artikel von Teile in Priesner/ Figala (Hrsg.. 1998). S. 194-196: zu Nollius (um 1590 - Anfang 1626?) s. Gilly (1994). S. 4 7 0 - 4 7 3 . im Zusammenhang ähnlicher hessischer Prozesse und mit der Auswertung der älteren Literatur.
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Diese Kurzparaphrase nur weniger Seiten des Libaviusschen Examen muß und kann hier wohl einen hinreichenden Eindruck jener antiparacelsischen und antiparacelsistischen Attacken geben, die sich innerhalb der Fraktionen des christlich-protestantischen Neofundamentalismus ausbreiteten. Gerade die Schriften eines Libavius sind als >Documenta Paracelsica< von unschätzbarem Wert, bezeugen sie doch ausgeprägte kulturpolitische Wahrnehmungsinteressen, hermeneutischen Scharfsinn, Differenzierungs- und Abgrenzungsenergie, mithin die Symptomatik einer nicht nur innerwissenschaftlichen Konfliktkonstellation, die sich in den Dokumenten der alten Federkriege oft sehr viel präziser ablesen läßt als in der Sicht späterer, nicht selten allzu vager Darstellungen und Zusammenfassungen. Libavius' streitbare gelehrte Kompendien zeichnen auch den geistigen Hintergrund jener lyrischen Texte, die im folgenden exemplarisch vorgestellt werden und die Personalunion des humanistischen Literaten mit dem rabiaten Verfechter der akademischen Naturkunde signieren.
Libavius' gesammelte Poemata Epicci, Lyrica, Similia< einläßlicher behandelt, bilden demgemäß das kontrastive Pendant zum literarischen Aktivismus mancher Paracelsisten.
Text 1 Ode XI. Vulcani morionum Paracelsi in coelo.
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Qvae morionum parturit greges caussa? Die ο Monarcha, & fabulantium prineeps? Crateras olim coelicos PLATO finxit. In quis remista & cocta animi prius moles. Astrum maniplis ingeratur, & stellis. Vnde auspicantum nascier fluant vitae Et creta terris corpora occupent mentes. Haec vera credendum sapienter imbuto. Sed quid fuisse Interpretern obsit argutum? Non aequa diuis est tributa sors stellis. Quaedam magistra fabricant animas arte: Quaedam imperite, aut oseitanter opus traetant. Perieulum artis pars facit in manus sumptae, Atque vngue tentat maehinam rudis primo, Ludentium domuneulas puellarum De more. Fiunt hine animae impares multum. Hine morio est rudium foetura tyronum Hem te magistrum fandi, et abdita serutandi. Si stulti ab astris prodeunt coquis, quis te est Vuleanus in terris malus arehitectatus?
Vgl. exemplarisch zu dem Straßburger Dichterarzt Johannes Nicolaus Furichius (1602-33) Kühlmann (1984). Zu Toxites' Preisgedicht auf Paracelsus im Zusammenhang des zeitgenössischen Antimon-Streits s. Kühlmann (1995).
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Textkritische
Hinweise
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Zu V. 1/2 Marginalie: Interrogans; zu V. 3/4 Marginalie: Paracelsus; zu V. 17/18 Marginalie: Interrogans - Die Marginalien werden als Sprecherinstanzen in die Übersetzung integriert. V. 6: Textvorlage: vitae. - Adskribierte Umlaute sind aufgelöst.
Übersetzung Der Narren feuriger Ursprung im Himmel des Paracelsus. Der Fragende: Welche Ursache läßt die Scharen von Narren entstehen? Sag an. ο du »Monarch« und Fürst der Fabelhänse! Paracelsus: Einst stellte sich Piaton vor, es gebe im Himmel Mischgefäße, in denen die Seelenmasse zuerst gemischt und gekocht werde, dann den Scharen der Himmelskörper und den Sternen einverleibt würden. Von dort aus fließe das Leben derer, die geboren zu werden sich anschicken, und die Geister würden (dann) die auf Erden erwachsenen Körper einnehmen. Daß dies wahr ist, muß der Glauben, der von Weisheit durchdrungen ist. Aber was sollte daran hindern, daß es einen scharfsinnigen Deuter (dieser These) gegeben hat? Nicht gleichmäßig ist das Geschick verteilt auf die göttlichen Gestirne. Manche stellen Seelen in meisterlicher Kunstfertigkeit her, manche behandeln das Werk ohne Erfahrung oder nur nachlässig. Ein Teil (der Sterne) nimmt ein Risiko auf sich, wenn es das künstliche Unterfangen in die Hand nimmt und noch ganz ungebildet im ersten Versuch sich an der >Maschine< abmüht - nach Art der kleinen Mädchen, die mit Puppenhäusern spielen. Deshalb entstehen oft ungleiche Seelen. Der Fragende: Deshalb (also) ist der Narr ein Erzeugnis ungebildeter Anfänger. Ach, du Meister der Verkündung und der Erforschung von Geheimnissen! Wenn die D u m m e n hervorgehen aus dem am Kochherd werkelnden Gestirnen, welcher böse Feuergeist hat (dann) dich auf Erden gebildet?
Das Gedicht, verfaßt in den schon bei Catull (etwa 22, 27, 39) für Schmähgedichte gern verwandten Hinkjamben, imaginiert ein kurzes Frage-und-AntwortSpiel. Paracelsus, beim selbstverliehenen und von Paracelsisten hochgehaltenen Ehrentitel des »Monarchen« aller Mediziner höhnisch angeredet, zugleich in der Anfrage dieses Ehrentitels beraubt und zum »Fürsten der Fabelhänse« degradiert, muß sich einer Frage stellen, die in theologischer Routine leicht als Folge des urmenschlichen Sündenfalls zu behandeln war, im Rahmen einer kryptomonistischen Naturphilosophie allerdings erhebliche Probleme aufwarf: der Frage nach den kausalen Veranlassungen der in Gestalt der »Narren«, der körperlichen und geistigen Mißbildungen, auftretenden Depravation der menschlichen Natur. Indem der fiktive Paracelsus sich selbst zum scharfsinnigen Interpreten (V. 9) Piatons macht, bezeichnet und denunziert Libavius wie in seinen gelehrten Kompendien die mißliebige geistige Deszendenz des natur-
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kundlichen Piatonismus. Bezeichnenderweise wird Piatons Timaios vorausgesetzt, das Grundbuch aller Theorien über die Weltseele, also den Inbegriffeines zwischen dem göttlichen Geist und der Materie vermittelnden kosmologischen Prinzips. Libavius zitiert verkürzend zunächst wörtlich aus Piatons vierzehntem Kapitel und bietet anschließend eine eigene Auslegung von Paracelsus' Traktat De Generatione Stultorum,45 also einem Teilkapitel der unvollendeten Philosophia Magna. Dessen menschenfreundliche Empfehlung, auch die »lunatici« und »stulti« zu achten, nur den »viehischen« Leib, nicht aber Geist und Seele des Menschen als Organ alles »Närrischen« anzusehen, die Folge von Adams Fall also abzumildern und die prinzipielle Gottebenbildlichkeit des Menschen auch im »Narren« zu retten, dies alles interessiert Libavius aus begreiflichen Gründen nicht. Anders übrigens Valentin Weigel, der in seinem Gnothi seauton (handschriftlich um 1571) ganz in Paracelsi Bahnen wandelte und dabei offenkundig auch des Hohenheimers Verteidigung der geistig oder körperlich >Behinderten< zu Wort kommen ließ:46 Es begibt sich offtmals, daß ein Khrimpl oder Narr geboren wirdt welicher von Nattur ist verderbt, d a r u m b wird er von den Vnwissenden veracht, auch verspotet f ü r einen Narren, aber wer da Khennet denn Menschen was er f u r ein geschöpf sey. der thuet diß nit, denn obschon der Etissßere Mensch von der Nattur verderbt ist. also daß daß Hauß oder leib nicht ist. wie es sein soll, so gehet doch der Seelen hierin nichts ab. die bleibet volkhummen, das eußere Hauß sey gleich wie es wolle, d a r u m b soll kein Mensch verachtet werden, daß Er nicht so schön, vnd formblich ist. wie andere, dann Jm Ewigen loben, wirdt Jhm soliches gar nicht schaden. Also soll man keinen Narren verachten, denn sein Nattierliher Siderischer thail ist nur ein Nar, vnnd nicht die Seele oder der Rechte Mensch. Es kombt offt daß das gestiern fehlt in der e m p f e n c k h n u s des Menschens vnnd wirdt also ein Narr geboren, der nicht so fuxlistig ist. wie die weit weisen, aber solhen solle man nicht verachten. Er hat in J m die vnuerruckhte vnd vnzerbrehliche Seelen, Weliche nicht vom gestiern Kompt, wie der Nattierliche Mensch sondern allezeit von Gott.
Libavius macht sich lustig über Paracelsus' astrale Anthropologie, indem er die im Uber de Vita Longa, in der Philosophia sagax und andernorts vorgetragene Vorstellung vom Miteinander siderischer Influenzen und elementarer materieller Substrate47 im Menschen aufgreift und parodistisch, wenn nicht alles täuscht, mit Erklärungsmustern des Paracelsi sehen Narrentraktats kontaminiert. Wir haben ( wofür auch der Hinweis auf die bewirkenden feurigen Kräfte der »Vulcani« spricht) wohl folgende Passagen des Paracelsischen Werks als hämisch transformierten Praetext des Gedichts anzusehen:48
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Benutzt und i m folgenden zitiert nach der Neuausgabe von Karl Sudhoff: Theophrast von Hohenheim. Sämtliche Werke, Bd. 14 (1933), S. 7 3 - 9 4 . Libavius konnte den Traktat in der Huserschen Gesamtausgabe lesen: Neundter Theil, Basel 1590, S. 2 7 - 4 4 ; frühere Drucke bzw. Teildrucke erschienen deutsch 1567 und lateinisch 1569; s. Sudhoff (1894/1958). S. 402 und passim. Ed. Pfefferl (1996). S. 67. Z u m Paracelsischen Theoriekomplex s. Pagel (1982), bes. S. 6 5 - 7 1 , 1 0 4 f . und 115-121. W i e A n m . 45, S. 7 9 - 8 1 .
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Damit ir aber wissen, wie die narren gemacht werden, so werden sie allein aus himlischen lerbuben u n d unerwachsenen meistern, und das in d e m weg. ir wisset, das ein meister, der sein arbeit arbeiten kan, sein bilt frei und wol schnizlet, ein steinhauer des gleichen aus dem stein gut arbeit macht, dan ein ieglicher ganzer meister verderbet an seiner arbeit nichts, nun aber, der meister wird aus dem jungen, der j u n g macht als lang, bis ers am lezten auch trift, u n d was er am ersten macht das gilt nichts, ist verderbet und ein arbeit deren man lachen muß, so man ir nasen, äugen, hals &c. sieht, nun wissen auf das, der mensch seet den menschen, aber er macht in nicht, der do seet, m u ß ein macher han. der baur seet den samen, aber das korn macht er nicht, also der mensch seet den menschen u n d der vulcanus macht in, und der vulcanus auch nicht, der vulcanus aber und der vatter. [...] Die meister werden nicht alt. So sie am besten seind und am basten können, so sterben sie, d r u m b seind f ü r u n d f ü r j u n g e meister, das macht vili der narren; dan es get behender zu mit irem erneuern, dan mit d e m mon. nun seind der vulcanen nit einer, sonder vil u n d ein ieglicher hat sein besondern hamer und schnizer, und (schnizet) im ein sonder bilt, das keiner dem andern gleich wird, dan do werden die menschen underschiden von einander, das ist ir kunst, die sie gebrauchen, nun folgt aus dem, das sie auch nit gleiche sinn geben, dan was nit kan gleiche form machen, kann auch nit gleiche sinn machen, drumb so werden do mancherlei formen, als vil f o r m e n , so vil auch der sinn.
Paracelsus also als monströser Fortsetzer und Ausleger des Platonischen Timaios, Paracelsus, der, indem er von der Ursache der »Narren« handelt, seine kosmologische Anthropologie ad absurdum führt und sich selbst zum Narren macht, ja in seiner großsprecherischen Forscherattitüde (V. 18) als Narr dekuvriert, auf diese Pointe zielt der in Verse gebrachte Angriff. Ein wenige Seiten vorher abgedrucktes Gedicht, in Geist und Form wohl von den Horazischen Epoden inspiriert,4'' ist an einen Mann gerichtet, mit dem Libavius als Rothenburger Stadtarzt und Schulinspektor gewiß engen dienstlichen und auch privaten Kontakt zu pflegen hatte. Christoph Marckart (4. Februar 1553 - 5. August 1612)50 besuchte die Lateinschule in Rothenburg, hatte auch eine Zeitlang in Tübingen (ohne Abschluß?) studiert (Immatrikulation 1569). Über Jahre hinweg war er Mitglied des Inneren Rats der Stadt, in den Jahren 1587, 1592, 1597, 1602 und 1609 auch Bürgermeister, also eine wohlreputierte Persönlichkeit, der Libavius in Sprache und Sache das Verständnis des Gedichtes wohl zutrauen konnte, zumal der Text sorgenvolle Gespräche über den >grassierenden< Paracelsismus vorauszusetzen scheint.
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Die Versbindung in Distichen, kombiniert je aus einem Hexameter und einem daktylischen katalektischen Tetrameter, entspricht Horazens E p o d e 12. Die folgenden Daten e n t n a h m ich einer freundlichen schriftlichen A u s k u n f t des Stadtarchivs Rothenburg o . d . T . (Frau Stadtarchivarin Hildegard Krösche).
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Text 2 Ode VII. Cineres paracelsici
restituti.
Ad Nobilisfsimum] virum Dfominum] Christophorum Marckardum Reipublficae] Rotembfurgensis] Consularem, & c.
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IApetioniden memorat facunda vetustas Lampade rapta homines meditatum. In corio AVREOLI rediisse Promethea credas. N a m q u e docet parilem sacer artem, Posthabitis thalamis de sanguine gignere patrum Ter geminum cupiens Polyphemum. In tenuem volucres corrupit ubi igne fauillam, Inde reseminat arte, fouetque. Et ne fors dubites; Iuuenescit hirundo quotannis; Et senium mala vipera ponit. Se recreat pariter Iouis armiger, assyriusque Post cineres iterat sua phoenix Secula: sic reuocat prunas in ligna per artem. In meliusque metalla Philippus, Ni Coelum tantis summotum molibus esset. Fingeret atque refingeret idem. Ipse etiam vinetos fugit cum Spiritus artus Altera fata sibi rapuisset Ni vetet, & cymbam declinet portitor orci, Sed tarnen euomita est mala pestis Cerbereo ritu fundens aconita nefanda, Hippocratique operata ruinam. Socratici lugete Dij, & discedite coelo. Conditor alter adest Paracelsus, Parcius ad vestras venient donaria sedes, Thuricremum decus is sibi poscit. Iiiita nam chartis ars est, quo semine surgant Corpora de tumulis rediuiua. Si catus ante obitum chymica putruisset in olla Atque in aquas resolutus abisset Ipse autor facti, & campas cinis ederet ortas Principium Aureoli Theophrasti, Dicta fides sequeretur, & aemula gloria diuum Concilio insereret Paracelsum; Sed male Phoebigenae cessit temerarius ausus: Quid meritum est scelerum caput istud? Rectius ο M A R C H A R D E sapis. Seruamur in aeuum Cunctipotente fauore TONANTIS.
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Textkritische
Hinweise
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V. 3: Textvorlage: promethea; V. 30: Textvorlage: abisset,; die adskribierten Umlaute sind wie das Kürzel für angehängtes »que« aufgelöst, Abkürzungen in eckigen Klammern ergänzt, »ß« erscheint als »ss«.
Übersetzung Paracelsische Asche - wiederbelebt. An den hochedlen Mann. Herrn Christopherus Marckardus, gewesenen Bürgermeister von Rothenburg usw. Eine uralte Sage berichtet, der Sohn des Iapetus habe aus Sorge um die Menschen das Feuer geraubt. In der Haut des Paracelsus, so soll man glauben, sei Prometheus wiedererstanden. Denn heiligmäßig lehrt er eine ähnliche Kunst, nämlich in dem Wunsch, ohne Ehegemach aus dem Blut der Ahnen einen dreimal zweifachen Polyphem zu erzeugen. Sobald er die Vögel mit Feuer in dünne Asche verwandelt hat. weckt er ihren Samen wieder zum Leben und hegt sie sorglich. Und, damit kein Zweifel herrscht: Jährlich gewinnt von neuem die Schwalbe ihre Jugend wieder, und die böse Viper legt ihr hohes Alter ab. Gleichermaßen erholt sich wieder der Waffenträger Iupiters (der Adler), und der assyrische Phoenix erneuert, in Asche verwandelt, wieder seine Lebenszeit: Kunstfertig verwandelt Philippus wieder in Holz die glühenden Kohlen und die Metalle in Besseres. Wenn der Himmel nicht solchen Massen unterworfen wäre, würde er auch ihn bilden und wieder von neuem bilden. Ja er selbst würde sich, wenn einst der Geist den gefesselten Gliedern entflohen ist, eine neue Lebens- und Schicksalszeit anmaßen, wenn nicht der Pförtner der Unterwelt dies verböte und den Unterweltskahn umkippen würde. Trotzdem aber ist die böse Seuche ausgekotzt, die nach Art des Cerberus ruchloses Gift um sich streut und dem Hippokrates den Untergang bereitet hat. Trauert, ihr Götter des Sokrates, und verschwindet vom Himmel. Ein neuer Schöpfer der Welt ist da - Paracelsus. Nur noch spärlich zu euren Sitzen werden Gaben gelangen, er selbst fordert für sich die Ehre des Weihrauchs. Denn auf (Papier-)Blätter ist eine Kunst geschmiert, durch deren Zeugungskraft sich die Körper wieder vergöttlicht aus den Gräbern erheben. (Selbst) wenn der schlaue Urheber (dieser) Tatsache vor seinem Tode in j e n e m chemischen Vorgang verfault und dahingegangen wäre, in Wasser aufgelöst, und das Prinzip des Aureolus Theophrastus, die Asche. Raupen entstehen lassen würde - seinen Worten würde treuer Glauben folgen, und wetteifernder R u h m würde Paracelsus in den Rat der Götter versetzen. Aber dem Sproß Apolls ging der verwegene Versuch übel aus. U m was hat sich verdient gemacht dies Oberhaupt der Verbrechen? Ο Marckard, Du weißt es besser. Für die Ewigkeit werden wir bewahrt allein durch die Gnade des allmächtigen Donners.
Paracelsus als »Prometheus« redivivus (V. 3f.), als Heilsbringer dem Titanen vergleichbar, der den Menschen das lebenerhaltende Feuer brachte, - Paracelsus als neuer, als rinascimentaler Gründungsheros (»conditor«, V. 24) einer alternativen >himmelstürmenden< (vgl. V. 15f.) Wissenschaft, das sind fiktive Stimmen von Paracelsisten, die Libavius in seinem Text zum parodistisch verzerrten Widerhall bringt und so den Hohenheimer wider die eigene Denuntiationsabsicht den Heroengestalten der Neuzeit gesellt. Bald darauf wurde Kopernikus im Anklang an den Kampf der Giganten gegen die himmlischen Götter gefeiert, und die großen Unbotmäßigen wie Pomponazzi, aber auch Literaten wie Julius
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Cäsar Scaliger - in seiner Sammlung Heroes - haben das Streben des Menschen nach Wissen und Macht in der Kunde des Prometheus symbolisiert.51 Libavius bekräftigt die Parodiesignale seines Textes im Darstellungsgestus einer neuen Lektüreerfahrung. Im Druck verbreitet, das heißt »auf Papier geschmiert« (V. 27f.) ist eine wahrhaft prometheisch-titanische »Kunst«, die Kunst, Lebendes von den Toten wiederauferstehen zu lassen. Libavius rezensiert in übersteigernder karikaturesker Verdichtung provokanter (Pseudo!-)Paracelsischer Theoreme und Exempel Teile des pseudoparacelsischen Buches De Natura rentmJ1 In der Tat präsentierte Paracelsus hier ein unerhörtes Unterfangen der neuzeitlichen Naturbeherrschung, nichts anderes nämlich als die Überwindung des Todes und des nur scheinbar naturgemäßen Verfalls der geschaffenen Dinge und Lebewesen. Stadien und Verfahren der Metalltransmutation werden referiert und bilden in der Gewißheit analogisch-prozessualer Korrespondenzen den diskursiven Hintergrund, vor dem Paracelsus zwischen »töten« und »sterben« unterscheidet, den göttlich vorherbestimmten, daher unvermeidlichen Tod absetzt von der Gewißheit einer »Resuscitation« des Abgestorbenen: 53 Nun aber damit wir auf unser fürnemen komen und mit exempeln und sonst genügsamer dartuung beweisen, das die mortificirten und tote Ding nicht tot und im tot müssen bleiben, sonder können und mögen widerumb resuscitirt und lebendig gemacht werden und solches von dem menschen, doch aus anweisung der natur. [...] Desgleichen sehent ir auch an allen tieren, die da nicht geboren werden, sonder aus der feule wachsen, und fliegen, so dieselbigen im wasser ertrenkt werden und gar kein leben mer an inen gesehen oder gefunden mag werden, und also tot bleiben und von inen selbs nimermer lebendig möchten werden, sobald man aber die mit salz besprenget und an heißen sonenschein oder hinder ein heißen ofen sezet. uberkomen sie widerumb ir vorig leben, das ist nun ir resuscitation; dan wo das nit geschehe, bliben sie tot.
Das Gedicht rückt die Argumentationsglieder des Praetextes zusammen, gruppiert Einzelnes um, spitzt Thesen zum Paradoxon zu und entfaltet so ein mit Exempeln gespicktes Tableau skandalöser Verkündigungen und blasphemischer Aspirationen. Eine Synopse exemplarischer Kongruenzen zeigt folgende Übernahmen praetextueller Formulierungen und Thesen in die polemische Faktur des Poems: V. 5f.: Vom Riesen Polyphem, seit Homer bekannt, ist bei Paracelsus nicht die Rede. Die mythische Figur assoziiert sich dem titanisch-antiolympischen Charakter des Paracelsischen Projekts, faßt dabei komplexere, hier ausgesparte Theoreme zusammen, in denen sich Paracelsus mit der Genese von »monstra« auseinander-
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Z u m Prometheus-Mythos in der Renaissance s. Buck (1968) sowie mit den Belegen zu den erwähnten Autoren Kühlmann (1979), S. 133. Benutzt und zitiert nach der Neuausgabe in der Paracelsus-Ausgabe von Sudhoff, Bd. 11 (1928), S. 307^103. Libavius konnte den Traktat in der Huserschen Paracelsus-Ausgabe, Sechster Theil. Basel 1590. S. 2 5 5 - 3 6 2 . lesen; frühere Drucke erschienen deutsch bzw. lateinisch zwischen 1572 und 1575; s. Sudhoff (1894/1958), S. 392 und passim. Ebd.. ed. Sudhoff, S. 346.
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setzt'4 und dabei Überlegungen zur kunstvoll-laborantischen Erzeugung lebender Wesen, darunter auch des berüchtigten »homunculus«, vorträgt. Die eher beiläufige Subsumierung auch der »risen« unter den Kreis jener Wesen und »wunderleute« wird von Libavius mit genuin literarischen Erinnerungen grundiert:55 So ist auch nicht minder das vit monstra under den tieren geboren werden und das seind nun ire monstra, die so nit von inen selber aus feulung wachsen, sonder durch kunst darzu gebracht werden in einem glas wie gemeldet ist worden, dan die selbig oft in gar mancherlei und wunderbarlicher gestalt und form erscheinen und schreklich anzusehen sind. Als oft mit vilen heuptern, mit vielen füssen, mit vilen schwenzen oder von vilen färben, etwan würm mit fisch schwenzen oder Hügeln und sonst seltzamer gestalt, dergleichen man zuvor nie gesehen, darumb alle die tier monstra sein die nit eitern haben und von andern tieren ires gleichen geboren werden, sonder aus andern dingen wachsen und geboren werden und durch kunst darzu gebracht werden. [...] Und wiewol solches bis anher dem natürlichen menschen ist verborgen gewesen, so ist es doch den silvestris und den nymphen und risen nicht verborgen, sondern vor langen zeiten offenbar gewesen, daher sie auch komen. dan aus solchen homonculis, so sie zu menlichem alter komen, werden risen, zwerglen und ander dergleichen große wunderleut, die zu einem großen Werkzeug und instrument gebraucht werden, die großen gewaltigen sig wider ire feint haben und alle heimlichen und verborgne ding wissen, die allen menschen sonst nicht möglich sein zuwissen. dan durch kunst uberkomen sie ir leben, durch kunst uberkomen sie leib, fleisch, bein und blut, durch kunst werden sie geboren, darumb so wirt inen die kunst eingeleibt und angeboren und dürfen es von niemants lernen, sonder man muß von inen lernen;
Zugleich wird im preziösen »Posthabitis thalamis« (V. 5) der axiomatische Ausgangspunkt der pseudoparacelsischen Generations-Theorie poetisiert:56 Es ist auch zu wissen, das also menschen mögen geboren werden one natürliche veter und mütter. das ist sie werden nit von weiblichem leib auf natürliche weis wie andere kinder geboren, sonder durch kunst und eines erfarnen spagirici geschiklikeit mag ein mensch wachsen und geboren werden, wie hernach wird angezeigt &c.
V. 6: Der Hinweis auf die wieder zum Leben erweckten Vögel faßt in wenigen Stichworten, durch andere Exempel wie die Schlange (V. 10), auch durch den in hermetischer Literatur vielberufenen, bisweilen als Prozeßallegorie verstandenen Vogel Phoenix (V. 13)57 ergänzt, einen Vortrag über »das höchst
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Dazu nun umfassend Ewinkel (1995). W i e A n m . 53, S. 315 und 317. Ebd. S. 313. Oft Hüllwort für den >lapis philosophorum< und damit für das Endprodukt des alchemischen Verwandlungsprozesses. Der namhafte Arztaichemist, glühende Paracelsist und Anhänger der Rosenkreuzer Michael Maier (1569-1622), als Fachschriftsteller höchst produktiv, veröffentliche 1622 in Rostock einen auf die ästhetische Symbolisierung der geheimen Weltharmonie und der alchemischen Transmutation zielenden, kunstvoll gebauten Gedichtzyklus mit dem Titel Cantilenae Intellectuales In Triades 9. Distinctae, De Phoenice redivivo, hoc est, Medicinarum omnium pretiosissima, (quae Mundi Epitome & Universi Speculum est [...]. Zur ersten Information s. den Artikel von Ulrich Neumann, in: Priesner/ Figala (Hrsg., 1998), S. 232-235.
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geheimnus und wunderwerk, das got dem tötlichen menschen geoffenbaret hat«, zusammen: 58 es ist auch darbei noch ein größeres zu wissen, nemlich so derselbit vogel lebendig in einem versigillirten Cucurbiten zu pulver und eschen gebrant mit dem driten grad des feurs, nachmals also verschlossen geputrificirt in der höchsten putrefaction ventre equino zu mucilaginischen phlegma, so mag nun weiters dieselbige mucilaginisch phlegma zum andern mal ausgebrütet und also ein renovirter und restaurirter vogel werden, so dise mucilaginische phlegma widerumb in sein ersten schalen oder heuslin verschlossen wird, das heißt die toten wider lebendig gemacht, die widergeburt und clarificirung, welches ein großes und hohes mirakel der natur ist. und nach disern proceß mögen alle lebendigen vögel getöt und wider lebendig gemacht, renovirt und restaurirt werden, das ist auch das höchst und größest magnale und mysterium dei, das höchst geheimnus und wunderwerk das got den tötlichen menschen geoffenbaret hat.
V. 13: Zusammengefaßt werden Thesen, in denen Paracelsus, die Stoffidentität von Holz und Steinkohle voraussetzend, die Verwandlung des Holzes zur Kohle mittels alchemischer Prozeduren, wie auch immer schwierig, rückgängig zu machen hofft: 59 Die resuscitation und restauration aber des holzes ist schwer und hart dahin zubringen, iedoch der natur möglich, mag aber one ein gar große fürsichtikeit und geschiklikeit nicht wol geschehen, wie es aber widerumb lebendig gemacht und zum grünen gebracht wird, geschieht fürnemlich auf dise meinung, das das holz welches zu kolen gebrant folgents zu aschen gebrant werde und in ein cucurbit getan mit resina, liquore und oleitet desselbigen baums oder holzes, alles gleich vil under einander und auf einer linden werme zerlassen, das gibt ein mucilaginische materi. und also hastu auch die drei prineipia beieinander, davon dan alles holz wechst und geboren wird und ist phlegma, feißte und aschen.
Bereits in seiner Alchemia von 1597 hatte sich Libavius seinen Zorn über die »Kloake« von Theorien ausgelassen, die »Magisches und Abergläubisches« in der Erzeugung eines »homunculus«, aber auch in der mittels »chymischer Putrifizierungen« erhofften >Palingenesie< von Tieren und Pflanzen ins Werk zu setzen versuchen/"1 Vor allem die Erzeugung chemischer Pflanzen aus Asche bildete, wie Joachim Teile dargelegt hat,61 eine cause celebre nicht nur alchemischer Didaxe und Probierarbeit, sondern auch des populären Schrifttums bis ins 18. Jahrhundert, ja vereinzelt noch in Erzählungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Libavius' Zeitgenossen wie Duchesne und Croll widmeten sich derartigen Projekten. Naturkundliche interessierte Schriftsteller wie Georg Philipp Harsdörffer (1607-58) oder der berühmte Jesuit Athanasius Kircher (1601-80), auch der Laborarbeiten eifrig hingegebene Pfarrer und Dichter Johann Rist (1607-67)
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W i e A n m . 53, S. 313. Wie Anm. 53, S. 348. Libavius, Alchemia, 1597, Neudr. 1964, Vorwort an den Leser, hier nach der deutschen Übersetzung spez. S. X V I f. Teile (1973). Hinweise auf die im folgenden genannten Autoren entnahm ich dieser Studie, wo auch die genauen Belegstellen samt einer Fülle analoger Rezeptionszeugnisse zu finden sind. Ich erspare mir im folgenden den Detailnachweis.
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bestätigten die Machbarkeit einer im Glaskolben zu erzeugenden mineralischen Vegetation. Bisweilen fungierte die Reduktion der Körper in ihre »ersten Prinzipien« und deren anschließende Transmutation in »neue Leiber« als Gleichnis menschlicher Wiederauferstehung am Ende der Welt. Johann Daniel Major zum Beispiel Schloß seinen Bericht über die Palingenesie von Lavendelpflanzen aus ihrer Asche, veröffentlicht in den Ephemeriden der Akademie deutscher Naturforscher (1677) mit den holprigen Versen:62 Die Lavendeln, so ich erst hab in A s c h ' und Salz verkehret. Schlagen mir in zweyen Gläsern frisch und grünend aus: Also wird einmahl den Leibern/ trotz d e m Moder. A s c h ' und Grauß/ Auch ein neuer Lebens-Trieb von des Höchsten Hand gewehret.
Die Reihe herausfordernder Paracelsischer Behauptungen des in Libavius' Gedicht eingefügten Lektüreferats suggeriert im Sinne einer blasphemischen Übersteigerung der Unsterblichkeitsansprüche eine Übertragung auf den Urheber der Ungeheuerlichkeiten (V. 5-22). Paracelsus rückt in die Rolle des Titanen ein, der die himmlischen Ordnungen umkehren möchte ( V. 15f.) Das Geflecht ironischer mythographischer Reminiszenzen verknüpft die Figur Polyphems mit der Geschichte mythischer Heroen, die sich, in diesem Fall nur vom Unterweltsfährmann Charon daran gehindert (V. 19), wie einst Herkules, eine Praefiguration Christi, der fatalen Endgültigkeit des Todes und der Hadesexistenz zu entziehen vermochten. Es ist der Humanist Libavius, der so seine poetische Schmährede gegen den Hohenheimer typologisch mit klassischen Figuren grundiert, ja schließlich die Paracelsische Lehre, immer im homerischen Anspielungsraum verbleibend, mit dem giftigen Geifer des Höllenhundes identifiziert ( V. 1), sogleich aber den mytho-theologischen Praetext in den wissenschaftshistorischen übergehen läßt. Manche Paracelsisten zögerten nicht, in ihrem Idol einen »neuen Hippokrates« zu verehren, Libavius bestätigt diese Huldigungsformel als wissenschaftshistorisches, als alarmierendes Faktum: Der Paracelsismus »hat Hippokrates den Untergang (ruina) bereitet« (V. 22). Der Wechsel der wissenschaftlichen Leitautoritäten präsentiert sich als Systemwechsel, als Ablösung der kritischen Rationalität, mythopoetisch symbolisiert in den »Göttern des Sokrates« (V. 23), zugunsten einer Apotheose (V. 34f.) des Hohenheimers. Libavius entdeckt im naturkundlichen Hermetismus einen Massenwahn, eine Orgie der Leichtgläubigkeit, die sich selbst durch sagenhafte Kunde von der imaginären chemischen Wiedergeburt des Paracelsus oder von der Verwandlung von Asche in Raupen ( V. 31 f. ) noch in allen Stadien adeptischer Verblendung bestätigen ließe. Paracelsus erscheint am Schluß als »Oberhaupt« und geistiger Anstifter von »Verbrechen« (V. 36) - nicht nur angreifbar als medizinisch zweifelhafter, ja verderbenbringender Therapeut und als abergläubischer Magier, sondern auch als dem Christentum
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Zitiert nach Teile (1973), S. 22f.
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abhanden gekommener Ketzer, gegen den ja spätestens seit Erastus auch die Obrigkeit zu Hilfe gerufen wurde. Deshalb endet das Poem in der korrigierenden Erinnerung an die gemeinsame Überzeugung des Autors und seines Adressaten, in der Gewißheit, daß allein Gott, hier in paganen Formel berufen, Unsterblichkeit gewähren könne. 0 Beide Gedichte geben einen recht genauen Eindruck von der aggressiven Intensität, mit der sich Libavius auf die Schriften des Hohenheimers und seiner Anhänger eingelassen hat. Von heute aus gesehen, in der Kontinuität der >new science >, die allerdings, blickt man auf die Masse der Publikationen, in Deutschland vorläufig noch eine allenfalls marginale Durchsetzungschance besaß, stand Libavius auf der Seite der stärkeren scientifischen Bataillone. Seine hämisch-hyperbolische Verwandlung des Paracelsus in den Prometheus einer neuen Wissenschaft signiert den Paracelsismus als kulturellen Faktor von außerordentlicher Breitenwirkung, zugleich noch im Nachhinein und noch im Widerstreit die Anerkennung eines Theoriezusammenhangs, in dem menschenfreundliche Hoffnungen, die überfällige wissenschaftliche und soziale >Transmutation< des gelehrten Betriebs, ja die theologische und anthropologische Revolte im Zwielicht des empirisch Unmöglichen entworfen worden waren.
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Ähnlich in den Briefen - wie Libavius an Schnitzer. Cista Medica (1625), Nr. VI. hier S. 19. vom 20. Januar 1600: »Transmutatio in essentiam spiritualem a morte sequetur. non quidem per chymicam essentiam quintam, sed virtutem sublimis dexterae DEI in excelsis.«
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Nachweise der verkürzt zitierten Literatur (unter Einschluß der Werkausgaben) Zu Libavius Cista Medica, qua in epistolae clarissimorum Germaniae medicorum, familiäres, et in re medica [...] utiles [...] asservantur. Ex posthuma Sigismund! Schnitzeri [...] communicata [...] a Joanne Hornung. Nürnberg [1625]. Debus, Allen G[eorge]: Guintherius, Libavius and Sennert: the chemical compromise in early modern medicine, in: ders. (Hrsg. ): Science, Medicine and Society in the Renaissance. Essays to honour Walter Pagel. 2 Bde. London 1972, hier Bd. 1,S. 151-166. Hannaway, Owen: Laboratory Design and the Aim of Science. Andreas Libavius versus Tycho Brahe, in: Isis 77 (1986), S. 585-610. Hubicki, Wlodzimierz: Libavius (or Libau), Andreas, in: Dictionary of Scientific Biography. Vol. 7. New York 1981, S. 309-312. Libavius, Andreas: Rerum chymicarum epistolica forma [...] liber secundus. Frankfurt/M. 1595. [Libavius, Andreas]: Die Alchemie des Andreas Libavius. Ein Lehrbuch der Chemie aus dem Jahre 1597. Zum ersten Mal in deutscher Übersetzung mit einem Bild- und Kommentarteil hrsg. vom Gmelin-Institut [... bearb. von Friedemann Rex]. Weinheim 1964. - Poemata Epica, Lyrica, & Elegiaca, cum Epigrammatibus nonnullis alicubi iηsertis. Frankfurt/M. 1602. - Examen Philosophiae Novae [...]. Frankfurt/M. 1615. - Gegenbericht Von der Panacea Amwaldina [...]. Frankfurt/M. 1615. - Wolmeinendes Bedencken/ Von der FAMA, vnd Confession der Brüderschafft deß RosenCreutzes/ eine VniuersalReformation/ vnd Vmbkehrung der ganzen Welt vor dem Jüngsten Tag/ zu einem jrdischen Paradeyß/ wie es Adam vor dem Fall inne gehabt/ vnd Restitution aller Künste vnd Weißheit/ als Adam nach dem Fall/ Enoch/ Salomon/ &c. gehabt haben/ betreffent. [...]. Frankfurt/M. 1616. Ludwig, Gottfried: Ehre des Hoch-Fürstlichen Casimiriani Academici in Coburg. 2 Bde. Bd. 1. Coburg 1725, S. 139-159 und passim, Bd. 2. Coburg 1729, S. 244-256. Moran, Bruce T.: Medicine, Alchemy, and the Control of Language: Andreas Libavius versus the Neoparacelsians, in: Grell (Hrsg., 1998), S. 135-150. - Libavius the Paracelsian?: monstrous novelties, institutions, and the norms of social virtue, in: Reading the Book of Nature, hrsg. von Allen G. Debus und Michael T. Walton. Kirksville, Miss. 1998, S. 45-66. Müller-Jahncke, Wolf-Dieter: Andreas Libavius im Lichte der Geschichte der Chemie, in: Jahrbuch der Coburger Landesstiftung 1972, S. 205-230. - Libavius, Libau, Andreas, in: Literaturlexikon, hrsg. von Walther Killy. Bd. 7. Gütersloh/München 1990, S. 262f.
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Da in Deutschland, abgesehen von Kasualfaszikeln, keine kompletten Zyklen von Figurengedichten erschienen, wurden Sinn und Zweck der >Bilderreime< nicht wie ζ. B. der ebenfalls von den Poetikern vernachlässigte Prosaroman in der Vorrede einschlägiger Publikationen behandelt. Wir müssen uns nach Italien wenden, um auf einen auktorial kommentierten Sammelband mit >carmina figurata< zu stoßen. Der Weg dorthin führt über die erwähnte Poetik Alsteds.
Daß sich Aisted so bemüht wie kein zweiter deutscher Literaturtheoretiker der Technopägnien annahm, hängt mit seiner aristotelischen Dichtungskonzeption zusammen. Zwar zitiert er die auch für die Dichtung gültigen rhetorischen Wirkungsziele, doch bleibt Poesie für ihn abbildungstheoretisch bestimmt:34 Poetica est ars veras, & nonnunquam erudite fictas rerum imagines atque picturas oculis subjiciens. (Poetisch ist die Kunst, wahre und manchmal auch auf gelehrte Weise fiktive Bilder und Gemälde der Dinge den Augen zu unterbreiten.)
Eine Symbiose von Wort- und Bildkunst war damit als mögliche Variante fiktionaler Mimesis legitimiert. Das »technopaegnium poeticum« wird freilich auch hier als kunstvolles Spiel auf metrischem Gebiet (»artificiosus in re metrica lusus«) umgrenzt, ein Spiel, das sich der Besonderheiten der Grammatik und Rhetorik, einer logischen Beziehung oder einer mathematischen Figur
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Ich benutze und zitiere im folgenden den bei Warnock/Folter: The G e r m a n Pattern Poem (wie Anm. 1), S. 44 abgedruckten Textauszug; vgl. zur Rolle des Figurengedichts bei den Pegnitzschäfern zusammenfassend Adler/Ernst: Text als Figur (wie Anm. 1), S. 154-167. Aisted: Encylopaedia (wie Anm. 15), S. 509.
Kunst als .Spiel
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annimmt. 1 ' Dieses Spiel ist - so Aisted - durch Simmias bereits in der Antike gepflegt worden, ihm kommt ein besonderer Nutzwert zu, nämlich die Übung der poetisch-sprachlichen »varietas« und, abgesehen davon, ein durchaus nicht geringes Vergnügen. Freilich erweist sich selbst für den gelehrten Enzyklopäden die Fülle der möglichen Spielphänomene offensichtlich als kaum systematisch klassifizierbar. Er nimmt deshalb Zuflucht zu einer alphabetisch geordneten Liste von sechzig Varietäten, wobei die einzelnen definitorischen Lemmata durch ζ. T. wieder jeweils kommentierte Beispiele der Antike, auch des christlichen Mittelalters und der lateinischen Moderne erläutert werden. Diese Liste umfaßt eine erstaunliche Fülle ausgesuchter Vers-, Reim- und Sprachoperationen, Logogriphen und textimmanenter Figurationen, überraschenderweise aber auch aktuelle Gattungen, die sonst nicht unter die Technopägnien subsumiert worden sind (pindarische Ode, Ecloge, Emblem). 36 Dreiundzwanzig Typen von Figurengedichten werden nicht zu einer abgeschlossenen Gruppe zusammengefaßt, vielmehr als besondere Species jeweils isoliert erläutert und großenteils auch abgebildet. Der Löwenanteil dieser Exempel entstammt einem beiläufig erwähnten Werk des Italieners Balthasar Bonifacius / Baidassare Bonifacio (1585-1659): Musarum Liber XXV. Urania ad Domini cum Molinum (Venedig 1628)." Bonifacius, ein Polyhistor, Rechtsgelehrter, später auch Archidiakon und Bischof, Mitglied mehrerer gelehrter Akademien, begann seinen Werdegang als Sekretär des in Deutschland wirkenden päpstlichen Nuntius und lehrte anschließend als >professor humanitatis< sowohl in Padua als auch an der kurzlebigen venezianischen Ritterakademie. Sieht man von den Nebentexten ab, besteht sein Werk
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Ibid.. S. 549: »Lusus ille respicit vel accidentia grammatica, vel affectionem logicam, vel figuram mathematicam.« Über die Wirkung der Alstedschen Poetik auf das spätere Anleitungsschrifttum liegen keine Erkenntnisse vor. Daß er selten erwähnt wird, hängt wohl auch mit seinem Calvinismus zusammen. Selbst das Technopägnie-Kapitel akzentuiert diesen konfessionspolitischen Standort durch die Auswahl der Belege und Autoritäten. Beachtenswert in dieser Hinsicht ist eine ohne Verfasserangabe gedruckte Textpyramide auf Heinrich IV. von Frankreich (S. 566). - Ein Indiz für die Lektüre Alsteds bei Harsdörffer ist vielleicht der Hinweis auf Lansius als Beleg für die Technik der versus vertumnales (Poetischer Trichter, Tl. I, wie Anm. 4, S. 51). Dieses Exempel wird von Aisted: Encyclopaedia (/wie Anm. 15), S. 565 abgedruckt. Exemplar HAB Wolfenbüttel Li 4° 30; zu Werk und Person vgl. den Artikel von L. Rossi in: Dictionario Biografico degli Italiani. Bd. 12. 1970, S. 192-193; daneben natürlich die bekannten älteren Gelehrtenlexica (Zedier. Jöcher, Ersch-Gruber, jeweils sub verbo) sowie die Notizen bei Mario Cosenza: Biographical and Bibliographical Dictionary of the Italian Humanists. 5 Bde. Boston 1962. hier Bd. I. S. 658-659. Zu Molino (Senator und »Helfer Scarpis«) vgl. die Bemerkungen bei Heinrich Kretschmayer: Geschichte Venedigs. Bd. 3. Stuttgart 1934, S. 112.120 (»einer der selbständigsten Geister der Zeit«). Im Werkverzeichnis Bonifacios - in seiner Hisloria Ludicra. Brüssel 1656 - ist eine 1622 (Datum der früheren Vorrede) erschienene Erstausgabe der Urania nicht genannt. Allerdings stammt aus diesem Jahr: Eleuthericon, Ad Dominicum Molinum Oratio, cui titulus Marmor, ad Laurentium Syriamim (mir bisher nicht zugänglich).
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CONVENIT«. H.L.AM
Abb. 1. Aus B. Bonifacio: Urania, 1628 (unpag.)
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nur aus Figurengedichten, zwanzig an der Zahl,38 alle geschrieben zum höheren Ruhm des im Titel genannten venezianischen Patriziers, eines »vir ingens, parens patriae, literarum patronus«. Aisted präsentiert (oder zitiert zumindest) den gesamten Bilderfundus des Italieners. Dieser läßt sich zum größten Teil bereits überblicken anhand der ersten Text-Bild-Figur (Abb. 1). Wir sehen ein kreisförmiges Gebilde (Mühlrad in Anspielung auf den Namen Molinus) aus drei konzentrischen Schriftbändern, unterbrochen durch acht gleichfalls beschriftete Speichen. Die Kreissektoren versammeln 14 der verbleibenden 19 gegenständlichen Vorlagen der folgenden Bildgedichte. In der Mitte findet sich, ebenfalls im Buchinnern (Nr. XIII) verbalisiert, die Kombination eines solaren Strahlenkranzes mit einer Schneckenfigur. Den panegyrischen Zweck des ehrgeizigen Werks erschließt der Leser aus der Huldigungsadresse der Schriftbänder (Text der beiden Kreise): »Moline, cui sacra faciunt uti Apollini Musae novem | Gens tua quae gentes fama super eminet omnes | si quot habet coelum sidera quotque deos.«3" (Molinus, dem die neun Musen wie einem Apoll ihr Opfer bringen, es ist Dein Geschlecht, das an Ruhm alle Geschlechter überragt, wenn der Himmel soviele Sterne und so viele Götter besitzt). Mehrere umfangreiche Textbeigaben (unpaginiert) erläutern die tragende Idee des Bandes und heben den panegyrischen Gesamtcharakter hervor. Es handelt sich dabei um eine neugefaßte Widmungsepistel (Treviso 1627) in Ergänzung zu einer wohl für die Erstausgabe geschriebenen Dedikation (Treviso 1622), die im Anhang abgedruckt ist. Dazu kommen neben diversen Gedichtbeigaben in Distichen oder Hexametern ein Schreiben an den Leser, ein Prosakommentar zu Figur Nr. XIX sowie ein nachgestellter Brief an Molinus (Prosa und Verse). Besondere Aufmerksamkeit verdient das Widmungsschreiben aus dem Jahre 1622; es appelliert an das kritische Urteilsvermögen des Gönners (»acerrimi iudicij viro«). Bonifacius bricht eine Lanze für die »licentia« seiner Urania, formuliert gegen die »severitas« derer, »qui nihil non exigunt ad amussim« (alles nach dem Lineal fordern), die Position dichterischer »Autonomie«. Der Poet - ich übersetze und paraphrasiere - ist frei und hat nur die eine Richtschnur, daß er sich von jeder Regel vorschrift befreit weiß, nur seinen eigenen Gesetzen gehorcht.40 Da die Freiheit für Dichter und Maler gilt, kann Bonifacius sich 3S
Nach der einleitenden »Rota Molinaea« folgende Figurenschemata: Turris, Clypeus Mucronatus, Columna, Talaria (geflügelte Fußsohle). Clepshydra, Fusus. Organum. Securis, Scala, Cor, Triptis, Chochlea, Solaris. Pileus. Spathaiion (Palmblatt als Schreibfeder), Rastrum. Amphora, Calix, Cubus, Serra in Zoilum. 3 " Ergänzend auf den Speichen: »Persimiles Diis | lumine fulget| solis eodem | una Rotarum | vestra Moline | dicere coelum | convenit illam | semideos fert.« Zu den für Textgraphiken dieser Art erforderlichen Leseverfahren (»permanente Rotation«) vgl. Ernst: Europäische Figurengedichte (wie Anm. 1). S. 79ff. * »Si enim ipsum etiam historicum esse autonomem oportere Lucianus existimat, quanto magis permittendum poetae. cuius multo, quam historici amplior, atque effusior potestas est, ut nullis aliorum, sed suis ipsius tantummodo legibus utatur? Tritum, ac pervulgatum
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doppelt legitimiert fühlen, >weil wir in diesem Werk Dichter und Maler sindcentaurischen< Kombinationen mit besonders gelehrtem Argumentationsaufwand. 42 Vor allem aber besteht er auf dem Primat der abgebildeten Dinge, das heißt auf dem Primat der optischen Umrisse. Sie sind Perlen (»gemmae«) und Embleme (»Emblemata«) zum Lob des Widmungsträgers. Als solche bedingen sie die Notwendigkeit (»necessitas«) der komplexen metrischen Fügungen. Bei dieser Apologie hat es Bonifacius nicht bewenden lassen, sondern in einem erst 1627 beigefügten Gedicht (Nr. XIX mit Prosakommentar) die Kombination eines klassischen Versschemas mit figuraler Gestaltung und bedeutungsvoller Wortakrobatik vorgeführt. Abgebildet wird ein perspektivisch gezeichneter Cubus, auf dessen Oberseite das Speichenrad des Einleitungsgedichts wiederkehrt, flankiert und bewegt von einer allegorischen Figur (nach dem Text wohl die »Dea Fatorum« darstellend). Der Text besteht aus Hexametern. Die erste und die letzte Silbe jeder Zeile sind typographisch durch Kapitale hervorgehoben. Die Folge dieser Silben läßt sich, worauf der Verfasser besonderen Wert legt, nicht nur als epigrammatische Verbindung von Stichworten, sondern als vollendete Rede (»perfecta oratio«) lesen: »Urbem heram facit magnam summa virtus summi viri cuius nomen orbe maius nullus capit cubus« (Die herrschaftliche Stadt macht groß die höchste Tugend eines
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est illud, - >Pictoribus, atque poetis | Quidlibet audendi semper fuit aequa potestas.< Nos vero duplo maiore facilitate uti poßumus, quod in hoc opere poetae simul pictores sumus. Sique. ut Naso discebat, >Exit in immensum facunda licentia Vatumlicentia poetica< in den deutschen Poetiken des 17. Jahrhunderts vgl. Ludwig Fischer: Gebundene Rede. Dichtung und Rhetorik in der literarischen Theorie des Barock in Deutschland. Tübingen 1968 (Studien zur deutschen Literatur 10), S. 95-98. Bonifacius zitiert Horaz: Ars Poetica V. 9 sowie Ovid: Amores 3, 12, 41. »Quemadmodum Scipio nunquam minus solitarius erat, quam cum solus esset; ita non nunquam magis laboriosi eßemus, quam cum feriaremur. Faceßat igitur Catoniana ista. atque importuna severitas. & sua permittat ingenijs laxamenta, suosque scriptoribus lusus indulgeat.« Unter anderem Verweis auf Aristoteles: Poetik. 1447b. Kap. 1, die gemischten Versmaße im Centauren des Chairemon.
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größten Mannes, dessen Namen, größer als der Erdkreis, kein Kubus faßt'. Indem so das panegyrische Fazit des Gesamtwerks noch einmal gezogen wird, hat Bonifatius seinem Bekunden nach etwas ganz Neues geschaffen, neu im Vergleich zu den Anagrammen der Antike, neu auch im Blick auf die >Erfinder< des carmen figuratum. Neu erscheint die Bewältigung einer unerhörten Schwierigkeit; das Spiel des Technopägniums setzt seine eigenen Regeln (»lex«) von Dichters Gnaden; es verknüpft so die spontane Erfindung des jeweiligen Kunstprinzips mit dem Ehrgeiz (»ambitio«), sich ebenso mit dem Sprachmaterial wie mit den Vorgängern zu messen. Prämie diese Spiels ist das gelungene Werk.43 Es wird hier zum Signum eines in Worte gefaßten artistischen und agonalen Bewußtseins; »Cuius rei difficultatem sentiet quicunque experiri volet; Ita enim prorsus fieri solet obluctando, & obnitendo reliquos excelluisse, omnes pulchrum putamus. Feci ego, aut tentavi saltern quod Virgilianus ille Acestes fecisse traditur.«44 (Die Schwierigkeit dieser Sache wird jeder bemerken, der es versuchen will; Denn nur durch hartes Ringen pflegt dies zu entstehen, und wir alle halten es für schön, andere durch Anstrengung hinter uns zu lassen). Es ist dies das Bekenntnis eines Manieristen, der sich bereits in der Grundidee der Urania nicht auf die bloße Addition von Figurentexten beschränken wollte.
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»Neque vero hactenus procecisse suffecit, neque hie sistendum nostra censuit ambitio; sed iuvit porro ire, & non modo molestiorem sibi carcerem instruere, quemadmodum dicebat Pythagoras, verum etiam bombycis more arctissimo sese involucro, & pericarpio circumcludere [...]. Nimirum ne levius in exitu operis. quam in ipso principio laboraße videmur [...]. Artificium priscis quidem adumbratum, atque inchoatum, nunquam tarnen ad hanc diem absolutum; cuius nomen, & paradigma extat apud Athenaeum. At illi veteres partim a scopo aberrarunt [...] Nos vero, cum nullus iactui nostro locus superesse videretur, ipsam certioris sagittae crenam praefigimus«. Bonifacius begründet also den »labor« des Technopaegniums im Argumentationsfeld der humanistischen aemulatio. Vgl. dazu Hans-Joachim Lange: Aemulatio veterum sive de optimo genere dicendi. Die Entstehung des Barockstils im XVI. Jahrhundert [...] Bern, Frankfurt/M. 1974 (Europäische Hochschulschriften. Reihe I. 99), S. 107-147. Der operational-technische Begriff des Technopägniums, assoziiert mit »labor«, motiviert durch »ambitio«, widerspricht nicht (s. die folgenden Zitate) einer apologetischen Dominante und ästhetisch-sozialen Abwertung des poetischen lusus. Der literarische Freiraum wurde so bereits in der Frühen Neuzeit gegen doktrinäre Zumutungen der etablierten Ästhetik (z.B. im Blick auf den Gradualismus der Gattungen) wie auch gegen einen moralistisch formulierten Konformitätsdruck abgesichert. Deshalb gehörte der Spielbegriff gerade zum Umfeld formal oder inhaltlich angreifbarer Schreib traditionell (Satire, Epigramm, Anakreontik); vgl. Wilhelm Kühlmann: Amor liberalis. Ästhetischer Lebensentwurf und Christianisierung der neulateinischen Anakreontik in der Ära des europäischen Späthumanismus. In: Das Ende der Renaissance (wie Anm. 26), S. 165-186, hier S. 168ff. Zur semantischen Differenzierung des Terminus >spielen< ist der Aufsatz von Herbert Blume heranzuziehen: Literarische Kommunikation - ein Spiel? In: Sprache und Pragmatik. Lunder Symposium 1984. Hrsg. von Inger Rosengren. Stockholm 1986 (Lunder germanistische Forschungen 53), S. 381-386 hilfreich (mit weiterer Literatur). Das Technopägnium entspricht der hier explizierten Bedeutung >Spiel nach Regelnex negatione< rückübersetzt. Aisted übrigens hat diese Figur bewußt oder in nur flüchtiger Lesung mißverstanden. Er brachte sie unter der Überschrift: »Fusus poeticum admonet de meditatione mortis«.47 Wir können also feststellen: Mit der kompletten Übernahme des Bildarsenals aus der Urania des Bonifacius vermittelte Aisted dem deutschen und internationalen Publikum die Figurengedichte eines italienischen Manieristen und hat damit ohne Zweifel auf eine noch weiter zu erforschende Weise anregend gewirkt. Die einem geschlossenen Huldigungsprogramm gehorchende Sammlung wurde in der poetischen Enzyklopädie allerdings aufgelöst; dadurch ließen sich die isolierten Varianten von Bilderreimen als gesonderte Typen der Nachahmung empfehlen. Abgesehen von Mißverständnissen der Deutung, fehlte auch manches graphische Inventar, etwa Umriß und Sternensaum der Spindel. So blieb dem Leser unbekannt, daß Bonifacios Ehrgeiz sich auf Positionen manieristischer Kunstfreiheit berief, zugleich motiviert war von einer spezifischen Beziehung zu seinem Gönner und zur Stadt Venedig. Durch diese - gewiß noch
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A i s t e d : E n c y c l o p a e d i a (wie A n m . 15), S. 5 5 7 , Nr. X X V I .
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näher zu erhellende Beziehung - ergab sich eine paneyrische Schreibsituation, die Gesamtanlage, Begründung und Figurenexegese des Werkes bestimmte. Zweifellos wurde auch ein Großteil der späteren deutschen Figurengedichte in Analogie zu rein verbalen Kasualpoemen verfaßt. Bilderreime stellten eine virtuose Variante dieser Gelegenheitsdichtung dar, entsprungen einem Verlangen nach artistischer Selbstdarstellung und literarischer Novität. Wenn Magnus Daniel Omeis48 diese mittlerweile nicht mehr neue Spielform des Technopägniums als »Schulgalanterie« leicht abschätzig titulierte, traf er den mittlerweise in Mißkredit geratenen manieristischen Grundzug des Typus aus der Spätphase des Gelehrtenhumanismus. In dem Begriff schwang zugleich der ambivalente Ruf dieses Genres mit. Es setzte Gelehrsamkeit voraus, empfahl sich in seinen einfachen Varianten aber durch die »levitas« der Produktion. So konnten auch Literaten zweiten Ranges mit ihm ein mondänes Publikum ansprechen, das auf neue Weise unterhalten und mit einem unerwarteten ästhetischen Effekt überrascht werden wollte.
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Magnus Daniel Omeis: Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim-und DichtKunst. Nürnberg 1704. S. 128.
Militat omnis amans Petrarkistische Ovidimitatio und bürgerliches Epithalamion bei Martin Opitz
Für Martin Opitz ist eine zukünftige »deutsche Poeterey« nicht möglich, wenn der Dichter »in den griechischen vnd Lateinischen hüchern nicht wol durchtrieben ist / vnd von jhnen den rechten grieff erlernet hat«.' Weder Naturbegabung noch der Platonische »Göttliche furor« können seiner Meinung nach »ubung« und »Heiß« beim Studium der Alten ersetzen. 2 »Wol durchtrieben« in Opitz' Sinne wurde man in Deutschland spätestens seit Melanchthons »ratio dicendi« dadurch, daß sich auf der lateinischen Ebene jeder Dichtungsbeflissene dem Schulungssystem von »praecepta«, »exercitatio« und »imitatio« unterzog. 3 Rezeption der Musterautoren und eigene Produktion sind dabei wechselseitig aufeinander bezogen. Opitz' Gönner Matthias Bernegger hat das in einer seiner Akademischen Reden so ausgedrückt: 4 »Nam certe quidem eadem est ratio componendi, quam συνθεσιν vocant, & composita quasique coagmentata dissolvendi, quam αναλυσιν appellant. Quippe qui interpretatur, eodem modo eam resolvit in partes, quomodo earn, qui construxit. ex iisdem partibus comparavit.«
Auftauend auf diesen Grundsätzen steht die Opitzsche Dichtung wie jene der humanistisch-neulateinischen Tradition unter dem Gesetz der imitatio, das seit Petrarca (Farn. I 8, Ed. Naz., Bd. X, S. 39ff„ spez. S. 43) mit Hilfe des Bienengleichnisses die produktive Aneignung ausgewählter Vorlagen empfiehlt. 5 1
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Martin Opitz: Buch von der Deutsehen Poeterey, hg. v. Cornelius Sommer. Stuttgart 1970 (RUB 8397/98). Kap. 4. S. 23. Ibid. Kap. 8. S. 68. Vgl. Corpus Reformatorum XX. S. 701ff. Dazu Georg Mertz: Das Schulwesen der deutschen Reformation im 16. Jahrhundert. Heidelberg 1902, S. 264ff. und Friedrich Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts. Bd. I. Leipzig, 3. Aufl. 1919, S. 357ff. Matthias Bernegger: Orationes Academicae. Straßburg 1640. S. 237f. Dazu vgl. u. a.: Jürgen von Stackelberg: Das Bienengleichnis. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Imitatio. In: RF 68 (1956). 271ff. - Hermann Josef Real: Die Biene und die Spinne in Swifts »Battie of the Books«. In: GRM 54 (1973). 169-177. - Karl Otto Conrady: Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts. Bonn 1962 (Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur, Bd. 4), bes. S. 48ff. Ferner August Buck: Die »studia humanitatis« und ihre Methode. In: ders.: Die humanistische Tradition in der Romania. Bad Homburg v.d.H. u.a. 1968. S. 133-150.
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Opitz beruft sich hierbei in seiner Poetik auf die von Macrobius für Vergil nachgewiesenen Entlehnungen. 6 In seiner Forderung, »zueweilen auß den griechischen und Lateinischen Poeten etwas zue übersetzen vor(zu)nemen«, will Opitz gleichzeitig die Prinzipien literarischer Kunstübung des Späthumanismus und die normsetzende Funktion der Muster für die neue deutschsprachige Poesie fruchtbar machen. Die schulmäßige Übersetzung »verbum pro verbo« ist dabei die Grundstufe der künstlerischen Übertragung und freieren Paraphrase (»interpretatio«), deren Grenzen zur reproduzierenden Nachahmung im Sinne einer schöpferischen Tätigkeit wiederum grundsätzlich offen sind.7 Alle diese Spielarten des Übersetzens bis hin zur freien Kombination der im Bildungsbesitz verfügbaren res und verba (als aemulatio zu begreifen) erlauben besonders genaue Aufschlüsse über die Technik des in diesem Sinne klassizistischen Dichtens und über Geist und Programm des Dichters. Opitz selbst hat in seiner Poetik für den Beginn seines »Trostgedichtes« ein Beispiel freier imitatio Vergils geliefert und in den Übersetzungen von Properz und Ausonius schon in den »Teutschen Poemata« von 1624 (Nr. 91 und 106) Musterübersetzungen antiker Autoren geliefert. 8 Die neuere Forschung ist seit Rubensohns Tagen im wesentlichen nur dem Verhältnis der Opitzschen Dichtung zu ihren italienischen, französischen und niederländischen Vorlagen nachgegangen und hat dabei festgestellt, daß sich die Adaption der nationalsprachigen Literatur nach denselben Gesetzen wie die Auseinandersetzung mit der lateinischen Tradition vollzieht. Den verästelten deutsch-lateinischen Interferenzerscheinungen in Opitz' Werk nachzugehen, bleibt demgegenüber trotz der Wegweisung K. O. Conradys noch ein Desiderat der Forschung. Neben dem Verhältnis zur antiken Lyrik wäre der Quellhorizont der Neulateiner ebenso einzubeziehen wie Opitz' eigene lateinische Dichtung. Die vorliegende Studie möchte auf diesem Hintergrund die Praxis der Opitzschen Assimilation antiker Lyrik verfolgen. Im Falle einer nicht gekennzeichneten imitatio, die also die Lizenz der dissimulatio in Anspruch nimmt, soll exemplarisch die eigenartige Umdeutung und Verschmelzung der Vorlage analysiert und auf Sinn und Bedeutung für das Ganze des Gedichtes hin befragt werden. Die Erkenntnis der literarischen Technik muß dabei über den eher antiquarischen Aspekt der sog. Quellenforschung hinaus das Problem der Gattungstradition im Spielraum von Freiheit und Zwang ins Auge fassen 6 7
s
Opitz. Buch von der Deutschen Poetery (wie Anm. 1). Kap. 8. S. 68. Zur Theorie der Übersetzung: Jürgen von Stackelberg: Übersetzung und Imitatio in der französischen Renaissance. In: arcadia 1 (1966), S. 167-73. Ferner Frederick M. Rener: Opitz' Sonett an die Bienen. In: Gerhard Hoffmeister (Hg.): Europäische Tradition und deutscher Literaturbarock. Bern/München 1973. S. 6 7 - 8 4 . Eine genaue Analyse der Properzübersetzung bei Conrady, Lateinische Dichtungstradition (wie Anm. 5), S. 201-08. Opitz' Technik der Übersetzung ist im einzelnen gewürdigt von Richard Alewyn: Vorbarocker Klassizismus und griechische Tragödie, (urspr. Heidelberg 1926). Nachdruck Darmstadt 1962 (Libelli LXXIX).
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und soll so einen Beitrag zur dichterischen Situation des jungen Opitz und zur Lage der deutschen Literatur bei ihrem Neubeginn liefern. Es handelt sich um das Gedicht »Auff Herrn Doctor Johann Geisseis Hochzeit«, entstanden im Herbst 1619 in Heidelberg, wie aus V. 28 des lateinischen Geleitcarmens hervorgeht. Bisher hat sich nur Janis Little Gellinek ausführlicher mit dem Gedicht beschäftigt." Sie stellt seine »Collagehaftigkeit« fest, indem sie neben den schon von Rubensohn erkannten Heinsiusreminiszenzen'" für die Verse 9-20 auf Heinsius' »Voor-reden aan de door-luchtige Vrouwen« verweist und die Verse 53-64 als Horaznachahmungen interpretiert. Die Verse 21-36 stellen sich für Gellinek als Behandlung eines Themas dar, das Opitz in Nr. 77 der »Teutschen Poemata« (»Auff Herrn Johann Seylers Hochzeit«) mit z.T. identischen Formulierungen verwendet. Dieses Gedicht wurde nach Gellinek durch ein Poem aus dem Bioemhof beeinflußt." »Ob noch weitere Anregungen oder Quellen diesem Gedicht zugrunde liegen, vermag ich nicht zu sagen, es ist auch verhältnismäßig unwichtig für eine Beurteilung des Gedichts.« Dieser Bemerkung Gellineks 12 muß widersprochen werden, wenn man erkennt, daß die ganze mittlere Partie des Opitzschen Gedichtes eine imitatio von Ovids Amores 19 sind, eines berühmten Gedichtes also, in dem das Thema der militia amoris in klassischer Weise ausgestaltet ist." 9 10
" 12
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Janis Little Gellinek: Die weltliche Lyrik des Martin Opitz. Bern (1973). S. 41-43. Maximilian Rubensohn: Der junge Opitz. In: Euphorion 6 (1899), S. 63: für V. 70ff. hat Opitz, wenigstens motivisch Daniel Heinsius' »Op zyn eygen Bruyloft, ex persona sponsi« benutzt, wovon Kirchner 1618 ein Exemplar aus Holland mitgebracht hatte. Janis Little Gellinek: Further Dutch Sources Used by Martin Opitz. In: Neophilologus 53 (1969), S. 162ff. und dies.: Weltliche Lyrik (wie Anm. 9), S. 76. Gellinek. Weltliche Lyrik (wie Anm. 9), S. 43. Bei einer Einsicht in Trillers Opitz-Ausgabe von 1746 hätte Gellinek auf die Benutzung Ovids stoßen können: in einer Fußnote wird dort V. 4 des Ovidgedichts. allerdings ohne Stellenangabe zitiert. Sehr lehrreich für die Reichweite späthumanistischer Auffassung von Dichtung ist dazu eine Stelle aus Trillers Vorrede (unpag.): »Da aber unser Opitz nicht alle seine Gedichte mit beygefügten Noten erläutert; gleichwol in allen oder doch in den meisten, eine wunderns-würdige Gelehrsamkeit sehen lasset, indem er beständig auf die alten Griechen und Lateiner zielet, und öffters gantze Stellen aus denselben, unvermerckt, mit anbringt; so habe ich dieses meine vornehmste aber auch angenehmste Bemühung seyn lassen, die Opizischen Gedichte alle miteinander, da wo es nöthig, mit Anmerckungen zu erläutern [...], damit junge und angehende Poeten wissen könten, woher Opiz ein solcher grosser Dichter geworden; von wannen er die kostbaren Schätze und angenehme Blumen hergeholet, womit er seine unvergänglichen Gedichte bereichert und ausgeschmückt hätte, und wie sie demselben nachahmen miisten, woferne sie einst grosse, reiche und unerschöpfliche Dichter werden wolten.« Ich zitiere im folgenden Ovid nach der zweisprachigen Ausgabe: Publius Ovidius Naso: Liebesgedichte - Amores. Lat. und deutsch von Walter Marg und Richard Harder. München 1968, 3. Aufl.. S. 33ff. Opitz' Gedichte werden in Numerierung und Text angeführt nach der Ausgabe: Martin Opitz: Teutsche Poemata (1624), hg. v. Georg Witkowski. Halle 1902 (Nachdruck ibid. 1967 = NDL 189/192). Wo es möglich ist. richte ich mich (mit dem Vermerk SB) nach der hist.-krit. Ausgabe von George Schulz-Behrend: Martin Opitz: Gesammelte Werke, Bd. I. Stuttgart 1968 (BLV 295)."
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Ich gebe im folgenden zunächst eine Zusammenstellung des deutschen Gedichts und seiner lateinischen Vorlage mit jeweils den entsprechenden Verszahlen. 9 21 22 1
Auch hier ist Streit und Krieg. (...) Diß laß ich alles stehn/ ich will allein berühren Wie Venus Krieg auch pflegt gleich jhrem Mars zuführen. Militat omnis amans et habet sua castra Cupido
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Die Jugendt zuvorauß taug unter beyder Fahn: Ein alter Knecht is schwach/ so auch ein alter Mann.
3 4
Quae hello est habilis. veneri quoque convenit aetas: Turpe senex miles, turpe senilis amor.
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Sie halten beyde wach: Der stehet sehr gemeine Für seines Hertzens Hauß: Der für dem Capitäine. Pervigilant ambo, terra requiescit uterque: Ille fores dominae servat, at ille ducis.
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Sie wenden jhr Gemüth und Augen für und für / Der auff des Feindes Thor: Der auff der Liebsten Thür.
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Ille graves urbes hic durae limen amicae Obsidet; hic portas frangit, at ille fores.
29 30 31 32
Ein Kriegesmann m u ß fort durch Wind / Schnee / Frost und Regen: Ist dessen schönste weg er last sich nichts bewegen / Zeucht vber Stock vnd Stein / fragt nach den Wellen nicht Sein Wind ist jhre Gunst / sein Nordstern jhr Gesicht.
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Militis officium longa est via: mitte puellam. Strenuus exempto fine sequetur amans; Ibit in adversos montes duplicataque nimbo Flumina, congestas exteret ille nives. Nec freta pressurus tumidos causabitur Euros Aptaque verrendis sidera quaeret aquis.
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Der Krieg ist vngewiß: Auch hier ist schlüpffrig Eiß / Man weiß nich was man will / und will nicht was man weiß.
29 30
Mars dubius nec certa Venus: victique resurgunt. Quosque neges umquam posse iacere cadunt.
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[...] Wer Lieben Faulheit nennt Der gibt genug an Tag / daß er es nicht recht kennt.
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Ergo desidiam quicumque vocabat amorem. Desinat: ingenii est experientis amor.
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Achilles niemals ist so laß von Troja kommen / Als wann Briseis j h m sein starckes Hertz benommen.
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Ardet in abducta Briseide maestus Achilles; D u m licet, Argeas frangite, Troes, opes!
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Ovids Gedicht richtet sich in einer allocutio an ein Gegenüber (V. 2), stellt sich dar als Teil eines fiktiven Zwiegespräches, in dem in genialer Umkehr die Vorwürfe der altrömisch gesonnenen Gesellschaft der Zeit gegen die inertia, nequitia und desidia der Elegiker parodistisch entkräftet werden.14 Nichts ist so bezeichnend für die innere Fremdheit von Martin Opitz gegenüber diesem Kernanliegen Ovids, daß er die zentralen Verse 31/32 des Römers zwar aufgreift, aber durch den Zusammenhang vollkommen entkräftet (s.u.). Ovid redet von sich selbst, es geht um das eigene, zumindest fingierte Erlebnis einer Verwandlung durch Liebe in der Spannung von Einst und Jetzt ( V. 41 ff.). Am Schluß erfährt der Leser, daß mit dem »omnis amans« des Anfangs der Liebescasus des Dichters mit einbeschlossen ist. Was zunächst als spielerische These erschien, gewinnt dadurch die Evidenz einer Erfahrung und wird aus einer Lebenssituation begründet. Ovids Gedicht ist eine rhetorische probatio (V, 2: »crede mihi«), gestützt auf das testimonium des Dichters, die Exempla des Mythos und jene lange Reihe der antithetischen Bilder, die nach dem Topos der (dis)-similitudo 15 gewonnen sind und deren aufschließende Kombinationen als einzelne argumenta dienen. Opitz greift diese persuasive Situation seiner Vorlage hier nicht auf. Dadurch geht auch jene eigenartige Mischung ernsthaften Humors verloren, die das Gedicht des Römers auszeichnet. Was den Schlesier bei dem vom ihm hochgeschätzten Ovid16 beeindruckt, ist die lange antithetische Vergleichsreihe, in seinen Augen sicher ein Musterbeispiel rhetorischer amplificatio durch sinnreiche Erfindung und Verknüpfung, eben einer jener »grieffe«, die man den Alten ablernen mußte.17 Aus dem »militat omnis amans« wird demgemäß eine in allegorische personificatio gekleidete These formuliert, der die einzelnen Glieder als demonstratio subsumiert sind. Dabei halten sich die Verse 23-28 des deutschen Gedichts relativ eng an die Vorlage. Während Ovid allerdings in den übernommenen Versen die sinntragende Antithese jeweils in einem Vers verwirklicht, kann Opitz dies nicht immer nachahmen und muß zur Zusammenfassung (V. 23) oder zum Enjambement (V. 25f.) greifen. Zu den Freiheiten, die Opitz sich gegenüber dem Original erlaubt, gehört neben den Auslassungen (Ovids Verse 5f., 15-18,21-28 und 35ff.) der Anschluß der Vv. 19f. zum thematischen Komplex der Verse 7f. Schwierigkeiten machen Opitz offenbar gelegentlich die Reime (vgl. V. 25-27), auch können manche Nuan14
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Dazu Brooks Otis: Ovids Liebesdichtungen und die augusteische Zeit. In: Michael von Albrecht / Ernst Zinn (Hg.): Ovid. Darmstadt 1968 ( W d F Bd. XCII), S. 238^11. Zu dem hier verwendeten Toposbegriff vgl. Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Bad Homburg v.d.H. u.a. 1969. 2. Aufl. (Ars Poetica. Bd. 1), S. 40ff. Ovid wird von Opitz häufig rühmend erwähnt: vgl. Nr. 34 (SB). V. 35 sowie Rubensohn, Opitz (wie Anm. 10), S. 56. Anm., für Opitz Spätwerk das bei Gellinek, Weltliche Lyrik (wie Anm. 9). S. 205ff., analysierte Gedicht »An Herrn Zincgrefen«, V. 75ff. Die Komposition eines Gedichtes durch eine Reihe von Bildern oder antithetischen Vergleichen hat Opitz auch in seine liedhafte Lyrik übernommen: vgl. Nr. 24 und 118!
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cen, Konnotationen und Strukturen der Vorlage nicht in das deutsche Gedicht transferiert werden. Eine besondere Schwäche der Übersetzung beobachten wir besonders im Bereich der Verben und Attribute: so fassen Opitz' Verse 27/28 weder die feinen Differenzierungen von Ovids »obsidet - frangit« noch den Parallelismus der Attribute »graves - durae.« Die hier bei Ovid zugrunde liegende Situation des Paraklausithyrons kann Opitz weder sprachlich noch als Modell für seine Zeit übernehmen. Stattdessen wird eine Tendenz zur Verinnerlichung und Entsinnlichung durch das Wort »Gemüth« gefördert, die sich auch in den Versen 25f. zeigt. Hier wird aus den »fores dominae« ein »seines Hertzens Hauß«, das Ovidische »terra requiescit uterque« bleibt unübersetzt. Der doppelte Bezug des »fores« wird zwar recht unglücklich syntaktisch nachgeahmt, jedoch semantisch aufgebrochen. Die Verse 29-32 entsprechen den Versen 9-14 der Vorlage. Der Römer variiert die grundlegende Antithese syntaktisch durch einen konditionalen Imperativ (V. 9f.), der durch die bukolische Diärese nach dem vierten Daktylus abgesetzt ist. Überhaupt gehört die raffinierte Handhabung der Verszäsuren zu den souverän verwendeten Mitteln des lateinischen Gedichts. Opitz zieht die konditionale Fügung in seinen Vers 30a, muß dafür 30b mit einer nicht durch Ovid gedeckten Floskel ausfüllen. Der eigentliche Grund hierfür liegt in der Vorwegnahme der Aussage von Ovids V. 10 durch V. 29 des deutschen Gedichts, freilich in bezeichnender Abwandlung. Ovid baut um das zentrale Verb »sequetur« rahmenartig in weiter Sperrung das Subjekt: »strenuus - amans«. Opitz engt das attributionslose Subjekt und ein höchst farbloses Prädikat (»muß fort«) auf die erste Vershälfte ein, um die zweite mit einer schweren Aufzählung von Nomina zu gewichten. Wir kennen diese barocke Tendenz zu nominalen Aufzählung auch aus anderen Übersetzungen von Opitz.18 Ovid entwirft nun in den Versen 11-14 ein genaues Bild des gegen alle Naturgewalten ankämpfenden Liebhabers. Die Dynamik der Handlung steht im Gegensatz zu Opitz im Mittelpunkt; vier Prädikate, zu Anfang gleich das betonte »ibit« gliedern die vier Verse. Die Länge des Weges, angedeutet vorher schon durch »exempto fine«, wird sinnfällig gemacht durch den langen Atem der Periode, deren Einschnitte bewußt nicht durch die gewöhnlichen Verszäsuren betont sind. Opitz hat in seiner Häufung schon Wortmaterial aus diesen und den sonst nicht übersetzten Versen 15 und 16 entnommen, er faßt deshalb die ausgestaltete Handlung Ovids nur noch kurz in V. 31 zusammen. Das volkstümliche »Stock und Stein« genügt, in den »Wellen« desselben Verses verschmelzen die bei Ovid säuberlich getrennten Vorstellungen des reißenden Flusses und des aufgepeitschten Meeres zu einem weitgehend entsinnlichten Kollektivbegriff. V. 32 des deutschen Gedichts zeigt, worauf es Opitz ankommt. Bei Ovid spielte das Bild des Mädchens bei der Schilderung der Anstrengungen des Liebhabers keine Rolle, Opitz dagegen verknappt das Geschehen zu einer 18
S. Alewyn, Vorbarocker Klassizismus (wie Anm. 8), S. 43.
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metaphorischen Pointe aus dem Arsenal des europäischen Petrarkismus. Die Situation des auf dem stürmischen Meer herumgeworfenen Schiffers (Ovid V. 14f.) wird zum kaum noch faßbaren Bild der Seefahrt als Gleichnis hoher Gefährdung, 10 vollkommen transponiert in metonymischer Verkürzung auf die Stichworte »Wind« und »Nordstern«. Durch die Verschmelzung der Vorlage mit der petrarkistischen Augen- und Sternbildmetaphorik 20 entwickelt sich die bei Ovid gestaltete Gefährdung durch die Elemente zum bloßen Gleichnis totaler Abhängigkeit vom Willen der Geliebten. Noch deutlicher werden die Überlagerungsverhältnisse, wenn wir Gellineks oben erwähnten Hinweis auf Nr. 77 aufnehmen, das Gedicht »Auff Herrn Johann Seylers Hochzeit«. Die ζ. T. wörtlichen Entsprechungen von V. 32b und 33/34 (aus Nr. 42 bzw. SB Nr. 40) mit den Versen 49 und 28-32 (aus Nr. 77) sind augenscheinlich. Gellineks Schluß auf zeitliche Priorität von Nr. 77 bleibt gesichert und wird durch unseren Befund noch unterstützt. Nicht aber halten läßt sich ihre Behauptung, Nr. 77 sei auch die Voraussetzung für die Behandlung des Vergleichs zwischen Soldat und Liebhaber in den Versen 25ff. unseres Gedichts. Opitz geht vielmehr offensichtlich von dem antikem Gedicht aus und formt es in einem genau nachweisbaren Prozess der Assimilation um. Der technische Vorgang der Kontamination erfüllt im kleinen das grundsätzliche Programm der Poetik: Studium der Alten, ergänzt durch Rezeption der europäischen Renaissancedichtung in den Nationalsprachen. Dabei erstreckt sich das Prinzip der eklektischen imitatio auch auf Opitz' eigene Dichtung. Er übernimmt Elemente aus Nr. 77, das seinerseits in einem weit geschlosseneren Zusammenhang an das von Gellinek nachgewiesene niederländische Gedicht aus dem Bioemhof erinnert. Damit sind die Bausteine des Mosaiks jedoch noch nicht erschöpfend genannt. V. 36 ist offensichtliches Zitat des V. 13 aus Nr. 20, der Übersetzung des 88. Sonetts von Petrarca. Dadurch werden auch hier die Prioritätsverhältnisse geklärt und Gellineks frühe Datierung dieser Übersetzung bestätigt, die sie nach stilistischen Kriterien aufgestellt hatte.21 Mit den Versen 32-39 ist die Ovidianische Liebeselegie endgültig von einem petrarkistischen Formel- und Motivkreis überlagert worden: Sternbildmetaphorik, Tränen als Nahrung der Liebenden, das Motiv des Eises, hier ohne die Antithetik von Glut und Feuer, die psychologische Deutung des Erlebens als Erschütterung der Gewißheit und des Wollens, Augen der Geliebten als Lanzen
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Zur Seefahrtsmetaphorik vgl. u. a. Adelheid Beckmann: Motive und Formen der deutschen Lyrik des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1960(HermaeaN.F. 5), S. 35f. Ich verweise noch auf Opitz T. P. Nr. 70 und ein sehr instruktives Beispiel von Jesaias Rompier von Löwenhalt: »Stürmische Schiff-fahrt Mänschlichen Lebens«, abgedruckt bei Anna Hendrika Kiel: Jesaias Rompier von Löwenhalt, ein Dichter des Frühbarock. Utrecht 1940, S. 124ff. Antike Beispiele der Sternbildmetaphorik etwa in Ovid Am. XII 6,44 und Properz II 3.14: zur petrarkistischen Tradition s. Hans Pyritz: Paul Flemings Liebeslyrik. Zur Geschichte des Petrarkismus. Göttingen 1963 (Palaestra 234). S. 171. Gellinek. Weltliche Lyrik (wie Anm. 9). S. 201ff.
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und Bilder der Wehrhaftigkeit22 - , wir sind weit entfernt von dem fiktiven Erlebnis Ovids, der Erfahrung als erotische Erfüllung gegen die rigide Moral seiner Zeit geistreich artikulierte. Immerhin bleibt auch in diesem Zusammenhang das antike Gedicht im Blickfeld, wie die wörtliche Übernahme von V. 29a in V. 35a beweist. Mit V. 39b findet Opitz in den alten Zusammenhang zurück. Er übersetzt Ovids V. 31 f., freilich ohne den Optativ der Vorlage (»desinat«), ohne die lapidare und kühne Feststellung: »ingenii est experientis amor« (V. 31b). Das mittlerweile übernommene petrarkistische Liebesmodell läßt auch diese Formel nicht mehr zu. Der Prozeß der Umformung wird noch deutlicher in den folgenden zwei Versabschnitten (41/42 und 43-48), die sich an die mythischen Exempla Ovids anschließen. Das homerische Exempel des erfolggekrönten nächtlichen Überfalls auf die Scharen des Rhesus (Ovid V. 23ff. nach Ilias X) eignet sich nicht mehr als Paradigma für die Vorstellungen, denen nunmehr das Gedicht verpflichtet ist. Opitz läßt deshalb diese Verse seiner Vorlage aus. Auch die Ermutigung, die Hektor in Andromaches Armen fand, bleibt in Opitz' Gedicht ohne Resonanz. Nur die Vv. 33/34 verwendet der Deutsche für seinen Zusammenhang (V. 41 f.). Während bei Ovid aber eindeutig die Betonung auf dem Anfangswort »ardet« liegt, die Wegnahme der Briseis (»abducta«) und der Schmerz (»maestus«) um das geraubte Liebesglück erst das Heldische in Achilleus anstachelt, Energien und Kampfeswut weckt, eben unerfüllte Liebe in spielerischer Deutung der militia amoris als Mutter des Krieges erscheint, unterdrückt Opitz das Pathos des freien Imperativs des V. 34 der Vorlage und setzt sich souverän über den Wortlaut hinweg. Stattdessen assoziiert er um das Adjektiv »maestus« herum das Bild eines »laß(en)« Achilleus, dem Liebesschmerz Kampfesmut und Mannesstärke raubt. Hier ist nun endgültig die Grundtendenz der antiken Vorlage in ihr Gegenteil verkehrt. Opitz unterschiebt dem antiken Helden jenen süßen Schmerz einer liebessüchtigen Ermattung der Seele, genau wie schon Petrarca das Wort »maestus« in anderem Zusammenhang mit Weltschmerz und Melancholie in Verbindung gebracht hatte:23 »dolendi voluptas quaedam, quae moestam animam facit, pestis eo funestior, quo ignotior causa atque ita difficilior cura est.«
Der Preis der Liebe bei Ovid ist also unter Hand die Tendenz einer petrarkistischen Liebesklage untergeschoben worden, das spielerische Motiv der militia amoris, das in dem antiken Gedicht zunächst Argument, schließlich eindeutig-zweideutige Periphrase des Liebesglücks wird (V. 45f.; vgl. die von Opitz ausgelassenen Vv. 5f.!); wandelt sich zum Bild des servitium und malum amo22
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Zu diesen Motiven s. Pyritz, Paul Flemings Liebeslyrik (wie Anm. 20). S. 190, 221 und 224, ferner Gerhart Hoffmeister: Petrarkistische Lyrik. Stuttgart 1973 (Sammlung Metzler 119), S. 25ff. Petrarca: De remediis utriusque fortunae. Buch If. dial. 93. in: Opera. Tom. I. Basileae 1554 (Nachdruck New Jersey 1965), S. 211.
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lis. Kein Wunder also, daß Opitz mit den anderen mythischen Exempla Ovids nichts anfangen kann und an ihrer Stelle seinerseits eines hinzufügt (V. 42ff.), das besser in den Zusammenhang paßt. Das tragische Schicksal des Hercules, der durch »Weiber Macht« in seinem »hohen Sinn« vernichtet wird, bildet den Schlußakkord jener so verschieden getönten Variationen über ein Thema.
Der Sinn der petrarkistischen, ja zum Schluß mit antifeministischen Tönen angereicherten Umarbeitung der antiken Vorlage durch Martin Opitz muß durch eine genauere Betrachtung des gesamten Gedichtes verdeutlicht werden. Offenbar ist die Gliedhaftigkeit des Sprechens, die, wie Conrady gezeigt hat, auf die Tradition der lateinischen Lyrik zurückgeht. J. L. Gellinek hat auf die rhetorische Struktur des Gedichtes hingewiesen: 24 der Angabe einer zu erörternden Behauptung (V. 1-8: man könne dem Krieg durch Liebe entfliehen) folge in zwei Abschnitten die Ausführung der negativen Argumente (V. 9-20 und 21-48), anschließend die Zurückweisung dieser Argumente durch die Darlegung des Unterschieds zwischen Krieg und Liebe (V. 49-68) sowie das Lob der Hochzeitsnacht mit einer Anspielung auf den Liebeskrieg, der zum Frieden führt (V. 69-84). In der Tat ist diese Gliederung einleuchtend, ebenso die entsprechenden gedanklichen Einschnitte, die in V. 49 durch typographische Hervorhebung betont, im Falle von V. 8 und 69 allerdings verschliffen sind. Immerhin ist der Wortlaut der ersten 8 Verse wesentlich komplizierter, als es bei Gellineks Schema den Anschein hat. Opitz ist um einen sinnreichen Einfall bemüht; er will aus der Kombination zweier Vorstellungen poetisches Kapital schlagen. Dabei lockert er, wie wir des öfteren gerade in seinen Epithalamien sehen,25 die traditionellen Schemata der herkömmlichen Kausaldichtung26 auf, nicht selten durch Eingehen auf die persönliche Situation des Adressaten, hier durch den Bezug auf die Zeitumstände. Das Hochzeitsgedicht Nr. 44 (= SB Nr. 22), »Auff Herrn Sebastian Namßlers Hochzeit«, zeigt, wie ein Epithalamion sich
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S. Anm. 9. Vgl. Gellinek. Weltliche Lyrik (wie Anm. 9). S. 218ff. (zu Opitz' Hochzeitsgedichten) und S. 185ff. (zur Gelegenheitsdichtung). Vgl. Leonard Forster: Conventional safety valves. Alba. Pastourelle and the epithalamium. In: ders.: The Icy Fire. Five Studies in European Petrarchism. Cambridge 1969. S. 8 4 - 1 2 1 . Dort auch die - allerdings recht spärliche - Literatur zur Geschichte des Epithalamiums. Die kanonischen Forderungen an dieses Genre werden zusammengefaßt und mit antiquarischen Notizen erläutert bei Julius Caesar Scaliger: Poetices libri Septem. Faks.-Neudruck der Ausgabe Lyon 1561, hg. v. August Buck. Stuttgart 1964. Buch III, caput XI, S. 150f. Sigmund von Birken gibt später seine Anweisungen auf 18 Seiten seiner »Teutschen Rede-Bind und Dichtkunst« (Nürnberg 1671, S. 203-220). allerdings mit christlichem Eifer gegen die heidnisch-antiken Restbestände.
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die überkommenen Formeln von der »tyranney« der Liebe,27 der »bitter süßen Pein« der Venus und der Macht des Weibes (vgl. die Vv. 4, 5, 8 und 25) zu Nutze machen kann, um gleich darauf (29ff.) im Kontrast dazu die Seligkeiten des Bräutigams zu preisen, der »ohne furcht« (V. 31) lieben kann. Auch unser Gedicht beutet in V. 1-4 die Vorstellung vom »Venus Regiment« aus, freilich in der figurierten Form einer rhetorischen Frage. Mangelnde Freiheit unter Venus wird mit der Bedrohung der alten Freiheit durch politische »Tyranney« - zu ergänzen: der Habsburger - verglichen. Es läge nun nahe, die in den Versen 5f. beschworene Hilfe und Befreiung durch die »Macht des Löwen« 28 weiter in Beziehung zu setzen mit der Befreiung von der Macht der Venus durch die Ehe, wie es dem erwähnten Gedicht Nr. 44 und anderen Beispielen entspricht. Nun aber kommt es dem jungen Dichter offensichtlich darauf an, vor dem Preis der Ehe, wie wir ihn in V. 49ff. finden, das Gegenbild vom Liebesstreit auszumalen: »Auch hier ist Streit vnd Krieg.« (V. 9a). Als Analogon zum Kriegsthema der Vv. und als Antwort auf die Frage der Vv. 1-2 ist diese These befriedigend, um aber Anschluß an die in V. 5-7a ausgedrückte Vision der kommenden Hilfe im politischen Kampf zu finden, bedarf es einer neuen Verbindung, eines neuen Anlaufs: »könt jhr dann sicher sein In ewrer Liebsten schütz?« Wir sehen ganz deutlich, wie die sprachliche Verwirrung und der doppelte Anlauf der ersten acht Verse des Gedichts hervorgerufen werden durch die politischen Bezüge des Gedichts. Opitz beschränkt sich nicht auf das tertium comparationis, das im Begriff der »Tyranney« liegt, sondern will gleichzeitig seinen politischen Hoffnungen Ausdruck geben. Die klare These des Gedichts (wie es unmöglich ist, dem in Deutschland wütenden Krieg und der Drohung der »Tyranney« zu entfliehen, so bedeutet auch die Ehe das Regiment der Venus und damit »Streit und Krieg«) wird in den Versen 5 - 7 a eines Vergleichsgliedes beraubt. Das politische Engagement des Dichters stört die klare Exposition des Gedichts. In V. 9a hat Opitz den gewünschten Ausgangspunkt zur Entfaltung des Themas »Liebesstreit« gewonnen. In einer großangelegten praeteritio folgt ein Katalog von Schlachtenfrauen. Hier setzt sich der poeta doctus in Szene, breitet Material aus, das zu seiner Zeit in Nachschlagewerken aufbereitet vorlag, hier aber auch wieder auf Heinsius verweist.29 An diese praeteritio schließt sich mit V. 21/22 der oben interpretierte Ovidianische Teil des Gedichtes an. Die daraufhin überleitenden Verse 49-51 widerrufen das bisher Gesagte. Opitz macht diesen Teil seines Poems zur Palinodie eines fiktiven Plädoyers. Es wird
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Z u m Thema des servitium amoris vgl. Pyritz: Paul Flemings Liebeslyrik (wie Anm. 20). S. 186. Anm. 118 sowie Hoffmeister: Petrarkistische Lyrik (wie Anm. 22). Opitz hat schon in der Ausgabe Β seiner »Teutschen Poemata«, Breslau 1625. V. 4 verändert und die kompromittierenden Verse 5 - 8 ganz weggelassen: s. Apparat bei SchulzBehrend! Zu Heinsius s. Gellinek, Weltliche Lyrik (wie Anm. 9), S. 42f.; in Cyriacus Spangenbergs »AdelsSpiegel«, Schmalkalden 1591, finden wir im 13. Buch (»Vom Weiber Adel«), Kap. 12ff., eine ganze Enzyklopädie »streitbarer Weiber« (Bl. 432ff.).
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klar, daß die bisher waltende Vorstellung der militia amoris eben deshalb ins Schmerzlich-Düstere gewendet wurde, um im Kontrast das Glück ehelicher »Lieb' und Freundligkeit« noch heller auszumalen. Die Behauptung von V. 9 erweist sich als vorläufiges Scheinargument, in dem die Leiden ehelosen Lebens eingefangen werden. Für diese Absicht konnte Opitz Ovids Preis freier Erotik, die sich gerade gegen die gesellschaftlichen Zwänge seiner Zeit wandte, in der gegebenen Form nicht brauchen. Allerdings war die Andeutung ehelicher Freuden in Epithalamion erlaubt.30 Opitz hat zu diesem Zweck für den Schluß seines Gedichtes auf Heinsius zurückgegriffen, der die eheliche lascivia nicht ohne das anakreontische Getändel des Venusknaben schicklich anzudeuten wußte. Das Epithalamion, ein betont bürgerliches Genre, Status-Symbol der Hochzeitsritualien, 1 ' steht hier noch vor dem Einsatz einer Entwicklung, in der ihm die Reste antikisierender Erotik zugunsten handgreiflicher Tugendenkomiastik ausgetrieben werden. Das petrarkistische Liebesmodell erscheint unter dem Signum der revocatio, als Zitatengeflecht eines Formel- und Motivschatzes, der doppelt verwandt wird:' 2 Der Vorstellungsbereich der Resignation und des Liebesschmerzes dient, mit dem Ovidgedicht verschmolzen, als postwendend zu desavouierendes Gegenbild ehelichen Glücks; die Formeln und Vergleiche des Schönheitspreises können zwanglos in das Schema des Tugendlobs33 einmontiert werden. Der von Horaz angeregte Preis der Idylle (zunächst negativ, dann positiv gefaßt ) erscheint als Teil der Darstellung eines ehelichen Glücks, das als privatistische Weltflucht verstanden wird. Die hochpolitischen Anspielungen des Anfangs spiegeln sich in den auf das kommende »Trostgedicht« vorausweisenden Beschreibungen der Kriegsgreuel und zeichnen eine historische Situation als Bedingung auch dieses Gedichts, die dem Bürger »Lieb' und Freundligkeit« des Eheglücks als letztes Refugium erscheinen lassen.
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Scaliger. Poetices libri Septem (wie Anm. 26), S. 150: »quarti lascivia lususque est totius, alterutrum aut utrum blande appellando: modestius virginem, haud modestissimo tarnen obiiciendo quaedam: puta praelii futuri metum, victoriam, e lacrymis risum, e spe laetitiam certam [...]. Intermiscentur vero etiam ioci petulantiores quae ab antiquis Fescenina carmina dicebantur.« Diese Lizenz bleibt ein letztes Bollwerk gegen die Angriffe christlicher Eiferer auf die Liebesdichtung der Renaissance: vgl. Anm. 26 und Max von Waldberg: Deutsche Renaissancelyrik. Berlin 1888, S. 79ff. Vgl. dazu Willi Hemming: Deutsche Kultur im Zeitalter des Barock. Konstanz 2 1960 (Handbuch der Kulturgeschichte, Abt. 1. S. 248f). Zur petrarkistischen Tradition im Epithalamium vgl. Hoffmeister. Petrarkistische Lyrik (wie Anm. 22), S. 67f„ Pyritz, Paul Flemings Liebeslyrik (wie Anm. 20), S. 158 und 232, Anm. 179 sowie Jörg-Ulrich Fechner: Der Antipetrarkismus. Studien zur Liebessatire in barocker Lyrik. Heidelberg 1966 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 3. F., Bd. 2), S. 59ff.
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Das Motiv der militia amoris gehört seit der griechischen Antike zum bereitliegenden Fundus erotischer Dichtung.' 4 Vom scherzhaft-spielerischen Vergleich über die heimliche Obszönität bis hin zu den subversiven Implikationen der römischen Elegikern läßt sich ein vielfältiges Spektrum poetischer Ausdeutung nachweisen. Auch im Mittelalter gehört die Bilderwelt des Liebeskrieges zum Motiv vorrat der höfischen Dichtung.35 Petrarca und die europäische Renaissancedichtung haben an diese Traditionen angeknüpft. Wir haben in dem Opitzschen Epithalamion beide Ausdeutungen kennengelernt, welche entgegengesetzte Pole möglicher Liebeskonzeptionen kennzeichnen: neben die dura tritt auch die - allerdings auf das Ehebett beschränkte - dulcis militia Veneris. Pyritz ist auf die Rezeption beider Möglichkeiten eingegangen und hat gezeigt, wie auch Fleming sich keine Spielart dieser militia entgehen läßt."' Opitz selbst hat nach diesem Epithalamion auch später noch auf die in dem überkommenen Motiv verborgenen Möglichkeiten sinnreicher Kombinationen zurückgegriffen. 37 Beispiele von Zeitgenossen und Nacheiferern lassen sich anführen.38 Das Besondere unseres Epithalamions lag im konkurrierenden Miteinander der verschiedenen Ausprägungen der militia-Metaphorik, im genau zu verfolgenden Prozeß einer Umformung, in welcher der Dichter sich bemüht, im abgezirkelten, rhetorisch gegliederten Gefüge einer Argumentenkette den formalen und moralischen Konventionen des Epithalamions gerecht zu werden. Für das Alltagsgeschäft des poeta doctus bietet gerade dieses Jugendgedicht, das zu der auch von Opitz geschmähten Kasuallyrik gehört und mehr Anspruch als Gelingen verrät, trotz, ja gerade wegen einer knarrenden Übergänge und seines mosaizierenden Zitatgefüges hervorragende Aufschlüsse.
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Scaliger, Poetices libri Septem (wie A n m . 26): »Secundo loco explicabuntur laudes utriusque a Patria, Genere, animi studiis, corporis praestantia.« Alfons Spies: Militat omnis amans. Ein Beitrag zur Bildersprache der antiken Erotik. Diss. Tübingen 1930; zu Ovid Anm. I 8. S. 64ff. Erika Kohler: Liebeskrieg. Zur Bildersprache der höfischen Dichtung des Mittelalters. Stuttgart/Berlin 1935 (Tübinger Germanistische Arbeiten 21). Pyritz. Paul Flemings Liebeslyrik (wie A n m . 20), S. 39f. (zur neulat. Tradition) und 183ff. S. Opitz T. P. Nr. 74 und das Sonett »Wann ich mit frieden kan in deinen Armen liegen« (in: Weltliche Poemata, der Ander Teil. Frankfurt 1644, S. 366): Hier ist das Motiv in entgegengesetzter Tendenz zum Preise harmonischen Liebesglücks verwendet: s. dazu Fechner. Antipetrarkismus (wie Anm. 32), S. 62f. Man vgl. etwa Theobald Hocks »Venus und Mars gehörn zusammen«, in: Schönes Blumenfeld, hg. v. M a x Koch. Halle 1899 (NDL 157/59), cap. XXV. S. 40f.; ferner Georg Rudolf Weckherlin in: Gedichte, hg. v. Hermann Fischer, Bd. 1. Stuttgart 1894 (BLV 199. Nachdruck Darmstadt 1968), S. 250-253. Zu einem Beispiel bei Joachim Rist vgl. Ulrich Moerke: Die Anfänge der weltlichen Barocklyrik in Schleswig-Holstein. Neumünster 1972. S. 109f.
Huldigung als Warnung: Poetischer Rat für den Heidelberger Kurfürsten, 1620
Martin Opitz: Vom Wolffsbrunnen bey Heidelberg Du edele Fonteyn mit Ruh und Lust umbgeben. Mit Bergen hier und dar, als einer Burg, umbringt, Printz aller schönen Quell, auß welchem Wasser dringt Anmütiger dann Milch, und köstlicher dann Reben, Da unsers Landes Krön und Haupt mit seinem Leben, Der werden Nymf, offt selbst die Zeit in frewd zubringt. Da jhr manch Vögelein zu ehren lieblich singt. Da nur ergetzlichkeit und keusche Wollust schweben. Vergeblich bistu nicht in diesem grünen Thal, Von Klippen und Gebirg beschlossen uberal. Die künstliche Natur hat darumb dich umbfangen Mit Felsen und Gebüsch, auff daß man wissen soll Daß alle Fröligkeit sey Müh und arbeit voll. Und daß auch nichts so schön, es sey schwer zu erlangen.
Zu den seit alters her anziehenden und inspirierenden Orten Heidelbergs zählt auch der östlich des Schlosses gelegene Wolfsbrunnen: ein wilder Waldquell, der um 1550 mit einer parkähnlichen Anlage umgeben wurde. Früh schon taucht er in den lateinischen Heidelberg-Gedichten und Stadtbeschreibungen der Humanisten auf. Kein Zufall also, daß auch das erste neuhochdeutsche Heidelberg-Gedicht dem Wolfsbrunnen gilt. Es ist um so bedeutungsvoller, als es von Martin Opitz stammt, auf dessen dichterische und poetologische Wirksamkeit ein glorreicher Neubeginn der deutschen Poesie zurückzuführen ist. Der Schlesier Martin Opitz (1597-1639) befreite die deutsche Dichtung vom Geruch des Provinziellen, des Zurückgebliebenen, von dem sich bisher nur die lateinisch schreibenden Gelehrten betroffen zu fühlen brauchten. Er initiierte eine Reform, die dazu führte, daß die deutsche Dichtung sprachlich und formal ein ästhetisches Niveau erreichte, das dem der avanciertesten und in ganz Europa berühmten italienischen, französischen und niederländischen Autoren entsprach. Die zeitliche Koinzidenz der literarischen Reformbewegung mit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges war keine zufällige, sondern wies auf die mentale Einheit konfessionspolitischer und kulturpatriotischer Frontbildung im Widerstand gegen die Traditionen der spanisch-habsburgischen, d. h. der katholischlateinischen Universalmonarchie. Mit dem pfälzischen Kurfürsten Friedrich
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V. (1596-1632, reg. seit 1614) wurde in Heidelberg politisch und militärisch umgesetzt, was sich im geistigen Kraftfeld der Epoche längst abgezeichnet hatte. Neben Genf und Leiden galt Heidelberg als Vorort des europäischen, auch die französischen Hugenotten einbeziehenden Calvinismus, zugleich als Zentrum humanistischer Gelehrsamkeit, in das es gerade viele Schlesier zog, die mit der protestantischen Sache sympathisierten. Freilich nützte es dem jungen Kurfürsten wenig, daß er 1613 mit großem Pomp Elisabeth Stuart, die Tochter des englischen Königs, heiratete, und noch weniger nützte es ihm, daß er sich in offener Provokation des Kaisers im August 1619 zum böhmischen König wählen ließ. Die Schlacht am »Weißen Berg« in der Nähe Prags (8. November 1620) vereitelte nicht nur die pfälzischen Hoffnungen, sondern auch die Visionen der protestantischen Reichspolitik. Der spanische Feldherr Ambrogio Spinola rückte in die Pfalz ein, Heidelberg kapitulierte kurze Zeit später vor den Truppen Tillys. Was in der Universität oder im kurfürstlichen Oberrat Rang und Namen besaß, zerstob in alle Richtungen. Zu denen, die rechtzeitig - schon im Oktober 1620 - in die Niederlande auswichen, gehörte Opitz. Von namhaften Persönlichkeiten empfohlen, war er im Juni 1619 zur Fortsetzung seiner Studien an den Neckar gekommen und präsentierte sich den Größen des Heidelberger Gelehrtenkosmos als Hoffnungsträger literarischer Erneuerung: dem Oberrat Georg Michael Lingelsheim zum Beispiel, dem in ganz Europa bekannten Polyhistor und Bibliothekar Janus Gruter, auch dem publizistisch aktiven Dr. jur. Julius Wilhelm Zincgref, der 1624 in Straßburg die erste Sammlung der neuen Opitzschen Gedichte herausgab, zugleich andere Stimmen der südwestdeutschen Renaissancepoesie einbezog. Wie Zincgref oder wie in Württemberg Georg Rudolf Weckherlin (später Staatssekretär in London) stellte auch Opitz seine Feder in den Dienst der protestantischen Sache. Davon zeugt nicht nur das poetische >Gebet, daß Gott die Spanier widerumb vom Rheinstrom wolle treibenTrostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges0 Fontaine Bellerie0 fons BandusiaeBuch von der deutschen Poeterey< für stilistisch und thematisch gehobene Dichtung reservierte: den sechshebigen, jambisch akzentuierten Alexandriner, der durch eine Mittelzäsur gegliedert war und sehr oft wie hier mit abwechselnd weiblicher und männlicher Kadenz zu Zweiergruppen verkoppelt wurde. Diese Zweiergruppen konnten, was Opitz virtuos vorführt, durch wechselnde Reimbindungen (umarmender Reim in den Quartetten, Schweifreim in den Terzetten) überspielt werden. Auch die gerade in der Sonettdichtung des 17. Jahrhunderts beliebte Technik, die syntaktische Struktur des Textes teils mit den Versgrenzen zu harmonisieren, teils im Enjambement (hier V. 3/4; V. 11/12) in Spannung zu setzen, wird zumindest ansatzweise vorgeführt. Doch eindrucksvoller als diese neuen Kunstgriffe der poetischen Technik wirkte gewiß Opitz' Anspruch auf eine »sinnreiche« Verschränkung divergenter Aussageebenen. Scheinbar geht es ihm nur darum, einen Ort zu beschreiben, an dem sich der Kurfürst und seine Gattin in »keuscher Wollust« ergötzen. Über zehn Verse, ja eigentlich - sinngemäß - über das ganze Gedicht spannt sich ein Satz, der durch Anaphern (V. 5, 7, 8) gegliedert ist und in den Quartetten deutlich die beiden Seiten der Leitvorstellung differenziert: den Ort und das, wozu er dient. Noch die lang nachwirkende Anrede des mit einem Fremdwort aristokratisch herausgehobenen Lokals mündet in die Antwort auf ein dem Text zugrunde liegendes >Warumrustikaleneunuchenhafte< Selbstinszenierung der Alamode-Gecken aufs Korn nimmt. Früh schon und nicht ohne Grund gerade in Heidelberg werden so Konfliktlagen der deutschen Sprachpatrioten signalisiert - Vorspiel erbitterter Abwehr, wie sie sich später in Kreisen der oberrheinischen Literaten, also um Rompier von Löwenhalt und Moscherosch, nicht gegen die bewunderte und autogene französische Hof- und Hauptstadtkultur per se, sondern gegen den gedankenlosen Import höfisch-adeligen Prestigegebarens verbreitete.' Indem Opitz die >kastrierten< Deutschfranzosen wie auch die selbst beim Liebesspiel noch lateinisch agierenden Gelehrten angreift, assoziiert er umgekehrt das eigene Anliegen mit Wert- und Begriffsvorstellungen des Natürlichen und eigentlich Selbstverständlichen. Überdies wird mit V. 16-20 - wider imaginäre Kritiker, die Opitzens Drang in die Fremde abfällig besprachen - ein eigenes, ein nicht erhaltenes Werk angekündigt, an dessen Stelle dann wohl das Tmstgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges trat. Noch konnte sich Opitz (so der letzte Vers) in der Hoffnung wiegen, in Heidelberg die erste »Ernte« seiner literarischen Produktion einfahren zu können - eine Hoffnung, die kurze Zeit später, von etwaigen privaten Schwierigkeiten abgesehen, 6 durch die herannahenden katholischen Invasionstruppen vereitelt wurde. Lesen wir also: AD IOH[ANNEM] GEISELIUM D E E P I T H A L A M I O EI T R A N S M I S S O .
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QUod expetisti nuptiis carmen tuis, Quis verba denegaret, illud hic habes: Sed non Latinum. N a m quid hos moros morer. Qui rure natas Teutonum voces putant, Sibique probro ductitant lingua sua Altae expedite sensa mentis? Atque ita, Magni nepotes Romuli. potant, vorant, Stant et sedent. Quid plura? Cocumbunt quoque Credo Latine. Non inaequales iis Quorum catervas hic videre tot licet. Qui nec p e d e m extulere finibus Alpium, Et mentiuntur se tarnen Gallos meros
Vgl. exemplarisch Moscheroschs Briefe aus Paris an Harsdörffer, abgedruckt in: W. Kühlmann/ W.E. Schäfer: Frühbarocke Stadtkultur am Oberrhein. Studien zum literarischen Werdegang J . M . Moscheroschs. Berlin: Schmidt 1983. S. 112-129. Caspar von Barth und andere kolportierten, Opitz habe in Heidelberg ein uneheliches Kind hinterlassen: vgl. Georg Witkowski: Ein kleiner Beitrag zur Opitz-Biographie. In: Euphorion XIX (1912), S. 16-18.
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Von Heidelberg zurück nach Schlesien
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Veste atque voce. Qui mihi galli quidem Damnentur absque testium auxilio velim. Porro iocantem ferre me si quis nequit, Paulisper expectet precor; brevi liber Prostabit ingens, arte protrusus mea, Corneliae de nuptiis, in queis senis Mentum Catonis, et supercilium grave Veterum parentum, et Stoa tota gens erit. Quod si nec hoe me excusat, illis qui deam Amoris opere quam logis malunt coli, Assentior libenter: ilia quae thori Requirit ordo et lex maritalis iubet, Et ut poetae classico non accinant, Fieri queunt. Vale, atque praesta te virum. Urgente praelo raptim et insubida manu Dabantur Heidelbergae ad actas Neccari, In messe, quam tuam esse non minus putes.
Übersetzung An Johannes Geissei über ein ihm übersandtes Hochzeitsgedicht Ein Gedicht, das du für deine Hochzeit erbeten hast, wer hätte dir die Worte versagen können - hier hast du es: aber kein lateinisches. Denn was soll ich mich mit den Toren aufhalten, die meinen, die Sprache der Deutschen seien nur auf dem Lande geboren, und die es sich immer wieder zur Schande anrechnen, die Gedanken ihres erhabenen Geistes in ihrer Muttersprache auszudrücken? Und so trinken sie, fressen, stehen und sitzen sie als Enkel des großen Romulus. Was mehr noch? Ich glaube, sie schlafen miteinander auch noch auf lateinisch. Nicht unähnlich denen, die man hier in ganzen Haufen erblicken kann, (10) die keinen Fuß über die Scheidegrenze der Alpen setzten und sich doch in Kleidung und Sprache lügnerisch als reine Franzosen gebärden. In meinen Augen fürwahr Eunuchen, sollen sie verdammt sein - und meinetwegen ohne Hoden auskommen. Wenn jemand es nicht ertragen kann, daß ich in der Ferne meinen Scherz treibe, soll er bitte nur ein Weilchen warten; bald wird ein groß angelegtes Werk publiziert werden, von meiner Kunst hervorgetrieben, »Über die Hochzeit der Cornelia«, in welchem der Kinnbart des alten Cato und der lästige Hochmut der Vorväter und die ganze Stoa zu finden sein. (20) Wenn mich aber das [noch] nicht entschuldigt, stimme ich gerne denen zu, welche die Liebesgöttin eher im Liebeswerk als in bloßen Worten verehren wollen: All das, was ein ordentliches Liebesbett und das Gesetz der Ehe erfordern, kann geschehen, auch ohne daß die Dichter dazu ins Horn blasen. L e b ' wohl, und beweise dich als Mann! Gegeben wurde dies in Eile, da schon die Druckerei wartet, und mit ungeschickter Hand in Heidelberg an den Ufern des Neckars - da ich eine Ernte einfahre, die du nicht minder für die deine halten magst.
Daß Opitz von Heidelberg aus zunächst den Weg in die Niederlande wählte, ist bekannt und von Klaus Garber ins Licht des konfessionspolitischen Kräfteringens gerückt. 7 Die folgende Elegie wurde, wie die Unterschrift ausweist, angeblich im Oktober 1620 zu Schiff auf der Reise den Rhein hinab geschrieben. Präsentiert wird ein lyrischer Typus, wie wir ihn aus der Feder zahlreicher Stu7
Klaus Garber: Martin Opitz. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. von Harald Steinhagen und Benno von Wiese. Berlin: Schmidt 1984, S. 116-184, hier spez. S. 125f.
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denten kennen, die sich gern und zweckmäßigerweise mit >specimina eruditionis< bei namhaften Professoren ihrer künftigen Universität vorstellten und um wohlwollende Aufnahme warben. Opitz selbst hatte derlei selbstverständlich auch schon für seinen ersten Besuch bei Janus Gruter, dem berühmten Heidelberger Philologen, vorbereitet. Auch dort schon war dem großen Gelehrten gehuldigt, waren dessen Leistung und überragende wissenschaftliche Gestalt als Grund der Reise, damals von Schlesien an den Neckar, herausgestrichen worden. Der Neuankömmling war Gruter durch Tobias von Schwanensee und Bregoschütz, genannt Scultetus (selbst ein früherer Heidelberger Student und gekrönter Dichter), also durch seinen alten schlesischen Gönner empfohlen worden: »et ego nouus aduena gressus / Ad te vix digno pectore tendo meos./ Scultetus tarnen ista tuus me iussit, idemque/ Gruterus quicquid sum tibi, dixit, erit.« s Gruter gegenüber sollten und konnten sich also alte gelehrt-literarische Klientelverbindungen bewähren. Heinsius in Leiden wird nun anders angesprochen, nämlich mit dem Hinweis auf das nicht nur Böhmen und Mähren, sondern auch Schlesien heimsuchende Gemetzel des beginnenden Dreißigjährigen Krieges, in dem mittlerweile die Spanier bis zum Rhein vorgedrungen sind. Möglich, daß der Gedichteingang für den Nüßlerschen Druck ein wenig retuschiert worden ist. Denn im »Oktober 1620«, dem notierten Datum der Niederschrift, konnte Opitz Kriegsgreuel eigentlich noch nicht »gesehen« haben (V. 5), und die berühmte Schlacht am Weißen Berg fand erst am 8. November 1620 statt. Rüstungen und Scharmützel, auch der fehlgeschlagene Zug des Grafen Thum gegen Wien werden Opitz freilich nicht entgangen sein und passen andeutungsweise zum zeitgeschichtlichen Klagegestus des Gedichteingangs. Die Abreise aus Heidelberg wird als Flucht ausgegeben und zielsicher mit der Emigration der Heidelberger Gelehrtenschar korreliert, einer kollektiven Flucht aber, die im Oktober 1620 eigentlich noch gar nicht eingesetzt hatte Offenbar wollte sich Opitz vor Heinsius den Nimbus eines Kriegsflüchtlings zunutze machen und ließ dabei selbstverständlich auch die großen Namen eines Gruter und eines Langelsheim einfließen." A D D A N I E L E M HEINSIUM.
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QUisquis ob immeriti Germanos crimina belli Assiduis dignos fletibus esse putat. Me demat numero, quem magnae opprobria gentis. Et clades reliquis quae nocuere iuvant. Vidimus albicolas vastari caede Bohemos, Et Moravi nimium tristia fata soli: Asscita in tantas quoque nostra Silesia partes. Ante suas vidit barbara signa fores.
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Auszug aus Martin Opitz: Ad Ianum Gruterum. In: ders.: Silvarum Libri III. wie Anm. 1,
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Zitiert im folgenden nach Opitz: Silvarum Libri III. wie Anm. 1. S. 38-40.
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Hue etiam ventum est, ut te, praenobile tantum Ferre merum solitus Rhenus, Ibere, ferat. Utque illas taceam, quas aut cunctatio nobis Intulit, aut alias abdita caussa notas, lila diu Phoebi longe aeeeptissima sedes. Quae de myrthorum culmine nomen habet, Territa fortunae praesentis imagine, iussit Carpere diversas numina docta vias. Chara Palatini, eras forte Hispanica, tellus, Moesto dicebat murmure turba, vale. Nos quoque Gruterum, sed non relliquimus ultro, Et Lingelshemii limina grata lares. Hue igitur veni, superis sie iussus ab ipsis. Et qui vela mihi rexit, amore tui. A teneris isthaec optavimus ora tueri, Ora tuis, Xenophon, anteferenda favis. Nunc me damna beant, et quod sors ante benigna Cedere tot votis noluit, atra dedit. Aspice nos oculis, doctorum sidus, amicis; Non equidem Brenni te quibus ante nepos: Sufficit elatam supra mortalia dextram Hac tibi devota tangere posse manu. Hoc pretio terrae pereat mihi cura paternae. Et bona sic fiat, quae mala caussa fuit. Addimus et versus, sed magna parte iacentes; Hoc, ubi sunt nati, ventus et unda facit. Libera iactatis mens non est; languet ut ipsi: Aonides solidae rura quietis amant. At meliora canam, vestro subvectus amore, Quem per tarn dubium quaerere iuvit iter. Interea mea me repetit fortuna, nee alto Hic quoque subdueta est nostra carina freto. Errandum, et forsan nec Cimbria vasta, nee ille Quae terris olim nunc mihi finis erit. Quo me cunque tarnen fata (ο fata aspera!) ducent, Reflectam ad vultum lumina nostra tuum. Tu gratum fesso littus, tu rursus eunti In mare Ledaei sideris instar eris. Perscriptum in Rheno flumine, m[ense] VIIIbr[is] An[no] M.DC.XX.
Übersetzung A n Daniel Heinsius Jeder, der glaubt, die Deutschen seien wegen der Untaten eines unverdienten Krieges beständigen Weinens wert, soll mich nicht zu denen zählen, welche die Schmach eines großen Volkes und Niederlagen, die anderen Schaden brachten, erfreuen. Gesehen haben wir, wie die an der Elbe wohnenden Böhmen niedergemetzelt wurden, und das allzu traurige Los des mährischen Bodens. Auch unser Schlesien wurde in den gewaltigen Kampf der Parteien hineingezogen; vor seiner Tür erblickte es die barbarischen Feldzeichen. Soweit auch ist es gekommen, daß dich, Spanier, der Rhein ertragen muß, der sonst gewohnt ist, nur hochedlen Wein zu tragen. (10) Und um zu schweigen von j e n e m Schimpf, den uns das Zaudern, oder von einem anderen, den uns ein verborgener Grund einbrachte - es ließ auch jener schon lange bei weitem liebste Sitz des Apollo, der seinen Namen nach dem Berg der Myrten trägt, entsetzt über den Anblick der gegenwärtigen Schicksalsschläge, die gelehrten Geister
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in verschiedene Richtungen flüchten. »Liebe Erde der Pfalz, bald wohl schon spanisch«, sprach in traurigem Murmeln die Schar, »lebe wohl.« Auch wir haben Gruter verlassen, jedoch nicht freiwillig, und das Haus Langelsheims, seine willkommenen Schwellen. (20) So also bin ich hierher gekommen, auf Geheiß der Götter selbst und aus Liebe zu dir, die mir die Segel lenkte. Von Kindesbeinen an verlangte es mich, dein Antlitz zu sehen, ein Antlitz, das sogar deinen Honigwaben, Xenophon, vorzuziehen ist. Nun >beglückt< mich das Unheil, und was ein gütiges Geschick zuvor meinen so zahlreichen Wünschen nicht gewähren wollte, das gab nun ein dunkles. Blicke uns mit freundlichen Augen an, du Stern der Gelehrten, nicht so, wie früher der Enkel des Brennus dich anblickte. Es genügt mir, deine über alles Sterbliche erhobene Rechte mit dieser dir ergebenen Hand berühren zu können. (30) Um diesen Lohn mag mir meine Sorge um das Heimatland vergehen, und was ein übler Anlaß war, mag sich zum Guten wenden. Auch Verse fügen wir hinzu, doch zum großen Teil unvollkommene; dies machen Wind und Welle, wo sie ja entstanden sind. Denen, die hin und her verschlagen sind, ist eine freier Geist nicht beschieden, er ist kraftlos wie sie selbst. Die Musen lieben die ländlichen Gefilde ungestörter Ruhe. Besseres aber will ich singen, in Liebe zu euch emporgetragen, den aufzusuchen auf solch gefährlicher Reise mich mit Freude erfüllte. Einstweilen holt mich mein Schicksal ein, und mein [Lebens-jSchiff ist auch hier nicht der hohen See entzogen. (40) Herumirren muß ich, und vielleicht wird nicht einmal das wüste Cimbrien [Jütland] und werden auch nicht die Länder, die einst die Erde umgrenzten, mir zum Ziel gesetzt sein. Doch wohin auch immer mich das Schicksal (o hartes Schicksal!) entführen wird, meine Augen will ich auf dein Antlitz richten. Du wirst dem Ermatteten ein rettendes Ufer, dem, der wieder aufs Meer fährt, wie das Gestirn der Ledasöhne sein. Geschrieben auf dem Flusse Rhein im Monat Oktober 1620.
In Leiden mußte sich Opitz dem gewünschten Lehrer und Patron nähern ohne das Netzwerk einer bewährten Lehrer-Schüler-Genealogie, die sich in Heidelberg als projektive Solidarität von Klientelbeziehungen (Gruter-ScultetusOpitz) vorstellen ließ. Wohl auch deshalb fingiert das Gedicht in durchsichtiger Hyperbolik quasi lebenslange Sehnsucht nach der Begegnung mit dem großen Heinsius (V. 23), wird Leiden mit Heinsius zum neuen Athen stilisiert (metonymisch durch die Erinnerung an Xenophon, V. 24, angedeutet), wird vor allem aber der Förderung gedacht, die der junge Heinsius einst durch Joseph Justus Scaliger erfahren hatte10 - Scaliger, dessen Name mit »Brenni nepos« (V. 28)" kryptisch umschrieben ist. Was Scaliger einst für Heinsius tat, läßt sich nun poetisch als Wunsch eines beflissenen jungen Gelehrten imaginieren und mit sinnreichen Vergil-Anspielungen 12 unterlegen. Nicht ohne Grund, denn mit 10
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Vgl. das Vorwort der Herausgeberin in: Daniel Heinsius: Nederduytsche Poemata. Faksimiledruck nach der Erstausgabe von 1616. Hg. und eingeleitet v. Barbara BeckerCantarino. Bern und Frankfurt/M.: Lang 1983 (Nachdrucke deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts, Bd. 31), spez. S. 12f. Brennus, in der Antike Führer der oberitalienischen Kelten/Gallier, steht offenbar metonymisch für Oberitalien und verweist damit auf die Heimat der Gelehrtenfamilie Scaliger. Auffällig V. 43: »Fata (o fata aspera!) ducent«. Eine Anspielung auf die Irrwege des Aeneas und dessen glückliche Führung durch das »Schicksal«; »fata aspera« wohl direkt nach Vergil, Aen. 6,882, dort mit der Anrede an Aeneas (»miserande puer«), wodurch mittelbar die Konstellation Heinsius-Opitz in der Vater-Sohn-Konjunktion AnchisesAeneas überhöht wird.
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V. 33 verweist Opitz auf poetische Mitbringsel und damit wohl auf Beilagen des zu überreichenden oder zu übersendenden Gedichtes. Man wird hier weniger an erste Teile des Trostgedichte[s] als an die große Huldigung auf Heinsius' Nederduytsche Poemata,13 an Beispiele der zahlreichen Heinsius-Adaptionen des lyrischen Werkes oder die schon 1621 in Görlitz gedruckte Übersetzung Dan[ielis] Heinsii Lobgesang Jesu Christi denken. Das vieldeutige Beiwort »iacentes« ( V. 33 im Wortspiel mit »iactatis«, V. 35) hat die Bedeutung sowohl des >UnvollendetenUnvollkommenenLiegengebliebenensitus< und >mores< voraussetzt. Die nördliche, fast in barbarischem Kolorit eingefärbte, von Kargheit und torfbefeuerter Kälte gezeichnete Lebenstristesse, erst mit beginnendem Frühling aufgeheitert, bietet zunächst kaum mehr als die Gelegenheit, mit der dänischen Sprache und - wie aus anderen Äußerungen hervorgeht - auch mit den alten dänischen Heldenliedern und Balladen Bekanntschaft zu machen, bietet vor allem aber genügend Muße, Hand ans poetische Werk zu legen. Freilich steht dies Werk nun längst nicht mehr unter den Auspizien einer in bukolischen Symbolismen (Hain, Laub, Grotte, V. 28) angedeuteten Kreativität, sondern unter dem Diktat eines Lebenswechsel, der in imperativischer Verdichtung und mit unverkennbarer Anspielung auf Lipsius' Formel der »publica mala« zu Worte kommt (V. 29f.): »beatis/ in patriae nobis non libet esse malis.« Das »unglückliche«, das »unterdrückte Schlesien« (V. 31) verfolgte Opitz bis in sein heimwehkranken Träume (V. 45-54) und fordert die Entscheidung - hier formuliert in bedeutungsschwerer Reminiszenz an den von Cäsar aufgenommenen Bürgerkrieg: »alea iacta est« (V. 43). Der tatenlose Träumer wird gequält vom Bewußtsein der Untätigkeit und erhofft die Lösung seiner inneren Spannungen vom »Dabeisein« und von der - sei es auch militärischen - Tat. Wie zum atmosphärischen Ausgleich ist dieser nicht anders als politisch verstehbaren Wendung ein literarisches Genregemälde (V. 33-38) vorangestellt: Opitz in einem dänischen Hafen, sein Schiff sieben Tage lang von widrigen Winden zurückgehalten, die unbequeme Hängematte, der dürftige »Fraß« des Kapitäns, der den Fahrgast vertröstet. Heimkehr nach »Deutschland« (»Germania«, V. 39) ist kein Kinderspiel, auch dann nicht, wenn Lübeck erreicht ist und der Landweg beginnt. Mit V. 55 wird in der nun wiederholten Anrede an das »Vaterland« (»patria«)16 mit dem Entschluß zur Heimkehr auch die Gewißheit einer Schicksalsverbundenheit (V. 56!) bekräftigt. Privates läßt sich nicht trennen vom Ausgang der zeitgeschichtlichen Katastrophe. So wendet sich das Gedicht nun zur Situation, zu den Erwartungen des Heimkehrenden und den Erwartungen der Daheimgebliebenen. Es kommt der mittellose Dichter zurück, ohne Vermögen und Reichtümer, jedoch - hier der entscheidende Hinweis (V. 63) auf die »longi solatia belli« - mit dem mehr oder weniger fertiggestellten Trostgedichte in Widerwertigkeit deß Krieges im Gepäck, also - von heute aus gesehen - als Verfasser der bedeutendsten historisch-politischen Dichtung im Deutschland des 17. Jahrhunderts. Opitz deutet an und weiß genau, daß es hier nicht um ein akademisches Exercitium, nicht um ein gefälliges ästhetisches Divertimento geht, sondern konstruiert eine neue und alte Harmonie von Apollo und Achilles (V. 71f.), erinnert auch an den römischen Elegiker Tibull, der einst seinem Gönner Messala ins Feld folgte (nach Tibull 1,3; 1,7). Der Intellektuelle sieht sich neuen Herausforderungen ausgesetzt, denn möglicherweise wird von ihm
"> Darauf bezogen dann in V. 57 das emphatische »diva«. Der semantische Weg zum »heiligen Vaterland« bahnt sich hier an.
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gefordert, was einst Horaz in seinem so oft mißbrauchten, hier bewußt zitierten (V. 70) Vers vom »süßen Tode für das Vaterland« (nach Horaz, carm. 3,2,12) verkündet hatte. Daran nämlich erkenne man die Signatur des Zeitalters (V. 67): »alios mores vitamque hoc postulat aevum.« Als unmittelbare und bescheidene Hoffnung bleibt da nur der Vorausblick auf das Wiedersehen mit dem alten Freund, Landsmann und Vetter Caspar Kirchner, damals Lehrer am Bunzlauer Gymnasium, was Opitz nicht zu wissen vorgibt, ein Vorausblick auch auf ein Quentchen Lebensruhe (»requies vitae«, V. 80) nach der langen Reise: von Schlesien über Heidelberg, Leiden und Jütland nach Schlesien zurück. Gerade die lateinischen Dichtungen, die sich - mit dem hermeneutisch versierten und dem gebildeten Leser rechnend - oft mehr Freiheiten erlaubten als die sofort öffentlich zugänglichen deutschsprachigen Texte, bieten oft fesselnde Einblicke in Opitz' inneren und äußeren Werdegang, auch Einblicke in seine spätestens seit Heidelberg politisch sensibilierte Bewußtseinslage. Dem gedruckten (Euvre gesellen sich dabei Stammbucheinträge, also Beispiele eines Genres, in dem akademische Pflichtleistungen (etwa im Eintrag von Professoren in das studentische Album) von vertraulichen Bekenntnissen und Stellungnahmen im Freundeskreis meist sehr wohl zu unterscheiden sind. Letztere Variante vertreten Verse, die Opitz Esaias Sperer (1582-1629), einem aus Hirschberg stammenden, zum Sekretär von Liegnitz-Brieg aufsteigenden Landsmann, in dessen Album schrieb. Opitz hatte ihn spätestens bald nach seiner Rückkehr aus Jütland kennengelernt. Das Gedicht, 1631 in Nüßlers Sammlung aufgenommen, Desillusion und Verzweiflung des Autors so persönlich und so geballt wie nur selten zum Ausdruck bringend, dürfte im Jahre 1621 entstanden sein. Vom »Tod fürs Vaterland« wie noch beim Abschied aus Jütland (s.o.) ist nicht mehr die Rede. Gleich die ersten Verse kombinieren mit lautmalerischem Nachdruck (V. 1: »ruentis.. .lue«) das Vokabular für den Niedergang einer Stadt (wie Troja oder - bei Augustinus - Rom) mit der ebenfalls in dem Lexem >ruere< ersichtlichen Allusion auf einen der berühmtesten Verse der Horazischen Römeroden: »vis consilii expers mole ruit sua.« (carm. 3,4,65). Wiederum also der Widerschein der antiken Bürgerkriegssituation, wiederum der Aufschrei angesichts von »Meieid«, »Tücke« und »pöbelhaftemWahnsinn«. Dagegen dann (V. 9) in Tönen Senecas (anklingend epist. 3,23,7), was schon Lipsius empfohlen hatte: der Rückzug auf das Gewissen als Wissen um Recht und Gerechtigkeit, um das Richtige im weitesten Sinne. Schließlich noch einmal, gewiß in Harmonie mit dem Besitzer des Stammbuches und dessen literarische Kenntnisse wie Überzeugungen aufrufend, noch einmal also Horaz, der große Lebensbegleiter vor dem Zusammenbruch des alten Europa. Die Verse 1 Of. präsentieren sich in eindeutiger Stellungnahme als Zitat und als entfaltende Erweiterung eines berühmten Horazischen Gedichtanfangs (carm. 1, 22,1): »Integer vitae scelerisque purus«. Hier war Opitz ganz bei sich, nicht in konfessionspolitischem Fanatismus, sondern in der knappen Formulierung der einzig möglichen, der einzig moralischen >ratio vitae< in finsterer Zeit. Der unscheinbare Stammbuch-
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eintrag aus dem Fundus des humanistischen Erbes17 gehört aus meiner Sicht zu den beeindruckendsten Beispielen der zeitgenössischen Dichtung - und wenn ich, lieber Klaus, wieder einmal Deine Opitz-Studien lese, meine ich, Du könntest mir darin zustimmen. IN A L B U M ESAIAE SPERERI
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IN hac ruentis publica mundi lue. D u m fraus et impia obtinent periuria. Et fas malo nefasque miscentur dolo. Quid nos decet, Sperere? Subsequi libet Vesanientis has soli tragoedias. Et more vulgi furere cum furentibus? Quin ad relictae castra plebis Candida Iunctim volemus, et quod illa vult boni Rectique custos sancta conscientia Audacter exequamur. Integrum virum Labisque purum totus orbis deserat, Opprobria sortis pectore invicto tarnen Ridere suevit, et per armatas abit Liber cohortes, alitum velut parens Frustra strepentem per columbarum gregem.
Übersetzung In das Stammbuch des Esaias Sperer Bei diesem seuchenartig um sich greifenden allgemeinen Verfall der Welt, dieweil Tücke und ruchloser Meineid herrschen und Recht wie Unrecht arglistig sich vermischen, was sollen wir da tun, mein Sperer? Gefällt es uns, uns diesen Tragödien einer wahnsinnigen Erde anzupassen und nach Pöbels Art mit den Wahnsinnigen wahnsinnig zu sein? Warum sollten wir nicht gemeinsam in das das Lager der Reinheit fliegen, das der Pöbel verlassen hat, und tapfer vollführen, was jener Hüter des Guten und Rechten, das heilige Gewissen, möchte? Mag auch die ganze Welt den moralisch gefestigten und aufrechten Mann im Stich lassen, so pflegt er dennoch unbesiegten Herzens die Schmähungen des Geschicks zu verlachen, geht frei durch die bewaffneten Kohorten - gleich wie der Vater der Vögel durch die Schar von Tauben, die vergebens lärmt.
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Das Gedicht im folgenden zitiert nach Opitz: Silvarum Libri III, wie Anm. 1, S. 117.
Martin Opitz in Paris (1630) - Zu Text, Praetext und Kontext eines lateinischen Gedichtes an Cornelius Grotius
Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht ein aus 165 Hexametern bestehendes, in stellenweise sperrigem Latein verfaßtes Gedicht, das Martin Opitz am 6. Juli 1630 in Paris an Cornelius, den ältesten Sohn des Hugo Grotius richtete. Es wurde ein Jahr später in der von Bernhard Wilhelm Nüssler (1598-1647) herausgegebenen lateinischen Sammlung der Silvae veröffentlicht,' fand aber selbst in den diversen Studien, die sich mit dem Verhältnis Opitz - Grotius beschäftigen, 2 bisher keine Beachtung. Dies ist bedauerlich, denn es dürfte
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S. hier den Abdruck des Textes samt Übersetzung, ergänzendem Kommentar und bibliographischem Nachweis im Anhang. Eine SpezialStudie über Nüssler, den Liegnitzischen Rat und engen Vertrauten von Opitz, wäre sehr erwünscht. Proben von Nüsslers deutschsprachiger Kasualdichtung, schon Anfang der zwanziger Jahre Opitzens Stilvorstellungen entsprechend, gibt Hoffmann von Fallersleben: Findlinge. Vierte Gabe, Nr. 5) Bernhard Wilhelm Nüßler. In: Weimarisches Jahrbuch für deutsche Sprache, Litteratur und Kunst 4 (1856), S. 147-150. - Für hilfreiche Hinweise bei der Niederschrift dieses Beitrags danke ich Herrn Dr. Robert Seidel, Herrn Adrian Nüssel und Herrn Dr. Luc Deitz. Auszugehen ist von den bekannten Darstellungen: Hermann Palm: Martin Opitz. In: ders.: Beitraege zur Geschichte der deutschen Literatur des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Breslau 1877. Nachdruck Leipzig 1977, hier S. 129-260, spez. S. 189-214 (»Opitz im hause des kammerpräsidenten Karl Hannibal von Dohna. 1626-1632«): Marian Szyrocki: Martin Opitz. Zweite Überarb. Auflage München 1974, spez. S. 74-94, sowie vor allem Klaus Garber: Martin Opitz. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter hg. von Harald Steinhagen und Benno von Wiese. Berlin 1984, S. 116-185, spez. S. 127-131; dazu (wie üblich mit üppigsten Literaturhinweisen, auf die hier nur verwiesen werden kann) im Blick auf die literarische und und politische Bedeutung der Pariser Gelehrtenszene Klaus Garber: Paris, die Hauptstadt des europäischen Späthumanismus. Jacques Auguste de Thou und das Cabinet Dupuy. In: Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. 2 T./2 Bde. Hg. von Sebastian Neumeister und Conrad Wiedmann. Wiesbaden 1987 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung Bd. 14), S. 71-92, hier S. 82f. zu den Kontakten mit Grotius aufgrund der älteren Opitz-Vita von Christoph Colerus. - Zur Grotius-Rezeption bei Opitz spez. s. Christian Gellinek: Wettlauf um die Wahrheit der christlichen Religion. Martin Opitz und Christoph Köler als Vermittler zweier Schriften des Hugo Grotius über das Christentum (1631), in: Simpliciana. Schriften der Grimmelshausen-Gesellschaft II (1980), S. 71-89: ohne Erwähnung des Gedichtes an Cornelius Grotius, jedoch mit einer nützlichen Zeittafel zu den Kontakten zwischen Opitz und Grotius unter Einschluß der sechs späteren Briefe von Grotius an Opitz aus
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Martin Opitz in Paris
sich im poetischen (Euvre des Schlesiers kein zweites Werk finden lassen, in dem Opitz mit vergleichbarem ästhetischen Ehrgeiz nicht nur seine »freundschaftliche« Verehrung für Hugo Grotius formuliert, sondern auch wichtige politisch-literarische Konstellationen der immer noch recht rätselhaften Parisreise zu erkennen gibt. In Christoph Colers lateinischer Gedächtnisrede auf Opitz (1665) und in deren Übersetzung durch Kaspar Gottlieb Lindner (1740) wurde dieses Textes gedacht - zwar mit falscher Datierung, falscher Altersangabe und problematischer Bewertung, aber doch in korrektem Hinweis auf die Interferenz panegyrischer und adhortativer Strukturen bzw. Stilelemente Auser diesem nützlichen Umgange mit grossen und gelehrten Männern vertrieb er sich zuweilen auch die Zeit mit der Dichtkunst. Unter andern schrieb er eine poetische lateinische Vermahnung oder vielmehr ein Lobgedicht an den jungen Cornelium Grotium, welcher zwar damals erst 15. Jahre alt war. aber es in Kundschaft der Sprachen, in der Beredsamkeit und in glücklicher Verfertigung eines Gedichtes schon sehr weit gebracht hatte. Darinnen ermahnt er ihn. den väterlichen Fußstapfen zu folgen, dem Vater an Gelehrsamkeit gleichzukommen. oder ihn gar nach seinem eigenen Wunsche zu übertreffen.
Coler wußte, daß Opitz' Aufbruch in die französische Hauptstadt aktuellen Beweggründen ebenso zu verdanken war wie längerfristigen personalen Bindungen und Zugehörigkeiten. Spätestens seitdem die Fäden der französischen Politik in den Händen Richelieus zusammenliefen, also etwa seit 1624, hatte Paris nicht nur weiterhin als Zentrum der gelehrten »Politiker«, also als ein Ort zu gelten, wo späthumanistische Philologie und Historiographie sich mit dem Studium des Staatsrechts und der Herrschaftspraxis verbündeten, sondern auch als Forum des europäischen - politischen wie militärischen - Kräfteringens.
den Jahren 1631 bis 1639; ders.: Politik und Literatur bei Grotius, Opitz und Milton: Ein Vergleich christlich-politischer Grundgedanken. In: Martin Opitz. Studien zu Werk und Person. Hg. von Barbara Becker-Cantarino. Amsterdam 1982 (Daphnis 11, Heft 3). S. 637-668; ders.: Hugo Grotius als erster Inspirator der frühen Dichtkunst des Martin Opitz: Chronologische Aufschlüsse aus Martin Opitz' Vorbesitzexemplar der Poemata Collecta von Hugo Grotius in der Bibliotheca Gdanska. CF 5046.8°, in: Opitz und seine Welt: Festschrift für George Schulz-Behrend zum 12. Februar 1988. Hg. von Barbara Becker-Cantarino und Jörg Ulrich Fechner. Amsterdam. Atlanta. GA 1990 (Chloe. Bd. 10), S. 187-199; dieser Aufsatz beruht auf unhaltbaren Lesungen. Kombinationen und Datierungen, wie Edwin Rabbie nachweist: Martin Opitz' Notizen in seinem Exemplar der Poemata Collecta (1617) von Hugo Grotius, in Daphnis 22 (1993), S. 173-182. Umständliche Nachricht von des weltberühmten Schlesiers. Martin Opitz von Boberfeld, Leben. Tode und Schriften nebst einigen alten und neuen Lobgedichten auf Ihn. Erster Theil. Hg. von Kaspar Gottlieb Lindnern [...]. Hirschberg 1740, hier S. 197-213 zur Parisreise, das Zitat S. 212. Zu Coler (Köhler)/Colerus ist zu verweisen auf die Arbeiten von Gerard Kozielek (Kosellek): Aus dem handschriftlichen Nachlaß Christoph Kölers. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 52 (1958), S. 303-311; Die Lyrik des Opitzschülers Christoph Köler. In: Germanica Wratislaviensia III (1959), S. 153-173. Nicht zugänglich war mir Kozieleks Beitrag: Nowy dokument podrözy pary skiej Marcina Opitza (Ein neues Dokument von Martin Opitz' Pariser Reise). In: Przeglad Humanistyczny VI (1962). S. 157-163.
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Insofern erscheint es nicht abwegig, die Eindrücke eines anderen deutschen Literaten und Parisreisenden, einen französischen Brief Johann Michael Moscheroschs - mutatis mutandis - auch schon für die Interessenlage von Martin Opitz in Anspruch zu nehmen. Moscheroschs Schreiben an Harsdörffer vom August 1645 erinnert an die Einheit von Politik und humanistischer Bildung bei Männern vom Schlage eines Du Vair, Charles Paschal oder Etienne Pasquier und rühmt die weltumspannende politische Leistung des »Halbgotts Richelieu« in einem Atemzug mit der des Hugo Grotius: 4 »Ich glaube, daß der große Grotius, ein wahres Wunder der Natur und Orakel der gesamten Gelehrsamkeit, genau so viele - wenn man sie sich zunutze machen wollte - praktikable Staatsmaximen aufzuweisen hat wie der größte Monarch des Universums. Und wer würde zu bezweifeln wagen, daß er der erlauchteste Dichter war, der jemals in Menschengestalt erschien.«
In der Person des Dichters, Juristen und Staatstheoretikers Grotius5 wie auch in dessen Pariser Bekanntenkreis konnte Opitz jene symbiotische Harmonie politischer Urteilskraft und literarischer Kompetenz wiedererkennen und wiederfinden, für die er spätestens in den Heidelberger Monaten vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges sensibilisiert worden war. Bezeichnenderweise fand sich Grotius' Name bereits 1623 an der Seite unter anderem von Rigault, Saumaise
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Nach meiner Übersetzung des französisch geschriebenen Briefes aus Johann Michael Moscherosch: CenturiaPrima [-Sexta] Epigrammatum. Frankfurt/M. 1665, hier zit. nach W. Kiihlmann/Walter E. Schäfer: Frühbarocke Stadtkultur am Oberrhein. Studien zum literarischen Werdegang J . M . Moscheroschs. Berlin 1983 (Philologische Studien und Quellen, Heft 109), S. 118-122, spez. S. 120. Bibliographisch grundlegend: Jacob Ter Meulen/P. J. J. Diermanse: Bibliographie des ecrits imprimes de Hugo Grotius. Den Haag 1950; dies.: Bibliographie des ecrits sur Hugo Grotius imprimes au XVIIe siecle. Den Haag 1961; über die in Anm. 2 genannte Literatur (bes. Garber und Gellinek) hinaus bieten weitere Orientierung die übersichtlichen Darstellungen von W. S . M . Knight: The Life and Works of Hugo Grotius. London 1925 (The Grotius Society Publications No. 4); Hasso Hofmann: Hugo Grotius. In: Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert [...]. Hg. von Michael Stolleis. Frankfurt/M. 1977, S. 5 1 - 7 7 , und Henk J . M . Nellen: Hugo Grotius 1583-1645. Geschichte seines Lebens basierend auf seiner Korrespondenz. Bonn 1983 (Nachbarn Nr. 28); weniger bekannt sind die Studien zu Grotius' lateinischer Dichtung; vgl. spez. Otto Kluge: Die Dichtung des Hugo Grotius im Rahmen der neulateinischen Kunstpoesie. Leiden 1950; Adalbert Schroeter: Beiträge zur Geschichte der neulateinischen Poesie Deutschlands und Hollands. Berlin 1909 (Palaestra LXXVII), S. 223-252, sowie - immer noch heranzuziehen: Georg Ellinger: Geschichte der neulateinischen Lyrik in den Niederlanden vom Ausgang des fünfzehnten bis zum Beginn des siebzehnten Jahrhunderts. Berlin und Leipzig 1933 (Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im sechzehnten Jahrhundert III, Erste Abteilung), S. 201-223. Die lateinische Dichtung liegt nun großenteils mit Übersetzungen und Kommentaren vor: B . L . Meulenbroek u.a. (Hg.): De Dichtwerken van Hugo Grotius. Assen 1970ff. (bis 1992 zehn Bände); dazu A . C . Eyffinger: Inventory of the poetry of Hugo Grotius. Assen 1982; ergänzend ders.: Grotius Poeta. Amsterdam 1981. Grundlegend selbstverständlich die monumentale Briefausgabe: Briefwisseling van Hugo Grotius. Hg. von P. C. Molhuysen, B . L . Meulenbroek u. a. Bd. Iff. Den Haag 1928ff.; bisher (1996) 15 Bde. bis 1644.
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und Dupuy unter den »eminentissimi in omni regno literario viri«, deren Bekanntschaft Bernegger vier jungen Schlesiern, darunter Opitz, empfahl. 6 Die hier gleichfalls ans Herz gelegte Reise in die Niederlande hatte Opitz noch absolvieren können. Als er 1630 nach Paris aufbrach, ging es nicht nur um die Distanz zu den immer schwierigeren Verhältnissen in Schlesien, Distanz zu den Drangsalen der Rekatholisierung, 7 sondern gewiß auch um eine lebensgeschichtliche Chance, um das Lernpensum einer idealen späthumanistischen peregrinatio, das Opitz in einer schwierigen Phase seiner Vita entgangen war. In diesem Sinne konnte 1630 nachgeholt werden, was andere ehemalige Studenten aus Berneggers Umkreis schon in die Tat umsetzen konnten. Der Königsberger Robert Roberthin schrieb 1627 und 1629 aus Paris (nicht ohne Grotius' zu gedenken), nachdem er sich vorher in den Niederlanden und sogar in England aufgehalten hatte.8 Selbst dem vom Kriegsunglück hart getroffenen Pfälzer Balthasar Venator, Opitzens engem
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Brief Berneggers an Johannes Wesselius. Caspar Kirchner. Michael Bartsch und Martin Opitz vom 24. Juli 1623, abgedruckt in: Alexander Reifferscheid (Hg.): Briefe G . M . Lingelsheims, M. Berneggers und ihrer Freunde. Heilbronn 1889 (Quellen zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland während des siebzehnten Jahrhunderts, I.). Nr. 126. S. 170-172. Es waren die Jahre, in denen z.B. in Groß-Glogau Andreas Gryphius die mit Hilfe der Lichtensteiner Dragoner ins Werk gesetzte »Rekatholisierung« erleiden mußte. Bewegend die Schilderung im Brief Opitzens an Colerus Mitte November 1628 (Reifferscheid, wie Anm. 6, Nr. 278. S. 341; hier auch ein Seitenblick auf die Glogauer): »[...] Sed ea nunc ingruit temporum conditio, quae coloniam mutare m e aliosque procul dubio iubebit. Glogovienses, vix X X X civibus exceptis, omnes pontificiorum partibus accesserunt. [...] Nunc, uti coniecturam capere possum, de ducatus Svidnicensis ac Iavorensis corio ludetur, ita ut ob parentes nostros ac necessitudines non mediocri in metu constitutus sim. Exactionibus crebris, stationibus militum, armilustriis aliisque technis tota provincia ita exhausta est. ut ne millesimo quidem ullum fugae restet praesidium.« [dann, nach Hinweis auf seine bedrängte finanzielle Lage, ein Seitenhieb gegen die Scharfmacher und Großsprecher:] »Orandus est Deus, ut constantiae nobis consilia caelitus suggerat. De virtute sibi agnata et robore animi gloriari, vanissimum est. Et plerunque ii, qui secundo adhuc tempore paratragoediare audent viresque suas iactare. ubi ad rem ventum est, desertorum agmen ducunt.« [Dementsprechend die Verteidigung seiner Teilnahme an den katholischen »Zeremonien«]: »Intueri nugas ceremoniarum hactenus coactus fui: ut credam, quae Deus vetat, nemo mortalium m e coget. [...]« Ein undatierter Brief des Jahres 1629 an Colerus (ebd. Nr. 287, S. 3 5 l f . ) berichtet, daß Opitz von Karl Hannibal von Dohna Vergünstigungen für seine Eltern erreichen konnte: »[...] Parens meus exul hactenus superioribus diebus hie fuit, cui ego, quod nemini adhuc in tota provincia factum est, liberam domi habitandi facultatem ad menses sex intercessione illustris burggravii impetravi, quibus elapsis alios iterum sex. rursusque alios petam, ut bonis dividendis rectius consulere et rebus suis familiaeque possit. [...].« Briefe von Robertin aus Frankreich an Bernegger bei Reifferscheid (wie Anm. 6): Nr. 238, S. 292f.; Nr. 253. S. 309f.; Nr. 268, S. 327f„ letzterer mit Nachrichten über die Belagerung von La Rochelle. Zu den zeitgenössischen Typen der Reisen und der Reisebeschreibung s. den instruktiven Aufsatz von Jörg Jochen Berns: Peregrinatio academica und Kavalierstour. Bildungsreisen junger Deutscher in der frühen Neuzeit, in: R o m - Paris - London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen. Ein Symposion. Hg. von Conrad Wiedemann. Stuttgart 1988 (Germanistische Symposien. Berichtsbände. 8), S. 155-181.
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Freund, auch er übrigens ein Leser von Grotius' Werken, war es vergönnt, als Erzieher der Söhne des Augsburger Patriziers Marcus von Rechlingen nach Sedan und schließlich nach Paris zu reisen." Überdies gab es genügend aktuelle politische Signale, die es nahelegten, daß Opitzens Dienstherr Karl Hannibal von Dohna, Breslauer Kammerpräsident und habsburgischer Machthaber in Schlesien, dem seit kurzem geadelten Dichter einen privaten Urlaub nicht nur aus Dankbarkeit für die Widmung 10 des zweiten Teils der Gedichtausgabe von 1629 oder für diplomatische und literarische Dienstleistungen gewährte. Dazu gehörte bekanntlich die Teilnahme an Verhandlungen in Berlin, Warschau, Prag und Dresden, gehörten diverse Huldigungspoeme, aber auch die Übersetzung des Manuale controversiariim aus der Feder des vergleichsweise irenisch gesonnenen Jesuiten Martin Becanus." Das Jahr 1629, kurz vor Gustav Adolfs Landung in Pommern, brachte das Ende des dänischen Krieges, verstärkte damit aber auch die Bemühungen Richelieus, Dänemark weiter an das antikaiserliche Lager zu binden und - nach dem Friedensschluß zwischen Polen und Schweden - die freigewordenen schwedischen Kräfte gegen das Haus Österreich zu aktivieren. Opitzens Reise nach Paris fällt in die Phase intensiver französisch-schwedischer Verhandlungen, die von Richelieu geschickt mit diplomatischen Missionen abgedeckt wurden, die seinen Unterhändler Hercule-Girard de Charnace an die verschiedensten europäischen Höfe führte.' 2 Es spricht alles dafür, daß die habsburgischen 9
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Vgl. Venators Brief an Lingetsheim aus Paris vom 14. Juli 1631. bei Reifferscheid (wie Anm. 6). Nr. 404, S. 4 6 7 - 4 6 9 . Das fiktive Gespräch mit den Freunden Buchner. Nüssler und Venator, wie es Opitz in seiner »Schäfferey von der Nimfen Hercinie« (Erstdruck 1630. Widmung datiert Ende 1629) in den Mittelpunkt rückt, umkreist das problematische Verhältnis zu Dohna, die Polarität von Heimat und Fremde. Nutzen und Mißbrauch des Reisens und gibt in manchen Andeutungen die Spannungen der späten zwanziger Jahre wieder. Venator weist hier auf die Parisreise voraus (in der Reclam-Ausgabe von Peter Rusterholz. Stuttgart 1969, S. 13f.): »Ich habe freylich gehöret/ daß du deinem Vaterlande auff etzliche monat guete nacht geben/ vndt in dem königreiche darauß ich newlich abgereiset bin/ die ziehr der Städte/ die schule der leutseligkeit/ die muter der gueten sitten auff der insel der Seyne begrüßen wilt.« - Eine neuere Monographie über Venator gehört zu den Desideraten. Einstweilen sind - wie immer neben Reifferscheid - zu konsultieren: W. Kühlmann/Hermann Wiegand (Hg.): Parnassus Palatinus. Humanistische Dichtung in Heidelberg und der alten Kurpfalz. Lateinisch-deutsch. Heidelberg 1989. S. 2 0 8 - 2 1 0 und 292-294, sowie Hans-Henrik Krummacher: Laurea Doctoralis Julii Guilielmi Zincgrefii (1620). Ein Heidelberger Gelegenheitsdruck für Julius Wilhelm Zincgref mit einem unbekannten Gedicht von Martin Opitz. In: Opitz und seine Welt (wie Anm. 2). S. 2 8 7 - 3 4 9 . spez. S. 334-338. Nur in dieser Auflage (C) vor dem zweiten Teil der »Deutschen Poemata«. Abdruck in: Martin Opitz. Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hg. von George Schulz-Behrend. Bd. I ff. (im folgenden abgekürzt GW), hier Bd. IV: Die Werke von Ende 1626 bis 1630, 2. Teil. Stuttgart 1990. S. 451^153; vgl. aus den Dohna gewidmeten Texten auch den »Panegyricus« von 1627 (Bd. IV. 1, 8.^53-60). Vgl. die Charakterisierung des Werkes bei Gellinek (1982. wie Anm. 2). S. 650-655. Zur Lektüre empfiehlt sich die faszinierende Darstellung von Carl J. Burckhardt: Richelieu. München 1984 (einbändige Ausgabe des ursprünglich vierbändigen Werkes) hier bes. (in getrennter Paginierung der Bände) Teil I, S. 329-341.
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Parteigänger in Schlesien möglichst aus erster Hand über die eigentlichen Intentionen der französischen Diplomatie und über die politische Atmosphäre in Paris informiert werden wollten. Die Reise des Dichters und Diplomaten Opitz gehörte demnach auch in das Umfeld jener sich kompliziert verschränkenden Sondierungsversuche, in denen auf beiden Seiten der Kriegsfronten die Zukunftsperspektiven der europäischen Allianzpolitik abgesteckt wurden. Dohna unternahm diese Sondierungen unter anderem in Danzig und sandte gleichzeitig, wie Coler andeutet, an Opitz in Straßburg offenbar recht genaue Instruktionen in Form eines »rem aggrediendi ac agendi praescriptum«." Ein auf der Rückreise in Straßburg an Dohna verfaßter Brief vom 9. September 1630, wohl als einziger aus beider Briefverkehr jener Monate greifbar, läßt erkennen, wie genau Opitz seinem Gönner über die Pariser Unterredungen und über die neuesten Gerüchte und Nachrichten, darunter über die Lage der Hugenotten, Bericht erstattete und dabei offenbar auch Zusammenfassungen oder Abschriften anderer ihm zugegangener Schreiben wie denen des Jean Hotmann mitteilte.14 Es kann gewiß keine Rede davon sein, daß Opitz, wie der sonst so belesene Hermann Palm zu wissen meinte, »lediglich um seiner selbst willen reiste«.15 Vor allem anhand der großenteils bei Reifferscheid gedruckten Briefwechsel lassen sich Kontakte und Stationen dieser Reise bis zur Ankunft in Paris (Ende April/Anfang Mai) recht gut erschließen. Der Weg führte im Frühjahr 1630 Uber Dresden, Leipzig, Gotha, Hanau, Frankfurt (Ende März) und Straßburg. Besucht wurden dabei nicht nur alte oder neuere Bekannte wie Johannes Seussius und Caspar von Barth, sondern auch Melchior Goldast, der bekannte Experte der Reichshistorie und Reichspublizistik. 16 Keine dieser Begegnungen erreichte nur annähernd die Bedeutung des Wiedersehens mit den alten Gönnern Georg
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So Coler in seiner Vita, hier nach dem Abdruck bei Lindner (wie Anm. 3). S. 91. S. den Abdruck bei Palm ( wie Anm. 2), S. 2 1 0 - 2 1 2 . und bei Reifferscheid (wie Anm. 6). Nr. 346, S. 417f. Palm (wie Anm. 2), S. 207. Goldast gehörte bekanntlich schon zu dem im »Buch von der Deutschen Poeterey« (1624) angezogenen Autoritäten; zu ihm s. den Artikel (sub verbo) von W. Kühlmann. In: Literaturlexikon. Hg. von Walther Killy. Bd. 4. Gütersloh/München 1989, S. 262f.: seitdem erschien Anne A. Baade: Melchior Goldast von Haiminsfeld. Collector, Commentator und Editor. New York usw. 1992 (Studies in Old Germanic Languages and Literatures. Vol. 2). - Zu Barth zusammenfassend der Artikel von W. Kühlmann (sub verbo). In: Literaturlexikon. Hg. von Walther Killy. Bd. 1. Gütersloh/München 1988, S. 321f., sowie mittlerweile mit umfangreichen Textauszügen. Übersetzungen und Kommentaren: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch und deutsch [...] ausgewählt, übersetzt, erläutert und herausgegeben von W. Kühlmann. Robert Seidel und Hermann Wiegand. Frankfurt/M. 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker 146. Bibliothek der Frühen Neuzeit. Bd. 5), S. 8 6 3 - 9 3 und 1484-1527. - Zu Seussius weiterführend Jörg-Ulrich Fechner: Ein unbekanntes weltliches Madrigal von Heinrich Schütz. Gelegenheit und Gelegenheitsgedicht, erwogen aus germanistischer Sicht. (Mit Anhängen zur Sessius-Bibliographie und -Ikonographie). In: Schütz-Jahrbuch 6 (1984/1985). S. 2 3 - 5 1 .
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Michael Lingelsheim, dem ehemaligen pfälzischen Oberrat, und Matthias Bernegger, dem berühmten Historiker in Straßburg.' 7 Von ihnen, vor allem von Lingelsheim nämlich, war einst in Heidelberg das politische Bewußtsein des Studenten Opitz geschärft und sein literarisches Werk im Kreise der Gruter, Zincgref und Bernegger nach Kräften gefördert worden. Es war gewiß in erster Linie Lingelsheim, der Opitz' Aufmerksamkeit auf Grotius lenkte, denn wohl kaum früher als in der Heidelberger Zeit dürfte Opitz sich mit den Werken des von seinen radikalcalvinistischen Landsleuten so schmählich behandelten Gelehrten genauer vertraut gemacht haben.18 Bis in sein höchstes Alter, beginnend etwa mit dem Jahre 1604, unterhielt Lingelsheim, auch er eher den Arminianern zuneigend, mit Grotius einen dichten Briefwechsel, in dem jener an de Groots wissenschaftlichem Werk in all seinen Teilen und Aspekten regen Anteil nahm und bald das ungezwungene Vertrauen des Niederländers genoß. Opitz wurde von Lingelsheim für die Pariser Gelehrten- und Politikerszene gewiß wohlpräpariert.1" Als Grotius am 22. August 1630 an Lingelsheim aus Paris schrieb, setzte er die neue persönliche Bekanntschaft mit Opitz auf das Konto der alten Freundschaft und geistigen Allianz mit dem Pfälzer: 20 Opitii, quem mihi commendaveras, Lingelshemi optime, et ingenium et eruditio et mores mihi se probent, haud facile dixero: sed tu ex te de me iudicium facito. nec falleris. Vereor, ne hoc arrogantius sit, sed dicam tarnen, recordari me summa cum voluptate, quae nobis fuerit iam a multo tempore et studiorum et iudiciorum germanitas. Hoc tantum dolet, quod viro tali et amico, quod summum est tuo, non potuerim rebus ipsis ostendere, quanti eum facerem. [...] De publicis addo nihil. Vix quicquam est. quod narrare libeat, et si quid est, Opitius ne haec quidem ignorat. [...]
Ein Gang durch den Briefwechsel Berneggers und Lingelsheims zeigt, wie präsent sich Grotius' Schicksal, sein Wirken und seine Werke im Gedankenhaushalt der Deutschen ausnahmen und wie auch Opitz in den zwanziger Jahren von den politisch-irenischen Projekten und den gelehrten Arbeiten des Niederländers
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Eine einigermaßen hinreichende Darstellung Lingelsheims fehlt. Sie ist wohl von der Dissertation aus der Feder von Axel Walter (Osnabrück) zu erwarten, der in seiner Magisterarbeit (masch.) schon das bislang fehlende Repetorium der Lingelsheimschen Korrespondenz erarbeitet hat. - Zu Bernegger zusammenfassend der Artikel von W. Kühlmann (sub verbo). In: Literaturlexikon. Bd. 1 (wie Anm. 16), S. 450f. Dazu die Abweisung der allzu frühen Datierungen Gellineks durch Rabbie (wie Anm. 2). Schlaglichter auf die Grotius-Lektüre Opitzens in Schlesien bietet ein Brief an Colerus aus dem Jahre 1629 (undatiert: Reifferscheid Nr. 287. S. 35lf.): »[...] Magnopere me torquet penuria librorum. Quid quod Grotii apologia iamdum edita [also wohl der Apologeticus, Paris 1622, Neuauflage Heidelberg 1629], nondum adhuc mihi et ipsa lecta sit. Beaveris me. si sarcinas tuas hoc libro onustiores reddideris. Eius de Christiana religione libros [also wohl das Prosawerk De veritate religiotiis christianae, Paris 1627] Suibusii in hibernis legendos mihi exhibuit Mart. Ν. [gemeint ist Martin Rauer]. [...].« Einen guten Überblick bietet Josephine de Boer: Men's Literary Circles in Paris, 16101660. In: Publications of the Modern Language Association of America LIII (1938), S.730-780. Reifferscheid (wie Anm. 6), Nr. 344, S. 415.
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fasziniert wurde. Bereits im Vorwort seiner 1628 verfaßten Übersetzung des Grotiusschen Jonas-Epyllions suggeriert Opitz seinem Leser eine bereits seit Jahren dauernde Freundschaft mit - dem allerdings hier ungenannten - Grotius und kündigt an, »deßelben fußstapffen nach zue gehen«.21 Im selben Jahr erhielt Opitz durch Coler und Bernegger die Nachricht, Grotius wolle eine Abschrift der von Opitz gesammelten »dacischen« Inschriften erhalten, eine Bitte, die über Bernegger bald darauf erfüllt wurde.22 Während dessen kümmerten sich Lingelsheim und Bernegger um neue Publikationsvorhaben: Der Calvinist Johannes Hotomannus (Jean Hotman) ließ durch Bernegger seinen Syllabus irenicorum autorum herausbringen, ein Werk, das durch Grotius übersandt wurde und ihm sogar von Bernegger bisweilen selbst zugeschrieben wurde, freilich mit der skeptischen Bemerkung, daß derlei im augenblicklichen Lärm der Schlachten wohl kaum gehört werde.23 Lingelsheim erhielt 1628 - nicht nur als Leser, sondern als kompetenter »iudex« - Grotius' Programmschrift De veritate Religionis christianae, also die lateinische Prosafassung des im Kerker verfaßten Alexandrinergedichts Bewijs van den waeren Godsdienst, dies mit der folgenreichen Bemerkung: »[...] Si qui apud vos avent recudere aut etiam vertere, non impedio, dum aliquid tuae sollicitudinis accedat, quam scio pro me ac meis semper esse maximam [.. ,].«24 Folgenreich insofern, als, wie bekannt, Opitz sich vielleicht schon in Paris an die deutsche Fassung des niederländischen Gedichts heranwagte, während sein Freund Coler (nachdem Venator, ursprünglich als Übersetzer vorgesehen, nicht erreichbar war) im Frühjahr 1631 die deutsche Übersetzung des lateinischen Prosatraktats ins Werk setzte - eine Überschneidung, die bei Grotius dann leicht zu Mißverständnissen führen konnte.25 Nachdem Lingelsheim aus Paris schon am 10. April 1628 durch seinen Briefpartner Daniel Tilenius, geboren im schlesischen Goldberg, über die Details der Belagerung der Hugenottenfestung La Rochelle informiert worden war,2" nahm sich Opitz des Grotiusschen Gedichtes De Capta Rupella an. In Breslau erschienen 1629 zwei Drucke der lateinischen Vorlage samt Übersetzung.27 Diese 21 22
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G W IV. 1 (1989), S. 181-213. spez. S. 185. Vgl. Reifferscheid (wie Anm. 6). Nr. 271. S. 332; Nr. 273 und 274, S. 3 3 5 - 3 3 7 : Nr. 281. S. 344f. Vgl. Reifferscheid (wie Anm. 6). bes. Nr. 244. S. 300: Nr. 275, S. 337f. mit dem Kommentar S. 814f. Reifferscheid (wie Anm. 6). Nr. 260. S. 317 Grotius wußte zeitweise nicht genau, wer die niederländische bzw. lateinische Fassung ins Deutsche übersetzte; dazu Gellinek (1980, wie Anm. 2), S. 76-79. S. Reifferscheid (wie Anm. 6), Nr. 261, S. 318f. Opitz notiert in einem Brief an Colerus aus d e m Jahre 1629. wer ihm entsprechende Anregungen gab; s. Reifferscheid (wie Anm. 6), Nr. 287, S. 3 5 l f . : »[...] Gravissimos in Rupellam Grotii versus princeps ille [d. i. Herzog Heinrich Wenzeslaus von Münsterberg] una cum Maecenate meo [also Dohna], optimo etiam horum studiorum censore, miris extulere laudibus adeoque typis, ut apud nos describi paterer, voluerunt.« S. den Abdruck samt Kommentar in G W IV. 1, S. 324-328.
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Publikation läßt nichts erkennen von antikatholischer Aggression. Opitz hält sich an Grotius' Konzeption, die Stadt La Rochelle in der Ich-Form ihr Schicksal beklagen zu lassen. Die Niederlage erscheint als Folge resolut ausgeübter königlicher Macht, mit der die »Natur« selbst überwunden wird. Opitz scheut sich nicht, Grotius' - gewiß in eigenem Interesse liegende - Huldigung an Ludwig XIII. getreulich im Deutschen wiederzugeben, Zeugnis im übrigen eines unsentimentalen politischen Realismus, der dem kaiserlichen Burghauptmann in Breslau gewiß zusagen, Opitzens Freunde aber ebenso befremden konnte wie dessen bald darauf niedergeschriebenes, nur handschriftlich erhaltenes Epigramm auf den Fall Magdeburgs. 28 Opitzens Übersetzung führte die Serie früherer deutscher Adaptionen einzelner Grotius-Gedichte fort.29 Spätestens seit 1624, wahrscheinlich aber seit der Heidelberger Zeit, besaß Opitz ein Exemplar der Grotiusschen Poemata Collecta, die 1617 in Leiden erschienen waren. Daneben las Opitz Grotius' Excerpta ex tragoediis et comoediis Graecis (Paris 1626) und stieß auch sonst - etwa in den Werken von loseph lustus Scaliger oder Heinsius - auf Spuren der philologischen Bemühungen de Groots. So darf man sagen: Es gab in Paris keinen anderen Gelehrten, der Opitz durch Lektüre, dabei auch in produktiver Auseinandersetzung, sowie durch eigenen und fremden Briefverkehr, von den Straßburger Gesprächen ganz abgesehen, so vertraut gewesen wäre wie Hugo Grotius. Im Horizont dieser - alle poetischen, philologischen und konfessionspolitischen Aktivitäten des Niederländers einschließenden - Vorbereitung auf die Frankreichreise ist das anfangs erwähnte Gedicht zu behandeln.
Es gehört zu den geläufigen Konventionen der älteren Kasualdichtung, die Schreibsituation des sprechenden Ichs mit der Exposition des gegebenen Adressatenbezugs zu verschränken. Die so keineswegs verhüllte Doppelseitigkeit der kommunikativen Voraussetzungen wird von Opitz in diesem Fall um eine dritte personale Referenzebene erweitert und darstellerisch so genutzt, daß in der scheinbar dominierenden Anrede des jungen Grotius doch aller poetischer Aufwand auf die in mehrfacher Hinsicht repräsentative Vorbildfunktion des
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Dazu mit dem Abdruck des Textes Claus Lenz: Die Jungfrau und der Poet. Martin Opitz über die Eroberung Magdeburgs. In: Simpliciana IX (1987). S. 193-203. Abwegig hier die These (S. 198), es sei »sicherlich mutig gewesen«, daß Opitz seine Übersetzung des Grotiusschen Gedichtes »unter den Augen seines strengen Herrn« veröffentlicht habe. Dohna selbst gab dazu die Anregung, wie die oben zitierte Briefstelle nachweist. M a n verfolge die Texte und weiteren Hinweise in den G W anhand der Namensregister, bes. die Übersetzungen und Referenzen in Bd. II. 1. S. 4 . 1 8 1 , 319; II, 2. S. 699-701; IV, 2, S. 106. 446.
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großen Vaters abzielt. In diesem Sinne läßt sich die Struktur des Gedichtes wie folgt beschreiben und charakterisieren: A) Einleitung (V. 1-9) und C) Schlußteil (V. 151-165) bilden einen biographisch akzentuierten Rahmenkomplex, der einerseits die Eindrücke des in Paris angeblich kaum erst Angekommenen (V. 153, »Aduena vix nuper«) zusammenfaßt, andererseits bereits die Heimkehr nach Schlesien und die ungewisse Aussicht auf Erfüllung der eigenen Wünsche zur Sprache bringt. B) In diesen Rahmen ist das aus sechs Teilen bestehende Zentrum des Verswerkes eingebunden. Seine strukturbildenden Passagen werden zwar durch Überleitungszeilen miteinander verknüpft, lassen jedoch klare thematische Schwerpunkte und den Abschluß des jeweiligen Gedankengangs erkennen, nämlich: 1. V. 10-19: Opitz läßt vorab keinen Zweifel daran, daß für ihn unter den Pariser Bekannten der ältere Grotius eine überragende Bedeutung gewonnen hat (V. 1 Of.). Cornelius wird hier wie im folgenden als Sohn eines ruhmreichen Vaters angesprochen, in dessen Fußstapfen (»vestigia«, V. 70) der Jüngere einst treten soll. Zugleich gewährt der Dichter dem siebzehnjährigen Cornelius das Gefühl der Vertraulichkeit, ja der Exklusivität. Indem Opitz vorgibt, gerade dies Gedicht - offenbar aus Anlaß des Namenstages (V. 13-19) - nur für den Sohn zu schreiben und dem Vater nicht vorzulegen (V. 1 Iff.), ist freilich auf - auch syntaktisch - raffinierte Weise der große Schatten des eigentlichen Adressaten selbst noch im Modus der Negation gegenwärtig. 2. V. 20-50: Opitz beginnt mit einer panegyrisch getönten Anrede (»O spes Pieridum«), findet sein Aussagezentrum aber in dem bald folgenden Imperativ des »vigili peruolvere corde memento« (V. 23). Das Gedicht will in »Erinnerung« rufen, in poetischer >Memoria< festhalten, was der Vater, seine Gattin, seine Familie geleistet haben, und dies nicht nur in zufälliger Individualität, sondern auch als Repräsentanten der freien Niederlande, die um die Seeherrschaft ringen. Immer wieder unterstreicht Opitz durch Imperative (V. 91, 129) diesen adhortativen Grundzug der Versrede, manchmal in ein proleptisches Futur (V. 12 lf.) oder in eine Apostrophe wechselnd, die im konstatierenden Präsens Evidenz suggerieren soll (V. 25, 73, 130). Grotius, der von seinen Landsleuten verfolgte und ins Exil getriebene Gelehrte steht für mehr als für sich selbst. Er verkörpert sein Vaterland (»patria«, V. 26) und damit die Koinzidenz von Heroismus und moralischer Integrität (V. 25ff). Cornelius soll mit jenem Pfunde wuchern (V. 23), das Opitz bezeichnenderweise zunächst - im Kreis der »argumenta virtutum« (V. 24f.) - als kühne Eroberung unbekannter Erdteile und als - wenn auch schicksalhaft begrenzten - Freiheitskampf gegen die spanische Weltmacht bestimmt. Über väterliche und mütterliche Verwandtschaft vermittelt und mit auffälligem Einsatz von Stilmitteln des Heldenepos werden zunächst die Taten des großen Seefahrers Jacob van Heemskerck (1567-1607) ge-
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rühmt. Grotius und seine Leser müssen sich dabei an das Epicedium Jacobi Hemskerckii erinnert haben, das bereits in der ersten Sammelausgabe der Grotiusschen Gedichte zu linden war.30 Die Heemskerck-Passage versteht sich als Signal der Kennerschaft und auch als >intertextuelle< Huldigung an den Poeten Grotius. 3. V. 51-70: In der historisch bestätigten oder zumindest nachdrücklich beschworenen Korrelation von »gloria« und »virtus« erhält nun die berühmte Befreiungstat ihre argumentative Rechtfertigung, jener kühne Akt, mit dem Grotius' Frau Maria van Reigersberch am 22. März 1621 ihren Gatten in einem Bücherkorb aus seinem Gefängnis auf Schloß Loevenstein in die Freiheit entführte (V. 59f.). Opitz verwendet Kategorien gottgewollter ehelicher Liebe und Treue, legt jedoch Wert darauf, die Flucht des Gefangenen nicht als Abkehr von der Heimat, nicht als gegen die Interessen der Niederlande gerichteten Widerstand erscheinen zu lassen. Am Exempel des aus Athen im Jahre 482 v. Chr. vertriebenen Feldherrn Aristides wird diese Argumenationslinie unterstrichen und zugleich die später thematisierte Hoffnung des Grotius auf Rückkehr in die Heimat paradigmatisch illustriert: Dauerte doch das Exil des Aristides kaum länger als zwei Jahre und galt Aristides - mit dem Beinamen »der Gerechte« - nach Herodot (Hist. 8,79ff.) doch als eine Persönlichkeit, die in der Rolle des Feldherrn und Politikers trotz des vorübergehenden Exils an führender Stelle ihrer Vaterstadt Athen (an der Seite des Themistokles) wirkte. Das Beispiel des republikanischen Athen erweckt dabei auch das Nachdenken des Lesers über Risiken und Chancen eines Politikerschicksals im Kräftespiel verschiedener nationaler Fraktionen.
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In: Hugonis Grotij Poemata collecta [...]. Leiden 1617. S. 9 9 - 1 0 3 : Charakterisierung im Zusammenhang der anderen patriotischen Gedichte Grotii bei Ellinger (wie Anm. 5), S. 213: »Das Heemskerk-Epicedium gehört zu den vaterländischen Gedichten und ist von Grotius auch in diese eingereiht. Der Admiral Heemskerk hatte 1607 mit sechs Schiffen bei Gibraltar die viel stärkere spanische Flotte angegriffen und geschlagen, aber im K a m p f e den Heldentod gefunden. Der Eingang des Gedichts vergegenwärtigt den Widerstreit zwischen dem allgemeinen Siegesjubel und dem ebenso allgemeinen Kummer um den Verlust des Führers: dann tritt dieser selbst auf, wie er vor der Schlacht die Mannschaften anspornt: zweckmäßig schließt sich ein nochmaliger Hinweis auf die Größe des Erfolges an: »ungeheure, unvergleichliche Niederlage der Spanier, aber allzu teuer erkauft: die Holländer haben gesiegt, aber der fiel, der die Holländer siegen gelehrt hat.« Erst nachdem so das die Gegenwart Bewegende erfaßt ist. wird ein Blick auf Heemskerks frühere Taten geworfen; selbstverständlich in erster Linie auf seine Versuche, durch das Polarmeer nach Indien vorzudringen, wobei das Ereignis im Vordergrunde steht, das sich der Volksphantasie unauslöschlich eingeprägt hat: der furchtbare Eiseswinter, den Heemskerk und seine Leute auf Nowaja Semlja zubringen mußten (1596).«; vgl. den Neudruck des Gedichtes mit dem Kommentar in: The Poetry of Hugo Grotius. Original Poetry 1604-1608, ed. by Edwin Rabbie. Assen/Maastricht. Amsterdam 1992 (De Dichtwerken van Hugo Grotius, I, 2. pars 4 A en Β), S. 375-391.
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Martin Opitz in Paris
4. V. 71-121: Der ausgedehnte Mittelteil des Gedichts wird vorbereitet von einer Seligpreisung (>Makarismosumanesimo volgareWettbewerb< mit dem antiken Modell konzipiert wurde. 40 Es würde hier zu weit führen (vgl. aber den Kommentar!), im einzelnen zu verfolgen, in welchen Versen oder auch feineren Anspielungen Opitz das (Euvre des alten Grotius in diesem Gedicht gegenwärtig hält: die rechtskundlichen Studien und Publikationen, die Bedeutung des Tragödiendichters, das naturwissenschaftliche Interesse und die polyglotte Brillanz, aber auch die noch ungedruckten historiographischen Schriften, deren künftige Publikation zu »erhoffen« war. >Opitz in ParisKirchenvätern< auftauchend; hier vielleicht nicht wörtlich, aber dem Sinne nach anspielend auf Lukas 19,16ff. 2 3 peruolnere) Vielleicht beeinflußt von Catull 95, 6. 2 3 Memento) Der Versschluß erinnert unausweichlich an die berühmte Ansprache des Anchises an Aeneas, Vergil, Aen. 6, 851. 2 5 pulchri calcar honesti) Junktur wohl in Anlehnung an Seneca dial. 5.3,1 (= De Ira 3.1): Calcar ait esse vhlutis; beim Begriff des honestum, zumal hier mit pulchrwn verbunden, denkt man an die Ciceronische Bestimmung in de off., bes. 1.5ff.; hier auch 1.6 die Konjunktion honestum-pulchrum. 2 6 virum domitrix) Wohl unklassisch; sonst nur in Verbindungen wie equorum domitrixu. ä. 27 Batavia) Antikisierende, in der Geschichtsschreibung der Zeit beliebte Bezeichnung für die Niederlande in Anlehnung an Tacitus (zum Volk der Bataver und zum Bataveraufstand bes. hist., 4 und 5 passim). 29 pectore somnos) Versschluß wie Statius. silv. 3.2.82. 3Iff.) Zu Heemskerck s.o. im Vortrag mit Anm. 30. 31 Hos) Zu erwägen ist die Konjektur »Has« im Bezug auf das Vorhergehende »laudibus«; doch ist eine >constructio ad sensum< denkbar: avitis laudibus = avorum laudibus. primus) Der erste Erfinder oder Protagonist einer Sache oder Handlung (griech. protos Heuretes) wird häufig - oft mit der Konjunktur qui primus - in der antiken Dichtung gerühmt; s. K. Thraede sub verbo >Erfinder IIMakarismosTragödie< nach dem hohen Schuh des tragischen Schauspielers. Grotius' Tragödie Adamus exul erschien in Den Haag 1601: vgl. nun die Neuausgabe: Sacra in quibus Adamus exul. De Dichtwerken van Hugo Grotius I. Erste Deel A [Text und Übersetzung], Β [Kommentar], hrsg. [...] Dr. B.L. Meulenbroek. Assen 1970 bzw. 1971. 73f. Pandionis arces Cecropiae) Athen; Cecrops war der mythische Gründer von Athen. Pandion einer seiner sagenhaften Könige. 75 Aonios [...] amies) Die Ströme der Musenquelle (aoniiis eigentlich = >böotischad fontes< mit der Vorstellung des Trunks aus der Musenquelle; ähnlich z.B. Lukrez 1,4-1 1 f.: usque adeo largos haustus e fontibus magnis/lingua meo suavis diti depectore fluider, oder Statius, silv. 2.2,36: Non. mihi si cunctos Helicon indulgeat amnis. 76 praeludere) Im hier gebrauchten Sinne wohl vor allem bei Poeten der sog. silbernen Latinität wie Statius, silv. 1, Widmungsvorrede, woraus Opitz vielleicht seine Junktur übernahm (bei Statius: operibus suis [...]praeluserit). 77 Dulce) Als Beiwort für das Epigramm, das ja eher als witzig und bissig (salsum) zu gelten hatte, ungewöhnlich; dulce paßt eher zur Odendichtung. 79 toto [...] iuba ludit in anno) Angeregt von Bildern der Körperlichkeit wie Silius 16. 362f.: insignis multa cen'ice et plurimus idem/ ludentis per colla iubae.
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Martin Opitz in Paris
82 Cirrhae latices) Cirrha, Hafenstadt von Delphi, dem Apollo geweiht; der Begriff hier also im Sinne von Dichtung als Versdichtung; der ganze Vers rekapituliert Martial 1,76,9: praeter aquas Helicon et serta lyrasque deantm. 83f. exanguis [...]proteruo) Die Formulierung faßt die Extreme unklassischer Stilformen zusammen: den trockenen, begrifflichen Stil der - vornehmlich - >scholastischen< Philosophen (daran anklingend das folgende Sophistarwn) und den schwülstigen, von übertriebenem, vor allem bildlichen ornatus strotzenden Stil des poetischen und prosaischen Manierismus. Im einzelnen machen sich Begriffe topischer Stilklassifikation bemerkbar; vgl. Rhet. ad Her. 4,16: aridum et exsanguine genus orationis; Cicero, de orat. 1, 57: tenui quodam et exsanguine sennone', oder Qunitilian, inst. 12,10,14: aridi et exsuci et exsangues: fucus für die >Schminke< der Rede wohl erst seit der Kaiserzeit gebräuchlich, als Attribut des übertrieben Künstlichen jedoch schon bei Cicero (Brutus, 36), der den naturalis nitor einer Rede d e m fucatus nitor entgegensetzt. 8 7 Attica [...] facundia) S . o . im Vortrag mit A n m . 39; auszugehen ist von der Diskussion des attischen Stils in der Antike vor allem bei Quintilian, inst. 12,10. 8 8 decor aureus) Opitz assoziiert hier wohl schon die Differenzqualitäten der >Goldenen< u n d >Silbernen< Latinität, wie sie in der Historiographie der lateinischen Sprache seit d e m Ende des 16. Jahrhunderts beschrieben wurden. 89 Flore nitens) Wie Silius 6, 65 am Versanfang. 92 Annales vestros) Opitz dürfte von Grotius' Arbeit an den Annales et Historiae de rebus Belgicis erfahren haben, die allerdings erst 1657 erschienen. 92f. vicesque Fortunae) Als ob Opitz die Formel aus Senecas Medea (287) z u s a m m e n f a s s e n wollte: Fortuna varia dubia quos agitat vice. 95 Iura togae bellique) Anspielung auf das berühmte Werk De Jure Belli ac Pacis Libri tres. Paris 1625. 98 Socraticam [...] vmbram) Das Haus des Sokrates, also nicht nur die Platonischen, sondern auch die anderen, sich mittelbar auf Sokrates berufenden philosophischen Systeme, wobei mit spatiosam vmbram wohl im wörtlichen u n d metonymischen Sinne die Halle der Stoa gemeint ist. 99 Samiae [...] linguae) Die Anhänger des Pythagoras aus Samos, der sich auch mit Fragen der Mathematik u n d Musik beschäftigte, seinen Jüngern aber ein Schweigegebot auferlegte. 100 sophos) Graecismus, latinisierte Form des Adverbs von griech. >sophosKode< seiner historischen Beispiele auch dieser Bezug freigelegt wurde? Entsprach der Kaiser in Wien in seinem Verhalten, in seiner Schwäche, seiner militärischen Wehrlosigkeit und seiner Vertrauensseligkeit dem antiken Tiberius? Daß Balde gegenüber der Größe Wallensteins nicht blind war, beweist die wohl packendste Formulierung des Gedichts: »Magni fabula nominis« (36). »Fabula« bedeutet hier zunächst gewiß eine realitätslose Geschichte, entspricht Begriffen wie Traum und Schatten. Balde versetzt sich in die Position eines zukünftigen Betrachters (so das Futur in Vers 33), der das Gewicht des großen Namens anscheinend abschwächen möchte. Doch unübersehbar stellt sich in irritierender Ambivalenz auch die schon in der Antike geläufige zweite Bedeutung ein: »fabula« als Thema und Gegenstand literarischer Werke so wie Croesus, Hannibal und Polykrates, mag man ergänzen. Balde wußte, daß im Vorspiel künftiger Gestaltungen »Wallensteins Tod« bereits von den Zeitgenossen in Pro und Contra diskutiert wurde, daß sein Schicksal Anklage und Rechtfertigungsschriften hervorrief, nicht zuletzt auch im Drama und im Gedicht behandelt wurde. Im Kontext dieses Schrifttums stellt Baldes Ode den Versuch dar, den habsburgi sehen Standpunkt auf höchstem ästhetischen Niveau zu verdeutlichen. Den Dichter bewegt nicht die Ratlosigkeit des erschrockenen Bürgers (wie bei Rist), sondern entschiedene Parteinahme, freilich auch nicht der verkleinernde Spott mancher Flugblattgedichte, die Wallenstein in später Rache auf das Menschlich-Allzumenschliche reduzierten (vgl. u. a. die Beispiele bei Hartmann ). Nur wenige Autoren haben das Ende des Generalissimus so nüchtern und wohl so historisch treffend zur Kenntnis genommen wie der schlesische Dichter Daniel von Czepko in einem seiner Epigramme:
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nominis« Ersucht nechster Todtengräber Wallsteinischer Todt Der alles wust allein, was er durch andre that. Und zwar von Friedland kam, doch Krieg und Streit erhaben: Liegt ohne Titul dar. Fragstu, wer ihn begraben? Deutsch weiß ich's nicht, sonst heist es la raison d'Estat. (Gedichte
des Barock, S. 198.)
Zitierte Literatur: Jacob BALDE: Lyricorum libri IV. [Siehe Textquelle. Zit. mit Buch-, Seiten- und Verszahl.] - Gedichte des Barock. Hrsg. von Ulrich Mache und Volker Meid. Stuttgart 1980. - Dieter BREUER: Princeps et poeta. Jacob Baldes Verhältnis zu Kurfürst Maximilian I. von Bayern. In: Wittelsbach und Bayern. Bd. 2,1. München 1980. S. 341-352. - Historische Volkslieder und Zeitgedichte vom 16. bis 19. Jahrhundert. Hrsg: von August Hartmann. Bd. 1. München 1907. [Zu Wallenstein S. 3 0 1 f f . ] - Q . Horati Flacci Opera. Ed. Fridericus Klingner. Leipzig 3 1959. - Eckart SCHÄFER: Deutscher Horaz. Conrad Celtis - Georg Fabricius - Paul Melissus - Jacob Balde. Die Nachwirkung des Horaz in der deutschen Literatur. Wiesbaden 1976. Weitere Literatur: Joseph BACH: Jacob Balde. Ein religiös-patriotischer Dichter aus dem Elsaß. Freiburg i. Br. 1904. - Jürgen GALLE: Die lateinische Lyrik Jacob Baldes und die Geschichte ihrer Übertragungen. Münster 1973. - Anton HENRICH: Die lyrischen Dichtungen Jacob Baldes. Straßburg 1915: Urs HERZOG: Divina Poesis. Studien zu Jacob Baldes geistlicher Odendichtung. Tübingen 1976. - Golo MANN: Wallenstein. Frankfurt a.M. 1971.
Balde, Klaj und die Nürnberger Pegnitzschäfer Zur Interferenz und Rivalität jesuitischer und deutsch-patriotischer Literaturkonzeptionen
In den Mittelpunkt meiner Darlegungen möchte ich eine literaturgeschichtlich bemerkenswerte Konstellation, ja eher noch: Konfrontation stellen. Sie gewinnt ihre Konturen in einem Vergleich zweier Gedichte aus der Feder Baldes bzw. der des Nürnberger Dichters lohann Klaj (1616-1656), der sich nicht nur wegen seiner virtuosen geistlichen Redeoratorien, sondern auch wegen der manchmal fast impressionistisch wirkenden Atmosphäre und bemerkenswerten Sprachartistik seiner Lyrik bis heute eines guten Rufes erfreut.' Im lahr 1643 veröffentlichte Balde im fünften Buch seiner Sylvae (V, 19) eine metrisch an Horaz' epodische Distichen 2 angelehnte Ode Ad Valerium Adonem Lciurentii Adonis Fr. Musae Cingarcie Sive artium & Scientiarum de Regno in Regnum migratio ( Abdruck hier im Textanhang Nr. 1). Offenbar wegen ihrer kulturphilosophischen Bedeutung wurde die Ode noch im 18. Jahrhundert in eine jesuitische Lyrikanthologie aufgenommen, 1 später auch von Herder im zweiten Teil seiner Terpsichore (1795) übersetzt.4 Drei Jahre nach Baldes Druck erschien an prominenter Stelle, nämlich im Vorspann des VI. Teils der von dem Nürnberger
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Zu Klaj s. den zusammenfassenden Artikel von Ferdinand van Ingen. In: Walther Killy (Hg.): Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 6. Gütersloh, München 1990, S. 346f.; umfassend Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verbesserte und wesentlich vermehrte Auflage des Bibliographischen Handbuchs der Barockliteratur. 6 Tl./Bde. Stuttgart 1990-1993. hier Tl./Bd. 4. S. 2351-2372; gerühmt etwa Klajs Brunnengedicht »Hellgläntzendes Silber...«; dazu exemplarisch die subtile Analyse von Gerhard Kaiser: Augenblicke deutscher Lyrik, (insel tb. 978) Frankfurt/M. 1987. S. 89-93; grundlegend Conrad Wiedemann: Johann Claj und seine Redeoratorien. (Erlanger Beiträge zur Sprache- und Kunstwissenschaft. Bd. 26) Nürnberg 1966; zu Klajs Zeit ab 1651 als Pfarrer in Kitzingen (Klaj schon 1646 dem Alkohol ergeben, schließlich literarisch verstummt, dann die zum Tod führenden Schlaganfälle) s. Ernst Rohmer: Johann Klaj in Kitzingen. Bohemien oder Pastor orthodoxus. In: Pegnesischer Blumenorden in Nürnberg. Festschrift zum 350jährigen Jubiläum. Nürnberg 1994. S. 7-15. Hexameter und achtsilbriger Vers (frei gestalteter iambischer Dimeter) in Anlehnung an Horaz. epod. 14, 15. Selecta Patrum Societatis Jesu Carmina in Germania Genuensi auctior et correctior. Augsburg 1754, S. 182-185. Herders Poetische Werke, hrsg. von Carl Redlich. Dritter Band. (Herders Sämmtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan, 27. Bd.) Berlin 1881, S. 135-137.
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Großliteraten Georg Philipp Harsdörffer (1607-1658)' verfaßten FrauenzimmerGesprächspiele, ein Gedicht, das schon im Titel direkt und unmißverständlich auf Baldes Ode abzielte: Die Zigeunerischen Kunstgöttinnen /Der freyen Künste und Wissenschaften Reisefahrt aus eim Königreiche in das andere (Abdruck hier im Textanhang Nr. 2).6 Klaj hatte 1644 zusammen mit Harsdörffer, flankiert von der programmatischen Gemeinschaftspublikation des Pegnesischen Schäfergedichtes,7 den Pegnesischen Blumenorden, die ästhetisch avancierte, in mancher Hinsicht ertragreichste deutsche Sprachgesellschaft gegründet. 8 Mit seiner bald darauf (1645) erschienenen Lobrede von der Teutschen Poeterey umriß er mit patriotischem Gestus die Ziele der von der Nürnberger Gruppe angestrebten Sprachpflege und Kulturarbeit, damit aber auch die Pointe und den latenten Argumentationsrahmen seiner Balde-Adaption. 9 Klaj kennt berühmte 5
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Zur Editions-. Forschungsgeschichte und Werkbibliographie s. Dünnhaupt (Anm. 1). Tl./Bd. 3. S. 1969-2031. Zugänge zur Forschung bietet Italo Michele Battafarano (Hg.): Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. (Iris 1) Bern usw. 1991: ferner Battafarano: Harsdörffers Beitrag zur Entprovinzialisierung deutscher Kultur. In: Volker Kapp/Frank Rutger Hausmann (Hg.): Nürnberg und Italien. Begegnungen, Einflüsse und Ideen. (Erlanger Romanistische Dokumente und Arbeiten, Bd. 6) Tübingen 1991. S. 213-226; weiterhin zu Harsdörffer im größeren Zusammenhang, auch zum Konflikt zwischen Latein und Deutsch. W. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. Bd. 3) Tübingen 1982. bes. S. 382-393. Benutzt in dem von Irmgard Böttcher hg. Nachdruck: Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Tl. I-VIII. Nürnberg 1644-1649. (Deutsche Neudrucke. Reihe: Barock 13-20) Tübingen 1968-1969. hier Klajs Gedicht in Tl./Bd. VI als Nr. X der von zahlreichen Poeten beigesteuerten Ehrengedichte des Vorspanns. S. 60-68 des Nachdrucks. Georg Philipp Harsdörffer, Sigmund von Birken. Johann Klaj: Pegnesisches Schäfergedicht 1644-45. Hg. von Klaus Garber. (Deutsche Neudrucke. Reihe Barock 8) Tübingen 1966. Dazu umfassend Renate Jürgensen: Utile cum Dulci. Mit Nutzen erfreulich. Die Blütezeit des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg 1644 bis 1744. Wiesbaden 1994; weit darüber hinaus nun wegweisend für die Nürnberger Stadtkultur dies.: Norimberga Literata. In: Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber unter Mitwirkung von Stefan Anders und Thomas Eismann. 2 Bde. (Frühe Neuzeit. Bd. 39) Tübingen 1998, S. 4 2 5 ^ 9 0 ; ferner John Roger Paas (Hg.): der Franken Rom. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Wiesbaden 1995. Zur deutschen Sozietätsbewegung s. Wilhelm Kühlmann: Sprachgesellschaften und nationale Utopien. In: Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. von Dieter Langewiesche und Georg Schmidt. München 2000. S. 245-264. Johann Klaj: Redeoratorien und »Lobrede der Teutschen Poeterey«. Hg. von Conrad Wiedemann. (Deutsche Neudrucke. Reihe Barock4) Tübingen 1965; dazu ders.: Druiden. Barden. Witdoden. Zu einem Identifikationsmodell barocken Dichtertums. In: Sprachgesellschaften, Sozietäten, Dichtergruppen. Hg. von Martin Bircher und Ferdinand van Ingen. (Wolfenbiitteler Arbeiten zur Barockforschung. Bd. 7) Hamburg 1978. S. 131-150; ferner van Ingen: Dichterverständnis. Heldensprache, Städtisches Leben. Johann Klajs »Lobrede der Teutschen Poeterey«. In: Opitz und seine Welt. Festschrift für George Schulz-Behrend. Hg. von Barbara Becker-Cantarino und Jörg-Ulrich Fechner. (Chloe, Bd. 10) Amsterdam-Atlanta, GA 1990. S. 251-266;
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Pegnitzschäfer
lateinische Dichter-Gelehrte wie Giovanni Pontano, Buchanan, Heinsius, Fracastoro und Grotius, erinnert sich auch an Celtis. Doch gegen die klassischen Sprachen fungiert das Deutsche als eine bis auf die Zeit der celtischen Druiden zurückreichende »uhralte Haubtsprache«, deren ästhetische Qualitäten sich nicht mehr an der Antike messen lassen müssen, sondern als unmittelbare schöpferische Merkmale einer >Natursprache< dem nationalen und Urbanen Patriotismus die Weihe eines unvergleichlichen Anfangs verleihen: »Gehe nun einer hin und sage/ es hätten die Teutschen ihre Dichtkunst von den Lateinern und Griechen/ ihren ärgsten Feinden erlernet: Da doch beweislichen / daß die alten Weltweisen in Griechenland von den Ebraeern und ihren Nachkommen/ denen Celten/ unterrichtet worden.« 10 Auf der Basis schütter begründeter, jedoch bis auf den Frühhumanismus zurückgehender Spekulationen entsteht eine Ahnenreihe, die, so van Ingen, »den Griechen und Römern den Vorrang in litteris streitig macht«. In seiner wertvollen Untersuchung über die Geschichte der Übertragungen von Baldes lateinischer Lyrik hat Jürgen Galle11 das Verhältnis von Baldes und Klajs Gedichten zwar mit einsichtigen stilistischen Beobachtungen behandelt, aber weder diesen historischen Kontext noch die eigentümliche Wendung beachtet, die Klajs Gedicht gegen Ende nimmt. Vom Ende her erst läßt sich erschließen, was in der Ambivalenz von Faszination und Abwehr gewollt und gemeint ist. Am Ende nämlich färbt Klaj die Anrede an den Freund Harsdörffer (V. 127), damit auch das Nürnberger nationalliterarische Projekt mit einer polemischen, ja aggressiven Emphase (V. 122-124): [...] die Teutschgelehrte Schaar Spricht: Römer komm/ k o m m Griech/ wir wollen eines wagen/ Was du kanst/ kan ich auch/ Ich kann dich schlagen/jagen.
In den vorhergehenden Versen sind in einer Namenreihe berühmte französische und niederländische, in Latein schreibende Gelehrte und Poeten zusammengefaßt ( V. 116f. ), dann gewinnt der Begriff »Römer« einen historischen Doppelsinn dadurch, daß Klaj nicht nur das antike Rom, sondern auch sein im päpstlichen Rom geborgenes und weiterlebendes Erbe anspricht (V. 119—122): Rom mache/ wie du wilt/ dich groß mit deinen Söhnen/ Es bleibet Barbarin der Vater der Syrenen/ Mit Balde/ Sarbiev/ Sabin und Sannazar/ Ein überirdisch Lied [...]
Ob der hier zitierte Halbvers von V. 122 zum Vorgehenden oder doch eher zum Folgenden (also proleptisch zur »deutschgelehrten Schaar« - vielleicht in Erinnerung an die geistlichen Redeoratorien) gehört, läßt sich syntaktisch 10 11
Klaj, Lobrede, ed. Wiedemann (Anm. 9), S. 391 Jürgen Galle: Die lateinische Lyrik Jacob Baldes und die Geschichte ihrer Übertragungen. (Münstersche Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Bd. 6) Münster 1973. hier zu Balde-Klaj S. 28-31, mit dem Abdruck beider Gedichte S. 9 2 - 9 8 .
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nicht präzise festlegen. Offenbar nahm Klaj genau zur Kenntnis, mit welcher Energie der selber lateinisch dichtende, 1634 mit einer Prachtausgabe seiner lateinischen Werke hervortretende Barberini-Papst Urban VIII. (reg. 1623-1644 ) die mäzenatischen Traditionen der Renaissance erneuern wollte. Gerade in dieser Hinsicht gilt er als Vorläufer und Vorbild des von Balde verehrten und geehrten Fabio Chigi, später Papst Alexander VII. (reg. 1655-1677), zu dem Balde später vor allem durch die Vermittlung Ferdinands von Fürstenberg in lockerem Kontakt stand.12 Für Klaj ist und bleibt Barberini (bei Klaj mit bewußt anderer Namensform? - »Barbarin«) Schutzherr offenbar reizvoll-verführerischer, aber gefährlicher Gestalten (»Vater der Syrenen«). Zu ihnen gehören in Klajs Optik neben Balde der gerade von Balde hochgeschätzte polnische, auch in Rom gedruckte Jesuitendichter Mattias Casimir Sarbievski/Sarbievius (1595-1640), dazu Jacopo Sannazaro (1456-1530), der bekannte neapolitanische Literat und Mitbegründer des europäischen Schäferromans, außerdem eine Figur namens »Sabin«, unter dem man sich, der Logik der Namenreihe entsprechend wohl kaum den deutschen Melanchthonschüler und bekannten Poeten Georg Sabinus (1508-1560) vorstellen muß (berühmt waren allerdings seine Italienreise und seine Korrespondenz mit dem Kardinalpoeten Pietro Bembo), 1 ' sondern vielleicht den im 15. Jahrhundert in Rom dichtenden Angelus Sabinus.14 Beide Namenreihen vertreten den südlichen und den nördlichen Flügel der lateinischen Literaturformation, laufen zu auf die Opposition von Nürnberg und Rom, mittelbar also auch Nürnberg und München. Zugleich sind ältere und kontemporane Gruppierungen der italienischen Sozietätsbewegung b e t r o f f e n : in R o m d i e A c c a d e m i a degli Humoristi
u n d in N e a p e l d i e
Academic/
Pontaniana. Zu diesen Traditionen setzt sich Klaj am Ende seines Gedichts, gewiß auch als präsumtiver Sprecher der Pegnitzschäfer, in ein Verhältnis der trotz aller nuancierten Hochachtung doch energisch geäußerten Distanz. »Wir«, u
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Dazu jetzt mit reichen Literaturangaben Marc Laureys: Ein Freundeskreis im barocken Rom. Einige Bemerkungen zu den Septem ilhistrium virorum poemata, in: Mentis Amore Ligati. Lateinische Freundschaftsdichtung in Mittelalter und Neuzeit. Festgabe für Reinhart Diichting zum 65. Geburtstag. Hg. von Boris Körkel, Tino Licht und Jolanta Wiendlocha. Heidelberg 2001, S. 217-232: ebd. auch (S. 157-168) Antje Kohnle: Fabio Chigi als Kunstfreund; dazu ergänzend betr. Baldes Beziehungen auch zu Chigi W. Kühlmann: Ein Dichter des Barock in seinen Briefen. Jacob Baldes Korrespondenz mit Ferdinand von Fürstenberg. In: Euphorion 76 (1982). S. 133-155. sowie in der Einleitung zu Jacob Balde: Urania Victrix Liber I—II, eingeleitet, übersetzt und kommentiert [...] von Lutz Ciaren, Wilhelm Kühlmann, Wolfgang Schibel. Robert Seidel und Hermann Wiegand. (Frühe Neuzeit, Bd. 85) Tübingen 2003. Dazu der Kommentar und das bio-bibliographische Porträt samt einer Lyrikauswahl, auch der Gedichte an Bembo, in: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch und deutsch [...], ausgewählt, übersetzt, erläutert und hrsg. von Wilhelm Kühlmann. Robert Seidel und Hermann Wiegand. (Bibliothek der Frühen Neuzeit. Bd. 5) Frankfurt/M. 1997. S. 499-539; 1240-1275. Zu Angelus Sabinus s. Joseph Ijsewijn/Dirk Sacre: Companion to Neo-Latin Studies. Part II. (Supplementa Humanistica Lovaniensia XIV) Leuven 1998. S. 28f.; G. Canali, in: Dizionario Biografico Degli Italiani, Bd. 3 (1961), S. 234f.
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das sind zunächst der Autor und Harsdörffer, der Adressat des Gedichts, der bald darauf in seiner Poetik, dem berühmten Poetischen Trichter (Nürnberg 1647), schon im Untertitel ankündigte, deutsche Dichtkunst »ohne Behuf« des Lateins lehren zu wollen. Daß er im dritten Teil dieses Werkes, einem Lexikon der emblematischen Bilderfindungen, freundlich auch den Baldeschen Agathyrsus Teutsch (München 1647) als »berühmtes Buch« kurz zitiert und zu weiterer Lektüre empfiehlt (unter dem Lemma »Mager«),15 signalisiert, wie genau die Produktion Baldes in Nürnberg gerade dann beobachtet wurde, wenn sich der Jesuit der deutschen Sprache annahm. Mit dem 1646 vorgelegten zwölfteiligen lateinischen Specimen philologiae Germanicae, continens disquisitionem XII. de Linguae nostrae vernaculae Historia, Methodo & Dignitate (Nürnberg 1646)"' wollte Harsdörffer allerdings nicht »etlichen Mißgünstigen« Argumentationshilfe leisten, »welche [ihn] beschuldigen, daß er die Jugend von dem Latein und Studiren abführe, und zu den Teutschen allein verleite«.17 Noch geht es um Apologie des Deutschen, seine sprachphilosophische und kulturtheologische Rehabilitation auch gegenüber den konkurrierenden Nationalsprachen und um einen pragmatischen Kompromiß, der ältere Formulierungen von Martin Opitz rekapituliert: 18 Viel stehen in dem Wahn/ daß durch Erhebung der Teutschen Sprache die Lateinische fallen werde/ aller massen man sihet/ daß auf den hohen Schulen oft mehr Teutsche/ als Lateinische Gedichte aufgesetzet werden/ da man doch wegen dieser und nicht jener Sprache Erlernung dahin geschicket. Solches ist gewißlich nicht zu befürchten. Keine kan der Zeit/ ohne die andere/ erlernet werden: Und welche den Griechischen und Lateinischen Poeten die seltene Erfindungen und die meisterzierlichen Handgriffe nicht abmerken/ werden ihre Krippelreimen vielmehr zu ihrer Schande als Lob öffentlich schautragen.
Lateinische Literatur als Studienobjekt und eventuell noch als Lernhilfe, nicht mehr aber als aktuelles und in die Zukunft weisendes Medium der Kunstpoesie in Deutschland - so läßt sich das Fazit des kulturkritischen Diskurses bezeichnet, in den sich Klaj mit seinem Gedicht integriert. Wie er dabei vorgeht ist, läßt sich kaum anders denn als Frechheit, ja als Provokation bezeichnen. Balde 15
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Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Nachdruck der Ausgabe Nürnberg 16501653. Darmstadt 1969. hier im dritten Teil. S. 333f, Dazu Leonard Forster: Zu Harsdörffers Specimen philologiae germanicae. In: Battafarano (Hg. 1991, Anm. 5), S. 9 - 2 2 : hilfreich das Referat in Theodor Bischoff: Georg Philipp Harsdörffer. Ein Zeitbild aus dem 17. lahrhundert, in: Festschrift zur 250jährigen Jubelfeier des Pegnesischen Blumenordens. Nürnberg 1894, bes. S. 63-75. So Harsdörffer brieflich an Ludwig von Anhalt-Köthen, hier zit. nach Bischoff (ebd.). S. 64. Harsdörffer: Gesprächspiele (Anm. 6). Tl./Bd. I. S. 383f. des Neudrucks in der angehängten Schutzschrift ftir die Teutsche Spracharbeit (S. 40f.) mit offenkundigem Zitat der Schlußpassage aus Opitz' Buch von der Deutschen Poeterey. Kap. IV. Schon Opitz kam in seinem Aristarchus auf die gegenwärtige Praxis des literarischen Lateingebrauchs zu sprechen, bemängelte hierbei einen von manieristischer Willkür bestimmten Verfall, um so eine Legitimationsbasis für seine Apologie der Muttersprache zu finden; dazu Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik (Anm. 5). bes. S. 263-265.
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wird als Vertreter einer nun zu überwindenden literarischen Periode in einem Gedicht genannt, das sich, wie bereits in der Überschrift angedeutet, bis auf die Schlußverse als teils direkte, teils ampliflzierende und paraphrasierende Übertragung der besagten Ode der Baldeschen Sylvae präsentiert - ohne daß auf die Vorlage oder gar deren Verfasser hingewiesen würde. Ob Klaj, wie Galle meint, »guten Gewissens darauf verzichten konnte, den Dichter im Titel namentlich anzuführen« (S. 28), erscheint fraglich, unterscheidet sich jedenfalls markant von jener genauen Quellenangabe, mit der 1657 Andreas Gryphius im Anhang seiner Kirchhoffs-Gedanken drei Verdeutschungen von Oden des »weitberühmbtesten« Balde abdrucken wird.19 Bei Harsdörffer und den gelehrten Nürnberger Freunden konnte Klaj allerdings Balde-Lektüre voraussetzen, hatte Harsdörffer den Münchener Jesuiten doch gerade vorher noch im V. Teil seiner Gesprächspiele (1645) als »den weltberühmten Poeten« bezeichnet (S. 73/185f.) und im Blick auf die Rollenidentität des Poeten und des Malers (d.h. des emblematischen Bilderfinders) an die Seite der »Sinnreichsten und Kunsterleuchtesten Geister dieser Zeit/ Saavedra, Petro Sancta, Fammianus Strada, Hessus, Becanus, Hermannus«, also auch bekannter Jesuiten wie Martin Becanus und Hermann Hugo, gestellt. Bemerkenswert allerdings, daß er sich dabei auf Baldes deutschsprachige, den späteren hochdeutschen Sprachpuristen eher mißliebige Dichtung De Vanitäte Mundi (1637) berief, obwohl ihm die lateinische Emblematik der Jesuiten geläufig war:20 Jacob Balde/ der weltberühmte Poet/ weiß sich der Mahlerischen Ausbildungen meisterlich zu bedienen; und hat mir unter seinen Erfindungen sonderlich beliebet das Bildniß Plato/ welcher einen Menschen genennet ein zweyfiissiges Thier ohne Federn: Mahlend einen Haan/ dessen Flügel die Nasen/ sein Schwantz der Bart/ der Fuß das Ohr bemerkte mit diesen Verslein: Weil Plato dann ein Gockelhaan/ Zu seinem Spott und Schaden: So sey er drauf/ zum Koch hinauf/ Ins Kuchenstüblein gladen. 19
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Übersetzt werden in Alexandrinerversen von Gryphius Balde Sylv. VII.7; Lyr. 11.39 und von Hans Christoph von Schönborn Lyr. 111,4; abgedruckt in: Andreas Gryphius: Vermischte Gedichte: Hrsg. von Marian Szyrocki. (Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Bd. 3) Tübingen 1964, S. 19-29; dazu Galle (Anm. 11). S. 32-39. Jacob Balde. Deutsche Dichtungen. »Ode nova dicta Hecatombe de vanitate mvndi« 1637. »Ehrenpreiß« 1649. Photomechanischer Nachdruck, mit Bibliographie und textkritischem Apparat von Rudolf Berger. (Geistliche Literatur der Barockzeit, Bd. 3) Amsterdam & Maarssen 1983. hier das Zitat Strophe LI (unpaginiert); so auch in lateinisch-deutschen Ausgabe von De Vanitate Mundi. In: Opera Poetica Omnia. Bd. I-VIII. Neudruck der Ausgabe München 1729. Hrsg. und eingeleitet von Wilhelm Kühlmann und Hermann Wiegand. (Texte der Frühen Neuzeit 1) Frankfurt/M. 1990, hier Bd. VII, S. 104; zu Harsdörffers Kenntnis der jesuitischen Emblematik s. Jean Daniel Krebs: G. Ph. Harsdörffers geistliche Embleme zwischen katholisch-jesuitischen Einflüssen und protestantischen Reformbestrebungen. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Hg. von Dieter Breuer. 2 Tl./Bde. (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung. Bd. 25) Wiesbaden 1995. S. 539-552.
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Dem weniger belesenen Teil des Harsdörfferschen Publikums blieb Klajs Praetext verborgen: ein Wettbewerb für >Insider< sozusagen, bei dem der Vorwurf des Plagiats jedoch ebenso fernzuhalten ist wie beispielsweise von manchen analogen Aneignungen Ronsards und anderer durch Martin Opitz. Klaj zitiert Balde, den Kennern evident, um dessen Text, Thema, Konzept, dessen Darstellungsperspektive und dessen Botschaft zunächst zu übernehmen, dann aber patriotisch abzubiegen und polemisch (»jagen«, nicht nur beerben!) zu substituieren. Das Verfahren ist als ein Kunstgriff zu verstehen, der das kulturell zu Verabschiedende, die lateinische Dichtung der Frühen Moderne, in der Haltung rivalisierender aemulatio11 reproduziert und ostentativ überarbeitet oder übermalt, um es dann - anders als Balde - im rückwärtsgewandten Blick historisch stillzustellen. Den Münchener Jesuiten, Balde an der Spitze, wird dieser Usurpation kaum verborgen geblieben sein. Näheres zu deren Reaktion auf diese sehr frühe Übersetzung wissen wir nicht. Balde und demgemäß auch Klaj gliedern ihre Gedichte in vier Sinneinheiten: 1. V. 1-14 (Klaj: V. 1-18): Vergegenwärtigung des klimatisch rauhen, in Natur und Kultur fruchtlosen »barbarischen« Zustandes der cisalpinen Regionen, bei Balde auch der bayerischen Gefilde (V. 5), im Gefolge von Tacitus Germania, jedoch mit der Distanz des referierenden Berichts (»olim Est visa«, V. 1/2). Tacitus dient also nicht wie bei Celtis und in Baldes drittem Sylvenbuch22 als kulturkritische Berufungsinstanz althergebrachter moralischer >simplicitastedesco< und >barbaroBattle of the BooksNachahmung< kennenlernen konnten, aber auch ein Spiel mit latentem epochengeschichtlichem und kulturkämpferischem Ernst, zugleich mit literaturhistorischer Diagnostik. Für unser Thema und für das bereits stereotype humanistische Epochenschema erweist es sich nämlich als signifikant, daß Petrarca nicht nur als Ahnherr des Kampfes gegen die Unbildung fungiert, sondern bald (S. 445) auch die lange Reihe der italienischen »Neoterici« (neben Sannazaro »Maphaeus Vegius, Marullus, Bapt. Mantuanus, Alciatus, Balth. Castilioneus, Bembus, Ang. Politianus, Hier. Fracastorius«; später eingeführt auch Hieronymus Vida und Marcellus Palingenius) und deutschen Neulateiner ( Joachim Camerarius, Eobanus Hessus) anführt. Der in römisch durchgezählten Sinnheiten gegliederte Text beginnt mit einer Berufung auf Petrarca (S. 445): Arcem Ignorantiae, in Boeotiä sitam. jam ä temporibus Franc. Petrarchae (qui ante ducentos annos. primus Musas in qualore & situ jacentes allevare sustinuit) institerant Poetae Neoterici. omni bellico instrumenta expugnare.
Petrarca erweist sich Vorkämpfer und Bollwerk in jeder Hinsicht, gerade als Dichter in zwei Sprachen (wie auch Balde), und sein De Remedio utriusque Fortunae, aus dem Balde in einem anderen Werk zwei größere Belege anführt, 3 versteht sich, wie eine Fußnote vermerkt, als sein »praecipuum opus« (S. 446): Quamvis PETRARCHA ambidexter, Tusco Latinoque carmine, ad omnem belli aleam se promptum offerret, quamcunque munimenti partem, si permitterent. tentaturus, quod jure suo petere potuit: quippe scriptum felicius nullum, quam de utraque Fortuna edidisse creditur.
Insofern verwundert es nicht, wenn die Kämpfer (S. 448) ausrufen: »Desperabimus autem nos tales Viri, PETRARCHA Duce, hos asinos superare?«, und wenn die modernen Dichter (Fracastoro und Vida) ausgerechnet im Feldherrnzelt Petrarcas vorschlagen, angesichts einer drohenden Niederlage gegen die Barbarei ihre Zuflucht nun auch zu den >Alten< zu nehmen (S. 450; Abschnitt XI). 3
Zitate aus Buch I und II von De Remedio, in: Balde: Anhang (Paraenesis hujiis Oeconomia) seines Encomion Torvitatis: ΟΡΟ (wie Anm. 1). Bd. III. S. 403f.
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Vorher hatte eine Kugel in das Zelt eingeschlagen, das Tintenfaß umgeworfen und ein Bildnis Lauras zerfetzt. Helle Panik bricht aus, man glaubt den Briefe schreibenden >Führer< tödlich getroffen: Ipsius quoque FRANC. PETRARCHAE tentorio, dum epistolas ad amicos de successu hujus expeditionis scriberet, incidit globus, post atramentarium eversum, partem cortinae & effigiem Laurae [hierzu Fußnote Baldes: Petrarchae Poem. De Laura amasia.] discerpens. Concurritur ad praetorium plures affluxere, veriti lethale vulnus Duci inflictum, qui tametsi sanus & integer erat, tarnen ingens trepidatio orta est. Tum FRACASTORIUS ad VIDAM: nunquid non praediximus? Copias nostras immani huic speluncae expugnandae non suffecturas; ut si centies numerosiores simus: arma hebetia habemus. valentioribus machinis destituimur. Barbariem eradicare volumus, ipsi semipagani. Veterum Poetarum convocandae sunt vires.
Es ist schließlich Petrarca, der nach hart errungenem Sieg mit biblischen Referenzen auf Josuas Eroberung Jerichos die Einnahme der Barbarenfestung enthusiastisch bekräftigen darf (S. 473, Abschnitt LIII.): Aderat Franciscus Petrarcha, (is, qui princeps hoc bellum moverat, Latij assertor) & entheä exclamatione, destructionem funestae munitionis firmavit: quali scilicet JOSUE Urbem Jerichuntinam devoverat [.] Maledictus vir, qui suscitaverit & aedificaverit Arcem Ignorantiae dirutam. In primogenito suo fimdamenta illius jaciat, & in novissimo liberorum ponat portas ejus.
Petrarca hatte Lauras Bildnis in seinem Feldherrnzelt stehen, für Jesuiten wie Balde ein Problem. Wird das Gemälde deshalb von einer Kugel zerfetzt, freilich einem Geschoß der Barbaren? Die Kontrafakturen des geistlichen Petrarkismus konnten immerhin von der Laura-Dichtung zehren und sie mit der Hohe-Lied-Tradition kontaminieren. Balde nahm daran nur in seiner Marienlyrik und in seinem jüngst teilweise neu herausgegebenen Spätwerk, der Urania Victrix (Erstausgabe München 1663),4 anteil. Hier entspinnt sich ein Briefagon in fiktiv-allegorischen Versepisteln. Die fünf Sinne werben um die Gunst der dem Himmel zugewandten Seele. Was die fünf Sinne in der Alltagswelt und in den Wissenschaften leisten, läßt Balde in einem manchmal satirisch gefärbtem Weltgemälde ausführlich zu Wort kommen. Laura taucht in einer anspruchsvollen poetologischen Elegie (II 5) im Munde des fiktiven Dichters »Th. Ropertus Gambara« auf. Am Ende eines Katalogs von Frauen, die durch ihre Dichtergefährten berühmt geworden sind (vor allem die antiken Elegiker), präsentiert sie sich als einzige Dichtergeliebte der Moderne, zugleich im Wortspiel von >Laura< und >Laurus< (S. 186, V. 124f.): Ilia, illa ingenuae frontis notissima Laura, Petrarchae Lauro vindice, nota viret. 4
Vgl. Jacob Balde SJ: Urania Victrix - Die Siegreiche Urania. Liber I—II. Erstes und zweites Buch. In Zusammenarbeit mit Joachim Huber und Werner Straube eingeleitet, hrsg.. übersetzt und kommentiert von Lutz Ciaren, Wilhelm Kühlmann, Wolfgang Schibel, Robert Seidel und Hermann Wiegand. Tübingen 2003 (Frühe Neuzeit. Bd. 85), im folgenden zitiert mit Angabe der Seitenzahl, des Buches und der Verszahl.
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Petrarca-Rezeption
Mit dem irritierendem Hintersinn eines inventiösen Strukturconcettismus wird der Laura-Dichter in einer bisher so gut wie unbeachteten sapphischen Ode von Baldes Sylvae (in sieben Büchern zuerst München 1643; in neun Büchern zuerst Köln 1646) in Anspruch genommen (Sylv. V 18). Ich drucke das Gedicht hier mit einer Zeilenzählung ab und lasse - mit Teilübersetzungen - einige interpretierende Beobachtungen folgen. 5 X V I I I . FRANCISCUS PETRARCHA PARANYMPHUS. A D C A R O L I N U M ASTTUM SPONSUM
Ergo jam certum est? Et Hymen sonandus Serta disperget? quianam repente Vela vertisti, dubijs adiri Creditus Austris! 5
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D u c i s UXOREM, t u a f o r s a n , A S T I .
Teque ducturam. licet alligari Gaudeas bysso. tarnen alligaris Remige pejus. Quidquid adstringat. placet UXOR, inquis, Ede. quas dotes habet: usitata Italus VATES Cithai'ä tibi responsa remittet. Dives est. Ni vel superes. vel aeques: Verus, heu, conjux eris. utque taurus Sub jugum trito redigere collo. Ter pede pressus. Dives ö quanto periture sumptu. In tuam pleno ruis amne Scyllam. Servus es: servis. CAROLINE, servis Vertice raso. Dives est. At tu tenuis suppellex. Ergo subiectum phaleris domabit. Quot gerit torques, tot habet ligandi Frena mariti. Divitem certe scio, vae scienti. Quot domi gignet brevis area liteis? Servat ä ventis minüs inquietam Aeolus ai'cem.
Zitiert nach ΟΡΟ (wie Anm. l ) . B d . II.S. 141-145: der Text wurde kollationiert mit dem Abdruck der Ausgabe: Poemata. Köln 1660; darnach ergaben sich folgende Korrekturen gegenüber Ed. 1729: V. 2: Serta (statt Ed. 1729: Sarta); V. 30 ANDROCLI (statt Ed. 1729: ANDRODI); V. 102: apparet. Nec enim (statt Ed. 1729: apparet nec enim). Das Gedicht wurde bisher weder von Herder noch von anderen Übersetzern berücksichtigt (nach der Aufstellung bei Jürgen Galle: Die lateinische Lyrik Jacob Baldes und die Geschichte ihrer Übertragungen. Münster 1973, hier S. 136). ist auch, soweit ich sehe, in der Balde-Literatur nicht behandelt - bis auf eine kurze Erwähnung bei Anton Henrich: Die lyrischen Dichtungen Jakob Baldes. Straßburg 1915 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker CXXIL), S. 128f. - Eine vollständige Übersetzung und Detailanalyse, die auch die antiken >Similien< im einzelnen einbeziehen würde, muß ich mir aus Zeitgründen leider versagen.
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Coniugis duplex & amoenus hortus, Plurimae crescent in utroque Spinae. Vna quae semper fodicabit, haeret Intima cordi. Est mihi C o n j u x opulenta. N o n d u m Elegans: nondum Tanaquil. sagittä Palpitas una? Q u o d amore totum Conficit. hoc est! Nobili natam Patre duco. Nupsi Nobili, dicas. feret iIIa m a g n u m N o m e n ANDROCLT, reget illa clavum: Illa Viri VIR. Nobilem duxi. Male si juvenci Stant inaequales ad aratra vincti: Pejüs infelix Hecubae Cupido Junxerit Irum. Q u a m propinarunt Charites, avitae Stirpis est. Si tu figuli propago, Illa Praetoris: figulus peristi Collige vasa. Patrios multis celebrat triumphos. In triumphatis eris ipse. Crassam Porge cervicem, Stygio Iovi mactandus humi bos. Pulcra censetur. Quibus? expolitae Discis ä vulgo pretium puellae? SPONSE, die, quae vult oculis videri Turpis et effrons? Pulchra. Dum tota ferit ora Cypro: Dum genas pinsit speculumque muleet. More lambentis m a d i d u m sciuri Vellus et ungueis. Virgo f o r m o s a est. Subita dolosus Defluat f u e u s senij liturä: Vultus informi cadat ore, passä Crudior uva. Lilijs certat. Sua cuique vacca, Seu diern pingui ferat alba tergo; Sive pellitam ferat atra noctem; Lactea candet. Vix parem Nostrae meminere cives, Triste secretum mihi prodis. O h e ! Forma vicino; tibi dos avaro Nupsit, & alget. Fama, tarn castam mihi, quam venustam Laudat. Ο mentern sapientis albam! Major OCTAVO numerande credis Omnia Famae! Casta. Credamus. Tarnen & timores Talis et curas parit. impudicam N e m p e desperas; metuis pudicae, Captus utrinque. Docta. Sed cur non etiam superba? Rara, quae M u s a s olet &t C a m o e n a m
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Schlaglichter jesuitischer Fregit, errorem mulier fatetur, Corvus hic albet. Accinit chordis, recitat Maronem. Explicat versus. Adeoque Dido Nota, speluncae Tyriaeque f u r t u m , & Notus adulter. Fabulas plureis Ovidi recenset. Non & implevit? renovabit u n a m , Ausa Pelignae Veneris patenteis Visere silvas. Dicitur Vates. Cave, ne profanis Fustibus caedas: ideo decebit Laureis sacrae scapulas STBYLLAE Findere ramis. Non habet nullum mea POLLA nasum. Sed nimis m a g n u m , nimis eruditum: Ferre quem totum neget ipse, qui fert Maurus O l y m p u m . Mitis apparet. sine feile, vere Dicis, apparet. Nee enim, quid intüs Sibilet, nosti. latet hac. Amice, Anguis in herba. Mitis in praesens, alij f u t u r u m Cautiüs spectant. dubios regressus Praebet, ingressus facileis amanti Femina quaevis. Blanda. Sermones redolent Hymettum: Melle conditos jaculatur hamos. Saepe diffundunt animi palustres Limpida verba. Blanda. Sed sexum coeunt in unum Terror & mixta metus acer irä. Nupta bellatrix simul intrat aedes, Pars simul exit. Cordis ex f u n d o bona. Si reperta Talis; et talis tibi si reperta est: In tui nidum thalami involavit Candida cornix. Quid? quod Ä portu, CAROLINE, p r i m ü m Solvis in p o n t u m . Zephyrine speras Semper afflatu dare vela moleis Tuta per undas? Aequor, &t Tethys tua surget olim Saeva bacchari, quatietque navim. Castor & Pollux HELENAE coacti Cedere, flebunt. Tunc & infaustä satus esse Lunä Lacrymans dices, & amasse Diras: Exsecraturus veluti scatentem Cimice lectum. Patrijs multos pepulere tectis Fumus, ac lapsae per aquae capaceis Tegulas stillae; rabiosa plureis Expulit uxor.
Petrarca-Rezeption
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Die drei ersten und die vier letzten Strophen bilden den auch durch Bildkonnexionen (Schiffahrtsmetaphorik) zusammengehaltenen Rahmen eines langen Mittelteils (V. 13-120), in dem Strophe für Strophe ein variationsreiches Duell zweier Stimmen entfaltet wird, deren eine typographisch jeweils am Versanfang mit Kursivdruck abgesetzt erscheint. Die Überschrift läßt davon noch nichts ahnen, führt den Namen Petrarcas mit einem wahrscheinlich aus der Anthologie! Graeca übernommenen Beiwort (»Paranymphus«) ein, das etwa mit >Brautführer< zu übersetzen ist. In der Exposition erfährt der Leser, daß der - wie meist bei Balde - mit verschlüsseltem Namen angeredete Adressat (ein ehemaliger Jesuitenschüler?) im Begriff ist, den Bund der Ehe einzugehen. In eine Provokation verwandelt wird das Ganze bald allein schon dadurch, daß der Poeta auf diese Nachricht hin seine Feder nicht, wie im kulturellen Kontext selbstverständlich, zu einem Epithalamion, einem lyrischen Hochzeitsglückwunsch, ansetzt. Vielmehr wird das Epithalamion verweigert und durch ein mit frauenfeindlichen Stereotypen operierendes Warngedicht ersetzt, das drastische Töne nicht verschmäht. Die in der manieristischen Poetik geforderte >Überraschung< des Lesers ist nicht nur dadurch gelungen, sondern mehr noch durch die Tatsache, daß ausgerechnet Petrarca, der durch die verzehrende Hingabe an Laura bekannte »Italus Vates«, also nicht der Prosaautor, sondern der bereits legendarische Protagonist des Frauenlobes, als skeptisch-polemischer Sprecher dieses fiktiven Dialogs den Löwenanteil des Textes für sich beansprucht. Nach den exponierenden Strophen weiß der Leser über diese Situation Bescheid (Übersetzung, V. 1-12; Str. 1-3): So ist es schon gewiß. und Hymen soll erklingen und seine Kränze ausstreuen? Warum nur hast du plötzlich die Segel gewendet und dich dem Angriff der unberechenbaren Südwinde anvertraut? Eine Gattin führst du heim, die vielleicht alles Deine und dich, Astius, entführen wird. Magst du es auch genießen, von feinstem Batist gebunden zu werden, so wirst du doch schlimmer als ein Rudersklave angebunden. »Was immer mich fesseln mag, diese Gattin gefällt mir.« sagst du. Sag' an, welche Gaben (Eigenschaften) sie hat! Der italienische Dichter wird dir auf seiner Leier die (in der Erfahrung) bewährten Antworten geben.
Bereits diese mit kurzen Satzkola operierenden Verse geben einen Eindruck vom elocutionellen Raffinement des Textes: etwa wie die Schiffahrts- und Segelmetaphorik durch verbal homogene, semantisch aber kontrastive Mehrdeutigkeiten (ducere, V. 5f.; alligare, V. 6f.) so eindeutig interpretiert wird, daß sich der durch Frauenreize >gefesselte< junge Mann wie ein Galeerensklave an die Ruderbank seines nur vermeintlich glückverheißenden Eheschiffes gebunden fühlen sollte. Wie darf man das verstehen? Petrarca, der Frauenfeind? Petrarca, der von Balde virtuos vorgeführte >Antipetrarkist