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German Pages 624 [625] Year 2011
Beiträge zur historischen Theologie Herausgegeben von
Albrecht Beutel
160
Martin Fritz
Vom Erhabenen Perspektiven eines europäischen
Der Traktat ›Peri Hypsous‹ und seine ästhetischreligiöse Renaissance im 18. Jahrhundert
Mohr Siebeck
Martin Fritz, geboren 1973; 1993–2000 Studium der Evangelischen Theologie in Erlangen, Heidelberg und München; 2001–03 Vikariat; 2004 Ordination zum Pfarrer der ELKB; 2009 Promotion; seit 2007 Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Systematische Theologie der Augustana-Hochschule Neuendettelsau.
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT. e-ISBN PDF 978-3-16-151070-0 ISBN 978-3-16-150417-4 ISSN 0340-6741 (Beiträge zur historischen Theologie) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb. de abrufbar. © 2011 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Josef Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2009 von der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg als Dissertation im Fach Systematische Theologie angenommen. Sie trug ursprünglich den Titel Zwischen Kunst und Religion. Pseudo-Longins Begriff des Erhabenen und seine Renaissance im 18. Jahrhundert und wurde für den Druck geringfügig überarbeitet. An erster Stelle will ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Ulrich Barth danken. Er hat das Promotionsprojekt zur religiösen Dimension des Erhabenen mit sicherem Gespür für die Lebensfragen des Schülers angeregt, hat den unerwarteten Gang des Forschens mit unablässigem Engagement begleitet und mit der ihm eigenen Verbindung von aufrichtiger Wertschätzung, ungeschminkter Kritik und herzlicher Zuwendung auf unnachahmliche Weise gefördert. Jene Lehrjahre, in denen sich mir ein neuer Zugang zur Theologie erschlossen hat, waren für mich ein großes Geschenk. Des Weiteren möchte ich Herrn Prof. Dr. Jörg Ulrich herzlich für die Erstellung des Zweitgutachtens danken. Ein besonderer Dank gilt sodann Prof. Dr. Markus Buntfuß (Neuendettelsau). Er hat mir als seinem Assistenten reichlich Freiraum für die Forschung gelassen, mir in Sachen Theologie und Ästhetik manche Lichter aufgesteckt und am Ende mit sanftem Druck darauf hingewirkt, dass das langjährige Projekt tatsächlich einen Abschluss gefunden hat. Vor allem aber gewährt er mir seit Jahren das Glück freundschaftlicher Zusammenarbeit. Im Hallenser Promotionsverfahren hat er das externe Drittgutachten verfasst. Der institutionelle Ort der Betreuung durch Professor Barth war das monatliche Doktorandenkolloquium in Halle. Ohne die intensiven Debatten in dieser Runde läge das Buch nicht in seiner heutigen Gestalt vor. Allen Kolleginnen und Kollegen sei für ihre Geduld und ihre vielfältigen kritischen Anregungen gedankt. Die gemeinsamen Tage im Barth’schen Wohnzimmer werden mir unvergessen bleiben. Für Hilfen bei der Fertigstellung des Manuskripts habe ich vielen zu danken, namentlich PD Dr. Roderich Barth (Halle) für theologischen Rat in letzter Minute, Dr. Markus Mülke (Neuendettelsau) für mannigfache altphilologische Hinweise sowie Inge Trini, Hans Lehner, Friedemann Barnis-
VI
Vorwort
ke und insbesondere meinem Freund Dr. Thomas Herold (Boston) für die Bereitschaft, sich den Strapazen der Korrektur zu unterziehen. Dem Landeskirchenrat der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern bin ich für die Gewährung eines mehrjährigen Promotionsstipendiums zu Dank verpflichtet, daneben dem Förderungs- und Beihilfefonds der VG Wort für die Bereitstellung eines erklecklichen Druckkostenzuschusses. Herrn Prof. Dr. Albrecht Beutel danke ich für die Aufnahme des Buches in die Reihe ›Beiträge zur historischen Theologie‹, dem Verlag Mohr Siebeck, vornehmlich in Person von Herrn Dr. Henning Ziebritzki, für die verlegerische Betreuung, außerdem Frau Andrea Siebert für die Erstellung der Druckvorlage. Auch meine Eltern haben das Entstehen dieser Arbeit mit Anteilnahme, philologischer Kompetenz und durch Mithilfe beim Korrekturlesen begleitet. Mein Vater Hartmut Fritz hat den Abschluss des Promotionsverfahrens noch erlebt, die Drucklegung kommt leider zu spät. Dankbar für alles, was ich an Förderung durch beide erfahren habe, widme ich das Buch, im Gedenken an meinen Vater, meiner Mutter Ulrike Fritz. Wer etwas davon ahnt, wie sehr ein Promovend von seinen Forschungen mitunter in Beschlag genommen wird, und wer zudem von den Ansprüchen einer Hallenser Dogmatik-Promotion weiß, kann ermessen, welchen Zumutungen meine Familie in den letzten Jahren ausgesetzt war. Meine Frau Dr. Regina Fritz hat mir trotz alledem ihre Unterstützung bis zum Schluss nicht versagt und hat mich immer wieder dazu angehalten, unser Leben jenseits der Wissenschaft nicht aus dem Auge zu verlieren. Dafür danke ich ihr von Herzen. Neuendettelsau, im Dezember 2010
Martin Fritz
Inhalt Vorwort Siglen
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V
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XI
Einleitung
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1
Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹ 1. Die Schrift ›Peri Hypsous‹
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2. Grundbestimmungen des Erhabenen
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34
2.1. Ekstase statt Überzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Aufschwung der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
34 45
3. Die konstruktiven Leitbegriffe von ›Peri Hypsous‹
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50
3.1. Pathos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1. Die Problematik der Pathosthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Die Bedeutung des Pathosbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50 50 53
3.2. Hochsinnigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. ›Longins‹ Kernthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Hochsinnigkeit bei Platon, Aristoteles und Cicero . . . . 3.2.3. Hochsinnigkeit bei ›Longin‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61 63 66 80
4. Die Grundformen des Erhabenen
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95
4.1. Das Pathetisch-Erhabene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 4.1.1. Das Pathos als Medium von Hochsinnigkeit . . . . . . . . . . . . 95 4.1.2. Das Pathetisch-Erhabene im Lichte der Thymostheorie 110 4.1.3. Das Pathetisch-Erhabene bei ›Longin‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 4.2. Das Majestätisch-Erhabene
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5. Poetologie zwischen Tugendethik und Metaphysik
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139 149
VIII
Inhalt
Teil II Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen 1. Konstellationen im 18. Jahrhundert
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1.1. Die Wiederentdeckung Longins: Nicolas Boileau . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1. Der ›Traité du Sublime‹ im Kontext klassizistischer Literaturtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2. Die ethische Dimension des Sublimen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3. Die numinose Wirkung des Sublimen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4. Religiöse und theologische Implikationen des Sublimen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Die Konjunktur des Erhabenen in England und in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1. ›Reformation‹ der Dichtung im Namen Longins: John Dennis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2. Das ›Sublime‹ der Dichtung und das ›Große‹ der Natur: Joseph Addison . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3. Empiristische Restriktion: Edmund Burke . . . . . . . . . . . . . . 1.2.4. Das ›Erhabene‹ und das ›Wunderbare‹: Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger . . . 1.3. Das dreifache Erhabene
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160 162 164 170 181 186 196 197 208 214 220 228
2. Pietismus, Aufklärung und Hallische Ästhetik: Alexander Gottlieb Baumgarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 2.1. Die Verschränkung von Religion und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 2.1.1. Die Annäherung von Pietismus und Schulphilosophie 234 2.1.2. Die Geburt der Ästhetik aus dem Geist von Pietismus und Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 2.2. Die Ästhetik als Wissenschaft der Versinnlichung . . . . . . . . . . . . . 248 2.2.1. Die kognitive Funktion der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 2.2.2. Die affektive Funktion der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 2.3. Ästhetisierung der Religion
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3. Poetologie religiöser Dichtung: Jakob Immanuel Pyra 3.1. Das Erhabene als Vehikel der Säkularisierung?
273
........
284
..................
284
3.2. Das Erhabene und die Bestimmung des Menschen . . . . . . . . . . . . . 294 3.2.1. Das anthropologische Fundament des Erhabenheitsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 3.2.2. Die Poesie als Mittel der Sorge für die Seele . . . . . . . . . . . . . 306
IX
Inhalt
3.2.3. Ästhetische Apologie der Religion: Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier
...
313
3.3. Das Erhabene in der Heiligen Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1. Die Bibel als Muster des Erhabenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2. Die Longin-Rezeption in der protestantischen Dogmatik: Johann Franz Budde und Johann Jakob Rambach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3. Spur des Göttlichen in menschlicher Rede . . . . . . . . . . . . . .
324 324
3.4. Das Erhabene als Medium religiöser Mitteilung . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1. Der religiöse Beruf des Dichters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2. Die Elemente des Erhabenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3. Zeitgenössische Definitionsversuche: Samuel Gotthold Lange und Johann Jakob Bodmer . . . .
356 356 361
3.5. Das Erhabene und die Ästhetisierung der Religion
381
.............
330 350
369
4. Ästhetische Dechiffrierung des Alten Testaments: Robert Lowth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 4.1. Die ›Vorlesungen über die heilige Poesie der Hebräer‹
........
395
4.2. Der Ursprung der Dichtkunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 4.2.1. Die Quellen der Poesie: Natur und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . 404 4.2.2. Die Gegenstände der Poesie: Tugend und Religion . . . . 410 4.3. Die Erhabenheit der alttestamentlichen Dichtung . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1. Definition und Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2. Die Stildimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3. Die Symboldimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4. Die Ausdrucksdimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.5. Die Komplexität des Erhabenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
416 417 421 427 445 450
4.4. Bibelhermeneutik im Gefolge Longins
455
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5. Poetik der Unsterblichkeit: Friedrich Gottlieb Klopstock
...
465
5.1. Die Rede über die epische Poesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 5.1.1. Die Transzendierungsleistung der Dichtung . . . . . . . . . . . . 467 5.1.2. Die Offenbarungsmittlerschaft der Dichtung . . . . . . . . . . . 474 5.2. Die Programmschrift ›Von der heiligen Poesie‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 5.2.1. ›Moralische Schönheit‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 5.2.2. Poesie natürlicher und geoffenbarter Religion . . . . . . . . . . 489 5.3. Erhabene Dichtung und religiöse Andacht
......................
495
6. Das Religiös-Erhabene und die Ästhetisierung des Christentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508
X
Systematischer Ausblick
Inhalt ................................................
525
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597
Siglen Im Falle antiker Quellen richten sich die Siglen nach: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hg. v. H. Cancik/H. Schneider, Stuttgart/Weimar 1996. Aesth. Aleth. ASW BAG BER BHM DE Decl. De subl. DM EGL Erw. Eth. FErw. HP Koll. KU Med. Met. Prael.
Alexander Gottlieb Baumgarten: Aesthetica (1750/1758) Alexander Gottlieb Baumgarten: Philosophische Briefe von Aletheophilus (1741) Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, Bd.1 (1748) Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der besten Art über Gott zu denken (1758) Samuel Gotthold Lange: Betrachtungen über das Erhabene in der Religion (1748) Georg Friedrich Meier: Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias (1749) Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet (Deutsche Ethik, 1720) Friedrich Gottlieb Klopstock: Declamatio qua poetas epopoeiae auctores recenset F.G.K. (1745) Pseudo-Longinus: Peri Hypsous (prb. 1. Jh. n. Chr.) Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet (Deutsche Metaphysik, 1720) Friedrich Gottlieb Klopstock: Einleitung zu den Geistlichen Liedern (1758) Jakob Immanuel Pyra: Erweis, daß die G*[o]ttsch*[e]dianische Sekte den Geschmack verderbe (1743) Alexander Gottlieb Baumgarten: Ethica Philosophica (11751/31763) Jakob Immanuel Pyra: Fortsetzung des Erweises, daß die G*[o]ttsch*[e]dianische Sekte den Geschmack verderbe (1744) Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der heiligen Poesie (1755) Alexander Gottlieb Baumgarten: Kollegium über die Ästhetik (ca. 1750/51) Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (1790) Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (1735) Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica (11739/71779) Robert Lowth: De sacra poesi hebraeorum praelectiones academicae (1753)
XII Préf. RKW Réfl. Sciagr. TLG Tr. ÜE UVG
Siglen
Nicolas Boileau-Despréaux: Traité du Sublime, ou du Merveilleux dans le Discours, Préface (1674) Friedrich Gottlieb Klopstock: Von dem Range der schönen Künste und der schönen Wissenschaften (1758) Nicolas Boileau-Despréaux: Réflexions critiques sur quelques passages du rhéteur Longin (1694/1713) Alexander Gottlieb Baumgarten: Sciagraphia encyclopaediae philosophicae (vor 1741) Georg Friedrich Meier: Die theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt (1744) Nicolas Boileau-Despréaux: Traité du Sublime, ou du Merveilleux dans le Discours (1674) Jakob Immanuel Pyra: Über das Erhabene (zw. 1736 u. 1743) Georg Friedrich Meier: Untersuchung Einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks der Deutschen, in Absicht auf die schönen Wissenschaften (1746)
Einleitung »Erhaben, nennet sich der grosse Gott«. Mit dieser knappen Auskunft sah sich konfrontiert, wer Mitte des 18. Jahrhunderts ein Bild von dem neuen Begriff gewinnen wollte, der seit kurzem in den schönen Wissenschaften kursierte, und wer zu diesem Zweck zum gängigen Konversationslexikon der Zeit griff. Unter dem einschlägigen Stichwort im achten Band von Zedlers Universal-Lexicon1 aus dem Jahre 1734 fand er außerdem den Verweis auf eine Belegstelle aus dem Buch Jesaja: »Denn so spricht der Hohe und Erhabene, der ewig wohnt, dessen Name heilig ist: Ich wohne in der Höhe und im Heiligtum und bei denen, die zerschlagenen und demütigen Geistes sind« (Jes 57,15). Statt einer Erläuterung der Kategorie auf dem Stand der neueren Poetologie oder der gerade ins Leben getretenen Ästhetik wurde dem Lexikonnutzer der theologische Hinweis auf eine biblische Gottesprädikation geboten, wie sie auch noch in den alten Kirchenliedern nachhallte. Aber inzwischen war das Erhabene zu einem ästhetischen Leitbegriff avanciert. Es war, so konnte es den Anschein haben, aus der Religion in die Theorie der schönen Künste abgewandert, hatte den Diskurs gewechselt. Insofern war die Zeit, kaum war »der Zedler« vollständig erschienen (1754), über jenen Eintrag offenbar bereits hinweggegangen.2 Gegen Ende des 20. Jahrhunderts bot die neuerliche Renaissance des Erhabenen abermals Anlass, sich über die zuvor weithin vergessene Kategorie ins Bild zu setzen, die auf einmal wieder »à la mode«3 war. Wer dazu das Historische Wörterbuch der Philosophie zur Hand nahm, fand im entsprechenden Band von 1972 diesmal zwar ausführliche Belehrung über die Geschichte des ästhetischen Begriffs.4 Er musste aber zugleich zur Kenntnis nehmen, dass dem Erhabenen hier gleichsam der Totenschein ausgestellt worden war, indem ihm ausdrücklich jede Chance zur »Reaktualisierung« abgesprochen wurde. Gerade einmal ein Jahrzehnt später wurde diese Ein1 Großes vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste, hg. v. J. H. Zedler, Halle 1732–1754, Bd. VIII (1734), 1620. 2 Dies gilt auch für den knappen Eintrag unter dem Lemma »Stylus sublimis, oder magnificus« in Bd. XXXX (1744) des Lexikons, der das Stichwort ausschließlich im Horizont der traditionellen Rhetorik behandelt. 3 Vgl. J.-L. NANCY: L’offrande sublime (1984), 37: »Le sublime est à la mode«. 4 R. HOMANN: Art. Erhaben, das Erhabene.
2
Einleitung
schätzung nun aber durch die aktuelle Hochkonjunktur des Begriffs völlig konterkariert, und so musste sich der Leser über dessen unverhoffte Auferstehung aus dem Mausoleum der Philosophiegeschichte wundern – und über die Kurzlebigkeit enzyklopädischer Großprojekte. Das Erhabene ist schwer zu fassen. Es kann aus dem allgemeinen Bewusstsein verschwinden, um plötzlich wieder in aller Munde zu sein. Es changiert zwischen den Diskursen, entzieht sich eindeutigen Bestimmungen. Das ist die »Crux mit dem Erhabenen«5, womöglich aber auch sein eigentümlicher Reiz. Inzwischen ist die Modewelle der achtziger und neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts vorüber, ohne dass der Begriff schon wieder der Vergessenheit anheimgefallen wäre. Die Publikationsflut zum Thema ist abgeebbt, und doch bezeugt der stete Strom von einschlägigen Veröffentlichungen ein anhaltendes Interesse.6 Der gegenwärtige Abstand zur Phase der Hochkonjunktur mag die Chance bieten, sich dem Erhabenen mit der nötigen Distanz zuzuwenden, um abseits von bestimmten Theorietrends noch einmal über die Gründe für seine Renaissance in der Moderne nachzudenken. Dabei kann womöglich auch ein Beitrag geleistet werden zur Beantwortung der verwickelten Frage, »was das Erhabene eigentlich ist«7. Es ist aufschlussreich zu sehen, warum Renate Homann, die Autorin des angeführten Artikels aus dem Historischen Wörterbuch, die ästhetische Kategorie 1972 für philosophiegeschichtlich überholt hielt. So nennt sie – ohne dies näher auszuführen – unter den »wichtigsten Gründen« für die irreversible Inaktualität des Erhabenen zuvörderst die »Insuffizienz der Metaphysik seit Marx, Kierkegaard und Nietzsche« sowie die »Kritik der Religion seit Feuerbach und Freud«8. Sie beruft sich dabei auf Wilhelm Weischedel, der bereits 1960 einen Zusammenhang zwischen der allgemeinen Irrelevanz des Erhabenheitsbegriffs und der Krise des Metaphysischen hergestellt hatte: »Der Bereich des Übersinnlichen hat sich dem Menschen tiefer entzogen 5
CH. PRIES: Einleitung, in: DIES. (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn (1989), 3. 6 Aus der deutschsprachigen Literatur seien genannt: K. H. PARK: Kant über das Erhabene. Rekonstruktion und Weiterführung der kritischen Theorie des Erhabenen Kants (2009), T. HOFFMANN: Konfigurationen des Erhabenen. Zur Produktivität einer ästhetischen Kategorie in der Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts (2006); E. KANIA: »The sublime is now!«. Das Erhabene in der zeitgenössischen Kunst (2006); D. TILL: Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts (2006); P. V. ZIMA: Ästhetische Negation. Das Subjekt, das Schöne und das Erhabene von Mallarmé und Valéry zu Adorno und Lyotard (2005); P. BARONE: Schiller und die Tradition des Erhabenen (2004); A. VIERLE: Die Wahrheit des Poetisch-Erhabenen. Studien zum dichterischen Denken. Von der Antike bis zur Postmoderne (2004). 7 CH. PRIES: aaO. 2. 8 R. HOMANN: Art. Erhaben, das Erhabene, 635.
Einleitung
3
und dichter verhüllt, als daß er noch unmittelbar erblickt werden könnte, und sei es auch im zweideutigen Medium der Erscheinungen des Erhabenen.«9 Es tritt in diesen Einschätzungen eine untergründige Verbindungslinie mit jenem Zedler-Artikel von 1734 zutage, der das Erhabene noch ausschließlich mit dem Gottesprädikat der Erhabenheit assoziierte. Nach Ansicht Weischedels wie Homanns schöpfte das ästhetische Konzept wesentlich aus metaphysischen oder religiösen Quellen, mit deren Versiegen in der nachmetaphysischen Moderne es seine Lebenskraft ebenfalls einbüßen musste. Wie zutreffend diese Krisendiagnose auch immer sein mag, sie scheint anzuzeigen, dass eine rein ästhetische Behandlung des Erhabenen die Ausblendung seiner religiös-metaphysischen Dimension bedeutet. Der Begriff hat auf dem Weg zur ästhetischen Leitidee offenbar keinen Diskurswechsel vollzogen, sondern es haben sich in ihm der ästhetische und der theologische Diskurs miteinander verschränkt. Sollte sich nun auch die Renaissance des Erhabenen im Ausgang des 20. Jahrhunderts einem unvermuteten Aufbrechen jener metaphysisch-religiösen Quellen verdanken, aus denen es sich einst speiste? Sollte die tatsächlich eingetroffene »Rehabilitation des Erhabenen«, die Weischedel 1960 vorsichtig ins Auge fasste, wirklich in einer Überwindung des neuzeitlichen Nihilismus gründen und mithin in einem neuen Aufschwung des Übersinnlichen?10 Schon der Name des bekanntesten Protagonisten selbiger Renaissance spricht gegen eine derartige Annahme. Mit Jean-François Lyotard, dem französischen Poststrukturalisten und Anreger der »Postmoderne«-Debatte, hat ein Philosoph die Erhabenheitskategorie ins Licht der Öffentlichkeit gerückt, der als Künder vom Ende der »großen Erzählungen« nicht zuletzt den religiösen Traditionen den Abschied gegeben hat und der auch ansonsten nicht als Restaurator klassischer Metaphysik in Erscheinung getreten ist. Dass es sich bei der postmodernen Wiederkehr des Erhabenen um eine einfache Restitution eines metaphysisch-religiösen Begriffs gehandelt haben könnte, lässt sich also von vornherein ausschließen. Worin das Interesse des französischen Philosophen am ›Sublimen‹11 näherhin bestand und was genau er darunter verstanden hat, ist nicht leicht 9 W. WEISCHEDEL: Rehabilitation des Erhabenen, 108. Vgl. R. BRANDT: Einleitung, 25: »[F]ür das Erhabene fehlt das ungebrochene Vertrauen in die Realität eines höheren Seins, des Übermenschlichen«. 10 Vgl. W. WEISCHEDEL: aaO. 110. 11 Le sublime ist das französische Äquivalent für den deutschen Ausdruck ›das Erhabene‹. Es leitet sich wie auch das englische sublime vom lateinischen sublimis ab (von limen: ›Schwelle‹, ›Grenze‹), das ursprünglich eine lokale Bestimmung (›hoch‹, ›emporragend‹) anzeigt und in abgeleiteter Bedeutung ›erhaben‹, ›hochstehend‹ bedeutet. Im
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anzugeben. Denn Lyotard hat den Begriff bewusst im Ungefähren gelassen, offenbar in der Überzeugung, nur so dem fraglichen ästhetischen Phänomen gerecht zu werden. Wesentlich für die Erfahrung des Erhabenen ist für ihn nämlich die Unterbrechung des gewöhnlichen Bewusstseinszustandes, der von der Bestimmungstätigkeit des Verstandes dominiert wird. Der Terminus steht für eine Erfahrung ohne fest umreißbaren Gehalt, geradezu das Erlebnis völliger Inhaltsleere oder »Blöße«, »und dieser Blöße vermag man sich nur in der Entäußerung zu nähern. Was Denken genannt wird, ist zu entwaffnen.«12 Lyotard nennt diese Erfahrung occurence, ›Vorkommnis‹: das Ereignis, »daß etwas geschieht, oder vielmehr und einfacher: daß es geschieht«13. Gemeint ist ein Augenblick, in dem das Erfahrungskontinuum des beständigen Wechsels bestimmten Denkens und Wollens zerreißt und einem Erlebnis intensivster Präsenz Raum gibt. Im Hintergrund dieser Erfahrung steht die Angst, »daß nichts mehr geschieht«14. Indem der Betrachter durch das Avantgarde-Kunstwerk mit der Möglichkeit des Nichtseins konfrontiert wird, spürt er in der »Erleichterung« darüber, dass noch Erfahrung stattfindet, eine »Intensivierung« seines Seins.15 Insofern Lyotard die Erfahrung des Erhabenen als Unterbrechungserfahrung zeichnet – wobei er sich insbesondere an Edmund Burkes und Barnett Newmans Reflexionen zum Sublimen anlehnt –, benennt er einen Zug, der wohl aller ästhetischen Erfahrung eignet. Hier wäre an Robert Musils Theorie vom ›anderen Zustand‹ zu erinnern. Als Unterbrechung des alltäglichen Bewusstseins rückt das Erhabene außerdem de facto in die Nähe zum Religiösen. Nicht von ungefähr verortet Friedrich Schleiermacher das Gefühl als Träger der Religion im Indifferenzpunkt zwischen Denken und Wollen und kennzeichnet das religiöse Fest als Unterbrechung des Alltags.
Deutschen weicht der allgemeine Sprachgebrauch insofern ab, als ›sublim‹ weniger mit hohem als mit feinem Sinn in Verbindung gebracht wird. Diese Wortverwendung hat sich von ihrer lateinischen Wurzel ganz abgekoppelt (es sei denn, man übersetzt sub-limis wörtlich mit ›unter-schwellig‹, was durch den lateinischen Wortgebrauch allerdings nicht gedeckt ist). Wahrscheinlich hat sich hier der psychoanalytische Begriff der ›Sublimierung‹ ausgewirkt. Zielt der Terminus auf die psychische Fähigkeit, elementarische menschliche Triebe auf eine höhere geistige Ebene erheben, in höhere kulturelle Leistungen umsetzen zu können, dürfte der damit assoziierte Gegensatz ›roher, elementarischer Trieb vs. kulturelle, geistige Leistung‹ die Assoziation von Vergeistigung, verfeinerter Bildung aufgerufen haben. Die Ähnlichkeit mit dem Fremdwort ›subtil‹ dürfte das Übrige dazu getan haben, den Wortgebrauch ganz in Richtung ›Feingeistigkeit‹, ›Feinsinnigkeit‹ umzulenken. Nichtsdestoweniger wird im Folgenden ›sublim‹ als Wechselbegriff für ›erhaben‹ verwendet, insbesondere in Bezug auf französische oder englische Autoren. 12 J.-F. LYOTARD: Das Erhabene und die Avantgarde, 108. 13 Ebd. 14 AaO. 117. 15 AaO. 118.
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Die strukturelle Nähe zur religiösen Sphäre wird noch deutlicher, wenn man ein zweites Moment von Lyotards Begriff des Sublimen in Betracht zieht, das in der inzwischen fast sprichwörtlichen Formel von der ›Darstellung des Nicht-Darstellbaren‹ zum Ausdruck kommt. Wenn Lyotard der Kunst die Funktion zuweist »darzustellen, daß es ein Nicht-Darstellbares gibt«16, lehnt er sich an das Konzept der ›negativen Darstellung‹ der inexponiblen Vernunftideen aus Kants ›Analytik des Erhabenen‹ an. Dabei zögert er überraschenderweise nicht, dieses Nichtdarstellbare – abweichend von Kant – mit dem metaphysischen Begriff des Absoluten zu belegen. Mit der »Anspielung«17 auf ein Nichtdarstellbares ziele die Kunst letztlich auf ein »Hervorrufen des Absoluten«18 in der »Seele«19 des Betrachters. Überdies scheint die wiederholte Bezugnahme auf das mosaische Bilderverbot darauf anzuspielen, dass das Erhabene seiner Herkunft nach einen genuin religiösen Sinn hat, der in abgeschwächter Form auch noch in der ästhetischen Kategorie wirksam ist. So lässt sich insgesamt der Eindruck kaum abweisen, dass Lyotards Begriff des Sublimen eine religiöse Tiefendimension birgt.20 Die Überraschung über den Befund, dass mit dem Erhabenen zentrale metaphysische und religiöse Motive Eingang in eine Philosophie gefunden haben, die sich dezidiert als Philosophie eines nachmetaphysischen Zeitalters versteht, hält an, wenn man einer Spur in Lyotards Texten folgt, die zu einem Vorläufer von dessen Hinwendung zum Erhabenen führt: zu Theodor W. Adorno. Nun hat der Ausdruck bei Adorno nicht die augenfällige Dominanz wie bei Lyotard. Der Terminus begegnet in dessen ästhetischem Hauptwerk, der 1970 postum veröffentlichten Ästhetischen Theorie, eher am Rande. Das Erhabene musste daher erst von Lyotard als philosophischer Schlüsselbegriff herausstellt werden, bevor man auch dessen systematische Bedeutung für Adorno entdecken konnte. So hat Wolfgang Welsch dessen Ästhetik treffend als ›implizite Ästhetik des Erhabenen‹ tituliert. Er hat dabei darauf hingewiesen, dass das Erhabene bei Adorno ähnlich wie bei Lyotard nicht mehr eine vom Schönen geschiedene Gestalt des Ästhetischen bezeichnet, sondern das generelle Kriterium für das Gelingen von Kunst in der Moderne. Daher gilt: »Das Thema des Erhabenen führt ins Zentrum der Ästhetischen Theorie.«21 Auf den ersten Blick mag diese Behauptung der kritischen Äußerung Adornos widersprechen, wonach das Erhabene als »unmittelbare Okkupation 16
AaO. 119. J.-F. LYOTARD: Vorstellung, Darstellung, Undarstellbarkeit, 146; vgl. 149. 18 AaO. 148. 19 Vgl. J.-F. LYOTARD: Das Erhabene, 117. 20 Vgl. U. BARTH: Religion und ästhetische Erfahrung, 255. 21 W. WELSCH: Adornos Ästhetik: eine implizite Ästhetik des Erhabenen, 185. 17
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des Kunstwerks durch Theologie«22 zu betrachten sei. Die Bemerkung zielt offenkundig auf das romantische Verständnis des Erhabenen als »Einbildung des Unendlichen ins Endliche«23, wie es Schelling, Solger und andere ausgebildet haben. Ausdrücklich genannt wird Kant, dessen ›Analytik‹ das Erlebnis des Erhabenen von einem negativen in ein positives Unendlichkeitsbewusstsein münden lässt. Letzteres erscheint Adorno als illegitime Reklamierung einer Epiphanie des Absoluten.24 Spätestens angesichts des Grauens, das sich mit dem Namen Auschwitz verbindet, stelle die Behauptung einer unzweideutigen Erscheinung des Absoluten in Kunst oder Natur eine billige Vertröstung dar, die sich massivem Ideologieverdacht aussetze. Habe Kant in bestimmten Naturerlebnissen aus der Erfahrung der je eigenen Nichtigkeit noch ein Bewusstsein von »Ewigkeit«25 hervorgehen sehen, sei das Ästhetische gegenwärtig kaum mehr »jener Positivität der Negation mächtig, welche den traditionellen Begriff des Erhabenen als eines gegenwärtig Unendlichen beseelte«26. In Anbetracht der beispiellosen Destruktivität, die das 20. Jahrhundert gezeitigt hat, ist für Adorno jeder ungebrochene Glaube an das Absolute hinfällig geworden. Jede »Selbsterhöhung der Kunst zum Absoluten«27 sei obsolet. Es habe sich ein Abgrund der Sinnlosigkeit aufgetan, der jeden »Sinn an sich«28 und seine affirmative Inanspruchnahme von vornherein diskreditiere. Wie wissenschaftliche Theologie und verfasste Religion mache sich daher auch die traditionelle Ansicht des Erhabenen einer illegitimen Usurpation absoluten Sinnes schuldig, die zum Scheitern verurteilt sei: Sie »vindiziert den Sinn des Daseins, ein letztes Mal, kraft seines Untergangs«29. Adornos Bezugnahme auf die Erhabenheitstradition bestätigt, was sich bei den zuvor genannten Autoren bereits angedeutet hat: Der Begriff weist unübersehbar eine theologisch-metaphysische Grundierung auf. Adorno scheint aber auch jene Diagnose der hoffnungslosen Unzeitgemäßheit der Kategorie vorwegzunehmen, die sich auf selbige Grundierung bezieht. In postreligiöser und postmetaphysischer Zeit erscheint das Erhabene wie ein Relikt aus seliger Vergangenheit, das höchstens noch aus Nostalgie ab und an zu bestaunen ist. Dennoch betreibt Adorno in seiner Ästhetik entschieden die Rehabilitierung des Erhabenen. Seiner Überzeugung nach kann es in der Moderne 22
TH. W. ADORNO: Ästhetische Theorie, 295. F. W. J. SCHELLING: Philosophie der Kunst, 289. 24 Vgl. TH. W. ADORNO: aaO. 159. 25 AaO. 295. 26 AaO. 294. 27 Ebd. 28 AaO. 193. 29 AaO. 295. 23
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geradezu als das Unterscheidungsmerkmal von Kunst und bloßem Kunstgewerbe gelten.30 Trotz seiner Vorbehalte gegen den herkömmlichen Begriff macht Adorno keinen Hehl aus seiner »Allergie gegen das nicht Erhabene an der Kunst«31. Was aber bleibt von der Kategorie unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts? Nach Adornos Überzeugung ist auch noch für die moderne Kunst der Bezug auf das Absolute konstitutiv. Aber dieses Absolute ist ihr gleichsam »schwarz verhängt«32. Die moderne Kunst kann sich, will sie den geschichtlichen Erfahrungen ihrer Gegenwart gerecht werden, auf das Unbedingte nicht mehr in der Weise eines wenn auch negativ vermittelten Zuspruchs beziehen, sondern ausschließlich im Modus der Negation, also gleichsam trauernd, klagend oder allenfalls fragend. »Erbe des Erhabenen ist die ungemilderte Negativität«33. Es kommt der Kunst demnach die Aufgabe zu, gerade durch die schonungslose Darstellung der Abwesenheit von Sinn die Frage nach dem Sinn offen zu halten.34 Sie kann allein, wie Albrecht Wellmer formuliert hat, auf »die Leerstelle« verweisen, »die das Absolute der Metaphysik hinterlassen hat«.35 Indem die Kunstwerke die Stelle des Absoluten als Leerstelle thematisieren und sich diesbezüglich jede Affirmation verbieten, genügen sie auch dem Bilderverbot, mit dem Adorno wie später Lyotard jede Thematisierung des Absoluten in der Moderne belegt sieht. Nur wenn sie in solcher Weise »Bild des Bilderlosen«36 ist, tut die Kunst »dem Absoluten die Ehre an, es nicht als Vorhandenes, unverlierbar Überliefertes zu fingieren, sondern es so zu bestimmen, wie es ihm allein noch zugänglich ist, auch wenn es dadurch negiert wird«37. Adornos transformierter Begriff – er spricht von einem »latent« gewordenen Erhabenen38 – konvergiert mit dem traditionellen Konzept, insofern es eine durch Negation vermittelte ästhetische Bezugnahme auf das Absolute bezeichnet, wobei sich freilich der Modus der Negation und der Modus der Präsenz des Absoluten in seiner negativen Darstellung verändert haben. Ein weiterer Konvergenzpunkt ist darin zu erblicken, dass auch Adorno das Erhabene in Anlehnung an Kant »durch den Widerstand des Geistes gegen die Übermacht definiert«39 sieht. Das Subjekt lässt sich in der Erfahrung des 30
Vgl. aaO. 293. AaO. 294. 32 AaO. 204. 33 AaO. 296. 34 Vgl. aaO. 192. 35 A. WELLMER: Adorno, die Moderne und das Erhabene, 194. 36 TH. W. ADORNO: Sakrales Fragment. Über Schönbergs Moses und Aron, 458. 37 AaO. 455. 38 Vgl. TH. W. ADORNO: Ästhetische Theorie, 294. 39 AaO. 296. 31
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Erhabenen nicht durch eine vermeintliche Erscheinung des Absoluten trösten, sondern hält der Übermacht der Entfremdung und der darin sich dokumentierenden absoluten Sinnlosigkeit stand.40 Schließlich – aber dieser Gedanke steht selbst unter einem theoretischen Bilderverbot und findet sich daher nur in Andeutungen41 – rechnet Adorno im Letzten auch mit einem verborgenen Aufschein von Sinn inmitten größter Sinnlosigkeit. Durch Askese der Mittel erstrebt ›latent-erhabene‹ Kunst endlich doch zu »erlangen, was zu usurpieren sie verschmäht«42. Der Begriff des ›latenten Erhabenen‹ korreliert der negationslogischen Fassung des Versöhnungsbegriffs in Adornos Ästhetikkonzeption. Das bedeutet, dass »das Standhalten gegenüber der Negativität des Daseins nur im Namen eines Absoluten möglich ist, das zwar schwarz verhüllt, aber doch nicht Nichts ist«43. Am Ende stellt jedes gelungene Kunstwerk kraft seiner immanenten Stimmigkeit ein »Gleichnis« oder eine »Verheißung« des Absoluten dar. Nur verweigert es sich allen Versicherungen von Erfüllung: »Ob die Verheißung Täuschung ist, das ist das Rätsel.«44 Latent ist das Erhabene Adornos insofern zu nennen, als sich seine Manifestation immer nur im Verborgenen vollzieht. Damit erinnert es an die Deus-absconditus-Dialektik, wie sie klassisch in Luthers Theologia crucis formuliert ist, wonach Gott sich offenbart, indem er sich in seinem Gegenteil verbirgt.45 Der Nachhall zentraler Motive aus Religion und Metaphysik in Adornos Ästhetik des Erhabenen ist unüberhörbar.46 Sie beweist in aestheticis jene Solidarität »mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes«, wie sie der berühmte letzte Satz der Negativen Dialektik forderte.47 Das Erhabene fungiert als Chiffre für eine »ästhetische Spiritualität«48, die in der Krise von überkommener Religion und Metaphysik im Subjekt deren Stelle vertritt. Charakteristisch für eine derartige Spiritualität ist neben dem Sachverhalt, dass sie sich im Raum des Ästhetischen vollzieht, ihre eigentümliche Gebrochenheit und Unausdrücklichkeit, für die bei Adorno die Begriffe ›Ne40
Vgl. aaO. 31: »Glück an den Kunstwerken wäre allenfalls das Gefühl des Standhaltens, das sie vermitteln.« 41 Vgl. aaO. 161: »Sinn inhäriert noch der Leugnung des Sinns«; 192: »Ihr Rätselcharakter spornt dazu sie [sc. die Kunst; M.F.] an, immanent derart sich zu artikulieren, daß sie durch die Gestaltung des emphatisch Sinnlosen Sinn gewinnt.« 42 TH. W. ADORNO: Sakrales Fragment, 457. 43 A. WELLMER: Adorno, 194. 44 TH. W. ADORNO: Ästhetische Theorie, 193. 45 Vgl. dazu etwa U. BARTH: Die Dialektik des Offenbarungsgedankens. Luthers Theologia crucis. 46 Vgl. L. NAGL: Das verhüllte Absolute. Spuren nachmetaphysischer Religionsphilosophie in der Kritischen Theorie, 50ff. 47 TH. W. ADORNO: Negative Dialektik, 400. 48 TH. W. ADORNO: Ästhetische Theorie, 293.
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gativität‹ und ›Latenz‹ stehen. Sie vollzieht sich im vollen Bewusstsein der Nichtdarstellbarkeit, Nichtpräsentierbarkeit, mehr noch: im Bewusstsein der Abwesenheit Gottes, hält aber gleichwohl an dem Bezug auf die Idee des Absoluten fest. Die ästhetische Spiritualität des Erhabenen ist für Adorno mithin »Religiosität, wie sie für einen Menschen von heute möglich«49 ist. Angesichts von Adornos und Lyotards Reflexionen zum Erhabenen kann von einem Diskurswechsel des Begriffs von der Theologie in die Ästhetik nicht die Rede sein. Beide Konzepte vermitteln eher den Eindruck, als sei die zentrale theologische Fragestellung nach der Präsenz des Absoluten in der Welt aus der Theologie in die Ästhetik eingedrungen. Die Ästhetik des Erhabenen hat hier nicht nur »latent theologische Züge«50, sondern bedeutet, um die oben zitierte Wendung Adornos nochmals aufzugreifen, durchaus die »unmittelbare Okkupation des Kunstwerks durch Theologie« – wenn auch durch negative Theologie. Adorno wie Lyotard waren sich der Nähe ihrer Auffassung des Erhabenen zur Tradition der negativen Theologie bewusst.51 Sie ist auch den Interpreten nicht verborgen geblieben, hat aber ganz unterschiedliche Bewertungen gefunden. So löste die religiöse Tönung der neuen Ästhetik des Erhabenen auf philosophischer wie auf theologischer Seite zunächst vor allem Befremden aus. Wie oben erwähnt, hat erstmals Albrecht Wellmer die metaphysischen Wurzeln von Adornos Erhabenheitsbegriff offengelegt. Allerdings haftet für Wellmer an dieser Verwurzelung unverkennbar der Geruch des Rückständigen. Ihn interessiert Adornos Theorie nur insofern, als sie auch »Elemente eines postmetaphysischen Begriffs des Erhabenen«52 beinhaltet, kraft derer sie allein Anspruch auf aktuelle Gültigkeit erheben kann. »Was bleibt von dem Begriff«, so die Leitfrage des Aufsatzes, »wenn man die versöhnungsphilosophische Spitze von Adornos Philosophie kappt, wenn man die Wurzelfäden durchschneidet, durch die diese Philosophie sich aus einem abwesenden Absoluten nährt?«53 Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Äußerungen von Wolfgang Welsch und Christine Pries. Hier wird die metaphysisch-religiöse 49
TH. W. ADORNO: Sakrales Fragment, 455f. AaO. 460. 51 Vgl. aaO. 463; J.-F. LYOTARD: Interview, bei J. HERRMANN: »Wir sind Bildhauern gleich«, 105. 52 A. WELLMER: Adorno, die Moderne und das Erhabene (1989), 185. 53 AaO. 194. Analog lässt sich auch der Essay von K.-H. BOHRER: Das ›Erhabene‹ als ungelöstes Problem der Moderne. Martin Heideggers und Theodor W. Adornos Ästhetik (1994) begreifen. Er stellt den Versuch dar, die absolutheitsphilosophischen Spuren bei Adorno zu tilgen und dessen Reflexionen zum Erhabenen stattdessen für die eigene Theorie reiner ästhetischer Gegenwärtigkeit in Anspruch zu nehmen. 50
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Färbung des Erhabenen, wie sie bei Adorno und Lyotard hervortrat, ebenfalls bewusst abgeblendet, und zwar zugunsten einer dezidiert antimetaphysischen Fassung der Kategorie. Die Absage an jede metaphysisch imprägnierte Deutung des Sublimen und die Neukonzeption eines alternativen Begriffs kann geradezu als Ausgangspunkt der ästhetischen Reflexionen der beiden deutschen Lyotard-Adepten angesehen werden. So lesen sie Lyotards Theorie primär als Abweisung der versöhnungsphilosophischen Reste bei Adorno54 und mithin als Programm einer Transformation des »Metaphysisch-Erhabenen« in ein »Kritisch-Erhabenes«,55 das die betreffenden Reste gänzlich abstreift, um nun selbst »gegen alle offenen und verdeckten Absolutheitsanmaßungen«56 Einspruch zu erheben. Notwendig ist dieses Programm, so die einvernehmliche Überzeugung, weil sich der herkömmliche Begriff mit seiner metaphysisch-religiösen Seite nicht nur faktisch überlebt hat, sondern weil er auch im höchsten Maße moralisch fragwürdig geworden ist. »Heute sind längst nicht mehr alle Implikationen des Erhabenen akzeptabel.«57 Den metaphysischen Konnotationen gegenüber ist vielmehr höchste »Vorsicht geboten«58. Denn: »Die metaphysische Auslegung des Erhabenen ist keine unschuldige, sondern eine gefährliche Angelegenheit. […] Im Duktus des Metaphysisch-Erhabenen wird Terror ersehnt, betrieben und legitimiert.«59 Die Reaktualisierung des Sublimen bewegt sich deshalb stets »im Spannungsfeld zwischen der Berufung auf das kritische, gegen jede Totalitätsdarstellung gerichtete Potential des Erhabenen und der Befürchtung, daß umgekehrt mit dem Erhabenen metaphysische Topoi (oder gar faschistoide Monumentalkonstruktionen) neuen Auftrieb erhalten könnten«60. Was sind die Gründe für eine solch harsche Diskreditierung des »Metaphysisch-Erhabenen«? Der Religionsphilosoph Karl Albert hat die antifaschistische Rhetorik bei Welsch und Pries mit einer politischen Option für die Ideale der »Achtundsechziger-Generation« in Verbindung gebracht.61 54
Im grundlegenden Adorno-Aufsatz von W. WELSCH: Adornos Ästhetik: eine implizite Ästhetik des Erhabenen (1989) werden die entsprechenden Motive verschwiegen. 55 Vgl. CH. PRIES: Einleitung, 28. 56 W. WELSCH: Die Geburt der postmodernen Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst (1990), 92. 57 CH. PRIES: aaO. 28. 58 Ebd. 59 CH. PRIES/W. WELSCH: Alt für neu. Kritische Bemerkungen zu Schopenhauers traditioneller Auslegung des Erhabenen (1988), 67. 60 CH. PRIES/W. WELSCH: Art. Jean-François Lyotard, 374. 61 Vgl. K. ALBERT: Das Thema des Erhabenen in der Ästhetik der Gegenwart (1996), 199ff. Albert, der sich mit seiner Dissertation aus dem Jahre 1950 über Die Lehre vom Erhabenen in der Ästhetik des Deutschen Idealismus wohl als erster in der deutschen Nachkriegsphilosophie dem damals vergessenen Thema zugewandt hat, bewertet die metaphy-
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Entsprechende politische Intentionen sind tatsächlich nicht von der Hand zu weisen.62 Sie haben ihren ästhetikgeschichtlichen Grund im politischen Missbrauch des Erhabenen in der Ära des Nationalsozialismus – man denke nur an die monumentalen Inszenierungen bei den Nürnberger Reichsparteitagen der NSDAP oder bei den Olympischen Spielen in Berlin sowie an deren cineastische Verwertung in den Propaganda-Filmen Leni Riefenstahls. Doch zielt die kritische Wendung gegen das Metaphysische ins philosophisch Grundsätzliche, wobei sich auch hier politische Motive geltend machen. Die Kritik basiert auf dem Grundaxiom postmoderner Theoriebildung von der unauflösbaren Pluralität der Wissens-, Erfahrungs- und Lebensformen. Demzufolge sind gegenwärtig alle integrativen Modelle von Kultur und Geschichte, alle Einheitsbegriffe von Realität überhaupt obsolet, weil sich der Zugang zur Wirklichkeit in eine unhintergehbare Vielheit von Diskursen aufgelöst hat, die nicht mehr auf einer Ebene wechselseitiger Vergleichbarkeit zusammengeführt, mittels einer gemeinsamen Vernunft miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Jeder Versuch, den vorhandenen Widerstreit zwischen den inkommensurablen Diskursen mithilfe einheitlicher Kriterien zugunsten einer Form von Einheit aufzulösen, bedeutete »Unterdrückung einer Diskursart durch die andere«63 und mithin Unfreiheit und Gewalt. Sowohl das geächtete Metaphysisch- als auch das propagierte KritischErhabene gewinnen vor diesem kulturtheoretischen Hintergrund ihr spezifisches Profil. Ersteres, von Kant klassisch als negative Darstellung eines intelligiblen Einheits- bzw. Totalitätsbegriffs konzipiert – der Anblick des gestirnten Himmels erweckt im Gemüt die undarstellbare Idee der ›Welt‹ –, stellt sich als ästhetische Form des inkriminierten Einheitszwanges dar, die ob ihrer Unterdrückungspotentiale radikal abzulehnen ist. Das Kritisch-Ersische Komponente des Erhabenheitsbegriffs von seiner Philosophie der Seinserfahrung aus (vgl. DERS.: Die ontologische Erfahrung, DERS.: Einführung in die philosophische Mystik) selbst entschieden positiv, ohne dies jedoch über Andeutungen hinaus näher auszuführen. 62 Vgl. CH. PRIES/W. WELSCH: Alt für neu, 63: Schopenhauers metaphysische Erhabenheitsästhetik »kann einer betont konservativen Haltung mit gefährlichen politischen Implikationen Vorschub leisten«. Ferner CH. PRIES: Einleitung, 12: »Unter dem Deckmantel des Erhabenen können bedenklich reaktionäre Ansichten verborgen liegen.« Wo freilich das Metaphysisch-Erhabene, »das implizit schon bei Kant angelegt war und sich in der Folge über die deutsche Romantik, Hegel und Schopenhauer bis zu Faschismus und SDI [sc. das US-amerikanische Programm der ›Strategic Defense Initiative‹, also der nuklearen Abschreckung im Kalten Krieg; M.F.] hin ausgewirkt hat und für das die Knechtung der Sinnlichkeit, der Primat des absoluten Geistes, die Herrschaft des Subjekts über die Natur, kurz: der neuzeitliche Größenwahn charakteristisch ist« (28), zum Inbegriff aller Übel der Moderne stilisiert wird, da ist es von der ästhetischen Theorie bis zur geschichtsphilosophischen Lächerlichkeit kaum mehr ein Schritt. 63 CH. PRIES/W. WELSCH: Art. Jean-François Lyotard, 371.
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habene hingegen, auf das von Kant beschriebene Scheitern des Strebens der Vernunft nach Einheitsdarstellung zurückgenommen, wird als Erfahrung eines unauflösbaren Widerstreits zwischen den Erkenntnisvermögen gefasst und als Gegenkraft gegen alle per se verkehrten Einheits-, Ganzheits- und Absolutheitssehnsüchte in Stellung gebracht. »Das Erhabene lehrt gerade das Scheitern aller metaphysischen Bemächtigungsversuche.«64 In Zeiten des Bewusstseins irreduzibler Komplexität avanciert es somit zum Mittel der ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts, das »dem Totalitarismus entgegentritt, indem [es] das Aushalten von Widersprüchen fordert und eine Kultur des Dissenses fördert, statt Versöhnung zu versprechen«65. In dieser Funktion dient es der Freiheit und dem Frieden. Es dürfte deutlich geworden sein, wie voraussetzungsreich die skizzierten Konstruktionen sind. Die ethisch-politischen und kulturphilosophischen Koordinaten des postmodernen Denkens steuern den Umgang mit Begriffen und Theorien, wobei deren historisch gegebener Eigensinn weitestgehend aus dem Blick gerät.66 Das wird etwa an der willkürlichen Inanspruchnahme von Versatzstücken der kantischen ›Analytik‹ sichtbar67 oder 64 CH. PRIES/W. WELSCH: Alt für neu, 67. Vereinzelt finden sich auch ausgewogenere Formulierungen, wonach das Charakteristikum des Erhabenen im »Schweben« zwischen Kritik und Metaphysik zu erblicken sei (vgl. z.B. CH. PRIES: Einleitung, 12). In eine ähnliche Richtung gehen die Ausführungen von W. WELSCH: Religiöse Implikationen und religionsphilosophische Konsequenzen »postmodernen Denkens« (1988), die Lyotards Begriff des Sublimen mit seinem Bezug auf die »Idee […] eines negativ gedachten Absoluten« (127) in größere Nähe zu Adorno rücken. Hier kann Welsch sogar von einer »theologischen Grundierung« (126) von Lyotards Denken sprechen. Ansonsten überwiegen aber bei Welsch und Pries weitaus die Äußerungen, die jede Art von metaphysischem Einschlag unter der »totalitären Seite« (CH. PRIES: aaO. 12) des Erhabenen verbuchen. Warum Lyotards Idee des negativen Absoluten nicht selbst als eine metaphysische Idee anzusehen ist, bleibt unklar. 65 CH. PRIES: Einleitung, 30. Vgl. W. WELSCH: Für eine postmoderne Ästhetik des Widerstands (1989), wo der im Lichte des Erhabenheitsideals als »Elementarschule der Pluralität« aufgefassten Kunst eine »soziale Modellfunktion« (165) zugeschrieben wird. 66 Die innere Konvergenz ist daher am Ende nicht eben erstaunlich; vgl. CH. PRIES: aaO. 26: »Die interne und grundlegende Pluralität des Erhabenen erinnert an die Konzeption von ›Postmoderne‹, welche die Postmoderne dort beginnen läßt, ›wo das Ganze aufhört‹, und sie als ›Verfassung radikaler Pluralität‹ versteht.« 67 Von CH. PRIES wird einerseits das Gefühl des Erhabenen mit Kant als ambivalentes Gefühl negativer Lust konzipiert, um plausibel zu machen, »warum gerade das Erhabene zum ›Gefühl der heutigen Zeit‹ werden konnte. Denn das Gefühl des Erhabenen ist plural, und zwar in sich. […] Dadurch wird es – eher als das einheitliche Schöne – der grundlegenden Pluralität und Komplexität der heutigen Zeit gerecht. Ja, es fordert diese Pluralität durch seine interne Inkommensurabilität sogar ausdrücklich ein« (aaO. 25). Andererseits legt Pries aber – nun gegen Kant – größten Wert darauf, dass der konstitutive Widerstreit der Erkenntnisvermögen im Falle des Kritisch-Erhabenen nicht so begriffen werden darf, dass er in irgendeiner Weise zugunsten der Vernunft ausschlägt, weil die damit erzielte Selbsterfahrung als Vernunftwesen nur zur ideologischen »Erhebung oder
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an der Ineinssetzung der darin reflektierten Erfahrung des Intelligiblen mit der Darstellung des absoluten Geistes bei Hegel68 – um von der wirkungsgeschichtlichen Zusammenschau jedweder Art von Metaphysik mit der totalitären Ideologie des Faschismus ganz zu schweigen. Um den Schein sachlicher Entsprechung zu erzeugen, wird von der jeweiligen Binnenlogik und vom charakteristischen Kontext der heterogenen Komplexe jeweils so weit abstrahiert, bis die zurückbleibenden Begriffsreste einen äußerlichen Gleichklang aufweisen. So konvergiert am Ende die negative Darstellung des Ganzen im kantischen Erhabenen (eigentlich: in einem Untertyp desselben) ohne weiteres mit der Konstruktion des Ganzen in Hegels System, und der Gebrauch von Totalitätsbegriffen gereicht der Metaphysik zur Disposition für den politischen Totalitarismus. Das Resultat der dabei in Anschlag gebrachten Entdifferenzierungsleistungen ist – in der Funktion einer Negativfolie für die eigene Position – eine geschichtsphilosophische Einheitskonstruktion, die das postmoderne Differenzdenken regelrecht konterkariert. Im eigenen theoriepolitischen Interesse erliegen die Anwälte der »unüberschreitbaren Pluralität« am Ende selber dem »allgegenwärtigen Trend zur Einschleifung, Unterdrückung, Uniformierung des Differenten«69. Indessen schienen sich die Befürchtungen, die durch Lyotard initiierte Erhabenheitsrenaissance könnte gegen dessen ureigene Intention zum Vehikel einer heimlichen Renaissance der Metaphysik werden, prompt zu bestätigen, insofern sich mit der Theologie bald auch diejenige akademische Disziplin des Themas annahm, von der man gemeinhin eine natürliche Affinität zur Philosophie des Absoluten erwartet. So mag es für manchen überraschend gewesen sein, wie reserviert sich die Theologen zeigten. Zwar wurden die metaphysischen Implikationen des Erhabenen – sei es in seiner klassischen, sei es in seiner (post-)modernen Gestalt – durchaus wahrgenommen. Wie im Postmoderne-Diskurs wurden dem ästhetisch-metaphysischen Konzept gleichwohl große Vorbehalte entgegengebracht – wenn auch von umgekehrten Voraussetzungen aus. Seitens der Theologie hat sich erstmals der Katholik Reinhard Hoeps eingehend der Frage nach der aktuellen Relevanz der wiederentdeckten Ka-
Überheblichkeit des Menschen« (28) führte. Das Kritisch-Erhabene beschränkt sich daher auf »die zutiefst kritische Situation […] einer Überwältigung und des Bewusstseins der Endlichkeit des Menschen. Das so verstandene Erhabene erhebt nicht« (29). Worin in solcher Konfrontation des Subjekts mit seiner Endlichkeit das Moment der Lust bestehen soll, das das Gefühl des Erhabenen zum gemischten Gefühl macht, bleibt offen. Siehe dazu näher CH. PRIES: Übergänge ohne Brücken. Kants Erhabenes zwischen Kritik und Metaphysik (1995), ferner J.-F. LYOTARD: Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen (frz. 1991, dt. 1994). 68 Vgl. CH. PRIES: Einleitung, 28. 69 W. WELSCH: Für eine postmoderne Ästhetik, 164f.
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tegorie angenommen.70 In exegetischen und ästhetikgeschichtlichen Abrissen weist Hoeps auf »eine Vielzahl von Parallelen«71 zwischen der biblischen Vorstellung der göttlichen ›Herrlichkeit‹ (hebr. kabod, griech. doxa) auf der einen und dem ästhetischen Konzept des Erhabenen auf der anderen Seite hin. In den Mittelpunkt rückt dabei die beiderseits gleichermaßen charakteristische »innere Widersprüchlichkeit zwischen Enthüllen und Verbergen, zwischen Anwesenheit und Distanz«72 des Erscheinenden. Insbesondere mit dieser strukturellen Paradoxie tritt das Erhabene Hoeps zufolge das Erbe jüdisch-christlicher Offenbarungstheologie an. Neben der inneren Verwandtschaft kehrt der katholische Theologe im Gegenzug aber auch die grundsätzlichen Differenzen zwischen den Konzepten hervor. Hier tritt deutlich zutage, wie sehr sein Denken bei aller Kritik im Bann von Hans Urs von Balthasars Theologie der Herrlichkeit und ihrer »Warnung vor einer ästhetischen Vereinnahmung der Theologie«73 steht. So urteilt Hoeps selbst vom offenbarungstheologischen Standpunkt aus, wenn er die ästhetische Kategorie schließlich sogar in »diametralem Gegensatz«74 zur Herrlichkeitsvorstellung stehen sieht, insofern sie ihren Ausgang nicht von der theologischen Annahme einer innerweltlichen Selbstvergegenwärtigung Gottes nimmt, sondern von dem modernen Bewusstsein profaner Weltlichkeit. Der theologische Ertrag aus der Gegenüberstellung von Herrlichkeit und Erhabenheit beschränkt sich daher auf die ästhetische Korrektur eines am Paradigma des Wortes orientierten Offenbarungsbegriffs, dem von Hoeps in der Auseinandersetzung mit dem Erhabenen eine konstitutive Anschauungsdimension eingeschrieben wird. Ungeachtet dieses begrenzten Ergebnisses und ungeachtet der theoretischen Unschärfe der Untersuchung bleibt es Hoeps’ Verdienst, der hellsichtigen Intuition einer religiösen Spur innerhalb der Erhabenheitsidee – gegen alle dogmatischen Schranken der theologischen Tradition auf der einen sowie der zeitgenössischen Philosophie auf der anderen Seite – in neuerer Zeit erstmals monographisch Ausdruck verliehen zu haben.75 70 R. HOEPS: Das Gefühl des Erhabenen und die Herrlichkeit Gottes. Studien zur Beziehung von philosophischer und theologischer Ästhetik (1989). 71 AaO. 172. 72 AaO. 223. 73 AaO. 234. 74 AaO. 233. 75 In unmittelbarer Auseinandersetzung mit Balthasar befassen sich zwei jüngere Arbeiten katholischer Theologen mit dem Erhabenen. I. RAGUŽ: Sinn für das Gott-Menschliche. Transzendental-theologisches Gespräch zwischen den Ästhetiken von Immanuel Kant und Hans Urs von Balthasar (2003) interpretiert das Erhabene »als Aufgang von Sinn und Hoffnung« (98). Seine konfusen Ausführungen genügen indessen kaum den Standards geisteswissenschaftlicher Reflexion. A. M. HAAS: Hans Urs von Balthasars »Herrlichkeit« im Kontext des Erhabenen (2003) bietet einige interessante Hinweise zum
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Auch die katholische Theologin Saskia Wendel artikuliert wenige Jahre später ein ambivalentes Verhältnis zum Erhabenen. Anders als Hoeps bezieht sie sich dabei primär auf Lyotards Beschreibung des Sublimen.76 Wendel sieht die theologischen Motive in Lyotards Konzeption, misst sie aber an hochstufigen Begriffen klassischer Dogmatik und kommt demgemäß wie Hoeps zu dem wenig überraschenden Ergebnis fundamentaler Divergenzen. Lyotards Verständnis des Erhabenen stehe »eindeutig im Gegensatz zum Gottesbegriff theologisch-christlichen Denkens«77 – als wäre das Christentum selbst nicht ein Hort der großen Tradition negativer Theologie.78 religiösen Assoziationsraum des fraglichen Begriffs, außerdem eine knappe Einführung in Balthasars Denken. Bezüglich der Frage nach der theologischen Relevanz jenes Begriffs trägt der Aufsatz wenig aus. Immerhin gibt er Auskunft, warum Balthasar dem Erhabenen in seiner ästhetischen Theologie keinen zentralen Rang einzuräumen bereit war: »[A]ls ›ästhetisches‹ Wahrnehmungsprinzip war es dem an der Objektivität christlicher Offenbarung festhaltenden Theologen von eher geschmäcklerischer Subjektivität, die aufzugeben bei dem Widerfahrnis des Schönen schlechthin, der doxa theou, für ihn ein Gebot war« (387). 76 S. WENDEL: Ästhetik des Erhabenen – Ästhetische Theologie? Zur Bedeutung des Nicht-Darstellbaren bei Jean-François Lyotard (1993). 77 AaO. 65. – Vom Gegensatz zwischen Erhabenheitskonzept und christlicher Dogmatik tönt auch das Echo, das die von Lyotard inspirierte Renaissance jenes Konzepts in der angloamerikanischen Theologie gefunden hat, nämlich im Kontext der sog. ›Cambridge Radical Orthodoxy‹. Innerhalb dieses in erster Linie katholischen Programms einer postmodernen, postliberalen und postsäkularen Neoorthodoxie fungiert das Sublime – in freier Aneignung von Motiven hauptsächlich der kantischen Theorie – als Chiffre einerseits für das Scheitern des Universalitätsanspruchs der modernen Vernunft und andererseits für das religionsphilosophische Defizit der Moderne, das Absolute lediglich im Modus negativer Darstellung zu repräsentieren; vgl. J. MILBANK: The Word Made Strange: Theology, Language, Culture (1997), 10ff; ferner DERS.: The Sublime in Kierkegaard. Auf dieser Linie bewegen sich auch die Ausführungen von FR.-CH. BAUERSCHMIDT unter dem vielversprechenden Titel The Theological Sublime, die innerhalb der von John Milbank und anderen herausgegebenen Programmschrift Radical Orthodoxy. A New Theology (1999) publiziert sind. Der Essay konfrontiert einige recht allgemeine Lyotard-Referenzen mit der offenbarungstheologischen Ästhetik Hans Urs von Balthasars, um schließlich in Meditationen über die unbegreiflich-erhabene Liebe Gottes auszuklingen. Eine ernstzunehmende theologische Rezeption der philosophischen Ästhetik des Erhabenen sucht man hier vergeblich. Gewissermaßen als »radikal-liberale« Antwort auf die ›radikalorthodoxe‹ Verwertung der Erhabenheitstheorie kann die Arbeit von C. CROCKETT: A Theology of the Sublime (2001) gelesen werden. Auch sie ist nicht eigentlich ein Beitrag zur Klärung des Verhältnisses von Theologie und Ästhetik oder zur Erhellung der ästhetischen Dimension der Religion. Sie enthält vielmehr – als Gegenentwurf zu der erwähnten modernitätsfeindlichen Bewegung (vgl. 23ff) – die Skizze einer subjektivitätstheoretischen Grundlegung der Theologie. So versucht Crockett in der Zusammenschau von Kants ›Analytik des Erhabenen‹ mit dem Schematismuskapitel der ersten Kritik und in einer Relektüre der kantischen Konzeption im Lichte von Philosophemen Heideggers, Lyotards und Deleuzes das Sublime als basales Moment im Aufbau von Subjektivität zu etablieren. In Anknüpfung an Tillichs theologische Tiefenhermeneutik der Kultur dient dieser Ausweis »[of] an irreducible internal sublimity of the self« (100) der Begründung
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Aufgeschlossener gegenüber dem religiösen Potential des Erhabenen zeigen sich zwei Beiträge eines Sammelbandes über Die Gegenwart der Kunst, die anhand des fraglichen Begriffs das Verhältnis von ästhetischer und religiöser Erfahrung aufzuhellen versuchen.79 So profiliert der Philosoph Ernst Müller Das Erhabene als Grenzkategorie ästhetischer und religiöser Erfahrung, indem er, ausgehend von Lyotard, einerseits religiösen Momenten in Kants ›Analytik des Erhabenen‹ nachgeht, um dann andererseits in der Religionstheologie F. Schleiermachers sowie in der Religionsphilosophie J. F. Fries’ Analogien zu dem kantischen Konzept auszuweisen. In solcher Zusammenschau kann die Auffassung von Religion als »Sinn und Geschmack fürs Unendliche« (Schleiermacher) bzw. als »Ahndung des Ewigen im Endlichen« (Fries) nachgerade als religionstheoretische Interpretation der kantischen Ästhetik des Erhabenen gelesen werden: Was Kant der ästhetischen Erhabenheitserfahrung vorbehält – die Präsenz des Absoluten im Gefühl – wird von Schleiermacher und Fries dem religiösen Gefühl zugeschrieben. Angesichts solcher Konvergenzen und Divergenzen stellt sich die in Müllers Titel angesprochene Frage, ob es sich beim Erhabenen um Beraubung oder Erschleichung des Absoluten handelt, oder vielleicht doch um eine legitime Gestalt moderner Religion. Eine Antwort auf diese Frage bleibt Müller allerdings schuldig.80 Auch der Essay des evangelischen Theologen Jörg Herrmann Von der Verwandlung mystischer in ästhetische Erfahrung nimmt seinen Ausgang bei Lyotards Begriff des Sublimen, um daraufhin ästhetische Elemente in der Mystik des Dionysius Areopagita, des »Vaters« der negativen Theologie innerhalb des Christentums, ins Auge zu fassen. Er kann dabei wiederum einige analoge Strukturmomente bei den beiden fraglichen Erfahrungsformen aufzeigen, ohne damit allerdings über die Feststellung einer Affinität hinauszukommen.81 eines transzendentalphilosophisch aufgeklärten Verständnisses von Religion. Ob die dabei vorgenommene Umformung des Erhabenheitsbegriffs, bei der dieser seinen spezifisch ästhetischen Charakter einbüßt, als produktive Fortschreibung oder eher als inadäquate Verzeichnung zu bewerten ist, muss hier nicht entschieden werden. 78 Die Rezeption der negativen Theologie bei Lyotard und Derrida thematisiert S. WENDEL selbst einige Jahre später in dem Aufsatz: Postmoderne Theologie? Zum Verhältnis von christlicher Theologie und postmoderner Philosophie (1998); vgl. DIES.: Absenz des Absoluten. Die Relevanz des Bilderverbots bei Jean-François Lyotard (1997) und DIES.: Zeugnis für das Undarstellbare. Die Rezeption jüdischer Traditionen in der postmodernen Philosophie Jean-François Lyotards (2000). 79 J. HERRMANN/A. MERTIN/E. VALTINK (Hg.): Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute (1998). 80 E. MÜLLER: Beraubung oder Erschleichung des Absoluten? Das Erhabene als Grenzkategorie ästhetischer und religiöser Erfahrung. 81 J. HERRMANN: »Wir sind Bildhauern gleich«. Von der Verwandlung mystischer in ästhetische Erfahrung.
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Nämliches gilt schließlich auch für die jüngste Monographie zum Thema, die Arbeit des katholischen Theologen Christian Pöpperl, die mit Bezug auf Dionysius Areopagita, Kant und Lyotard Ästhetik des Erhabenen und negative Theologie in Beziehung setzt.82 Die Erörterungen begnügen sich im Wesentlichen mit der Repetition der Grundthese, dass das Motiv der Darstellung des Undarstellbaren sowohl in der Ästhetik des Erhabenen als auch in der negativen Theologie eine kardinale Rolle spiele.83 Weil es nicht gelingt, eine Metaebene zu finden, auf der die äußerst heterogenen Theorien sachlich aufeinander bezogen werden können, gelangt Pöpperl über eine Paraphrase der Texte nicht hinaus. Es bleibt bei der Feststellung einer bloßen Analogie zwischen Ästhetik des Erhabenen und negativer Theologie, bei der Notiz der gleichermaßen paradoxalen Grundstruktur: »Beide sprechen vom Unsagbaren.«84 Aus der Vagheit derartiger Verhältnisbestimmungen erklärt sich auch die Unsicherheit in der theologischen Bewertung der religiös imprägnierten Ästhetik des Erhabenen. Mag sie sich bei Lyotard und Adorno deutlich wie eine (post-)moderne Gestalt negativer Theologie ausnehmen, ist damit eine konstruktive Würdigung vonseiten der Theologie keineswegs präjudiziert. Die theologische Reserve gegenüber dem Erhabenen hat ihren sachlichen Grund darin, dass die Wahrnehmung einer Strukturanalogie offen lässt, ob eine innere Verwandtschaft zwischen den betreffenden Relaten besteht. Auf der Basis einer bloßen Affinität kann noch nicht beurteilt werden, ob im Übergang von der Theologie der Unbegreiflichkeit Gottes über die Analyse der Urteilsstruktur des Erhabenen zur negationslogischen Erhabenheitsästhetik eine Transformation in der Beschreibung identischer Gehalte stattfindet oder eine materiale Substitution. Lässt in der Theologie daher schon die nach dem Modell des Diskurswechsels vorgestellte Abwanderung religiöser Motive in die Sphäre spekulativer Ästhetik den Verdacht der »Säkularisierung« aufkommen, so wird der darin enthaltene Illegitimitätsvorwurf noch gesteigert, wenn mit dem Transformationsprozess zugleich der Anspruch verbunden wird, die gemeinte Sache angemessener und zeitgemäßer zur Geltung zu bringen. Angesichts der theologischerseits naheliegenden Befürchtung, es könnte sich beim Ästhetisch-Erhabenen um ein Surrogat von Religion handeln, ist es aufschlussreich, dass der Begriff schon Jahrzehnte vor seiner philosophischen Wiederentdeckung von einem Theologen in die Nähe des Religiösen gerückt worden ist, und zwar nicht in einem Stück theologischer Speziallite82 CH. PÖPPERL: Auf der Schwelle. Ästhetik des Erhabenen und negative Theologie: Pseudo-Dionysius Areopagita, Immanuel Kant und Jean-François Lyotard (2007). 83 Vgl. z.B. aaO. 33: »Das Undarstellbare als wichtiger Aspekt des Erhabenen ist auch ein zentrales theologisches Motiv.« 84 AaO. 354.
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ratur, sondern in dem wohl meistverbreiteten theologischen Buch des 20. Jahrhunderts in deutscher Sprache. So entwickelt Rudolf Otto in seinem Hauptwerk Das Heilige (1917) die Phänomenologie eines religiösen Grundgefühls, das in frappierender Weise dem Gefühl des Erhabenen ähnelt, wie es in klassischen Entwürfen des 18. Jahrhunderts gezeichnet worden ist.85 In der Tat: »Ottos Beschreibung des Numinosen liest sich über weite Passagen wie eine Phänomenologie des Erhabenen.«86 Das Erlebnis des Numinosen wird als ›Grauen‹ und ›Erschauern‹ gefasst, und es fällt in diesem Zusammenhang eine Wendung, die in der Erhabenheitstheorie immer wieder begegnet, die Formel vom ›heiligen Schauer‹87. Jenes Erlebnis ist nach Otto Erfahrung von Übermacht, Übergröße und Majestät und ineins damit das Innewerden der eigenen Nichtigkeit. Es beinhaltet die Empfindung von Feierlichkeit, außerdem ein Moment des Staunens angesichts eines UnfasslichGeheimnisvollen, aber auch der mitunter bis zum Enthusiasmus sich steigernden Beseligung durch das Wundervolle. Schließlich charakterisiert Otto die numinose Ergriffenheit als »Gemütserhebung« in die Sphäre des Überweltlichen – auch dies eines der wesentlichen Motive, die, wie sich zeigen wird, in der Geschichte des Erhabenheitsbegriffs durchweg präsent sind. Insbesondere erinnert die für das Heilige oder Numinose charakteristische Zweipoligkeit an das Erhabene. Denn innerhalb der Einheit der verschiedenen Momente, die dem religiösen »Urgefühl« nach der skizzierten Phänomenologie eignen, lässt sich nach Otto eine Grundspannung ausmachen zwischen Zurückschaudern und Angezogenwerden vom Numinosen. Diese »Konstrastharmonie« eines abdrängenden und eines anziehenden Momentes, die Otto auf die berühmte Formel vom mysterium fascinosum et tremendum gebracht hat, verleiht dem Heiligen unleugbar eine starke Ähnlichkeit mit dem Erhabenen, wie es etwa von Burke, Mendelssohn und Kant gefasst wurde. Denn auch das Gefühl des Sublimen, von Burke als Zugleich von terror (›Schrecken‹) und delight (›Frohsein‹) beschrieben, zeichnet sich 85
In der Literatur wird auf die Ähnlichkeit zwischen dem Heiligen und dem Erhabenen immer wieder hingewiesen. Vgl. z.B. S. WENDEL: Ästhetik des Erhabenen, 57; E. MÜLLER: aaO. 159; CH. PÖPPERL: aaO. 156ff. Bereits 1929 hat sich H. SCHMALENBACH: Kants Religion, auf jene Ähnlichkeit berufen, um seiner bemerkenswerten Darstellung die kantische Lehre vom Erhabenen zugrunde zu legen (vgl. 51f; 61ff). Vgl. dazu ferner K. MÜLLER: Erhabenheit und Herrlichkeit. Vom religionsphilosophischen Wurzelgrund einer ästhetischen Unterscheidung (2008). Der katholische Kantforscher will die religionsphilosophische Imprägnierung des Erhabenen erweisen, indem er mit Bezug auf Kant, Reinhold u.a. (sowie mit Berufung auf Schmalenbach) die »Verwurzelung der Erhabenheitsthematik im Pantheismusstreit« (381) wahrscheinlich zu machen sucht. Dass deren Wurzeln historisch um einiges tiefer reichen, wird die vorliegende Untersuchung deutlich machen. 86 E. MÜLLER: Beraubung, 159. 87 R. OTTO: Das Heilige, 16.
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demnach durch einen inneren Kontrast aus Lust und Unlust (Kant) aus und rangiert daher unter der psychologischen Kategorie der ›vermischten Empfindung‹ (Mendelssohn) – ein Merkmal, das in der Literatur oftmals als das Wesensmerkmal des Erhabenen schlechthin angesprochen wird. Es kann daher der Eindruck entstehen, als würde von Otto lediglich die ästhetische Kategorie des Erhabenen in einen religionstheoretischen Kontext verschoben und dabei mit einem neuen, eindeutig religiös denotierten Titel belegt, als würde sie gewissermaßen mit einem Taufnamen versehen. Man kann dies so auffassen, als habe das Erhabene aufgrund eigentümlicher Strukturanalogien einmal mehr einen Diskurswechsel vollzogen, zurück aus der Ästhetik in die Theologie. Man könnte aus dem Befund aber auch weitergehende Schlüsse ziehen, welche die eigentümliche Signatur des Begriffs betreffen. Wenn Otto lediglich Linien ausziehen musste, um vom Erhabenen zum Heiligen zu gelangen, dann könnte das auch bedeuten, dass jenes von sich aus nicht ohne weiteres einem Gebiet des Geistes zuzuordnen ist. Das Proprium des Erhabenheitsbegriffs wäre dann genau darin zu erblicken, dass er eine randscharfe Trennung zwischen dem Ästhetischen und dem Religiösen unterläuft. Womöglich wäre das Oszillieren zwischen Religion und Ästhetik gerade sein theoretisches Kapital, insofern sich daraus Perspektiven für das Verständnis des Verhältnisses von religiöser und ästhetischer Erfahrung gewinnen ließen. Im Übrigen wären dann auch rückblickend die religiös imprägnierten Konzeptionen des Erhabenen bei Adorno und Lyotard vom Verdacht willkürlicher Konstruktion befreit, insofern sie offensichtlich einen sachlichen Zusammenhang aufgreifen, der dem rezipierten Begriff selbst eingeprägt ist. Bemerkenswerterweise nimmt Otto in Das Heilige auch ausdrücklich Bezug auf das Erhabene. Auch seiner Wahrnehmung nach »sind die Analogien zwischen dem Numinosen und dem Erhabenen handgreiflich«88. Als derartige Analogie nennt Otto die beiden gemeinsame Kontraststruktur, außerdem die Eigenschaft, sich als »nur Fühlbares«89 jeder begrifflichen Definition letztlich zu entziehen. Die Bekundung, »daß zwischen dem Numinosen und dem Erhabenen eine verborgene Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit besteht«90, führt Otto gleichwohl nicht zu der Konsequenz, Letzterem selbst eine religiöse Dimension zuzusprechen. Vielmehr zieht er einen entschiedenen Trennungsstrich zwischen beiden Größen, indem er sie jeweils unterschiedlichen Geistessphären zuweist. Trotz aller Analogie könne das Erhabene »nur ein blasser Widerschein« des Heiligen sein, weil es
88
AaO. 56. Ebd. 90 AaO. 82. 89
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»aus einem nicht der Religion sondern der Ästhetik angehörigen Gebiete«91 stamme. Otto orientiert sich strikt am Denkmodell der Differenzierung des Geistigen in eigengesetzliche Segmente, wie es sich in der psychologischen bzw. subjektivitätstheoretischen Unterscheidung verschiedener Gemütsfunktionen manifestiert, für die exemplarisch Kants Differenzierung zwischen theoretischer, praktischer und urteilender Vernunft genannt werden kann. Im Sinne solcher Segmentierung, die ihr soziologisches Pendant in der Theorie der Ausdifferenzierung sozialer und kultureller Bereiche hat, zieht Otto auch in diejenige ›Provinz des Gemütes‹, die nach Kant den psychologischen Ort des Ästhetischen, nach Schleiermacher indes zugleich die Heimstatt der Religion darstellt, eine entsprechende Scheidewand ein: »Religiöse Gefühle sind nicht ästhetische. Das ›Erhabene‹ gehört aber nächst dem ›Schönen‹ noch in die Ästhetik, so sehr verschieden es auch vom Schönen ist.«92 Zwar scheint sich in dem Wörtchen ›noch‹ anzudeuten, dass das Erhabene nicht zuletzt kraft seiner religiösen Konnotationen über die Grenzen des bloß Ästhetischen hinausstrebt, dass es sich einer Einhegung innerhalb einer »doppelten Ästhetik der Moderne«93 widersetzt. Es obsiegt bei Otto jedoch die hergebrachte Einteilung des Geistes in autonome Sphären, und es bleibt bei der eindeutigen Bestimmung des Erhabenen als ästhetischer Kategorie.94 Die »innige Verbindung«95 zwischen dem Heiligen und dem Erhabenen erklärt Otto, unter strikter Wahrung des Ausdifferenzierungsparadigmas, nach dem Modell der Gefühlsassoziation.96 Demnach gehen das Heilige und das Erhabene im Laufe der Religionsgeschichte unbeschadet ihrer Zugehörigkeit zu je verschiedenen Geistesgebieten eine psychologische »Dauerverbindung«97 ein. »So legt das Gefühl des Erhabenen sich durch Ähnlichkeit dem des Numinosen eng an und ist geeignet, es ›anzuregen‹ wie auch von
91
AaO. 56. Ebd. 93 Vgl. C. ZELLE: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. 94 Otto revidiert damit die dezidiert religionsphilosophische Deutung des (kantischen) Erhabenen durch J. F. Fries, die ihm gleichwohl das religionsphänomenologische Potential der Ästhetik des Erhabenen vor Augen geführt haben dürfte. Vgl. R. OTTO: Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie, wo es über Kants ›Analytik des Erhabenen‹ heißt, sie enthalte »viel echtere Keime einer Religionslehre […], als jene Gewalt- und Kunstprodukte, die die Postulatenlehre hervorgebracht hatte« (122). 95 R. OTTO: Das Heilige, 61. 96 Vgl. aaO. 57. 97 AaO. 61. 92
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ihm angeregt zu werden, in es ›überzugehen‹ wie auch es in sich übergehen und ausklingen zu lassen.«98 In der besagten Verkopplung der beiden Gefühle ist es auch begründet, dass das Erhabene – nun nicht mehr als Gefühl, sondern als Inbegriff grandioser Gestalt verstanden – laut Otto als »Ausdrucksmittel«99 des Heiligen fungieren kann. So bringen etwa in der sprachlichen Darstellung der Gottesvision von Jes 6 »der hohe Thron, die königliche Gestalt, die wallenden Säume des Gewandes, der feierliche Hofstaat der umgebenden Engelschaft«100 die an sich unanschauliche Majestät der heiligen Gottheit dem Gemüt zur Anschauung und regen in ihm vermittels des Gefühls des Erhabenen schließlich auch das Gefühl des Heiligen an. Gleiches kann auch in der Kunst stattfinden: zuallererst in der Baukunst, wo der gewaltige Eindruck eines gotischen Doms, einer Pyramide oder der Sphinx von Gizeh »das Gefühl des Erhabenen und, dadurch begleitet, des Numinosen fast wie einen mechanischen Reflex aus der Seele aufzucken läßt«101. Ansonsten denkt Otto hier vor allem an die Musik, und entsprechend analysiert er Bachs H-MollMesse und Beethovens Missa solemnis auf ihren erhabenen Ausdruck und den korrespondierenden »Andachts-eindruck«102 hin. Wenngleich Otto in Das Heilige eine nach wie vor unübertroffene Phänomenologie des religiösen Gefühls vorgelegt hat, scheint doch die säuberliche Trennung zwischen dem Erhabenen und dem Heiligen weniger der phänomenologischen Sensibilität denn dem vorausgesetzten Denkschema geschuldet zu sein. Klammert man das fragliche Segmentenmodell ein und lässt die Beobachtung der Innigkeit von Erhabenem und Heiligem für sich sprechen, dann kann Ottos Schrift als gewichtiges Zeugnis für das Changieren des Erhabenheitsbegriffs zwischen Ästhetik und Religion gelesen werden. Damit ist wohlgemerkt nicht eine Bestreitung der Ausdifferenzierungsthese und mithin eine Leugnung der Autonomie der Kunst intendiert. »Jede Untersuchung zur religiösen Dimension der Kunst sollte sich vorbehaltlos auf die von der Neuzeit geschaffene Lage einlassen, und dies ist nun einmal die Situation einer weithin autonom gewordenen Kunst.«103 Entsprechendes gilt für die modernitätstheoretische Generalannahme einer Verselbstständigung ehemals ineinander liegender Bereiche der Kultur, der Gesellschaft und des Geistes. »Gleichwohl wird man das Bild von der neuzeitlichen Auto-
98
AaO. 57. AaO. 82. 100 Ebd. 101 AaO. 85. 102 AaO. 90. 103 U. BARTH: Religion und ästhetische Erfahrung, 240. 99
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nomie der Kunst auch nicht überzeichnen dürfen.«104 Denn die heraufziehende Moderne bietet auch mannigfache Zeugnisse »vom Aufkommen neuartiger, tiefgreifender Interdependenzen zwischen den beiden infrage stehenden Bereichen«105, zwischen dem Religiösen und dem Ästhetischen. Mit der Konjunktur dessen, was seit Schleiermacher als ›Kunstreligion‹ firmiert, kommt es offenbar zu einer neuerlichen Verschränkung der genannten Sphären. Von daher trifft der enge Konnex von religiöser und ästhetischer Erfahrung, wie ihn Otto mit der Assoziation von Heiligkeits- und Erhabenheitsgefühl bzw. mit der Einstufung des Erhabenen als Darstellungsmittel des Heiligen zum Ausdruck gebracht hat, anscheinend einen fundamentalen Wesenszug moderner Religion. Insofern hat auch Ottos Religionsphänomenologie eine unausgesprochene modernitätstheoretische Pointe. Nun hat Otto, indem er eine wesenhafte Differenz von Heiligem und Erhabenem festgehalten hat, einen klar bestimmbaren »Kern« religiöser Erfahrung behauptet, dem das Ästhetische in Gestalt des Erhabenen äußerlich zugeordnet ist. Ließe sich umgekehrt zeigen, dass die Erhabenheitskategorie bereits selbst religiöse Züge trägt, würde sich die einfache Gegenüberstellung erheblich modifizieren. Das Erhabene stünde für die Sphäre der Interferenz von Religiösem und Ästhetischem – ohne dabei eine Identität von beidem zu insinuieren. Es beschriebe eine Erfahrung, die gewissermaßen in sich selbst zwischen religiösem und ästhetischem Erlebnis oszilliert. Das modernitätstheoretische Potential des Begriffs könnte also gerade darin liegen, mit seiner immanenten Ambiguität gewisse Erlebnisse oder Stimmungslagen in den Blick zu nehmen, die sich selbst einer alternativen Bestimmung als religiöse oder ästhetische Erfahrung entziehen. Das Erhabene bezeichnete »kunstreligiöse« Phänomene, die sich selbst nicht mehr mit ausschließender Bestimmtheit als religiös verstehen können, die aber gleichwohl nicht einfach als Säkularisate respektive Surrogate der Religion einzustufen sind. Das historische Ziel der vorliegenden Arbeit ist der Nachweis, dass der neuzeitliche Aufstieg des Erhabenheitsbegriffs tatsächlich in engem Zusammenhang mit der Entstehung der Kunstreligion steht, die sich früh in der populären Wendung von der ›heiligen Poesie‹ ankündigt. Mehr noch: es gilt zu zeigen, dass der Begriff gewissermaßen als kategoriales Korrelat selbiger Entwicklung verstanden werden kann. Um dieses Zusammenhangs ansichtig zu werden, muss man freilich in die Anfangszeit der neuzeitlichen Rezeption des Erhabenen zurückgehen. Denn in jener Anfangszeit, vom Ende des 17. bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts, sind am Erhabenen noch eine Fülle von Bezügen sichtbar, die später nur mehr unterschwellig mitge104 105
AaO. 239. Ebd.
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führt werden. Erst der Blick auf die Anfänge der Erhabenheitsrenaissance macht offenbar, dass eine rein ästhetische Auffassung des Erhabenen eine gravierende Verkürzung darstellt. In den frühmodernen Diskurs über das Erhabene einzutreten heißt indessen zugleich, die Wirkungsgeschichte eines antiken Traktats nachzuzeichnen. Denn wer den Anfängen der neuzeitlichen Konjunktur des Begriffs nachgeht, begegnet einer »ganz besonderen Schrift« (C. Colpe)106: der anonymen, einst dem griechischen Gelehrten Longin zugeschriebenen Abhandlung Peri Hypsous, die vermutlich aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert stammt. Die Renaissance des Erhabenen zwischen 1670 und 1750 ist »Longin«-Renaissance. Ob bei Boileau, Bouhours oder Silvain in Frankreich, bei Dennis, Addison oder Lowth in England, bei Bodmer und Breitinger in der Schweiz oder bei Baumgarten, Meier, Pyra und Klopstock in Deutschland – immer ist ›Longin‹ die Autorität für die Erhabenheitstheorie, und seine Wirkung reicht mindestens bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. »We shall never entirely escape its influence as we progress through the century, for certain ideas implicit in it become fundamental in eighteenth-century theories and criticism, and the tendency of the writer of the period to seek support from the ancients will keep the name of Longinus alive until well after 1800.«107 Die frühmoderne Erhabenheitstheorie besteht, so kann in Anlehnung an das berühmte Diktum Alfred N. Whiteheads zu Platon gesagt werden, aus einer Reihe von Anmerkungen zu ›Longin‹.108 Eine Darstellung der Erhabenheitsrenaissance im Ausgang des 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts muss daher die antike Quelle näher in Augenschein nehmen, aus der sich die neuzeitliche Idee des Erhabenen speist. Dies gilt in besonderer Weise für eine religionstheoretisch interessierte Untersuchung. Nur anhand der Analyse von Peri Hypsous lässt sich feststellen, ob die frühe Rezeption mit ihrem religiösen Einschlag dem Traktat gerecht wird oder ob sie ihn willkürlich verzeichnet. Nur indem man sich die ganze Breite von ›Longins‹ Konzept vor Augen führt, bereitet man den Boden für die Beantwortung der Frage, inwieweit die Ausarbeitung der religiösen Dimension des Erhabenen tatsächlich der Grundanlage jener Kategorie korrespondiert. Die geläufige Sekundärliteratur begnügt sich hingegen meist mehr oder weniger mit der bloßen Nennung109 oder mit einem
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C. COLPE: Über das Heilige. Versuch, seiner Verkennung kritisch vorzubeugen, 50. S. H. MONK, The Sublime. A Study of critical Theories in XVIII-Century England (1935), 10. 108 Vgl. D. B. MORRIS: The Religious Sublime. Christian Poetry and Critical Tradition in 18th-Century England, 15: »Longinus […] fathered virtually all modern discussions of sublimity«. 109 So etwa J.-F. LYOTARD: Das Erhabene und die Avantgarde, 111f. 107
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summarischen Überblick über die Abhandlung.110 Die Rückschau in die Antike trägt dann dementsprechend wenig aus. Sie bleibt jedenfalls zu oberflächlich, um ein Urteil in der aufgeworfenen Frage begründen zu können. Mit der Interpretation ›Longins‹ führt die »archäologische« Erforschung des Erhabenheitsbegriffs erst einmal in fernes Terrain, in die Welt der antiken Rhetorik. Die Abständigkeit dieser Welt tritt vollends hervor, sobald man gewahr wird, wie wenig gerade Peri Hypsous mit dem gemein hat, was von der klassischen (lateinischen) Rhetorik in Gestalt der Dreistillehre in der gegenwärtigen Bildung noch präsent ist. Die Lektüre entfremdet denn auch von gewissen Grundannahmen des wissenschaftlichen Diskurses über das Erhabene. Dies betrifft vor allem das bereits angesprochene Autonomieparadigma. Der Leser von Peri Hypsous wird bei näherem Hinsehen feststellen, dass das hier verhandelte Ideal nicht einen »rein ästhetischen« Sachverhalt beschreibt. Zwar ist der Traktat bereits als poetologische Schrift anzusprechen, insofern er sich nicht mehr auf eine öffentliche Redepraxis bezieht, sondern (neben den inzwischen zum Literaturkanon gehörigen Reden von Demosthenes oder Cicero) in erster Linie auf die klassische Dichtung, also auf die Werke Homers, Euripides’ und anderer. Gleichwohl geht es dem antiken Theoretiker nicht allein um den Ausweis einer Gestalt der Rede, die lediglich auf eine bestimmte Form von Lustgewinn zielte und insofern frei wäre von allen nicht-ästhetischen Absichten. Die Dinge liegen wesentlich komplizierter. So fällt rasch ins Auge, dass Schlüsselbegriffe des Traktats aus der antiken Ethiktradition stammen. Darin deutet sich bereits an, dass ›Longins‹ Erhabenheitstheorie in ein bestimmtes tugendethisches Konzept eingebunden ist, und von daher erklärt sich auch, dass der Traktat mit einer Klage über den allgemeinen Niedergang der Tugend schließt, dem er selbst mit dem Werben für das Erhabene entgegenzuwirken trachtet. Indessen lässt sich Peri Hypsous auch nicht auf ein Programm dichterischer Tugendförderung reduzieren. Es bliebe dabei ein konstitutives Ele110
Vgl. z.B. die beiden Standardwerke von C. ZELLE: »Angenehmes Grauen«. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert; DERS.: Die doppelte Ästhetik. Vergleichsweise ausführlich haben S. A. MONK (aaO. 10ff) und sein Schüler D. B. MORRIS (aaO. 28ff) Peri Hypsous und dessen neuzeitliche Rezeption behandelt, ebenso wie TH. WEISKEL: The Romantic Sublime: Studies in the Structure and Psychology of Transcendence, 3ff. Der Titel des Buches ist insofern irreführend, als die psychoanalytisch fundierten Reflexionen nicht religionsphilosophisch, sondern eher religionskritisch ausgerichtet sind. In jüngster Zeit hat K. AXELSSON: The Sublime. Precursors and British Eighteenth-Century Conceptions, ›Longin‹ eine breite Darstellung gewidmet. Sie konvergiert mit der vorliegenden Arbeit darin, dass sie »[t]he moral feature of the Longinian sublime« (102) hervorhebt, wobei die Rekonstruktion der fraglichen Züge von Peri Hypsous einigermaßen unscharf bleibt. Interessant an Axelssons Ausführungen sind vor allem die Seitenblicke auf die ›Longin‹-Rezeption des englischen 18. Jahrhunderts.
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ment der Schrift unberücksichtigt, das den Religionswissenschaftler Carsten Colpe dazu veranlasst hat, eine innere Nähe zwischen dem ›Longin‹’schen Erhabenen und dem Otto’schen Heiligen zu konstatieren.111 Erst eine Interpretation, die den metaphysischen Grundton des Traktats zum Klingen bringt, der neben oder vielmehr innerhalb des tugendethischen Konzepts des Erhabenen auszumachen ist und der mindestens noch die frühmodernen Ausleger in Bann gezogen hat, wird dem eigentümlichen Gepräge von Peri Hypsous gerecht. Mit diesem metaphysisch-religiösen Aspekt hat es schließlich auch zu tun, dass die Schrift ›Vom Erhabenen‹ – als einziger Text der heidnisch-antiken Rhetorik- bzw. Poetiktradition – ein Bibelzitat enthält. So bezieht sich ›Longin‹ zur Erläuterung seines literarischen Ideals auf die Schöpfungserzählung in Gen 1. Neben analogen Stellen bei Homer erblickt der heidnische Autor in der mosaischen Gottesdarstellung ein herausragendes Beispiel des Erhabenen. Dieser Umstand hat, wie im Laufe dieser Arbeit dargelegt werden wird, nicht nur überhaupt zum neuzeitlichen Interesse an Peri Hypsous wesentlich beigetragen. Er hat zudem eine ausdrückliche (christlich-) theologische Aneignung von dessen Leitbegriff angebahnt. Dank des Genesiszitats lag es nahe, sich das Erhabene als bibelhermeneutische Kategorie zu eigen zu machen, und diese Adaption wiederum zeichnete dem poetologischen und ästhetischen Begriffsgebrauch den Weg vor. Somit antizipiert die antike Abhandlung Wesentliches von dem, was auch die (früh-)moderne Ästhetik des Erhabenen kennzeichnen wird. Vor allem findet sich hier bereits jene Ambivalenz des Begriffs, die ihm seine Bedeutung für eine Theorie der modernen Religion verleiht. Bei ›Longin‹ wird der Grund dafür gelegt, dass das Erhabene wie keine andere Kategorie geeignet ist, die religiöse Dimension des Ästhetischen bzw. die ästhetische Dimension der Religion in der Moderne zu beschreiben. Dieses Potential auszuweisen und näher zu entfalten ist die systematische Absicht dieser rezeptionsgeschichtlichen Untersuchung. Dazu wird im ersten Teil anhand zentraler Bestimmungen und Begriffe die Leitidee von Peri Hypsous zu rekonstruieren sein, um daraufhin im zweiten Teil der 111 C. COLPE: Über das Heilige, 51: »Überträgt man das, was Pseudo-Longinos für die Rhetorik ausführt, in Ausdrucksformen für das Kreaturgefühl, so steht [man] ziemlich genau bei dem, was Otto über die Maiestas oder das Erhabene oder das Augustum als Momente des Numinosen sagt.« Das metaphysische Element von Peri Hypsous ist auch einer der Ausgangspunkte für das Buch von J. VILLWOCK: Die Sprache – ein »Gespräch der Seele mit Gott«. Zur Geschichte der abendländischen Gebets- und Offenbarungsrhetorik (1996). In freiem philosophischem, oftmals stark assoziativem Reflexionsduktus untersucht Villwock an Texten des heidnischen wie des christlichen Abendlandes von Homer bis Schlegel die religiösen Bezüge des Rhetorischen. Dabei liegt die Annahme einer Konvergenz von Religion und Sprache in der Rhetorik des Erhabenen zugrunde, wofür insbesondere der ›longinische‹ Traktat in Anspruch genommen wird.
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Frage nachzugehen, welche Motive bei deren Renaissance in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wirksam waren und welche Signatur das Erhabene in dieser Entwicklung gewonnen hat. Nach einem Überblick über die westeuropäische ›Longin‹-Konjunktur – samt kritischer Auseinandersetzung mit dem herkömmlichen Bild des Erhabenen in der Ästhetikgeschichtsschreibung – folgt eine Darstellung der Hallischen Ästhetik der dreißiger und vierziger Jahre, um die Grundlinien und nicht zuletzt die religiösen Motive der avanciertesten Gestalt des ästhetischen Denkens der Epoche zu vergegenwärtigen. Sodann werden drei exemplarische Stationen der Rezeption von Peri Hypsous erörtert, an denen sich zeigen lässt, wie sich die antike Idee des Erhabenen im christlich-neuzeitlichen Kontext und im ästhetischen Koordinatensystem der Zeit für religionstheoretische und religionspraktische Fragestellungen fruchtbar machen ließ. Vor dem Hintergrund der Debatten in der Frühaufklärung wird schließlich in Form eines Ausblicks noch deutlich zu machen sein, dass die religiösen Komponenten des Erhabenheitsbegriffes auch in der weiteren Theoriegeschichte präsent geblieben sind. Auf der Basis dieser Erörterungen soll als systematischer Ertrag skizziert werden, inwiefern sich die Ästhetik des Erhabenen als maßgeblicher Bestandteil einer modernen Religionsphilosophie und -theologie begreifen lässt.
TEIL I
Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
1. Die Schrift ›Peri Hypsous‹ »Glücklicherweise haben wir die Schrift Peri? uÄyouw.«1 Auch wer dem Schiedsspruch von Ernst Robert Curtius nicht folgen mag, der Autor selbiger Schrift habe als der überragende Dichtungstheoretiker der Antike zu gelten, wird doch jenen Satz bei der Lektüre nachsprechen können. Denn: »Man atmet Lebensluft über zwei Jahrtausende hinweg, nicht den Moder der Schulen und Bibliotheken. Das Auftauchen dieses unbekannten Griechen im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung hat etwas vom Wunder an sich.«2 Wunderlich ist freilich nicht nur die Entstehung, sondern auch die Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte der Abhandlung.3 Das Fehlen antiker Zitate aus Peri? /Uyouw (Perí Hýpsous) erweckt den Eindruck, als sei der Traktat im Altertum weithin unbekannt geblieben. 1554 besorgte dann der Humanist Francesco Robortello (1516–1567) auf der Basis der ältesten Handschrift aus dem 10. Jahrhundert den ersten Druck. Gleichwohl hat die Schrift immer noch lange wenig Beachtung gefunden. Sie war ein »Funke, der nicht gezündet hat«4. Als Urheber der nur fragmentarisch erhaltenen Abhandlung gilt heute im Allgemeinen ein Anonymus des 1. Jahrhunderts n. Chr.5 Die mehrdeutigen Angaben des einschlägigen Manuskripts sowie sachliche und stilistische Beobachtungen haben die ältere Tradition fragwürdig werden lassen, welche Cassius Longinus, einen Universalgelehrten des 3. Jahrhunderts n. Chr., als Verfasser ansah.6 Ohne damit eine anderslautende Entscheidung dokumen-
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E. R. CURTIUS: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 402. Ebd. 3 Vgl. zum Folgenden vor allem D. A. RUSSELL: aaO. IX–L, und M. FUHRMANN: Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles – Horaz – ›Longin‹. Eine Einführung, 162– 202. 4 E. R. CURTIUS: aaO. 403. 5 Vom ursprünglichen Text ist ungefähr ein Drittel verloren. Neben kleineren Textverderbnissen sind sechs größere Lücken zu beklagen; vgl. dazu D. A. RUSSELL (Hg.): ›Longinus‹. On the Sublime. With Introduction and Commentary, XLIXf. 6 Es sind auch für die traditionelle Zuschreibung wieder gute Gründe vorgebracht worden, so dass der vormalige common sense der neueren Forschung in der Zeit- und Verfasserfrage nicht mehr ganz so einhellig erscheint. Zusammenfassende Darstellungen der Problematik finden sich z.B. bei D. A. RUSSELL: aaO. XXIIff, M. FUHRMANN: aaO. 2
1. Die Schrift ›Peri Hypsous‹
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tieren zu wollen, soll der Autor statt »Pseudo-Longin« im Folgenden dennoch schlicht »Longin« heißen. Longins Traktat handelt »von der Höhe«, so die wörtliche Wiedergabe von peri hypsous. Das Substantiv uÄyow (hýpsos, mit dem Adjektiv hypsêlós) bezeichnet zunächst die räumliche Erhebung7, dann auch, im Blick auf abstrakte Größen, das extreme Ausmaß8 oder den hohen Rang9. Der metaphorische Gebrauch kann aber auch Personen betreffen, insofern sie sich charakterlich oder statusmäßig über das gewöhnliche Niveau erheben. »[A]pplied to moral character and social status […] uÄyow […] suggests godlike or kinglike qualities«10. Dabei hat der Begriff häufig einen Beiklang von Stolz und Hochmut.11 Dies gilt auch da, wo er die sich vom Normalniveau abhebende Rede charakterisiert, etwa wenn in der Odyssee Antinoos Telemach ironisch mit dem Epitheton ›Hochredner‹ (uÖyagoßrhw) versieht.12 »This is not a criticism of style but of the royal pride and spirit which the boy’s words disclose.«13 Wo hypsos bereits primär als Stilbegriff fungiert, scheint diese charakterliche und soziale Färbung immer noch durch, wie sich auch im Verlauf der Interpretation von Peri Hypsous zeigen wird. Auf welchem Wege sich der Hypsosbegriff am Ende zur einschlägigen Kategorie zur Bezeichnung einer spezifischen rhetorischen »Höhe« entwickelt hat, liegt weitgehend im Dunkeln. Erstmals ist die stilkritische Verwendung bei Dionysius von Halikarnass14 belegt. Allerdings findet sich hypsêlos hier »generally with some other adjective to help to define it«15, also noch nicht als selbstständiger terminus technicus.16 Als solchen scheint hypsos vor Longin nur Caecilius von Kaleakte, ein Zeitgenosse des Dionysius, gebraucht zu haben – vorausgesetzt, der in Peri Hypsous wiederholt erwähnte ›Caecilius‹ ist mit jenem identisch, wovon die Forschung allge162ff und R. HÄUSSLER: Zur Datierung der Schrift vom Erhabenen. Für Cassius Longinus als Autor votiert u.a. M. HEATH: Longinus. On Sublimity. 7 Z.B. die Höhe eines Turmes: Hom. Il. 3,384. 8 Z.B. der Unwissenheit eines Menschen: Plat. epist. 351d. 9 Z.B. der Redekunst, einer »gewissermaßen göttlichen und hohen Kunst«: Euthyd. 289e. 10 D. A. RUSSELL: aaO. XXXI. 11 Z.B. rep. 494d. 12 Hom. Od. 1,385 und öfter. 13 D. A. RUSSELL: aaO. XXX. 14 Der Rhetoriker lehrte von 30 bis 8 v. Chr. in Rom. 15 D. A. RUSSELL: aaO. XXXI. 16 Ähnlich ist der Befund beim jüdischen Theologen und Philosophen Philon von Alexandrien (geb. um 15 v. Chr.), der die kata? th?n fraßsin uÖyhgorißa (›dem Ausdruck nach hohe Redeweise‹) von Gen 4,10 als die stilistische Höhe ansieht, die einem »Propheten als Künder göttlicher Offenbarung« angemessen ist. Vgl. J. H. KÜHN: UYOS. Eine Untersuchung zur Entwicklungsgeschichte des Aufschwunggedankens von Platon bis Poseidonios, 54.
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Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
mein ausgeht.17 Jedenfalls dürfte es vor Peri Hypsous eine Schrift gegeben haben, die das ›Erhabene‹, um die gängige deutsche Wiedergabe des Begriffes zu wählen, bereits eigens als rhetorische Kategorie behandelt hat. Diese Schrift ist leider verloren.18 Der Traktat Peri Hypsous soll laut Longin als Lehrbuch der Rhetorik dienen. Wer nun aber konkrete Anweisungen zur Schulung des Redners erwartet, wird sich im Verlauf der Lektüre getäuscht sehen, findet er doch statt praktisch-rhetorischer vor allem literaturtheoretische Ausführungen. In immer neuen Anläufen wird an Beispielen aus Dichtung und Prosa gezeigt, wie das infrage stehende hypsos in der Literatur realisiert worden sei. Dabei zielt der Autor darauf ab, das Erhabene als Leitprinzip von Literaturkritik zu etablieren. Zwar bewegt sich Longin bei seinen Reflexionen terminologisch ganz in den Bahnen traditioneller Rhetorik und behält grundsätzlich das Paradigma der Rede bei – etwa wenn er vom »Hörer« als dem Rezipienten von »Reden« bzw. »Worten« (loßgoi, lógoi) spricht.19 Dennoch ist Peri Hypsous dem Gesamtzuschnitt nach nicht als Lehrbuch für die rhetorische Praxis konzipiert.20 Vielmehr ist der Traktat ein »bedeutsames Dokument der antiken Dichtungstheorie«21 in rhetorischem Gewand. Der Aufbau von Peri Hypsous ist scheinbar übersichtlich: Einem einleitenden Teil (Kap. 1–8) folgt der Hauptteil (Kap. 9–43) und das Schlusskapitel (44). Am Ende der Einleitung (Kap. 8) wird außerdem eine klare Gliederung für den Hauptteil aufgestellt. Dieser hat die fünf »Quellen« erhabe-
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Vgl. D. A. RUSSELL: aaO. 58. Den Versuch einer Rekonstruktion des caecilianischen Erhabenheitsbegriffs bietet – unter Voraussetzung der Autorschaft des Caecilius von Kaleakte – D. C. INNES: Longinus and Caecilius: Models of the Sublime. 19 Vgl. z.B. 1,6. Ziffern ohne weitere Angaben beziehen sich innerhalb von Teil I dieser Arbeit stets auf Peri Hypsous. 20 Das Schlusskapitel (De subl. 44) über die Dekadenz des Zeitalters wirft ohnehin die Frage auf, für welche rhetorische Praxis der Traktat als Lehrbuch hätte dienen sollen, zeugt es doch vom Ende der Demokratie und damit vom Niedergang der politischen Rhetorik und der Rhetorik überhaupt. Das »Ende der republikanischen Beredsamkeit nimmt die pseudo-longinische Schrift zum Anlass für eine Neubestimmung des Rhetorischen. So verlagert sie den Fokus des rhetorischen Geschehens von der Öffentlichkeit des politischen Forums in die private Lektüre großer Schriftsteller« (P. L. OESTERREICH: Das Hervorbrechen des Erhabenen. Pseudo-Longins pathozentrische Anthropologie, 101). 21 M. FUHRMANN: Die Dichtungstheorie, 162. Peri Hypsous setzt die »klassizistische Wende der augusteischen Zeit« voraus, die maßgeblich von Dionysius von Halikarnass vollzogen wurde. Diese hat »nicht nur ein neues Stilideal auf den Schild erhoben; sie hat überdies die Rhetorik selbst verändert […]: Was sich nach wie vor so nannte, war seither weithin aneignendes Studium und philologische Durchdringung der gesamten klassischen Literatur« (195). 18
1. Die Schrift ›Peri Hypsous‹
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ner Rede darzustellen: 1. »das Entwerfen großer Gedanken«22, 2. »das heftige, begeisterte Pathos«23, 3. »die besondere Bildung der Figuren«24, 4. »die eindrucksvolle Ausdrucksweise«25 und 5. »die würdevolle und gehobene Satzfügung«26. Es zeigt sich jedoch, dass Longin im Gang der Argumentation mehrfach von diesem Dispositionsschema abweicht.27 Besonders gravierend ist, dass die zweite Quelle, das pathos, an keiner Stelle gesondert behandelt wird.28 Bei näherem Hinsehen überrascht diese Inkonsequenz kaum. An dem Gliederungsschema selbst lassen sich nämlich bereits die sachlichen Gründe dafür ausmachen, dass die Argumentation weit weniger geradlinig verläuft als vorgegeben, erweist sich doch die Reihe der fünf Quellen als Nebeneinander ganz ungleichartiger Größen. Dem traditionellen Set stilistischer Instrumente, das der Autor für das hypsos fruchtbar zu machen sucht (Quellen 3 bis 5: Figuren, Ausdruck, Satzfügung), stehen auf der anderen Seite zwei Elemente gegenüber, von denen gar nicht ohne weiteres zu sagen ist, auf welcher Ebene ihr Beitrag zum Erhabenen liegen soll. Scheint die erste Quelle zunächst den Inhalt erhabener Rede näher zu bestimmen (›große Gedanken‹), stellt sich bald heraus, dass mit diesem inhaltlichen Aspekt ein psychisch-charakterlicher (und in diesem Sinne »ethischer«) Aspekt aufs engste zusammenhängt: Es geht nicht nur um »große Gedanken«, sondern zugleich um die Fähigkeit, solche zu fassen. Deren Bedingung wiederum ist eine spezifische »Seelengröße«. Bei Quelle 2 (pathos) ist das Oszillieren zwischen verschiedenen Perspektiven nicht weniger verwirrend. Denn Longins 22 8,1: peri? ta?w nohßseiw aÖdrephßbolon. D. A. RUSSELL schlägt grasp of great thoughts vor (aaO. 86), was allerdings im Deutschen wiederum schwer wiederzugeben ist. Die griechische Wendung mit dem seltenen aÖdrephßbolon bedeutet jedenfalls so etwas wie die ›Fähigkeit, große Gedanken zu fassen‹. – Der griechische Text wird nach der kritischen Ausgabe von R. BRANDT zitiert. Um eine möglichst große Nähe zum griechischen Original und eine Konvergenz zwischen deutscher Übertragung und Auslegung zu gewährleisten, stammen die Übersetzungen, wenn nicht anders ausgewiesen, vom Verfasser dieser Arbeit. Sie lehnen sich generell an die vorhandenen neueren Übersetzungen von R. V. SCHELIHA (1938; R.S.), R. BRANDT (1966; R.B.) und O. SCHÖNBERGER (1988; O. S.) an. Die relativ freie Übertragung Schelihas neigt sprachlich zum Altertümlichen und kann damit wohltuende Verfremdungseffekte erzielen. Brandts stilistisch gewandte Übersetzung streift manchmal die freie Erläuterung und tendiert dabei im Gegensatz zu Scheliha zum sprachlichen Modernismus. Schönberger, der sich häufig an der Übersetzung von H. F. MÜLLER (1911) orientiert, hält sich am nächsten an den griechischen Text. Seine Übertragung büßt dabei gegenüber der Brandt’schen etwas an Eleganz ein, bleibt aber gut lesbar. 23 Ebd.: sfodro?n kai? eönjousiastiko?n paßjow. 24 Ebd.: poia? tvqn sxhmaßtvn plaßsiw. 25 Ebd.: gennaißa fraßsiw. Vgl. zur Übersetzung S. L. RADT: Zu PERI UYOUS, 370. 26 Ebd.: eön aöcivßmati kai? diaßrsei sußnjesiw. 27 Ein Überblick über die Abweichungen bei D. A. RUSSELL: Longinus Revisited, 73. 28 Siehe hierzu Kap. 2.3.1.
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Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
Pathosbegriff umfasst sowohl stilistische, inhaltliche, wirkungs- als auch produktionsästhetische und schließlich »ethische« Momente.29 So deutet sich schon am Gliederungsschema die charakteristische Mehrplanigkeit der Gedankenführung von Peri Hypsous an, die den Aufbau der Schrift am Ende äußerst unübersichtlich macht – und ihren Inhalt äußerst komplex. Weil die longinischen Reflexionen durchgängig zwischen verschiedenen Dimensionen des hypsos changieren und die einen vermittels der anderen zu explizieren suchen, können die Gliederungselemente – auch die deutliche Zäsur zwischen nicht-stilistischem und stilistischem Teil innerhalb des Hauptteils (zwischen Kap. 15 und 16) – keine sachliche Bedeutung haben. Sie dienen im Grunde nur dem äußerlichen Stoffarrangement, innerhalb dessen Longin in immer neuen Annäherungen und in dauerndem Perspektivwechsel zu beschreiben sucht, was ihm als das Erhabene vor Augen steht.30 Diesen schwer fasslichen Gegenstand von Peri Hypsous in der Interpretation des Textes zu rekonstruieren, ist das Ziel der folgenden Ausführungen. Es wäre wenig sachgemäß, sich dabei an das Schema der fünf Quellen zu halten. Stattdessen sollen zunächst die grundlegenden Bestimmungen des hypsos erhoben werden, die Longin im Eingangsteil des Traktats gibt (2.1 und 2.2). Dann wird sich die Untersuchung den beiden Begriffen zuwenden, die Longins Verständnis des Erhabenen wesentlich prägen: Pathos (3.1) und Hochsinnigkeit (3.2). Neben dem schon genannten Gliederungskapitel (De subl. 8), in dem das pathos eingeführt wird, sind hierbei vor allem die einschlägigen Passagen aus dem ersten Teil des Hauptteils (De subl. 9–15) zu interpretieren. Stellen aus dem stilistischen Teil (De subl. 16– 43) werden immer wieder hinzugenommen. Die sprachlich-stilistischen Momente des Erhabenen werden insbesondere im Rahmen der Ausführungen über das pathos (3.1) verhandelt. Ferner ist auf eine Binnendifferenzierung 29 Quelle 1, das »Entwerfen großer Gedanken«, entspricht im Gegenüber zu den stilistischen Quellen 3 bis 5 zunächst noch halbwegs der traditionellen Zweiteilung der Rhetorik nach Inhalts- und Formaspekt (vgl. D. A. RUSSELL: Longinus, 86f), wird aber alsbald vermittels des Begriffs der megalofrosußnh (›Hochsinnigkeit‹), der ab De subl. 9 für das als erste Quelle Angesprochene steht, gänzlich ins Ethisch-Charakterliche überführt (vgl. W. BÜHLER: Beiträge zur Erklärung der Schrift vom Erhabenen, 14). 30 Vgl. zur Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit des Hypsosbegriffs R. BRANDT: Einleitung, 13. Ein weiterer Grund für die formale wie inhaltliche Unübersichtlichkeit von Peri Hypsous – »a highly sophisticated rhetorical piece« (D. A. RUSSELL: aaO. 73) – ist die Vielfalt der Argumentationsziele. Dazu gehören u.a. die stiltheoretische Auseinandersetzung mit Caecilius, ein Reflex des Attizismus-Asianismus-Streits (vgl. dazu M. FUHRMANN: Die Dichtungstheorie, 188ff) und die Verteidigung Platons gegen stilkritische Verunglimpfungen. Vor allem der zweite Aspekt scheint nicht unwesentlich für den Aufbau von Longins Hypsostheorie gewesen zu sein (siehe Kap. 2.4; vgl. D. A. RUSSELL: aaO. 74ff).
1. Die Schrift ›Peri Hypsous‹
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im Begriff des hypsos einzugehen, die Longin in Anknüpfung an die rhetorische Tradition einführt, die Unterscheidung zwischen Pathetisch-Erhabenem (4.1) und Majestätisch-Erhabenem (4.2), um schließlich eine Zusammenschau von Longins Erhabenheitsbegriff zu leisten (5).
2. Grundbestimmungen des Erhabenen 2.1. Ekstase statt Überzeugung Am Ende der Vorrede setzt Longin zu einer ersten Bestimmung des Gegenstandes der Schrift an, indem er feststellt, was er seines Erachtens als bekannt voraussetzen kann: … vÖw aökroßthw kai? eöcoxhß tiw loßgvn eösti? ta? uÄyh kai? poihtvqn te oiÖ meßgistoi kai? suggrafeßvn ouök aällojen hü eönjeßnde poje?n eöprvßteusan kai? taiqw eÖautvqn perießbalon euökleißaiw to?n aiövqna.1
… dass erhabene Stellen gewissermaßen der Höhepunkt und Gipfel im Reden sind und dass die größten Dichter und Schriftsteller durch nichts anderes den ersten Platz errungen und ihrem Ruhm Unsterblichkeit gewonnen haben.
Die Fähigkeit, ›erhabene Stellen‹ zu schaffen, wird als Gipfel der Redekunst ausgewiesen und exklusiv für Rang und Ruhm in der Literatur verantwortlich gemacht. Was derartige Stellen, offenbar selbst die Höhepunkte einer Rede, vorzüglich auszeichnet, ist ihre spezifische Wirkung auf den Hörer: ouö ga?r eiöw peijv? tou?w aökrovmeßnouw aöll’ eiöw eäkstasin aägei ta? uÖperfuaq: paßnth deß ge su?n eökplhßcei touq pijanouq kai? touq pro?w xaßrin aöei? krateiq to? jaumaßsion, eiäge to? me?n pijano?n vÖw ta? polla? eöf’ hÖmiqn, tauqta de? dunasteißan kai? bißan aämaxon prosfeßronta panto?w eöpaßnv touq aökrovmeßnou kajißstatai. kai? thßn me?n eömpeirißan thqw euÖreßsevw kai? th?n tvqn pragmaßtvn taßcin kai? oiökonomißan ouök eöc eÖno?w ouöd’ eök dueiqn, eök de? touq oÄlou tvqn loßgvn uÄfouw moßliw eökfainomeßnhn oÖrvqmen, uÄyow deß pou kairißvw eöcenexje?n taß te praßgmata dißkhn skhptouq paßnta diefoßrhsen kai? th?n touq rÖhßtorow euöju?w aöjroßan eönedeißcato dußnamin.2
1 2
1,3. 1,4.
Das Übermäßige nämlich führt die Hörer nicht zur Überzeugung, sondern zur Ekstase; und in jeder Hinsicht herrscht das Erstaunliche durch die Erschütterung immer über das Überzeugende und Gefällige. Während nämlich das Überzeugende meist von uns abhängt, übt jenes unwiderstehliche Macht und Gewalt aus und steht über jedem Hörer. Auch sehen wir die Kunst im Erfinden und die geschickte Anordnung des Stoffes nicht an ein oder zwei Stellen, sondern aus dem ganzen Gewebe der Rede kaum eben hervorscheinen. Das Erhabene dagegen, wo es im rechten Moment hervorbricht, zerreißt den gesamten Stoff wie ein Blitz und offenbart schlagartig die gedrängte Gewalt des Redners.
2. Grundbestimmungen des Erhabenen
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Nicht ›Überzeugung‹ (peijvß, peithô), sondern ›Ekstase‹ (eäkstasiw, ékstasis) ist der Effekt des ›Übermäßigen‹, ›Außerordentlichen‹ (uÖperfuaq). Um diese grundlegende Bestimmung angemessen interpretieren zu können, muss etwas weiter ausgeholt werden. Auf den ersten Blick scheint Longin die Wirkung des Übermäßigen – ein Explikat des Erhabenen – von dem abzugrenzen, was die klassische Rhetorik als Generalziel der Rede begriffen hatte: von der Überzeugung oder Persuasion. Damit ist der rhetorische Endzweck angesprochen, der nach ursprünglichem Verständnis sachlich-argumentative »Überzeugung« sowie emotional-manipulative »Überredung« des Hörers umfasst und am besten als »Einstellungsänderung« zu bezeichnen ist.3 Nachdem laut Platon die Rhetorik schon bei den Sophisten als »Schöpferin von Überzeugung«4 definiert worden ist, als Fähigkeit, »Überzeugung in der Seele der Hörer zu wirken«5, konzipiert auch Aristoteles seine Rhetorik als Lehre von den Überzeugungsmitteln (pißsteiw) der Rede.6 Leitend für die Rhetorik ist hier wie dort die öffentliche Rede vor dem Gericht oder Rat, welche bei ihren Adressaten die Einstellung bezüglich des verhandelten Sachverhalts zu lenken sucht.7 Aristoteles nimmt bezüglich der rhetorischen Mittel, welche die Persuasion herbeiführen sollen, eine dreifache Differenzierung8 vor, die den Ausgangspunkt für die spätere Lehre von den drei ›Aufgaben des Redners‹ (officia oratoris) bildet. Auch diese unterschiedlichen »Aufgaben« bzw. Wirkungsintentionen (docere/probare, delectare/ conciliare und movere/flectere), denen jeweils eine Stilebene zugeordnet wird (genus humile/tenue, genus medium/floridum, genus grande/sublime),9 bleiben allesamt auf den einen Generalzweck der Rede bezogen, nämlich das Publikum zu ›überzeugen‹ (persuadere), es für den Redner und seine Sache zu gewinnen.10 Es werden lediglich Modi unterschieden, wie dieser Zweck zu erreichen sei. Der Redner strebt demnach entweder auf rationale Weise, mittels einer plausiblen Darlegung des Sachverhalts (docere/probare), die kog3
Vgl. J. KNAPE: Art. Persuasion, 895. Wenn im Folgenden peithô mit ›Überzeugung‹ wiedergegeben wird, ist das zunächst in diesem umfassenden Sinn zu verstehen. 4 Plat. Gorg. 453a: peijouqw dhmiourgoßw. 5 Ebd.: peijv? toiqw aökoußousin eön thq# yuxh#q poieiqn. 6 Vgl. Aristot. rhet. 1356a1f. 7 Das dritte Redegenus neben Beratungs- und Gerichtsrede, die Festrede (eöpideiktiko?n geßnow; genus demonstrativum) lässt sich nicht ohne weiteres der peithô zuordnen, weil hier keine konkrete Persuasionsintention vorliegt. 8 Vgl. Aristot. rhet. 1356a2. Die drei Überzeugungsmittel sind praßgmata, häjow und paßjow. S.u. Kap. 3.1.1. 9 Vgl. dazu K. SPANG: Art. Dreistillehre, bes. 921–935. 10 Vgl. z.B. Cic. de orat. II,115: »Ita omnis ratio dicendi tribus ad persuadendum rebus est nixa: ut probemus vera esse, quae defendimus; ut conciliemus eos nobis, qui audiunt; ut animos eorum, ad quemcumque causa postulabit motum, vocemus.«
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Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
nitive Zustimmung der Hörer an; oder er versucht das Publikum auf emotionale Weise für sich und seine Sache einzunehmen, indem er mittels sanfterer (delectare/conciliare) oder heftigerer Affekterregung (movere/flectere) Sympathie bzw. Empörung oder Mitleid auslöst. Über alle drei Register der Rede zu verfügen und sie erfolgreich für den Persuasionszweck einzusetzen, macht den Virtuosen in der rhetorischen Kunst der ›Überzeugung‹ aus. »Das Übermäßige führt die Hörer nicht zur Überzeugung, sondern zur Ekstase« (1,4). Es läge nahe, ›Überzeugung‹ (peithô) auch in diesem Satz Longins von der rhetorischen Tradition her zu verstehen, d.h. in einer umfassenden persuasiven Bedeutung. Wie an anderen Stellen abzulesen ist, verwendet Longin den Begriff jedoch im spezifischeren Sinn rationaler Überzeugung: nicht als Pendant von persuadere, sondern von docere.11 Bezogen auf den fraglichen Satz aus dem Prolog heißt das: Die ›erhabenen Stellen‹ heben sich vom Gesamt der Rede durch die Art und Intensität ihrer Wirkung ab: Sie wirken nicht auf das rationale Urteil des Adressaten (peithô), sondern sie erzielen ihren besonderen Effekt gerade am Urteilsvermögen des Hörers vorbei, durch dessen extreme affektive Erregung (ekstasis). Diese Interpretation bewährt sich an den folgenden Sätzen von 1,4. Das ›Erstaunliche‹ – ein weiteres Explikat des Erhabenen neben dem Übermäßigen – ist durch den von ihm erzeugten Affekt (›Erschütterung‹) »mächtiger« als das Überzeugende und das Gefällige. Die Trias ›überzeugend‹, ›gefällig‹, ›erstaunlich‹ ist eine klare Reminiszenz der drei klassischen officia oratoris, wobei das Überzeugende dem docere, das Erstaunliche dem flectere korrespondiert. Das Gefällige freilich, kaum als Pendant des delectare eingeführt, spielt schon im nächsten Satzteil keine Rolle mehr. So scheint Longin im Folgenden nur noch das Überzeugende als Gegenbegriff zum Erhabenen zu gebrauchen. Während jenes dem Hörer auf einer Ebene begegnet, seine Wirkung von dessen Urteil abhängt (eöf’ hÖmiqn), steht dieses jenseits der Kontrolle des Rezipienten (eöpaßnv touq aökrovmeßnou); er wird von einer ›erhabenen Stelle‹ unwillkürlich gepackt, mit ›unwiderstehlicher Macht‹ (bißa aämaxow) überwältigt.
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In De subl. 15 ist zweimal von Ausführungen die Rede, die in ihrer begrenzten ›Überzeugungs‹-Wirkung durch das Hinzukommen eines besonderen rhetorischen Mittels, der ›Vergegenwärtigung‹ (fantasißa), weit überboten werden. Vgl. 15,9: Ist die Vergegenwärtigung »in eine sachliche Beweisführung eingebunden, überzeugt [peißjei] sie den Hörer nicht nur, sondern macht ihn sich hörig«. 15,10: »Zugleich mit dem sachlichen Beweis hat der Redner die Vergegenwärtigung geübt, deshalb hat er mit seinem Einfall die Grenze des bloßen Überzeugens [peißjein] überschritten«. Wer neben dem docere auch das Mittel der ›Vergegenwärtigung‹ beherrscht und seiner Rede so ein Moment des Erhabenen verleiht, beeinflusst nicht allein auf rational kontrollierbarem Wege, sondern steigert seinen Einfluss bishin zur völligen Hörigkeit der Adressaten.
2. Grundbestimmungen des Erhabenen
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Anders als beim Überzeugenden kann dieser überwältigende Effekt von einer einzelnen Stelle ausgelöst werden (eöc eÖno?w [hü] eök dueiqn). Während das Überzeugende nur in einem längeren Prozess der Beurteilung von Invention und Disposition des Stoffes zur Geltung kommt, bei Betrachtung des mehr oder weniger kunstvoll gefügten Ganzen der Rede, entfaltet das Erhabene seine affektive Wirkung unmittelbar, in einem einzigen Augenblick. Es bedarf nur einer einzigen wohlplatzierten Formulierung, um das Stoffganze samt der Inventions- und Dispositionskunst des Redners vergessen zu lassen und den Hörer auf einmal »wie ein Blitz« zu treffen. – Damit sind im Durchgang durch 1,4 die wesentlichen Differenzmomente zwischen dem Überzeugenden und dem Erhabenen genannt. Es soll nun noch ein gesonderter Blick auf die Schlüsselbegriffe des Abschnitts geworfen werden. Die Wirkung des Erhabenen bestimmt Longin positiv als ekstasis. Die fundamentale Bedeutung des Ausdrucks ist »das Heraustreten aus dem gewöhnlichen Zustand, der Ausnahmezustand gesteigerter Gefühls- und Seelenerregung«12. Insbesondere kann ekstasis ein krankhaftes oder religiöses Außer-sich-Sein bezeichnen. Es berührt sich dann eng mit den Begriffen manißa (manía), der pathologischen oder religiösen »Raserei«, und eönjousiasmoßw (enthousiasmós), dem Status der »Gotterfülltheit«. Andererseits kommt ekstasis auch »in abgeblasster Bedeutung« vor, »zur Bezeichnung eines zwar nicht anormalen, aber doch besonderen Affektes, etwa der Bewunderung oder des Staunens«13. In diesem allgemeineren Sinne ist der Terminus auch in rhetorischen Zusammenhängen geläufig und zeigt die extreme seelische Resonanz an, die eine Rede bei ihren Hörern findet.14 Demnach ist ›Ekstase‹ auch im vorliegenden Kontext als außerordentlicher Erregungszustand der Seele zu verstehen, der durch die ›erhabenen Stellen‹ der Rede ausgelöst wird.15 Dabei mögen – als Reflex des spezifisch religiösen
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F. PFISTER: Art. Ekstase, 944. Ebd. 14 Vgl. z.B. Plat. Mx. 235a, wo Sokrates (ironisch) von sich sagt, dass er beim Anhören von patriotischen Leichenreden »jedesmal außer sich sei und bezaubert« (eÖkaßstote eöceßsthsa aökrovßmenow kai? khloußmenow); ferner Lk 2,47, wo es von den Zuhörern des jungen Jesus heißt: eöcißstanto de? paßntew oiÖ aökoußontew auötouq eöpi? th#q suneßsei kai? taiqw aöpokrißsesin auötouq. Aristoteles verwendet eöcißsthmi i.S. von ›in einen Erregungszustand versetzen‹; dies soll die ›Feierlichkeit‹ (semnoßthw) der Rede leisten (rhet. 1408b36). 15 Insofern ekstasis »ein besonderer Seelenzustand, ein paßjow thqw yuxhqw« (F. PFISTER: aaO. 944), ist, nimmt es nicht wunder, dass der Begriff auch bei Longin eng mit dem Pathosbegriff zusammenhängt, wie die beiden anderen einschlägigen Stellen zeigen. 38,5: »Bei jeder sprachlichen Kühnheit sind die Handlungen und Leidenschaften, die der Ekstase nahekommen (ta? eöggu?w eökstaßsevw eärga kai? paßjh) eine Art heilendes Gegenmittel«. 3,5: »Dann machen sie [sc. Redner, die ein künstliches Pathos vorspiegeln; M.F.] vor Leuten, die überhaupt nicht ergriffen sind (pro?w ouöde?n peponjoßtaw aökroata?w aösxhmonouqsin) eine schlechte Figur; natürlich – Verzückte vor nicht Verzückten (eöcesthkoßtew pro?w 13
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Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
Verständnisses von ekstasis – entsprechende religiöse Konnotationen mitschwingen; wird doch Longin das Phänomen des Erhabenen noch des öfteren in der Metaphorik seherischer Inspiration beschreiben, insbesondere mit den unlängst genannten Begriffen mania und enthousiasmos.16 Der Ausdruck eäkplhciw (ékplêxis), den Longin parallel zum Ekstasisbegriff verwendet, steht diesem auch inhaltlich sehr nahe. Auch ekplêxis ist ein gängiger Terminus in der rhetorischen und poetologischen Reflexion und kennzeichnet die besonders starke affektive Wirkung.17 Er kann neutral das »Gepacktsein« des Hörers durch das Gehörte bedeuten, hat aber tendenziell den Beiklang von Erschütterung oder Bestürzung in Anbetracht von etwas Schrecklichem bzw. von Staunen in Anbetracht von etwas Wunderbarem.18 Auslöser solcher ästhetischer Überwältigungserfahrung ist das Übermäßige, Außerordentliche (ta? uÖperfuaq) bzw. das Wunderbare, Erstaunliche (to? jaumaßsion), also etwas, das – formal oder inhaltlich – aus dem Rahmen ouök eöcesthkoßtaw).« Hier sind die Partizipien der Verben paßsxv und eöcißsthmi parallel ge-
braucht. 16 Siehe dazu Kap. 3.2.3. Ein direkter Bezug auf die philosophische Ekstasis-Lehre Plotins (vgl. dazu F. PFISTER: aaO. 979f) – im Falle der Autorschaft des Plotin-Zeitgenossen Longin gut möglich – ist in Peri Hypsous nicht erkennbar; zu sehr dominiert hier der rhetorische bzw. poetologische Sinn von ekstasis. Inwiefern freilich die rhetorische bzw. poetologische Adaption des Inspirationsvokabulars sowie die Theorie von Peri Hypsous insgesamt auf Platons Lehre von der mania des Dichters und vom enthousiasmos des Philosophen verweist, mithin auf den platonischen Gedanken vom Aufstieg der Seele, wird noch zu untersuchen sein. 17 Vgl. z.B. Plat. symp. 215d, wo Alkibiades den Eindruck einer Sokrates-Rede wiedergibt: »[A]lle sind wir wie außer uns und ganz davon hingerissen« (eökpeplhgmeßnoi eösme?n kai? katexoßmeja; Übers. F. SCHLEIERMACHER). Aristoteles (poet. 1460b) nennt es eökplhktikoßn, wenn in der Tragödie ein Protagonist unwissend eine tragische Tat begeht – etwa wenn Ödipus seinen Vater tötet – und dies im Nachhinein erkennen muss. Hier trifft es wohl am besten, eökplhktikoßn als ›erschütternd‹ oder ›bestürzend‹ wiederzugeben. Laut L. VOIT: DEINOTHS. Ein antiker Stilbegriff, weist der Begriff allgemein darauf hin, dass es »darauf an[kommt], den Hörer im Lauf der Rede immer wieder von neuem zu packen« (25). Im Übrigen dient eökplhßttesjai im Neuen Testament häufig zur Charakterisierung der Wirkung von Jesu Predigt; so z.B. Mk 1,22: kai? eöceplhßssonto eöpi? thq# didaxhq# auötouq: hQn ga?r didaßskvn auötou?w vÖw eöcousißan eäxvn kai? ouöx vÖw oiÖ grammateiqw. – Von den weiteren Stellen, an denen Longin selbst den Wortstamm verwendet, ist 15,11 besonders sprechend: Wenn der Redner vermittels der ›Vergegenwärtigung‹ »die Grenze des bloßen Überzeugens« überschreitet, wird der Hörer »vom Beweis weggezogen zu dem, was in der Vergegenwärtigung hinreißt« (eiöw to? kata? fantasißan eökplhktikoßn). Was der Hörer nicht nur rational nachvollzieht, sondern sich mithilfe seiner Vorstellungskraft lebendig vergegenwärtigt, überzeugt ihn nicht nur, sondern es »schlägt ihn in Bann«. – Das lateinische Äquivalent zu eäkplhciw ist perturbatio und findet sich z.B. Cic. de orat. II,214 oder Quint. inst. 6,2,9; hier wie dort als Spezifikum des commovere bzw. des pathos. 18 Vgl. D. A. RUSSELL: Longinus, 122. »eäkplhciw is surprise or fear which ›knocks you out‹ […]. From an early date it is associated with the effect of the startling and fantastic«.
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des Normalen fällt und so Erstaunen auslöst oder auch Bewunderung.19 Die Kategorie des ›Staunens‹ bzw. ›Sich-Wunderns‹ (jaumaßzein, thaumázein) spielt schon bei Aristoteles als Ziel rhetorischer bzw. poetischer Wirkung eine zentrale Rolle. Solch angenehmes Staunen ist demnach Effekt des Fremdartigen, Abgelegenen (in der Rede)20 bzw. des wider jedes Erwarten (para? th?n doßcan) Eintretenden (in der Tragödie und im Epos)21. Dem Moment des Staunens über das Unwahrscheinliche, Wunderbare kann sich hier auch ein Moment des Schauders über das Unheimliche beimischen.22 Bei Cicero wie bei Quintilian gehört die admiratio – das lateinische Pendant zum griechischen thaumazein – zu den heftigen Affekten, die der Redner zu erregen sucht, indem er alle Register seiner Redekunst zieht.23 Bei Longin kann thaumazein einerseits (wie in 1,4) die spezifische, heftige Wirkung des schlechthin Ungewöhnlichen (paraßdocon, parádoxon)24, über die Maßen Großen25, Erhabenen26 bezeichnen und ist dann am besten mit ›Staunen‹ wiederzugeben. Andererseits steht der Ausdruck auch ganz allgemein für die ästhetische Wertschätzung. So ist Homer der ›Bewunderte‹ (13,4: tejaumasmeßnon) schlechthin. Seinen mitreißenden Effekt erzielt das Erhabene nur dann, wenn es ›im rechten Moment‹ (kairißvw, kairíôs) hervortritt. Mit der Adverbform wird in 1,4 ein Terminus eingeführt, der sich im Verlauf von Peri Hypsous als »arch-Longinian word«27 erweist: kairoßw (kairós). Der kairos ist im Griechi19
Vgl. W. ERHART: Art. Admiratio, 109f. Vgl. Aristot. rhet. 1404b10f. 21 Vgl. poet. 1452a. 22 Dafür spricht z.B. der Zusammenhang von jaumastoßw mit foberoßw (›furchtbar‹, ›schaudererregend‹) in poet. 1452a sowie das dort folgende Beispiel aus der volkstümlichen Mitys-Anekdote. Auch im NT kann thaumazein ein Moment des Schauders oder Schreckens haben: z.B. Lk 8,25, wo fobeiqsjai und jaumaßzein die Reaktion des Volkes auf Jesu Sturmstillung umschreiben: »Sie aber fürchteten sich und verwunderten sich (fobhjeßntew de? eöjaußmasan) und sprachen zueinander: Wer ist dieser? Auch dem Wind und dem Wasser gebietet er, und sie sind ihm gehorsam« (Übers. Luther-Bibel); Lk 9,43 sind eökplhßssesjai und jaumaßzein parallel gebraucht: Auf Jesu Heilung eines Besessenen hin »entsetzten sich alle (eöceplhßssonto) über die Herrlichkeit Gottes. Als sie sich aber alle verwunderten (paßntvn de? jaumazoßntvn) über alles, was er tat…«. In der Pfingsterzählung schließlich wird der Hendiadyoin eöcißstanto de? kai? eöjaußmazon gebraucht, um die Wirkung des Pfingstwunders auf das Volk zu schildern (Apg 2,7). 23 Vgl. Cic. orat. 236; Quint. inst. 6,3,5. 24 Vgl. 35,5. Der rhetorische Terminus des Paradoxes (paraßdocon/inopinatum), den Longin hier verwendet, bedeutet das schlechthin Unerwartete, den Alltagserfahrungen Zuwiderlaufende, das beim Hörer Verblüffung und Verwunderung hervorruft und ihn somit in den Bann der Rede zieht (vgl. M. S. CELENTANO: Art. Paradoxon). 25 Vgl. 35,4. S.u. Kap. 3.2.3. 26 Vgl. neben 1,4 auch 39,4, wo jaumaßsiow gleichsam als Synonym von uÖyhloßw gebraucht wird. 27 J. BRODY: Boileau and Longinus, 41. 20
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schen zunächst allgemein die »ausgezeichnete Stelle in Raum […] und Zeit«28, der ›rechte Ort‹ oder der ›günstige Augenblick‹. Näherhin steht der Begriff für das ethische sowie das rhetorische Ideal der Wohlplatziertheit bzw. »Recht-Zeitigkeit«.29 Bei der rhetorischen Verwendung lassen sich zwei Bedeutungsrichtungen unterscheiden. Kairos kann hier erstens – wie die aristotelische Kategorie des preßpon (prépon) – die situative Angemessenheit der Rede kennzeichnen. Ob ein Element der Rede ›recht-zeitig‹ bzw. ›recht am Platz‹ (euäkairow) oder ›unzeitig‹ bzw. ›deplatziert‹ (aäkairow) ist, hängt demnach davon ab, ob es der konkreten Redesituation entspricht; d.h. vor allem, ob es zum jeweiligen Redner und seinem Redegegenstand passt.30 Der Kairosbegriff kann aber auch – zweitens – die kontextuelle Wohlplatziertheit eines Redegliedes ausweisen. Er bezeichnet dann die bestimmte Stelle innerhalb des Kontextes, an der eine Wendung ›recht am Platz‹ ist.31 Der vollendete Redner hat einen Sinn für beide Seiten der Wohlangebrachtheit. Er weiß, welches Sprachregister zu welchem Inhalt passt (situative Angemessenheit), aber auch, wie die verschieden temperierten Passagen innerhalb der Rede zu platzieren und an welcher Stelle etwa eine effektvolle Pause einzulegen ist (kontextuelle Wohlplatziertheit). Dieses Wissen freilich ist kein erlerntes Regelwissen, sondern »an inner sense of appropriateness«32. In Peri Hypsous ist nicht immer leicht zu entscheiden, welche Ausrichtung der fragliche Terminus jeweils hat. An einigen Stellen zielt er offensichtlich auf die Angemessenheitsrelation zwischen Rede und Redesituation bzw. Redestoff. Dies gilt, wenn Longin ein »deplatziertes und hohles Pa28
M. KERKHOFF: Art. Kairos, 667. Für den ethischen Gebrauch ist z.B. Aristoteles‹ Nikomachische Ethik anzuführen. Hier bezeichnet kairos einerseits die spezifische Situation, aus der allein sich Ziel und Mittel des konkreten Handelns bemessen (vgl. eth. Nic. 1104a8f; 1110a13f); andererseits den spezifischen Zeitpunkt, in dem sich eine bestimmte Handlung erfolgreich durchführen lässt (z.B. den rechten Augenblick für den militärischen Angriff oder den medizinischen Eingriff; vgl. 1096a32f). 30 Laut Aristoteles wirken z.B. umfangreiche Attribute – obzwar in der Poesie durchaus angebracht – in der Prosarede meist deplatziert (rhet. 1406a11: aäkairow), weil sie weder Stand noch Alter des Redners entsprechen, vor allem aber nicht dem »allzu geringen« Gegenstand der Rede (vgl. 1404b15f). Sie machen die Rede »zu feierlich und tragisch« (1406b8), »zu poetisch« (1406b10f). Sie wirken übertrieben (1408b1f), unnatürlich und gekünstelt (1404b19) – es sei denn, der Redner spricht gerade ausgesprochen ›leidenschaftlich‹ (1408b12: pajhtikvqw). 31 Vgl. rhet. 1415b12. Es können sich auch beide Dimensionen des Begriffes überlagern, etwa wenn Platon Phaidr. 272a das Ideal eines Redners entwirft, der »die Zeiten (kairou?w) zu beurteilen weiß, wann er reden und innehalten soll, und von den gedrängten Stellen und den Mitleid erregenden Stellen und den Erschreckungen und was er sonst für Arten der Rede gelernt hat, von denen er weiß, wo sie an ihrer Stelle sind und wo nicht (toußtvn th?n euökairißan te kai? aökairißan)«. 32 J. BRODY: Boileau, 41. 29
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thos« (paßjow aäkairon kai? kenoßn) tadelt, das nicht etwa dem Stoff entspringt, sondern allein dem gestalterischen Übereifer des Redners (3,5); oder wenn er im Blick auf die Figur des Schwures sagt: »Irgendwie bei jemand zu schwören macht die Größe nicht aus, sondern erst das Wo und das Wie, die Umstände und der Zweck.«33 Eine kontextuelle Dimension scheint hinzuzukommen, wo Longin Theopomps großartige Schilderung eines Triumphzuges durch störende Details verunstaltet sieht.34 Der fragliche Autor hat die trivialen Gegenstände aus der Alltagssphäre insofern schlecht platziert, als er sie nicht an den Anfang, sondern, im Sinne einer Antiklimax, an den Schluss der Beschreibung gestellt hat. Außerdem sind sie generell unangemessen, weil sie dem Sujet, dem prunkvollen Triumphzug, nicht entsprechen. Es ist Theopomp nicht gelungen, was Longin an Sappho rühmt, nämlich für die Darstellung »aus den Elementen die jeweils passendsten zu wählen«35. Er hat es versäumt, aus den mannigfachen Bestandteilen eines »realen« Triumphzuges für die Schilderung diejenigen auszuwählen, die allesamt dem Darstellungsziel dienen und zusammen ein einheitliches literarisches Bild von Prunk und Pracht ergeben, »gleichsam einen Körper« (10,1). Nachdem situativer und kontextueller Sinn von kairos verschwimmen können,36 ist auch in 1,4 nicht ohne weiteres klar, was es heißt, dass das Erhabene seine blitzartige Wirkung nur dort entfaltet, wo es kairiôs auftritt. Immerhin scheint der unmittelbare Zusammenhang von 1,4 mit seinem Kontrast von Redeganzem und einzelner erhabener Stelle eher darauf hinzudeuten, dass Longin hier an kontextuelle Wohlplatziertheit denkt: Das Erhabene kann nur dann »wie ein Blitz« hervorbrechen, wenn der Kontext diese Kontrastwirkung erlaubt. Vielleicht schwingt aber auch das Moment der situativen Angemessenheit mit. Diese Angemessenheit bestünde etwa dann, wenn eine ›übermäßige‹ und ›wunderbare‹ Formulierung nicht einem allzu geringen, sondern einem entsprechend außerordentlichen Gegenstand gelten würde. Jedenfalls steht und fällt die Wirkung der ›erhabenen Stelle‹ mit einer (kontextuellen oder situativen) Stimmigkeit, die wiederum abhängt von jenem »nexus of subtle, varying factors, of which none but the
33 16,3 (R.B.): to? de? pouq kai? pvqw kai? eöf’ vWn kairvqn kai? tißnow eÄneka. Siehe zur Stelle unten Kap. 4.1.1.3. Platon wird getadelt, Stilfiguren manchmal aökaißrvw (29,1) anzubringen, weil er offenkundig Banales in zu »poetische« Metaphern kleidet; weil er mithin dem Fehler verfällt, »geringe Sachen in große und feierliche Worte zu kleiden« (30,2; O.S.). 34 43,3 (R.B.): »Aus der höheren Sphäre gleitet er ins Niedere, während er sich im Gegenteil hätte steigern sollen. Allein, in die herrliche Schilderung des ganzen Prunkes brachte er die Lederbeutel, die Gewürze und die Säcke und hat so in uns gewissermaßen die Vorstellung einer Garküche erregt. […] [S]o verunzieren derartige Wörter, weil an falscher Stelle (para? kairoßn) eingefügt, gleichsam mit einem Brandmal den Stil.« 35 10,1: tvqn eömferomeßnvn eökleßgein aöei? ta? kairivßtata. 36 Vgl. auch 2,2; 12,5 und 32,1.
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greatest writers are ever constantly aware«37. Wofern bei einem Autor dieser differenzierte Sinn für Stimmigkeit fehlt, läuft er Gefahr, in sophistischer Übertreibung »überall Glocken aufzuhängen« (23,4). Er läuft Gefahr, das Erhabene in Schwulst zu verkehren38 und damit beim Hörer den Argwohn gegen das rhetorische Manipulationspotential zu wecken.39 Nachdem die Schlüsselbegriffe der ersten Erhabenheitsdefinition etwas an Kontur gewonnen haben, ist noch einmal auf den zentralen Gegenbegriff zurückzukommen, der Longin als Folie für die Beschreibung des erhabenen Effekts dient: die Überzeugung. Es hatte sich ergeben, dass Longin die affektive Wirkung des Erhabenen (ekstasis) als Überbietung der rationalen Wirkung des Überzeugenden (peithô) beschreibt. Ähnlich stellt bereits Cicero die Überlegenheit des flectere gegenüber den beiden anderen Wirkungsintentionen probare und delectare heraus.40 Allerdings konstatiert Cicero diese Überlegenheit mit Blick auf die gerichtliche Durchsetzung (ad obtinendas causas). Das flectere (und die ihm zugeordnete Stilart des genus vehemens bzw. sublime) zeichnet sich durch die stärkste persuasive Wirkung aus, sofern es mehr als das probare und das delectare zur Einstellungsänderung der Hörer bezüglich des verhandelten Streitfalls beiträgt. Bei Longin hingegen ist eine vergleichbare pragmatische Intention der erhabenen Rede samt ihrer Affektwirkung nirgendwo thematisch. Für den Autor von Peri Hypsous ist die affektive Erregung des Hörers nicht Mittel zu dessen Überzeugung, sondern Selbstzweck. Die erhabenen Höhepunkte innerhalb der Rede zielen nicht darauf ab, den Hörer für die verhandelte Sache einzunehmen, sondern darauf, ihn überhaupt »einzunehmen«: auf ihn Eindruck zu machen durch die »gedrängte Gewalt« der Rede. Die Begriffe des Überzeugenden und des Erhabenen (sowie des Gefälligen)41, mit denen Longin die klassische Dreistillehre zitiert, haben ihren 37
J. BRODY: Boileau, 41. Vgl. 3,1–4. 39 Vgl. 27,1–2. 40 Vgl. Cic. orat. 69: »nam id unum [sc. flectere] ex omnibus ad obtinendas causas potest plurimum. […] in [eo] uno vis omnis oratoris est.« 41 Da der Begriff des ›Gefälligen‹ nach seiner Nennung sogleich wieder verschwindet, gewinnt man den Eindruck, dass an die Stelle des klassischen dreigliedrigen Schemas eigentlich ein duales Konzept getreten ist, in dem sich das ›Überzeugende‹ als Kategorie für das Redeganze und das ›Erhabene‹ als Kategorie für einzelne Höhepunkte gegenüberstehen. Im Fortgang von Peri Hypsous spielt freilich ein anderes Kategorienpaar eine weit größere Rolle, nämlich die Unterscheidung von hQjow (êthos) und paßjow (pathos; besonders in 9,11–15). Sie bezeichnet bei Longin – sehr grob gesprochen – die unterschiedlich starke affektive Spannung im Charakter des Redners oder des Schriftstellers bzw. den unterschiedlich starken Affektgehalt der Rede oder des literarischen Werkes. Auch dieser Dualismus geht begriffsgeschichtlich auf die Lehre von den officia oratoris bzw. auf deren aristotelische Entsprechung zurück, diesmal freilich auf die beiden »emotionalen« Kategorien delectare/conciliare und flectere/movere bzw. eben êthos und pathos (siehe CH. GILL: The 38
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Bezug auf die Persuasionsoperation verloren und sind zu nicht-funktionalen, »ästhetischen« Kategorien geworden, die jeweils bestimmte selbstzweckliche Hör- bzw. Leseerfahrungen sowie die je entsprechende Qualität der Rede bezeichnen.42 Von ihren ursprünglichen Wurzeln haben sie sich damit um einiges entfernt. Das Überzeugende verwirklicht sich in der inhaltlichen und formalen Gesamtanlage der Rede und weckt vermittels eines entsprechend aufs Ganze gehenden Urteilsvollzuges das Gefallen des Hörers an dem wohlgestalteten Gefüge – es wirkt ›überzeugend‹ in einem neuen, ästhetischen Sinn. Mit dem docere der rhetorischen Tradition berührt es sich eigentlich nur noch hinsichtlich der – intellektuellen – Art und der – mäßigen – Intensität der Wirkung. Insofern es nicht mehr bestimmte narrative oder argumentative Redeteile charakterisiert, sondern das Ganze der Rede, hat es auch die Beziehung zum Stilbegriff des genus humile und zum Stil überhaupt verloren.43 Ɯthos/Pathos Distinction in Rhetorical and Literary Criticism). Aus der ursprünglichen Trias mit ihrer doppelten Differenz zwischen rationalen und affektiven Überzeugungsmitteln sowie zwischen sanfterer und heftigerer Affekterregung haben sich zwei Oppositionspaare gebildet, die auf verschiedenen Ebenen liegen, sich aber trotzdem teilweise überlagern. So wenig sie bei Longin in einem reflektierten Verhältnis stehen, so wenig lassen sie sich in der Interpretation auf das ursprüngliche dreistellige Schema verrechnen. – Dem Dualismus von êthos und pathos korrespondiert bei Longin in einer Formulierung in 29,2 derjenige von hÖdonhß (›Vergnügen‹, ›Lust‹, ›Reiz‹, ›Genuss‹) und uÄyow. Eine ähnliche Entgegensetzung findet sich in 34,4 in der Gleichsetzung von kaloßw (›schön‹) und aömegeßjhw (›ohne Größe‹). Allerdings werden ›Schönheit‹ und ›Größe‹ auch parallel gebraucht (17,2; vgl. 35,3). Eine einheitliche Oppositionskategorie zum Erhabenen ist bei Longin nicht zu erkennen. Damit erübrigen sich etwaige Versuche, ihn unmittelbar zum antiken Gewährsmann für die »doppelte Ästhetik der Moderne« (Zelle) zu stilisieren. 42 Dieses Ergebnis stimmt mit dem rhetorikgeschichtlichen Ort und dem pseudorhetorisch-literaturtheoretischen Charakter von Peri Hypsous zusammen. Schließlich ist Persuasion im pragmatischen Sinne unter den herrschenden politischen Verhältnissen – siehe De subl. 44 – als Ziel der Rede faktisch ohnehin obsolet geworden. Mit der Abwendung vom Persuasionskonzept steht Longin seinerseits wieder in einer Tradition. Hatte die klassische Persuasionsrhetorik die Kunst der Rede funktional als Überzeugungskunst (ars persuadendi) verstanden, entwickelte sich mit dem Niedergang der Republik die Tradition der Eloquenzrhetorik, welche die Rhetorik in Anknüpfung an die Epideiktik schlicht als »Kunst guten Redens« (ars bene dicendi) definierte. Vgl. zum Ganzen J. KNAPE: Art. Persuasion 877f. 43 Die beiden oben zitierten Sätze aus De subl. 15 scheinen in eine andere Richtung zu weisen. Schließlich deckt sich peißjein hier offenbar mit dem klassischen Begriff docere. Freilich bezieht sich Longin hier auf Stellen aus politischen Reden des Demosthenes und des Hypereides, auf klassische Beispiele also der Beratungsrede, die selbst noch ganz im Horizont des Persuasionsparadigmas stehen. Longin versetzt sich als Kritiker der klassischen Redeliteratur also nicht nur in die Situation des damaligen Hörers, sondern verwendet in diesem Zusammenhang auch die klassische Terminologie in ihrem ursprünglichen Sinn. Im Bezug auf das Epos oder die Tragödie wird dieselbe Terminologie dann in entsprechend gewandelter Bedeutung gebraucht, wahrscheinlich im Rückgriff auf die Tradition der Epideiktik bzw. der Eloquenzrhetorik.
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Das Erhabene Longins wiederum trifft sich mit dem traditionellen Begriff des flectere vor allem darin, sich insbesondere in Abgrenzung von der entgegengesetzten »intellektualistischen« Kategorie zu konturieren: Es wirkt anders – affektiv statt rational – und stärker als das Überzeugende. Außerdem charakterisiert es nicht das Ganze, sondern ausgewiesene Gipfelpunkte der Rede: Sein Element ist der einzelne großartige Gedanke, die einzelne außergewöhnliche Wendung. So hat auch das Erhabene im Grunde wenig mit dem erhabenen Stil der klassischen Rhetorik (genus grande bzw. sublime) zu tun, der dem flectere einst zugeordnet war.44 Im Rückblick auf den Prolog lassen sich nun die folgenden Merkmale des Erhabenen auflisten: die Plötzlichkeit oder Abruptheit seines Hervorbrechens und, damit im Grunde eins, die Kürze oder Punktualität der sprachlichen Erscheinung, an der es hervorbricht; die »Kairos-Abhängigkeit«, also die Bedingung einer kontextuellen bzw. situativen Stimmigkeit der erhabenen Wendung; die »Übermächtigkeit« bzw. Unwiderstehlichkeit der Begegnung mit dem Erhabenen; die seelische Erschütterung bzw. das In-Bann-Gezogen-Sein des Hörers durch die Außerordentlichkeit oder Anomalität dessen, was ihm in der Erfahrung des Erhabenen begegnet und was ihn in einen entsprechenden Extremzustand versetzt; und schließlich die Selbstzwecklichkeit dieser Erfahrung, d.h. die Unabhängigkeit von einem äußeren Persuasionszweck der Rede. Insgesamt lässt sich sagen, dass Longin mit seiner Beschreibung des hypsos in der Vorrede stark an die traditionelle Rhetorik und ihre OfficiaLehre anknüpft, diese zugleich aber auch erheblich umformt. Einerseits kongruieren die von Longin ausgewiesenen Wirkungen des Erhabenen, bei aller Drastik der Formulierungen, weitgehend mit dem, was innerhalb der klassischen Dreistillehre unter dem Titel flectere bzw. movere verhandelt wurde. Auch die Absetzung der affektiven von der rationalen Wirkungsintention ist traditionell. Auf der anderen Seite hat sich Longins Rhetorik des Erhabenen nicht nur vom Redezweck der Persuasion emanzipiert, sondern es haben sich gleichzeitig auch die fundamentalen rhetorischen Kategorien gewandelt. Vor allem wird weder dem Überzeugenden noch dem Erhabenen eine bestimmte Stilhöhe zugewiesen. Das hypsos zeigt sich als »a special effect, not a special style.«45 Dieser besondere Effekt des Erhabenen besteht eben darin, dass ein wohlgesetzter Gipfelpunkt in der Rede eine extreme
44 Eher noch besteht eine Nähe zum xarakth?r deinoßw innerhalb der »Vierstillehre« des Demetrius. Die Vorgaben der Dreistillehre vorausgesetzt, handelt es sich dabei gleichsam um eine Variante innerhalb des genus sublime, die einen besonderen Akzent auf schroffe, heftige Wirkung legt (vgl. L. VOIT: DEINOTHS; außerdem I. RUTHERFORD: Art. Deinotes). 45 D. A. RUSSELL: Longinus, XXXVII.
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Ergriffenheit aufseiten des Hörers evoziert – nicht bloß Überzeugung, sondern Ekstase.
2.2. Aufschwung der Seele Nachdem Longin in Kap. 2 die Frage behandelt hat, ob es überhaupt eine Kunstlehre des Erhabenen geben könne, obwohl es doch wesentlich in einer ›großen Naturanlage‹ (2,1) gründe, und nachdem er in einer Art »Stilpathologie« (Kap. 3–5) mögliche Fehlformen dem ›wirklich Erhabenen‹ (6) gegenübergestellt hat,46 kommt der Autor in Kap. 7 noch einmal auf die Wirkung des hypsos zu sprechen. Im Gegensatz zu den aufgeführten Fehlformen erkenne man das wahre Erhabene an seinem einzigartigen psychologischen Effekt: fußsei gaßr pvw uÖpo? taölhjouqw uÄyouw eöpaißretaiß te hÖmvqn hÖ yuxhß, kai? gauqroßn ti aönaßsthma lambaßnousa plhrouqtai xaraqw kai? megalauxißaw, vÖw auöth? gennhßsasa oÄper häkousen.47
Denn von Natur aus wird unsere Seele vom wahrhaft Erhabenen irgendwie emporgetragen; in einem hochgemuten Aufschwung wird sie von Freude und Stolz erfüllt, als habe sie, was sie hörte, selbst hervorgebracht.
Mit dieser Schilderung geht Longin, nun auch was die Wirkung des Erhabenen betrifft, deutlich über das hinaus, was die traditionelle Rhetorik vom officium des movere zu sagen wusste. Gegenüber dem geläufigen Überwältigungsvokabular von Kap. 1 herrscht hier ein ganz anderer Ton. Das willenlose Ergriffenwerden von der Macht des hypsos weckt zugleich »Freude und Stolz«. Zudem wird die psychische Resonanz angesichts des Erhabenen metaphorisch als »Aufschwung« der Seele beschrieben, den das Erhabene »von Natur aus« (fußsei, phýsei) auslöst. Was an dieser Stelle der Rekurs auf die ›Natur‹ genau besagen will, muss vorerst offenbleiben. Jedenfalls gibt es für Longin irgendeine ›natürliche‹ Verbindung zwischen dem Erhabenen und der Seele – er spricht auch von einer »gewissen natürlichen Verwandtschaft«48 –, einen ›natürlichen‹ Grund, der die eigentümliche seelische Hochstimmung angesichts des hypsos erklärt. Auch der letzte Halbsatz von 7,2 ist nicht ohne weiteres verständlich. Die freudige Hochstimmung der Seele angesichts des Erhabenen hat ein Moment von »Stolz, als habe sie, was sie hörte, selbst hervorgebracht«. Jene Hochstimmung scheint demnach auch etwas wie ein gesteigertes Selbstge46
Zu den schwierigen Kapiteln 3–5 siehe G. A. M. GRUBE: Notes on the PERI UYOUS,
362ff 47 48
7,2. 17,3: diaß te fusikhßn tina suggeßneian.
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fühl mit einzuschließen. Jedenfalls zeigt der Begriff des Stolzes ein Moment von Selbstbezüglichkeit an: Die Seele freut sich nicht nur an dem erhabenen Gegenstand, sondern auch an sich selber. Sowohl auf die Natürlichkeits- als auch auf die Selbstbezüglichkeitsthese ist zurückzukommen.49 Der nächste Satz artikuliert die kriteriologische Funktion des fraglichen Hochgefühls bei der Beurteilung des wahren hypsos. Dabei benennt er weitere Momente der Erhabenheitserfahrung und führt wie nebenbei einen der Zentralbegriffe von Peri Hypsous ein: oÄtan ouQn uÖp’ aöndro?w eämfronow kai? eömpeißrou loßgvn pollaßkiw aökouoßmenoßn ti pro?w megalofrosußßnhn th?n yuxh?n mh? sundiatijhq# mhd’ eögkataleißph# thq# dianoißa# pleiqon touq legomeßnou to? aönajevroußmenon, pißpth# deß, aün euQ to? sunexe?w eöpiskoph#qw, eiöw aöpaußchsin, ouök aün eät’ aölhje?w uÄyow eiäh, meßxri moßnhw thqw aökohqw sv#zoßmenon. touqto ga?r tvq# oänti meßga, ouW pollh? me?n hÖ aönajevßrhsiw, dußskolow deß, maqllon d’ aödußnatow hÖ katecanaßstasiw, iÖsxura? de? hÖ mnhßma kai? dusecaßleptow.50
Wenn also eine Stelle, von einem verständigen und literarisch gebildeten Mann wiederholt angehört, dessen Seele nicht in eine hohe Stimmung versetzt und wenn sie auch bei anhaltender Betrachtung nicht mehr als das Gesagte in seinem Geist zurücklässt; wenn sie im Gegenteil, bei genauer Prüfung des Zusammenhangs, immer mehr an Kraft verliert, dann ist sie nicht wahrhaft erhaben – da sie nicht länger im Gedächtnis bleibt als der Klang im Ohr. Denn nur das ist wirklich groß, was anhaltende Betrachtung fordert, wogegen Widerstand schwer, ja, unmöglich ist, was fest und unauslöschlich im Gedächtnis haftet.
Longin unterscheidet zwischen einem Scheineffekt und dem wirklich Erhabenen. Nur Letzteres entfaltet seine Wirkung auch noch bei wiederholtem Anhören, indem es »die Seele in eine hohe Stimmung versetzt«. Megalofrosußßnh (megalophrosynê)51 – ab Kap. 9 Schlüsselterminus für die »ethische« Fundierung von Longins Erhabenheitstheorie – fungiert hier offensichtlich als zusammenfassender Begriff für den zuvor beschriebenen ›hochgemuten Aufschwung‹ der Seele und bezeichnet somit ebenfalls die seelische Hochstimmung, die das Erhabene erzeugt.52 Wie aber ist die Aussage zu verstehen, dass das wahre Erhabene ›im Geist mehr als das Gesagte hinterlässt‹? Longin könnte, wie Donald A. Russell vorschlägt, an die Entschlüsselung kunstvoll verrätselter Ausdrücke
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S.u. Kap. 3.2.3, 4.1.2.4 u. Kap. 5. 7,3. 51 Siehe zum Begriff unten Kap. 3.2. 52 Neben dem Kontext deutet auch das Verb sundiatißjhmi, ›in einen Zustand, eine Stimmung versetzen‹, darauf hin, dass hier nicht eine Eigenschaft, sondern eine aktuelle seelische Zuständlichkeit gemeint ist. 50
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denken.53 Das wäre dem Wortlaut nach möglich, hat aber innerhalb von Peri Hypsous sonst keinen Anhalt. Wahrscheinlicher ist, dass die fragliche Wendung ein rhetorisches Theorem aufgreift, das mit der Verrätselung verwandt, von ihr aber zugleich signifikant unterschieden ist: die Figur der Emphase (eämfasiw, émphasis).54 Die emphasis bezeichnet, ganz allgemein gesprochen, die Kunst der Andeutung. Auch sie zielt darauf, dass der Rezipient »mehr als das (vom Sprecher ausdrücklich) Gesagte« vernimmt. Aber anders als bei der Verrätselung ist ihr Wortlaut selbst nicht dunkel, sondern durchaus klar. Nur ist die vordergründige Bedeutung der Worte durchsichtig für eine Bedeutung »hinter den Worten«. Kennzeichen der Emphase ist es, so Quintilians Definition, »einen tieferen [oder: höheren; M.F.] Sinn zu liefern als den, den die Worte von sich aus bezeichnen«55. Der gedankliche Überschuss über den Wortlaut, den eine wahrhaft erhabene Passage laut Longin evoziert, resultiert nach dieser Interpretation nicht aus einer Vervollständigungsleistung, durch die der Hörer den Sinn des Gesagten überhaupt erst mühsam dechiffriert, sondern aus einem Mithören einer über53 Die Praxis der Verrätselung gehört zu den »Auswüchse[n] des rhetorischen Betriebes der Kaiserzeit«, der entgegen der rhetorischen Norm der perspicuitas (›Deutlichkeit‹) z.T. auch die »Künstelei beabsichtigter Obskurität« goutierte (M. FUHRMANN: Obscuritas. Das Problem der Dunkelheit in der rhetorischen und literarästhetischen Theorie der Antike, 58). Gegen diese Praxis richtet sich z.B. das Verdikt Quintilians: »Solche Ausdrücke gelten als genial, kühn und wegen ihrer Unklarheit [ex ancipiti; genauer: Doppelsinnigkeit; M.F.] rednerisch gekonnt, und schon viele hat die Überzeugung durchdrungen, das erst sei gewählt und geschmackvoll ausgedrückt, was der Deutung bedürfe (quod interpretandum sit). Aber auch manchen Hörern sind solche Wendungen willkommen: wenn sie deren Sinn verstanden haben, kosten sie ihren eigenen Scharfsinn aus und freuen sich so, als wären sie nicht Zuhörer, sondern als die Erfinder daran beteiligt (acumine suo delectantur et gaudent, non quasi audierint, sed quasi invenerint)« (inst. 8,2,21; Übers. H. RAHN). In Longins Formulierung in 7,2 (plhrouqtai xaraqw kai? megalauxißaw, vÖw auöth? gennhßsasa oÄper häkousen) könnte man einen Anklang dieser Quintilian-Stelle vernehmen und demnach auch die Wendung von 7,3 (eögkataleißph# thq# dianoißa# pleiqon touq legomeßnou) als Ausdruck für eine entsprechende Deutungs- bzw. Entschlüsselungsleistung des Hörers verstehen. So tut es D. A. RUSSELL und führt Sen. epist. 114,3 als weitere Vergleichsstelle an: »L’s point suggests an obvious characteristic of sophisticated writing such as we find in much Silver Latin: ›suspiciosae sententiae in quibus plus intelligendum quam audiendum‹« (Longinus, 85). Über die angeführten externen Parallelstellen hinaus weist innerhalb von Peri Hypsous jedoch nichts darauf hin, dass Longin im Blick auf das Erhabene ein Obskuritätsphänomen und die Freude über entsprechende Enträtselungserfolge vor Augen hat (vgl. G. J. DE VRIES: More Notes on PERI UYOUS, 232f). Es empfiehlt sich daher, das eng verwandte Theorem der emphasis zur Interpretation beizuziehen. 54 Vgl. zum Folgenden TH. SCHIRREN: Art. Emphase; D. TILL: Das doppelte Erhabene, 153ff. 55 Quint. inst. 8,3,83: altiorem praebens intellectum quam quem verba per se ipsa declarant (Übers. H. RAHN). Eine an die longinische Formulierung erinnernde Definition bietet Rhet. Her. 67 (mit dem lateinischen Terminus significatio): »Significatio est res, quae plus in suspicione relinquit, quam positum est in oratione.«
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Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
schießenden Sinndimension, welche die engere Wortbedeutung selbst implizit enthält. Was Longin vor Augen hat, lässt sich an einer berühmten Stelle aus Peri Hypsous erläutern – an derjenigen Stelle, die dem Traktat vermutlich wie keine andere zu seiner späten Renaissance verholfen hat. Gemeint ist das Genesiszitat56 aus Kap. 9: taußth# kai? oÖ tvqn §Ioudaißvn jesmojeßthw, ouöx oÖ tuxv?n aönhßr, [eöpeidh?] th?n touq jeißou dußnamin kata? th?n aöcißan eöxvßrhse kaöceßfhnen euöju?w eön th#q eiösbolh#q graßyaw tvqn noßmvn: eiQpen oÖ Jeoßw fhsiß: tiß; geneßsjv fvqw, kai? eögeßneto: geneßsjv ghq, kai? eögeßneto.57
So hat auch der Gesetzgeber der Juden – kein beliebiger Mensch – die Macht des Göttlichen in ihrer Würde erfasst und zur Erscheinung gebracht, indem er gleich am Beginn der Gesetze schrieb: »Gott sprach:« – was? »Es werde Licht, und es ward. Es werde Land, und es ward.«
Der Urheber der Tora schildert die Erschaffung der Welt. Er tut dies in höchst einfachen und klaren Worten, an denen nichts Rätselhaftes oder Dunkles ist. Und doch trifft auf diese Schilderung in bestimmter Weise zu, dass sie »mehr bedeutet, als sie sagt«58, wie Quintilian die emphasis bündig beschreiben kann. Mit der Redeeinleitung »Gott sprach« werden Erwartungen geweckt: Was spricht Gott? Teilt er etwas mit oder richtet er einen Befehl an jemanden? Nichts von alledem. Er spricht in unübertroffener Einfachheit ein göttliches Machtwort: »Es werde Licht.« Und siehe da: »Es ward«. Zwei lapidare Wörter genügen zur Erschaffung des Lichtes, zur Er-
56 »[H]ardly anything in L has so caught the fancy of readers as this passage« (D. A. RUSSELL: Longinus, 92). Inzwischen bestehen kaum noch Zweifel an der Authentizität der Stelle, spricht doch schon die recht freie Zitierweise gegen eine jüdische oder christliche Interpolation (vgl. D. A. RUSSELL: aaO. 93f; noch entschiedener W. BÜHLER: Beiträge, 34). Auch in der Frage, woher der ganz in hellenischer Bildungstradition verwurzelte Autor von Peri Hypsous das biblische Zitat bezogen habe, besteht bis zu einem gewissen Punkt Einigkeit. So lassen Parallelstellen bei Josephus und Philon mit einiger Wahrscheinlichkeit den Schluss zu, dass das Genesiszitat von Peri Hypsous mitsamt seinem Argumentationsziel (›würdige Darstellung des Göttlichen durch Mose‹) aus dem Umkreis jüdischer Apologetik stammt (siehe dazu E. NORDEN: Das Genesiszitat in der Schrift vom Erhabenen, bes. 7ff, 18f; ferner D. A. RUSSELL: Longinus, 92ff). Welcher Art jedoch Longins Kontakt mit der jüdischen Apologetik näherhin war; ob er tatsächlich Schriften Philos kannte – was angesichts der mannigfachen Übereinstimmungen in Denken und Diktion keineswegs abwegig ist –; ob »der Philosoph« von De subl. 44 etwa mit Philon zu identifizieren ist und ob es gar eine persönliche Begegnung des Autors von Peri Hypsous mit Philon gab (wie Norden wahrscheinlich zu machen sucht; siehe aaO. 19ff) – in diesen eher spekulativen Fragen dürfte grundsätzlich kein Einvernehmen zu erzielen sein. 57 9,9. 58 Quint. inst. 8,3,83: plus significat quam dicit.
2. Grundbestimmungen des Erhabenen
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schaffung des Landes – welch göttliche Größe! Durch die knappen59, schlichten Wörter, die vordergründig nicht mehr enthalten als die Sprüche Gottes und ihre Folgen, entsteht ein würdiges Bild von der »Macht des Göttlichen«. Dies ist der »höhere Sinn« (Quintilian), den die Genesisverse dem Hörer in ihrer schlichten Erhabenheit bedeuten. Am Ende bleibt »mehr als das Gesagte in seinem Geist zurück«, nämlich ein Eindruck von der Majestät Gottes.60 Longin beschließt Kap. 7 und damit den eigentlichen Eingangsteil mit der Empfehlung, sich bei der Beurteilung des wahrhaft Erhabenen schlicht an das zu halten, »was jederzeit einem jeden gefällt« (7,4). Dieser klassizistische Topos vom ästhetischen consensus omnium trägt für die Phänomenologie des Erhabenen nichts weiter aus, so dass im Rückblick auf Kap. 7 Folgendes festzuhalten ist: Der psychische Extremzustand, in den das Erhabene versetzt, ist nicht nur negativ als Erschütterung des Normalzustandes und Kontrollverlust zu charakterisieren, sondern auch positiv als seelische »Hochlage«: als eine Freude, die sich durch eine spezifische Selbstbezüglichkeit auszeichnet. Besagte Hochstimmung stellt sich nicht »zufällig« ein, sondern sie hat einen Grund, der in der ›Natur‹ der Seele oder der Welt überhaupt liegt. Ferner ist es für eine wahrhaft erhabene Redesequenz konstitutiv, dass sie den Hörer »viel zu denken veranlaßt« (Kant)61 – mehr jedenfalls, als die unmittelbare Bedeutung der Wörter beinhaltet. Dieser semantische Überschuss und die mit ihm verbundene Erhebungswirkung verleihen dem wahren hypsos eine Aura, die seine besondere Anziehungskraft und Persistenz ausmacht. Der Anklang eines gewissen, relativ unbestimmten tieferen Sinns und die von ihm ausgelöste hohe Stimmung ziehen immer wieder unwiderstehlich die Aufmerksamkeit des Hörers auf sich und lassen das wahrhaft Erhabene lange in seinem Geist nachhallen.
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Zur Verbindung von emphasis und sprachlicher Kürze vgl. z.B. Dem. De eloc. 241:
to? eön oölißgv# polu? eömfainoßmenon; ferner 243: eök touq braxeßvw rÖhjeßntow uÖponohqsai ta? pleiqsta; ferner Quint. inst. 8,3,82f. 60 In ähnlicher Weise hat der lutherische Theologe, Humanist und Polemiker Matthias Flacius (1520–1575) in seinem Clavis Scripturae Sacrae (1567) die ersten Verse der Genesis interpretiert. Siehe dazu D. TILL: aaO. 155f. 61 KU B 192f (im Zusammenhang von Kants Bestimmung der ästhetischen Idee). In der Rhetorik und Ästhetik des 18. Jahrhunderts wird die Emphase durch den Begriff des ›Sinnreichen‹ beerbt, der auch innerhalb der Erhabenheitstheorie immer wieder zur Anwendung kommt. Vgl. dazu D. TILL: aaO. 259ff. S.u. Teil II/Kap. 3.4.3.
3. Die konstruktiven Leitbegriffe von ›Peri Hypsous‹ 3.1. Pathos Nachdem Longin in Kap. 1–7 einige fundamentale Bestimmungen dessen entwickelt hat, was als das wahre hypsos zu gelten habe, kommt er in Kap. 8 auf die pädagogische Zielsetzung von Peri Hypsous zurück: Die Schrift sei dann als Lehrbuch der Rhetorik brauchbar, so hatte es im Prolog geheißen, wenn sie darlege, wie man des Redners »Naturanlagen zu einer gewissen Steigerung der Größe führen« (1,1) und ihn so zur erhabenen Rede befähigen könne. Nun werden die »fünf Quellen« aufgelistet, die dabei »am fruchtbarsten« (8,1) sind. Als zweite Quelle wird dabei das pathos angeführt. Schon in Kap. 8 stellt sich indes heraus, dass es sich hier um ein ganz besonders wesentliches Element des Erhabenen handelt – ein Element allerdings, das für Longins Hypsostheorie einige inhaltliche und darstellerische Schwierigkeiten mit sich bringt. Bevor nach der Bedeutung von pathos in Peri Hypsous gefragt werden kann, ist daher etwas Licht in die Verwicklungen zu bringen, die sich aus der Einführung des Begriffs für die ganze Schrift ergeben. 3.1.1. Die Problematik der Pathosthese Es wurde bereits angesprochen, dass »das starke, begeisterte Pathos« (sfodro?n kai? eönjousiastiko?n paßjow) nicht recht in das Schema der fünf Quellen passt. Quelle 2 liegt weder allein auf der Ebene des Inhaltlichen, wo Quelle 1, das ›Entwerfen großer Gedanken‹, auf den ersten Blick angesiedelt zu sein scheint; noch auch ist sie unmittelbar der formal-stilistischen Seite der Rede zuzuordnen wie augenscheinlich die Quellen 3–5. Denn wie in der rhetorischen Tradition bezeichnet der Pathosbegriff bei Longin primär einen Seelenzustand (des Redners oder Hörers), um in Ableitung von dieser Grundbedeutung dann auch die formale oder inhaltliche Dimension einer verbalen Äußerung zu charakterisieren. Dieses Schillern der Kategorie zwischen werk-, wirkungs- und produktionsästhetischer Perspektive lässt
3. Die konstruktiven Leitbegriffe von ›Peri Hypsous‹
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sie von vornherein aus der Reihe werkästhetischer (oder besser: darstellungsästhetischer)1 Kategorien herausfallen. Die besagte Vielschichtigkeit des Pathosbegriffs – »one of the most suggestive, though also confusing, of ancient critical terms«2 – ist schon bei Aristoteles zu beobachten.3 Wie erwähnt, ist pathos in dessen Rhetorik zuallererst eines der drei Überzeugungsmittel der Rede und steht neben Sachargumentation (praßgmata) und Darstellung des glaubwürdigen Charakters des Redners (hQjow) für die beim Adressaten der Rede anvisierte affektive Wirkung: Dieser soll in einen emotionalen Erregungszustand versetzt werden, der sein Urteil im Sinne des Redners beeinflusst.4 Auch wenn Aristoteles den Redner oder dessen Redestil pajhtikoßw (pathêtikós) nennt,5 denkt er in erster Linie an die Eigenschaft, beim Publikum pathos hervorzurufen. So bedeutet pathêtikos primär »Affekte erzeugend«6. Gleichwohl bezeichnet pathos in diesem Zusammenhang sekundär auch den spezifischen (echten oder vorgetäuschten) Erregungszustand des Redners sowie die Eigenart der entsprechenden Redeweise: Das pathos des Redners und sein ›pathetischer‹ Stil sind besonders dazu geeignet, das gewünschte pathos seitens des Hörers zu wecken: weil dieser »stets dem affektiv Sprechenden in seinem Affekt folgt«7. Neben der emotionalen Wirkung der Rede und dem eigentümlichen Zustand und Stil des Redners kann Aristoteles mit pathos schließlich auch einen spezifischen Inhalt kennzeichnen: In der Poetik weist er das pathos als integralen Bestandteil der Handlung der Tragödie aus und bestimmt es als »verderbliches und schmerzliches Geschehen, wie z.B. Todesfälle auf offener Bühne, heftige Schmerzen, Verwundungen und dergleichen mehr«8. Pathos ist alles, was den Protagonisten der Tragödie an Tragischem zustößt – und was wiederum seitens der Zuschauer pathos auslöst, nämlich ›Schauder‹ (foßbow) und ›Jammer‹ (eäleow).9
1 Dieser Begriff wird in dieser Arbeit gebraucht, wo die ästhetische Analyse auf die spezifische Gestalt der sprachlichen Repräsentation eines Sujets Bezug nimmt, ohne dass dabei schon ein Rekurs auf das Ganze des Kunstwerks und ein entsprechend elaborierter Werkbegriff mitgesetzt wäre. 2 CH. GILL: The Ɯthos/Pathos Distinction, 149. 3 Vgl. zum Folgenden neben CH. GILL (aaO.) M. H. WÖRNER: ›Pathos‹ als Überzeugungsmittel in der Rhetorik des Aristoteles; ferner M. KRAUS: Art. Pathos und J. WISSE: Art. Affektenlehre. 4 Vgl. Aristot. rhet. 1356a1–4.14–16; 1377b20–1378a5. 5 Vgl. z.B. rhet. 1413b10. 6 Vgl. CH. GILL: aaO. 150 u. 155. 7 Rhet. 1408a23f: sunomopajeiq oÖ aökoußvn aöei? tvq# pajhtikvqw leßgonti (Übers. M.F.). 8 Poet. 1452b (Übers. M. FUHRMANN). 9 Dazu näher CH. GILL: aaO. 150f. Vgl. zur Übersetzung der beiden tragödientheoretischen Schlüsselbegriffe W. SCHADEWALDT: Furcht und Mitleid?
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Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
In der Nachfolge der aristotelischen Rhetorik wurde das Erregen von pathos beim Adressaten der Rede als drittes officium oratoris (movere) zum festen Bestandteil der rhetorischen Tradition.10 Durch den Einfluss stoischer Ethik (samt ihres zentralen Apathie-Ideals) entstand aber auch eine pathoskritische Richtung innerhalb der Rhetorik. Entsprechend wurde hier »die Auffassung vertreten, es sei die einzige Aufgabe des Redners zu belehren (docere)«11, während die beiden emotionalen Überzeugungsmittel delectare und movere als unsachlich und unwürdig abzulehnen seien. Als Einspruch gegen solche Pathosdistanz lässt sich Longins Einführung des pathos als eine der fünf Hauptquellen des Erhabenen lesen. Allerdings ergeben sich durch diese Einführung einige Probleme. Erstens ließ sich das pathos aufgrund der oben aufgewiesenen Vieldimensionalität des Begriffs offenbar nicht gut separat thematisieren. Die Einfügung des pathos in das Quellenschema, womit Longin dessen hervorgehobene Bedeutung für das hypsos unterstreicht, zwingt ihn später zu einer Selbstkorrektur. So dürfte die große Lücke in 9,4 die Ankündigung enthalten haben, das pathos nun doch nicht für sich, sondern im Kontext der anderen Quellen zu entfalten.12 Eine zweite Schwierigkeit besteht darin, dass der rhetorische Pathosbegriff sich für die Rhetorik bzw. Poetik des Erhabenen nicht uneingeschränkt eignet. Während es in der öffentlichen Rede darauf ankam, die Gefühle des Hörers mit allen Mitteln zu beeinflussen – bis er womöglich »in Schluchzen ausbricht«13 und willenlos dem Urteil des Redners zustimmt –, strebt die Rhetorik des Erhabenen eine spezifische Hochstimmung an, der gewisse Gefühlsregungen zuwiderlaufen. Das nötigt Longin dazu, seine These von der essentiellen Bedeutung des pathos für das hypsos zu differenzieren. Beide Größen seien keineswegs identisch, insofern nicht alles, was sonst unter dem Titel pathos verhandelt wird (das »Pathetische«), für das hypsos einschlägig sei. »Denn es finden sich Arten des Pathos, die durchaus nicht erhaben, sondern niedrig sind, z.B. Jammergeschrei und Schmerzen und Ängste«14. Offensichtlich vertragen sich gewisse niedrige, »jämmerliche« 10
Vgl. z.B. Quint. inst. 6,2. Inst. 4, pr. 1. 12 So D. A. RUSSEL: Longinus Revisited, 75; M. FUHRMANN hält diese Deutung für »ebenso originell[ ] wie abwegig[ ]« (Die Dichtungstheorie, 215). Mir scheinen diese Prädikate freilich eher auf dessen eigene These zu passen, derzufolge De subl. 9 nach der besagten Lücke in 9,4, als 9,5–15, bereits die scheinbar fehlende Abhandlung über das pathos sei (169f). Aber 9,5–9 enthalten kein einziges Mal den Pathosbegriff (pathê in 9,7 ist unterminologisch) und sind wesentlich »zwangloser« (170) dem Thema ›große Gedanken‹ zuzuordnen. 13 Quint. inst. 6,2,7. 14 8,2 (R.B.): kai? ga?r paßjh tina? diestvqta uÄyouw kai? tapeina? euÖrißsketai, kajaßper oiQktoi, luqpai, foßboi. 11
3. Die konstruktiven Leitbegriffe von ›Peri Hypsous‹
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Affekte nicht mit dem Erhabenen, mögen sie als »pathetische« Überzeugungsmittel der Rede auch ihre Funktion gehabt haben.15 Ein drittes Problem zwingt Longin zu einer noch weiter reichenden Einschränkung seiner Pathosthese. Kaum hat er das pathos als eines der wichtigsten Elemente des hypsos herausgestellt, muss er einräumen, dass es auch »viele erhabene Stellen ohne Pathos«16 gibt. Als Beispiel führt er Verse aus der Odyssee an, wo die übermenschliche Größe zweier Halbgötter in kosmischen Dimensionen geschildert wird.17 Longin rechnet mit der Erfahrung des Erhabenen auch angesichts eines »außerordentlichen« Stoffes, der ganz ohne pathos auskommt – »namely where the subjekt is ›cosmic‹ or very grand«18. Überdies bezieht sich jene Konzession auf das Genus der epideiktischen Rede. Sie enthält laut Longin »durchweg Feierlichkeit und Erhabenheit, aber von Pathos ist sie meistens frei«19. Dass der Autor von Peri Hypsous das genus demonstrativum mit dem Erhabenen in Verbindung bringt, überrascht; hat er doch sprachliche Kürze als dem hypsos wesentliches Moment ausgewiesen, während sich die Festrede (bzw. ein ihr entsprechender literarischer Stil) eher durch ausladende Prachtentfaltung auszeichnet. Es deutet sich an, dass Longin neben dem Pathetisch-Erhabenen noch eine zweite Form – das Feierlich- oder Majestätisch-Erhabene – gelten lässt, in der sich das hypsos verwirklicht.20 3.1.2. Die Bedeutung des Pathosbegriffs Dass das Hauptaugenmerk von Peri Hypsous dem Pathetisch-Erhabenen gilt, unterstreicht die Schlusspassage von Kap. 8. Sie liefert dabei auch eine Schilderung dessen, was unter pathos zu verstehen sei: jarrvqn ga?r aöforisaißmhn aän vÖw ouöden ouÄtvw vÖw to? gennaiqon paßjow, eänja xrhß, megalhßgoron, vÄsper uÖpo? manißaw tino?w 15
Denn ich würde getrost behaupten, dass nichts so großartig wirkt wie das edle22 Pathos an rechter Stelle: wenn es wie in
Diese Aussage lässt sich scheinbar schwer mit dem vereinen, was in De subl. 9 und 10 über das ›Furchtbare‹ (to? foberoßn) als Element ›großer Gedanken‹ verlautet (so G. A. M. GRUBE: Notes, 366). Außerdem: »Does not this remark exclude the most characteristic effects of tragedy?« (D. A. RUSSELL: Longinus, 88). Freilich haben die foßboi hier nichts mit dem »Angstschauder« (foßbow) der Tragödientheorie zu tun: »foßboi, of course, are expressions of timidity; there is no conflict with what is said about to? foberoßn« (ebd.). 16 8,2: polla? uÄyh dißxa paßjouw. 17 8,2: Hom. Od. 11,315.317. 18 D. A. RUSSELL: aaO. XXXVIII. Vgl. dazu auch die literarischen Zitate Longins in 9,1–9. 19 8,3: to?n me?n oägkon kai? to? uÖyhlo?n eöc aÄpantow perießxei, paßjouw de? xhreußei kata? to? pleiqston. 20 S.u. Kap. 4.2.
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Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
kai? pneußmatow eönjousiastikvqw eökpneßon kai? oiÖonei? foibaßzon tou?w loßgouw.21
Verzückung, wie in Gottbegeisterung hervorströmt und die Worte gleichsam mit prophetischer Kraft erfüllt.
Das pathos gleicht – offenbar als Zustand des Sprechers – dem enthusiastischen Verzückungszustand der delphischen Pythia, in dem sie den Geist Phoibos Apollons empfängt, um dessen Orakelspruch zu künden. Der Gebrauch solcher Inspirationssemantik im Sinne eines rhetorischen bzw. poetologischen Theorems ist spätestens seit Platon ein antiker Gemeinplatz,23 der »ein Moment der Begeisterung neben Kunstlehre (teßxnh) und Naturanlage (fußsiw)«24 zur Geltung bringt, ohne dabei wirklich mit einer übernatürlichen Inspiration zu rechnen. Daher gilt: »We should beware of taking the metaphors too seriously.«25 Es ist nach der Funktion der wiederholt gebrauchten Enthusiasmusmetaphorik26 zu fragen, ohne die religiöse Terminologie allzu schnell allzu wörtlich zu nehmen. Zuerst scheint es Longin um ein Widerfahrnismoment im Redeakt bzw. Produktionsprozess zu gehen, der erhabene Rede bzw. Dichtung hervorbringt: Wie der Prophet oder die Prophetin im Moment der Inspiration ist der Geist des Redners Empfänger eines fremden, »göttlichen«27 Geistes. Der 22 Es ist nicht leicht zu entscheiden, was gennaiqow (gennaíos) in diesem Zusammenhang bedeutet. Analog zu 40,4 könnte es ›kräftig‹, ›großartig‹, ›eindrucksvoll‹ heißen (vgl. S. L. RADT: Zu PERI UYOUS, 370). In 9,10 geht gennaios in eine ähnliche Richtung, spielt aber eher ins Edel-Heroische hinüber (ähnlich in 9,1). In 32,4 ist am ehesten mit ›echt‹, ›eigentlich‹ zu übersetzen. Das ist auch hier in 8,4 möglich (vgl. R.B. und O.S.) wegen der Abgrenzung von den paßjh tapeinaß (8,2). ›Edel‹ passt m.E. am besten (so auch R.S.). Das ›edle‹ Pathos steht dann im Gegensatz zu den ,niedrigen‹ pathê (zumal tapeinoßw zweimal in der Verbindung mit aögennhßw verwendet wird: 9,3; 35,2). 21 8,4. 23 Vgl. z.B. Plat. Ion 533c ff; Aristot. rhet. 1408b14ff; hier auch der Zusammenhang mit dem pathos. Vgl. zum Ganzen D. A. RUSSELL: Longinus, 114f; B. KOSITZKE: Art. Enthusiasmus. 24 B. KOSITZKE: aaO. 1187. 25 D. A. RUSSELL: aaO. 115. 26 Vgl. dazu unten Kap. 4.1.2.4 u. Kap. 5. 27 Vgl. 16,2 (R.B.): »Aber wie jählings vom Anhauch des Gottes ergriffen und gleichsam in den Bann des Apollon gezogen (aöll’ eöpeidh? kajaßper eömpneusjei?w eöcaißfnhw uÖpo? jeouq kai? oiÖonei? foiboßlhptow genoßmenow), schwor er [sc. Demosthenes] bei den Besten Griechenlands«. Ferner 33,5, wo Archilochos ein »Ausbruch des göttlichen Geistes« (eökbol[h?] touq daimonißou pneußmatow) zugeschrieben wird; und 13,2 (O.S.): »Viele nämlich werden durch fremden Anhauch mit Gott erfüllt (polloi? ga?r aöllotrißv# jeoforouqntai pneußmati), ganz so, wie man von der Pythia berichtet. Nähert sich diese nämlich dem Dreifuß bei einem Erdspalt, hauche dieser, wie man sagt, göttliche Dämpfe aus (aönapneßon […] aötmo?n eänjeon), und sie empfängt davon göttliche Kraft (eögkußmona thqw daimonißou kajistameßnhn dunaßmevw) und weissagt sogleich des Gottes Anhauch. So strömen vom Genius der Alten wie aus heiligem Quell geheimnisvolle Einflüsse in die Seele ihrer Bewunderer; durch sie werden auch nicht gerade enthusiastische Naturen angehaucht und sind begeisterte Genossen fremder Größe (eöpipneoßmenoi kai? oiÖ mh? lißan foibastikoi? tvq#
3. Die konstruktiven Leitbegriffe von ›Peri Hypsous‹
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Empfänglichkeitszustand tritt »plötzlich« und ohne Zutun des Redners ein;28 insofern eignet ihm zweitens ein Unverfügbarkeitsmoment. Während diese beiden Elemente des pathos mit mannigfachen Äußerungen Longins ohne weiteres zusammenstimmen, ist das Transzendenzmoment der Inspirationsmetapher vorerst nur unter Vorbehalt festzuhalten. Demnach wird jener Pathoszustand als Widerfahrnis einer übermenschlichen und insofern »transzendenten« Macht erlebt, deren Einfluss den Worten eine »übernatürliche« Qualität verleiht: Sie wirken auf den Hörer, als ob sie ihrem Ursprung nach nicht von dieser Welt wären. Inwieweit die vorgeführte Inspirationssemantik tatsächlich auf eine Transzendenzdimension des Erhabenen verweist oder ob sie sich allein dem Stilisierungswillen Longins verdankt, ist hier noch nicht zu entscheiden.29 Es finden sich bei Longin auch vordergründigere Formulierungen dessen, wovon der Redner im Zustand des pathos ergriffen wird. Nach 3,5 ist es schlicht die Sache oder der Stoff (to? praqgma) des Redners, von dem er sich mitreißen lassen muss, um auch seine Hörer mitzureißen. Longin greift hier den innerhalb der rhetorischen Pathostheorie geläufigen Topos auf, dass nur derjenige Affekte erregen könne, der sich selbst von der Sache der Rede erregen lasse.30 Laut Quintilian muss sich etwa der Ankläger zu diesem Zweck mittels seiner Phantasie das Verbrechen des Angeklagten so lebendig vor Augen stellen, als wäre er »bei den Vorgängen selbst zugegen«31. Nur so kann er selbst die Gefühle empfinden, die er beim Richter auslösen will.32 Analog empfiehlt auch Longin in Kap. 15 die fantasißa (phantasía, ›Vergegenwärtigung‹) als das beste Mittel, der Rede »Gewicht, Größe und den Anschein von unmittelbarem Zugegensein«33 zu verleihen. Dieses Mittel werde verwirklicht, … oÄtan aÜ leßgeiw uÖp§ eönjousiasmouq kai? paßjouw bleßpein dokhq#w kai? uÖp’ oäyin tijh#qw toiqw aökoußousin. […] ouök aün laßjoi se, […] oÄti thqw me?n eön poihßsei teßlow
… wo man das Gesagte, fortgerissen von Begeisterung und Leidenschaft, selbst zu sehen meint und es den Hörern vor Augen stellt. […] Es dürfte dir nicht ent-
eÖteßrvn sunenjousivqsi megeßjei).« Die zitierte Stelle enthält das Pythia-Bild, das auch in
8,4 zugrundeliegt, vollständig. 28 Vgl. 16,2 (s.o. Anm. 27); ferner 27,1. 29 S.u. Kap. 5. 30 Quint. inst. 6,2,26. Vgl. Aristot. poet. 1455a30ff. 31 Inst. 6,2,32: quam si rebus ipsis inter[sit]. 32 Inst. 6,2,26. 33 15,1: oägkou kai? megalhgorißaw kai? aögvqnow. Vgl. zu aögvßn und dem bei Longin ebenfalls häufigen Adjektiv eönagvßniow G. M. A. GRUBE: Theodorus of Gadara, 361f. Laut Grube beziehen sich beide Vokabeln bei Longin »to an impression of actuality or reality« (362). 26,1 heißt es vom Stilmittel des Wechsels der Person, es sei eönagvßniow, insofern es den Hörer glauben lasse, selbst »mitten in der Gefahr hin- und hergerissen« (R.B.) zu werden.
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Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
eösti?n eäkplhciw, thqw d’ eön loßgoiw eönaßrgeia, aömfoßterai d’ oÄmvw toß te *34 eöpizh-
touqsi kai? to? sugkekinhmeßnon.35
gangen sein, […] dass ihr [sc. der Vergegenwärtigung] Ziel in der Dichtung die Erschütterung ist, in der Rede die leibhaftige Anschaulichkeit; dass aber beide gleichermaßen danach streben, [zu erregen] und mitzureißen.
Wenn der Redner in einem Akt der Imagination seinen Stoff sich so vergegenwärtigt, dass er selbst anstelle des Protagonisten mitten im Geschehen präsent zu sein meint, dann schwindet auch aus Rezipientenperspektive die Distanz zwischen Darstellung und Dargestelltem, und der Hörer erliegt dem gleichen Schein von unmittelbarem Beteiligtsein. Die Folge sind ›Erschütterung‹ (ekplêxis) bzw. ›leibhaftige Anschaulichkeit‹ (eönaßrgeia, enárgeia)36, in jedem Falle das ›Mitbewegtwerden‹ (to? sugkekinhmeßnon) des Hörers mit dem dargestellten Geschehen. Solches »Mitbewegtwerden« durch Distanzverlust aufseiten des Hörers ist das Ziel der ›Vergegenwärtigung‹ – und zugleich ein Wesenszug des pathos aufseiten des Redners. In mannigfachen Formulierungen führt Longin vor, wie er sich ein solches Ergriffenwerden des Produzenten durch den darzustellenden Stoff vorstellt: Bei Euripides’ Beschreibung von Phaëthons Fahrt mit dem Sonnenwagen37 »steigt die Seele des Dichters mit in den Wagen«38 und »durchlebt mit ihm die Gefahr«39. Homer, indem er die Schlacht zwischen Griechen und Troern darstellt,40 »fährt wie ein Sturmwind in die Kämpfe, und ihm widerfährt nichts anderes, als dass er rast wie Ares«41. Durch die Vergegenwärtigung seines Stoffes wird der Dichter so in Beschlag genommen, dass er die Dinge nicht mehr aus der Warte des distan34
R. BRANDT ergänzt in seiner Ausgabe an der unlesbaren Textstelle sumpaje?w. 15,1f. 36 Trotz der terminologischen Unterscheidung kommt es Longin auch hier nicht auf die sachliche Differenzierung zwischen Poetik und Rhetorik an. »[I]t is clear that what is said here is not to be pressed« (D. A. RUSSELL: Longinus, 121). Enargeia ist der rhetorische Fachterminus für die Wirkung der phantasia (vgl. Quint. inst. 6,2,32), ekplêxis Longins Ausdruck für die Wirkung des Erhabenen überhaupt. Beides gehört für Longin eigentlich zusammen. Dass er hier ausnahmsweise zwischen poetischer und rhetorischer Terminologie unterscheidet, weist vielmehr darauf hin, dass die Thematik der Selbststimulierung mittels Vorstellungskraft traditionell ein Konvergenzpunkt von Poetik und Rhetorik war; so wird sie etwa bei Aristoteles sowohl in der Rhetorik (1408b24) als auch in der Poetik (1455a22–33) abgehandelt. Vgl. neben Cic. de orat. II,193 und Quint. inst. 6,2,29ff das berühmte Horaz-Wort (ars 102f): »Si vis me flere, dolendum est / primum ipsi tibi«. 37 Aus dem verlorenen Phaëton. 38 15,4: hÖ yuxh? touq graßfontow sunepibaißnei touq aÄrmatow. 39 15,4 (R.B.): sugkinduneußousa. 40 Hom. Il. 17,645ff. 41 9,11: ouäriow sunempneiq toiqw aögvqsin kai? ouök aällo ti auöto?w peßponjen hü maißnetai vÖw […] $Arhw. Vgl. auch 9,6 und 9,10. 35
3. Die konstruktiven Leitbegriffe von ›Peri Hypsous‹
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zierten Zuschauers erzählt, sondern als ob er selbst unmittelbar an dem Geschehen teilnähme – er gerät in einen Pathoszustand. Indem sich dieses pathos des Erzählers, vermittels eines entsprechend ›pathetischen‹ sprachlichen Ausdrucks, auf seine Darstellung überträgt, teilt es sich schließlich auch dem Rezipienten der Darstellung mit: Auch er kann sich dem Stoff nicht entziehen und verfällt selbst einem Zustand ›pathetischer‹ Ergriffenheit.42 Ausgangspunkt dieser Wirkungskette43 ist der Stoff des Dichters, ein Stoff nämlich, der selbst wiederum pathos enthält: ein Widerfahrnis des oder der Protagonisten, das geeignet ist, den Dichter und dann auch den Rezipienten in Bann zu schlagen. Es sind hiermit die vier Dimensionen genannt, auf die sich der Pathosbegriff bei Longin – wie bei Aristoteles44 – beziehen kann: die inhaltliche, produktionsästhetische, sprachlich-stilistische und schließlich die wirkungsästhetische Dimension. Weil Longin selbst zwischen diesen Ebenen nicht ausdrücklich unterscheidet, betreffen seine Aussagen zum pathos meist mehrere dieser Ebenen zugleich. Damit ist aber das Konfusionspotential des Begriffs noch nicht erschöpft. Denn schon auf der Inhaltsebene lassen sich eigentlich drei Bedeutungsmomente von pathos unterscheiden. Dem Widerfahrnis (pathos) korrespondiert eine entsprechende affektive Betroffenheit (pathos) des Helden, die sich idealerweise in einem Affektausbruch (pathos) desselben, in einem eruptiven Ausdruck von »Leidenschaft« artikuliert. Von besagter Ergriffenheit muss sich der Produzent »mitbewegen« lassen, um sie in bewegter Sprache angemessen darstellen zu können, auf dass schließlich beim Rezipienten der nämliche Affekt geweckt wird. – Nach diesem Vorgriff sind im Folgenden die Konturen von Longins Pathostheorie noch näher zu beleuchten. Vorzügliche Kennzeichen des pathos bzw. seines Ausdrucks sind ›Unordnung‹ (aötacißa) und ›Übermaß‹ (uÖperoxhß). Unordnung eignet dem pathos, insofern es »Aufruhr und Bewegung der Seele«45 ist, ein Widerfahrnis, bei dem der kontrollierte Normalzustand außer Kraft gesetzt wird. Weil das 42 Im Kontext der Phantasia-Thematik wird das intendierte »Mitbewegtwerden« des Hörers nicht ausdrücklich als pathos bezeichnet; siehe aber 39,3, wo Longin von dem »harmonischen« Wortgefüge spricht, das »durch die ineinandergewobene Vielgestalt seiner Klänge das Pathos, das den Redenden bewegt, auch den Seelen der Umstehenden einflößt und alle Hörenden dazu bringt, jeweils an diesem Pathos teilzunehmen« (R.B.); vgl. 41,2. 43 Platon gebraucht für ein entsprechendes Mitteilungsgefälle – dasjenige des Enthusiasmus, der sich vom Dichter auf den Rhapsoden und vom Rhapsoden auf das Publikum überträgt – das Bild vom Magneten, der seine Kraft von Eisenring zu Eisenring weitergibt (Ion 533d–535a). 44 S.o. Kap. 3.1.1. 45 Vgl. 20,2: eön staßsei ga?r to? höremouqn, eön aötacißa# de? to? paßjow, eöpei? fora? yuxhqw kai? sugkißnhsißw eöstin.
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Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
pathos der mania (›Raserei‹, ›Verzückung‹) gleicht – der Verzückung der Pythia (8,4), dem Liebesrausch (10,1), aber auch der Raserei der Schlacht (9,11) –, nimmt es nicht wunder, dass etwa Archilochos seine Pathosausbrüche sprachlich nur »schwer in gesetzliche Ordnung zu bringen«46 vermag. Weil das pathos (bzw. das pathos auslösende Geschehen) immer den Zug momentaner Dringlichkeit hat, etwas Drängendes, Akutes, das sich nur sofort und spontan artikulieren kann, darum äußert es sich nicht in wohlgesetzter Rede. So stellt sich das »Augenblickshafte des Pathos«47 etwa in der »begeisterten und schnellbewegten«48 Folge von Frage und Antwort dar. Im Asyndeton drückt sich »das Drängend-Rauhe des Pathos«49 aus, und der Figur des abrupten Wechsels aus der dritten in die erste Person bedient sich der Erzähler insbesondere dann, »wenn sich die Lage zuspitzt und dem Dichter keine Verzögerung erlaubt«50. Wie bereits angedeutet, gibt es bestimmte Formen des Ausdrucks, die der ›Bewegung‹, dem ›Akuten‹ bzw. der ›Unordnung‹ des pathos besonders entsprechen. Das Asyndeton und die Anapher beispielsweise vermeiden alle Wohlgeordnetheit und Statik und erzeugen so eine eindringliche Bewegtheit, die bestens die Dynamik des pathos zur Darstellung bringt. Das Hyperbaton, eine »von der natürlichen Folge abweichende Anordnung der Worte und Gedanken«51, ist »gewissermaßen der wahrhaftigste Abdruck von unmittelbarem Pathos«52. Auch im plötzlichen Wechsel der Person kann sich ein »Pathosausbruch«53 darstellen. Im Grunde entwirft die gesamte Passage über die Stilfiguren der erhabenen Rede eine Theorie pathetischer Stilmittel. »Denn sie alle machen schließlich die Worte pathetischer und bewegter«54. Dies gilt auch für diejenigen Stilmittel, die kraft ihrer »Übermäßigkeit« besonders geeignet sind, den affektiven Ausnahmezustand mit seinem »Übermaß an Pathos«55 darzustellen. Hier ist generell die Übertreibung (uÖperbolhß) einschlägig (38) und im Besonderen die Häufung der Metaphern (32).
46
33,5: uÖpo? noßmon taßcai dußskolon. 18,2: touq paßjouw to? eöpißkairon. 48 18,1: eänjoun kai? oöcußrropon. 49 21,1: touq paßjouw to? sundedivgmeßnon kai? aöpotraxunoßmenon. 50 27,2: hÖnißk’ aün oöcu?w oÖ kairo?w vün diameßllein tv#q graßfonti mh? didvq#. 51 22,1: leßcevn hü nohßsevn eök touq kat’ aökoloujißan kekinhmeßnh taßciw. 52 22,1: oiÖonei? xarakth?r eönagvnißou paßjouw aölhjeßstatow. 53 27,1: eökbolhß tiw paßjouw. 54 29,2: pa?nta gaßr tauqta pajhtikvteßrouw kai? sugkekinhmeßnouw aöpoteleiq tou?w loßgouw. 55 38,4: hÖ touq paßjouw uÖperoxhß. 47
3. Die konstruktiven Leitbegriffe von ›Peri Hypsous‹
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Wo es eine Theorie der pathetischen Ausdrucksmittel gibt, geht es darum, mithilfe dieser Mittel pathos nachzuahmen56 und auf diese Weise beim Hörer hervorzurufen. Damit stellt sich die Frage, wie ernst es Longin mit dem Pathoswiderfahrnis des Redners bzw. Dichters als Bedingung für die erhabene Rede ist. Sollten Longins Äußerungen zur Inspiration des Redners und zur Ergriffenheit durch seinen Stoff allein der Stilisierung dienen? Man könnte insbesondere Kap. 16 so verstehen und Longin die paradoxe Ansicht zuschreiben, »that the most effective ›frenzy‹ will be the fruit of sober calculation«57. Dort wird Demosthenes, neben Homer der unangefochtene Meister des Pathetisch-Erhabenen, nämlich gerade als Vorbild sorgfältigen rhetorischen Kalküls gepriesen. Denn »er zeigt, dass man selbst im Rausche nüchtern bleiben muss«58, um die intendierte Wirkung, den Eindruck von rauschhafter Unordnung und erregungsbedingtem Übermaß, durch den gezielten Einsatz passender sprachlicher Mittel zu erwecken. Insofern hat auch die Unordnung einer gelungenen Pathosdarstellung »eine gewisse Ordnung«59. Der Ausdruck affektiver Erregung erfordert, wie Longin paradox formuliert, geradezu eine »ungeordnete Ordnung«60 und, so wäre analog zu ergänzen, ein »maßvolles Übermaß«.61 Es ist bewusst gegen die gewöhnliche Syntax zu verstoßen, um die Illusion pathoshafter Unordnung zu erzeugen, und es sind die gewöhnlichen Ausdrucksmittel bewusst zu übersteigern, um die Vorstellung übermäßiger Erregung zu evozieren. Dabei muss der Redner oder Dichter wissen, »wie weit man jeweils über die Grenze gehen darf«62, um nicht durch künstliche Überspannung die authentische Wirkung zu verderben.63 Das Erfordernis affektiver Betroffenheit schließt die Notwendigkeit des kalkulierten Einsatzes rhetorischer Mittel zur Pathoserregung also nicht aus. Diese Spannung wird in Peri Hypsous nicht aufgelöst. Man dürfte sich indessen nicht allzu weit von Longin entfernen, wenn man den dichterischen Produktionsprozess als Zusammenspiel beider Prinzipien denkt, bei dem die Inspiration durch den Stoff dessen planvolle Ausarbeitung initiiert und leitet.64
56
Vgl. 18,2, wonach die an sich selbst gestellte und selbst beantwortete Frage »das Augenblickliche der Leidenschaft nachahmt« (mimeiqtai touq paßjouw to? eöpißkairon); vgl. ferner 22,1 und 27,1. 57 J. BRODY: Boileau, 40. 58 16,4 (R.B.): didaßskvn oÄti kaön bakxeußmasi nhßfein aönagkaiqon. 59 20,3: hÖ aötacißa poia?n perilambaßnei taßcin. 60 20,3: taßciw aätakton. 61 Vgl. 32,7, wonach die Häufung der Figuren wie jedes Stilmittel in der Gefahr stehe, ins »Unmäßige« (pro?w to? aämetron) abzugleiten. 62 38,1 (R.B.). 63 Vgl. 22,2. 64 Vgl. J. BRODY: aaO. 38ff.
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Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
Es hat sich gezeigt, dass der longinische Pathosbegriff – analog zum mehrdimensionalen Gebrauch bei Aristoteles – als Kategorie verschiedener ästhetischer Explikationsperspektiven fungiert. Dem intendierten Erregungszustand des Rezipienten (wirkungsästhetische Perspektive) entspricht das pathos seitens des Produzenten (produktionsästhetische Perspektive). Dabei bedeutet der Begriff, so lässt sich zusammenfassend sagen, ein unwillkürliches, »plötzliches« Ergriffenwerden durch den Gegenstand der Rede (Widerfahrnis; Unverfügbarkeit). In dieser passiven Verfassung der Seele, ihrem ›Mitbewegtwerden‹ mit dem Stoff, weichen Ordnung und Kontrolle (Kontrollverlust) einem momentanen Erregungszustand, der sich wesentlich dem Schwinden der Distanz zwischen Darstellung und Dargestelltem verdankt (Distanzverlust). Besagte ›erregte Bewegung‹ drückt sich in einer entsprechend »pathetischen« Redeweise aus (stilistische Perspektive). Diese verzichtet (scheinbar) auf kunstvolle Fügung und ahmt stattdessen den spontanen, dem drängenden Augenblick (Akutheit) entsprungenen Ausdruck unmittelbarer Erregung nach (Unordnung, Übermaß), um nämliche Erregung auch beim Hörer zu erzeugen. Neben dem stilistischen, dem wirkungs- und produktionsästhetischen Aspekt kann sich pathos bei Longin schließlich auch auf den Inhaltsaspekt der Rede beziehen. Pathos bezeichnet dann – wie in der aristotelischen Tragödientheorie – das handfeste Widerfahrnis von Unheil oder Gewalt, das die Protagonisten der Handlung ereilt. So habe Homer bei einer Sturmschilderung den Vers »dem hereinbrechenden Pathos«65 gemäß gestaltet, nämlich gemäß der lebensbedrohlichen Bedrängnis der Seeleute. Es sind vorwiegend Begegnungen mit furchterregenden, zum Teil lebensbedrohlichen Mächten – »Pathossituationen« im inhaltlichen Sinne –, die beim Protagonisten bzw. beim Erzähler und Hörer pathos auslösen: neben den erwähnten Sturmszenen (10,4ff) und der Raserei der Schlacht66 etwa die drohende Gefahr der Unterwerfung (22,1f) oder das Auftreten der Erinnyen (15,2.8). Ansonsten können vor allem Verbrechen oder moralische Vergehen beim Redner pathos entfesseln: nämlich Empörung und Zorn.67 65 10,6: tvq# me?n sunempißptonti paßjei. Das »Übermaß an Pathos und die Gefahr« (38,3) machen sogar eine so extreme Schlachtenszene wie die des Thukydides glaubwürdig, bei der die Syrakusaner am Ende das mit dem Blut der niedergemetzelten Gegner getränkte Flusswasser trinken. 66 38,3; vgl. 9,10f; 16,2; 26,1; 27,1. Überhaupt ist die Ilias mit ihren mannigfachen Schlachtenszenen eine einzige »Flut sich überstürzender pathê« (9,13), sprich: Pathossituationen. 67 Vgl. 27,3; 32,1. Während die meisten Beispiele für pathos dem Epos oder der Tragödie entstammen, beziehen die letztgenannten Beispiele aus dem Feld der eigentlichen Rhetorik ihre pathoserzeugenden Gehalte entsprechend aus dem Gegenstandsbereich der öffentlichen Rede. Eine Sonderstellung als einziges lyrisches Exempel für das pathos nimmt das berühmte Sapphogedicht in De subl. 10 ein, das als exzellente Darstellung des – geradezu lebensbedrohlichen – Widerfahrnisses des Eros, der eörvtikh? manißa (10,1)
3. Die konstruktiven Leitbegriffe von ›Peri Hypsous‹
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Die herausgearbeiteten Elemente des Pathosbegriffs decken sich mit der Bestimmung des hypsos von Kap. 1. Auch der Pathoszustand ist ekstasis und ekplêxis im Sinne eines Ausnahmezustandes, in dem Kontrolle und Ordnung abhanden kommen. Auch das pathos wird durch etwas »Übermäßiges« hervorgerufen, nämlich durch bedrohliche Ausnahmesituationen oder ungewöhnliche Vergehen, die dem Redner und mittelbar dem Hörer durch die Imagination so nahe kommen, als wären sie selbst Teil des dargestellten Geschehens. Dieses Moment des »Distanzverlusts« ist gegenüber Kap. 1 neu, passt aber ohne weiteres in das Gesamtbild. So kann insgesamt der Eindruck entstehen, dass pathos und hypsos im Grunde eins sind. Das wirft die Frage auf, was von Longins Bemerkung zu halten ist, dass es auch »viele erhabene Stellen ohne Pathos« (8,2) gebe. Zudem ist das pathos – scheinbar das Herzstück von Longins Hypsostheorie – kaum geeignet, die in Kap. 7 entfalteten Momente der Phänomenologie des Erhabenen plausibel zu machen. Denn inwiefern sich die Seele angesichts der Schreckensszenen, an denen Longin das pathos expliziert, zu ›Freude und Stolz‹ aufschwingen könnte, bleibt zunächst dunkel. Sollte das Phänomen des Erhabenen letztlich doch im ästhetischen Phänomen der »Spannung« aufgehen; darin dass der Mensch sich mithilfe seiner Vorstellungskraft so sehr mit einer fiktiven Situation identifizieren kann, dass ihm der Atem stockt und die Seele in Aufruhr gerät? Wenn Aufschluss über diese Fragen zu gewinnen ist, dann anhand des heimlichen Zentralbegriffes von Peri Hypsous, der megalophrosynê.
3.2. Hochsinnigkeit In seinem Beitrag zum Sammelband über Das Erhabene (1989) hat Jörg Villwock auf »eine ihrer Kürze wegen leicht zu unterschätzende Formulierung des Longinus« hingewiesen, »worin der erhabene Stil als Spiegel der Hochsinnigkeit bezeichnet wird«68. Nicht von ungefähr meinte Villwock auf die fragliche Stelle eigens aufmerksam machen zu müssen. Denn tatsächlich hat die Longin-Forschung bis dahin (und seitdem) erstaunlich wenig Notiz von Longins Verwendung der ethischen Kategorie genommen, in
vorgeführt wird (zum Verständnis von Longins Sappho-Deutung siehe H. J. HORN: Philosophische Grundlagen der Dichtererklärung in der Schrift ›Vom Erhabenen‹; zu ihrem Standort innerhalb der Gesamtargumentation siehe D. A. RUSSELL: Longinus Revisited, 77f). 68 J. VILLWOCK: Sublime Rhetorik. Zu einigen noologischen Implikationen der Schrift Vom Erhabenen, 48.
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Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
der Villwock zu Recht einen »Schlüsselbegriff der Rhetorik des Erhabenen«69 erkannt hat. Bereits in Joseph H. Kühns Studie zum Aufschwunggedanken (1941) finden sich immerhin einige verstreute Bemerkungen zur zentralen Bedeutung der megalophrosynê, der ›Hochsinnigkeit‹ (Schleiermacher)70, innerhalb von Peri Hypsous.71 Auch Donald A. Russell ist in der grundlegenden Einleitung zu seiner Longin-Edition (1964) an dem Begriff nicht achtlos vorbeigegangen. Er hat festgehalten, dass sich darin Longins »moral outlook«72 konzentriere. Der ethische Einschlag seiner Hypsostheorie sei dabei nicht einer bestimmten philosophischen Richtung zuzuordnen. »It is not that he shows clear signs of allegiance to any philosophical school; he is familiar with Plato, Aristotle, the Stoics, and the Epicureans, and his ethical views derive from all.«73 Gleichwohl ist es laut Russell vor allem das Bild des stoischen Weisen, das sich bei Longin im Ausdruck megalophrosynê widerspiegle: His ideal – and it is more Stoic than anything, an eclectic Stoicism like Seneca’s – is the man who rises superior to weaknesses such as pity, fear, and pain, and to current trends of materialism, luxury, and idleness, and who at the same time ennobles himself by contemplation of the works of God in the universe […]. This is the kind of man who will produce uÖyhlaß; nobody else will.74
Über diese Bemerkung hinaus gibt Russell keine Auskunft über die Bedeutung der megalophrosynê für Longins Erhabenheitskonzept. Ist sie lediglich Bedingung für die Hervorbringung des hypsos, oder hat auch das hypsos selbst wiederum ethische Bedeutung? Wie geht die Akzentuierung des pathos bei Longin mit jenem stoischen Ideal des schlechthin überlegenen Weisen zusammen? Und welche Rolle spielt das erwähnte religiöse Moment? 69
Ebd. ›Hochsinnigkeit‹ ist F. SCHLEIERMACHERs Übersetzung von megalophrosynê in Plat. symp. 194b. Man kann den Terminus auch als Kennzeichnung eines Menschen begreifen, der »einen großen Sinn« bzw. »eine große Seele hat«, und ihn dementsprechend mit »Seelengröße« wiedergeben. So führt der Thesaurus Graecae Linguae als lateinisches Äquivalent magnitudo animi an; Liddell-Scott-Jones bietet als englische Entsprechung (neben elevation of thougt) greatness of mind. Im Vorgriff auf die noch folgenden Bestimmungen Longins erscheint Schleiermachers Begriff treffender, insofern er die Richtung der Gesinnung bzw. Gedanken auf Großes, Hohes besser zum Ausdruck bringt. 71 Vgl. J. H. KÜHN: UYOS, 2ff. Kühn gibt allerdings nur sehr vage, uneinheitlich und ohne ausreichende Belege an, was der Begriff bedeutet: »Zusammenfassend läßt sich über die megalofrosußnh sagen: In den Zusammenhängen des Anonymos ist sie die Seelenlage, die große und überwältigende Gedanken erzeugt, in dem ursprünglichen Bereich des uÄyow ist sie geradezu das Bewußtsein und das Gefühl, die Erkenntnis des Göttlichen zu besitzen und mitteilen zu können« (10). 72 D. A. RUSSELL: Longinus, XXXVIII. 73 Ebd. 74 Ebd. 70
3. Die konstruktiven Leitbegriffe von ›Peri Hypsous‹
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Russells Äußerung lässt gewichtige Fragen offen, was den Konnex von Rhetorik, Ethik und Religion betrifft, der mit Longins Gebrauch des Hochsinnigkeitsbegriffs angezeigt ist. Antwort auf diese Fragen sucht man auch in der übrigen Literatur bislang vergebens. Lediglich zum generellen Einfluss der stoischen Tugendlehre und ihres zentralen Konzepts der magnitudo animi (dem lateinisches Äquivalent der megalophrosynê) auf die antike Rhetorik finden sich bei Klaus Dockhorn einige instruktive Ausführungen, allerdings ohne nähere Berücksichtigung von Peri Hypsous.75 Und auch Villwocks Hinweise zur Hochsinnigkeit, dem »ethischen Korrelat der Erhabenheit«76 bei Longin, führen hinsichtlich der betreffenden Fragen nicht allzu weit. Zwar liefert Villwock einige Mitteilungen zur aristotelischen Fassung der ethischen Kategorie, und er macht in Longins Konzept bemerkenswerterweise auch eine »theologische Tiefendimension«77 aus. Er unterlässt es aber weitgehend, seine hellsichtigen Beobachtungen argumentativ zu untermauern.78 – Es dürfte lohnenswert sein, dem Hinweis auf jenen allzu lange übersehenen Begriff nachzugehen, um näheren Aufschluss über die tugendethischen Voraussetzungen und die ethisch-religiösen Konnotationen von Longins Auffassung des Erhabenen zu gewinnen. 3.2.1. ›Longins‹ Kernthese Nachdem Kap. 8 die fünf Quellen des hypsos präsentiert und die Bedeutung des pathos (Quelle 2) herausgestrichen hat, beginnt der Hauptteil in Kap. 9 mit der Darstellung von Quelle 1. Der Einsatz des Kapitels sorgt jedoch prompt für Irritation. Denn was innerhalb des Gliederungsschemas noch unter ›Entwerfen großer Gedanken‹79 firmierte, heißt jetzt ›große Natur‹80. Und gleich der nächste Satz führt für denselben Sachverhalt noch einen dritten Begriff ein, indem er das Erhabene als ›Widerhall von Hochsinnigkeit‹81 apostrophiert. Offenbar will Longin unter der Rubrik ›Quelle 1‹ nicht allein klären, welche Inhalte (›Gedanken‹) sich für die erhabene Rede eig75
K. DOCKHORN: Die Rhetorik als Quelle des vorromantischen Irrationalismus in der Literatur- und Geistesgeschichte. Longin wird hier lediglich erwähnt (vgl. 64). Siehe dazu unten Kap. 4.1.1.1. 76 J. VILLWOCK: Sublime Rhetorik, 51. 77 AaO. 52. 78 Beispielsweise bleibt Villwocks Assoziation der Hochsinnigkeit mit der neuplatonischen Gebetsauffassung völlig unausgewiesen; vgl. aaO. 51f; ferner DERS.: Die Sprache – Ein »Gespräch der Seele mit Gott«. Zur Geschichte der abendländischen Gebets- und Offenbarungsrhetorik, 259ff. 79 8,1: to? peri? ta?w nohßseiw aÖdrephßbolon. 80 9,1: to? megalofueßw. 81 9,2: megalofrosußnhw aöphßxhma.
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Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
nen. Vielmehr geht es ihm auch und vor allem um die psychisch-charakterliche Bedingung dafür, solche ›großen Gedanken‹ überhaupt fassen zu können.82 Demnach ist allein eine ›große Natur‹ wahrhaft erhabener Ideen fähig.83 Denn sie zeichnet sich durch megalophrosynê aus. Diese Eigenschaft, stets ›Großes im Sinn zu haben‹ – so die wörtliche Wiedergabe –, verleiht der ›großen Natur‹ eine Disposition für ›erhabene Gedanken‹. Es ist also die megalophrosynê der eigentliche Kernbegriff von Longins Reflexionen über das ›gedanklich Erhabene‹84, und die bereits zitierte Formel die zentrale These von Peri Hypsous: »Das Erhabene ist Widerhall von Hochsinnigkeit«85. Wenngleich Hochsinnigkeit laut Longin zuallererst eine Gabe ist, hält er es doch für möglich und nötig, »die Seelen zur Größe aufzuziehen und sie
82
Darauf deutet schon die Wendung von 8,1 (peri? ta?w nohßseiw aÖdrephßbolon) hin. Megalofuiß_a (megalophyía) ist hier allgemein zu verstehen als die natürliche »Begabung«, die zum ›Fassen großer Gedanken‹ unerlässlich ist. Demgegenüber scheint megalophrosynê – ähnlich, aber spezifischer – die charakteristische Geistes- bzw. Seelenverfassung zu bezeichnen, die typisch ist für eine ›große Natur‹ und ihr einen Sinn für ›erhabene Gedanken‹ verleiht. – Megalophyïa kann im Übrigen immer wieder auch die unerreichbare, gleichsam archetypische, fast übernatürliche Begabung der »Alten«, das »Genie« der klassischen Heroen der Literatur bedeuten (z.B. 9,14; 13,2; 15,3). 84 Für diese Gewichtung der Begriffe spricht u.a. die Schlussformel von 15,12, die eine deutliche Zäsur zwischen nicht-stilistischem und stilistischem Abschnitt des Hauptteils setzt, indem sie De subl. 9–15 folgendermaßen summiert: »So viel wird genügen über das gedanklich Erhabene, das aus Hochsinnigkeit bzw. Nachahmung bzw. Vergegenwärtigung entspringt (peri? tvqn kata? ta?w nohßseiw uÖyhlvqn kai? uÖpo? megalofrosußnhw [hü] mimhßsevw hü fantasißaw aöpogennvmeßnvn)«; vgl. D. A. RUSSELL: Longinus, 126). Russell nennt diese rückblickende Inhaltsangabe »puzzling« (ebd.), und in der Tat verwundert aufs erste (neben dem Fehlen des pathos), dass weder der Inhalt von De subl. 10 (Auswahl und Zusammenfügung besonders markanter Züge) noch von 11f (amplificatio/Steigerung) erwähnt wird. Stattdessen wird nur auf 9 (Hochsinnigkeit), 13f (Nachahmung) und 15 (Vergegenwärtigung) Bezug genommen. Dennoch ist besagte Formel m.E. kaum beiläufig formuliert (vgl. D. A. RUSSELL: ebd.), sondern sehr wohl »logisch durchdacht« (J. H. KÜHN: UYOS, 47). Russells später geäußerte These vorausgesetzt, dass De subl. 10–12 den Charakter eines Exkurses zur Verteidigung Platons haben (vgl. Longinus Revisited, 77), kommen sie für die Summierung der Hauptlinie der Argumentation von 9–15 nicht in Betracht. Diese Hauptlinie lässt sich mit 15,12 folgendermaßen reformulieren: »Wer erhaben sprechen will, muss über erhabene Inhalte sprechen, d.h. er muss über ›große Gedanken‹ verfügen; dazu muss ihm ein Mindestmaß an Hochsinnigkeit eignen, die sich zudem durch Beschäftigung mit den hochsinnigen Genies der Klassik (Mimesis) und durch Training der Imagination (Phantasia) ausbilden lässt.« 85 9,2: uÄyow megalofrosußnhw aöphßxhma. Dass diese Wendung für Longin den Rang einer erhabenheitstheoretischen Grundformel hat, indiziert dessen Bekundung, er habe dieselbe schon an anderer Stelle publiziert (ebd.). Zudem fällt auf, dass die zitierte Wendung nur äußerlich an das Vorangehende angeschlossen ist. Es hat tatsächlich den Anschein, als greife Longin auf eine von ihm geprägte Formel zurück. 83
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stets mit hohen Gedanken gleichsam schwanger gehen zu lassen«86. Wer »hohe« und »edle« Ideen von klein auf in sich aufnimmt, der bildet – bei ausreichender Naturanlage – Hochsinnigkeit aus und erfüllt damit die wichtigste Bedingung erhabener Rede.87 Denn: eäxein deiq to?n aölhjhq rÖhßtora mh? tapeino?n froßnhma kai? aögenneßw. ouöde? ga?r oiWoßn te mikra? kai? douloprephq fronouqntaw kai? eöpithdeußontaw par’ oÄlon to?n bißon jaumastoßn ti kai? touq panto?w aiövqnow eöcenegkeiqn aäcion: megaßloi de? oiÖ loßgoi toußtvn, kata? to? eiökoßw, vWn aün eömbrijeiqw vQsin aiÖ eännoiai.88
Der wahre Redner darf keine niedrige und unedle Gesinnung haben. Es ist schließlich unmöglich, dass Menschen, die ihr ganzes Leben lang Kleines und Knechtisches denken und ersinnen, etwas hervorbringen, was der Bewunderung wert und der Ewigkeit würdig ist. Groß aber sind natürlicherweise die Worte derer, deren Gedanken gewichtig sind.
Die ersten Näherbestimmungen der Hochsinnigkeit sind mehr oder weniger tautologisch: Hochsinnig ist, wer weder von »niedriger« noch »unedler«, weder von »kleiner« noch »knechtischer« Sinnesart ist, wer vielmehr »gewichtige« Gedanken hegt. Es wird immerhin deutlich, dass es sich bei der megalophrosynê (mindestens zunächst) um eine charakterliche Qualität des Autors handelt. Zudem lässt die Antithese von ›edel‹ und ›knechtisch‹ einen aristokratischen Zug der anvisierten Tugend erkennen. Dem entspricht Longins literarisches Paradigma für die Hochsinnigkeit. Es ist der homerische Aias, dessen Schweigen in der Totenwelt89 wegen der darin sich darstellenden megalophrosynê »groß« ist und »erhabener als jedes Wort«90. Inwiefern sich in Aias’ Schweigen Hochsinnigkeit artikulieren soll, versteht sich freilich nicht unbedingt von selbst; drückt sich darin doch zunächst dessen Groll91 über die Zurücksetzung gegenüber Odysseus aus, letztlich also sein verletztes Ehrgefühl. Wenig später kommt Longin ein 86 9,1: ta?w yuxa?w aönatreßfein pro?w ta? megeßjh kai? vÄsper eögkußmonaw aöei? poieiqn gennaißou parasthßmatow. Vgl. Plat. symp. 209b: »Wer nun mit diesen [sc. Besonnenheit und Gerechtigkeit] von Jugend an in seiner Seele schwanger geht (toußtvn d’ auQ, oÄtan tiw eök neßou eögkußmvn h#Q th?n yuxh?n) …« 87 Den zitierten Satz kann man – zusammen mit den Ausführungen über fußsiw und teßxnh von De subl. 2 – als Begründung für das pädagogische Programm von Peri Hypsous
lesen, insofern sich die Schrift gut als Sammlung ›hoher Gedanken‹ aus der klassischen Literatur verstehen lässt, anhand derer – samt den entsprechenden literaturkritischen Reflexionen – ein Schüler der »Rhetorik« seine Hochsinnigkeit nähren kann. 88 9,3. 89 Hom. Od. 11,543–563. Nachdem Aias im Streit um die Waffen des toten Achill dem Odysseus unterlegen ist, nimmt er sich aufgrund dieser Ehrverletzung das Leben. Als ihm nun Odysseus in der Unterwelt begegnet, ihn mit »schmeichelnden Worten« anspricht und bittet, seinen Groll doch endlich zu mildern, da – schweigt Aias und verschwindet. 90 9,2. 91 Od. 11,554: xoßlow.
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Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
zweites Mal auf Aias zu sprechen, diesmal als Idealbild ›heroischer Größe‹92. Als nämlich die Griechen in der Schlacht mit den Troern auf Geheiß des Zeus plötzlich von Dunkelheit umhüllt und so am Kämpfen gehindert werden, ruft Aias, da »seine Tapferkeit durch die lähmende Finsternis gehindert ist, Edles zu vollbringen«: »Zeus Vater, hilf du aus dem Nebel den Söhnen Achaias, schaff Klarheit und gib unsern Augen zu sehen. Im Licht doch verdirb uns!«93 Aias’ Streben nach Ruhm ist so groß, dass er den Tod der ehrabschneidenden Passivität in der Schlacht vorziehen würde. Selbige aristokratische Gesinnung, das unbedingte Verlangen nach Ehre und Anerkennung, scheint Aias in den Augen Longins »heroisch-groß« zu machen.94 Es lässt sich festhalten, dass mit Hochsinnigkeit augenscheinlich heroisch-aristokratische Charakterzüge assoziiert werden, offenbar nicht zuletzt das Streben nach Ehre. Um über diese vagen Bestimmungen hinauszugelangen, die der These vom Erhabenen als Resonanzform von Hochsinnigkeit noch keineswegs Evidenz verleihen, werden weitere Äußerungen Longins zu befragen sein. Zuvor sollen jedoch die begriffsgeschichtlichen Voraussetzungen der fraglichen These etwas näher in Betracht gezogen werden. Sie sind am besten bei Platon und Aristoteles sowie, was die Stoa betrifft, bei Cicero zu greifen. 3.2.2. Hochsinnigkeit bei Platon, Aristoteles und Cicero Den Ausführungen zur Begriffsgeschichte ist vorauszuschicken, dass die antike Tugend der Hochsinnigkeit schon im Griechischen mit verschiedenen Ausdrücken bezeichnet werden kann. Noch häufiger als megalophrosynê begegnet der Terminus megaloyuxißa (megalopsychía), der auch der lateinischen Begriffsbildung magnanimitas bzw. magnitudo animi zugrundeliegt. Ähnlich viele Wiedergabemöglichkeiten gibt es im Deutschen. Neben Schleiermachers Ausdruck ›Hochsinnigkeit‹ kann jene Tugend als ›hoher Sinn‹, ›Hochherzigkeit‹, ›Großgesinntheit‹, ›Großmut‹ oder ›Seelengröße‹ firmieren. In dieser Uneinheitlichkeit spiegelt sich, so viel lässt sich den folgenden Ausführungen bereits vorwegnehmen, eine gewisse Unschärfe im Begriffsumfang selbst wider. Was den deutschen Sprachgebrauch betrifft, kann sie zudem als Reflex des Umstands aufgefasst werden, dass sich der Terminus im ethischen Diskurs der europäischen Moderne nicht endgültig etablieren konnte. Dass die Hochsinnigkeit unter dem Titel der ›Großmut‹ in der deutschsprachigen Ethik des 17. und frühen 18. Jahrhundert durchaus 92
9,10: hÖrvi_ko?n meßgejow. 9,10 (R.B.); Il. 17,645ff. Vgl. zur Stelle unten Kap. 4.1.1.3. 94 Dies konvergiert mit der Wertung eines anderen Homerauslegers, der Aias mit Bezug auf die fragliche Stelle »hochgesinnt« (megaloßfrvn) nennt. Siehe W. BÜHLER: Beiträge, 39. 93
3. Die konstruktiven Leitbegriffe von ›Peri Hypsous‹
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noch präsent war, wird im zweiten Teil dieser Arbeit zur Sprache kommen.95 Für die Tugend der Hochsinnigkeit ist in der Antike offenbar die Figur des Aias ein geläufiges Muster.96 Auch Aristoteles bezieht sich im fraglichen Zusammenhang auf den homerischen Helden. So führen die Analytica Posteriora Aias (neben Achill und Alkibiades) als Beispiel des ersten zweier Hochsinnigkeitskonzepte an, mit deren Unterscheidung Aristoteles zwei begriffsgeschichtliche Wurzeln der fraglichen Tugend freilegt. Demnach bedeutet Hochsinnigkeit auf der einen Seite das »Sich-nicht-Abfinden-Wollen mit Schande«97, d.h. ein unbeugsames Ehrverlangen, das dem eigenen Namen ein unsterbliches Andenken sichern will und daher eifersüchtig auf Vergeltung einer jeden Ehrverletzung aus ist oder – im Falle des Aias – lieber den Tod wählt als ein Weiterleben in Schande. Fundamentales Signum solchen Ehrverlangens ist das unablässige Streben, sich hervorzutun: »immer der Beste zu sein und ausgezeichnet vor andern«98. Dieser aristokratischheroischen Vorstellung von Hochsinnigkeit steht auf der anderen Seite ein Verständnis gegenüber, das Hochsinnigkeit als ein »Sich-nicht-ErschütternLassen durch das Geschick«99 auffasst. Als Idealtyp für solchen Gleichmut gegenüber den Fährnissen des Lebens wird Sokrates vor Augen gestellt, »dessen Miene in guten wie in bösen Tagen sprichwörtlich semper idem war«100. Beide Konzeptionen bringt Aristoteles in seiner eigenen Hochsinnigkeitstheorie zur Geltung, mit der er besagte Tugend »systematisch in die philosophische Ethik der Antike ein[ ]führt«101. Dabei begreift Aristoteles die Geringschätzung alles dessen, was für den gewöhnlichen Menschen im positiven wie im negativen Sinne Gewicht hat, als essentielles Moment recht verstandener Hochsinnigkeit. Denn hochsinnig ist, so die prägnante For-
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S.u. Teil II/Kap. 1.2.4, 3.2.1, 3.2.3, 3.4.3 u. 5.2.1. Vgl. zum Folgenden J. PROCOPÉ: Art. Hochherzigkeit (megaloyuxißa); W. HAASE: Art. Großmut; D. A. HORNER: What it takes to be great. Aristotle and Aquinas on Magnanimity; R. POLANSKY/J. STOVER: Moral virtue and Megalopsychia. 97 Aristot. an. post. 97b 15/26: hÖ mh? uÖpomonh? aötimazomeßnvn (Übers. J. PROCOPÉ: aaO. 766). 98 Il. 11,784: aiöe?n aöristeußein kai? uÖpeißroxon eämmenai aällvn (Übers. R. HAMPE). Die zitierte Maxime trägt Peleus seinem Sohn Achilleus auf, der sie denn auch nach Kräften beherzigt. Seine Entscheidung, den Gefährten Patroklos zu rächen im Wissen, dabei selbst umzukommen, »blieb ein klass[isches] Beispiel für megaloyuxißa« (J. PROCOPÉ: aaO. 768; vgl. Aristot. rhet. 1359a3ff). 99 An. post. 97b23: aöpaßjeia hÖ peri? ta?w tußxaw (Übers. J. PROCOPÉ: aaO. 767). 100 J. PROCOPÉ: aaO. 776; vgl. an. post. 97b21; ferner Cic. off. 1,90: »Nam ut adversas res, sic secundas immoderate ferre levitatis est praeclaraque est aequabilitas in omni vita et idem semper vultus eademque frons, ut de Socrate idemque de C. Laelio accepimus«. 101 W. HAASE: Art. Großmut, 887. 96
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mulierung der Nikomachischen Ethik, wem »nichts groß ist«102 – nichts von all dem, so darf ergänzt werden, was die Menschen sonst für »groß« halten, für erstrebens- oder für beklagenswert. Um die megalopsychia – so der aristotelische Terminus – vollständig zu charakterisieren, muss jene Formel freilich ergänzt werden: ›Hochsinnig ist, wem nichts groß ist außer der Wert (bzw. die Würde) seinerselbst.‹103 Indem Aristoteles die eigene ›Würde‹ als die entscheidende Größe fokussiert, angesichts derer dem Hochsinnigen alles andere – einschließlich des eigenen Lebens – unbedeutend wird, schreibt er das aristokratisch-heroische Modell von Hochsinnigkeit fort; zumal er die fragliche Tugend ausdrücklich in engen Zusammenhang mit dem Begriff der Ehre bringt.104 Allerdings ist das Gefühl für die eigene Würde beim wahrhaft Hochsinnigen so stark, dass ihm letztlich »selbst die Ehre klein ist«105, die ihm von anderen zuteil wird. Hier ist gegenüber den homerischen Vorstellungen von Hochsinnigkeit eine Modifikation zu vermerken. Der aristotelische megaloßyuxow ist nicht mehr identisch mit dem filoßtimow, dem Ehrgeizigen.106 Vielmehr duldet er Ehrungen eher, als dass er sie sucht.107 Die Ehre und Achtung anderer kann für den Hochsinnigen kein Wert an sich sein, sondern nur angemessener Reflex seines Ranges, der ihm letztlich unabhängig von der Anerkennung anderer bewusst ist. Somit ist aus der vormaligen Haltung unstillbaren Ehrverlangens bei Aristoteles die »Tugend gerechtfertigter Selbstachtung«108 geworden. 102
Eth. Nic. 1123b32: v#W g’ ouöde?n meßga; vgl. 1125a3 und 1125a15, wo oÖ mhde?n meßga oiöoßmenow geradezu synonym mit oÖ megaloßyuxow verwendet wird. 103 Die grundlegende Definition lautet: dokeiq dh? megaloßyuxow eiQnai oÖ megaßlvn auÖto?n aöcivqn aäciow vän (»Großgesinnt scheint zu sein, wer sich großer Dinge für würdig hält und es auch ist«; eth. Nic. 1123b1f; Übers. O. GIGON). 104 Als der größte ›Wert‹ (aöcißa) nämlich ist die Ehre (timhß) anzusehen (1123b15ff), und von daher »zeigt sich, dass es die Großgesinnten mit der Ehre zu tun haben (peri? timh?n eiQnai). Denn sie halten sich vorzugsweise der Ehre für wert, und zwar der ihnen gebührenden Ehre« (1123b22ff; Übers. O. GIGON). 105 Eth. Nic. 1124a19: v#W de? kai? hÖ timh? mikroßn eösti. 106 Siehe eth. Nic. 1125b1ff. 107 Vgl. eth. Nic. 1124a5ff. 108 J. PROCOPÉ: Art. Hochherzigkeit, 766. Diese Selbstachtung ist nun freilich nicht ganz und gar unabhängig von äußeren Verhältnissen. Dem Gefühl für den eigenen, hervorragenden Rang muss auch äußerlich ein ›Hervorragen‹ (uÖperoxhß) korrespondieren: der Hochsinnige will selbst »hervorragen«, sprich: er »will überlegen sein« (1124b14: boußletai d’ uÖpereßxein). Es bringt sich hier das alte Motiv vom aiöe?n aöristeußein kai? uÖpeißroxon (!) eämmenai aällvn (Il. 11, 784; s.o.) zur Geltung. In der Maxime, immer hervorragen zu wollen, gründet auch der Affekt des zhqlow, des ›Eifers‹, den Aristoteles in der Rhetorik folgerichtig mit der Hochsinnigkeit in Zusammenhang bringt (1388b3). – Die megalopsychia findet (neben der Nennung in Tugendlisten: 1362b12; 1366b2.17) noch an zwei weiteren Stellen der Rhetorik Erwähnung, nämlich innerhalb der Typologie der Lebensalter. Während die Jungen ›hochsinnig‹ sind – »denn sie sind vom Leben noch nicht gedemütigt
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Wem aber selbst Ehre wenig bedeutet, der sieht erst recht auf alles andere herab,109 am meisten auf die »Notwendigkeiten und Kleinigkeiten«110 des täglichen Lebens. Und wenn es eine Gefahr verlangt, dann »schont« er auch »sein Leben nicht, da es sich nicht lohnt [wörtlich: es nicht wert ist; M.F.], unter allen Umständen zu leben«111. Des Hochsinnigen Wissen um den eigenen Rang hat ein solches Gewicht, dass es selbst den Wert des Lebens vergleichsweise unwichtig werden lässt.112 Überhaupt können die Fährnisse des Schicksals den Hochgesinnten nicht schrecken. Sein Bewusstsein der eigenen Würde lässt es nicht zu, sich »im Glück übermäßig [zu] freuen oder im Unglück übermäßig [zu] betrüben«113. Vielmehr weiß er »heiter vieles und großes Unglück [zu tragen]«114. Denn wem »selbst die Ehre klein ist, dem auch alles andere«115. Aus den Zitaten wird deutlich, dass die ›Apathie gegenüber dem Geschick‹ – in den Analytica Posteriora noch als eigenständiges Konzept von Hochsinnigkeit angeführt – in der Nikomachischen Ethik als ein Moment der megalopsychia rangiert, die ihr Grundmotiv, das »Gefühl des großen Mannes für sein eigenes Format«116, vom aristokratisch-heroischen Modell der Hochsinnigkeit bezieht. Auch der Gleichmut gegenüber dem äußeren Schicksal wird von Aristoteles auf den Sinn für den Wert der eigenen Person zurückgeführt, der eine Geringschätzung aller äußeren weltlichen Werte impliziert, einschließlich des Lebensglücks und sogar des Lebens selbst.
worden« (1389a30) –, »streben« die Alten »nach nichts Großem und Außerordentlichem […], sondern nach den Dingen des täglichen Lebens« (1389b26f: ouödeno?w ga?r megaßlou ouöde? perittouq aölla? tvqn pro?w to?n bißon eöpijumouqsi). Es ist zudem ein Zeichen ihrer ›Kleinsinnigkeit‹ (mikroyuxißa), dass sie sich mehr als nötig selbst lieben (1389b35); »ihr Leben richtet sich« daher »am Vorteil aus, nicht am Edlen, mehr als es zulässig ist« (1389b36f). 109 Das bringt ihm den ungerechtfertigten, aber naheliegenden Vorwurf ein, ein ›Verächter‹ (uÖperopthßw; wörtlich: »Von-oben-herab-Seher«; eth. Nic. 1124a20), also hochmütig zu sein. Denn tatsächlich betrachtet er die Dinge von oben herab. Sein »Sinn« ist über die Dinge hinaus: Er ist katafronhtikoßw (1124b29), das heißt: Er kümmert sich nicht um das, worum sich andere kümmern und auch nicht darum, was andere von ihm denken. 110 Eth. Nic. 1125a9: aönagkaiq[a] hü mikr[aß]. 111 Eth. Nic. 1124b8f: aöfeidh?w touq bißou vÖw ouök aäcion oün paßntvw zhqn. 112 Hier gibt es Berührungen zwischen den Tugenden Hochsinnigkeit und Tapferkeit, insofern beide eine außerordentliche Haltung in Gefahrensituationen bedeuten: eine heroische Gefasstheit im Angesicht des Todes. Jene Tugenden bezeichnen gleichsam die beiden Seiten dieser Gefasstheit: Während der ›Hochsinnige‹ – in Anbetracht seiner Würde – den Wert des Lebens zu relativieren weiß, kann der ›Tapfere‹ dem ›Furchtbaren‹ (eth. Nic. 1115a24: to? foberoßn) standhalten (1115a25.b18.23: uÖpomeßnein). 113 Eth. Nic. 1124a15f: kai? ouät’ euötuxvqn perixarh?w eästai ouät’ aötuxvqn perißlupow. 114 Eth. Nic. 1100b32f: [feßrein] euökoßlvw polla?w kai? megaßlaw aötuxißaw. 115 Eth. Nic. 1124a19: v#W de? kai? hÖ timh? mikroßn eösti, toußtv# kai? taQlla (Übers. M.F.). 116 J. PROCOPÉ: Art. Hochherzigkeit, 766.
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Damit weicht Aristoteles von dem philosophischen Hochsinnigkeitsbegriff ab, wie ihn Platon geprägt hat (wenn er auch den Begriff noch nicht terminologisch gebraucht).117 Nach dieser Auffassung gründet die Indifferenz gegenüber den gewöhnlichen Werten sowie gegenüber dem Geschick weniger in einem aristokratisch-heroischen Selbstbewusstsein als eben in einer spezifisch »philosophischen« Perspektive auf die Welt, welche den Hochsinnigen über seine unmittelbaren Lebensumstände hinaushebt. Entscheidend ist hier nicht der Blick für den Adel seinerselbst, sondern die »Fähigkeit, sich durch den weiteren Blick auf Natur und Kosmos über persönliches Missgeschick« und über die Belange des gewöhnlichen Lebens »zu erheben«118. Urbild dieser Konzeption von Hochsinnigkeit ist Platons Charakterisierung des Philosophen. Einer Seele, die die Wahrheit liebt119 und alle »Kenntnisse«, welche ihr »etwas offenbaren von jenem Sein, welches immer ist und nicht durch Entstehen und Vergehen unstet gemacht wird«120; einer Seele also, »welche überall das Ganze und Vollständige anstreben soll, Göttliches und Menschliches«121, ist jede Art von »Kleinlichkeit« (smikrologißa) fremd. Daher kann einem Geist, der »mit edler Denkungsart« (megalopreßpeia) und mit einem Blick für die Gesamtheit des Seins begabt ist, »das menschliche Leben nicht als etwas Großes erscheinen«122. Wer den Blick auf das bleibende Ganze des Seins richtet, auf die Idee eines jeden Seienden,123 dem erscheinen die Wechselfälle des eigenen, partikularen Lebens als zufällig und unbedeutend. Überhaupt hält ein solch philosophischer Geist die Angelegenheiten des Alltags, das, »was vor den Füßen oder sonst vor aller Augen 117 In rep. 496b spricht Platon von der ›großen Seele‹ (megaßlh yuxhß), die für das Leben als Philosoph prädestiniert; vgl. ferner symp. 194b. 118 J. PROCOPÉ: aaO. 776. 119 Rep. 485c. 120 Rep. 485b: maßjhma oÜ aün auötoiqw dhloiq eökeißnhw thqw ouösißaw thqw aöei? ouäshw kai? mh? planvmeßnhw uÖpo? geneßsevw kai? fjoraqw. Die Übersetzungen der Platon-Stellen stammen, wo nicht anders vermerkt, von F. SCHLEIERMACHER. 121 Rep. 486a: yuxh#q melloußsh# touq oÄlou kai? panto?w aöei? eöporeßcesjai jeißou te kai? aönjrvpißnou. 122 Rep. 486a: meßga ti dokeiqn eiQnai to?n aönjrvßpinon bißon (Übers. J. PROCOPÉ, 777). Wie ein Kommentar zu dieser Politeia-Stelle liest sich das Bild des Philosophen, wie es Tht. 173e zeichnet: »[I]n der Tat wohnt nur sein Körper im Staate und hält sich darin auf; sein Geist (diaßnoia) aber, dieses alles für gering haltend und nichtig (tauqta paßnta hÖghsameßnh smikra? kai? ouödeßn), schweift verachtend (aötimaßsasa) […] überall umher, […] jegliche Natur alles dessen, was ist, im ganzen erforschend (paqsan paßnth# fußsin eöreunvmeßnh tvqn oäntvn eÖkaßstou oÄlou), zu nichts aber von dem, was in der Nähe ist, sich herablassend (eiöw tvqn eöggu?w ouöde?n auÖth?n sugkajieiqsa)«. Statt auf das vor Augen liegende Einzelne zu achten, ist es seine Sache, »immer auf das Ganze zu blicken (175a: eiöw to? paqn aöei? bleßpein)«. 123 Rep. 486d.
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ist«124, für unbedeutend. »Indem er […] menschlicher Bestrebungen sich enthält und mit dem Göttlichen umgeht«125, gleicht er, »nur hinaufwärts schauend und, was drunten ist, gering achtend«126, einem Vogel. Sein Aufsteigen in die Sphäre der göttlichen Ideen ist geradezu ein Stufenweg fortschreitender Geringschätzung alles Irdisch-Einzelnen.127 Mit Platon lässt sich der »Blick nach oben«, der hinaussieht über das, »was drunten ist«, als allgemeines Kennzeichen der Hochsinnigkeit festhalten. Das »Über-die-Dinge-hinaus-Sehen« bzw. »Über-den-Dingen-Stehen« ist ihre Substanz, der Punkt, in der alle Konzeptionen nämlicher Tugend konvergieren. Hochsinnigkeit, so lässt sich vorläufig zusammenfassen, heißt im Kern: das Trachten nach dem wahrhaft Großen bei gleichzeitiger Geringschätzung des nur scheinbar Wichtigen. Dieses kann dabei ganz unterschiedlich bestimmt werden: Von den Besorgungen des täglichen Lebens über materiellen Besitz128 und überhaupt alle Glücksgüter, die das Schicksal schenken aber auch entreißen kann, bis hin zum Leben selbst reichen die Scheinwerte, über die des Hochsinnigen »Blick nach oben« hinwegsieht. Vor allem aber divergieren die Vorstellungen von dem fundamentalen Movens der Hochsinnigkeit; von dem also, worauf sich selbiger »Blick nach oben« richtet, um sich zugleich über die »Kleinigkeiten« des Lebens zu erheben. Der entscheidende Wert, den der Hochsinnige anvisiert, ist demnach entweder die eigene Würde, in deren Licht alles andere im Leben unerheblich erscheint; oder es ist ein philosophisches Suchen nach dem idealen Sein, dem Ganzen, der Wahrheit oder der Idee, das jegliche Aufmerksamkeit für die vergänglichen Einzelheiten der Wirklichkeit schwinden lässt. Nach dieser Zwischenbilanz ist eine weitere klassische Fassung der fraglichen Tugend zu erörtern. Diese Fassung, die sich bei Cicero findet, sich aber im wesentlichen stoischen Quellen verdankt, ist insofern von besonderem Interesse, als sie zum einen Hochsinnigkeit und Tapferkeit zusammenschließt, zum anderen innerhalb der Hochsinnigkeit das aristokratische Mo124
Tht. 174c: t[a?] para? poßdaw kai? t[a?] eön oöfjalmoiqw. Phaidr. 249c: eöcistaßmenow de? tvqn aönjrvpißnvn spoudasmaßtvn kai? pro?w tvq# jeißv# gignoßmenow. 126 Phaidr. 249d: bleßpvn aänv tvqn kaßtv de? aömelvqn. 127 Vgl. symp. 210a ff; 210b: katafronhßsanta kai? smirko?n hÖghsaßmenon. – Vgl. auch die Beschreibung der guten bzw. schlechten Seelen und ihres jeweiligen Schicksals Phaid. 80e–81e; ihrzufolge zeichnet sich die schlechte Seele insgesamt dadurch aus, »dass sie glaubt[ ], es sei überhaupt nichts anderes wahr als das Körperliche (vÄste mhde?n aällo dokeiqn eiQnai aölhje?w aöll’ hü to? svmatoeideßw), was man betastet und sieht, ißt und trinkt und zur Liebe gebraucht« – während die gute Seele sich über eben dies Körperliche erhebt –, und dass »sie das für die Augen Dunkle und Unsichtbare, der Vernunft hingegen Faßliche und mit Weisheitsliebe zu Ergreifende gewohnt […] ist zu hassen« (81b) – während die gute Seele ihren ›Blick nach oben‹ genau auf dieses richtet. 128 Vgl. etwa rep. 485e. 125
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tiv der Würde und das philosophische Motiv des Strebens nach dem Idealen auf neuartige Weise miteinander verklammert – womit sie eine wichtige Station auf dem Weg zu Longins Verständnis von megalophrosynê repräsentiert. Nach Aristoteles wurde die Hochsinnigkeit eine feste Größe in den Tugendlehren der hellenistischen Philosophie,129 wobei sie in der stoischen Ethik eine besonders zentrale Stellung einnimmt.130 Hier kann sie, wie bei Cicero belegt,131 als eine Form von Tapferkeit (aöndreißa, fortitudo), neben Weisheit (sofißa, sapientia), Gerechtigkeit (dikaiosußnh, iustitia) und Mäßigung (svfrosußnh, temperantia bzw. modestia) sogar in die Reihe der vier Kardinaltugenden einrücken, als fundamentale Bedingung der Sittlichkeit und Seelenruhe des stoischen Weisen. Schon bei der ersten Erwähnung in De officiis wird der Terminus magnitudo animi (›Seelengröße‹)132 durch eine Apposition näher bestimmt: An der Wendung »Seelengröße und Geringschätzung der menschlichen Dinge«133 ist sogleich abzulesen, dass auch Cicero in der Erhebung über die Belange und Besorgungen des gewöhnlichen Lebens ein wesentliches Element des Hochsinnigkeitsbegriffes erblickt. Seine denkbar allgemeine Formel, umfasst dabei den Gleichmut sowohl gegenüber den Scheingütern als auch gegenüber den Scheinübeln des Lebens: Nam et ea, quae eximia plerisque et praeclara videntur, parva ducere eaque ratione stabili firmaque contemnere fortis animi magnique ducendum est, et ea, quae videntur acerba, quae multa et varia in hominum vita fortunaque versantur, ita ferre, ut nihil a statu naturae discedas, nihil a dignitate sapientis, robusti animi est magnaeque constantiae.134
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Denn sowohl das, was den meisten hervorragend und ausgezeichnet zu sein scheint, für gering zu halten und es aus gleichbleibendem und festem Grundsatz zu verachten, ist als Erweis tapferer und hoher Gesinnung anzusehen, und das, was bitter scheint, was vielfach und in mannigfacher Erscheinung im Schicksal eines Menschenlebens vorkommt, so zu ertragen, dass du dich keineswegs vom Zustand der Natur entfernst, keineswegs von der Würde des Weisen, das ist
Vgl. dazu J. PROCOPÉ: Art. Hochherzigkeit, 777f. Vgl. immer noch U. KNOCHE: Magnitudo Animi. Untersuchungen zur Entstehung und Entwicklung eines römischen Wertgedankens. 131 Vgl. Cic. off. 1,11ff, bes. 61–92. Für Ciceros Hochsinnigkeitsverständnis ist vor allem die Schrift De officiis einschlägig, für die der Stoiker Panaitios als Hauptquelle diente. Wenn im Folgenden von ›Cicero‹ die Rede ist, ist in den meisten Fällen daher eigentlich ›Cicero bzw. Panaitios‹ zu lesen. Auf die Frage der Originalität von Ciceros Ausführungen kommt es hier nicht an. 132 Vereinzelt finden sich auch die Begriffe elatio (z.B. 62) oder altitudo animi (88). 133 Off. 1,13: magnitudo animi humanarumque rerum contemptio. Vgl. 1,66 die Variante rerum externarum despicientia. 134 Off. 1,67. Wenn nicht anders ausgewiesen, wird die Übersetzung von H. GUNERMANN verwendet. 130
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Beweis einer kraftvollen Gesinnung und hohen Beständigkeit.
Die Beschreibung dessen, worauf der Hochsinnige in seiner Größe herabsieht (vgl. de-spicientia), liest sich als prägnante Zusammenfassung dessen, was in der vorausgehenden Geschichte des Begriffs als die negative Seite der Hochsinnigkeit beschrieben wurde. Neu ist der Bezug auf den Naturbegriff und die Art, wie sich Cicero auf die ›Würde‹ bezieht – wovon noch zu sprechen sein wird. Neu ist außerdem, dass die Geringachtung von Gütern wie von Übeln unter das stoische Apathietheorem subsumiert wird. Magnitudo animi bedeutet »Freiheit von jeglicher Leidenschaft«135: sowohl Freiheit von Furcht bzw. Schmerz angesichts der Schläge des Schicksals136 (einschließlich des Todes)137, als auch Freiheit von Begierde bzw. Vergnügen hinsichtlich Reichtum, Ruhm138 oder körperlicher Lust139. Die Früchte solcher Freiheit von Leidenschaft sind »Seelenruhe und Sorglosigkeit«140. Das eigentliche Movens der magnitudo animi ist damit noch nicht genannt. Denn die Seelenruhe ist Folge, nicht Beweggrund der Hochsinnigkeit. Als diesen Beweggrund, als die positive Motivation der rerum externarum despicientia, bezeichnet Cicero vielmehr die Überzeugung, »dass ein Mensch nur, was ehrenvoll und schicklich ist, bewundern, wünschen oder erstreben […] dürfe«141. Mit anderen Worten: Der Hochsinnige hat seinen ›Blick nach oben‹ über die res humanae hinweg stets auf das honestum decorumque gerichtet. In dieser Ausrichtung gründet der ›hohe Sinn‹ mit seiner ›Geringschätzung der äußeren Dinge‹. Mit dem Begriff des honestum (das ›Ehrenhafte‹), den Cicero als Pendant von kaloßn (das ›Gute‹) gebraucht,142 übernimmt Cicero offenkundig das alte platonische Motiv des philosophischen Strebens nach dem Idealen.143 Mit dem decorum (das ›Schickliche‹) – lateinisches Äquivalent für das 135
Ebd.: ab omni animi perturbatione liber[tas]. Vgl. off. 1,68f. 137 Vgl. off. 1,81; ferner Tusc. 1,95f; 4,51. 138 Vgl. off. 1,68. Cicero distanziert sich wesentlich deutlicher noch als Aristoteles von dem Streben nach Ruhm, das er immer wieder als die größte Versuchung der ›Seelengröße‹ geißelt; vgl. 1,26.64.65.68.87. 139 Vgl. off. 1,106. 140 Off. 1,69: tranquillitas animi et securitas. Als Freiheit von jeglicher Leidenschaft überschneidet sich die magnitudo animi mit der Tugend der temperantia bzw. modestia, insofern diese die omnis[ ] sedatio perturbationum animi (»die völlige Beherrschung der Leidenschaften«; 93) beinhaltet. 141 1,66: nihil hominem nisi quod honestum decorumque sit aut admirari aut optare aut expetere oportere. 142 Vgl. H. GUNERMANN: Nachwort, 426f. 143 Zum ideellen Charakter des honestum vgl. 1,14 und 1,15, wo Cicero an hervorgehobener Stelle Platon zitiert. 136
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griechische preßpon144 – kommt hingegen noch ein anderes Motiv ins Spiel. Besagt die Orientierung des Hochsinnigen am honestum, dass er das schlechthin achtungswürdige Ideal des Guten zum Leitstern seines Handelns erkoren hat, bedeutet seine Bezugnahme auf das decorum – so die These der vorliegenden Interpretation –, dass er sein Handeln zugleich an der ›Natur‹ des Menschen ausrichtet, genauer: an dessen natürlicher ›Würde‹. Demzufolge fallen gemäß Ciceros Formel vom honestum decorumque im Ethos des Hochsinnigen das philosophische Prinzip des Guten mit dem aristokratischen Prinzip der Würde – in einer seinen Anfängen gegenüber universalisierten Form – zusammen. Im Folgenden soll jene These belegt werden, indem das Motiv der naturgegebenen Würde des Menschen als heimliches Zentralmotiv der ciceronischen bzw. von Cicero rezipierten Idee von Hochsinnigkeit ausgewiesen wird.145 Im Rahmen der Darstellung der Mäßigung bestimmt Cicero das decorum (nach einer stoischen Definition) als das, »was übereinstimmt mit dem Herausragen des Menschen in dem, worin seine Natur sich von den übrigen Lebewesen unterscheidet«146. Das decorum bezeichnet die Angemessenheit der Lebensführung des Einzelnen bezüglich der Vorzugsstellung des Menschen überhaupt. Wie ein Dichter die Äußerungen und Handlungen seiner Figuren der jeweiligen Rolle (persona) »auf den Leib schreibt«, um das decorum zu verwirklichen – das Zusammenstimmen der dichterischen Gestaltung mit der ihr vorgegebenen Rolle –, so ist der Mensch dazu berufen, in Wort und Tat mit der ihm als Menschen von der Natur verliehenen Ausnahmerolle auf der Weltbühne übereinzustimmen.147 144
Vgl. off. 1,93. Nämliches Motiv bleibt zwar im Rahmen von Ciceros Behandlung der Kardinaltugend Hochsinnigkeit selbst weitgehend inexplizit; es finden sich hier lediglich begriffliche Überschneidungen, etwa wenn Cicero von der dignitas des Weisen (off. 1,67) oder von excellentes animi (ebd.) spricht (zu diesen Begriffen: s.u.). Reflexionen über das decorum und über die menschliche ›Würde‹ finden sich vor allem im Zusammenhang der Ausführungen über die vierte Kardinaltugend der ›Mäßigung‹; zu den Gründen dieser Verschiebung siehe Anm. 148. 146 Off. 1,96: quod consentaneum sit hominis excellentiae in eo, in quo natura eius a reliquis animantibus differat (Übers. M.F.). Cicero differenziert hier zwischen einem allgemeinen Begriff des decorum (generale quoddam decorum) und einem untergeordneten Begriff (aliud huic subiectum [decorum]). Jenes allgemeine decorum, auf das sich die zitierte Definition bezieht, »findet sich in jeder Ehrenhaftigkeit« (in omni honestate versatur), d.h. es ist ein Implikat des honestum. Dieses Implikat näher zu beleuchten und für das Verständnis des Hochsinnigkeitsbegriffs fruchtbar zu machen, ist das Ziel der obigen Ausführungen. – Vgl. off. 1,97: »nobis autem personam imposuit ipsa natura magna cum excellentia praestantiaque animantium reliquarum«. 147 Cicero legt mit der Norm der Übereinstimmung der Lebensführung mit der Exzellenz der menschlichen Natur eine spezifische Fassung der allgemeinstoischen Maxime vom secundum naturam vivere (»Leben gemäß der Natur«) vor. 145
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Cicero selbst bezieht diesen Gedanken im vorliegenden Kontext – offenbar aus dispositionellen Gründen148 – lediglich auf die Tugend der Mäßigung.149 Der sachlich angemessene Ort wäre eigentlich die Darstellung der magnitudo animi, die Cicero immerhin zuallererst als Ausgerichtetsein auf das honestum decorumque bestimmt hat. Dass der Hochsinnige in seinem Handeln stets das decorum anvisiert, bedeutet nach den zitierten Bestimmungen aus den Passagen über die modestia,150 dass er sein Leben in Übereinstimmung mit der naturgegebenen Sonderrolle des Menschen zu führen versucht. Dies wiederum impliziert, dass er sich in allem Tun und Lassen vergegenwärtigt, »welch überlegene Stellung und Würde in unserer Natur liegt«151. Wie der Dichter bei der Gestaltung der Rolle durchgängig deren spezifischen Charakter im Blick haben muss, so hält sich auch der Hochsinnige stets die dem Menschen verliehene Würde vor Augen, der es mit dem eigenen Leben gerecht zu werden gilt. Aus der Zusammenschau der Hochsinnigkeitsdefinition und der späteren Definition des decorum (generale) ergibt sich, dass der Hochsinnige nicht allein vom Ideal des Guten beseelt ist, sondern zugleich vom Ideal der Exzellenz und Würde des Menschen.152 Angesichts der menschlichen Exzel148 Dass Cicero die Norm der Übereinstimmung des Handelns mit der Vorzugsstellung des Menschen nicht explizit auf die Hochsinnigkeit bezieht, ist offensichtlich dem Tatbestand geschuldet, dass er – systematisch unglücklich – das decorum als Ganzes im Rahmen der vierten Kardinaltugend abhandelt, trotz der fundamentalen Differenz von decorum generale und decorum subiectum. Der Sache nach wäre das decorum generale – quod in omni honestate versatur (off. 1,96) – als Implikat des honestum zuerst im Zusammenhang der (äußerst knappen) fundamentalethischen Überlegungen zum Prinzip des ›Ehrbaren‹ am Platz, also im Rahmen der Ableitung des honestum aus der Natur (1,11ff). Insofern dort der natürliche Unterschied zwischen Mensch und Tier – inhaltlich: des Menschen Vernunftbegabung – als Basisargument für die schlechthinnige Achtungswürdigkeit des honestum fungiert, ist das decorum generale, i.S. eines allgemeinen Prinzips der Korrespondenz des sittlichen Handelns mit der menschlichen Ausnahmestellung, aber lediglich unausdrücklich thematisch. Innerhalb der ciceronischen Tugendlehre erwartet man das decorum generale eigentlich im Rahmen der Entfaltung der magnitudo animi, der als einziger Tugend ein unmittelbarer Bezug auf das honestum decorumque bescheinigt wird. Den übrigen Kardinaltugenden kommt ein solcher Bezug nur in einem mittelbaren Sinn zu, insofern sie ein je eigenes Telos verfolgen – das Wahre, Gerechte und Maßvolle – das sich jeweils vom übergeordneten Ziel des honestum decorumque ableitet (vgl. off. 1,11ff.15). 149 Demnach ist dem Menschen »von Natur die Rolle der Charakterfestigkeit, Mäßigung, Beherrschtheit und der Zurückhaltung auferlegt« (off. 1,98). 150 Off. 1,93ff. 151 Off. 1,106: quae sit in natura nostra excellentia et dignitas. Vgl. zu Ursprung und Wirkungsgeschichte dieses Gedankens U. BARTH: Herkunft und Bedeutung des Menschenwürdekonzepts. Der Wandel der Gottebenbildlichkeitsvorstellung. 152 Für Cicero fungiert der Gedanke der Übereinstimmung des Handelns mit der ›Exzellenz‹ der menschlichen Natur explizit als heuristisches Prinzip für das Auffinden des rechten Handelns. So spricht er von der gemeinsamen Auszeichnung aller Menschen ge-
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lenz erscheinen die res humanae bzw. externae, alles Nur-Menschliche und Äußerliche, als nichtig und die Befangenheit in solchen Nichtigkeiten als unangemessen und schändlich.153 So ist dem Hochsinnigen auch alles Spielerische nur in engen Grenzen legitim, weiß er sich doch »eher zum Ernst und zu gewissen bedeutsameren und größeren Aufgaben«154 berufen. Wer aber in seinem Sinnen und Handeln der vornehmen Bestimmung des Menschen gerecht wird, von dem lässt sich sagen, »dass er in keiner Weise von der Stellung der Natur abweicht, in keiner Weise von der Würde des Weisen«155. Wer den normativen Charakter der menschlichen Würdenatur erkennt und diese in seinem Leben realisiert, dem kommt selbst dignitas zu: die dignitas des Weisen. Des Menschen excellentia besteht nun laut Cicero darin, dass er im Gegensatz zum Tier mit Vernunft156 ausgestattet und daher zur »Suche nach Wahrheit«157, zur »Gemeinschaft der Rede und der Lebensgestaltung«158 und zum steten Einhalten des rechten Maßes159 bestimmt ist – zu den Tugenden sapientia, iustitia und modestia.160 Insofern wiederum die magnitudo animi genüber den Tieren als einer solchen, »a qua omne honestum decorumque trahitur et ex qua ratio inveniendi officii exquiritur« (off. 1,107). Diese Bemerkung kann geradezu als Kommentar zum Verfahren von §§ 11–15 verstanden werden, wo Cicero aus eben jener natürlichen Auszeichnung die einzelnen »Teile des Ehrenhaften« (15), die vier Kardinaltugenden, ableitet. Die Vorstellung der menschlichen Exzellenz dient ihm demnach zur Begründung seiner systematischen Ethik. Ob er selbst darüber hinaus an eine handlungsleitende Funktion selbigen Gedankens für den einzelnen vir bonus gedacht hat, an dessen Leitbildfunktion für den Hochsinnigen, ist seinen Ausführungen nicht ausdrücklich zu entnehmen. Die vorliegende Rekonstruktion des Hochsinnigkeitsbegriffs geht also einen Schritt über den Buchstaben von Ciceros Ausführungen hinaus, indem sie ihnen nicht nur eine Ethik begründende, sondern darüber hinaus eine Ethos begründende Funktion der Idee einer menschlichen Vorzugsstellung entnimmt. 153 Off. 1,94: ut turpe sic indecorum. Vgl. 1,106, wo es vom körperlichen Vergnügen (corporis voluptas) heißt, »der vortrefflichen Stellung des Menschen nicht genug würdig« zu sein (non satis esse dignam hominis praestantia). 154 Off. 1,103: »Neque enim ita generati a natura sumus, ut ad ludum et iocum facti esse videamur, ad severitatem potius et ad quaedam studia graviora atque maiora.« Auch diese Aussage fällt im Rahmen der Ausführungen über die modestia, obwohl sie sachlich besser in den Kontext der magnitudo animi passt. Zwischen beiden Tugenden gibt es bei Cicero freilich eine starke Überschneidung, insofern die grundsätzliche Geringschätzung der res humanae Bedingung des Maßhaltens in allen Dingen ist. 155 Off. 1,67: ut nihil a statu naturae disceda[t], nihil a dignitate sapientis (Übers. M.F.). 156 Off. 1,12: ratio; vgl. 1,107. 157 Off. 1,13: veri inquisitio. 158 Off. 1,12: orationis et vitae societas. 159 Off. 1,14: modus bzw. ordo. 160 Auch die magnitudo animi selbst versucht Cicero aus der menschlichen Vernunftnatur zu deduzieren – hat dabei aber sichtlich Schwierigkeiten. Zwar benennt er mit der appetitio quaedam principatus (off. 1,13) ein geläufiges Moment der Hochsinnigkeit (s.o.), ein solches indes, das in seiner eigenen Konzeption nurmehr den negativen Status einer
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zuvörderst das Ausgerichtetsein auf das honestum decorumque bedeutet – also das Trachten danach, jener excellentia des Menschen gerecht zu werden und so das Gute zu verwirklichen –, leiten sich die genannten kardinalen Handlungsdispositionen geradewegs aus der Hochsinnigkeit ab: Als Streben nach dem honestum decorumque impliziert sie das Streben nach der Wahrheit, nach dem Gemeinschaftsdienlichen und dem Maßvollen, mithin die Tugenden Weisheit, Gerechtigkeit und Mäßigung. Ferner impliziert sie – die Idee des Guten und die vortreffliche Menschennatur vor Augen und zugleich herabsehend auf alles Nur-Menschliche – die Bereitschaft, große Taten zu vollbringen und dafür ebenso große Gefahren auf sich zu nehmen, Mühsal zu ertragen und notfalls auch den Tod ungerührt hinzunehmen, kurz: die Tapferkeit. Die magnitudo animi ist der innere Ermöglichungsgrund der fortitudo, gleichsam deren Innenseite.161 Denn sie ist es, die durch ihre Ausrichtung am Ideal des honestum und an der überlegenen menschlichen Natur auch die Gefahren, Beschwerlichkeiten162 und selbst den Tod geringachtet und so erträglich macht. Kraft jener Ausrichtung ermöglicht die Hochsinnigkeit das Standhalten in widrigen und rauhen Umständen.163 Entsprechend wird die betreffende Tugend, an sich selbst eine innerliche und daher unsichtbare Haltung, gerade in solcherlei Bedrängungs- und Bedrohungssituationen manifest. Als Innenseite der fortitudo gewinnt die »Erhebung der Seele, die sich in Gefahren und Mühen zeigt«164, in der Tapferkeit sichtbare Gestalt. Je größer die Bedrängnis und der entsprechende Aufruhr der Seele165, desto besser kann des Bedrängten »Seelengröße […] ans Licht gerückt werden«.166 Versuchung der Hochsinnigkeit haben wird. Zudem ist die Herleitung dieses Momentes aus der veri videndi cupiditas (ebd.) – die es ohnehin nur mittelbar auf die menschliche Vernunftnatur zurückführt – alles andere als schlüssig. Die Deduktion der magnitudo animi aus der natürlichen Exzellenz des Menschen scheint dem Zwang einer Disposition geschuldet zu sein (der traditionellen Anlage der Theorie von den vier Kardinaltugenden), die dem Wesen der Hochsinnigkeit letztlich nicht gerecht wird. Sie zeigt eine Inkonsistenz innerhalb der ciceronischen Tugendlehre an (s.u.). 161 Vgl. off. 1,67: »Harum rerum duarum [sc. magnitudinis animi et fortitudinis; M.F.] splendor omnis, amplitudo, addo etiam utilitatem, in posteriore est, causa autem et ratio efficiens magnos viros in priore«. 162 Off. 1,71: molestiae. 163 Vgl. off. 1,71: constantia in rebus contrariis; ferner 1,80: in rebus asperis. 164 Off. 1,62: animi elatio – quae cernitur in periculis et laboribus. 165 Off. 1,73: motus animorum. 166 Off. 1,72: declarari animi magnitudo potest. Vgl. 72f: Hier münzt Cicero das beschriebene Verhältnis von Hochsinnigkeit und Tapferkeit für ein Plädoyer gegen ein rein philosophisches Leben und für die politische Betätigung des Hochsinnigen aus: »Aber diejenigen, die von Natur die Eigenschaften haben zum Handeln, müssen ohne jegliches Bedenken Ämter zu erreichen suchen und das Gemeinwesen führen. Denn sonst kann eine Bürgerschaft nicht gelenkt und Seelengröße nicht ans Licht gerückt werden. […] [Es]
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Aufgrund ihrer engen Beziehung firmieren magnitudo animi und fortitudo bei Cicero als eine Tugend. Die damit einhergehende Einreihung der Hochsinnigkeit in die Reihe der Kardinaltugenden kann freilich bei näherem Hinsehen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie, wie bereits ausgeführt, als Streben nach dem honestum decorumque auch gegenüber Weisheit, Gerechtigkeit und Mäßigung in einem Fundierungsverhältnis steht. Insofern kommt ihr eigentlich der Status einer Art Metatugend zu.167 Nur der Hochsinnige ist überhaupt von dem Ethos beseelt, sich in seinem Handeln allein nach dem honestum decorumque richten zu wollen. Erst aus diesem hohen Sinn leiten sich dann auch die übrigen ethischen Grunddispositionen ab: die Wahrheitssuche (sapientia)168, die Gemeinschaftstreue (iustitia)169, das Streben nach Maß und Ordnung (modestia)170 – und, in anderer Weise,171 die Bereitschaft, große Gefahren und Mühen auf sich zu nehmen (fortitudo)172. Erst das Verständnis der Hochsinnigkeit als solchermaßen übergeordnete Größe: als fundamentales, das »pflichtgemäße Handeln«173 schlechthin motivierendes Ethos, ermöglicht ein schlüssiges Gesamtbild der ciceronischen Tugendlehre. Ciceros Hochsinnigkeitsverständnis, so lässt sich zusammenfassend sagen, zeichnet sich im Wesentlichen durch dreierlei aus: erstens durch das Motiv der naturgegebenen ›Würde‹ des Menschen, das mit dem klassischen Motiv des Strebens nach dem Idealen verkoppelt wird, so dass in Ciceros magnitudo animi ›philosophische‹ und ›aristokratische‹ Hochsinnigkeitsidee auf eigentümliche Weise miteinander verschmelzen; zweitens durch die überaus enge Verknüpfung von Hochsinnigkeit und Tapferkeit und drittens durch die – in Ciceros Konzeption nur implizierte, nicht aber durchgeführte –
werden nicht ohne Grund größere Aufregungen […] verursacht (maiores motus animorum concitantur) bei den Führern der Gemeinwesen als bei ruhig Lebenden; um so mehr müssen sie Seelengröße und Freisein von Ängsten zeigen ([q]uo magis iis et magnitudo est animi adhibenda et vacuitas ab angoribus).« 167 Vgl. zum Sonderstatus der Hochsinnigkeit unter den Tugenden U. KNOCHE: Magnitudo, 25ff; 53. 168 Vgl. off. 1,13. 169 Vgl. off. 1,12. 170 Vgl. off. 1,14. 171 Während ›Weisheit‹, ›Gerechtigkeit‹ und ›Mäßigung‹ sich jeweils auf die verschiedenen Grundstrebungen beziehen, in die sich das eine Streben nach dem honestum decorumque ausdifferenziert, während sie also aus der positiven Seite der Hochsinnigkeit hervorgehen, leitet sich die Tapferkeit primär aus deren negativer Seite her: Sie ist ein Epiphänomen der ›Geringachtung der äußeren Dinge‹. Daher ist sie eigentlich kein selbstständiger Wert; vielmehr muss sie erst der Gerechtigkeit dienen, um überhaupt als Tugend gelten zu können (vgl. 62ff). 172 Vgl. off. 1,66. 173 So die Wiedergabe des Titels De officiis durch H. GUNERMANN.
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Überordnung der »Metatugend« magnitudo animi als ein die übrigen Kardinaltugenden fundierendes Ethos. War ehedem entweder die Ehre (Homer) bzw. Selbstachtung (Aristoteles) oder aber die ideelle Erkenntnis (Platon) als Grund und Ziel der Hochsinnigkeit dargetan worden, sind das Trachten nach dem Ideal (des Guten bzw. Ehrenhaften) und das Trachten nach Würde – nunmehr der menschlichen Natur als solcher zugeschrieben – bei Cicero eins. Wer das Ideal des Guten verfolgt, wird damit der Exzellenz des Menschen gerecht, und wer im Bewusstsein der Exzellenz des Menschen handelt, realisiert auch das Ideal des Guten. Das Leitbild des weltabgewandten Weisen, der die Wirklichkeit stets nur auf ihre ideale Dimension hin in den Blick nimmt, verschmilzt mit dem Leitbild des »hervorragenden« Menschen, der in seinem Leben die humane Würdenatur Gestalt werden lässt.174 Der ›hohe Sinn‹, der sich am Ideal der Menschenwürde orientiert, ist an sich selbst aber gar nicht ohne weiteres bemerkbar. Er offenbart sich vielmehr in der Tapferkeit, gleichsam der Außenseite der Hochsinnigkeit. Damit ist das bereits erwähnte zweite Spezifikum von Ciceros Hochsinnigkeitsbegriff angesprochen: die enge Verbindung von magnitudo animi und fortitudo. Im Ertragen von Mühen, im Standhalten gegenüber Gefahren und nicht zuletzt in der Gefasstheit angesichts des Todes tritt die Hochsinnigkeit eines Menschen zutage – und die Würde des Menschen schlechthin nimmt Gestalt an. Es sind diese Konnotationen – charakterisierbar mit den Begriffspaaren ›Hochsinnigkeit und Tapferkeit‹ einerseits, ›Hochsinnigkeit und Menschenwürde‹ andererseits –, die, wie noch zu zeigen ist, auch die Signatur der longinischen megalophrosynê ausmachen. An dieser lässt sich zudem insofern eine Nähe zu der bei Cicero greifbaren stoischen Auffassung der magnitudo animi konstatieren,175 als die Hochsinnigkeit dort – drittens – der Tendenz 174
Durch diese Modifikation im Herzen der Hochsinnigkeit verändern sich auch die Zugangsbedingungen zu selbiger Tugend. War der ›hohe Sinn‹ bei Homer und mutatis mutandis auch noch bei Aristoteles das Ausnahmeethos weniger hervorragender, »gottgleicher« Heroen gewesen und hatte auch Platon die unterschiedliche Neigung zum philosophischen Leben mythologisch mit einer unterschiedlichen Dauer der präexistenten Schau der Ideen und einer später entsprechend unterschiedlich ausgeprägten Erinnerung an jene Schau begründet (vgl. Phaidr. 248a–e), liegt der Grund für die magnitudo animi bei Cicero/Panaitios in der allen gemeinsamen menschlichen Natur. Auf diese Weise verliert die ehemalige Adelstugend im Prinzip ihren elitären Zug und wird maßgeblich für das Ethos eines jeden, der als vir bonus leben will. 175 Auch in Senecas Ethik spielt das Ideal der magnitudo animi bzw. magnanimitas eine kardinale Rolle. Sie ist Inbegriff der Tugend des Weisen (vgl. z.B. epist. 87,18) und hat insofern ebenfalls den Status einer Metatugend. Die metaphysisch-religiöse Dimension der Hochsinnigkeit tritt bei Seneca stärker hervor als bei Cicero. Vgl. z.B. die Zusammenstellung des Hochsinnigkeitsbegriffs mit dem Motiv des Aufschwungs zum Himmel in epist. 31,11; vgl. ferner epist. 41,4f.
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nach nicht mehr eine Tugend unter Tugenden ist, sondern eher die elementare Sinnesrichtung, die die Lebensgestalt eines Menschen grundlegend bestimmt. Anhand des solchermaßen begriffsgeschichtlich ausgeleuchteten Konzeptes soll im folgenden Abschnitt die Hochsinnigkeitsthese von Peri Hypsous weiter erschlossen werden. 3.2.3. Hochsinnigkeit bei ›Longin‹ Die Bezugnahme auf Aias als Paradigma von Hochsinnigkeit hatte, zusammen mit anderen Bemerkungen aus Kap. 9, einen gewissen heroisch-aristokratischen Zug der longinischen megalophrosynê zu erkennen gegeben.176 Dieser Befund lässt eine entsprechende Nähe zum homerischen bzw. aristotelischen Hochsinnigkeitsverständnis vermuten, demzufolge das Ehrverlangen bzw. das Bewusstsein des eigenen außerordentlichen Ranges die entscheidende Triebfeder des ›hohen Sinnes‹ ausmacht. Eine Modifikation erfährt diese Vermutung angesichts der Stelle, wo Longin zum ersten Mal auf die Hochsinnigkeit zu sprechen kommt, nämlich auf die ethische Tugend der megalopsychia. Der Gedankengang der betreffenden Passage (7,1) lässt sich folgendermaßen wiedergeben: Wie dem »Weisen« (tv#q fronißmv#) die Hochsinnigkeit (megaloyuxißa) als Sinn für das wahrhaft Große »im täglichen Leben« zu eigen ist, was ihn alle Scheingüter (Reichtum, Ehre, Ruhm, Gewaltherrschaft) geringschätzen lässt, so ist dem Menschen auch in aestheticis »irgendwie von Natur« ein entsprechender Sinn für wirkliche Größe gegeben. Aufgrund dieses untrüglichen Gespürs löst auch nur das »wahrhaft Erhabene« die ihm eigentümliche Hochstimmung aus, während alle Scheinformen des Erhabenen ohne dauerhafte Resonanz bleiben. Die Konvergenz mit dem, was sich beim Gang durch die Begriffsgeschichte als Kern der Hochsinnigkeitsidee ergeben hat, liegt auf der Hand. Auch bei Longin ist Hochsinnigkeit ein spezifisches »Über-die-Dinge-Hinaussehen« (vgl. 7,1: uÖper-oraßv): das Vermögen, zwischen verachtenswürdigen Scheinwerten und dem wahrhaft Wertvollen unterscheiden zu können. In dieser Grundstruktur kommen der ethische und der ästhetische ›hohe Sinn‹, die hier parallelisiert werden, überein. Es sind nur auf der einen Seite ethische (Reichtum etc.), auf der anderen ästhetische Scheinwerte (das nur scheinbar Erhabene), über die sich der hochsinnige ›Blick nach oben‹ erhebt. Wohlgemerkt zählt Longin im ersten Fall auch timaiß und doßcai (›Ehr‹und ›Ruhmbezeigungen‹) zu den geschmähten Scheingütern. Die Absetzung der Hochsinnigkeit von dem vormals integralen Moment des Ruhmstrebens und Ehrgefühls – siehe Aias – fällt hier, ungeachtet der Hochschät176
S.o. Kap. 3.2.1.
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zung des homerischen Helden, noch deutlicher aus als bei Aristoteles und erinnert damit an Ciceros Reserve gegenüber jedem Ruhmstreben. Betreffs der Triebfeder der ethischen Hochsinnigkeit ist der Passage nichts zu entnehmen, und auch das Telos des ästhetischen Sinnes ist – als das ›wahrhaft Erhabene‹ – hier nur chiffrenhaft benannt. Die oben (Kap. 3.2.1) dargelegten Bestimmungen im Umfeld der Definition des Erhabenen als ›Widerhall von Hochsinnigkeit‹ (9,2) bieten nichts, was über das bisher Gesagte hinausgeht. Sie fassen die Hochsinnigkeit als eine Geisteshaltung, die sich im Gegensatz zu einer »niedrigen« und »unedlen«, »gewöhnlichen Sinnesart« über das »Kleine« und »Knechtische« des alltäglichen Lebens erhebt, um sich in »gewichtigen Gedanken« auf »das Große« zu richten. Die nämliche Haltung ist ein weiteres Mal in einem Platonzitat thematisch, das Longin als Beispiel der spezifisch platonischen Form erhabener Rede177 anführt: »oiÖ aära fronhßsevw« fhsiß »kai? aörethqw aäpeiroi, euövxißaiw de? kai? toiqw toioußtoiw aöei? sunoßntew, kaßtv, vÖw eäoike, feßrontai, kai? taußth# planvqntai dia? bißou, pro?w de? to? aölhje?w aänv ouät’ aöneßbleyan pvßpote ouät’ aönhneßxjhsan ouödeß bebaißou te kai? kajaraqw hÖdonhqw eögeußsanto, aölla? boskhmaßtvn dißkhn kaßtv aöei? bleßpontew kai? kekufoßtew eiöw ghqn kai? eiöw trapeßzaw boßskontai xortazoßmenoi kai? oöxeußontew, kai? eÄneka thqw toußtvn pleonecißaw laktißzontew kai? kurißttontew aöllhßlouw sidhroiqw keßrasi kai? oÖplaiqw aöpoktinnußousi di’ aöplhstißan.«178
›Die Menschen‹, sagt er [sc. Platon], ›die nicht Vernunft und Tugend kennen und sich dauernd Gelagen und ähnlichen Genüssen hingeben, werden, wie es scheint, abwärts getrieben und irren so durchs Leben. Niemals haben sie hinaufgeschaut zum Wahren, nie wurden sie emporgehoben; eine beständige und reine Freude haben sie nicht genossen, sondern sie blicken ewig wie das Vieh zu Boden, vornüber auf die Erde und ihre Tische gebeugt mästen sie sich beim Fraß und huren herum, und um ihre Gier zu befriedigen, treten und stoßen sie sich mit eisernen Hörnern und Hufen und töten sich in ihrer Unersättlichkeit.‹
Das Zitat zeugt – auch wenn der Fokus im Argumentationszusammenhang auf das Stilistische gerichtet ist – von Longins Bekanntschaft mit der platonischen Auffassung von Hochsinnigkeit, wonach das philosophische Leben als Inbegriff der rechten Sinnesrichtung gilt. Maßgeblich dafür ist der »Blick nach oben« auf »das Wahre«, Ideelle, der im Gegensatz zu den niedrigen 177
Siehe dazu unten Kap. 4.2. 13,1 (R.B.); Plat. rep. 586ab. Mit diesem Platonzitat belegt auch K. AXELSSON: The Sublime. Precursors and British Eighteenth-Century Conceptions, 94ff, das idealistische Gepräge des longinischen Erhabenheitsbegriffs. Ohne näher auf das Hochsinnigkeitstheorem hinzuweisen, hält Axelsson fest, dass für Longin eine bestimmte innere Haltung des Autors die subjektive Bedingung zur Erschaffung des Sublimen darstellt: »the fixed upward gaze, in the direction of the ideal rather than the material« (103). 178
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Genüssen eines von tierischer Gier gesteuerten Lebens »reine Freude« gewährt. Mag hier über das Rhetorisch-Ästhetische und das rein Tugendethische hinaus bereits ein metaphysischer Aspekt anklingen – ein vertieftes Bild von dem, was Longin unter Hochsinnigkeit begreift, erschließen erst die spekulativen Gedanken von Kap. 35: Tiß pot’ ouQn eiQdon oiÖ iösoßjeoi eökeiqnoi kai? tvqn megißstvn eöporecaßmenoi thqw suggrafhqw, thqw d’ eön aÄpasin aökribeißaw uÖperfronhßsantew; pro?w polloiqw aälloiw eökeiqno, oÄti hÖ fußsiw ouö tapeino?n hÖmaqw zv#qon ouöd’ aögenne?w eäkrine179 to?n aänjrvpon […], euöju?w aämaxon eärvta eöneßfusen hÖmvqn taiqw yuxaiqw panto?w aöei? touq megaßlou kai? vÖw pro?w hÖmaqw daimonivteßrou.
dioßper th##q jevrißaw kai? dianoißaw thqw aönjrvpißnhw eöpibolh#q ouöd’ oÖ sußmpaw koßsmow aörkeiq, aölla? kai? touqw touq perießxontow pollaßkiw oÄrouw eökbaißnousin aiÖ eöpißnoiai, kai? eiä tiw peribleßyaito eön kußklv# to?n bißon oÄsv# pleßon eäxei to? peritto?n eön paqsi kai? meßga kai? kaloßn, taxeßvw eiäsetai pro?w aÜ gegoßnamen.180
Was hatten nun jene Gottgleichen vor Augen, die nur nach dem Größten in der Literatur trachteten, die Genauigkeit in allem Einzelnen jedoch verschmähten? Vor allem dies, dass die Natur uns als Menschen nicht zu niedrigen und gemeinen Lebewesen bestimmt hat […], und dass sie unseren Seelen geradewegs ein unzähmbares Verlangen eingepflanzt hat nach allem, was immer groß ist und göttlicher als wir. Darum genügt dem kühnen Streben des menschlichen Betrachtens und Denkens nicht einmal der ganze Kosmos, sondern häufig überschreiten unsere Gedanken die Grenzen dessen, was uns umgibt. Und wenn einer das Leben ringsumher betrachtet und sieht, welchen Vorzug in allem das Herausragende, das Große, das Schöne hat, dann wird er sogleich wissen, wozu wir geboren sind.
»Jene Gottgleichen« im ersten Satz sind die »überragenden Naturen«181, deren Qualitäten im Exkurs über Größe und Mittelmaß (33-36) gepriesen werden (Homer, Archilochos, Sophokles, Pindar, Demosthenes und Platon). Die Hochsinnigkeit jener Heroen, die ihnen von Natur aus in höchstem Maße eignet (siehe 9,1f), manifestiert sich ästhetisch darin, dass sie in ihrem Schaffen – »sich nach dem Größten ausstreckend«182– »auf die Genauigkeit herabsehen«183: dass sie sich um die gestalterischen und stilistischen Kleinigkeiten nicht kümmern, weil sie den Blick unverrückbar auf Höheres gerichtet haben.184 Longin fragt nun nach dem Grund dieses genialischen »Trachtens nach dem Größten« bei gleichzeitiger Geringschätzung des Kleinen. Woran haf179
Zur Bedeutung des nicht vollständig lesbaren Verbs vgl. D. A. RUSSELL: Longinus,
166. 180
35,2f. 33,2: uÖpermegeßjeiw fußseiw. 182 35,2: tvqn megißstvn eöporecaßmenoi. 183 35,2: thqw aökribeißaw uÖperfronhßsantew. 184 Vgl. 33,2: eöfißesjai tvqn aäkrvn (›nach dem Höchsten trachten‹). 181
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tete der Blick dieser Hochgesinnten? Was nahm ihre Aufmerksamkeit so sehr in Beschlag, dass sie dabei mangels Genauigkeit mitunter auch hässliche Fehler in Kauf nahmen? Und: Was ist der Grund, warum man ihren Werken trotz dieser Fehler »immer den ersten Preis zuerkennen«185 muss? Longins Antwort: Der ›hohe Sinn‹ der großen Natur ist letztlich auf den außerordentlichen Rang des Menschen unter den Lebewesen gerichtet, auf dessen »adelige« Bestimmung. Die Hochsinnigkeit ist zuallererst das Bewusstsein dieses hohen Ranges. Außerdem ist sie ein »unzähmbares Verlangen nach allem Großen«. Dieses Verlangen – so muss seine Herleitung aus der edlen Menschennatur verstanden werden – offenbart zugleich den menschlichen Adel, in dem es gründet. Die Hochsinnigkeit ist, so kann im Vorgriff auf die nähere Interpretation definiert werden, jener in der Adelsnatur der Seele wurzelnde, daher ›unzähmbare‹ ›Eros alles Großen‹: ein Sinn für und Gerichtetsein auf alles Große und als dieser Sinn letztlich ein Sinn für die »Größe« des Menschen selbst. Die sachliche Nähe zu der von Cicero in Anlehnung an Panaitios formulierten Konzeption des ›hohen Sinns‹ als Sinn für die natürliche Würde des Menschen ist offenkundig.186 Longins Fassung der megalophrosynê liest sich geradezu wie eine Theorie der rhetorisch-ästhetischen Generierung von Seelengröße. Für den Autor von Peri Hypsous ist der Adel bzw. die Würde des Menschen kein Ideal, das es um einer sittlichen Lebensführung willen zu ergreifen (oder anzudemonstrieren) gilt. Vielmehr stellt sich das ideale Bewusstsein der menschlichen Größe vermittels einer ästhetischen Erfahrung ein, dann nämlich, wenn der ästhetische ›Eros des Großen‹ Erfüllung findet: in der Erfahrung des Erhabenen. Ob diese Erfahrung für Longin dann auch die Funktion hat, ein entsprechendes Ethos zu begründen, kann hier dahingestellt bleiben. Doch nicht nur an Cicero (bzw. Panaitios) erinnert Longins Fassung der Hochsinnigkeit, sondern vor allem an Platon.187 So greift die Wendung vom 185
33,4 (R.B.). Vgl. auch 39,3, wo Erhabenheit und Würde parallelisiert werden, indem der sprachlichen Harmonie u.a. die Macht zugesprochen wird, »uns jedesmal in eine feierliche und würdevolle und erhabene […] Stimmung zu versetzen« (pro?w oägkon te kai? aöcißvma kai? uÄyow […] hÖmaqw eÖkaßstote sundiatijeßnai). – Auch wenn Longins Cicerokenntnis belegt ist (12,4), soll damit eine direkte Abhängigkeit von Cicero nicht behauptet werden. Aus welchen (stoischen) Quellen der Autor von Peri Hypsous geschöpft hat, bleibt offen. 187 Longin hat Platon als Klassiker (freilich des Stils) verehrt. In welchem Umfang dessen Philosophie bei der Ausformung der Hypsostheorie Pate gestanden hat, ist indes schwer zu sagen. Die Ähnlichkeit vieler Gedanken sticht jedenfalls ins Auge. Vgl. dazu D. A. RUSSELL: Longinus, XVII: »Plato is a great hero to L[onginus], both as a philosopher and as a writer.« Vgl. ferner J. H. KÜHN: UYOS, und, aus jüngerer Zeit, A. SÉGUYDUCLOT: Généalogie du Sublime. Le PERI UYOUS du Pseudo-Longin: Une Tentative de Synthèse entre Platon et Aristote, bes. 660ff, und K. AXELSSON: The Sublime, 94ff. 186
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eärvw touq megaßlou (érôs tou megálou, Verlangen nach dem Großen) einen urplatonischen Begriff auf. Freilich ist der platonische erôs, der im Symposion im Zentrum der Lehre vom Aufstieg der Seele ins Reich der Ideen steht, nicht ein ›Eros des Großen‹, sondern ›des Schönen‹ (symp. 206e: eärvw touq kalouq). Das ›Verlangen nach dem Schönen‹ vermag der menschlichen Natur laut Platon Zugang zur Region des Idealen zu verschaffen (212b). Indem der vom erôs getriebene Mensch (der Philosoph) dem Schönen nachgeht (210b), wird er »gleichsam stufenweise« (211c) emporgeführt von der Wahrnehmung des einzelnen, relativ Schönen zur Erkenntnis des absolut Schönen und damit von der Welt des Relativen zur »Überwelt« des Absoluten, Göttlichen überhaupt. Und sofern die Teilhabe an der »Überwelt« der Ideen Glückseligkeit und in gewisser Weise sogar Unsterblichkeit bedeutet, führt der ›Eros des Schönen‹ die Seele zu höherem Leben (211d). Ähnlich zeichnet der Phaidros den ›Eros des Schönen‹ als Medium des Aufstiegs der Seele zu einem höheren Sein. Die Funktion des Schönheitssinnes für den Seelenaufschwung findet hier zudem ihre mythologische Begründung, nämlich durch die Vorstellung einer präexistenten Ideenschau samt deren nachmaliger Präsenz in der Erinnerung der Seele. So schildert Sokrates in einem großen Gleichnis die Auffahrt der göttlichen und menschlichen Seelen zum »überhimmlischen Ort« (247c), an dem sie das »gestaltlose, stofflose, wahrhaft seiende Wesen« (247c) schauen, um sich daran zu nähren. Während jedoch der Gott das wahrhaft Seiende, die Ideen, unmittelbar zu Gesicht bekommt, den »herrlichsten Anblick« (250b) genießend, können die anderen Seelen die Ideen nur kurz, teilweise und von Ferne sehen, bevor sie wieder von jenem Ort in das »Innere des Himmels« (247e) abgetrieben werden. Wenn sie schließlich zur Erde herabgesunken und Menschen geworden sind, haben sie nur noch eine mehr oder weniger schwache Erinnerung an das, was sie dort oben einst geschaut haben. Aber diese Erinnerung kann ihnen wieder lebendig werden, wenn sie ein Ebenbild der Idee des Schönen sehen (250a): »ein gottähnliches Angesicht« oder einen ebensolchen Körper (251a). Dann »werden sie entzückt (eökplhßttontai) und sind nicht mehr ihrer selbst mächtig (250a: ouökeßj’ auÖtvqn gißgnontai)«. Gerät die Seele in einen solch ekstatischen Zustand (pathos) – in enthousiasmos (249d.e) und mania (249d) –, wird sie dem Hiesigen entrückt: Es wachsen ihr Flügel, auf dass sie »nur wie ein Vogel hinaufwärts schauend und, was drunten ist, gering achtend« (249d) wieder gen Himmel emporgetragen wird.
Vielleicht sind manche platonischen Motive auch durch Poseidonios vermittelt, zu dessen Denken sich bei Longin deutliche Parallelen finden (vgl. J. H. KÜHN: aaO.; M. POHLENZ: Die Stoa, Bd.2, 122).
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Wie im Symposion eröffnet der Anblick des Schönen der Seele Zugang zum überweltlichen Sein. Angesichts des einzelnen Schönen steigt die Seele auf zur Idee des schlechthin Schönen, um in ihr – als der »glänzendsten« der Ideen188 – zugleich der Ideen überhaupt ansichtig zu werden. Somit ist der ›Eros des Schönen‹ gleichsam Anlage und Triebfeder des Aufschwungs der Seele. Er ist dies, weil ihn eine dunkle Erinnerung an die vormalige Ideenschau leitet. Das Verlangen der Seele nach dem Schönen ist eigentlich ein Verlangen nach der einst geschauten Idee und mithin ein Verlangen nach der himmlischen Heimat: »Sehnsucht nach dem Damaligen« (250c). Dorthin schwingt sich die Seele, wenn sie der »Anblick der hiesigen Schönheit« (249d) an jenes Bild absoluter Schönheit erinnert und zugleich an die eigene himmlische Abkunft. Vermittels des ›Eros des Schönen‹, welcher der Seele ihrem Herkommen nach eignet, geht ihr dieses überweltliche Herkommen auf. Der Sinn für das Schöne ist demnach ein Sinn für die eigene himmlische Herkunft. Eine analoge Doppelstruktur hatte sich bei Longin angedeutet: Als Sinn für das Große – das Große in Literatur und, wie sich zeigen wird, Natur – ist der ›Eros des Großen‹, wurzelnd im ›Adel‹ der menschlichen Natur, eigentlich Sinn für selbigen ›Adel‹, für die »Größe« des Menschen. Nur geht der Seele ihre hohe Abkunft anders als bei Platon nicht mehr am ›Schönen‹ auf, sondern am ›Großen‹; genauer: am ›Großen und im Vergleich mit uns gleichsam Gottähnlicheren‹. Die Wendung vom eärvw touq megaßlou kai? vÖw pro?w hÖmaqw daimonivteßrou (35,2), die bisher nur verkürzt in die Interpretation einging, bestätigt, dass das Große, nach dem sich der erôs der Seele ausstreckt, von der Seele in Beziehung zu sich selbst (der Seele) gesetzt wird. Das ›Große‹ hat für »uns« nur deshalb Bedeutung, insofern es »in Hinsicht auf uns« (pro?w hÖmaqw) betrachtet wird. Die Seele entdeckt im Großen einen Bezug auf sich selbst. Sie versteht es als Bild der eigenen Größe, indem sie es als das »im Vergleich zu ihr Göttlichere« erkennt. Im Streben nach dem Großen ist also immer eine Selbstbewertung der Seele mitgesetzt, der eine dialektische Struktur eignet. Denn gerade im Vergleich mit einem Größeren gelangt die Seele zur Erkenntnis ihrer eigenen Größe. Im Über-sich-hinausKommen kommt sie zu sich selbst. Die Formulierung vÖw pro?w hÖmaqw daimonivteßron enthält wieder einen platonischen Lieblingsbegriff. »Alles Dämonische«189 ist nach der allgemeinen Bestimmung im Symposion »zwischen dem Sterblichen und Unsterblichen«190. Entsprechend kann daimonios in der Verbindung to? daimoßnion kai?
188
Vgl. Phaidr. 250d. Symp. 202e: paqn to? daimoßnion. 190 Ebd.: metacu? jnhtouq kai? aöjanaßtou. 189
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to? jeiqon191 gegenüber dem Göttlichen das »Gottähnliche«, »Gottverwand-
te« oder »Übermenschliche« bezeichnen192. Eine entsprechende Mittelstellung zwischen Göttlichem und Menschlichem kommt auch dem daimonion des Sokrates zu, seiner warnenden inneren Instanz, welche ihm »Zeichen des Gottes«193 ist: ihm, dem Menschen, kündend, »was von den Göttern kommt«194. Schließlich ist eine Passage aus dem Timaios (90a-d) zu nennen, wonach eine jede Seele ein ›dämonisches‹ Element besitzt, das sie über das bloß Menschliche hinaushebt. Von dieser »Teilseele« heißt es, »dass sie im obersten Teil unseres Körpers wohnt und uns von der Erde zu unserer Verwandtschaft im Himmel erhebt, da wir kein irdisches, sondern ein himmlisches Gewächs sind«195. Wer nun diesem ›gottverwandten‹ Element seiner selbst gemäß nach Wahrheit strebt und somit »unsterbliche und göttliche Gedanken« hegt, der wird, »soweit es der menschlichen Natur möglich ist«, unsterblich und glückselig (90c). Mit seinem ›dämonischen‹ Anteil ist der Mensch Platon zufolge selbst gewissermaßen ein Zwischenwesen »zwischen dem Sterblichen und Unsterblichen«. Als »himmlischem Gewächs« eignet ihm grundsätzlich eine Ausrichtung auf »das Göttliche«, die ihn über das bloß Irdische hinausverweist – eine Disposition, die freilich mehr oder weniger gut »gepflegt« sein kann. Es ist dies dieselbe Verwiesenheit, die sich laut Symposion im ›Eros des Schönen‹ äußert, der die Seele über die irdische Welt des nur Relativen hinausführt und die laut Phaidros ihren Grund in der himmlischen Herkunft der Seele hat, von der ihre dunkle Erinnerung und Sehnsucht herrührt. Was im Symposion als ›erotische‹ Anlage des Menschen beschrieben und im Phaidros mit dem Mythos der Ideenschau begründet wird, fasst der Timaios ins ebenfalls mythische Bild eines gottgegebenen ›dämonischen‹ Seelenteils des Menschen, der diesen wesenhaft auf das ›Übermenschliche‹ bezogen sein lässt. Vor dem Hintergrund der platonischen Vorstellung von einem ›dämonischen‹ Element der menschlichen Seele, die über Poseidonios Eingang in die stoische Anthropologie gefunden hat,196 lässt sich auch die longinische Wen191
Rep. 382e. Vgl. rep. 614c: Nach dem großen Schlussmythos der Politeia, der Erzählung des Er, kommen die Seelen nach dem Tode »an einen gewissen dämonischen Ort« (eiöw toßpon tina? daimoßnion), also an eine überirdische, nicht-weltliche Stätte. 193 Apol. 40a. 194 Symp. 202e. 195 Tim. 90a: faßmen […] pro?w de? th?n eön ouöranvq# suggeßneian aöpo? ghqw hÖmaqw aiärein vÖw oäntaw futo?n ouök eäggeion aöll’ ouöraßnion. 196 Laut Poseidonios (ca. 135–50 v. Chr.) liegt die »Ursache des unseligen Lebens (touq kakodaißmonow bißou)« darin, dass der Mensch nicht durchweg seinem inneren daimon gehorcht, »der mit dem die ganze Welt durchwaltenden verwandt (suggenhßw) und wesensgleich ist, sondern sich auf die Seite des schlechteren und animalischen Teils (tvq# xeißroni 192
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dung vom vÖw pro?w hÖmaqw daimonivteßron erschließen. Es bleibt zwar aufs erste unklar, inwiefern das Große ›dämonischer‹ ist »als wir«; aber immerhin legt die Formulierung nahe, an eine gewisse ›Dämonie‹, d.h. Gottähnlichkeit von »uns«, sprich: der menschlichen Seele zu denken. Ihre ›hohe‹ (ouö tapeinoßn) und ›edle‹ (ouö aögenneßw) Natur ist demzufolge auch für Longin – so die plausibelste Interpretation der Stelle – »zwischen dem Sterblichen und Unsterblichen«.197 Die Seele ist ein Wesen zwischen Himmel und Erde, von Natur ausgestattet mit einem Verlangen nach allem ›Großen‹, das ihr ein Bild der eigenen ›Größe‹ werden kann, sofern es dem Irdischen noch deutlicher enthoben, dem Himmlischen näher, kurz: ›dämonischer‹ ist als sie selbst. Weil der Mensch seiner Natur nach über das Nur-Menschliche hinausragt, darum sucht er auch, »was das Menschliche überschreitet«198.
kai? zv#vßdei) neigt und sich von ihm hinreißen lässt«. Entsprechend lautet Poseidonios’ erste ethische Maxime, »dass wir uns in nichts von dem Unvernünftigen und Unseligen und Ungöttlichen in unserer Seele leiten lassen« (Zitate bei M. POHLENZ: Die Stoa, dt. Bd.1, 229, griech. Bd. 2, 114f; zu Poseidonios’ Abhängigkeit von Platons Timaios vgl. Bd. 2, 115). Aus dem ›dämonischen‹, ›gottverwandten‹ Teil der Seele leitet sich auch für Poseidonios die eigentümliche Zwischenstellung des Menschen »an der Grenze zweier Welten« (Bd. 1, 228) her, mitsamt der Möglichkeit, sich der göttlichen Sphäre zu nähern. Der Aufstieg zum Göttlichen verwirklicht sich allerdings anders als bei Platon nicht im Überschreiten des Sinnlichen hin auf das Ideale, sondern in der Erkenntnis des von Gott durchwalteten Kosmos. Das Telos des Menschen erblickt Poseidonios denn auch in einem »Leben, in dem man die Wahrheit und Ordnung des Alls schauend erkennt und sie nach Kräften mitverwirklicht‹« (237; griech. Bd. 2, 121: to? zhqn jevrouqnta th?n tvqn oÄlvn aölhßjeian kai? taßcin kai? sugkataskeuaßzonta auöthßn). – Ob diese Formel tatsächlich in 35,2 von Peri Hypsous »nachklingt« (ebd.), kann hier dahingestellt bleiben. Jedenfalls erscheint es aufgrund der poseidonischen Rezeption der platonischen Vorstellung vom inneren daimon mitsamt den korrespondierenden anthropologischen Grundmotiven (Zwischenstellung zwischen Irdischem und Göttlichem, Verpflichtung zur Erhebung über das Irdische und zum Aufstieg in den Bereich des Göttlichen) einigermaßen wahrscheinlich, dass der nämliche Motivkomplex im Hintergrund von Peri Hypsous steht. Denn die Fortwirkung jener Rezeption, etwa bei Epiktet und Marc Aurel, lässt erkennen, dass der Ideenkreis von der ›Dämonie‹ bzw. ›Gottähnlichkeit‹ des Menschen seit Poseidonios gleichsam zum anthropologischen Gemeingut der Stoa gehört (vgl. Bd. 1, 327ff; 349f). 197 Dies gilt, wenngleich Longin daimonios insgesamt nicht streng terminologisch i.S. des platonischen Begriffs zur Bezeichnung eines Zwischenbereichs zwischen ›weltlich‹ und ›göttlich‹ gebraucht. Zwar sind die ›Rosse der Götter‹, die Longin als ›dämonisches‹ Sujet anführt (9,5), durchaus jenem Zwischenbereich zuzurechnen. Dagegen behandeln die Verse der Theomachie, in denen Homer das »Göttliche« (9,8: daimonion) in seiner wahren Größe darstellt, eben tatsächlich Götter, und nicht irgendwelche Zwischenwesen – um nur zwei Beispiele ausführlicher zu nennen. Ansonsten wird Pythia im Zustand des Enthusiasmus »mit der dämonischen Macht geschwängert« (13,2; R.B.), das Dichten des Archilochos ist »Entladung des dämonischen Geistes« (33,5) und bei Herodot ist ein Sturm, »was die Gedanken betrifft, daimonißvw beschrieben« (43,1). 198 36,3: to? uÖperaiqron […] ta? aönjrvßpina.
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Der Adel der menschlichen Seele drückt sich für Longin wesentlich in ihrer naturgegebenen Bezogenheit auf das Göttliche aus, die zugleich eine gewisse Weltenthobenheit bedeutet. In der Verwiesenheit auf das Himmlische, die sich im ›Eros des Großen und Dämonischen‹ manifestiert, kommt selbst – so lässt sich das Gesagte von seinen platonischen Anklängen her verstehen – ein gottverwandtes Moment der Seele zum Vorschein. Somit eignet dem Adel der Menschennatur sowie dem ›hohen Sinn‹, gleichsam dem Organ für selbigen Adel, eine metaphysisch-religiöse Dimension. Die Hochsinnigkeit ist Sinn für das ›Große‹ und als solcher letztlich Sinn für die eigene himmlische Abkunft. Dass der ›Eros des Großen‹ tatsächlich eine Transzendenzdimension hat, wird dadurch bestätigt, dass der strebende Gedanke sich nicht einmal mit dem Ganzen des Kosmos zufriedengibt, sondern dessen Grenzen überschreitet (35,3).199 Aber auch innerhalb dieser Grenzen findet der ›hochsinnige‹ Geist Anlass, seiner Adelsnatur innezuwerden. Beim Anblick alles dessen, was in der Natur das gewöhnliche Maß übersteigt (to? perittoßn) und was daher groß (meßga) und schön (kaloßn) zu nennen ist, wird er sich seiner eigenen hohen Berufung bewusst. Er erkennt, »wozu wir geboren sind« (35,3). Dieser etwas enigmatische Verweis auf die menschliche ›Bestimmung‹ dürfte, von seinem Kontext und von seinem motivgeschichtlichen Hintergrund her,200 im Sinne einer »Verpflichtung des Menschen zur Erhebung 199 »This is naturally a protreptic commonplace, equally attractive to philosophers of all schools« (D. A. RUSSELL: Longinus, 166). Vgl. z.B. Sen. epist. 102,21: »Dic potius quam naturale sit in immensum mentem suam extendere. Magna et generosa res est humanus animus; nullos sibi poni nisi communes et cum deo terminos patitur.« Die folgende Argumentation mündet in einen Ausblick auf ewiges Leben nach dem Tod. 200 Spätestens seit Anfang des 2. Jh. n. Chr. finden sich mehrere Belege, die sich in Formulierung und Inhalt unmittelbar mit der longinischen Wendung berühren. So besteht laut Epiktet das Lebensziel des Menschen, das ihm im Gegensatz zum Tier aufgrund seiner Begabung mit vernünftigem Beobachtungsvermögen zukommt, darin, ein Betrachter (jeathßw) und Ausleger (eöchghthßw) Gottes und seiner Werke zu sein (1,6,19) und in solcher Betrachtung und Auslegung Wesen und Bestimmung seiner selbst zu erkennen: »Seht also zu, dass ihr nicht sterbt, ohne diese Dinge betrachtet zu haben (aöjeßatoi toußtvn). Aber ihr, ihr reist zwar nach Olympia, um das Werk des Phidias zu sehen […]; wo man aber gar nicht verreisen muss, sondern wo Er bereits ist und anwesend ist in seinen Werken – begehrt ihr dies nicht zu betrachten und zu erkennen (jeaßsasjai kai? katanohqsai)? Wollt ihr also nicht wahrnehmen, weder wer ihr seid (tißnew eösteß) noch wozu ihr geboren seid (eöpi? tiß gegoßnate) noch wofür ihr das Betrachtungsvermögen (th?n jeßan) erhalten habt« (1,6,23ff; Übers. M.F.)? Für Epiktet folgt die Erkenntnis der eigenen Bestimmung aus der Erkenntnis der Werke Gottes: Wer Gottes Walten in der Welt erkennt, weiß auch, wozu er selbst in dieser Welt ist. Dieser Zusammenhang ist nun eigentlich nicht unbedingt selbstevident; von daher entsteht der Eindruck, Epiktet beziehe sich mit den Fragen nach der Identität (tißnew eösteß) und Bestimmung des Menschen (eöpi? tiß gegoßnate) auf geprägte Motive, bei denen er aufseiten des Hörers von vornherein mit religiösen Konnotationen rechnen konnte. Einen ähnlichen Eindruck gewinnt man ange-
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über die Welt des Irdischen«201 zu verstehen sein. Als ›hohes‹ und ›edles‹ Wesen ist der Mensch geboren, d.h. er ist dazu bestimmt, dieser Adelsnatur zu entsprechen und seinem daimôn zu folgen: sich nicht wie die niedrigen und gemeinen Tiere im Irdischen, im Kleinen und Gewöhnlichen zu verlieren, sondern sich am ›Gottähnlichen‹ auszurichten und aufzusteigen in überirdische Sphären. An dieser Stelle ist ein Seitenblick auf das Schlusskapitel von Peri Hypsous aufschlussreich. Dort heißt es im Kontext der Klage über die moralische Verworfenheit der Zeit: tauqta ga?r ouätvw aönaßgkh gißnesjai kai? mhkeßti tou?w aönjrvßpouw aönableßpein […], aölla? toioußtvn eön kußklv# telesiourgeiqsjai kat’ oölißgon th?n tvqn bißvn diafjoraßn, fjißnein de? kai? katamaraißnesjai ta? yuxika? megeßjh kai? aäzhla gißnesjai, hÖnißka ta? jnhta? eÖautvqn meßrh […] eök-
Denn dies geschieht notwendig so, auch dass die Menschen nicht mehr emporblicken […]; nein, in solchem Umfeld muss bald das Verderben des Lebens seinen Lauf nehmen, muss die seelische Größe schwinden und welken, ohne noch gesucht zu werden, weil die Menschen ihr
sichts eines von sich aus einigermaßen rätselhaften Eintrags in Marc Aurels Selbstbetrachtungen (8,52), wo ebenfalls die Bestimmung des Menschen thematisiert wird: »Wer nicht weiß, wozu er geschaffen worden ist, weiß nicht, wer er ist und auch nicht, was der Kosmos ist« (oÖ de? mh? eiödvßw, pro?w oÄ ti peßfuken, ouök oiQden, oÄstiw eöstißn ouöd’ oÄ ti eösti? koßsmow; Übers. R. NICKEL). Ihre von Poseidonios geprägte religiöse Weltanschauung vorausgesetzt, dürfte bei Marc Aurel wie bei Epiktet unausgesprochen der Gedanke im Hintergrund stehen, »dass der Mensch ein Glied des von Gott durchwalteten Kosmos ist und in sich selbst Animalisches und Göttliches vereint« (M. POHLENZ: Die Stoa Bd. 1, 328). Aus dieser Welt- und Selbsterkenntnis ergibt sich, dass der Mensch dazu bestimmt ist, in seinem Leben nicht dem Irdischen, sondern dem Göttlichen in Welt und Selbst zu folgen. E. NORDEN hat ferner auf den vierten Traktat des heidnisch-gnostischen corpus Hermeticum hingewiesen (frühestens 2. Jh. n. Chr.), demzufolge die Seelen durch die Verkündigung eines göttlichen Herolds erkennen sollen, »wozu sie geboren sind und von wem« (eöpi? tiß gegoßnasi kai? uÖpo? tißnow; zit. n. Agnostos Theos, 102). Auch hier steht die Vorstellung von der Zugehörigkeit der Seelen zu Gott und von ihrem entsprechenden Aufstieg zu ihm im Hintergrund. Die übrigen, zumal die älteren bei Norden angeführten Zeugnisse sind im Blick auf die fragliche longinische Formulierung weniger einschlägig, wenngleich sie die allgemeine Verbreitung des Motivs einer religiösen Selbsterkenntnis des Menschen belegen. Diese besteht laut Seneca z.B. in dem Wissen des Menschen, »wohin er gehen wird und woher er geboren ist« (epist. 82,6: quo iturus sit unde ortus). Aus alledem folgt für das Verständnis der longinischen Wendung pro?w aÜ gegoßnamen: Es ist gut denkbar, dass die religiös konnotierte Frage, »wozu wir geboren sind«, mindestens in stoischen Kreisen bereits im 1.Jh. n. Chr. ein religiös-philosophischer Topos gewesen ist, und zwar mitsamt einer impliziten Antwort: Als gottverwandtes Wesen bist du geboren, darum sollst du dich über das Irdische erheben und dich dem Göttlichen nähern: »dies Himmlische immer betrachten, jenes (Nur-)Menschliche verachten« (haec caelestia semper spectato, illa humana contemnito); so Africanus in Ciceros ›Somnium Scipionis‹ (rep. VI, 19), das wohl in wesentlichen Teilen auf Poseidonios zurückgeht (vgl. E. NORDEN: aaO. 105); vgl. auch die Passage über die cognitio rerum caelestium fin. 4,11. Vgl. zum Gedanken einer menschlichen Bestimmung auch das oben angesprochene Motiv einer dem Menschen zugewiesenen »Rolle« (off. 1,97: persona). 201 E. NORDEN: aaO. 105.
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jaumaßzoien, pareßntew auäcein taöjaßnata.202
sterbliches Teil hochschätzen, ihr unsterbliches aber zu fördern versäumen.
Im Zusammenhang der allgemeinen Niedertracht konstatiert Longin auch das Schwinden »seelischer Größe«. Dem Trachten nach dem Niedrigen korrespondiert das allgemeine Fehlen des hochsinnigen »Blickes nach oben« – mit dem Verb aönableßpein wird auf das Platonzitat von 13,1 (s.o.) angespielt –, der Orientierung am Sterblichen entspricht die Vernachlässigung des Unsterblichen. Mag der Mensch auch von Natur mit einem »unsterblichen Teil« ausgestattet, dem Irdischen in gewisser Weise enthoben sein, er kann sein Wesen auch verfehlen, indem er sein Selbstverständnis und sein Handeln allein an den niederen »Begierden« (44,6) ausrichtet, anstatt das natürliche Streben der Seele nach dem Hohen zu »fördern«. Seine überirdische Bestimmung ist dem Menschen nicht ohne weiteres dauerhaft bewusst, sondern muss sich ihm erst erschließen. Sie kann ihm aufgehen, so der Tenor von Kap. 35, wenn er wahrnimmt, was ihn ringsum an Übergroßem umgibt. Die Hochsinnigkeit, der ›hohe Sinn‹ für den eigenen Adel, ist eine Anlage der menschlichen Seele, die durch die rhetorischästhetische Erfahrung je und je aktualisiert werden muss. Wie eine verborgene Erinnerung liegt das Wissen um die göttliche Abkunft in der Tiefe der Seele und wartet darauf, wachgerufen zu werden. Dies geschieht, wenn die Hochsinnigkeit durch äußere Größe angesprochen wird. Dann resoniert ineins mit dem ästhetischen Sinn für das Große auch jener tief-innere Sinn für die eigene Hoheit, und das Außerordentliche der Natur wird der Seele zum Spiegel ihres außerordentlichen Ranges, zum Zeichen ihrer außerordentlichen Bestimmung: eänjen fusikvqw pvw aögomenoi ma? Diß’ ouö ta? mikra? rÖeiqjra jaumaßzomen, eiö kai? diaughq kai? xrhßsima, aölla? to?n Neiqlon kai? $Istron hü &Rhqnon, polu? d’ eäti maqllon to?n §Vkeanoßn: ouödeß ge to? uÖf’ hÖmvqn touti? flogißon aönakaioßmenon, eöpei? kajaro?n sv#ßzei to? feßggow, eökplhttoßmeja tvqn ouöranißvn maqllon, kaißtoi pollaßkiw eöpiskotoumeßnvn, ouöde? tvqn thqw Aiätnhw krathßrvn aöciojaumastoßteron nomißzomen, hWw aiÖ aönaxoai? peßtrouw te eök bujouq kai? oÄlouw oäxjouw aönafeßrousi kai? potamou?w eönißote touq ghgenouqw eökeißnou kai? auötomaßtou proxeßousi puroßw.203
202 203
44,8. 35,4.
Daher bewundern wir, von der Natur irgendwie getrieben, nicht die kleinen Bäche, beim Zeus, wenn sie auch klar und nützlich sind, sondern den Nil und die Donau oder den Rhein und viel mehr noch den Ozean. Auch das von uns hier entzündete Flämmchen ergreift uns, auch wenn es sein Leuchten rein bewahrt, nicht so sehr wie jene Feuer des Himmels, auch wenn sie sich oft verdunkeln; wir halten es auch nicht für bewundernswürdiger als die Krater des Ätna, dessen Ausbrüche Steine und ganze Felsbrocken aus der Tiefe herausschleudern und manchmal Ströme jenes erdentstammten, natürlichen Feuers hervorgießen.
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Wie sich der hochsinnige Mensch angesichts des ›Übermäßigen‹ in der äußeren Natur seiner eigenen Gottverwandtschaft innewird, so auch angesichts des ›Übermäßigen‹, ›Außerordentlichen‹ (uÖperfuaq) in der Rede. Die erhabene Wirkung des Außerordentlichen wurzelt auch hier im menschlichen ›Eros des Großen‹. Insofern ist das Erhabene immer ›Widerhall von Hochsinnigkeit‹ (9,2). Aufgrund der vorliegenden Interpretation des Hochsinnigkeitsbegriffs lässt sich nun auch die volle Bedeutung dieser Grundthese von Longins Hypsostheorie angeben. Weil der Mensch ein ›adeliges‹, gottähnliches Moment in sich trägt; weil er seiner Natur nach dem Irdischen in gewisser Weise enthoben und auf das Göttliche bezogen ist, darum eignet ihm von Natur aus Hochsinnigkeit: ein Verlangen nach allem ›Großen‹, d.h. nach allem, was wie er selbst das irdische Normalmaß überragt und was ihm so zum Sinnbild seiner eigenen »überirdischen« Größe, seiner transzendenten Bestimmung werden kann. Die fundamentale Ausrichtung der menschlichen Seele auf das »Himmlische« ist unmittelbar mit einem ästhetischen Sinn gekoppelt, der das Große in Dichtung und Natur als Symbol der eigenen Größe zu dechiffrieren vermag. Dieser naturgegebene doppelte Sinn ist es, der bei der Erhabenheitserfahrung anspricht, und daher ist diese Erfahrung, wie in 7,2 behauptet, »natürlich«.204 »Das Erhabene ist Widerhall von Hochsinnigkeit«, heißt also: Es ist Reflex jenes doppelten, ästhetisch-religiösen Sinnes und mithin letztlich Reflex der hohen Anlage der menschlichen Seele, ihrer wesenhaften Ausrichtung auf das Göttliche. Diese Ausrichtung ins Bewusstsein zu heben, den Sinn für die eigene ›Gottverwandtschaft‹ zu wecken, ist die Funktion der Rhetorik des Erhabenen. Folglich kommt der erhabenen Rede eine konstitutive Rolle für die Bildung des Menschen zu, insofern es an ihr ist, die Seele von klein auf mit »edler Gesinnung« (9,1) und »gewichtigen Gedanken« (9,4) »zur Größe aufzuziehen« (9,1), sie die eigene naturgegebene Größe gewahren zu lassen. Ähnlich wie das pathos hat auch der eigentliche Kernbegriff der longinischen Theorie eine produktions-, eine rezeptions- und eine werk- oder darstellungsästhetische Seite. Dem »großen« Dichter ist die Hochsinnigkeit elementare Triebkraft seines Schaffens. Sein Sinn ist allein darauf gerichtet, solch ›gewichtige‹ Gedanken zu fassen und in angemessene Sprache zu kleiden, an denen sich der Mensch in seiner hohen Bestimmung erkennen kann. Dies geschieht wiederum aufgrund der Hochsinnigkeit des Rezipienten. Sie lässt diesen nur das für wahrhaft erhaben halten (Kap. 7), was ihm seine himmlische Berufung aufgehen lässt. Diese geht ihm auf, indem seine Seele angesichts des Außerordentlichen in einen freudigen Aufschwung versetzt wird; in eine Hochstimmung, die im »Stolz« über die eigene »gottähnliche« Würde, im Bewusstsein des eigenen »göttlichen« Wertes gründet. Auch die204
S.o. Kap. 2.2.
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se aktuelle Hochstimmung heißt bei Longin megalophrosynê (7,3), d.h. der Begriff kann sowohl den dispositionellen ›Sinn für das Überirdisch-Große‹ als auch das aktuelle Ansprechen dieses Sinnes auf das Erhabene bezeichnen. Wird das in 7,2 angesprochene Moment des Stolzes in der Rezeption des Erhabenen205 solchermaßen von der religiös verstandenen Hochsinnigkeit her interpretiert, im Sinne eines Gewahrwerdens der eigenen hohen Bestimmung, klärt sich auch der Stellenwert der heroisch-aristokratischen Anklänge im longinischen Hochsinnigkeitsbegriff. Offenbar indizieren sie nicht eine unmittelbare Affinität Longins zum homerisch-aristotelischen Konzept unter dem Leitgedanken eines (quasi-)heroischen Statusbewusstseins. Vielmehr liegt diese Leitidee der longinischen megalophrosynê – ähnlich der magnitudo animi Ciceros – gleichsam in sublimierter und universalisierter Form zugrunde: eben als Gedanke eines in jedem Menschen angelegten Sinnes für die quasigöttliche Adelsstellung seiner Natur. Aus dieser Perspektive sind denn auch alle heroisch-aristokratischen Motive bei Longin zu verstehen. Das Schweigen des Aias (9,2) etwa ist Ausdruck von Hochsinnigkeit, nicht insofern es sich dem unbeugsamen Ehrverlangen des Helden verdankt, sondern insofern das sich darin artikulierende übermenschliche Statusbewusstsein dem gewöhnlichen Menschen zum Bild seines eigenen »übermenschlichen« Status wird.206 Auf der Basis der produktions- und der rezeptionsästhetischen Bedeutung kann megalophrosynê schließlich auch der Rede selbst zugeschrieben werden. Hochsinnig ist eine sprachliche Darstellung dann, wenn in ihr die Hochsinnigkeit des Produzenten zum Ausdruck kommt und wenn sie das Potential hat, die Hochsinnigkeit des Rezipienten, seine ästhetisch-religiöse Disposition, anzusprechen. So sind die Werke der Klassiker laut Longin trotz ihrer Fehler allein »um ihrer Hochsinnigkeit willen«207 allen fehlerfreien, aber mäßigen Werken vorzuziehen.208 Die Hochsinnigkeit ihrer Werke wie ihrer Seele lässt jene Klassiker geradezu unsterblich werden: Ouökouqn eöpiß ge tvqn eön loßgoiw megalofuvqn, […], proshßkei sunjevreiqn auötoßjen, oÄti touq aönamarthßtou polu? aöfestvqtew oiÖ thlikouqtoi oÄmvw pantoßw eiösin aöpaßnv touq jnhtouq: kai? ta? me?n aälla tou?w xrvmeßnouw aönjrvßpouw eöleßgxei, to? d’ uÄyow eöggu?w aiärei megalofrosußnhw jeouq.209
205
S.o. Kap. 2.2. S.o. Kap. 2.5. 207 33,4: thqw megalofrosußnhw auöthqw eÄneka. 208 Vgl. auch 14,1. 209 36,1. 206
Hinsichtlich der großen Naturen der Rede […] lässt sich daher feststellen, dass solche Menschen, indem sie die Fehlerfreiheit gänzlich beiseite lassen, sich zugleich ganz über alles Sterbliche erheben. Und während alle anderen Eigenschaften sie als Menschen erweisen, hebt sie das Erhabene nahe an die Hochsinnigkeit Gottes heran.
3. Die konstruktiven Leitbegriffe von ›Peri Hypsous‹
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Die Hochsinnigkeit der Klassiker ist so groß, dass sie sich in ihrem erôs tou megalou nicht nur nach dem Himmlischen ›ausstrecken‹ (35,2), sondern dabei gleichsam den Bereich des Irdischen, Sterblichen verlassen. Wenn sie auch den übrigen Eigenschaften nach Menschen sind und bleiben, in ihrer Hochsinnigkeit hebt sich ihre Seele über das Sterbliche hinaus und reicht nachgerade an die »Hochsinnigkeit Gottes« heran.210 In ihrem Streben nach dem ›Großen‹ gewinnt sie eine solche Höhe – und das heißt auch: ein solch starkes Bewusstsein von »Gottähnlichkeit« –, dass sie fast den Status unmittelbarer Göttlichkeit erreicht. Hier klingt offensichtlich das platonische Motiv der Gottverähnlichung (oÖmoißvsiw jev#q) an.211 Die Seele nähert sich laut Longin in der Erschaffung des Erhabenen dem Vollbesitz dessen, wonach sich der Mensch in seiner Hochsinnigkeit ausstreckt, und der diesem Vollbesitz entsprechenden »Hochstimmung«, die bei Platon Glückseligkeit heißt.212 Nachdem an der letztzitierten Passage noch einmal der religiöse Zug der longinischen megalophrosynê sichtbar geworden ist, lässt sich im Rückblick auf die Geschichte des Begriffs festhalten, dass in Peri Hypsous eine eigentümliche ästhetisch-religiöse Fassung von Hochsinnigkeit vorliegt. Sie berührt sich eng mit dem aus der Stoa herkommenden Konzept eines ethischen ›hohen Sinns‹, hat dabei aber noch stärker Motive des platonischen Idealismus aufbewahrt. Bezeichnet Hochsinnigkeit für Longin wie für Cicero den Sinn für die Exzellenz des Menschen, ist nämliche Exzellenz bei Longin deutlicher religiös konnotiert. Hier scheint das platonisch geprägte religiös-metaphysische Menschenbild der mittleren (Poseidonios) oder späteren Stoa (Epiktet, Mark Aurel) durch, wonach die Vorzugsstellung des Menschen, die dem hohen Sinn aufgeht, in seiner »Gottverwandtschaft« und einer entsprechenden Ausrichtung auf das Göttliche besteht. Mit der Hochsinnigkeit ist, wie sich mutatis mutandis schon bei Cicero andeutete, nicht ein besonderer Charakterzug oder eine einzelne Tugend thematisch, sondern das grundlegende Selbstverständnis und die elementare Sinnesrichtung des Menschen. Nach der impliziten Logik von Ciceros Ethikkonzeption kommt es zuallererst darauf an, ein hochsinniges Ethos zu entwickeln, das in dem Leitbild der menschlichen Exzellenz und Würde (decorum) und in der Idee des Ehrbaren (honestum) Maß und Ziel allen 210 Cicero spricht ähnlich von der »Hochsinnigkeit der Götter« (fin. 4,11: magnitudo animi deorum). Nach Cicero lernt Hochsinnigkeit, wer in der Betrachtung der großen Werke und Taten der Götter auch die Größe des Sinnes oder der Gesinnung erblickt, von der jene herrühren. 211 Vgl. Plat. Tht. 176b. Die Verbindung von Hochsinnigkeit und Gottverähnlichung klingt etwa auch bei Seneca an, wenn er in epist. 31,11 den animus magnus als deu[s] in corpore humano hospitan[s] tituliert und mit dem Motiv der Gottebenbildlichkeit (imago dei) assoziiert. 212 Vgl. z.B. Phaidr. 250bc.
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Handelns erblickt und dem Leben so eine Ausrichtung »nach oben« gibt, es über alles bloß Menschliche hinaushebt. Analog steht bei Longin mit der Hochsinnigkeit die Grundausrichtung des menschlichen Lebens auf dem Spiel. Ob sein angeborener innerer Sinn für (die eigene) Größe geweckt wird, ob der Mensch also seiner naturgegebenen Hoheit tatsächlich auch gewahr wird, davon hängt ab, ob er seiner Bestimmung folgend dem Himmlischen entgegenstrebt oder ob er, ganz dem Irdischen verhaftet, sich im Widerspruch zu seiner eigentlichen Natur den ›niedrigen‹ Lebewesen gleichmacht und verkümmert. Vor diesem Hintergrund wächst dem Erhabenen in der Literatur die schlechthin fundamentale pädagogische Aufgabe zu, die Hochsinnigkeit des Menschen zum Resonieren zu bringen, nämliches Exzellenzbewusstsein zu wecken und zu hegen, auf dass er, gleich dem platonischen Philosophen »wie ein Vogel nur hinaufwärts schauend und, was drunten ist, gering achtend« (Phaidr. 249d), seinem menschlich-übermenschlichen Adel gerecht wird. Mit der Deutung des Erhabenen als ›Widerhall von Hochsinnigkeit‹ ist die metaphysisch-religiöse Kernthese von Peri Hypsous benannt. Die spezifische Signatur von Longins Hypsostheorie ist damit aber noch keineswegs vollständig erfasst. Schließlich war neben der megalophrosynê im pathos eine zweite Hauptquelle benannt worden, deren Beitrag zum Erhabenen laut Longin gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann (8,4). Das Erhabene, das als ›Widerhall von Hochsinnigkeit‹ in der metaphysischen Natur der menschlichen Seele wurzelt, ist zugleich wesentlich durch Pathosphänomene charakterisiert. Das Proprium von Peri Hypsous ist folglich nicht allein in der Rückführung des Erhabenen auf die religiös konnotierte Hochsinnigkeit zu suchen, sondern zudem in deren Verkopplung mit dem pathos. Wie sich Longins Pathosthese mit seiner Hochsinnigkeitsthese vereinbaren lässt, versteht sich allerdings keineswegs von selbst. Die Frage, wie die unter dem Titel pathos verhandelten Überwältigungserfahrungen den Aufschwung der Seele zum Bewusstsein der eigenen metaphysischen Größe auslösen könne, hatte sich ja im Kern bereits im Zusammenhang der Ausführungen zum pathos (3.1) gestellt. Jedenfalls kann das Erhabene – als ›Widerhall von Hochsinnigkeit‹ – nicht in der Erregung von »bloßem« pathos aufgehen. Das pathos muss von der Metaphysik der Hochsinnigkeit her zu verstehen sein, um ein Element des Erhabenen sein zu können. Die angesprochene Vermittlung zwischen den beiden Hauptquellen des Erhabenen wird bei Longin im Pathetisch-Erhabenen geleistet. Neben diesem Typ rechnet Longin, wie wir sahen, auch mit einer Grundform des hypsos, die ganz ohne pathos auskommt und als das Majestätisch-Erhabene bezeichnet werden kann. Beide Grundformen sind im folgenden Kapitel zu erörtern, wobei der Ersteren – dem Rang innerhalb von Peri Hypsous entsprechend – größere Aufmerksamkeit gelten wird.
4. Die Grundformen des Erhabenen 4.1. Das Pathetisch-Erhabene Wie sich in den bisherigen Ausführungen bereits angedeutet hat, gilt das Hauptinteresse von Peri Hypsous der Konturierung einer Form von Erhabenheit, die sich wesentlich durch die Beteiligung von pathos auszeichnet. Unter Berücksichtigung des Hochsinnigkeitsmotivs heißt das, dass nach Longin im Pathetisch-Erhabenen beide Hauptquellen des hypsos zusammenwirken. Über die Art dieses Zusammenwirkens gibt der Traktat nicht eigens Auskunft. Das Nämliche gilt für die gesamte Sekundärliteratur zu Longin. Es ist daher im Folgenden etwas weiter auszuholen, um aus verschiedenen Beobachtungen an Peri Hypsous sowie an anderen Texten aus dem antiken Diskurs über die Bewertung der »Leidenschaften« ein Bild vom Verhältnis von Pathos und Hochsinnigkeit im Pathetisch-Erhabenen zu gewinnen. 4.1.1. Das Pathos als Medium von Hochsinnigkeit 4.1.1.1. Die Pathossituation als Bewährungsort von Hochsinnigkeit In seiner Studie über Die Rhetorik als Quelle des vorromantischen Irrationalismus in der Literatur- und Geistesgeschichte hat der Anglist Klaus Dockhorn 1949 (in einem Argumentationszusammenhang, der hier nicht weiter interessiert) eine das Verhältnis von Pathos und Hochsinnigkeit betreffende Überlegung angestellt. Vorausgesetzt ist dabei, dass die pathetische perturbatio animi (wörtl. ›Aufruhr der Seele‹) und die magnitudo animi – von Cicero gekennzeichnet als »Freiheit von jeglicher Leidenschaft«1 – einander eigentlich widerstreiten. Dockhorn zufolge können beide Größen in der Rhetorik dennoch eine charakteristische Verbindung eingehen, sofern nämlich die ›Seelengröße‹ (so Dockhorns Wiedergabe von magnitudo animi) in der stoischen Ethik verstanden wird als »die in Konfliktsituationen, wir dürfen sagen Pathoslagen […], sich siegreich bewährende und über-menschli-
1
Cic. off. 1,67: ab omni animi perturbatione liber[tas].
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che Unberührtheit der Seele«2. Wie Dockhorn Ciceros Fassung der magnitudo animi entnimmt, offenbart sich jene Seelengröße – als Standhaftigkeit (patientia), Tapferkeit (fortitudo) und Unabhängigkeit (rerum humanarum despicientia) wirkende innere Kraft (animi robur)3 – vornehmlich »in Gefahr- und Mühsalsituationen«, insofern diese »den Anlaß zu hoher Bewährung der Seele«4 geben. Die bei Cicero greifbare Auffassung, dass die Seelengröße sich insbesondere im tapferen Standhalten angesichts handgreiflicher Bedrängnis manifestiert,5 enthält nach Dockhorns Ansicht mit dem Konnex von Hochsinnigkeit und »Pathossituation« bereits denjenigen Zusammenhang, an den dann auch die Rhetorik mit ihrem traditionellen Pathosbegriff anknüpft, um die neue ethisch-ästhetische Erfahrung des (später) sogenannten ›Erhabenen‹ zu beschreiben. So wird aus der »entsetzend-bedrückenden«6 Wirkung, die mit der Pathoskategorie angesprochen war, durch Verbindung mit dem ethischen Gedanken der ›Seelengröße‹, die sich in Bedrängnis zu bewähren hat, die spezifische Wirkung der admiratio: der Bewunderung des vir magnus, der sich kraft seiner inneren Stärke »siegreich der Bedrohungen und Versuchungen erwehrt und das Menschliche verachtet«7. Vor dem Hintergrund der ethischen Idee einer »in Pathossituationen auftretenden«8 Seelengröße wird – so lassen sich die Ausführungen Dockhorns zuspitzen – die alte rhetorisch-poetologische Kategorie des pathos zur Funktion der ethischästhetischen Wirkung der Bewunderung einer dem pathos widerstehenden inneren Kraft und Größe. Es ist laut Dockhorn dieselbe Wirkung, die nachmals unter dem Titel des ›Erhabenen‹ firmieren und zum Heroismus des Barockdramas führen wird. Die skizzierten Spekulationen enthalten eine plausible Hypothese zum Verhältnis von Pathos und Hochsinnigkeit innerhalb der Theorie des Erhabenen und damit zugleich zur Genese nämlicher Kategorie. Demzufolge ist in der Verknüpfung von Hochsinnigkeit und Pathos innerhalb der stoischen Tugendlehre der Ausgangspunkt für die Überformung des rhetorisch-poetologischen Pathosbegriffs durch den ethisch-metaphysischen Hochsinnigkeitsbegriff zu erblicken und mithin der Ausgangspunkt für die Ästhetik des Erhabenen. Sonach ist das Erhabene als neue ethisch-ästhetische Kategorie geboren, sobald die Rhetorik das pathos nicht mehr als Persuasions-
2
K. DOCKHORN: Die Rhetorik, 61. Vgl. Tusc. 1,95. 4 K. DOCKHORN: aaO. 60. 5 S.o. Kap. 3.2.2. 6 K. DOCKHORN: aaO. 61. 7 Ebd. 8 Ebd. 3
4. Die Grundformen des Erhabenen
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mittel begreift, sondern als Faktor, an dem sich ›hoher Sinn‹ zur Darstellung bringen lässt. Wenngleich Dockhorns Versuch, die besagte ästhetische Verknüpfung von Pathos und Hochsinnigkeit nun auch in Ciceros Rhetorik nachzuweisen, nicht überzeugt,9 büßt doch jene Hypothese ihre Plausibilität nicht grundsätzlich ein. Von der traditionellen Rhetorik und Poetik ausgehend könnte es nahegelegen haben, die spezifische seelische Erschütterung, die der Pathosbegriff seit jeher thematisiert hatte, im Horizont jener Hochsinnigkeitsethik als Ort der Bewährung bzw. der Darstellung des ›hohen Sinnes‹ zu deuten. Es ist aber nicht schon Cicero, sondern erst der Autor von Peri Hypsous gewesen, der die »Kombination von Seelengröße und Pathos«10 – wie sie Dockhorn in einem Halbsatz über Longin immerhin konstatiert – innerhalb der Rhetorik zum ersten Mal programmatisch vollzogen hat. Die Erschließungskraft der Dockhorn’schen Hypothese wird sich also an Peri Hypsous zu bewähren haben. Im Ausgang von dieser Hypothese und in Aufnahme der bisher herausgearbeiteten Strukturmomente des Erhabenen soll im Folgenden eine systematische Bestimmung des Verhältnisses der beiden Hauptbegriffe von Peri Hypsous versucht und modellhaft entfaltet werden (4.1.1.2), um selbiges Modell daraufhin an den literarischen Exempeln von Peri Hypsous zu überprüfen (4.1.1.3) und näher zu explizieren (4.1.1.4). Dabei wird eine Modifikation jener Verhältnisbestimmung notwendig werden. Ein anschließender Blick auf die antike Affekttheorie wird dann zu einer nochmals dif-
9 Dockhorn interpretiert Belege sehr frei und ohne jede Rücksicht auf ihren Kontext. So führt er als Hauptbeleg für die These, Cicero selbst habe i.S. eines »ästhetischen Gegensatzschemas« (aaO. 62) zwischen der admiratio (›Bewunderung‹) als Reaktion auf eine sich in Bedrohungssituationen offenbarende magnitudo animi einerseits und der iucunditas (›Wohlgefallen‹) als wesentlich schwächerem Reflex angesichts eines lediglich »anmutenden« Charakters andererseits unterschieden, eine Passage aus de orat. II,343f an. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass hier magnitudo animi etwas anderes bedeutet als an den einschlägigen Stellen von De officiis, nämlich eine philosophische »Geistesgröße«, die sich – gemeinsam mit der Weisheit – über alle menschlichen Belange hinwegsetzt. Dieser Geistesgröße wird die tapfere Bewährung (fortitudo) »in gemeinschaftlichen Gefahren« (in periculis communibus) gerade entgegengesetzt. Solche Tapferkeit ist, weil gemeinschaftsbezogen, dem Hörer einer Lobrede »angenehm« (iucunda), und daher ist sie als Gegenstand einer laudatio jener Geistesgröße vorzuziehen. Das ›Wohlgefallen‹, nicht die ›Bewunderung‹ ist für Cicero ganz offensichtlich das vorzügliche Wirkungsziel der Lobrede, und mit dem »Pathos als dem Bedrohlich-Gefährdenden« (K. DOCKHORN: ebd.) hat admiratio hier schlechterdings gar nichts zu tun. Von einem festen »Wertschema von ›admiratio-iucunditas‹, in welchem das ›Anmutende‹ hinter dem ›Bewundernswürdigen‹ zurücktritt« (63), kann also wenigstens im Blick auf Cicero nicht die Rede sein. 10 K. DOCKHORN: aaO.
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ferenzierteren Sicht der Archäologie und Struktur des (Pathetisch-)Erhabenen führen (4.1.2). 4.1.1.2. Das ›edle Pathos‹ angesichts der Bedrohung Im Anschluss an Dockhorn soll versuchsweise angenommen werden, dass innerhalb der longinischen Hypsostheorie das pathos als Bewährungsort von Hochsinnigkeit rangiert. Demzufolge ist es deshalb wesentliche Quelle des Erhabenen, weil es wichtigstes Mittel der Darstellung und Weckung von Hochsinnigkeit ist, insofern nämlich insbesondere in der pathoshaften Bedrängnis der Seele deren ideale Ausrichtung und Weltenthobenheit sichtbar wird. Aus der funktionalen Zuordnung von Pathos und Hochsinnigkeit ergibt sich für die Erfahrung des (Pathetisch-)Erhabenen das Modell eines zweistufigen Prozesses, der alle wichtigen Strukturmomente des Erhabenen enthält: Zuerst wird die Seele durch die außerordentliche Bedrohung (pathos im inhaltlichen Sinn) in ihrem kontrollierten Normalzustand erschüttert (ekplêxis).11 Angesichts der Gefahr gerät sie in einen Ausnahmezustand angstvoller Erregung (ekstasis im weiteren Sinn),12 der sich in einem Moment größter Dringlichkeit besonders zuspitzt.13 Diese Erschütterung induziert nun zweitens einen Aufschwung der Seele.14 Ihr hoher Sinn wird geweckt und lässt sie ihres metaphysischen Adels gewahr werden. Mitten in der Gefahr spürt sie ihre Weltenthobenheit, ein spezifisches »Darüberhinaus«, das selbst die Angst vor dem Tod schwinden lässt. In die Erschütterung mischt sich ein überschießendes Moment von Hochsinnigkeit bzw. Erhabenheit. Innerhalb dieser zweistufigen Erfahrung der ›erhebenden Erschütterung‹ ist die Erschütterung der Seele Bedingung ihres Aufschwungs. Weil aber das Erschüttertwerden eben ein pathos ist, ein »Erleiden«, das nicht willkürlich hervorgerufen werden kann, eignet jener Erfahrung als Ganzer der Charakter eines unverfügbaren Widerfahrnisses.15 Der beschriebene zweistufige Prozess ist – entsprechend der Multiperspektivität des Pathosbegriffes sowie der gesamten longinischen Theorie – auf drei verschiedenen Ebenen zu lokalisieren: einmal auf der Ebene des Stoffes bzw. seiner Akteure, dann auf der Ebene des Produzenten und schließlich auf derjenigen des Rezipienten. Produzent und Rezipient neh11 Dem entsprechen die in Kap. 2.1 ausgewiesenen Strukturmomente Außerordentlichkeit, Übermächtigkeit, Erschütterung, Kontrollverlust. 12 Vgl. Kap. 2.1: Extremzustand. 13 Vgl. Kap. 2.1: Abruptheit, Punktualität, Kairosabhängigkeit; 3.1.2: Unordnung, Akutheit. 14 Vgl. Kap. 2.2: Freudigkeit, Selbstbezüglichkeit. 15 Vgl. Kap. 3.1.2: Widerfahrnis, Unverfügbarkeit.
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men kraft der Vergegenwärtigung der betreffenden Handlung am pathos des Protagonisten teil. Der Produzent versenkt sich in den zu gestaltenden Stoff und folgt seiner Figur bis in den kairos größter Bedrängnis. Dabei kann er dank der eigenen Hochsinnigkeit und dank seiner Identifikation mit dem hochsinnigen Helden gerade im Augenblick größter Erschütterung ein Moment des »Darüberhinaus« empfinden. Entsprechend weiß er dieses hochsinnige Moment auch seiner Schilderung jenes Augenblicks einzuzeichnen, und so kommt es zur Gestaltung eines erhabenen Höhepunktes der Darstellung. Der Hörer bzw. Leser rezipiert den bereits sprachlich gestalteten Stoff, in dessen sprachliche Gestalt das Mitergriffensein des Autors eingegangen ist. Er verfolgt die Darstellung und lässt sich von der gestalteten Handlung fortreißen bis zu jenem Höhepunkt erhebender Erschütterung, an dem der Produzent den kairos des stärksten pathos sprachlich treffend umgesetzt und dem Helden zugleich den Ausdruck eines »Letztlich-nichtgetroffen-Seins« eingeschrieben hat. Erschüttert durch das akute pathos »erinnert« sich die Seele des Rezipienten in solchem Ausdruck von Hochsinnigkeit sogleich der eigenen Weltenthobenheit, und so vollzieht sie mit dem Protagonisten auch den Aufschwung der Seele mit. Sie macht selbst die Erfahrung erhebender Erschütterung. Das skizzierte Interpretationsmodell, das den ausgewiesenen Momenten der Hypsoserfahrung durchaus gerecht zu werden scheint, erklärt indessen noch nicht den Übergang von Stufe 1 (›Erschütterung‹) zu Stufe 2 (›Aufschwung‹). Sollte es dafür lediglich darauf ankommen, dass die Seele überhaupt heftig aufgewühlt wird, auf dass die schlummernde Hochsinnigkeit erwacht? Ist also allein die Intensität des pathos entscheidend? Der Blick auf die einschlägigen Beispiele für Pathosgehalte hatte ergeben, dass Longin vorwiegend Bedrohungssituationen das Potential zubilligt, beim Produzenten oder Rezipienten die gesuchte ›erhebende Erschütterung‹ hervorzurufen. Solcherlei Situationen sieht Longin, so lässt sich im Horizont des von Cicero namhaft gemachten Konnexes von Hochsinnigkeit und Bedrängnis vermuten, offenbar als besonders geeignet an, an dem betroffenen Helden Hochsinnigkeit zur Darstellung zu bringen. Sie scheinen den äußeren Anlass zu bieten, das innerliche Bewusstsein der »Übermenschlichkeit« oder »Gottverwandtschaft« zu bewähren, nämlich als Bewusstsein, über nämliche Bedrohung in irgendeiner Weise »hinaus« zu sein. Mit dieser Vermutung ist allerdings noch keineswegs deutlich, wie sich das fragliche »Darüberhinaus« angesichts der akuten Bedrohungslage darstellt. Einen Hinweis zur Klärung dieser Frage gibt Longins Interpretation einer Stelle aus Aischylos’ Sieben gegen Theben, die er als Beispiel vorbildlicher ›Vergegenwärtigung‹ (phantasia) anführt und mithin als Beispiel gelungener Pathosdarstellung. »Aischylos wagt sich an die Vergegenwärtigung
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von äußerster Heldenhaftigkeit«16, indem er vom Schwur der Sieben berichtet, mit dem sie sich verpflichten, entweder zu siegen oder zu sterben. Longins Kommentar: »Ohne Jammer (dißxa oiäktou) schwören sie einander jeweils den eigenen Tod« (15,5). In diesem kurzen Satz ist der Kern von Longins Theorie des ›Pathetisch-Erhabenen‹ berührt: Dem Tod »ohne Jammer« in die Augen zu blicken, im Augenblick tödlicher Bedrohung nicht vor Todesangst zu vergehen, sondern der Bedrohung innerlich standhalten zu können, darin offenbart sich die hochsinnige Weltenthobenheit, die Signum eines metaphysischen Würdebewusstseins und Bedingung »äußerster Heldenhaftigkeit« ist. Die Wendung dißxa oiäktou weist zurück auf eine Unterscheidung, die Longin bei der Einführung des pathos als Basiskategorie des hypsos vorgenommen hatte. Um das Missverständnis auszuräumen, das Erhabene und das Pathetische überhaupt seien eins, als komme es – wie die klassische Rhetorik gelehrt hatte – vor allem darauf an, möglichst heftige Affekte auszulösen, disqualifiziert Longin an dieser Stelle »gewisse ganz und gar nicht erhabene und niedrige Arten des Pathos« (8,2), um stattdessen das »edle Pathos« (8,4) als exklusive Quelle des hypsos geltend zu machen. Zugunsten des edlen Pathos werden schwache Affekte wie Jammer (oiQktoi) und Angst (foßboi) vom Erhabenen ausgeschlossen, weil sie – so muss die Stelle im Lichte der unmittelbar folgenden (9,2) Hochsinnigkeitsthese gelesen werden – einem hohen Sinn zuwiderlaufen. Wer angesichts der Bedrohung (pathos im inhaltlichen Sinn) in erbärmliches Klagen (oiQktoi) oder ängstliches Zagen (foßboi) und damit in jämmerliches Pathos (im affektiven Sinn) verfällt, anstatt in edlem Pathos, d.h. in einem seelischen Zustand von ›Erschütterung‹ und ›Größe‹ zugleich, dem äußeren pathos innerlich standzuhalten, an dem lässt sich nichts Hochsinniges ausmachen – nichts also von dem, worum es beim Erhabenen geht. Es lässt sich der Unterscheidung zwischen ›niedrigem‹ und ›edlem‹ pathos im Horizont des Leitmotivs der megalophrosynê eine grundlegende Rolle für die longinische Hypsostheorie zuschreiben, und zwar auf der Ebene der Handlung. Wie deutlich geworden ist, entscheidet sich an der Eigenart des seelischen pathos, ob die betreffende Pathossituation Medium von Hochsinnigkeit werden kann. Nicht eine jämmerliche, sondern nur eine ›edle‹ Reaktion des Helden vermag diese Funktion zu erfüllen. Das bedeutet für Produktion und Rezeption einer solchen Pathossituation: Wenn es dem Autor gelingt, kraft seines hohen Sinnes und seiner starken Phantasie im kairos höchster Bedrängnis ein Moment des »Darüberhinaus« (mit) zu empfinden und aufgrund dessen der Erschütterung seiner Figur ein Moment des Standhaltens, wenigstens der Gefasstheit, einzuzeichnen, kann der Rezi16
15,5: Aiösxußlou fantasißaiw eöpitolmvqntow hÖrvi_kvtaßtaiw.
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pient dieses Widerstandsmoment wiederum als Folge von Hochsinnigkeit dechiffrieren. Mit dem Ausweis des Widerstandsmoments in der Bedrängnislage, das die Differenz zwischen ›niedrigem‹ und ›edlem‹ pathos markiert, ist auch die Frage nach dem Übergang von der Erschütterung zum Seelenaufschwung innerhalb der zweistufigen Erfahrung des Erhabenen fürs Erste beantwortet. Es ist dieses Moment des Standhaltens im pathos des Protagonisten, das den Rezipienten vom bloßen (Mit-)Betroffensein durch dessen Widerfahrnis zum (Mit-)Vollzug von dessen Hochsinnigkeitsbewusstsein führt. Dass Longin die seelische Höhenlage des Rezipienten auch als ›Freude und Stolz‹ beschreiben kann, legt den Schluss nahe, dass sich in der ästhetischen Erfahrung der erhebenden Erschütterung trotz der Vergegenwärtigung schließlich doch auch das Moment der Distanz zwischen Rezipient und rezipiertem Stoff zur Geltung bringt: Das »Mitleiden« mit dem fiktiven pathos ebbt ab, während ›Freude und Stolz‹ noch dauern. Ausgehend von der Hypothese eines funktionalen Verhältnisses von Pathos und Hochsinnigkeit hat sich, so lässt sich resümieren, als Rekonstruktion von Longins Theorie des Pathetisch-Erhabenen das Modell einer zweistufigen Erfahrung plausibel machen lassen, die sich als ›erhebende Erschütterung‹ beschreiben lässt. Nur dann kann aufseiten des Rezipienten durch Pathos Hochsinnigkeit geweckt werden, wenn der Protagonist, wie er vermittels der Hochsinnigkeit, der Einbildungs- und Sprachkraft des Autors gezeichnet ist, im Augenblick höchster Bedrohung nicht etwa ›niedriges‹, sondern ›edles Pathos‹ erkennen lässt: nicht bloße Erschütterung, sondern darüber hinaus ein Moment des Widerstands, in dem sich ein Bewusstsein von Weltenthobenheit spiegelt. – Im Folgenden soll dieses Modell an einer Reihe von longinischen Exempeln geprüft und gegebenenfalls modifiziert werden. 4.1.1.3. Pathos und Hochsinnigkeit im Spiegel von Longins Beispielen: das ›enthusiastische Pathos‹ Das skizzierte Modell hat sich zuallererst an Aias zu bewähren, der dem Leser von Peri Hypsous als Muster ethischer und rhetorischer Erhabenheit vor Augen gestellt wird. Nachdem Longin in 9,1-4 die Hochsinnigkeit als wesentliches Kriterium für das ›Erhabene des Gedankens‹ ausgewiesen und in 9,5-9 eine Reihe von homerischen Beispielen aus dem Bereich der Götterwelt für ebensolche gedankliche ›Größe‹ präsentiert hat, führt er schließlich in 9,10f noch eine Homerstelle »aus der menschlichen Sphäre« an, um an ihr darzulegen, wie der Dichter »sich in das Heroisch-Große zu versetzen pflegt« (9,10). Die angeführte Perikope aus der Ilias hat demzufolge eine exponierte Stellung im Gang der Argumentation. Sie ist das literarische Musterbei-
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spiel für das Genre ›menschliche‹ bzw. ›heroische Größe‹. Sie markiert damit innerhalb des Themas ›Erhabenheit des Gedankens‹ (Quelle 1, Kap. 915) zugleich den Übergang vom Nichtpathetisch- zum Pathetisch-Erhabenen. Zum ersten Mal gebraucht Longin hier das pathos zur ausführlichen Interpretation einer ›erhabenen Stelle‹ – einer Stelle also, die nach der These von 9,2 ihre Größe dem ›Widerhall von Hochsinnigkeit‹ verdankt. Folglich muss sich hier erstmals und in paradigmatischer Weise zeigen lassen, inwiefern das pathos als Mittel zur Darstellung (und Weckung) von Hochsinnigkeit fungiert. Es muss sich zeigen lassen, inwiefern der homerische Aias in der beschriebenen Bedrängnissituation ein ›edles Pathos‹ und darin seinen ›hohen Sinn‹ beweist, um beim Leser der Stelle die Erfahrung ›erhebender Erschütterung‹ auszulösen. aöxlu?w aäfnv kai? nu?c aäporow auötv#q th?n tvqn &Ellhßnvn eöpeßxei maßxhn: eänja dh? oÖ Aiäaw aömhxanvqn, Zeuq paßter (fhsißn), aölla? su? rÖuqsai uÖp’ höeßrow uiWaw §Axaivqn, poißhson d’ aiäjrhn, do?w d’ oöfjalmoiqsin iödeßsjai, eön de? faßei kai? oälesson. eästin vÖw aölhjvqw to? paßjow Aiäantow: ouö gaßr zhqn euäxetai (hQn ga?r to? aiäthma touq hÄrvow tapeinoßteron), aöll’ eöpeidh? eön aöpraßktv# skoßtei th?n aöndreißan eiöw ouöde?n gennaiqon eiQxe diajeßsjai, dia? tauqt’ aöganaktvqn oÄti pro?w th?n maßxhn aörgeiq, fvqw oÄti taßxista aiöteiqtai, vÖw paßntvw thqw aörethqw euÖrhßsvn eöntaßfion aäcion, kaün auötvq# Zeu?w aöntitaßtthtai.18
Jählings umhüllt bei ihm [sc. Homer] Dunkel und undurchdringliche Nacht den Kampf der Griechen. Da ruft der hilflose Aias: Zeus Vater, hilf du aus dem Nebel den Söhnen Achaias, / schaff Klarheit und gib unsern Augen zu sehen. / Im Licht doch verdirb uns!17 So ist wahrhaft das Pathos eines Aias! Denn er fleht nicht um sein Leben (diese Bitte wäre für den Helden zu niedrig), nein, weil seine Tapferkeit durch die lähmende Finsternis gehindert wird, Edles zu vollbringen, bittet er in seinem Grimm über die Untätigkeit in der Schlacht, dass möglichst schnell Licht werde, um wenigstens ein der Tapferkeit [wörtlich: ›Bestheit‹, Tugend] würdiges Grab zu finden – und träte Zeus selbst ihm entgegen.
Die Griechen sind in der Schlacht in höchste Not geraten. Durch eine Finsternis, die ihnen – und nur ihnen – die Sicht raubt, zur Wehrlosigkeit gezwungen, drohen sie erbärmlich zugrunde zu gehen. Die Lage scheint aussichtslos, denn es ist klar, dass Zeus selbst seine Hand im Spiel hat. Und so wendet sich Aias im Gebet an den »Vater« der Götter und der Menschen. Aber er tut nicht das menschlich Normale angesichts des nahen Verderbens. Er verfällt nicht in einen jämmerlichen Affekt, »fleht nicht um sein Leben« – das wäre »zu niedrig« für einen Helden. Als wahrer Heros blickt er – gleich den »Sieben gegen Theben« – dem Tod »ohne Jammer« entgegen 17 18
Hom. Il. 17, 645–647. 9,10.
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(vgl. 15,5). So bittet er Zeus lediglich um einen Tod, der seinem hohen menschlichen Rang würdig ist: Er bittet um Licht, auf dass er und seine Mitstreiter im Kampf fallen dürfen, anstatt wehrlos niedergemacht zu werden. »Hinaufwärts schauend« auf den idealen Wert der aörethß (aretê) und »was drunten ist«, sogar das Leben selbst, »geringachtend« ist Aias auch angesichts des Todes frei von jedem niedrigen Affekt. Aber seine Hochsinnigkeit drückt sich nicht etwa – nach Maßgabe stoischer Apathie – in der Freiheit von jeglichem Affekt aus. Im Gegenteil, sie offenbart sich in einem Augenblick gedrängter affektiver Bewegung, in einem geradezu maßlosen Ausbruch von pathos. Hatte Aias’ Gebet mit einer vertraulichen Anrede (»Vater Zeus«) und einer entsprechenden Einleitung (»hilf du den Söhnen Achaias«) angehoben, um im zweiten Vers die Bitte um die Möglichkeit der Selbstverteidigung vorzubringen – im letzten Halbvers des Gebetes herrscht auf einmal ein völlig anderer Ton: »Im Licht doch verdirb uns!« Mit diesem schroffen Ausruf schließt das »Gebet«, und mit einem Mal fällt ein Schatten auf die voranstehenden Verse. Jetzt erst ist klar, dass es Aias gar nicht ums Überleben geht, sondern vielmehr um die Art seines Sterbens. Erst in der trotzigen Wendung des abschließenden Halbverses wird die Todesverachtung des Aias offenbar und die ihr entsprechende hochsinnige Fixierung auf den höheren Wert der aretê: Aias erbittet Licht, um kämpfend und mithin ehrenvoll zu sterben. Und auch das macht erst jener grimmige Ausruf deutlich: Einen Ton des Jammers oder der Angst wird man von Aias dabei nicht vernehmen – »und träte Zeus selbst ihm entgegen«. Im Umschlag vom fast innigen Ton der ersten beiden Verse des Gebets zum zornigen »Im Licht doch verdirb uns!« artikuliert sich ein Ausbruch von pathos, in dem die für Aias typische Hochsinnigkeit sichtbar wird: »So ist wahrhaft das Pathos eines Aias!«, kommentiert Longin. Es ist, als überkomme den Helden im Augenblick größter Bedrängnis die grimmige Todesverachtung, die sich in jener Wendung Ausdruck verschafft; als breche sich in jenem zornigen Ausruf ein Würdebewusstsein Bahn, in dem sich der Mensch Aias – an der Grenze zur Selbstüberhebung – auf eine Stufe mit der Gottheit erhoben weiß. Und so fordert er den göttlichen Feind förmlich zum Kampf auf und lässt ihn damit seine Geringachtung spüren: »Im Licht doch verdirb uns!« Es ist nicht ein niedriges, sondern ein eindrucksvolledles Pathos, das, im kairos des größten äußeren pathos hervorbrechend, des Aias Todesverachtung und Adelsbewusstsein bezeugt. In einer affektiven Eruption stellt sich der seelische Widerstand des Helden gegenüber der Bedrohung dar. Weil es Homer, nicht zuletzt dank seiner eigenen Hochsinnigkeit, gelungen ist, vermittels des Kontrastes zwischen Vertraulichkeit und Schroffheit innerhalb der Anrufung des Zeus mit einer einzigen sprachlichen Wen-
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dung einen Moment verdichteter affektiver Spannung zu zeichnen, in der etwas vom Adel des Helden aufblitzt, darum wird dieser pathetisch-erhabene Höhepunkt des Epos – mindestens bei einem ausreichend hochsinnigen Leser – »mehr im Geist zurücklassen als das bloß Gesagte«19: Er wird einen intensiven Eindruck von der Hochsinnigkeit des Aias vermitteln und die Seele des Lesers selbst in einen Zustand erhebender Erschütterung versetzen. Nach Longins homerischem Musterbeispiel für das Pathetisch-Erhabene hat sich die Untersuchung einem Exempel zuzuwenden, das im Argumentationsgang von Peri Hypsous ebenfalls einen exponierten Platz einnimmt. Es handelt sich diesmal um ein Paradigma aus der klassischen Redetradition: aus der ›Kranzrede‹ des Demosthenes. Longin kommentiert die betreffende Passage – »immensely admired throughout antiquity«20 – so ausführlich wie keine zweite und stellt seine Interpretation an den Anfang des Abschnitts über die Figuren (Kap. 16), offensichtlich um diesen Abschnitt (und damit den gesamten stilistischen Teil innerhalb des Hauptteils) »bewußt mit einem Prunkstück [zu] eröffne[n]«21 und um Demosthenes als den zweiten Hauptheros des Erhabenen neben Homer zu etablieren. Die genannte Demosthenes-Deutung lässt erkennen, dass Longin nicht nur im Blick auf das Epos, sondern auch bezüglich der eigentlichen Rede die Idee des ›edlen Pathos‹ in Anschlag bringt. Auch hier sind Pathos und Hochsinnigkeit die maßgeblichen Größen für das Zustandekommen des Erhabenen. Allerdings sind sie innerhalb des Gefüges von Handlungs-, Produktions- und Rezeptionsebene im Falle der Rede anders zu lokalisieren als beim Epos, entsprechend der gegenüber dem Ependichter und -leser veränderten Stellung des Redners und des Hörers im Verhältnis zum Redestoff. Denn während Homer im Bild seines Helden verschwindet, so dass der Leser (oder Hörer) der Ilias am Geschick des Aias zwar durch die Vermittlung, gleichwohl aber ohne eigene Rücksicht auf die affektive Erregung des Autors teilnimmt – entscheidend ist das »Pathos des Aias« (9,10) –, behält das pathos des Redners bei der Rezeption der Rede ein größeres Gewicht. Als Vortragender ist der Redner zur – möglichst affektiven – Stellungnahme gegenüber seinem Stoff aufgerufen und fungiert damit als der wichtigste »Pathosträger« seiner Rede. Ausschlaggebend für die erhabene Wirkung ist daher nicht mehr in erster Linie der edle Affekt aufseiten des Protagonisten der Handlung, sondern aufseiten des Redners selbst. All dies ist nun an der fraglichen Demosthenes-Passage und ihrer Auslegung durch Longin zu belegen. 19
7,3. Siehe dazu oben Kap. 2.2. D. A. RUSSELL: Longinus, 129. 21 W. BÜHLER: Beiträge, 116. 20
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Anlass der ›Kranzrede‹ an die Bürger von Athen ist die verlorene Schlacht von Chaironeia und die drohende Unterwerfung der Hellenen durch die Makedonier. Um angesichts der Niederlage die von ihm verfochtene Widerstandsstrategie gegen die Meinung zu verteidigen, man wäre der militärischen Auseinandersetzung besser aus dem Weg gegangen, stellt Demosthenes den Athenern ihre Vorfahren als leuchtende Vorbilder vor Augen: »… ouöde? ga?r oiÖ eön Marajvqni hÄmarton ouöd’ oiÖ eön Salamiqni ouöd’ oiÖ eön Plataiaiqw. aöll’ […] kajaßper eömpneusjei?w eöcaißfnhw uÖpo? jeouq kai? oiÖonei? foiboßlhptow genoßmenow to?n kata? tvqn aöristeßvn thqw &Ellaßdow oÄrkon eöcefvßnhsen: ouök eästin oÄpvw hÖmaßrthte, ma? tou?w eön Marajvqni prokinduneußsantaw…«22
»… denn auch die Kämpfer von Marathon, von Salamis und von Plataiai begingen keinen Fehler.« Doch wie jählings vom Anhauch des Gottes begeistert und gleichsam von Phoibos [sc. Apollon] ergriffen, stößt er den Eid bei den Besten Griechenlands aus: »Nein, ihr habt sicher keinen Fehler begangen – [sc. das schwöre ich] bei jenen, die bei Marathon der Gefahr sich stellten…!«
Während sich Demosthenes mit dem Anführen historischer Vorbilder anfangs noch auf dem Feld der Argumentation bewegt hat, betritt er im zweiten Zitat ganz anderes Terrain: Mit einer einzigen, wohlplatzierten Redefigur, der Figur des Eides, markiert der Redner eine plötzliche Aufwallung enthusiastischer Ergriffenheit, indem er nämlich – »bei den so Gestorbenen wie bei Göttern« schwörend (16,2) – die Helden von Marathon nachgerade zu Göttern erhebt. Von dem Widerstandswillen jener, die Freiheit und Vaterland höher schätzten als das eigene Leben, wird der Redner fortgerissen zu deren Apotheose in Form jenes »ungewöhnlichen und übermäßigen«23 Schwures. Im Überschwang der Begeisterung greift er sprachlich zum Äußersten, zu dem blasphemischen Eid, in dem sich zum einen – aufgrund der »Ungewöhnlichkeit« und »Übermäßigkeit« der Wendung – der affektive Ausnahmezustand (pathos) des Redners artikuliert und sich zugleich inhaltlich – in der Ehrung der hochsinnigen Vorfahren – seine Zustimmung zu deren Idealen sowie sein Widerstandswille im Blick auf den aktuellen »Kampf um die Freiheit« ausdrückt. Neben der mehr oder weniger expliziten Affirmation von Hochsinnigkeit ist es auch hier ein Moment des inneren Widerstands gegenüber der gegenwärtigen (politischen) Bedrängnis, worin sich des Redners hohe Gesinnung manifestiert. Dieses Widerstandsmoment wiederum stellt sich in einer Eruption edlen Affekts dar. Ziel derartiger Rede ist es, auch den Hörern »die Sinnesart jener [einzuflößen], die dort der Gefahr die Stirn boten«24. Die Mitteilung solcher Sinnesart, die die Bereitschaft beinhaltet, für den idealen Wert der Freiheit des 22
16,2. 16,2: ceßn[h] kai? uÖperfu[hß]. 24 16,2: to? tvqn eökeiq prokinduneusaßntvn eöntijei?w froßnhma. 23
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Vaterlandes notfalls das eigene Leben zu lassen, benennt Longin wenig später (16,2) als entscheidendes funktionales Kriterium, aufgrunddessen jene Demosthenes-Stelle als erhaben zu gelten hat – eine vergleichbare Stelle bei Eupolis hingegen nicht. Eupolis nämlich hat das Erhabene mit einem ganz ähnlichen Schwur verfehlt, insofern dieser bei den Hörern eben nicht einen »Sinn« zu erzeugen vermag, »welcher der Tugend (aretê) jener würdig ist« (16,3). Nur wo dem Hörer durch das ›edle Pathos‹ des Redners solch hoher Sinn eingegeben wird, ist das höchste rhetorische Ziel erreicht und die betreffende Rede erhaben. Es ist deutlich, dass Longin hier am konkreten Beispiel wiederholt, was er in 9,2 als Basisthese von Peri Hypsous formuliert hatte: Das Erhabene ist ›Widerhall von Hochsinnigkeit‹, das heißt: Erhaben ist eine Rede dann, wenn sie den hohen Sinn des Hörers anspricht, wenn sie dessen Seele erhebt in die Sphäre des Idealen. Es hat sich ausweisen lassen, dass auch Longins Demosthenes-Interpretation das ›edle Pathos‹ des Redners als Darstellungs- und Mitteilungsmedium von Hochsinnigkeit einstuft. Bedingung der Bezeugung von innerer Widerstandskraft als Zeugnis hohen Sinns ist – auch das sei hier noch einmal eigens festgehalten – das äußere pathos einer Bedrängnissituation. Allein der Hintergrund der erlittenen und der noch drohenden endgültigen Niederlage bietet dem Redner die Gelegenheit, inneren Widerstand zu beweisen. So führt Longin im bereits erwähnten Vergleich des Demosthenes mit Eupolis aus: »Irgendwie bei jemand zu schwören macht die Größe nicht aus, sondern erst das Wo und das Wie, die Umstände und der Zweck. Bei Eupolis ist es eben nichts als ein Eid, geschworen dem Volk von Athen, als es ihm noch wohlging und es des Zuspruchs nicht bedurfte.«25 Ohne das äußere pathos der Krisensituation26 als »Provokation« von Hochsinnigkeit bliebe der Eid »nichts als ein Eid« – und die ideale Sinnesrichtung der Seele verborgen. Darüber hinaus wird am Schwur des Demosthenes ein Sachverhalt deutlich, der bereits im Zusammenhang des Aias-Paradigmas notiert worden war. Wenngleich selbiger Schwur auch eine inhaltliche Beziehung auf die Hochsinnigkeit der Vorfahren enthält, geht doch die durchschlagende Wirkung nach Longins Einschätzung von der Form des Schwures aus. Maßgeblich für den großartigen Effekt ist die »fremdartige und übermäßige« Figur 25
16,3 (R.B.). Zum Bezug auf die aktuelle Krise kommt – das macht die Sache noch verwickelter – der Bezug auf eine historische Krise hinzu, die Demosthenes rhetorisch vergegenwärtigt. An der Pathossituation »derer von Marathon«, in der die Protagonisten dieser vergegenwärtigten ›Handlung‹ Widerstandsgeist bewiesen haben, entzündet sich die enthusiastische Begeisterung des Redners. Für diesen emphatischen Bezug auf Marathon ist freilich wiederum die aktuelle Krise unerlässlich; würde sich doch in Friedenszeiten schwerlich solcher Enthusiasmus an den alten Geschichten entzünden. 26
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des Schwures selbst, und zwar deshalb, weil sich in ihr ein überwältigender Affektausbruch des Redners darstellt. Ohne die extreme rhetorische Wendung und die sich darin artikulierende seelische Eruption bliebe auch die Seelengröße der Vorfahren mehr oder weniger stumm. Das für die Darstellung von Hochsinnigkeit einschlägige pathos ist demzufolge noch unterbestimmt, solange es nur als spezifisches Angegangensein der Seele (edles Pathos) in einer Bedrängnissituation (äußeres pathos) begriffen wird. Nicht schon ein seelischer Erregungszustand, der bei aller Erschütterung ein Mindestmaß an Standhaftigkeit wahrt, ist das von Longin propagierte Medium der Hochsinnigkeitsdarstellung. Wie die beiden vorgeführten Exempel zeigen, artikuliert sich jenes maßgebliche Widerstandsmoment vielmehr selbst in einer bestimmten Form seelischer Erregung, nämlich im Modus einer heftigen affektiven Aufwallung, eines »Pathosausbruchs«27. Das hochsinnigkeitsrelevante pathos ist ein Affekt nicht nur im Sinne eines – wenn auch standhaften – ›Erleidens‹ der Seele, sondern es ist gleichsam der doppelte Affekt eines Aufbrausens in der Erschütterung. Erst dieser doppelte Affekt ist das »heftige und enthusiastische Pathos« (8,1), das Longin als zweite Quelle des Erhabenen ausweist und das er offenbar als das entscheidende Darstellungsmittel für die Hochsinnigkeit ansieht. Innerhalb dieses durch ein äußeres pathos hervorgerufenen ›enthusiastischen Pathos‹ sind zwei Momente zu unterscheiden: das Angegangensein durch das äußere pathos und – gegenläufig – eine seelische Eruption, in der sich der Widerstand gegen das andrängende Unheil in jähem Ungestüm Bahn bricht. Diese affektive Aufwallung tut sich in sprachlichem »Übermaß«, in einer sprachlichen Extremäußerung, kund: Aias fordert Zeus zum Kampf, Demosthenes erhebt die Vorfahren zu Göttern. Es lässt sich festhalten: Nach Longin ist das vorzügliche Medium der Darstellung von Hochsinnigkeit das ›enthusiastische Pathos‹: ein Affektausbruch, der sich an äußerer Bedrängnis entzündet, inneren Widerstand gegen nämliche Bedrängnis bekundet und sich in rhetorischen Gipfelformulierungen artikuliert. Neben dem Bedrängnischarakter der Situation und dem Widerstandsmoment innerhalb der seelischen Erschütterung sind also weiterhin der Eruptionscharakter und das Moment sprachlicher Hyperbolik als Kennzeichen des hochsinnigkeitsrelevanten Pathos zu nennen. Es gehen in die nämliche Kategorie sämtliche Bedeutungselemente ein, die sich in Kap. 3.1 für den Pathosbegriff namhaft machen ließen: pathos als Affekt, als entsprechend affektive Sprachform und als Widerfahrnis. Auch der ›übermäßige‹ Charakter des pathoshaften sprachlichen Ausdrucks findet sich wieder. Es werden überdies noch longinische Beispiele zur Sprache kommen, in denen sich der enthusiastische Affektausbruch vor allem in sprach27
27,1: eökbolh? touq paßjouw.
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licher Unordnung niederschlägt. – Dieses Bild der enthusiastischen Eruption, wie es sich vor dem Hintergrund der Hochsinnigkeitsthese von Peri Hypsous zeichnen ließ, lässt hinsichtlich des Affektcharakters der Hochsinnigkeitsdarstellung indessen noch einen Aspekt unberücksichtigt, der über das bisher Benannte hinausführt. 4.1.1.4. Die Rhetorik des enthusiastischen Affektausbruchs Wie oben ausgeführt, artikuliert sich die affektive Eruption, die für das Pathetisch-Erhabene einschlägig ist, in gedrängter, die normale Ordnung und das normale Maß sprengender Sprachform, worin Erschütterung und Aufbrausen gleichermaßen zum Ausdruck kommen. »Außer-Ordentlichkeit« und Übermaß sind die sprachlichen Mittel zur Darstellung des hochsinnigen Widerstands der Seele in der Erschütterung. Aber noch in einer anderen Hinsicht scheint Longin der affektiven Rede eine Affinität zur Hochsinnigkeit und damit die Tauglichkeit zu ihrer Darstellung zuzuschreiben. So entspricht das dem Affektausbruch eignende sprachliche Übermaß strukturell der hohen Ausrichtung einer Seele, die ihre Kraft zum Widerstand gegen irdisches Unheil dem Ausgreifen in die Sphäre des Überweltlichen verdankt. Die Hyperbolik der affektiven Expression dient nicht nur der Zeichnung der seelischen Eruption, sondern ist auch unmittelbarer Ausdruck des spezifischen Überschwangs der Hochsinnigkeit. Das deuten Longins analoge Äußerungen zur Hyper-Struktur von Hochsinnigkeit und pathetischer Sprache an. Die rhetorische Zentralaussage, die (pathetisch-)erhabene Rede zeichne sich in Abweichung von der »korrekten Ausführung« durch das »Übermaß« oder »Überragen« aus (36,4: uÖperoxhß), hat ihr anthropologischmetaphysisches Korrelat in der Grundthese, das Erhabene ziele in Übereinstimmung mit dem natürlichen Transzendenzstreben des Menschen auf »das, was das Menschliche übersteigt« (36,3: to? uÖperaiqron ta? aönjrvßpina). Auch hier sind womöglich wieder platonische Anklänge mitzuhören. Wie nach dem Sonnengleichnis die Idee des Guten das Sein »überragt« (rep. 509b: uÖpereßxein), so weist auch das »Überragen« der erhabenen Rede in die seinsjenseitige Sphäre des Idealen. Das Übermaß im Ausdruck, das die Rede im Augenblick des enthusiastischen Pathosausbruchs charakterisiert (38,4: hÖ touq paßjouw uÖperoxhß), zeigt demnach nicht nur die Widerstandskraft der Seele an, sondern auch ihre Ausrichtung an »dem, was das Menschliche«, das Irdische, Endliche, Relative »übersteigt«. Eine solche Ausrichtung lässt beispielsweise der »übermäßige« (16,2: uÖperfuhß) Schwur des Demosthenes erkennen.28 Die Hyperbolik (38,3: uÖperbolhß), mit welcher der Held sich in der Bedrängnis äußert, drückt mithin nicht nur das affektive Aufbrausen 28
Vgl. oben Kap. 4.1.1.3.
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gegen das Unheil aus, sondern – um es mit Glaukon aus Platons Staat zu sagen – sie ist »übermenschliche Übersteigerung« (rep. 509c: daimonißa uÖperbolhß): Signum eines Überschwangs, mit dem die Seele im Moment der Bedrängnis über das Irdische in die Region des Göttlichen ausgreift.29 Als das überschwängliche Übersteigen der Welt hin auf das Hohe, als die das Menschliche überfliegende Hochschätzung des Göttlich-Idealen, kann sich der hohe Sinn nur in einer Sprache artikulieren, die ebenfalls »über die Grenze geht«30. Das äußere pathos stellt zu dieser Grenzüberschreitung gleichsam die Energie bereit, um gewissermaßen in einer seelischen Entladung zu der übersteigerten Ausdrucksweise zu gelangen, welche die Hochsinnigkeit verlangt. Umgekehrt wirkt eine solche Ausdrucksweise auch nur unter den Bedingungen der Pathossituation glaubhaft. Die Ausnahmesituation enthebt das sprachliche Übermaß des Verdachts sophistischer Übertreibung und rechtfertigt es als Ausdruck enthusiastischer Ekstase, in welcher allein der Redner – »wie jählings vom Anhauch des Gottes begeistert und gleichsam von Phoibos ergriffen« (16,2) – die »Übermäßigkeiten« und Ungeheuerlichkeiten aussprechen kann, in denen sich göttlicher Wahnsinn offenbart. In solchen Ungeheuerlichkeiten findet die Grenzüberschreitung der hochsinnigen Seele ihren adäquaten und wirkungsvollen Ausdruck, ohne dass solcher Überschwang als misslungene Übertreibung effektheischender Rhetorik oder gar als Symptom pathologischen Wahnsinns gedeutet werden muss.31 Trifft diese Interpretation der strukturellen Korrespondenz zwischen der Rhetorik des Affekts und der Hochsinnigkeitsvorstellung zu, was sich nicht zuletzt aufgrund der platonischen Anklänge wahrscheinlich machen lässt, tritt deutlicher noch als bisher die innere Verbindung der beiden Quellen pathos und megalophrosynê in Longins Theorie des Pathetisch-Erhabenen zutage. In der rekonstruierten Idee eines hochsinnigkeitsdarstellenden Affektausbruchs sind rhetorische, psychologische, ethische und metaphysische Elemente aufs engste miteinander verschränkt. – Um die fragliche Idee weiter zu plausibilisieren, ist sie im Folgenden in den Kontext der antiken Affekttheorie einzuzeichnen. 29
Vgl. zum platonischen Begriff des ›Daimonischen‹ oben Kap. 3.2.3. Vgl. 38,1 (R.B.): »Darum muß man wissen, wie weit man jeweils über die Grenze gehen darf (to? meßxri pouq paroristeßon); wenn man sie nämlich zu weit überschreitet, wird häufig die Übertreibung (uÖperbol[hß]) aufgehoben; was derart überspannt ist, wird schlaff und schlägt manchmal sogar in sein Gegenteil um.« 31 Vgl. zum Thema Glaubwürdigkeit 17,1–4; 32,4; 38,1–5. Den hyperbolischen Charakter des christlichen Ewigkeitsglaubens hat E. HIRSCH: Hauptfragen christlicher Religionsphilosophie, 34ff, mit implizitem Platon-Bezug herausgestrichen. Damit ist eine innere Beziehung zwischen Ewigkeitsglauben und Erhabenheitsbegriff angezeigt. Vgl. dazu oben Teil II, bes. Kap. 5. 30
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4.1.2. Das Pathetisch-Erhabene im Lichte der Thymostheorie Der Befund, dass Longin ausgerechnet die affektive Eruption als vorzügliches Darstellungsmedium von Hochsinnigkeit ansieht, mag vor dem Hintergrund stoischer Hochsinnigkeitsethik, wie sie an Cicero vorgeführt wurde, befremden. Zwar konnte in der Rhetorik dem Erregen von pathos und der entsprechenden Selbststimulierung bzw. Simulation des Redners selbst unter stoischen Vorzeichen hervorragende Bedeutung eingeräumt werden. Einen Pathosausbruch des Redners oder, poetologisch gewendet, des Helden als Ausdruck von magnitudo animi zu werten, wäre einem Anhänger des stoischen Apathieaxioms hingegen kaum eingefallen. Aber die stoische (oder epikureische) Pathosverneinung war in der Antike nicht die einzig mögliche Sicht der affektiven Phänomene des menschlichen Seelenlebens. In der Auseinandersetzung mit der stoischen Ethik scheint sich vielmehr von Anfang an eine gegenläufige Position behauptet zu haben, die dem Affektiven innerhalb gewisser Grenzen eine konstitutive Rolle für den »besten Zustand«, die aretê der Seele zuwies. Diese »metriopathetische« Position ist für das Longinverständnis vor allem deshalb von besonderem Interesse, weil sie auf den Thymosbegriff führt. Anhand dieses zentralen Terminus der antiken Affekttheorie wird sich zeigen lassen, dass innerhalb des antiken Diskurses über die »Leidenschaften« in Ansätzen eine »Psychologie des hochsinnigen Affekts« konzipiert wurde – und dass genau diese Psychologie die longinische Idee des enthusiastischen Pathos fundiert. Zuerst erscheint es jedoch sinnvoll, einen kurzen Überblick über die Grundkonzeptionen der äußerst verwickelten Affekttheorie der Antike zu geben, um für die weiteren Ausführungen das Fundament zu legen. 4.1.2.1. Grundlinien der antiken Affekttheorie Die angesprochene Differenz in der Bewertung des Affekts ist mit unterschiedlichen Auffassungen bezüglich des Seelenaufbaus und des innerseelischen Status des Affektes verschränkt.32 Verläuft die Konfliktlinie in der Wertungsfrage zwischen Stoa und (platonisch inspiriertem) Peripatos – unbedingt negative vs. bedingt positive Würdigung des Affekts –, sind die verschiedenen Seelenmodelle weniger klar zuzuordnen. In den alternativen Modellen steht immer auch zur Debatte, ob der Affekt als eine gegenüber der Vernunft selbstständige Größe innerhalb der Seele zu gelten hat oder nicht. Bejaht wird diese Frage von all jenen, die in irgendeiner Weise von 32 Vgl. zum Folgenden die grundlegenden Darstellungen von M. FORSCHNER: Die pervertierte Vernunft. Zur stoischen Theorie der Affekte; und DERS.: Die stoische Ethik. Über den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System, 114ff.
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Platons Modell einer dreiteiligen Seele ausgehen,33 wonach dem logischen (logistikoßn) zwei nicht-logische Teile gegenüberstehen: das ›Begehrende‹ (eöpijumhtikoßn) und das – im Grunde unübersetzbare – jumoeideßw (thymoeidés, das ›Muthafte‹), das eifernd-kraftvolle, aber auch hitzig-ungestüme34 Organ der Selbstbehauptung gegen innere Begierden und äußere Feinde.35 Bei Aristoteles scheint sich die platonische Dreiteilung bereits mehr oder weniger zu einer Zweiteilung zu verschleifen, so dass sich im Wesentlichen loßgow (lógos) und jumoßw (thymós) als logische und affektive Instanz gegenüberstehen.36 Ein ähnliches Bild ergibt sich bei dem Stoiker Poseidonios, der – gegen Chrysipps Monismus (s.u.) – zwar formal zur dreistufigen Seelenlehre Platons zurückkehrt,37 offenbar aber primär dualistisch denkt, indem er eöpijumißa (epithymía, ›Begierde‹) und thymos38 zusammenzieht und als ein »alogisches Vermögen«39 dem logos entgegenstellt. Der programmatische Gegenentwurf zu den skizzierten Konzeptionen, die allesamt (mindestens) eine eigenständige affektive Größe innerhalb der menschlichen Seele anerkennen, stammt von dem Stoiker Chrysipp, der mit seiner Lehre von der alleinigen Logizität der Seele gleichsam das Grunddogma der stoischen Orthodoxie formuliert und damit bis in die späte Stoa bestimmend gewirkt hat.40 Demnach ist der Affekt nicht die Regung eines unabhängigen Seelenteils oder -vermögens, sondern ein (Fehl-)Urteil des einen und einzigen logischen Zentralorgans (des hÖgemonikoßn). Zum Affekt wird ein solches Urteil, indem es sich gegenüber rationaler Kontrolle verselbstständigt und in der Folge »den Charakter eines gewaltsam sich vollziehenden Naturereignisses annimmt«41. Entsprechend werden Affekt und Ratio jeweils nicht als Seelenteile, sondern als Totalzustände der einen Seele gedacht. Ein affektives Begehren etwa entsteht, wenn der Wert eines Gutes zu hoch eingeschätzt, der Affekt der Furcht, wenn ein potentielles Übel überbewertet wird, und sobald sich die jeweilige Überbewertung so emanzipiert, dass sie sich rationaler Überprüfung entzieht. Diesem Konzept passt 33
Vgl. H. SCHWABL: Homer und die platonische Seelenlehre. Vgl. Plat. Tim. 70b–d. 35 Vgl. rep. 442ab. Vgl. dazu S. LOVIBOND: Plato’s Theory of Mind. 36 Die alte Dreiheit scheint bei Aristoteles durch in eth. Nic. VII,7 und in rhet. 1390a11. Von zwei Seelenteilen ist in eth. Nic. VI,2 die Rede. Dazu differenzierter W. W. FORTENBAUGH: On the Antecedents of Aristotle’s Bipartite Psychology; vgl. DERS.: Aristotle on Emotion, 23ff. 37 Vgl. z.B. Fr. 416, bei Gal. plac. 438,12–16. 38 Auch sprachlich finden sich beide wiederholt eng verbunden, so z.B. in Fr. 406 (eöpijumiß[a] te kai? jum[oßw], Gal. plac. 446,4f) und 407 (jumoeid[h?w] te kai? eöpijumhtik[h?] dußnam[iw], Gal. plac. 348,15). 39 Fr. 407, Gal. plac. 349,3: aälogow dußnamiw; vgl. Fr. 406, Gal. plac. 445,14f. 40 Vgl. CH. HALBIG: Die stoische Affektenlehre. 41 M. FORSCHNER: Die pervertierte Vernunft, 267. 34
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sich gut das Ideal des hochsinnigen Weisen ein, dem alles Menschliche klein erscheint. Insofern ihm die Überbewertung weltlicher Güter fremd ist, ist er gegen jede Art von Affekt gefeit. Aufgrund dieses groben Überblicks lassen sich die zwei Grundpositionen im Streit um die Bewertung des Affekts nun – entsprechend holzschnittartig – folgendermaßen skizzieren: Es ist dies auf der einen Seite das stoisch-orthodoxe Verdikt über den Affekt, der sich nach Maßgabe von Chrysipps intellektualistischer Seelenlehre allein der falschen Meinung über den Wert und Unwert der Güter und Übel verdankt und daher grundsätzlich völlig der Verfügungsgewalt des Menschen untersteht. Auf der anderen Seite steht die platonisch-peripatetische Auffassung von der Eigenständigkeit, Natürlichkeit und Nützlichkeit des Affektiven, wonach das alogische, feurig-eifernde Seelenvermögen, der thymos, als Selbstbehauptungs- und Widerstandskraft der Seele für deren Wohl unerlässlich ist – wenn es auch unter dem lenkenden Einfluss des logos zu stehen hat. Es gilt im Affektiven mithilfe der Vernunft stets die Mitte zu wahren. Den Affekt jedoch auszumerzen ist alles andere als ethisch geboten, denn solches bedeutete, der Seele gleichsam »ihre Sehnen herauszuschneiden«42. 4.1.2.2. Der Thymos bei Platon und Aristoteles Das Verhältnis zwischen den beiden griechischen Grundbegriffen der antiken Affekttheorie, zwischen pathos (oder pathêma) und thymos, ist nicht eindeutig zu bestimmen. Zwar kann etwa bei Platon der thymos in einer Liste der verschiedenen Affektarten als eines unter anderen pathêmata erscheinen (Tim. 69d), gleichwohl tendiert Platon dazu, den Ausdruck zugleich auch zur Bezeichnung für das Phänomen affektiver Aufwallung schlechthin zu gebrauchen.43 Ähnlich kann bei Aristoteles der thymos einerseits als ein pathos unter anderen pathê firmieren,44 andererseits aber zugleich das Vergehen »im Affekt« (eök jumouq) von demjenigen »aus Vorsatz« (eök pronoißaw)45 abgehoben werden. Das heißt: Bei Platon und Aristoteles steht regelmäßig pathos für das Affektphänomen schlechthin und der Plural pathê für die verschiedenen Affektarten. Thymos dagegen bezeichnet zuallererst die affektive Eruption, die offenbar als ein bestimmter Affekt unter anderen angesehen werden kann. Mit diesen Bestimmungen ist der äußerst schillern-
42
Plat. rep. 411b. Vgl. N. BLÖSSNER: Art. Thymos, wonach der thymos »(in Ausdeutung gängiger Metaphorik) mit Hitze, Feuer, Aufwallung und heftiger Bewegung in Verbindung gebracht« (1189) wird. 44 Z.B. eth. Nic. 1135b20f. 45 Eth. Nic. 1135b26. 43
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de Thymosbegriff längst nicht in all seinen Nuancen ausgeleuchtet.46 Dies kann hier auch nicht in vollem Umfang geleistet werden, am wenigsten im Blick auf das homerische Epos, dessen vielfältiger Gebrauch des Wortes das spätere Verständnis wesentlich geprägt hat.47 Indessen tritt im Laufe der Entwicklung des Begriffs eine zunehmende Bedeutungsverengung ein, im Zuge derer der Terminus klarere Konturen gewinnt.48 Diese spätere Auffassung soll anhand von Platon und Aristoteles in Grundzügen vorgestellt werden. Leitend ist dabei die Erwartung, dass von dem traditionellen Begriff für die seelische Eruption her auch Licht auf Longins Vorstellung vom ›enthusiastischen Affekt‹ fallen wird. Die den Affektphänomenen selbst eignende Flüchtigkeit spiegelt sich wider in der Unschärfe der affekttheoretischen Begriffe. So changiert auch der Thymosbegriff, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Erstens bezeichnet er, wie bereits angesprochen, bald einen Seelenteil bzw. ein Seelenvermögen, bald dessen aktuelle Regsamkeit.49 Konnte thymos schon bei Homer sowohl die konkrete Äußerung des Affekts als auch dessen Sitz in der Seele, das »Herz« oder die »Brust« des Helden bezeichnen,50 verfestigt sich durch die platonische Psychologie das Verständnis als bestimmter Seelenteil, welcher eine ›mutartige‹ Disposition der Seele birgt, die, von Natur aus stärker oder schwächer ausgeprägt, durch Erziehung ausgebildet werden kann.51 Aber auch das aktuelle Ansprechen jener Disposition kann bei Platon thymos heißen, etwa wenn eine Untat jumvq# begangen wurde, im Zustand heftiger Aufwallung.52 Nun schillert aber – zweitens – vor allem das Wesen dessen, was mit dem Thymosbegriff, gleich ob in dispositionellem oder aktuellem Sinn, angesprochen ist. Um die beiden Grundbedeutungen anzugeben, gebraucht man im Deutschen gewöhnlich die Begriffe ›Mut‹ und ›Zorn‹, trifft damit aber doch nur recht vage das Gemeinte. Zwar assoziieren Platon und Aris-
46
Vgl. zur komplexen Semantik und Geschichte des Begriffs J. P. LYNCH/G. B. MIThymos: Toward an Understanding of a Greek Psychological Term; N.
LES: In Search of BLÖSSNER: aaO.
47 Laut S. D. SULLIVAN: Psychological and Ethical Ideas: What Early Greeks Say, repräsentiert der thymos bei Homer »the most prominent psychic entity in the person« (69). Siehe dazu auch C. P. CASWELL: A Study of Thymos in Early Greek Epic. 48 Vgl. N. BLÖSSNER: aaO. 1187; J. P. LYNCH/G. B. MILES: aaO. 8. 49 Vgl. N. BLÖSSNER: aaO. 1189: »Ob der j[umoßw] ein ›Teil‹ (meßrow) oder ein ›Affekt‹ (paßjow) der Seele ist, bleibt […] offen.« S. D. SULLIVAN: aaO. 68 (mit Bezug auf ein vorsokratisches Fragment): »Here thumos again may be an agent of emotion or emotion itself.« 50 Vgl. C. P. CASWELL: aaO. 16ff. 51 Rep. 410b–411e. 52 Leg. 866d; vgl. eth. Nic. 1135b26.
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Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
toteles thymos mit Tapferkeit53, Kampf54 und Siegesstreben55: »Denn am kühnsten gegenüber Gefahren ist der thymos«56. Gleichwohl greift die Wiedergabe mit ›Mut‹ zu kurz. Das ergibt sich aus dem Befund, dass sich der thymos nicht nur gegen den äußeren Feind richten kann, sondern auch gegen unrechte Bestrebungen im Innern der Seele: wenn es darum geht, in Gehorsam gegen die Vernunft »gewaltsam das Geschlecht der Begierden im Zaum zu halten«57. Es ist eher eine seelische Widerstands- oder Durchsetzungskraft, die nach innen dem logos zur Geltung und nach außen der Seele insgesamt zur Selbstbehauptung verhilft.58 Im Krieg tut der thymos dies durch seinen allen Gefahren trotzenden Drang (oÖrmhß, hormê)59 nach dem Sieg, nach Herrschaft und Freiheit: Denn »ein gebieterisches und unbeugsames Ding ist der thymos«60. Aber auch in der Krise des je Einzelnen ist der Drang nach Selbstbehauptung gefragt, dann nämlich, wenn einer sich ungerecht behandelt fühlt: Der thymos »glüht und tobt«61 dann in diesem und … verbündet sich mit dem, was ihm gerecht dünkt, mag er auch Hunger und Durst und Kälte und alles dergleichen leiden müssen, und siegt durch Beharrlichkeit und macht seiner edlen Bestrebungen kein Ende, bis er es entweder durchgeführt hat oder draufgeht oder wie der Hund von dem Hirten so von der bei ihm wohnenden Vernunft zurückgerufen und besänftigt wird…62
Wo die persönliche Integrität durch Unrecht gefährdet ist, gerät der feurige Teil der Seele63 ins Sieden. Die Seele wird unter Spannung gesetzt, um, alle ihre niedrigen Bedürfnisse unterdrückend, ihren ›edlen‹ Strebungen zur Geltung zu verhelfen und ihrem Adel entsprechend das eigene Recht durchzusetzen. Mithin rangiert der thymos »as a significant factor in the achievement of excellence«64. Das Auflodern der Seelenglut im Falle von Rechts- bzw. Ehrverletzung ist am ehesten als ›Zorn‹ wiederzugeben, und entsprechend wird in solchen 53
Vgl. rep. 410e; 442bc; eth. Nic. 1115a31. Rep. 442b. 55 Tim. 70a. 56 Eth. Nic. 1115a26f (Übers. M.F.). Vgl. rhet. 1389a25. 57 Tim. 70a. 58 Vgl. zum dynamischen Charakter des thymos N. BLÖSSNER: aaO. 1187: »Der j[umoßw] ist eine (potentiell) handlungsauslösende seelische Energie«. Vgl. S. D. SULLIVAN: aaO. 54: Thymos »functions as a vibrant source of activity within the person. It proves to be a source of energetic action«. 59 Eth. nic. 1115a30. 60 Pol. 1328a7: aörxiko?n ga?r kai? aöhßtthton oÖ jumoßw (Übers. M.F.). 61 Rep. 440c: zeiq te kai? xalepaißnei (Übers. M.F.). 62 Rep. 440cd (Übers. F. SCHLEIERMACHER); vgl. Tim. 70b. 63 Vgl. Tim. 70c. 64 So S. D. SULLIVAN: aaO. 66, im Hinblick auf Pindar. Vgl. 59: »We see thumos closely connected with the moral behaviour of individuals.« 54
4. Die Grundformen des Erhabenen
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Zusammenhängen thymos häufig durch oörghß (orgê) ersetzt. Dieser Begriff wird bei Aristoteles durch seinen Bezug auf Ungerechtigkeit bzw. Ehrverletzung definiert und hat sonach mit willkürlichem Jähzorn nichts gemein: »Denn der Zorn wird durch eine sichtbar gewordene Ungerechtigkeit hervorgerufen«65. ›Zorn‹ (orgê) ist ein Sonderfall von thymos: ein Aufflammen desselben, das durch ein Unrecht ausgelöst wird. Daher können Aristoteles’ Ausführungen zum Zorn zugleich als solche zum thymos gelesen werden. Das gilt auch für die Äußerungen, die den Mangel an Zorn als Zeichen seelischer Schwäche tadeln: Wer nicht zürnt […] scheint keine Empfindungen und keinen Schmerz zu kennen; da er nicht zürnt, wird er sich nicht wehren (mh? oörgizoßmenoßw te ouök eiQnai aömuntikoßw). Doch es ist sklavisch, sich Beschimpfungen gefallen zu lassen und die Seinigen nicht dagegen zu schützen.66
Wer angesichts einer Ehrverletzung nicht in Zorneswallung gerät, dem fehlt es an dem inneren Sinn für die eigene Ehre (und für die der Seinen) sowie an dem Drang, diese gegen Angriffe zu verteidigen. Es fehlt ihm an thymos und – so muss man sachlich folgern – an megalopsychia, an Ehrverlangen bzw. Ehrbewusstsein.67 Er ist wie einer, dem die ›Sehnen der Seele‹ herausgeschnitten wurden, insofern es ihm nicht nur an seelischer Kraft mangelt, sondern zugleich an innerem Selbstbehauptungsdrang und dem darin mitgesetzten Sinn für die eigene Ehre. Ob dieser sachlichen Nähe zwischen den beiden Größen ›Zornesmut‹68 und ›Hochsinnigkeit‹ verwundert es nicht, dass Aristoteles selbst, wenn auch beiläufig, die Zusammengehörigkeit von thymos und megalopsychia erkennen lässt. Er tut dies an einer Stelle, an der er das Missverständnis auszuräumen versucht, die Unbeugsamkeit des thymos zeichne sich notwendig durch Schroffheit aus. Er gebraucht hier nämlich statt des zu erwartenden Ausdrucks jumoeideiqw das Wort megaloßyuxoi, als ob es sich um ein Synonym handelte: »Hochsinnige Menschen sind nicht schroff von Natur außer gegen solche, die Unrecht tun«69. Was sonst dem ›Zornesmutigen‹ zugesprochen wird, das heftige Auflodern des thymos gegen die Täter erlittenen Unrechts, eignet schlüssigerweise auch dem Hochsinnigen. Ist die eigene Ehre durch das Unrecht bedroht, fordert dies die sofortige Mobilisierung der seelischen Selbstbehauptungskräfte.
65 Eth. Nic. 1135b28f (Übers. O. GIGON). Im Kontext wird explizit vom thymos gehandelt. Vgl. rhet. 2,2; ferner eth. Nic. 1126a20f, wo Zorn als Modifikation des thymos erscheint. 66 Eth. Nic. 1126a3–8 (Übers. O. GIGON). 67 Siehe dazu oben Kap. 3.2.2. 68 So die Übersetzung von thymos in Plat. Tim. 70b.d durch HIERONYMUS MÜLLER. 69 Pol. 1328a9f (Übers. F. SUSEMIHL).
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Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
Es wird sich zeigen, dass der hier nur angedeutete Konnex von affektiver Kraft und Hochsinnigkeit von Aristoteles (oder von seinen Schülern) anderwärts breiter ausgeführt worden ist.70 Zuvor ist jedoch ein dritter Aspekt zu benennen, hinsichtlich dessen der Thymosbegriff changiert. Er betrifft die Art, Intensität und zeitliche Erstreckung der Aktivität des thymos. Denn wie in den angeführten Zitaten deutlich wurde, ist für jene Aktivität zwar der Modus kurzfristig-heftiger Aufwallung typisch. Zugleich kann thymos aber auch ein langfristig-stimulierendes, beharrliches inneres »Glühen« bezeichnen. Die eruptive Gewalt der Seelenkraft kann gleichsam eingehegt71 werden. Auf diese Weise vermag der Mensch etwa aus einem beharrlichen Groll die stetige seelische Spannung zum Aufsichnehmen nötiger Entbehrungen zu beziehen, um schließlich seine »edlen Bestrebungen« zum Ende zu führen und sich »zu einem späteren Zeitpunkt zu rächen«72. So lässt sich, um das bisher Gesagte zusammenzufassen, der thymos als eine innere »Glut« vorstellen – zugleich im dispositionellen und im aktuellen Sinne: als Vermögen zu brennen und als dieses Brennen selbst –, aus der es je und je in jähem Ausbruch hervorlodert; als eine innerseelische Energie, die der Seele zur Selbstbehauptung nach innen und nach außen sowie zur Überwindung der begegnenden Widrigkeiten dient und die daher (für den aristotelischen) Hochsinnigen zur Wahrung seiner Ehre unerlässlich ist. 4.1.2.3. Thymos und Hochsinnigkeit in der peripatetischen Affektlehre Was sich an Aussagen über Wesen und Bedeutung des thymos für die platonische und aristotelische Anthropologie zusammentragen ließ, findet seine Bestätigung und Ergänzung in zwei wesentlich späteren Dokumenten stoischer Ethik, nämlich in zwei lateinischen Dialogen, die beide Aristoteles und den Aristotelesschüler Theophrast (bzw. »die Peripatetiker«) als Hauptgegner der stoischen Apathielehre betrachten und einer entsprechend breiten Auseinandersetzung würdigen. Es handelt sich um Ciceros Tuskulanen (Buch IV) und Senecas De ira.73 Beide Schriften führen jene Auseinandersetzung über den Wert des Affekts vorwiegend am Begriff des ›Zorns‹ (ira) durch. Das hat zum einen sachliche Gründe, denn vor allem für Seneca ist der Zorn schlicht der Inbegriff des ungezügelten und zerstörerischen, also verdammungswürdigen Affekts. Zum anderen dürfte aber auch ein Übersetzungsproblem hinter dieser (zumindest tendenziellen) Identifizierung von ›Affekt‹ und ›Zorn‹ stehen: Aufgrund der partiell synonymen Verwendung 70
S.u. Kap. 4.1.2.3. Vgl. leg. 867a: fulaßttein. 72 Leg. 867a. 73 Vgl. zu Senecas Auseinandersetzung mit der peripatetischen Affektlehre J. FILLION-LAHILLE: Le De ira de Sénèque et La philosophie stoïcienne des passions, 203ff. 71
4. Die Grundformen des Erhabenen
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von thymos und orgê wird der Thymosbegriff im Lateinischen regelmäßig mit ira (bzw. iracundia) übersetzt und erfährt auf diese Weise eine beträchtliche Verengung.74 Dies wird in der einleitenden Wiedergabe der aristotelischen Position bei Seneca deutlich: Numquid, […] assumenda est [ira], quia utilis saepe fuit? Extollit animos et incitat; nec quicquam sine illa magnificum in bello fortitudo gerit, nisi hinc flamma subdita est et hic stimulus peragitavit misitque in pericula audaces. Optimum itaque quidam putant temperare, non tollere, […] id […] retinere sine quo languebit actio et vis ac vigor animi resolvetur.75
Ist etwa der Zorn […] hinzunehmen, weil er oft nützlich ist? Er erhebt die Seelen und treibt sie an; und ohne ihn vollbringt die Tapferkeit nichts Großartiges im Krieg, wenn von hier aus nicht Feuer gelegt wird und wenn nicht dieser Stachel die Mutigen anspornt und in die Gefahr schickt. Daher halten es manche für das Beste, den Zorn zu mäßigen, anstatt ihn zu tilgen; mithin das festzuhalten, ohne welches das Handeln erlahmt und die Spannkraft der Seele ermattet.
Unschwer ist in Senecas Referat die oben skizzierte Auffassung vom thymos als der inneren Strebekraft der Seele angesichts widriger Situationen (»im Krieg«) wiederzuerkennen. Ganz ähnlich resümiert Cicero die Auffassung der »Peripatetiker« von der Natürlichkeit und Nützlichkeit der Affekte: quorum est talis oratio: primum multis verbis iracundiam laudant, cotem fortitudinis esse dicunt, multoque et in hostem et in inprobum civem vehementioris iratorum impetus esse, levis autem ratiunculas eorum, qui ita cogitarent: ›proelium rectum est hoc fieri, convenit dimicare pro legibus, pro libertate, pro patria‹; haec nullam habent vim, nisi ira excanduit fortitudo.76
Ihre Argumentation lautet so: Zunächst loben sie mit vielen Worten den Jähzorn, sie sagen, er sei ein Wetzstein der Tapferkeit, die Angriffe eines Erzürnten auf einen Feind oder einen schlechten Mitbürger seien viel heftiger, ohne Gewicht aber seien die kleinlichen Überlegungen derer, die so dächten: ›Es ist gerecht, dass dieser Kampf stattfindet, es gehört sich, für die Gesetze, für die Freiheit, für das Vaterland zu kämpfen‹; dies habe keine Kraft, wenn nicht die Tapferkeit durch Zorn entbrannt ist.
74 Vgl. N. BLÖSSNER: Art. Thymos, 1189: »[I]n der Affektenlehre der Stoa wird er [sc. der thymos] als eine spezielle Art von anderen Arten des Zorns unterschieden, eine Differenzierung, für die nach Senecas Auskunft [vgl. ira 1,4,2; M.F.] im Lateinischen die Begriffe fehlen. Senecas Argumentation gegen peripatetische Aussagen zum j[umoßw] basiert im Übrigen z.T. auf Mißachtung der Tatsache, daß ›ira‹ für den Römer etwas anderes ist als j[umoßw] für Aristoteles; dies betrifft nicht nur die seitdem erfolgte Bedeutungsverengung von j[umoßw], sondern auch den folgenreichen Konzeptionswandel der sog. ›Affekte‹ in der hellenistischen Philosophie.« 75 Sen. ira 1,7,1. Die Übersetzungen aus De ira stammen im Folgenden sämtlich vom Verfasser. 76 Cic. Tusc. 4,43 (Übers. E. A. KIRFEL).
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Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
Die Bestimmung der ira bzw. iracundia als ›Feuer‹ und ›Stachel‹ (Seneca) bzw. ›Wetzstein‹ (Cicero) der Tapferkeit im Krieg gegen den äußeren oder inneren Staatsfeind lässt bereits an den aristotelischen Thymosbegriff denken. Demnach ist ›Zorn‹ bzw. thymos ein spezifisches Auflodern oder Glühen des Seelenfeuers, nämlich aufgrund von Unrecht. In den römischen Referaten ist lediglich an die Stelle der persönlichen Ehrverletzung das Staatswohl als Bezugspunkt des Zornes getreten. Vor allem aber lässt Senecas Wendung vom ›Zorn‹ als einer Instanz, die für das Aufrechterhalten der seelischen Aktivität und Spannkraft verantwortlich ist, eine Nähe zum allgemeineren Thymosbegriff erkennen; ist hier doch viel eher an den fundamentalen dynamischen Sinn von thymos als »Kraftzentrum« der Seele zu denken denn an den ›Zorn‹ als eine spezifische Gerichtetheit selbiger Seelenkraft. Vollends deutlich wird die Äquivalenz von ira und thymos, wo die referierte Position die fragliche affektive Größe offensichtlich ganz allgemein als jene »Energiequelle« für das menschliche Handeln anspricht: Atqui […] stat Aristoteles defensor irae et vetat illam nobis exsecari: calcar ait esse virtutis, hac erepta inermem animum et ad conatus magnos pigrum inertemque fieri.77 [Est] aliquis et quidem de illustribus philosophis qui illi [sc. irae] indicat operas et tamquam utilem ac spiritus subministrantem in proelia, in actus rerum, ad omne quodcumque calore aliquo gerendum est vocet.78
Ja, Aristoteles tritt als Verteidiger des Zornes auf und verbietet uns, ihn herauszuschneiden: Er sei, sagt er, ein Sporn der Tüchtigkeit; reiße man ihn heraus, werde die Seele wehrlos und für große Unternehmungen zu träge und zu kraftlos. Es gibt einen, und zwar von den berühmten Philosophen, der dem Zorn gewisse Leistungen zuschreibt und ihn gleichsam herbeiruft als nützlich und Begeisterung verleihend für die Schlacht, für den Vollzug von Taten, zu allem, was immer mit einer gewissen Hitze zu vollbringen ist.
Das mit ira Bezeichnete ist ›Sporn der Tüchtigkeit‹: Ansporn zur Wehrhaftigkeit im Krieg, aber auch generell zu ›großen Unternehmungen‹, zu allem, wozu es einer gewissen ›Hitze‹ oder seelischen Spannung bedarf, um es zu verfolgen und zu erreichen. Nicht zuletzt die Verwendung des Ausdrucks calor legt die Annahme nahe, dass dieser Beschreibung der aristotelische Thymosbegriff zugrundeliegt. Wo Seneca von ›Zorn‹ spricht – und damit unter stoisch-orthodoxen Prämissen eigentlich nur einen aktuellen furor animi meinen kann – hat der Zitierte eine Instanz im »Herzen« der Seele vor Augen, welche dieser die nötige Energie verleihen kann nicht nur für den Kampf, sondern überhaupt für alles ›Große‹ und Schwierige. In den aristotelischen oder peripatetischen Äußerungen, auf die Seneca rekurriert, 77 78
Ira 3,3,1. Ira 3,3,5.
4. Die Grundformen des Erhabenen
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ist der thymos offenbar nicht mehr allein als Kraft der Selbstbehauptung verstanden worden, sondern allgemeiner als die Kraft, ›Großes‹ zu vollbringen und dabei potentielle Widerstände zu überwinden. Eine ähnlich fundamentale Leistung der infrage stehenden Instanz für die Tüchtigkeit der Seele beschreibt die folgende Passage aus den Tusculanen. Nur scheint Cicero hier im Gegensatz zu Seneca das begriffliche Problem empfunden zu haben. Denn mithilfe der stoischen Affekttypologie, derzufolge der ›Zorn‹ (ira) zur Affektklasse der ›Begierde‹ (libido) gehört,79 schwenkt Cicero plötzlich von ira auf die allgemeineren Begriffe libido bzw. cupiditas um, um die peripatetische Auffassung wiederzugeben: Nec vero solum hanc libidinem [sc. iram] laudant […], sed ipsum illud genus vel libidinis vel cupiditatis ad summam utilitatem esse dicunt a natura datum; nihil enim quemquam nisi quod lubeat praeclare facere posse. […] cui non sunt auditae Demosthenis vigiliae? qui dolere se aiebat, si quando opificum antelucana victus esset industria. philosophiae denique ipsius principes numquam in suis studiis tantos progressus sine flagranti cupiditate facere potuissent. ultimas terras lustrasse Pythagoran Democritum Platonem accepimus. […] num putamus haec fieri sine summo cupiditatis ardore potuisse?80
Aber sie loben nicht nur diese Begierde [sc. den Zorn] […], sondern behaupten, eben diese Art von Begierde oder von Verlangen sei uns von der Natur zu unserem höchsten Nutzen gegeben worden; denn nichts könne jemand vortrefflich zustande bringen, wenn er es nicht begehre. […] Wer hat nicht schon von den schlaflosen Nächten des Demosthenes gehört? Er sagte, es bereite ihm Kummer, wenn er einmal vor Tagesanbruch durch den Fleiß der Handwerker übertroffen werde. Schließlich hätten die führenden Philosophen in ihren Forschungen niemals so große Fortschritte ohne einen brennenden Eifer machen können. Die entferntesten Länder am Ende der Welt durchwanderten, wie wir vernommen haben, Pythagoras, Demokrit und Platon. […] Glauben wir etwa, dies habe ohne das glühendste Feuer der Begierde geschehen können?
Auch die hier referierte Argumentation dürfte von der Vorstellung des thymos ausgegangen sein (diese womöglich mit dem griechischen Äquivalent für libido bzw. cupiditas, mit hormê auslegend). Auch hier allerdings ist thymos nicht mehr der Drang zur Verteidigung der eigenen Ehre, sondern das eifernde Streben, welches das Handeln zu Fleiß, Anstrengung und Wagnis antreibt, um schließlich etwas ›Vortreffliches‹ zu leisten. Gerade den größten Philosophen wird ein solch ›glühendes Verlangen‹ zugeschrieben als Bedingung ihrer unermüdlichen Wahrheitssuche. Auch als derartiges Verlangen, Großes zu vollbringen, rückt der thymos sachlich in große Nähe zur 79 80
Vgl. Tusc. 4,16. Tusc. 4,44 (Übers. E. A. KIRFEL).
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Hochsinnigkeit, diesmal weniger dem (aristotelischen) Moment des Würdebewusstseins nach, sondern eher im allgemeineren Sinn eines ›Eros des Großen‹. Wer, die Kleinigkeiten des Lebens verachtend, den Blick nach oben gerichtet hat auf das Herausragende, muss über besondere seelische Spannkraft verfügen, um diese Sinnesrichtung beharrlich zu verfolgen. Aber im Grunde beinhaltet diese thymoshafte innere Glut selbst den Drang nach dem Vortrefflichen. Dem thymos selbst eignet neben dem dynamischen ein intentionales Moment, eine Ausrichtung auf das Hervorragende, und so fallen Zornesmut und Hochsinnigkeit eigentlich zusammen. Ob dieser offenkundigen Affinität von thymos und Hochsinnigkeit verwundert es nicht, dass Seneca im Streit um den Wert des ›Zornes‹ explizit auf die magnitudo animi zu sprechen kommt.81 So hatten die peripatetischen Gegner anscheinend behauptet, »dass der Zorn« bzw. der thymos »zur Seelengröße etwas beitrage«82 – für das stoische Verständnis von Hochsinnigkeit, wonach diese allein im richtigen Urteil über den Wert der Dinge und folglich in absoluter Freiheit von pathos besteht, eine Unmöglichkeit.83 Interessant ist, dass Seneca mit der These eines potentiellen Beitrags des ›Zornes‹ zur Hochsinnigkeit offenbar primär ein rhetorisches Phänomen verbindet. Er bezieht sich in diesem Zusammenhang auf im Affekt gesprochene Extremaussagen, die dem longinischen Ideal der enthusiastisch-eruptiven Gipfelformulierung erstaunlich nahe kommen. Das erste Beispiel stammt aus einer Tragödie des Accius: Quid ergo? Non aliquae voces ab iratis emittuntur quae magno emissae videantur animo veram ignorantibus magnitudinem? Qualis illa dira et abominanda: ›Oderint dum metuant‹. […] Magno hoc dictum spiritu putas? Falleris; nec enim magnitudo ista est sed immanitas.84
81
Was also? Werden nicht manche Worte von Erzürnten ausgesprochen, die aus einer großen Seele zu stammen scheinen denen, die wahre Größe nicht kennen? Zum Beispiel jener grässliche und verabscheuenswerte Ausspruch: ›Sollen sie mich hassen, wenn sie mich nur fürchten!‹ […] Du meinst, das sei in großem Geist gesprochen? Du täuschst dich; denn das ist nicht Größe, sondern Ungeheuerlichkeit.
Vgl. dazu J. FILLION-LAHILLE: Le De ira, 209f. Ira 1,20,1: aliquid iram ad magnitudinem animi conferre. 83 Vgl. z.B. Sen. epist. 31,6; 41,4f; 87,3.16. – Aus der ausführlichen Auseinandersetzung mit jener Behauptung ist wenig über deren Begründung zu erfahren und wenig Überraschendes über die stoischen Gründe ihrer Ablehnung. Der Tenor von Senecas Argumentation lautet: Dem affektiven Höhenflug, dem sich manch scheinbar ›übermenschlicher‹ Gedanke und manch scheinbar ›große‹ Äußerung verdankt, fehlt Solidität und Stetigkeit, welche allein die Ratio und die ihr eigene Wertgebundenheit (bonitas) verleihen kann. 84 Ira 1,20,4f. 82
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Als zweites Beispiel führt Seneca ein Wort Julius Caesars an, … qui iratus caelo quod obstreperetur pantomimis […] quodque comessatio sua fulminibus terreretur […] ad pugnam vocavit Iovem et quidem sine missione, Homericum illum exclamans versum: §H m’ aönaßeir’ hü eögv? seß. Quanta dementia fuit! Putavit aut sibi noceri ne ab Iove quidem posse aut se nocere etiam Iovi posse.85
… der aus Zorn über den Himmel, dass er während der Pantomimen [sc. vom Donner] gestört wurde […] und dass sein Gelage von Blitzen aufgeschreckt wurde […], Jupiter zum Kampf forderte, und zwar auf Leben und Tod, indem er einen Homervers ausrief: ›Heb mich, oder ich dich!‹ Wie groß war dieser Wahnsinn! Er glaubte, dass ihm nicht einmal von Jupiter Schaden zugefügt werden, oder sogar, dass er Jupiter Schaden zufügen könne.
In Senecas Worten spiegelt sich eine Position, die gewisse Worte, die »von Zürnenden ausgestoßen werden«, als Ausdruck von Hochsinnigkeit begreift: als magno emissae animo (»aus einer großen Seele ausgestoßen«). Von Senecas Beispielen ähnelt insbesondere die Caesar-Episode dem von Longin gepriesenen Aias-Gebet nicht wenig (von der ungleichen Bedrängnislage abgesehen): Im Zornesausbruch fordert Caesar Jupiter mit einer Redewendung von Ringern zum Kampf. Das Urteil Senecas für solchen Übermut fällt freilich ganz anders aus als bei Longin: Omnes quos vecors animus supra cogitationes extollit humanas altum quiddam et sublime spirare se credunt: ceterum nihil solidi subest.86 Nihil ergo in ira, ne cum videtur quidem vehemens et deos hominesque despiciens, magnum, nihil nobile est.87
Alle, die eine wahnsinnige Seele über menschliche Gedanken erhebt, glauben, etwas Hohes und Erhabenes zu atmen; gleichwohl fehlt der feste Grund. Nichts also ist am Zorn – nicht einmal wenn er heftig erscheint und voller Verachtung von Göttern und Menschen – Großes, nichts Edles.
Die Gegner Senecas erblicken – zumindest in dessen Wahrnehmung – den Grund für die vermeintliche Erhabenheit jener Ausrufe in ihrer »Übermenschlichkeit« (supra cogitationes humanas) und »Heftigkeit« (vehemens), außerdem in der »Verachtung von Göttern und Menschen« (deos hominesque despiciens), die in ihnen zum Ausdruck kommt – alles Momente, die ähnlich auch in Longins Theorie vom Erhabenen etabliert werden. Es hat sich offenbar von dem peripatetischen Verständnis des thymos als eines Affektvermögens, dem ein Trachten nach dem Hohen eingeschrieben ist, auch eine korrespondierende Auffassung affektiv-hochsinniger Rede nahegelegt,
85
Ira 1,20,8f. Ira 1,20,1. 87 Ira 1,21,1. 86
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Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
wonach sich der Drang nach Ehre bzw. Größe in affektiver Eruption und in entsprechendem sprachlichem Übermaß artikuliert. Dem Accius-Exempel lässt sich zur näheren Kennzeichnung der peripatetischen Position immerhin so viel entnehmen: Der Sprecher, wahrscheinlich ein Potentat, spricht mit der im Affekt gesprochenen Wendung seine Unabhängigkeit von dem allgemein erstrebten Gut der Wertschätzung anderer aus, mithin seinen souveränen Standpunkt über den Menschen. Leitend ist dabei offensichtlich ein massiver Selbstdurchsetzungsdrang: »Sollen sie mich hassen, wenn sie mich nur fürchten!« Dass jenem Sprecher ein ausgeprägter thymos eignet, liegt auf der Hand. Dass er damit wiederum als hochsinnig anzusehen ist, lässt sich nur unter der Voraussetzung eines (übersteigerten) aristotelischen Hochsinnigkeitsbegriffs nachvollziehen, der wesentlich ein ausgeprägtes aristokratisches Würdebewusstsein beinhaltet und hier offenbar die Verachtung gewöhnlicher Menschen miteinschließt. Ein ähnlich übersteigertes Selbstbewusstsein spricht sich auch in dem Caesar-Wort aus, mit dem er Jupiter herausfordert. Auch hier kann nur das geradezu übermenschliche Selbstgefühl, das Verachtung nicht nur der Menschen, sondern sogar der Götter impliziert, der Grund für die Zuschreibung von Hochsinnigkeit sein – ein Selbstgefühl, das Seneca demgegenüber als ungeheuerliche Selbstüberhebung brandmarkt. Anhand der vorgeführten Äußerungen Ciceros und Senecas zur Affekttheorie, interpretiert vor dem Hintergrund der klassisch-griechischen Thymosvorstellung und im Rückgriff auf die Ausführungen zur Geschichte des Hochsinnigkeitsbegriffs,88 lassen sich – so kann festgehalten werden – zwei entgegengesetzte Konzepte von Hochsinnigkeit und Hochsinnigkeitsdarstellung voneinander abheben. Die von Cicero und Seneca verfochtene stoischorthodoxe Position begreift Hochsinnigkeit als die dem rechten Urteil der Vernunft über den Wert der Dinge entspringende Ausrichtung der Seele auf das wahre Gut, der eine Geringschätzung aller weltlichen Scheingüter und übel und folglich Affektlosigkeit – Freiheit von aller Überbewertung vermeintlicher Güter und Übel – korrespondiert. Stetigkeit verleiht jener Ausrichtung allein die Kraft der Vernunft. Hingegen behauptet die peripatetische Position die Notwendigkeit einer nicht-logischen, affektiven Seelenenergie, soll sie sich über die gemeinen Lebensinteressen hinaus zu großen Leistungen, über den durchschnittlichen Kleinmut hinaus zur virtus aufschwingen. Um vortreffliche Ziele nicht nur ins Auge zu fassen, sondern trotz aller Strapazen und Widrigkeiten durchgängig im Auge zu behalten, bedarf es einer besonderen seelischen Spannkraft. Es bedarf einer inneren Glut, die nicht dem »kühl« urteilenden Vernunftvermögen zugeschrieben werden kann, sondern von anderwärts her 88
S.o. Kap. 3.2.2.
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stammen muß: aus der »Brust«, dem Ort der affektiven Erregung. Mit einem Wort: Bedingung von Hochsinnigkeit ist ein ausgeprägter thymos. Der thymos ist jedoch nicht bloß die Kraftquelle der Seele. Wie sich den Tuskulanen entnehmen lässt, betrachten »die Peripatetiker« ihn als »eine Art Trieb oder Verlangen«89. Neben dem dynamischen eignet ihm demzufolge auch ein intentionales Moment. Aber offenbar wird der thymos nun nicht mehr in erster Linie als kraftvoller Drang nach Selbstdurchsetzung begriffen wie bei Platon und Aristoteles, sondern als dynamisches Streben nach dem Gerechten, Guten und Vortrefflichen, also, ganz allgemein gefasst, als Drang zur Verwirklichung des Idealen. In diesem Sinne ließe sich der infrage stehende Thymosbegriff auch prägnant als cupiditas magni zusammenfassen, als Verlangen nach dem Großen (bei gleichzeitiger Verachtung des Kleinen). Daraus folgt, dass die Hochsinnigkeit auf peripatetischer Seite offenbar selbst im Bereich des Affektiven lokalisiert werden konnte. Die Formulierungen bei Cicero und Seneca, die dem thymos selbst eine ideale Intentionalität beilegen, legen diesen Schluss nahe. Dem stoischen Bild des vir bonus, der mit seinem Wissen um die wahren Werte des Lebens jeder seelischen Erregung enthoben ist, kontrastiert das Ideal eines Hochsinnigen, dem das hohe Ziel seines Daseins gleichsam ins Herz geschrieben ist. Es ist das Ideal eines Helden, in dessen Brust das Feuer eines leidenschaftlichen Strebens nach dem Großen brennt, das auflodert im Zorn über Böses und das den Mut anstachelt zum Kampf gegen Widriges, um schließlich jenes hohe Ziel zu verwirklichen. Den unterschiedlichen Mustern entsprechen wiederum verschiedene Vorstellungen von der Art und Weise, wie sich solche Hochsinnigkeit an einer Person darstellt oder – rhetorisch bzw. poetologisch gewendet – darstellen lässt. So kann der hohe Sinn des stoischen Weisen im Grunde nur negativ sichtbar (gemacht) werden, nämlich durch die Affektlosigkeit in Situationen, wo durchschnittlicher Kleingeist in Furcht oder Zorn verfallen würde: Si hominem videris interritum periculis, intactum cupiditatibus, inter adversa felicem, in mediis tempestatibus placidum, ex superiore loco homines videntem, ex aequo deos, non subibit te veneratio eius?90
89
Wenn Du einen Menschen erblickst, unerschrocken in Gefahren, unberührt von Leidenschaften, im Unglück glücklich, mitten in den Stürmen gelassen, von einer höheren Ebene die Menschen betrachtend, auf gleicher die Götter, wird Dich nicht Ehrfurcht vor ihm überkommen?
Tusc. 4,44: genus vel libidinis vel cupiditatis. Sen. epist. 41,4 (Übers. F. LORETTO). Das klassische poetische Bild solch stoischer Hochsinnigkeit zeichnen die folgenden Horaz-Verse (carm. III,3,7f), die auch in der Erhabenheitsliteratur des 18. Jahrhunderts immer wieder angeführt werden: »Si fractus inlabatur orbis, / Inpavidum ferient ruinae.« Vgl. z.B. M. MENDELSSOHN: Betrachtungen über 90
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Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
Der Hochsinnige entzieht sich den Widrigkeiten, den »Pathoslagen« des Lebens, indem er sie nicht als wahrhaft widrig anerkennt, und rückt aufgrund derartiger Unerschütterlichkeit in die Nähe der Götter. Solch negativer Darstellung von Hochsinnigkeit durch Apathie, wie sie etwa die Helden in den Tragödien Senecas (und später z.B. Corneilles) kennzeichnet,91 steht auf peripatetischer Seite die Hochsinnigkeitsdarstellung vermittels des Affekts gegenüber. Nach der Logik eines Konzepts, wonach der hohe Sinn dem feurigen Teil der Seele innewohnt, tritt die Ausrichtung auf das Hohe in der Aufwallung jener Seelenglut zutage. Sie offenbart sich ebenfalls in einer Bedrängnissituation: in einer heftigen seelischen Erregung angesichts des Widrigen, in der sich gleichsam die Sehnen der Seele anspannen zur Durchsetzung des Idealen und zum Widerstand gegen alles, was sich den hohen Zielen entgegensetzt.92 Eine Entfaltung dieser Konzeption der Darstellung von Hochsinnigkeit dürfte, wie andeutungsweise bereits gezeigt wurde, in Longins Theorie vom ›enthusiastischen Pathos‹ vorliegen. Diese These ist im Folgenden zu untermauern, indem der Gebrauch des Thymosbegriffs in Peri Hypsous geprüft wird (4.1.2.4). Es ist sodann die psychologische Dimension des Traktats zusammenfassend zu charakterisieren (4.1.2.5), bevor in Kap. 4.1.3 eine resümierende Gesamtansicht von Longins Idee des Pathetisch-Erhabenen gegeben werden kann. 4.1.2.4. Longins ›enthusiastisches Pathos‹ und die Vorstellung vom ›hochsinnigen Thymos‹ Die Untersuchung des Wortgebrauchs in Peri Hypsous wird von einem starken Einfluss des homerischen sowie des platonischen Thymosbegriffs auf den Homer- und Platonverehrer Longin ausgehen können. So wird denn auch in 32,5 eine Passage aus Platons Timaios (70bc) zitiert, in der vom thymos im Sinne des feurig-eruptiven Seelenvermögens (neben den Begierden und der Vernunft) und von dessen anatomischer Behausung die Rede ist. Diese allgemeine Bedeutung von thymos vorausgesetzt, wird zur Bewähdas Erhabene und das Naive in den schönen Wissenschaften (1758), 198; J. G. SULZER: Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 1 (1771), 494 (Art. Groß, Größe). 91 Vgl. M. FUMAROLI: L’héroisme cornélien et l’idéal de la magnanimité. – Auf diesen stoischen Hochsinnigkeitsbegriff rekurriert K. Dockhorns These zur Geburt des Erhabenen. S.o. Kap. 4.1.1.1. 92 Die beiden angeführten Beispiele in Senecas antiperipatetischer Polemik belegen die Vorstellung eines ›hochsinnigen Thymos‹, der sich in entsprechend affektiven Spitzenformulierungen artikuliert. Gegenüber der oben versuchten Rekonstruktion jedoch fehlt in beiden Fällen eine ernstzunehmende Bedrängnissituation. Wohl nicht zuletzt deshalb wirken die Exempel eher als Paradigmen für willkürliche Selbstüberhebung denn für hochsinniges Würdebewusstsein.
4. Die Grundformen des Erhabenen
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rung der These, im Hintergrund von Longins Theorie des ›enthusiastischen Pathos‹ stehe die Vorstellung eines ›hochsinnigen Thymos‹, zunächst zu fragen sein, ob sich an den übrigen einschlägigen Stellen von Peri Hypsous Hinweise dafür finden lassen, dass dem thymos irgendeine Art von ideeller Intentionalität beigelegt wird. Schon bei der erstmaligen Verwendung in 13,4 scheint dies der Fall zu sein. Es wird hier Platon als glühender Nacheiferer Homers vor Augen gestellt, der philosophisch wie literarisch nicht zu solchem Format gelangt wäre, »hätte er nicht, beim Zeus, mit ganzem thymos (panti? jumv#)q mit Homer um den ersten Platz gerungen«. ›Mit ganzem Herzen‹ strebt der Wettkämpfer nach dem Sieg im literarischen Streit. Der thymos erscheint selbst als der Sitz des unbedingten Dranges, erster zu sein. Er erinnert damit an die homerische Maxime des Achill93 und an die longinische Bestimmung der megalophrosynê in 44,2, wonach diese sich auch im »Eifer« (proßjumon) manifestiert »nach gegenseitigem Wettstreit und der Ehre des ersten Ranges«94. In 17,1 bedeutet thymos schlicht ›Zorn‹, aber schon an der nächsten Stelle wäre diese Übersetzung zu eng. Um das Stilmittel der unvermittelten direkten Rede zu illustrieren, mithilfe dessen sich ein »Affektausbruch« darstellen lasse, führt Longin in 27,1 folgende Iliasszene an: »Und Hektor gebot mit gewaltiger Stimme den Troern, / die Schiffe zu stürmen, zu lassen die blutige Beute. / Wen aus eigenem Willen ich abseits der Schiffe erspähe, / dem droh ich den Tod an.«95 Longins Kommentar dazu lautet: ouökouqn th?n me?n dihßghsin […] oÖ poihth?w proshqqyen eÖautvq#, th?n d’ aöpoßtomon aöpeilh?n tvq# jumv#q touq hÖgemoßnow eöcapißnhw ouöde?n prodhlvßsaw perießjhken.96
Die Erzählung hat […] der Dichter sich selbst übertragen; die schroffe Drohung aber hat er, plötzlich und ohne Ankündigung, dem thymos des Heerführers beigelegt.
Thymos, in Parallelstellung zu eÖautv#,q kann hier nur eine Instanz in der Person Hektors bezeichnen, welcher der Drohruf gegen die Mitstreiter zugeschrieben wird. Dies ist eine Reminiszenz an die homerische Vorstellung, wonach Helden mit ihrem eigenen thymos als dem Sitz des Willens kommunizieren können.97 Longin gilt der thymos offenbar als diejenige Instanz, die für eine besonders »schroffe« Äußerung verantwortlich ist, und zwar für eine solche, aus der bedingungsloser Siegeswillen spricht: Zugunsten des 93
Hom. Il. 11,784: »immer der Beste zu sein und ausgezeichnet vor andern«; s.o. Kap.
3.2.2. 94
44,2: to? proßjumon thqw pro?w aöllhßlouw eäridow kai? thqw peri? ta? prvteiqa filotimißaw. Il. 15,346–349 (R.B.). 96 27,1. 97 Vgl. N. BLÖSSNER: Art. Thymos, 1188; C. P. CASWELL: A Study of Thymos in Early Greek Epic, 45ff. 95
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Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
nahen Sieges sollen die Kämpfer die Beute fahren lassen. Auch hier also hat der feurig-heftige Seelenteil zugleich als Sitz eines hochsinnigen Dranges nach dem Sieg zu gelten. Angesichts der weniger heroischen Mitkämpfer, die schon beim kleinsten Teilsieg nach möglichem Kriegsraub schielen, gerät jener hochsinnige Drang in Aufwallung und entlädt sich in dem übermäßigen Drohwort. Dieses Überschäumen des thymos nennt Longin an derselben Stelle ›Pathosausbruch‹ – ein deutliches Indiz für die Annahme, das Theorem vom ›enthusiastischen Pathos‹ sei eng mit der Thymosvorstellung verbunden. Wenig später kommentiert Longin eine Passage aus der ›Kranzrede‹ des Demosthenes wie folgt: »In seinem Zorn (dia? to?n jumoßn) zerreißt er beinahe den einen Ausdruck […], so dass er durch den Affekt (dia? touq paßjouw) viel eindringlicher spricht«98. Zwar kann man hier thymos vom Kontext her ohne weiteres mit ›Zorn‹ wiedergeben. Wie im Falle einer weiteren Demosthenes-Interpretation Longins, wo vom »thymos des Redners gegen die Verräter« die Rede ist (32,2), wird aber deutlich, dass der Begriff nicht willkürlichen Jähzorn bezeichnet, sondern ein von der Leidenschaft für das Staatswohl motiviertes Hervorbrechen von »ideeller Energie«, die sich gegen die Feinde des Staates entlädt. Bemerkenswert ist schließlich auch die generelle Charakterisierung des Demosthenes in 12,3. In Gegenüberstellung zu Platon wird diesem attestiert: oÄjen oiQmai […] oÖ me?n rÖhßtvr aÄte pajhtikvßterow polu? to? diaßpuron eäxei kai? jumikvqw eökflegoßmenon, oÖ de? kajestv?w eön oägkv# kai? megaloprepeiq semnoßthti ouök eäyuktai meßn, aöll’ ouöx ouÄtvw eöpeßstraptai.99
Daher, glaube ich, hat der Redner, weil er mehr Pathos hat, stark das Feurige und thymoshaft Brennende; jener dagegen, in Pracht und großartiger Feierlichkeit verharrend, wirkt zwar nicht kalt, aber er reißt nicht so mit.
Die Feuermetaphorik der Demosthenes-Charakteristik weist in die Richtung der traditionellen Vorstellung vom hitzigen Seelenteil, und es zeigt sich eine enge gedankliche Verbindung der Begriffe pathos und thymos. Der Redner und seine Rede sind besonders affektiv. Sie haben ein Feuer, das der Herkunft des Affekts aus dem thymos, dem feurigen Teil der Seele, entspricht, weshalb es »thymoshaft-brennend« zu nennen ist. Insgesamt lässt sich sagen, dass Longins Gebrauch des Thymosbegriffs mit der Vorstellung vom hitzig-affektiven Seelenteil konvergiert, wie sie im vorausgehenden Teilkapitel entwickelt wurde. Dementsprechend scheint Longin dem thymos auch eine im weitesten Sinne ideelle Ausrichtung beizulegen: Im thymos wohnt eine höhere Leidenschaft für Ehre, Sieg oder Staatswohl, welche die Seele über niedrigere Strebungen wie Selbstgenüg98 99
27,3. 12,3.
4. Die Grundformen des Erhabenen
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samkeit, Beutegier oder bloßen Eigennutz erhebt. Aufgrund der mannigfachen Indizien ist folglich auch bei Longin eine Nähe der Thymosvorstellung zum Hochsinnigkeitsbegriff zu konstatieren. Die Vorstellung eines hochsinnigen Thymos nun auch als Hintergrund der longinischen Theorie vom ›enthusiastischen Pathos‹ zu betrachten, legt sich zum einen aufgrund der bereits beobachteten Parallelität der Begriffe thymos und pathos nahe, vor allem aber angesichts der Konkordanz zwischen Longins Beispielen für das enthusiastische Pathos einerseits und dem rekonstruierten Ideenkomplex vom hochsinnigen Thymos andererseits. Dass die Affektausbrüche eines Aias oder eines Demosthenes unter dem Titel ›enthusiastisches Pathos‹ firmieren und als Darstellung von Hochsinnigkeit gewertet werden, wird unter der Voraussetzung der Psychologie des hochsinnigen Thymos ohne weiteres plausibel. Zudem findet sich ein Textbeleg, der nicht nur sachlich, sondern auch terminologisch den Zusammenhang von pathos, thymos und enthousiasmos demonstriert. Es handelt sich um eine Stelle, an der Longin ein Demosthenes-Zitat (32,2) als Exempel für die Notwendigkeit sprachlich-stilistischer Fülle im Augenblick des höchsten pathos anführt. Erst wird das Zitat charakterisiert: eöntauqja tvq# plhßjei tvqn tropikvqn oÖ kata? tvqn prodotvqn eöpiprosjeiq touq rÖhßtorow jumoßw.100
Hier läuft der Thymos des Redners mit einer Fülle von Metaphern gegen die Verräter Sturm.
Dem folgt Longins rhetorische bzw. poetologische Schlussfolgerung:
… ta? euäkaira kai? sfodra? paßjh kai? to? gennaiqon uÄyow […] vÖw aönagkaiqa paßntvw eiöspraßttesjai ta? paraßbola, kai? ouök eöa#q to?n aökroath?n sxolaßzein peri? to?n touq plhßjouw eälegxon dia? to? sunenjousiaqn tvq# leßgonti.101
… dass heftige Affekte im rechten Augenblick und edle Erhabenheit […] ganz notwendig gewagte Bilder fordern. Sie lassen dem Hörer gar nicht die Muße, über deren Fülle zu urteilen, weil er die Begeisterung des Redners mitempfindet.
Dient die Fülle kühner Metaphern dem Ausdruck eines edlen Affektausbruchs; dient sie also – so darf aufgrund des Vorkommens des Thymosbegriffs im unmittelbaren Kontext102 geschlossen werden – der Darstellung eines überschäumenden thymos, dann ist sie nicht nur erlaubt, sondern geboten. Wegen des »Mitbegeistertseins« (sunenjousiaqn, synenthousián) des Hörers mit dem Sprecher ist solche Fülle auch gefeit gegen die rhetorische Kardinalgefahr, auf den Rezipienten den abstoßenden Eindruck rhetorischer Übertreibung zu machen. Die sprachliche Hyperbolik aufseiten des Sprechers vermittelt beim Hörer die Vorstellung eines aufsiedenden thymos und 100
32,2. 32,4. 102 32,2 (s.o.) und 32,5. 101
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weckt sogleich denselben Enthusiasmus, der sich in nämlichem Aufsieden und dem ihm eigenen Überschwang artikuliert, so dass vor lauter »Begeisterung« gar kein Abwägen über die Angemessenheit solcher Fülle statthat.103 Im Eindruck vom Affektausbruch des Redners ist – so muss die fragliche Wendung vom synenthousian verstanden werden – der Eindruck von dessen enthusiastischer Ergriffenheit enthalten, der sich daraufhin unmittelbar auf den Hörer überträgt. Das pathos, auf das es beim Pathetisch-Erhabenen ankommt, ist ›enthusiastisches Pathos‹, d.h. eine Eruption des hochsinnigen Thymos. Die Beobachtungen zur Vorstellung eines ideellen Dranges in der affektiven Schicht des Gemüts betrafen bisher den Sprecher (in Gestalt des Helden oder des Redners). Es finden sich indessen Hinweise, dass auch für Longins Bild der Rezeption des Pathetisch-Erhabenen (und des Erhabenen überhaupt) eine Psychologie leitend ist, in der die Thymosvorstellung eine zentrale Rolle spielt. Hier ist zunächst eine Passage einschlägig, in der das »eigentümliche Gefüge der Wörter« als »erstaunliches Instrument«104 des Pathetisch-Erhabenen gespriesen wird. Ähnlich der Formel vom synenthousian des Hörers mit dem Sprecher heißt es dort vom Wortgefüge (synthesis), dass es … to? parestv?w tvq# leßgonti paßjow eiöw ta?w yuxa?w tvqn peßlaw pareisaßgousan kai? eiöw metousißan auötouq tou?w aökoußontaw aöei? kajistaqsan…105
… den im Redner herrschenden Affekt auch den Seelen der Umstehenden einflößt und alle Hörenden stets an ihm teilnehmen lässt…
Das pathos des Sprechers wird der Seele des Hörers »eingeflößt«. Der angesprochenen Pathosmitteilung durch wohlgefügte Rede eignet eine eigentümliche Unmittelbarkeit, was mit dem schon in der Eingangsbestimmung des hypsos konstatierten Kontrollverlust bei der Rezeption des Erhabenen konvergiert.106 Die nämliche Unmittelbarkeit tritt hervor, wo Longin die synthesis bestimmt als … aÖrmonißan tina? ouQsan loßgvn aönjrvßpoiw eömfußtvn kai? thqw yuxhqw auöthqw, ouöxi? thqw aökohqw moßnhw eöfaptomeßnhn…107
… eine Art Zusammenstimmen von den Menschen eingepflanzten Worten, das die Seele selbst, nicht nur das Ohr erreicht…
Nach Reinhard Brandts freier, aber treffender Wiedergabe ist der Zusammenklang der Worte ein solcher, »der in die Tiefe [der] Seele, nicht nur in die Ohren dringt«. Longin scheint der synthesis das Vermögen zuzuschrei103
Vgl. oben Kap. 4.1.1.4. 39,1. 105 39,3. 106 Vgl. oben Kap. 2.1. 107 39,3. 104
4. Die Grundformen des Erhabenen
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ben, eine seelische Tiefenwirkung zu erzielen. Das gelungene Wortgefüge wirkt nicht nur auf das rationale Urteilsvermögen »der Ohren«, sondern teilt der »Seele selbst« das pathos des Sprechers mit.108 Nicht im logischen, sondern im affektiven Teil der Seele empfindet der Hörer den Affekt des Redenden mit. Selbige Tiefenwirkung gründet offenbar darin, dass die betreffenden Worte den Menschen »eingepflanzt« (eämfutow) sind. Diese kryptische Wendung lässt sich folgendermaßen verstehen: Ähnlich wie der menschlichen Seele der Sinn für das Große »eingepflanzt« ist,109 eignet ihr auch ein natürlicher Sinn für die affektive Ausdrucksdimension der Sprache. Aufgrund natürlicher Entsprechung eines je bestimmten Sprachgefüges mit einem je bestimmten Seelenzustand und einem angeborenen Verständnis solcher Korrespondenz ist es der Seele des Hörers möglich, im Vernehmen der Rede unmittelbar das pathos des Redenden zu vernehmen und zu übernehmen. So kommt es zur Mitteilung des pathos des Sprechers an des Hörers »Seele selbst«. Es kommt gleichsam zur unmittelbaren Kommunikation zwischen thymos und thymos. Nimmt man dies mit der Idee des ›enthusiastischen Pathos‹ zusammen, ergibt sich, dass Longin den Prozess der Mitteilung von Hochsinnigkeit im Falle des Pathetisch-Erhabenen als Kommunikation zweier Seelen denkt, in deren affektivem Zentrum jeweils die Leidenschaft für das Große eingelassen ist, weshalb die eine Seele unmittelbar auf den überschwänglichen Drang der anderen anspricht. In der Logik eines solchen Konzeptes unmittelbarer Hochsinnigkeitsmitteilung von thymos zu thymos läge es, den ›hohen Sinn‹ auch im nicht-logischen Teil der Seele zu lokalisieren. Tatsächlich deuten alle Äußerungen Longins darauf hin, dass ihm die Hochsinnigkeit nicht als eine Orientierung der Vernunft gilt, sondern als intuitive Ausrichtung der Seele auf das Große, als unbewusster Drang nach und Ahnung von der idealen Bestimmung. Nicht zuletzt die zahlreichen Formulierungen von einer »gewissen natürlichen Verwandtschaft« (17,3) zwischen Seele und Erhabenem, einem Erkennen des wahren Erhabenen »irgendwie von Natur« (7,2) oder einer Bewunderung des Großen unter »einer Art natürlicher Anleitung« (35,4) vermitteln den Eindruck, als ob sich das seelische Korrelat des Erhabenen, die Hochsinnigkeit, in den Tiefenschichten der Seele verberge und dem theoretischen Zugang letztlich entzogen sei. So erklärt sich im Übrigen auch der Sachverhalt, dass es offenbar außerordentlicher Impressionen bedarf, um jenen hohen Sinn überhaupt ins Bewusstsein treten zu lassen.
108
Vgl. die aristotelischen Äußerungen zur Pathosmitteilung durch pathetische Rede rhet. 1408a16ff. S.o. Kap. 3.1.1. 109 35,2: hÖ fußsiw […] eöneßfusen hÖmvqn taiqw yuxaiqw…
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Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
Hatte sich anhand der Vorstellung vom hochsinnigen Thymos bereits das rhetorisch-poetologische Theorem vom ›enthusiastischen Pathos‹ und die damit artikulierte Idee einer pathosvermittelten Hochsinnigkeitsdarstellung psychologisch aufschlüsseln lassen, konnte nun auch das entsprechende Rezeptionskonzept einem näheren Verständnis zugeführt werden. Demnach stellt sich die Aufnahme des enthusiastischen Pathos des Protagonisten durch den Rezipienten als unmittelbare Resonanz von dessen analog veranlagtem thymos dar, als ein intuitives Ansprechen eines unbewussten Sensoriums für Hochsinnigkeit. – Nachdem sich Longins Theorie durch den Aufweis ihrer psychologischen Hintergrundtheorie solchermaßen hat erhellen lassen, soll nun die integrative Funktion der Vorstellung vom ›enthusiastischen Pathos‹ für das Pathetisch-Erhabene aufgezeigt werden. 4.1.2.5. Longins psychologische Interpretation der überkommenen Stiltheorie Mit dem skizzierten Vorstellungskomplex vom hochsinnigen Thymos und seinem enthusiastischen, sprich: hochsinnigkeitsdarstellenden und -mitteilenden, Pathosausbruch in der Bedrängnis ist der Kern von Longins Auffassung vom Pathetisch-Erhabenen ausgewiesen – so das Ergebnis der vorliegenden Rekonstruktion. Das heißt: Sämtliche Eigenschaften, die der pathetisch-erhabenen Rede zugesprochen werden, stehen (mindestens im Prinzip) in Beziehung zu diesem ethisch-psychologischen Komplex. Für die fundamentalen Eigenschaften des Übermaßes, der Unordnung und ferner der Wohlplatziertheit wurde die betreffende Beziehung bereits dargelegt. Wie beim Ataxietheorem110 ist der Zusammenhang mit dem Affekt aus den Ausführungen Longins häufig unmittelbar ersichtlich; so bei den Stilmerkmalen der Bewegtheit (sugkißnhsiw)111, des Lebendig-Dramatischen (eönagvßnion)112, der Scheinspontaneität (aögvnistikoßn)113 oder der Plötzlichkeit (eöcaißfnhw, eöcapißnhw)114. Es ist bei den genannten Merkmalen erhabener Rede (und bei den Stilmitteln, die ihnen funktional zugeordnet sind) ohne weiteres plausibel, dass sie der Darstellung oder ›Nachahmung‹ (mißmhsiw, mímêsis)115 von äußerem oder innerem pathos dienen und damit potentiell dem Ausdruck der gesuchten enthusiastischen Seelenbewegung. Besonders deutlich ist der Konnex von pathetisch-erhabener Sprache und Thymosvorstellung bei der Charakterisierung des Demosthenes in 34,4. Ihm werden folgende »Vorzüge« (aöretaiß) als »gleichsam gottgesandte Ga110
Vgl. v.a. 20,2. S.o. Kap. 3.1.2. Vgl. 20,2 und 29,2. S.o. Kap. 3.1.2. 112 Vgl. v.a. 15,9. S.o. Kap. 3.1.2. 113 Vgl. v.a. 23,1 und 18,2. S.o. Kap. 2.1. 114 Vgl. 16,2; 27,1. S.o. Kap. 2.1. 115 Vgl. 18,2. 111
4. Die Grundformen des Erhabenen
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ben« zugeschrieben: die »Spannung erhabener Rede« (uÖyhgorißaw toßnow), »beseelte Leidenschaften« (eämyuxa paßjh), »Fülle« (periousißa), »Geistesgegenwart« (aögxißnoia), »Schnelligkeit« (taßxow) und eine »unerreichte Redegewalt und Macht« (aöproßsitow deinoßthw kai? dußnamiw). Die genannten Eigenschaften sind offenbar zugleich Sprachqualitäten und Charakterzüge des Sprechers. Es sind Eigenschaften einer ›großen Natur‹, die nach der Demosthenes-Beschreibung von 12,3116 mit starkem pathos und ausgeprägtem thymos ausgestattet ist. Die Spannung (toßnow) der angespannten ›Sehnen der Seele‹, das jähe Ungestüm (taßxow), die Gewalt (deinoßthw, dußnamiw) und das Übermaß (periousißa) des enthusiastischen Pathosausbruchs übertragen sich auf die Sprache, in der sich ein solcher Ausbruch artikuliert. Die Stilmerkmale und Stilmittel sind sonach nicht mehr Bestandteile herkömmlicher Stiltheorie, sondern sie werden prinzipiell als Darstellungsmittel eines Innerseelischen verstanden. Mit seiner Theorie des Pathetisch-Erhabenen bietet Peri Hypsous damit eine eigentümliche Variante des Mimesiskonzepts der aristotelischen Poetik. Aristoteles hatte die Tragödie (und implizit das Epos) als »Nachahmung von Menschen« bestimmt, die »besser sind als wir«117. Ihr Darstellungsgegenstand ist der »gute« (wenn auch nicht »makellose«)118 Charakter, das hQjow xrhstoßn.119 Dazu bemerkt Aristoteles: /Ecei de? hQjow me?n eöa?n […] poih#q fanero?n oÖ loßgow hü hÖ praqciw proaißresißn tina, xrhsto?n de? eöa?n xrhsthßn.120
Charakter hat einer, insofern […] sein Reden oder Handeln irgendeine Gesinnung offenbart; einen guten Charakter, wenn die Gesinnung gut ist.
Tragödie (und Epos) leben von der Charakterdarstellung, und diese wiederum wird erreicht, indem vermittels ihres Handelns und Redens die seelische Grundorientierung einer Person gezeichnet wird. Longin leistet eine eigenwillige Reformulierung dieses Gedankens. Die ›gute Gesinnung‹, die Aristoteles für die Charaktere der Tragödie fordert, ist nun als ›hoher Sinn‹ begriffen. Zudem ist das Darstellungsmedium dieser idealen Haltung mit der Vorstellung von der enthusiastischen Eruption des thymos angesichts des äußeren pathos bestimmter gefasst. Bei allen Differenzen im Einzelnen hat jedoch auch Longins Theorie des Pathetisch-Erhabenen – auf den ersten Blick eine rhetorische Stiltheorie – analog zur aristotelischen Poetik ihre Mitte im Gedanken der Mimesis, der Darstellung einer ausgezeichneten Verfassung des Charakters. 116
S.o. Kap. 4.1.2.4. Aristot. poet. 1454b: mißmhsiw beltioßnvn hü hÖmeiqw. 118 Vgl. poet. 1452b. 119 Vgl. poet. 1454a. 120 Poet. 1454a (Übers. M.F.). 117
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Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
Was die Genese der Theorie betrifft, scheint der Autor von Peri Hypsous verschiedene überkommene Stilmerkmale in der ethisch-psychologischen Vorstellung vom enthusiastischen Pathos integriert zu haben. Dafür spricht der Sachverhalt, dass sich die Eigenschaften erhabener Rede mindestens zum Teil bereits in vorlonginischen Stiltheorien finden. Hier ist ein Seitenblick auf Demetrius erhellend.121 Im Unterschied zu Longin behandelt der Autor von Peri Hermeneias die Stilcharaktere gänzlich ohne Reflexion auf psychologische Zusammenhänge (abgesehen von ganz wenigen Andeutungen). Es wird mit kurzen Begründungen schlicht aufgezählt, welche Stilmittel zum jeweiligen Stilcharakter beitragen. Von einer solchen rein deskriptiven Stiltheorie hebt sich die spezifische Leistung Longins umso klarer ab. Sie liegt nicht nur in der besonders eindringlichen Beschreibung der sprachlichen Phänomene, sondern in deren Zusammenschau vermöge der psychologischen Zentralidee vom Aufsieden des hochsinnigen Thymos. Bei dieser Zusammenschau dürften nicht zuletzt gewisse typisierte Bilder der rhetorischen, literarischen und mythischen Heroen eine Rolle gespielt haben. Wie Aias für den Klassizisten Longin der Inbegriff des hochsinnigschroffen Helden ist, so Demosthenes das Muster des thymoshaft-hitzigen Rhetors. Wie sich gerade an Demosthenes ablesen lässt, verbindet sich in diesen Idolen ein Stilideal mit einem Charakterbild, und so wird vermöge solch doppelter Idealvorstellungen ein bestimmter Stil durchgängig als Ausdrucksgestalt eines spezifischen Charakters lesbar: die pathetisch-erhabene Rede als Darstellung eines hochsinnigen Thymos. Die behauptete Syntheseleistung der ethisch-psychologischen Metatheorie für die stiltheoretischen Betrachtungen von Peri Hypsous hat freilich auch ihre Grenzen. Das lässt sich am Begriff der ›Schroffheit‹ (aöpoßtomon) demonstrieren. Laut 27,1 hat Homer Hektors »schroffe Drohung« natürlicherweise dem thymos des Helden zugewiesen, und laut 12,4 liegt das Proprium der »thymoshaft brennenden« Sprache des Demosthenes primär »im Schroff-Erhabenen« (uÄyow aöpoßtomon, hýpsos apótomon). In beiden Fällen ist der Zusammenhang zwischen pathetisch-erhabener Sprechweise und psychologischer Hintergrundsidee erkennbar: Der schroffen Eruption des hochsinnigen Thymos entspringt die schroffe Erhabenheit der Worte. An anderer Stelle ist ebenfalls vom ›Schroff-Erhabenen‹ die Rede, aber diesmal im Anschluss an ein Demosthenes-Zitat, dem kaum etwas Affektiv-Eruptives eignet: »Dieser Beschluss ließ die Gefahr, die über der Stadt hing, fortziehen wie ein Gewölk«122, sagt Demosthenes, ausnahmsweise in nur mäßig 121 In Demetrius’ Peri Hermeneias (wahrscheinlich 1. Jh. v. Chr.) bezeichnet die deinoßthw, die auch in Peri Hypsous begegnet (vgl. z.B. 9,5; 10,4; 10,6), einen eigenen Stilcharakter, der dem (Pathetisch-)Erhabenen Longins in vielem ähnelt. Vgl. L. VOIT: DEINOTHS. 122
39,4 (R.B.).
4. Die Grundformen des Erhabenen
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temperierter Gemütsverfassung. Entsprechend verdankt sich laut Longin die schroffe Erhabenheit hier auch gar nicht dem pathos des Sprechers oder der Sprache, sondern dem daktylischen Rhythmus des Satzes und einer gewissen Kürze der Schlusswendung. Das longinische Urteil ist an dieser Stelle offenbar nicht über die Vorstellung vom enthusiastischen Pathos vermittelt. Vielmehr verdankt sich die Zuschreibung von ›erhabener Schroffheit‹ unmittelbar der sprachlichen Form. Die ›Schroffheit‹ fungiert hier als isolierter Stilbegriff, ohne Rekurs auf die Vorstellung affektiver Eruption. Unbeschadet der grundsätzlichen Beziehung der Kategorien auf die ethischpsychologische Basisvorstellung wären sonach innerhalb der longinischen Theorie des Pathetisch-Erhabenen gleichzeitig Reste eines stilkritischen Formalismus zu konstatieren. Möglicherweise berühren die besagten Formalismustendenzen sogar die Schlüsselbegriffe von Longins Theorie des Pathetisch-Erhabenen und mithin dessen Kernvorstellung. Dass der Hochsinnigkeitsbegriff von Peri Hypsous eine große Weite aufweist, die ihn teilweise der bloßen Struktur eines Strebens nach dem Großen bei gleichzeitiger Verachtung des Kleinen annähert, deutete sich an.123 Es lässt sich aber auch hinsichtlich des Pathosbegriffes nicht ausschließen, dass er sich teilweise von der Vorstellung des enthusiastischen Affektausbruchs gelöst hat. So handelt Longin im Kontext des Pathetisch-Erhabenen häufig von Szenen, in denen lediglich ein äußeres Widerfahrnis vor Augen gestellt wird, ohne dass irgendeine enthusiastische Reaktion der Protagonisten sichtbar würde.124 Es kann hier nicht definitiv entschieden werden, ob der Autor von Peri Hypsous jeweils nur die Darstellung der äußeren Bedingung von ›enthusiastischem Pathos‹ vorführen will oder ob er die jeweilige Szene als vollgültiges Exempel des PathetischErhabenen einstuft. In diesem Fall wäre bereits das äußere pathos als Mittel der Weckung von Hochsinnigkeit gewertet, ohne dass sich dazu irgendwie in der enthusiastischen Ergriffenheit des Helden dessen hoher Sinn darstellen müsste. Der bloße Schrecken, das foberoßn125 bzw. deinoßn126 der dargestellten Bedrängnislage würde genügen, um aufseiten des Rezipienten eine erhebende Erschütterung auszulösen. Gerade angesichts der signifikanten Mehrdeutigkeit des Pathosbegriffs würde es nicht verwundern, hätte der Autor von Peri Hypsous, von Haus aus nicht eben um begriffliche Schärfe bemüht, seine Basisidee – Hochsinnigkeitsmitteilung durch Darstellung von enthusiastischem Pathos – mitunter fallen lassen zugunsten des formali-
123
S.o. Kap. 3.2.3. Vgl. 10,5; 15,2; 38,3. 125 Vgl. 3,1; 9,7; 10,6. 126 Vgl. z.B. 10,4; 10,6. 124
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Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
sierten Konzepts einer Hochsinnigkeitsmitteilung durch Pathosdarstellung (überhaupt). Trotz der angedeuteten Unschärfen und Inkonsistenzen innerhalb von Peri Hypsous lässt sich die These halten, dass die Vorstellung einer hochsinnigkeitsdarstellenden Thymoseruption die ethisch-psychologische Basisidee des Pathetisch-Erhabenen repräsentiert. Erst diese Idee führt über die Summation von Einzelmerkmalen und -mitteln hinaus zu einem einheitlichen Begriff des Pathetisch-Erhabenen. Es dürfte dies im Übrigen die einzig plausible Verhältnisbestimmung zwischen Pathos und Hochsinnigkeit sein, die mit den longinischen Ausführungen und Beispielen immerhin in den Grundlinien zusammenstimmt – und die zu einem vertieften, nämlich ethisch-psychologischen und metaphysisch-religiösen Verständnis des Erhabenheitsphänomens führt. Nach dem Ausweis jener Basisidee und ihrer Funktion für die Hypsostheorie Longins ist nun in Aufnahme der Ergebnisse eine entsprechende Gesamtansicht des Pathetisch-Erhabenen zu geben. 4.1.3. Das Pathetisch-Erhabene bei Longin »Ich würde zu behaupten wagen, dass nichts in der Rede so groß ist wie das edle Pathos« (8,4). Diese programmatische Äußerung, die Omnipräsenz des Pathosbegriffs und das Übergewichts der literarischen Exempel für das Pathetisch-Erhabene innerhalb des Traktats Peri Hypsous lassen darauf schließen, »dass der Anonymus zumal in dieser Verbindung seine ästhetischen Vorstellungen verwirklicht glaubte«127. Auch wenn der Autor des Traktats mit »vielen erhabenen Stellen ohne Pathos« (8,2) rechnet, ist die maßgebliche Gestalt des hypsos für ihn diejenige, die mit »heftigem, enthusiastischem Pathos« (8,1) verbunden ist. Die Grundthese von Kap. 9 vorausgesetzt, das Erhabene generell sei ›Widerhall von Hochsinnigkeit‹ (9,2), waren sonach Pathos und Hochsinnigkeit in ein sinnvolles Verhältnis zu bringen, um ein Bild von der longinischen Zentralidee zu gewinnen. Der Schlüssel zu dieser Idee musste in der Vorstellung eines »Erleidens« bzw. eines Affekts (Pathos) liegen, die in irgendeiner Weise in Konkordanz mit der Vorstellung einer idealen Ausrichtung der menschlichen Seele (Hochsinnigkeit) gedacht werden kann. Die Untersuchung nahm ihren Ausgang bei der Hypothese von Klaus Dockhorn, die Kategorie des Erhabenen sei aus der funktionalen Unterordnung des Pathosbegriffs unter den Hochsinnigkeitsbegriff hervorgegangen. Das pathos, verstanden als äußere und innere Bedrängnis der Seele, sei innerhalb des Pathetisch-Erhabenen Anlass zur Bewährung der großen Seele 127
M. FUHRMANN: Die Dichtungstheorie, 179.
4. Die Grundformen des Erhabenen
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und in diesem Sinne Darstellungsmedium von Hochsinnigkeit (4.1.1.1). Unter Voraussetzung dieser Annahme ergab sich das Modell einer zweistufigen Erfahrung ›erhebender Erschütterung‹: Angesichts des Mitvollzugs der Bedrängnislage des Protagonisten zunächst »miterschüttert«, wird durch dessen Standhalten innerhalb der Erschütterung, sein ›edles Pathos‹, und durch die sich darin offenbarende Weltenthobenheit daraufhin der ›hohe Sinn‹ des Rezipienten angesprochen und seine Seele zu einem entsprechenden Hoheitsbewusstsein erhoben (4.1.1.2). Im Blick auf Longins Musterbeispiele für das Pathetisch-Erhabene musste dieses Modell indessen in einer Hinsicht korrigiert werden. Denn edles Pathos bedeutet bei Longin nicht etwa ein Mindestmaß an affektiver Unerschütterlichkeit in der seelischen Erschütterung. Vielmehr wird in Peri Hypsous offenbar gerade einem bestimmten, ›edlen‹ Affektausbruch des Helden das Potential zugebilligt, als Darstellung von Hochsinnigkeit aufgefasst zu werden (4.1.1.3), wobei nicht zuletzt der hyperbolische Charakter des Affektausdrucks maßgeblich ist (4.1.1.4). Das Konzept einer hochsinnigen Eruption der Seele im Angesicht der Bedrohung konnte anschließend mit der Thymosvorstellung aus der antiken Psychologie, die auch in Peri Hypsous ihren Niederschlag gefunden hat, plausibilisiert werden (4.1.2). Die Einsicht in den konstitutiven Eruptionscharakter des erhabenheitsrelevanten pathos bedeutet im Blick auf Peri Hypsous eine deutliche Modifikation der Dockhorn-These zur Signatur des Pathetisch-Erhabenen. Zwar fungiert auch in Longins Konzept das pathos als Medium der Darstellung bzw. Weckung von Hochsinnigkeit, aber der Modus der Darstellung ist ein anderer, als es sich Dockhorn von einem stoischen Hochsinnigkeitsbegriff her (für Cicero) nahegelegt hatte: Die Widerstandskraft der Seele, in der sich Hochsinnigkeit manifestiert, ist nach Longin nicht die stoische »Kraft des Geistes«128, die eine »über-menschliche Unberührtheit der Seele«129 ermöglicht. Die Hochsinnigkeit stellt sich nicht rein negativ dar, im Ausbleiben der normalmenschlichen Betroffenheit in der Bedrängnis. Für Longin liegen die Wurzeln der Hochsinnigkeit weniger in der Logosdimension als im affektiven Teil der Seele, und entsprechend affektiv ist auch ihre Expressionsform: Die hochsinnige Widerstandskraft der Seele liegt im aufbrausenden thymos, und so artikuliert sich der hohe Sinn gerade im affektiven Aufbrausen angesichts der Bedrohung. Es lässt sich die »pathozentrische Anthropologie«130, die Longin zu Recht bescheinigt worden ist, sonach genauer als »thymozentrische« Anthropolo128
K. DOCKHORN: Die Rhetorik, 60. AaO. 61. 130 Vgl. P. L. OESTERREICH: Das Hervorbrechen des Erhabenen. Pseudo-Longins pathozentrische Anthropologie. 129
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gie bezeichnen: Longins Bild der menschlichen Seele, das wiederum seine Auffassung von Darstellung, Produktion und Rezeption des (Pathetisch-) Erhabenen leitet, ist wesentlich durch die Vorstellung eines nicht-logischen, affektiven Kraft- und Willenszentrums bestimmt, in welches der unbewusste Drang nach dem Hohen und damit zugleich die Ahnung einer übermenschlichen Herkunft eingesenkt ist. Diese dem hochsinnigen Thymos innewohnende »glühende Leidenschaft« für das werthaft Hohe kommt indes nur unter bestimmten Bedingungen aus der Verborgenheit des Innerseelischen ans Licht, und, dem »feurigen« Charakter jenes Organs entsprechend, nur in bestimmter Form: Es bedarf eines äußeren pathos, um das entscheidende innere pathos hervorzurufen, nämlich den thymosspezifischen doppelten Affekt des Aufbrausens in der Erschütterung. Unter dem Druck äußerer Bedrängnis lodert die innere Glut auf und tritt in Form einer affektiven Aufwallung zutage, in welcher sich ›edler‹ Widerstand gegen die Bedrängnis artikuliert. Indem die Seele nicht jämmerlich zerfließt, sondern in ihrem Aufbäumen eine letzte Verachtung der Bedrohung zu erkennen gibt und darin eine letzte Geringschätzung alles Nur-Menschlichen, offenbart sich ihr übermenschlicher »Adel«. Die äußere Bedrohungssituation setzt gleichsam das innere Energiezentrum unter Druck, das sich im Augenblick des ›edlen Pathos‹ Bahn bricht und zugleich mit der inneren Bedrängnis die sonst verborgene Hochsinnigkeit zum Vorschein bringt: in Form der Gegenkraft einer Seele, die sich dank ihrer instinktiven Ausrichtung am Hohen jeder Bedrohung letztlich enthoben weiß. Die betreffende affektive Eruption artikuliert sich in gedrängter, die normale Ordnung und das normale Maß sprengender Sprachform, vermöge derer Erschütterung und Aufbrausen sowie ein alles Irdische transzendierender Überschwang gleichermaßen zum Ausdruck kommen. Unordnung und Übermaß sind also die sprachlichen Mittel zur Darstellung des seelischen Widerstands in der Erschütterung und mithin des hochsinnigen Gefühls eines letzten Enthobenseins. Das skizzierte Bild der Hochsinnigkeitsdarstellung prägt auch Longins Auffassung von der Rezeption und Produktion des Erhabenen. Vermöge seiner Imaginationskraft (phantasia) kann sich der hochsinnige Dichter gleichsam selbst in die Bedrängnislage des Helden begeben, um den Augenblick der enthusiastischen Eruption – dank der natürlichen Verwandtschaft der thymosartigen Seelen – mit dem eigenen thymos mitzuerleben und kraft des Sensoriums für Affektausdruck entsprechend sprachlich zu gestalten. Daraufhin wird in der Vergegenwärtigung der dargestellten Pathossituation die Seele des Rezipienten nicht nur mit-erschüttert, sondern im Mitvollzug des sprachlich umgesetzten enthusiastischen Affektausbruchs kann sich nun auch ihr thymoseigenes Glühen entfachen: Sie wird mit-begeistert (synen-
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thousian). Es kommt zur Erfahrung ›erhebender Erschütterung‹, in der die Seele des Hörers oder Lesers im Miterleben heroischen Seelenadels der eigenen hohen Bestimmung innewird, eines letzten Hinausseins über alles Irdische. Longins Idee des Pathetisch-Erhabenen hat ihr Zentrum in dem beschriebenen Vorstellungskomplex von der Eruption des hochsinnigen Thymos in der Bedrohungssituation – so lässt sich das Resultat der vorliegenden Interpretation in einem Satz zusammenfassen. Man kann diesen Ertrag am besten in der Gegenüberstellung zur aristotelischen Tragödientheorie verdeutlichen. Bekanntlich weist Aristoteles der Tragödie nicht nur die Aufgabe der Charakternachahmung (êthos)131 zu, sondern insbesondere diejenige der Darstellung tragischer Widerfahrnisse (pathos), die den betreffenden Charakter heimsuchen und, durch Identifikation mit diesem, auch aufseiten des Zuschauers die Affekte ›Schauder‹ (foßbow) und ›Jammer‹ (eäleow) hervorrufen. Die Tragödie baut, um einen Begriff aus der aristotelischen Rhetorik zu gebrauchen, auf das sunomopajeiqn (synhomopatheín)132 von Held und Zuschauer, auf das Mitaffiziertwerden von diesem durch das pathos von jenem. Psychologisch gesprochen gründet ihre Wirkung auf einer Pathosmitteilung von thymos zu thymos und zielt auf die tragische Erschütterung des Rezipienten. Die longinische Theorie basiert auf der nämlichen Voraussetzung der Pathosmitteilung, hat ihren Fluchtpunkt aber nicht im bloßen synhomopathein, sondern im synenthousian des Rezipienten: in seinem Mitergriffenwerden von der eigentümlichen Begeisterung des Redners oder Protagonisten. Es kommt Longin nicht auf das bloße Mit-erschüttert-Werden durch das (äußere wie innere) pathos des Sprechers an, sondern auf das Miterleben eines spezifischen Erhobenseins innerhalb der Erschütterung. Genau dieser Schritt vom synhomopathein zum synenthousian markiert die Geburtsstunde des Pathetisch-Erhabenen. Schon Aristoteles hatte der tragischen Erschütterung paradoxerweise ein Moment der Lust zugeschrieben.133 Die aristotelische Erklärung für diese Lust am Schrecklichen dürfte im berühmten Katharsisgedanken der Tragödiendefinition zu erblicken sein. Ihrzufolge ist die Tragödie eine »Nachahmung […], die durch Jammer und Schauder eine Reinigung von derartigen Affekten bewirkt«134. Aristoteles formuliert damit die quasimedizinische These einer Purgierung von schädlichen Affekten vermöge des Mit-affi-
131
S.o. Kap. 3.1.1. Aristot. rhet. 1408a23f. S.o. Kap. 3.1.1. Vgl. zur aristotelischen Tragödientheorie M. FUHRMANN: Die Dichtungstheorie, 24ff. 133 Vgl. poet. 1453b. 134 Poet. 1449b: mißmhsiw […] di’ eöleßou kai? foßbou peraißnousa th?n tvqn toioußtvn pajhmaßtvn kaßjarsin (Übers. nach M. FUHRMANN). 132
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ziert-Werdens durch dargestelltes Leiden.135 Um die eigentümliche Lust am Miterleben fremden Leidens zu erklären, wird die grundlegende Synhomopathie-These durch eine »Homöopathie«-These ergänzt: durch die Behauptung einer Reinigung verderblicher Affekte durch deren künstliche, gleichsam kontrollierte Erzeugung. Longin setzt die fundamentalen Gedanken von Charakterdarstellung und Pathosmitteilung sowie das daran anknüpfende Konzept der Erschütterung des Rezipienten durch das Leiden des Protagonisten selbstverständlich voraus, bietet aber eine alternative Deutung für die Lust an selbigem Miterschüttert-Werden. Auch für den Autor von Peri Hypsous ist es Ziel aller Dichtung und Rede, Menschen in Pathossituationen vorstellig werden zu lassen und den Rezipienten durch die Synhomopathie in einen Erschütterungszustand zu versetzen. Aber er begreift das spezifische Lustmoment dieser Erschütterung nicht als bloßes Epiphänomen eines Affektregulierungsvorgangs, sondern er schreibt jenes Moment dem Vollzug der Synhomopathie selbst ein: In der Identifikation mit dem Protagonisten erfolgt ein eigentümlicher Aufschwung der Seele, der mit einer bloßen Affektabfuhr nichts gemein hat. Auslöser dieses Aufschwungs ist auch nicht das erschütternde Widerfahrnis des Helden (oder der Affekt des Redners) als solches, sondern die Offenbarung eines bestimmten Charakterzuges in der Erschütterung. Erst durch den Mitvollzug der überschwänglichen, »begeisterten« Reaktion des Helden auf die Bedrängnis kommt es zur charakteristischen »Begeisterung« des Rezipienten – zum »Synenthusiasmus«, der das Pathetisch-Erhabene kennzeichnet. In dem Augenblick, wo der wundersame Synenthusiasmus mit dem Pathos des Helden entdeckt sowie als Resonanz von Hochsinnigkeit gedeutet wird und wo zugleich der überschwängliche Affektausbruch angesichts des Widerfahrnisses als Darstellung solcher Hochsinnigkeit verstanden wird, ist das Pathetisch-Erhabene »erfunden«.136 Nach der Rekonstruktion der Signatur des Pathetisch-Erhabenen ist nun noch ein Blick auf die anderen Formen des hypsos zu werfen, die von Longin neben der favorisierten pathetischen Spielart vorgeführt werden (4.2). Es wird in diesem Zusammenhang auch die Frage nach der Einheit des Erhabenheitsbegriffs Longins zu stellen sein, bevor in Kap. 5 ein Gesamtresümee gegeben werden kann.
135
Dazu W. SCHADEWALDT: Furcht und Mitleid? Ansatzpunkte für diese »Erfindung« dürften, abgesehen von den ausgeführten Voraussetzungen in der Rhetorik und Poetik, in der peripatetischen Affektlehre mit ihrer Thymostheorie gelegen haben; außerdem, so lässt sich aus dem dortigen Gebrauch des longinischen Schlüsselbegriffes megalophrosynê schließen, im Heldenbild der vorlonginischen Homerphilologie. Siehe dazu oben Kap. 3.2.1 (Anm. 94). 136
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4.2. Das Majestätisch-Erhabene Schon bei der Präsentation der Pathosthese in Kap. 8 weist Longin, wie erwähnt, auf die »vielen erhabenen Stellen ohne Pathos« (8,2) hin. Das Erhabene lässt sich nicht auf das Pathetisch-Erhabene reduzieren. An derselben Stelle wird auch eines »aus tausend Beispielen« für die unpathetische Erscheinungsform des hypsos angeführt, nämlich die Schilderung der Aloaden in der Odyssee. Die beiden Halbgötter waren nach Homer schon als Kinder so groß, dass sie sich durch das Aufeinandertürmen der Berge Olymp, Ossa und Pelion ohne weiteres »Zugang zum Himmel« hätten verschaffen können, um die Götter zum Kampf zu fordern – hätte nicht Apollon sie noch vor Erreichen des Mannesalters erschlagen.137 Es ist anscheinend die vom Dichter gezeichnete ungeheure Größe der Aloaden, die Longin als erhaben gilt. Wenig später folgen, als Beispiele für erhabene Gedanken, eine Reihe weiterer homerischer Exempel aus dem Bereich der mythischen Götterwelt. »Und Homer?«, so lautet die Leitfrage der betreffenden Passage, »wie verleiht er dem Göttlichen Größe?«138 Die Rosse der Götter, deren weitausgreifender Sprung – nur mit »kosmischem Maß« zu messen – beinahe die Grenzen des Kosmos überwindet (9,5); der Erderschütterer Poseidon, bei dessen donnerndem Auftritt Himmel und Hades erschrecken (9,6), unter dessen Schritten ringsum Berge und Wälder erbeben, dessen Gespann die Ungetüme der Tiefe geleiten (9,8) – immer sind es die übermenschliche Größe und Macht des Göttlichen oder Gottähnlichen (daimonion), die in den dichterischen Bildern anschaulich wird. Selbiges gilt Longin zufolge schließlich auch für die Schilderung von Gen 1, wonach die Gottheit durch das bloße Wort Licht und Erde zu erschaffen vermag: taußth# kai? oÖ tvqn §Ioudaißvn jesmojeßthw, ouöx oÖ tuxv?n aönhßr, [eöpeidh?] th?n touq jeißou dußnamin kata? th?n aöcißan eöxvßrhse kaöceßfhnen euöju?w eön th#q eiösbolh#q graßyaw tvqn noßmvn: eiQpen oÖ Jeoßw fhsiß: tiß; geneßsjv fvqw, kai? eögeßneto: geneßsjv ghq, kai? eögeßneto.139
So hat auch der Gesetzgeber der Juden – kein beliebiger Mensch – die Macht des Göttlichen in ihrer Würde erfasst und zur Erscheinung gebracht, indem er gleich am Beginn der Gesetze schrieb: »Gott sprach:« – was? »Es werde Licht, und es ward. Es werde Land, und es ward.«
Neben der ›heroischen Größe‹, die den Stoff für das Pathetisch-Erhabene abgibt, kann selbstverständlich auch ›göttliche Größe‹ Gegenstand erhabener Rede sein. Zwar spielt in solchen Zusammenhängen das ›enthusiastische 137
Hom. Od. 11, 315ff. 9,5 (R.B.): oÖ de? pvqw megejußnei ta? daimoßnia. 139 9,9. Siehe dazu Kap. 2.2. 138
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Pathos‹ keine Rolle. Es liegt aber auch hier der Bezug zum Hochsinnigkeitstheorem offen am Tage, wenngleich er von Longin nicht explizit hergestellt wird. Schon die Dominanz des Wortstamms meg- (›groß‹) in den einschlägigen Passagen zeigt die Beziehung zur megalophrosynê und zum erôs tou megalou an. Der ›Eros des Großen und im Vergleich zu uns gleichsam Göttlicheren‹ (35,2) findet in den Bildern der Macht eines Poseidon oder Jahwe reichlich Nahrung. Die menschlichen Gedanken, die über die Grenzen des Kosmos hinausstreben (35,3), können sich gleichsam an die Fersen der Götterrosse heften, um mit deren Sprüngen das Irdische hinter sich zu lassen. Die dichterisch-mythischen Darstellungen himmlischer Größe sind geradezu die natürlichen Medien der menschlichen Ausrichtung auf das Übermenschliche. Weil sie Sphären vorstellig machen, die jenseits der irdischen Dimensionen liegen, sind sie selbstverständlicher noch als das enthusiastische Pathos des Helden geeignet, das Transzendenzstreben des Menschen anzusprechen und in ihm das Bewusstsein von seiner himmlischen Herkunft wachzurufen. Aber nicht nur auf der Ebene des dargestellten Stoffes, sondern auch im Stilistischen kennt Longin eine zweite Gestalt des hypsos neben dem Pathetisch-Erhabenen. Das zeigt eine Bemerkung in 8,3: paraß ge mh?n toiqw rÖhßtorsi ta? eögkvßmia kai? ta? pompika? kai? eöpideiktika? to?n me?n oägkon kai? to? uÖyhlo?n eöc aÄpantow perießxei, paßjouw de? xhreußei kata? to? pleiqston: oÄjen hÄkista tvqn rÖhtoßrvn oiÖ peripajeiqw eögkvmiastikoi? hü eämpalin oiÖ eöpainetikoi? peripajeiqw.140
Bei den Rednern enthalten gewiss die Lobeshymnen, die Fest- und Prunkreden durchweg das Feierliche [oder: Prächtige] und das Erhabene, das Pathos aber fehlt zumeist. Daher sind die pathetischen Redner in den seltensten Fällen Festredner, und die Festredner wiederum in den seltensten Fällen pathetisch.
Longin spricht der Gattung der epideiktischen Rede unabhängig von inhaltlichen Gesichtspunkten feierliche Erhabenheit ohne Mitwirkung von Pathos zu und behauptet eine charakterliche Disposition für die verschiedenen Redetypen: Je nach Temperament ist der Redner für die feierliche oder die pathetische Redeweise prädestiniert. Dass Longin mit dieser Unterscheidung hier mehr auf eine stilistische als eine inhaltliche Differenz abzielt, zeigt die nächste Belegstelle des Wortes oägkow, wo dem Demosthenes als Inbegriff pathetischer Rede zwei Vertreter des prächtigen Stils gegenübergestellt werden – ebenfalls ohne nähere Rücksicht auf inhaltliche Aspekte. Zuerst werden Demosthenes und Platon verglichen:
140
8,3.
4. Die Grundformen des Erhabenen
oÄjen oiQmai […] oÖ me?n rÖhßtvr aÄte pajhtikvßterow polu? to? diaßpuron eäxei kai? jumikvqw eökflegoßmenon, oÖ de? kajestv?w eön oägkv# kai? megaloprepeiq semnoßthti ouök eäyuktai meßn, aöll’ ouöx ouÄtvw eöpeßstraptai.141
141
Daher, glaube ich, hat der Redner, weil er mehr Pathos hat, stark das Feurige und thymoshaft Brennende; jener dagegen, in Pracht und großartiger Feierlichkeit verharrend, wirkt zwar nicht kalt, aber er reißt nicht so mit.
Zwar bleibt die ›großartige Feierlichkeit‹ eines Platon in der Heftigkeit der Wirkung hinter dem feurigen pathos eines Demosthenes zurück, aber es kommt dem Stil Platons deshalb nichtsdestoweniger Größe zu. So heißt es kurz darauf: /Oti meßntoi oÖ Plaßtvn […] toioußtv# tini? xeußmati aöyofhti? rÖeßvn ouöde?n hWtton megejußnetai, aönegnvkv?w ta? eön th#q Politeißa# to?n tußpon ouök aögnoeiqw.142
Dass freilich Platon, obwohl solchermaßen in geräuschlosem Strome fließend, sich keineswegs weniger zur Größe erhebt, das weißt du als Leser der Politeia recht gut aus der folgenden charakteristischen Stelle.
Es folgt das Platonzitat, das eine Beschreibung des Niedriggesinnten und mithin eine negative Bestimmung der Hochsinnigkeit enthält.143 – Die Charakterisierung des platonischen Stils als »solchermaßen in geräuschlosem Strome fließend« weist zurück auf den Abschnitt zwischen den zwei letzten Zitaten, in dem Cicero als weiteres Paradigma eines feierlich-erhabenen Stils dem pathos des Demosthenes entgegengesetzt wird: ouö kat’ aälla deß tina hü tauqta, eömoi? dokeiq […] kai? oÖ Kikeßrvn touq Dhmosjeßnouw eön toiqw megeßjesi parallaßttei. oÖ me?n ga?r eön uÄyei to? pleßon aöpotoßmv#, oÖ de? Kikeßrvn eön xußsei, kai? oÖ me?n hÖmeßterow dia? to? meta? bißaw eÄkasta, eäti de? taßxouw, rÖvßmhw, deinoßthtow, oiWon kaißein te aÄma kai? diarpaßzein skhptv#q tini pareikaßzoit’ aün hü keraunvq#, oÖ de? Kikeßrvn vÖw aömfilafhßw tiw eömprhsmoßw, oiQmai, paßnth neßmetai kai? aöneileiqtai, polu? eäxvn kai? eöpißmonon aöei? to? kaiqon kai? diaklhronomoußmenon aällot’ aölloißvw eön auötv#q kai? kata? diadoxa?w aönatrefoßmenon. […] kairo?w de? touq Dhmosjenikouq me?n uÄyouw kai? uÖpertetameßnou eän te taiqw deinvßsesi kai? toiqw sfoßdroiw paßjesi, kai? eänja deiq to?n aökroath?n to? sußnolon eökplhqcai, thqw de? 141
Und in nichts anderem, scheint mir, unterscheidet sich auch Cicero in Sachen Größe von Demosthenes. Denn dieser zeichnet sich mehr durch schroffe Erhabenheit aus, Cicero dagegen eher durch Ausströmen. Und weil der Unsrige [sc. Demosthenes] alles durch Gewalt, durch Ungestüm, Kraft, Macht gleichsam entzündet und zugleich zerreißt, könnte man ihn vergleichen mit Blitz und Donner. Cicero dagegen, wie eine um sich greifende Feuersbrunst, frisst sich nach allen Seiten weiter, meine ich, und ergreift alles, eine starke und beharrliche Glut in sich tragend, die sich bald hier bald dort in ihm verteilt und sich immer wieder von neuem nährt. Der Kairos des demosthenischen hochgespannten Erha-
12,3. Der Abschnitt wurde bereits in Kap. 4.1.2.4 angeführt. 13,1. 143 Rep. 586ab. S.o. Kap. 3.2.3. 142
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xußsevw, oÄpou xrh? katantlhqsai: tophgorißaiw te ga?r kai? eöpiloßgoiw kata? to? pleßon kai? parabaßsesi kai? toiqw frastikoiqw aÄpasi kai? eöpideiktikoiqw, iÖstorißaiw te kai? fusiologißaiw, kai? ouök oölißgoiw aälloiw meßresin aÖrmoßdiow.144
benen ist der Moment der Entrüstung und des heftigen Affekts, der Augenblick, wo der Hörer ganz und gar erschüttert werden soll; der Kairos des Ausströmens aber ist der Moment, wo es nötig ist zu überfluten. So passt es zu allgemeinen Betrachtungen, meistens zum Epilog, zu Exkursen und allen Kunstund Prunkreden, zu Geschichts- und Naturbeschreibungen und zu vielen anderen Arten der Rede.
Longin beschreibt den infrage stehenden Dualismus der Redecharaktere in einer Fülle von Metaphern: Dem jähen Ungestüm des Pathetischen entspricht das plötzliche grelle Aufleuchten des feurigen Blitzes mit seiner Zerstörungskraft und das begleitende Tosen des Donners. Das PrachtvollFeierliche hingegen gleicht dem weniger geräuschvollen, aber keinesfalls kraftlosen Strömen eines großen Flusses oder, in der Feuermetaphorik der Thymospsychologie, dem langsamen, aber unaufhaltsamen Umsichgreifen eines beharrlich anwachsenden Brandes, worin die innerlich waltende Energie eines »eingehegten« thymos zum Ausdruck kommt.145 Ansonsten wird das Pathetisch-Erhabene, dessen Muster der demosthenische Redestil ist, mit den bereits bekannten Merkmalen der Hochspannung und Gewalt sowie mit der geläufigen Erschütterungswirkung gekennzeichnet und einem bestimmten Inhalt, nämlich der Darstellung des heftig-entrüsteten Affekts zugeordnet. Demgegenüber eignet sich der »ausströmende« Stil nach Longin für die verschiedensten Redeformen – man möchte hinzufügen: eigentlich für alle Formen, bei denen der heftige Affektausbruch nicht am Platze ist. Er ist immer dann gefragt, wenn der Hörer zwar nicht jäh erschüttert, aber dennoch beeindruckt werden soll: »überflutet« durch beharrlich sich aneinanderreihende Sprachsequenzen, die sich allein schon durch ihre stilistische Fülle vom Normalniveau erheben – und den Hörer mit ihnen. Einen Eindruck von solcher Überflutungstechnik bietet der Autor von Peri Hypsous selbst in der zitierten Schilderung der ciceronischen Feuersbrunst. Den fraglichen Dualismus der Redecharaktere, den Longin im Vergleich von Demosthenes mit Platon und Cicero mehr metaphorisch zu erfassen strebt, versucht er kurz zuvor auch begrifflich zu bestimmen. Was in 12,4 metaphorisch xußsiw (›Ausströmen‹) heißen wird, bringt Longin in 12,1 auf den traditionellen Begriff der auächsiw (auxêsis), der ›Erweiterung‹ oder, nach dem lateinischen Fachterminus, der ›Amplifikation‹ (amplificatio). Unter Amplifikation versteht Longin »das ständige Heranwälzen und stufen144 145
12,4f. Vgl. oben Kap. 4.1.2.3.
4. Die Grundformen des Erhabenen
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weise sich steigernde Einführen großer Wendungen«146. Die Frage nach dem Maß an Übereinstimmung mit dem klassischen Amplifikationsbegriff kann hier dahingestellt bleiben.147 Insgesamt scheint auxêsis weniger als bestimmtes rhetorisches Verfahren denn als Inbegriff für die weit ausgreifende, feierlich-prächtige Schreibart zu fungieren. Diese unspezifische Verwendung belegt auch die folgende Differenzierung zwischen hypsos und auxêsis: eömoi? de? faißnetai tauqta aöllhßlvn parallaßttein, h#W keiqtai to? me?n uÄyow eön diaßrmati, hÖ d’ auächsiw kai? eön plhßjei: dio? keiqno me?n kaön nohßmati eÖni? pollaßkiw, hÖ de? paßntvw meta? posoßthtow kai? periousißaw tino?w uÖfißstatai.148
Mir scheinen sie sich von einander darin zu unterscheiden, dass das Erhabene in einem Aufschwung besteht, die Erweiterung auch in Fülle. Deshalb liegt jenes auch oft in einem einzigen Gedanken, die Erweiterung dagegen ist immer eine Sache der Quantität und einer Art Überfluss.
Fülle, Quantität und Überfluss sind die Kennzeichen der auxêsis und mithin des feierlichen Stils, so lässt sich auch aufgrund der Konvergenz mit den vorgeführten metaphorischen Umschreibungen Longins schließen. Der straff-gespannten Kürze des (demosthenischen) Erhabenen, das sich »oft in einem einzigen Gedanken« realisiert, steht der pleonastisch-ausgreifende Stil feierlicher Prachtentfaltung gegenüber. Die fragliche Unterscheidung ist nicht unproblematisch. Die obige Übersetzung des erstzitierten Satzes vorausgesetzt,149 gilt, dass die Erweiterung (auxêsis), der ausschweifend-feierliche Stil, dem Erhabenen (hypsos) als eine Unterart desselben zugehört: Das hypsos überhaupt zeichnet sich durch ›Aufschwung‹ aus, das Feierliche außerdem durch ›Fülle‹. Das nicht-feierliche, also das Pathetisch-Erhabene kann den einschlägigen Aufschwung durch ein einziges Element evozieren, das Feierlich-Erhabene erreicht selbiges durch »eine Art Überfluss«. Entgegen dieser Unterordnung der beiden Stiltypen unter den einen Oberbegriff des Erhabenen scheint Longin die erhabene Sprachgestalt an anderen Stellen schlichtweg mit dem demosthenischen Stil gleichzusetzen.150 Dieses terminologische Schwanken indiziert nicht bloß den generellen Mangel an begrifflicher Präzision oder die longinische Vorliebe für das Pathetische, sondern ein sachliches Problem in der Verhältnisbestimmung der beiden Redecharaktere. Das erhellt aus der folgenden kryptischen Äußerung Longins: 146
M. FUHRMANN: Die Dichtungstheorie, 176; nach De subl. 11,1. Vgl. dazu D. A. RUSSELL: aaO. 107: »In all this L[onginus] seems to be following a line of his own«. 148 12,1f. 149 Gegen R. BRANDT und D. A. RUSSELL (Longinus, 109), hingegen mit R. v. SCHELIHA und O. SCHÖNBERGER ist m.E. das kaiß mit ›auch‹ zu übersetzen, wofür ferner G. J. VRIES: More Notes, 241, votiert. 150 Vgl. 14,2; 22,3f; 27,3; 32,1f. 147
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… xrh? ginvßskein oÄmvw to?n rÖhßtora, vÖw ouöde?n aün toußtvn kaj’ auÖto? sustaißh xvri?w uÄyouw teßleion, plh?n eiö mh? eön oiäktoiw aära nh? Dißa hü eön euötelismoiqw, tvqqn d’ aällvn auöchtikvqn oÄtou per aün to? uÖyhlo?n aöfeßlh#w, vÖw yuxh?n eöcairhßseiw svßmatow: euöju?w ga?r aötoneiq kai? kenouqtai to? eämprakton auötvqn mh? toiqw uÄyesi sunepirrvnnußmenon.151
… so muss der Redner sich dessen bewusst sein, dass keines dieser [sc. zur auxêsis gehörigen] Stilmittel von sich aus, ohne das Erhabene, vollkommen sein kann, außer allenfalls beim Erregen von Mitleid oder Verachtung. Nimmst du den anderen Formen der Erweiterung das Erhabene, reißt du gleichsam die Seele aus dem Leib. Denn sofort erschlafft ihre Spannkraft und schwindet dahin, wenn sie nicht durch etwas Erhabenes gestärkt wird.
Die Amplifikation ist ohne das Erhabene unvollkommen. Mehr noch: Ohne jeden Anteil an ihm ist der prächtig-ausladende Stil so spannungs- und kraftlos wie ein Körper ohne Seele; bezieht doch jener Stil seine spezifische Wirkung vom Erhabenen wie ein Körper seine Lebenskraft von der Seele. So wird man die zitierten Zeilen reformulieren dürfen. Aber was soll das heißen? Es bieten sich drei Interpretationsmöglichkeiten. Longin könnte erstens ähnlich wie Demetrius auf eine Kombination der beiden Stilqualitäten ›schroff-erhaben‹ und ›prächtig-ausladend‹ zielen.152 Diese Deutungsoption scheidet indessen aus, weil der epideiktischen Rede in 8,3 auch bei gänzlichem Fehlen von pathos potentielle Erhabenheit zugesprochen worden war. Es liegt daher nahe, den Erhabenheitsbegriff in 11,2 (ähnlich wie in 12,1) im allgemeinen, Pathetisches und Nichtpathetisches übergreifenden Sinne zu verstehen. Die von Longin behauptete Angewiesenheit des grandiosen Stils auf das Erhabene könnte sonach zweitens zwanglos als Angewiesenheit auf entsprechend ›große‹, erhabene Gedanken zu interpretieren sein. Eine derartige Korrespondenz zwischen grandiosem Stil und großartigen Inhalten wird an späterer Stelle ausdrücklich gefordert: fvqw ga?r tv#q oänti iädion touq nouq ta? kala? oönoßmata. oÖ meßntoi ge oägkow auötvqn ouö paßnth xreivßdhw, eöpei? toiqw mikroiqw pragmatißoiw peritijeßnai megaßla kai? semna? oönoßmata tauöto?n aün faißnoito vÖw eiä tiw tragiko?n prosvpeiqon meßga paidi? perijeißh nhpißv#.153
Denn wirklich sind die schönen Worte das eigentümliche Licht des Gedankens. Ihre Pracht ist freilich nicht überall zu gebrauchen. Denn geringe Sachen in große und feierliche Worte zu kleiden, das wäre so, als würde man einem kleinen Kind eine große tragische Maske aufsetzen.
Nur wenn dem ›großen‹ Stil auch ein ›großer‹ Inhalt entspricht, ist das prepon, die Angemessenheit gewahrt. Auch 11,2 könnte man im Sinne dieses 151
11,2. Vgl. Dem. De eloc. 36, wo eine Mischung zwischen ›kraftvollem‹ (xarakth?r deinoßw) und ›großartigem‹ Stil (xarakth?r megaloprephßw) diskutiert wird. 153 30,1f. 152
4. Die Grundformen des Erhabenen
145
rhetorisch-poetologischen Allgemeinplatzes lesen. Die »Seele« des prächtigen Stils wäre dann der entsprechend grandiose Stoff, und erst die Vereinigung beider brächte eine Rede hervor, die den Hörer durch die gegenseitige Verstärkung von Stoff und Form wahrhaft emporzutragen in der Lage wäre. Es verwundert nur, dass Longins Äußerung in 11,2, verglichen mit 30,2, so sehr im Ungefähren verbleibt. Warum die denkbar allgemeine Formulierung, wonach »das Erhabene« der Amplifikation nicht fehlen darf? Es empfiehlt sich eine dritte Lesart der longinischen Verhältnisbestimmung von Erhabenheit und prächtigem Stil. »Etwas Erhabenes« muss der Steigerung Kraft und Spannung verleihen, muss die opulente Sprachgestalt »beseelen«. Das heißt: Die ausladenden, »großen und feierlichen Worte« (30,2) sind »groß« und »feierlich« nur, wenn sich in ihnen auch ein erhabener »Geist« ausspricht. Wenn diese Reformulierung den Sinn der allgemein gehaltenen Wendungen von 11,2 trifft, lässt sich der longinische Gedanke im Lichte des Hochsinnigkeitstheorems folgendermaßen rekonstruieren: In irgendeiner Weise muss auch im grandiosen Stil ein hoher Sinn zum Ausdruck kommen, auf dass ihm Erhabenheit zugeschrieben werden kann. »Feierlich-erhaben« wäre eine Passage demnach nur dann zu nennen, wenn sich in ihrem monumentalen Sprachfluss auch eine »innere« Größe mitteilt, so dass der Hörer oder Leser nicht nur äußerlich beeindruckt, sondern zugleich auch in diejenige tiefinnerliche Hochstimmung erhoben wird, welche die Erfahrung des Erhabenen ausmacht. Fehlt dem sprachlichen Überfluss jener hohe Geist, wirkt das rhetorische Gepränge nicht majestätisch-feierlich, sondern »schwülstig«154, nicht erhaben, sondern verstiegen155 – nach Longin eine der gefährlichsten Fallen im Trachten des Redners nach wahrer Größe.156 Aber wie hat man sich die Teilhabe rhetorischer Prachtentfaltung an der Hochsinnigkeit zu denken, da deren Darstellung vermittels des enthusiastischen Affekts beim Feierlich-Erhabenen ausfällt? Zwei plausible Möglichkeiten solcher Teilhabe kommen infrage. Die prunkvolle Rede könnte ihren hohen Geist zum einen aus einem ›großen‹, insbesondere aus einem ›göttlichen‹ Stoff beziehen. ›Feierlich-erhaben‹ hieße dann: inhaltlich wie sprachlich über das Menschlich-Gewöhnliche hinausgehend und den Hörer auf solche Weise über die menschlich-gewöhnliche Sphäre erhebend. Zum anderen könnte Longin an den Fall gedacht haben, dass die prächtigen Passagen ihren erhabenen Geist durch einzelne enthusiastisch-pathetische Entladungen innerhalb der Rede empfangen. An den pathetisch-erhabenen Höhepunkten offenbarte sich der hohe Sinn des Redners, von dem her sich dann 154
3,4: to? oiödouqn. Vgl. 3,2. 156 Vgl. 3,3. 155
146
Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
auch die gehoben-feierlichen Redesequenzen als Ausdruck übermenschlichidealer Gesinnung vernehmen ließen. Dass Longins Äußerung zum Verhältnis von hypsos und auxêsis in 11,2 in dieser Weise zu verstehen sein könnte, darauf deutet eine Beobachtung an der bereits vorgeführten Gegenüberstellung von Demosthenes und Cicero (12,3ff) hin. Während Demosthenes durch ein »thymoshaft-heftiges Brennen«157 charakterisiert wird, das in blitzartigem Ungestüm hervorbricht, wird Cicero als ein Redner vorgestellt, der »eine starke und beharrliche Glut in sich trägt« (12,4), die sich nicht in jäher Eruption, sondern im stetigem »Umsichgreifen« kundtut. Dieselbe Polarität von ›blitzartig-heftigem‹ und ›beharrlichem‹ inneren Feuer war bereits bei der Beschreibung der Thymosvorstellung bei Platon und Aristoteles notiert worden. Von daher liegt es nahe, auch den Demosthenes-Cicero-Vergleich sowie das infrage stehende Verhältnis der beiden Erscheinungsformen des Erhabenen im Lichte der Thymosvorstellung zu interpretieren. Sonach entsprächen den besagten Varianten zwei verschiedene Ausprägungen, Zustände oder Äußerungsformen des hochsinnigen Thymos, die zwei unterschiedliche Modi der Hochsinnigkeitsdarstellung repräsentierten. Nicht nur im jähen Aufblitzen des Seelenfeuers, sondern auch in dem inneren, die prächtig-ausgreifenden Perioden stetig befeuernden Glühen könnte sich demzufolge der hohe Sinn des Sprechers enthüllen. Im Horizont dieser psychologischen Vorstellung würde sich auch eine Abwechslung der beiden Redecharaktere nahelegen, insofern sie als Ausdruck der wechselnden Zustände des einen (hochsinnigen) thymos verstanden werden könnte. Unbeschadet dessen ist für Longin auch eine feierlich-erhabene Rede ganz ohne pathos denkbar. Die skizzierte psychologische Deutung vorausgesetzt, bedürfte es dafür nicht einmal unbedingt eines Stoffes aus dem Genre ›göttliche Größe‹. Auch in einer glanzvollen Festrede oder einem Hymnus auf die Tugend könnte des Redners tiefinnerlich glühender Drang nach dem Hohen aufscheinen. Als Paradigma solcher Hochsinnigkeitsdarstellung durch sprachliche Prachtentfaltung darf jene von Longin in 13,1 zitierte Politeia-Stelle gelten, wo Platon in Gestalt des Sokrates in einer grandiosen Periode die niedrige, geradezu tierische Gesinnung der Ungerechten geißelt, die niemals »zum Wahren hinaufgeblickt« (586a) haben. In der nicht enden wollenden Wortkaskade gegen die Niedriggesinnten offenbart sich dasselbe leidenschaftliche Streben nach dem Idealen, das im Falle des Pathetisch-Erhabenen im abrupten Ausbruch des hochsinnigen Thymos zum Ausdruck kommt.158
157 158
Vgl. 12,3: jumikvqw eökflegoßmenon. S.o. Kap. 3.2.3.
4. Die Grundformen des Erhabenen
147
Es ist mit dieser Rekonstruktion von Longins Gedanken über das Nichtpathetisch-Erhabene bereits die Frage nach der Einheit des Erhabenheitsbegriffs von Peri Hypsous beantwortet. Es sprechen starke Indizien dafür, dass Longin auch die Erhabenheit, die er der monumentalen Rede unter gewissen Umständen zugesteht, im Sinne seiner Zentralthese als ›Widerhall von Hochsinnigkeit‹ verstanden wissen will: als Rede, in deren überdurchschnittlicher ›Fülle‹ sich die Hochsinnigkeit des Sprechers darstellt und die vermöge dessen den hohen Sinn des Hörers zum Resonieren bringt. Auch die grandiosen Stoffe aus der Götterwelt lassen sich, wie gezeigt wurde, ohne weiteres jener Hochsinnigkeitsthese zuordnen, insofern sie ein unübertreffliches Anregungspotential für das angeborene Streben des Menschen nach dem Übermenschlichen bieten. Es ergibt sich somit das Gesamtbild eines zweigliedrigen Erhabenheitskonzeptes: Der übergreifenden funktionalen Bestimmung des Erhabenen als hochsinnigkeitsdarstellender bzw. -weckender Rede, der die psychologische Vorstellung vom hochsinnigen Thymos beigesellt ist, entspricht die Differenzierung zweier Modi der Hochsinnigkeitsmitteilung, die sich wiederum nach ihrer inhaltlichen und stilistischen Seite unterscheiden lassen: Das Pathetisch-Erhabene lebt von der Darstellung des heroischen pathos in schroff-gedrängter Rede. Der erhabene Seelenaufschwung kann aber auch ohne pathos, nämlich durch den monumentalen, majestätischen Gehalt – vorzüglich die Schilderung ›göttlicher Größe‹ – oder die monumentale, ausladend-prächtige Sprache hervorgerufen werden. Dabei ist anzumerken, dass die Korrelation von Inhalt und Stil beim Majestätisch-Erhabenen wesentlich weniger eng gefasst ist als beim Pathetisch-Erhabenen. Zwar fordert die ausladende Sprache, will sie nicht den Eindruck seelenlosen Prunks erwecken, einen in irgendeiner Hinsicht großen Gedanken. Der große Gedanke verlangt aber umgekehrt nicht unbedingt den großen Stil. Mit dieser Skizze dürfte die Systematik, die sich hinter den longinischen Ausführungen verbirgt, mindestens im Kern erfasst sein. Was die Frage der Genese dieses dualen Konzepts anbelangt, können nur Mutmaßungen angestellt werden. Es ist dafür ein nochmaliger Seitenblick auf den Traktat Peri Hermeneias aufschlussreich, dessen Stilcharaktere ›gewaltig‹ (deinoßw) und ›großartig‹ (megaloprephßw) in vielem mit Longins Dual von Pathetisch-Erhabenem und Nichtpathetisch-Erhabenem konvergieren. Bereits Demetrius assoziiert mit dem großartigen Stil ›Pracht‹ (oägkow), ›Feierlichkeit‹ (semnoßthw) und, wie es der betreffende Terminus nahelegt, ›Größe‹ (meßgejow). Seine Wirkung begreift er relativ unspezifisch als ›Bewunderung‹ (jaumaßzein). Der gewaltige Stil hingegen, wesentlich durch ›Heftigkeit‹ (sfodroßthw)159
159
Dem. De eloc. 241.
148
Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
und ›Kürze‹ (to? braxuß)160 gekennzeichnet, bewirkt ›Erschütterung‹ (eäkplhciw)161 und ›Furcht‹162. Bemerkenswert ist, dass Demetrius den ›gewaltigen‹ und den ›großartigen‹ Stil ausdrücklich für unvereinbar erklärt: Eine Zusammenfassung beider zu einem Stilbegriff – »als ob das Gewaltige Pracht und Größe hätte«163 – hält er für geradezu lächerlich. Aus all dem wird hinsichtlich der Entstehung der doppelten Erhabenheitstheorie von Peri Hypsous Folgendes deutlich: Die Pracht und Größe des ›großartigen‹ Stils dem Erhabenen zuzuordnen, dürfte nahegelegen haben, zumal ›großartig‹ (megaloprephßw) und ›erhaben‹ (uÖyhloßw) schon bei Dionysius von Halikarnass assoziiert waren.164 Umso weniger selbstverständlich ist die Zusammenschau eines solch hohen Stils mit der schroffen Kürze des ›Gewaltigen‹ und dessen Erschütterungswirkung. Bedingung einer Annäherung der beiden Stilarten und ihrer Zusammenfassung unter den Begriff des Erhabenen war sicher die Entdeckung der eigentümlichen Erhobenheit angesichts des heroischen pathos und deren Beschreibung als Resonanz von Hochsinnigkeit. Longin bezieht gewissermaßen vom ›großen Stil‹ den Erhabenheitsbegriff und vom Pathetisch-Gewaltigen den Hochsinnigkeitsbegriff, um beide in einer Theorie erhabener Hochsinnigkeitsdarstellung zusammenzufassen. – Nachdem die Grundbegriffe von Peri Hypsous analysiert und die Grundformen des longinischen Erhabenen rekonstruiert worden sind, kann nun eine zusammenfassende Antwort auf die Frage nach dem Wesen des longinischen Erhabenen gegeben werden.
160
De eloc. 242. De eloc. 283. 162 Vgl. De eloc. 283: foberoßn. 163 De eloc. 36: [vÖw eäxontow] touq deinouq de? oägkon kai? meßgejow. 164 G. A. M. GRUBE: Notes, 356. 161
5. Poetologie zwischen Tugendethik und Metaphysik Was versteht der Autor von Peri Hypsous unter dem Erhabenen? Zunächst ist festzuhalten, was er darunter nicht versteht. Wie schon Boileau erkannt hat, ist das longinische hypsos nicht identisch mit dem genus sublime der klassischen Rhetorik.1 Es braucht nicht unbedingt ›große Worte‹, feierliche Ausdrücke oder grandiose Perioden. Schließlich ist gerade »das Schweigen des Aias in der ›Totenbeschwörung‹ groß […] und erhabener als jede Rede«2. Der Leitbegriff von Peri Hypsous zielt gar nicht primär auf ein stilistisches Phänomen. Um die Hilfsmittel anzugeben, die zum hypsos beitragen, greift Longin zwar selbstverständlich zu den verschiedensten Stilkategorien, aber seine Ausführungen sprengen jedes überkommene stilistische Schema. Das longinische Erhabene beerbt des genus sublime nicht in erster Linie als Stilcharakter, sondern hinsichtlich der Wirkungsabsicht. Schon die Zugangsbestimmung des Prologs umschreibt das hypsos vermöge seiner Wirkung auf die Seele des Hörers. Erhaben sind die Höhepunkte der Rede, die beim Hörer Ekstase und Erschütterung auslösen (1,4). Es lässt sich bereits an dieser grundlegenden Definition die Struktur der Erhabenheitsidee ablesen: Das hypsos bezeichnet eine Qualität der Rede, aber eine solche, die sich nicht unmittelbar stilistisch oder inhaltlich charakterisieren lässt, wie es die herkömmliche Stiltheorie betreffs der verschiedenen Redecharaktere getan hatte, sondern nur vermöge ihres eigentümlichen Effekts. Die ›Höhe‹ der Rede besteht zuallererst in ihrer Kraft3 oder, nüchterner formuliert, in ihrem Potential, selbigen Effekt hervorzurufen. Erst von daher lassen sich sekundär auch die stilistischen und inhaltlichen Mittel aufsuchen, die das besagte Potential konstituieren. Es erklärt sich aus dieser Struktur des Erhabenheitsbegriffs auch die vielgerühmte und vielgeschmähte schwebende Gedankenführung von Peri 1
S.o. Teil II/Kap. 1.1.1. 9,2 (O.S.). 3 Das Erhabene als (einigermaßen numinose) Kraft oder Energie zu bestimmen, ist spätestens seit N. HERTZ’ psychoanalytischer »Longinus-Lektüre« (vgl. Eine LonginusLektüre, 17 und öfter) beliebt. Vgl. etwa S. GUERLAC: Longinus and the Subject of the Sublime, 279: »It is precisely as event of force that sublimity can only be presented by means of citation. Not an essence which could be defined or analyzed, identifiable only through its effects, sublimity can only be presented in action«. 2
150
Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
Hypsous, die eine begriffliche Fixierung des Gegenstandes weitgehend vermeidet.4 Mit der konsequenten Auffassung des hypsos als spezifisches Wirkungspotential der Rede ist der vergleichsweise feste Boden bloßer Stiltheorie verlassen und, mit der Korrelation von Sprache und deren seelischer Resonanz, die schwer greifbare Sphäre des Psychischen betreten. Natürlich hatte auch die klassische Rhetorik auf die Wirkung der Rede reflektiert, aber sie hatte dem erhabenen bzw. pathetischen Redetyp recht pauschal das Vermögen zugesprochen, Affekte zu erregen,5 und hatte sich ansonsten im Wesentlichen auf die direkte stilistische Charakterisierung der unterschiedlichen Sprachmodi beschränkt. Demgegenüber fokussiert Longin einen ganz bestimmten (wenn auch schwer bestimmbaren) Affekt und richtet seine stiltheoretischen Ausführungen mit einiger Konsequenz an seiner psychologisch-ethischen Grundidee aus. Er versucht mit dem Erhabenen das sprachliche Korrelat einer eigentümlichen ›hohen‹ Resonanzform der Seele zu beschreiben. Dieser spezifischen Resonanz können sehr unterschiedliche Redeformen und -gehalte korrelieren, weshalb sich die Erhabenheitsidee nicht ohne weiteres auf stilistische oder inhaltliche Begriffe bringen lässt. Peri Hypsous ist dementsprechend der – grandiose – Versuch, das propagierte Ideal rhetorischer ›Höhe‹ mehr vorzuführen als begrifflich zu fixieren, d.h. die für das hypsos konstitutive ›hohe‹ Resonanz beim Leser des Traktats anhand der verschiedensten Beispiele und Interpretationen selbst herbeizuführen und ihn die zugrundeliegende Idee auf diese Weise mehr empfinden als begreifen zu lassen. Gleichwohl lässt Longin seine »fort grande idée«6 auch nicht gänzlich im Unbestimmten, und so konnte anhand der Leitbegriffe und Leitvorstellungen seines Traktats ein konturiertes Bild von jener Idee gewonnen werden. Dieses Bild stellt sich, so kann resümiert werden, in den Grundzügen folgendermaßen dar: Es ist nach Longin diejenige Rede erhaben, die das Potential hat, den hohen Sinn des Rezipienten anzusprechen und ihn in einem Aufschwung der Seele seiner hohen Bestimmung gewahr werden zu lassen. Dieses Potential wiederum kann sich verschiedensten formalen wie inhaltlichen Aspekten verdanken. Es gründet dabei aber generell in der Eigenschaft der Rede, Darstellung der Hochsinnigkeit des Sprechers bzw. des Dichters zu sein. In der erhabenen Rede spricht sich ein Sinn für das Hohe, Ideale aus und teilt sich dem Hörer mit. Daher gilt von ihr selbst wie von ihrer Wirkung, dass sie ›Widerhall von Hochsinnigkeit‹ sind, wie Longins zentrale Bestimmung des Erhabenen lautet. Die erhabene Rede bezieht ihr 4
Vgl. z.B. N. HERTZ: Eine Longinus-Lektüre, 9f. S.o. Kap. 2.1. 6 N. BOILEAU: Traité du Sublime, ou du Merveilleux dans le Discours, traduit du Grec de Longin, Préface, 333. 5
5. Poetologie zwischen Tugendethik und Metaphysik
151
Wirkungspotential demnach aus einem entsprechenden Darstellungspotential:7 Sie vermag nur dann erhebende Wirkung zu entfalten, wenn sie als Darstellung einer hochsinnigen Seele vernommen werden kann. Die betreffende Repräsentation von Hochsinnigkeit kann sich in zwei Grundmodi vollziehen – pathetisch oder nichtpathetisch –, die sich jeweils noch einmal nach Form und Inhalt differenzieren lassen: Entweder es wird in heftigschroffer Diktion die enthusiastische Eruption des Sprechers im Augenblick der Gefahr gezeichnet, oder – in diesem Fall ist der Konnex zwischen Form und Inhalt weniger eng – es zeigt sich die Hochsinnigkeit in der Schilderung eines ›großen‹ Stoffes, vorzüglich aus der Götterwelt, bzw. im ›großen‹, ausladend-feierlichen Stil der Rede. Im pathetischen und wohl auch im nichtpathetischen Modus des Erhabenen steht im Hintergrund die Vorstellung vom hochsinnigen Thymos, dem mehr oder weniger heftig glühenden, affektiven Teil der Seele, der des Menschen ›Verlangen nach dem Großen‹ beherbergt und seine Rede gegebenenfalls mit der nötigen enthusiastischen Glut befeuert. Im Anschluss an dieses knappe Resümee sollen nun noch einmal die einzelnen Aspekte des longinischen Erhabenheitsbegriffs herausgestellt werden, die für dessen Signatur – und damit womöglich auch für seine Wirkungsgeschichte – von maßgeblicher Bedeutung sind. Hier rangiert der Zusammenhang von Erhabenheit und Hochsinnigkeit an erster Stelle. Mit dem Begriff der megalophrosynê ist dem Erhabenen in Peri Hypsous ein ethisches Korrelat zur Seite gestellt, das – trotz der eher beiläufigen Einführung – für den Hypsosbegriff schlechthin konstitutiv ist. Die Hochsinnigkeit ist für Longin die zentrale Deutungskategorie des Erhabenen hinsichtlich der sprachlichen Darstellung sowie deren Produktion und Wirkung. Ohne die megalophrosynê als entscheidende seelische Disposition des Rezipienten sowie des Sprechers bzw. Autors wäre die eigentümliche Erfahrung des Erhabenen, der wundersame Aufschwung der Seele, nicht zu begreifen. Sie erst eröffnet das Verständnis für dieses Phänomen und verleiht dem Erhabenheitsbegriff Einheit: als Bezeichnung für diejenige Qualität der Rede, die eine Resonanz des ›hohen Sinns‹ evoziert. Der Hochsinnigkeitsbegriff darf demnach als Schlüssel zu Longins Erhabenheitstheorie gelten. – Hinsichtlich der Wirkungsgeschichte von Peri Hypsous ergibt sich daraus die Frage, ob und wie sich bei der modernen Entdeckung des hypsos auch dessen ethischer Seitenbegriff, die megalophrosynê, zur Geltung gebracht hat. Womöglich zeichnet sich ja auch der moderne Erhabenheitsbegriff dadurch aus, analoge außerästhetische Kategorien als Supplemente mit sich zu führen. 7
Wohlgemerkt trifft für diese Art von Darstellung noch nicht der moderne Ausdrucksbegriff zu. Es geht nicht um den Ausdruck individueller Subjektivität, sondern um die idealtypische Sinnesrichtung der menschlichen Seele auf das Hohe.
152
Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
Die Korrelation von rhetorisch-poetologischem Erhabenheits- und ethischem Hochsinnigkeitsbegriff innerhalb von Peri Hypsous indiziert für das Erhabene auch einen sachlichen Zusammenhang von »Ästhetischem« und »Ethischem«. Wie dieser Zusammenhang näherhin zu beschreiben ist, hängt indessen davon ab, welchen Gehalt man dem Hochsinnigkeitsbegriff zuschreibt und – zweitens – welchen Stellenwert man diesem Gehalt innerhalb der Theorie von Peri Hypsous beimisst. So fasst etwa Manfred Fuhrmann die megalophrosynê als relativ unbestimmte seelische Befindlichkeit auf,8 während Joseph H. Kühn die religiös-metaphysischen Züge des ursprünglichen Begriffs hervorkehrt.9 Die Aufnahme des Terminus in Longins rhetorische Theorie wiederum sehen Fuhrmann und Kühn als weitgehende »Inhaltsentleerung«10 durch »ästhetisierende Betrachtungsweise«11 an, während Jörg Villwock selbigen Terminus in seinem ursprünglichen Sinn als »Schlüsselbegriff«12 für das Verständnis des Erhabenen einstuft. Nimmt man Peri Hypsous als philosophisch fundierte rhetorische Theorie ernst und klammert die moderne Prämisse einer strikten Ausdifferenzierung autonomer Geistesgebiete ein, dann wird man das Erhabene Longins als eine Kategorie verstehen müssen, in der sich ›Ästhetik‹ und ›Ethik‹ aufs engste durchdringen. Nach der vorliegenden Interpretation reichen die begriffsgeschichtlichen und textimmanenten Indizien bei weitem aus, um die Hochsinnigkeitsidee als kardinales Element der longinischen Theorie zu bewerten, zumal überhaupt erst durch diese Idee die Einheit von deren Leitbegriff hergestellt wird. Dabei sind die signifikanten metaphysischen Konnotationen jener tugendethischen Idee zu berücksichtigen. Longins Erhabenheitstheorie ist daher eigentlich als ethisch-metaphysisch-ästhetische Theorie anzusprechen. Man würde die platonischen Bezüge der longinischen megalophrosynê allerdings überzeichnen, wollte man Peri Hypsous als das Konzept einer ästhetischen »Erkenntnis des Göttlichen«13 beschreiben. Aber dass Begriff und Vorstellung von Hochsinnigkeit in einer abgeschliffenen Form begegnen, muss nicht heißen, dass von dem Ursprungsgedanken nurmehr »leere Hülsen übrig«14 seien. Natürlich ist Longin kein orthodoxer Platoniker und erst recht kein neuplatonischer Theologe. »L[onginus] is a typical, though unoriginal, witness to a type of piety and moral reflection which formed the common spiritual fare of the educated in the first two centuries or so of the 8
Vgl. M. FUHRMANN: Die Dichtungstheorie, 171. Vgl. J. H. KÜHN: UYOS, 50. 10 Ebd. 11 M. FUHRMANN: aaO. 12 J. VILLWOCK: Sublime Rhetorik, 48. 13 J. H. KÜHN: aaO. 49. 14 AaO. 50. 9
5. Poetologie zwischen Tugendethik und Metaphysik
153
Empire.«15 Die metaphysischen Motive von Peri Hypsous »are for the most part philosophical commonplaces, some Stoic in origin, some Platonic or even Pythagorean.«16 Wenn der Autor des Traktats also etwa darüber klagt, dass die Menschen nicht mehr »emporblicken«, dass sie »ihr sterbliches Teil hochschätzen, ihr unsterbliches aber zu fördern versäumen«17, dann spricht in solcher Klage nicht ein »strenggläubiger« Anhänger der platonischen Ideen- und Unsterblichkeitslehre. Aber die platonischen Anklänge sind doch unübersehbar. So lässt sich der Urheber dieser Zeilen vielleicht am treffendsten als Vertreter eines eklektizistischen, aber stark platonisch geprägten »Gemeinidealismus« der Kaiserzeit charakterisieren, der inmitten der Wirklichkeit des »Sterblichen« mit einer »unsterblichen« Dimension menschlichen Lebens rechnet. Dementsprechend wäre der Gedanke einer dem Menschen von Natur eignenden Ausrichtung nach dem Hohen, Idealen, die kultiviert, aber auch vernachlässigt werden kann, eine der Grundvorstellungen eines solchen Idealismus. Nicht zuletzt in Anbetracht der Tatsache, dass der magnitudo animi in der Ethik Ciceros der Stellenwert einer Metatugend zukommt, erscheint es plausibel, dass die Hochsinnigkeit auch außerhalb stoischer Orthodoxie – und in entsprechend abweichendem Verständnis – als Inbegriff einer idealistischen Seelenhaltung fungieren konnte. Treffen diese Annahmen zu, dann liegt mit der Theorie vom Erhabenen als Resonanzform von Hochsinnigkeit das Konzept einer gemeinidealistischen Poetik vor, das die Dichtung (bzw. Rede) als vorzügliches Medium einer hohen Sinnesrichtung entwirft. Demgemäß hat es als maßgebliches Kriterium wahrhaft großer Dichtung zu gelten, ob sie den Geist menschlich-übermenschlichen Adelsbewusstseins und Transzendenzstrebens zu transportieren vermag. Der erhabenen Rede kommt damit die Aufgabe zu, den Hörer durch die Darstellung hoher Gesinnung zu einer höheren Form des Menschseins emporzuziehen. Sie soll ihn über eine am Irdischen haftende Lebenshaltung18 hinausheben zu dem seiner Adelsnatur gemäßen ›Streben nach dem Großen und im Vergleich zu uns Göttlicheren‹. Mit der »gemeinidealistischen« Hochsinnigkeitsvorstellung erhalten Longins Reflexionen nun auch eine »gemeinreligiöse« Dimension. Die Idee vom Hochsinnigen, der anstatt des Niedrigen, des Materiellen, Sterblichen, Relativen stets das Hohe, das Ideale, Unsterbliche, Absolute sucht, hat eine Affinität zum Metaphysisch-Religiösen, die sich auch dem Erhabenheitsbegriff mitteilt. Davon zeugen vor allem die einschlägigen Motive von Kap. 35: der 15
D. A. RUSSELL: Longinus, 165. Ebd. 17 44,8. Vgl. zur Stelle oben Kap. 3.2.3. 18 Vgl. 44,6. 16
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Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
Verweis auf die menschliche Bestimmung und auf die Zwischenstellung des Menschen zwischen Sterblichem und Unsterblichem.19 Von daher gewinnt auch die Anknüpfung an den geläufigen Topos dichterischer Begeisterung20 einen ernstzunehmenden Sinn. Zwar denkt Longin sicher nicht an eine unmittelbare Inspiration des Dichters durch eine Gottheit; womöglich spricht sich aber im Gebrauch der Enthusiasmus-Metaphorik die Vorstellung eines Erwachens des innerseelischen Hoheitsbewusstseins aus: Der »Ausbruch des göttlichen Geistes«21 etwa, dem die Verse des Archilochos jeweils ihren hohen Geist verdanken, ist dann als Hervorbrechen des tiefinnerlichen Sinns für das Hohe zu denken, der die Rede mit dem enthusiastischen Überschwang versieht, der das Erhabene ausmacht. Nicht so sehr die religiöse Terminologie als solche und auch nicht die religiösen Motive, die unter dem Titel des Erhabenen verhandelt werden, sondern der theoretische Grundgedanke einer hochsinnigkeitsvalenten Rede ist letztlich für jenen Zug des longinischen hypsos verantwortlich, der – unter gewissen Vorbehalten – als ›religiös‹ bezeichnet werden kann. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass der Gebrauch des Allgemeinbegriffs ›Religion‹ bereits einen neuzeitlichen Zugriff zum fraglichen Phänomen darstellt. Das einschlägige griechische Äquivalent euöseßbeia (›Gottesfurcht‹, ›Frömmigkeit‹, ›fromme Pflicht‹) kommt bei Longin wohlgemerkt nicht vor. Freilich ist selbiger Terminus stark mit kultischen Assoziationen besetzt, während sich im 1. Jahrhundert n. Chr. längst eine philosophische Religiosität oder Spiritualität herausgebildet hat, die sich vom Kult distanziert hat. Wenn also ein religiöser Einschlag von Longins Erhabenem konstatiert wird, dann ist ›religiös‹ nicht im Sinne einer verfassten Religion zu verstehen und auch nicht im Sinne einer ausgeführten religionsphilosophischen Theorie. ›Religiös‹ ist das Erhabene in dem allgemeinen Sinne, dass es eine Bezogenheit der menschlichen Seele auf die Sphäre des Überweltlich-Himmlischen, Unsterblichen, Göttlichen impliziert. Der Aufschwung der Seele, der die Erfahrung des Erhabenen kennzeichnet und von Longin in den Hochsinnigkeitsbegriff integriert wird, ist gemäß dieser Deutung selbst so etwas wie eine metaphysisch-religiöse Erfahrung. Als ›Widerhall von Hochsinnigkeit‹ ist das Erhabene geradezu dadurch definiert, dass es im Unterschied zu anderen rhetorisch-poetologischen Kategorien mit seiner konstitutiven Erfahrung ans Religiöse angrenzt bzw. in die religiöse Sphäre hineinreicht. Infolge der Verkoppelung mit dem Hochsinnigkeitsbegriff, so das grundlegende Ergebnis dieser Rekonstruktion, ist das Erhabene zuallererst durch 19
S.o. Kap. 3.2.3. S.o. Kap. 3.1.2. 21 33,5: [hÖ] eökbol[h?] touq daimonißou pneußmatow. 20
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seine metaphysisch-religiöse Dimension charakterisiert. Anders formuliert: Das Proprium des Erhabenen liegt nach Longin namentlich in seiner metaphysisch-religiösen Valenz. Damit besteht eine Differenz zwischen dem antiken Begründer der Erhabenheitstheorie und der geläufigen Auffassung gegenwärtiger Interpreten, das wesentliche »Charakteristikum« des Erhabenen sei seine immanente »Widersprüchlichkeit«22, d.h. die dialektische oder ambivalente Struktur der Erfahrung des Erhabenen, die von Kant klassisch als Gegensatz von Lust und Unlust beschrieben worden ist. Konstitutiv ist für das hypsos Longins nicht das Zugleich von Bestürzung und Freude, sondern die besondere Eigenart der Freude: der Aufschwung der hochsinnigen Seele zu einem stolzen Bewusstsein gottähnlichen Adels. Nur im Falle des Pathetisch-Erhabenen ist dieser Aufschwung immer auch mit einer bedrängenden Erschütterung der Seele verbunden. Der feierliche Stil, der große Stoff oder auch – wenngleich nicht eigentlich Teil der rhetorischen Theorie – die großartige Naturerscheinung können Auslöser erhebender Bewunderung sein, ohne dass dabei ein gegenläufiges »Unlust«-Moment begegnen müsste. Freilich gibt insbesondere die Zugangsbestimmung von 1,4, die mit ihrer Betonung der blitzartigen Gewalt des Erhabenen anscheinend vorwiegend an dessen pathetischer Form orientiert ist, Anlass zu dem Missverständnis, die Erfahrung des Erhabenen schlechthin habe immer auch Bedrängnischarakter. Aber es gibt keinerlei Hinweise, inwiefern etwa die Schilderung der Götterrosse (9,5) oder des göttlichen ›Fiat lux‹ (9,9), die grandiose platonische Passage über die niedrig Gesinnten (13,1) oder die Ansicht des Ozeans (35,4) eine Bedrohungserfahrung beinhalten sollten. Außerdem wird das ›Erschüttern‹ gerade im Unterschied vom ›Überschütten‹ des prächtigen Stils als Spezifikum pathetisch-erhabener Schroffheit bezeichnet. Wie so oft sind die Aussagen von Peri Hypsous diesbezüglich nicht ganz einheitlich. Die Erschütterungs- und Gewaltrhetorik aus jener Eingangsdefinition des Prologs, die für das Longinverständnis immer wieder richtungsweisend gewesen ist, darf jedenfalls nicht überstrapaziert werden. Der Autor des Traktats scheint hier vor allem, in etwas einseitiger Anlehnung an den bevorzugten pathetischen Modus, die besondere Stärke der Wirkung des Erhabenen hervorkehren zu wollen – und damit neben dem Aufschwungcharakter ein weiteres konstitutives Moment des Erhabenen insgesamt.23
22
CH. PRIES: Einleitung, 6. Darüber hinaus könnte man in der Erschütterungssemantik von 1,4, verbunden mit den religiös konnotierten Begriffen ekstasis, enthousiasmos und mania, auch einen Anklang an die platonische Beschreibung des Seelenaufschwungs etwa im Phaidros hören; vgl. dazu die in Kap. 3.2.3 angeführten Stellen. Dann wäre die ›Erschütterung‹ tatsächlich als solche konstitutiv für die Erhabenheitserfahrung, nämlich als Signum des Herausgeris23
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Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
Es besteht indes kein Zweifel, dass für Longin das Pathetisch-Erhabene die vorzügliche Weise ist, den Geist hochsinniger Transzendenzorientierung zu transportieren, und für diese Form der Hochsinnigkeitsmitteilung ist tatsächlich die Erfahrung bedrängender Erschütterung charakteristisch. Insofern bietet das Pathetisch-Erhabene Longins einen Anknüpfungspunkt für das antinomische Verständnis des Erhabenen im Sinne einer »negativen Lust« (Kant). Das betreffende Erschütterungsmoment ist, wie gezeigt wurde, ursprünglich an ein bestimmtes Konzept der Hochsinnigkeitsdarstellung gebunden, an die Idee des ›enthusiastischen Pathos‹. Wo sich der Held unter dem Druck äußerer Bedrängnis zu einer eruptiven Äußerung seines Widerstandswillens aufschwingen kann, da tritt seine Ausrichtung am Ideellen zutage, und im Mitvollzug von Seelenbedrängnis und -aufschwung erlebt auch der Hörer oder Leser die widersprüchliche Erfahrung erhebender Erschütterung. Die bedrohliche Ausnahmesituation ist die Bedingung für die Darstellung heroischer Hochsinnigkeit, und nur in dieser Verknüpfung mit der Hochsinnigkeitsidee ist das Erschütterungsmoment als Teil des (Pathetisch-)Erhabenen plausibel. Hinter der besagten Verknüpfung wiederum steht die ethisch-psychologische Vorstellung eines hochsinnigen Thymos: Weil der hohe Sinn in die feurig-affektiven Schichten der Seele eingesenkt ist, kann die affektive Eruption unter dem Druck des äußeren pathos als Expression von Hochsinnigkeit verstanden werden. Im Blick auf die Rezeption des Pathetisch-Erhabenen Longins stellt sich damit die Frage, ob über die antinomische Struktur des ›angenehmen Grauens‹24 hinaus auch deren doppelte Voraussetzung von psychologischer Thymosvorstellung und ethischmetaphysischem Hochsinnigkeitsgedanken auf irgendeine Weise zur Wirkung gekommen ist, oder ob die Idee einer erhebenden Erschütterung in formalisierter Form aufgenommen wurde. Es ist in diesem Zusammenhang ein bisher weithin unbeachteter Aspekt von Longins Traktat zu nennen. Mit der Idee des ›enthusiastischen Pathos‹ beinhaltet Peri Hypsous eine implizite Tragödientheorie, die auf einem eigentümlichen Bild des Heroischen basiert. Anders als der stoische vir magnus, dessen Seelengröße sich ganz dem rationalen Werturteil verdankt und sich vor allem in Apathie, in standhafter Unerschütterlichkeit, äußert, kennzeichnet den longinischen Helden gerade die enthusiastische Glut seines Affektausbruchs angesichts der Gefahr. Der Heros wird nicht als tugendhaftes Vorbild kühler, rationaler Selbstbeherrschung bewundert. Vielmehr weckt er als Repräsentant einer glühenden Leidenschaft für das Hohe bei senwerdens aus den endlichen Bezügen und mithin als Epiphänomen des Aufstiegs der hochsinnigen Seele in die Sphäre des Überweltlichen. 24 Vgl. C. ZELLE: ›Angenehmes Grauen‹. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert.
5. Poetologie zwischen Tugendethik und Metaphysik
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seinem Bewunderer eine analoge Leidenschaft mitsamt einem quasi-heroischen Selbstbewusstsein: einen »Stolz, als habe er, was er hörte, selber hervorgebracht« (7,2). Der Protagonist pathetisch-erhabener Dichtung erfüllt für deren Rezipienten also nicht eine Vorbildfunktion, sondern eine spezifische Repräsentationsfunktion. Er ist gewissermaßen Inbegriff eines Potentials, das jeder Mensch in sich trägt, und ruft dieses Potential, den ›hohen Sinn‹, beim Rezipienten vermöge einer Identifikationsleistung wach. Damit unterscheidet sich die longinische Poetik des ›enthusiastischen Pathos‹ auch wesentlich von der aristotelischen Katharsiskonzeption. Nach Longin zielt die Pathosdarstellung nicht auf die Reinigung von schädlichen Affekten. Sie hebt auch nicht auf die Gewöhnung an die Schrecken dieser Welt ab oder auf die Abschreckung durch Belehrung über die schlimmen Folgen der »Leidenschaften«, wie die barocke Tragödientheorie Aristoteles meinte verstehen zu müssen.25 Vermittels der Darstellung des äußeren und des spezifischen inneren pathos des Helden soll es stattdessen zur Repräsentation von Hochsinnigkeit kommen, zur Mitteilung eines idealistischen Geistes. Kurz: Das Pathos ist Medium von Hochsinnigkeit. Mit dieser Theorie bietet Peri Hypsous gewissermaßen eine gemeinidealistische Alternative zur aristotelischen und stoischen Tragödientheorie – und mithin einen weiteren interessanten Lösungsversuch der Antike betreffs der Frage nach dem Grund für das seltsame ›Vergnügen an tragischen Gegenständen‹.26 Es ist an dieser Stelle noch einmal eigens auf den psychologischen Vorstellungskomplex hinzuweisen, der im Hintergrund des Traktats steht. Mit dem wiederholt gebrauchten Thymosbegriff ist eine bestimmte Affekttheorie verbunden, welche die longinische Auffassung vom Erhabenen in mehrfacher Hinsicht prägt. Zum einen wird die erhabene Rede, wie bereits herausgestellt, prinzipiell psychologisch begriffen und nicht stilistisch. Sie ist Darstellung einer spezifischen Seelenverfassung, eben des ›enthusiastischen Thymos‹, sei es im Status heftigen Aufloderns oder stetigen Glühens. Zum anderen scheint die Thymosvorstellung auch Longins Ansicht von der Rezeption des Erhabenen zu bestimmen. Die erhabene Rede wird als gleichsam unmittelbare Kommunikation von thymos zu thymos gefasst, bei der die rationale Urteilsinstanz des Rezipienten – anders als etwa bei der Bewertung einer ›überzeugenden‹ Invention und Disposition des Redestoffes – umgangen wird. Longin begreift die Wirkung des Erhabenen als irrationale »Tiefenerfahrung«, was vor allem ihre Unmittelbarkeit, Plötzlichkeit und Gewalt erklärt, die sie von anderen ästhetischen Erfahrungen maßgeblich unterscheidet. 25
Vgl. dazu aaO. 1ff. Dieser Lösungsversuch ist auch in der modernen Dramentheorie nicht völlig wirkungslos geblieben. S.u. Teil II/Kap. 1.2.4. 26
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Teil I: Der antike Traktat ›Vom Erhabenen‹
Sowohl ihr metaphysisch-religiöser »Gehalt« als auch ihr seelischer »Ort« legen für die Charakterisierung jener Erfahrung die Metapher der »Tiefe« nahe, auch wenn sich dabei eine paradoxe Spannung zum Begriff des ›Hohen‹ ergibt. Die Erhabenheitserfahrung ist tiefinnerliches, intuitives Gewahrwerden der überweltlichen Bestimmung des Menschen, und als solche metaphysisch-religiöse Ahnung von allen vergleichsweise »oberflächlichen« Erfahrungen des Überzeugenden, Gefälligen oder des Vergnügens an der Charakterdarstellung himmelweit unterschieden. Es steht zu vermuten, dass gerade dieses Signum des longinischen Erhabenen, eine spezifische ästhetisch-metaphysische »Tiefenerfahrung« zu bezeichnen, bei dessen neuzeitlicher Wiederentdeckung eine Rolle gespielt hat. Wie im zweiten Teil dieser Untersuchung dargelegt wird, ist gerade dieser Aspekt ein maßgeblicher Grund dafür gewesen, dass der longinische »Funke« (Curtius)27 nach Hunderten von Jahren schließlich doch gezündet hat.
27
Vgl. oben Kap. 1.
TEIL II
Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
1. Konstellationen im 18. Jahrhundert Die in der Einleitung dieser Arbeit angesprochene Renaissance des Sublimen im 20. Jahrhundert, die mit den Namen Lyotard und Adorno verbunden ist, ging wesentlich auf eine Wiederentdeckung klassischer Konzeptionen aus der Ästhetik des 18. Jahrhunderts zurück. Entwickelte Adorno seinen Begriff des ›latenten Erhabenen‹ vor allem in Auseinandersetzung mit Kants Kritik der Urteilskraft, empfing Lyotard darüber hinaus vor allem von Edmund Burke Anstöße für seine Reflexionen zum Sublimen. Die genannten Referenztexte der (post-)modernen Erhabenheitstheorie können nun selbst wiederum als Spätprodukte einer langen Tradition angesehen werden. So resümiert Burkes Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful von 1757 bereits eine Jahrzehnte andauernde Hochkonjunktur des Sublimen in England, und auch Kant blickt zum Zeitpunkt der Entstehung der dritten Kritik (1791) auf ein halbes Jahrhundert deutscher Theoriegeschichte zurück, in dem aus einer Stilkategorie der Schulrhetorik ein Schlüsselbegriff der jungen Ästhetik geworden war. Zieht man außerdem in Betracht, dass sich jener Aufstieg des Erhabenen im Zeitalter der Frühaufklärung ebenfalls der Relektüre eines – diesmal antiken – Klassikers verdankte, entsteht gänzlich das Bild einer sich in Konjunkturzyklen vollziehenden Begriffsgeschichte, in der weit auseinanderliegende Epochen auf einmal nahe zusammenrücken. Mit seinen Bezügen zum 18. Jahrhundert stellt sich das wiederbelebte Interesse am Erhabenen im 20. Jahrhundert gewissermaßen als Renaissance einer Renaissance dar. Denn die Initialzündung für die frühmoderne Ästhetik des Erhabenen war die Neuentdeckung von Peri Hypsous, und die Konjunktur des Erhabenen, die Ende des 17. Jahrhunderts begann, war mindestens bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts wesentlich Longin-Konjunktur. Angesichts dieser Interferenzen zwischen den Epochen legt sich die Frage nahe, ob die Kategorie über die Zeiten hinweg in sich bestimmte Motive aufbewahrt hat, die sich unter je veränderten geistesgeschichtlichen Bedingungen immer wieder zur Geltung gebracht haben. Wer sich dem Erhabenen widmet, wird in jedem Falle den mehrfach gebrochenen Nachhall einer verwickelten Rezeptionsgeschichte zu gewärtigen haben, der dem Begriff seinen eigentümlichen Klang verleiht. Es emp-
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fiehlt sich daher, nicht nur jene antike Quelle zu berücksichtigen, sondern auch diejenige Phase der neuzeitlichen Begriffsgeschichte, in der selbige Quelle ihre größte Resonanz gefunden hat. Denn es steht zu vermuten, dass sich auch und gerade hier dem modernen Erhabenheitsbegriff bleibende Züge eingeschrieben haben. Indessen ist das begriffsgeschichtliche Interesse am Erhabenen in Deutschland noch recht jung – so jung wie seine philosophische Neubelebung. Dass die ästhetische Kategorie weitgehend in Vergessenheit geraten war, spiegelt sich in einem lange währenden Schweigen der deutschen Literaturwissenschaft. Lagen für England und Frankreich mit den Monographien von Samuel H. Monk (1935)1, Walter J. Hipple (1957)2 und Theodore A. Litman (1971)3 längst umfangreiche Forschungen vor, war man für den deutschsprachigen Bereich bis in die 1980er Jahre im Wesentlichen auf die vergleichsweise schmale Studie von Karl Viëtor über Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur (1937) angewiesen.4 Erst die angesprochene Wiederentdeckung des Erhabenen in der Philosophie brachte es mit sich, dass sich auch die deutsche Literaturwissenschaft der Geschichte des Erhabenen in größeren Untersuchungen annahm. Hier ist zuvörderst Carsten Zelle zu nennen, dessen Qualifikationsschriften von 1987 (»Angenehmes Grauen«. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert) und 1995 (Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche) schnell zu Standardwerken zur Begriffsgeschichte vor allem des 18. Jahrhunderts avancierten. Seitdem ist als ernstzunehmende wissenschaftliche Monographie5 nur noch die Arbeit von Diet1
S. H. MONK: The Sublime. A Study of critical Theories in XVIII-Century England. W. J. HIPPLE: The Beautiful, the Sublime and the Picturesque in Eighteenth-Century Aesthetic Theory. 3 TH. A. LITMAN: Le Sublime en France. 1660–1714. Aus jüngerer Zeit ist für den französischen Bereich vor allem zu nennen S. HACHE: La Langue du ciel. Le sublime en France au XVIIe siècle (2000). 4 Ansonsten ist neben dem anfänglich erwähnten Artikel aus dem Historischen Wörterbuch der Philosophie von 1972 (A. MÜLLER/G. TONELLI/R. HOMANN: Art. Erhaben, das Erhabene) noch die philosophische Dissertation von K. ALBERT: Die Lehre vom Erhabenen in der Ästhetik des Deutschen Idealismus (1950) zu verzeichnen, die im Sinne einer ersten Bestandsaufnahme hinsichtlich Kant, Schiller, Herder, Schelling, Hegel und Vischer immer noch lesenswert ist. 5 Die philosophische Dissertation von A. VIERLE: Die Wahrheit des Poetisch-Erhabenen. Studien zum dichterischen Denken. Von der Antike bis zur Postmoderne (2003), kann hier nur bedingt hinzugerechnet werden, weil sie die gängigen wissenschaftlichen Standards generös missachtet. Vierle verzichtet weitgehend auf die Autopsie der Quellen und schöpft aus einem sehr schmalen Fundus von Sekundärliteratur. Statt einer nachvollziehbaren Disposition und Argumentation bieten ihre Ausführungen vor allem existentialistisches Pathos. Dabei ist die Grundanlage der Arbeit vielversprechend, insofern sie einen Bezug zwischen dem enthusiastischen Erhabenheitsbegriff der Antike, für den 2
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
mar Till über Das doppelte Erhabene (2006) erschienen, die eine Vielzahl interessanter Ergänzungen insbesondere zur Geschichte des Erhabenen in der frühen Neuzeit liefert, sich dabei aber im Grundsätzlichen den Ergebnissen Zelles verpflichtet weiß.6 Mithilfe der vorliegenden Forschungsbeiträge lässt sich gut ein Überblick über die fragliche Epoche der Begriffsgeschichte gewinnen. So liegt es nahe, sich im Folgenden auf die genannten Darstellungen zu stützen, um eine erste Skizze der Renaissance von Longins Idee im Jahrhundert der Aufklärung zu liefern. Es wird sich freilich zeigen, dass bei den genannten Autoren auch einige Verkürzungen und Verzeichnungen in das Bild des Erhabenen eingegangen sind. Wo Ergänzungen oder Korrekturen notwendig sind, werden daher auch andere Studien und vor allem maßgebliche Quellen beizuziehen sein.
1.1. Die Wiederentdeckung Longins: Nicolas Boileau Nach einhelliger Ansicht lässt sich die neuzeitliche Wiedergeburt des Erhabenen relativ genau datieren, nämlich auf das Jahr 1674.7 In diesem Jahr veröffentlicht der hoch prominente Pariser Kritiker Nicolas Boileau-DesLongin und Platon als Gewährsmänner angeführt werden, und der neuzeitlichen Poetik und Ästhetik des Erhabenen herstellt. Dabei wird freilich eine einseitige Verlustrechnung aufgemacht, insofern nach Vierle in der Longin-Rezeption der neuzeitlichen Dichtungstheoretiker der für das Erhabene schlechthin konstitutive Enthusiasmus »in zunehmender Verkürzung als herstellbarer Affekt und empirisch-psychologisch zu kalkulierendes Wirkungsgeschehen verstanden« (15) wird. Selbiges versucht Vierle auf knapp 30 Seiten über Boileau und Gottsched, Bodmer und Breitinger, Klopstock, Pyra und Baumgarten, über Burkes Einfluss auf die deutsche Aufklärung, über Mendelssohn und Hölderlin, den frühen Kant und den späten Herder zu belegen. Sie tut dies mit dem Ziel, die Longin-Rezeption als Weg »eines sich wandelnden Verständnisses des Erhabenen von einer ursprünglich widersprüchlichen Fülle einer ontologisch-poetischen Dimension zu einer präzise gefaßten ästhetischen Bestimmung auch als eine Verkürzung zu verstehen, die in begrifflich-theoretischer Exaktheit jenes angängige Bewegungsgeschehen zu einem bewußt eingesetzten gestalterischen Mittel reduziert«, um so »den Blick auf das hypsos als Existenzweise des Menschen und Seinsbereich der Dichtung um so entschiedener zurückzugewinnen« (145). 6 Vgl. D. TILL: Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, 4f. Tills äußerst materialreiche Studie handelt vom Neben- und Ineinander der beiden wichtigsten Traditionsströme innerhalb der Erhabenheitstheorie des 18. Jahrhunderts: der Lehre vom stilus sublimis aus der Stiltheorie der lateinischen Rhetoriküberlieferung auf der einen und der longinischen Idee des einfachen Erhabenen, das die Logik der Stilhöhendifferenzierung transzendiert, auf der anderen Seite. 7 Eine abweichende Einschätzung findet sich bei M. FUMAROLI: Rhéthorique d’école et rhéthorique adulte: remarques sur la réception européenne du traité ›Du sublime‹ au XVIe et au XVIIe siècle.
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préaux (1636–1711) seine beiden poetologischen Hauptwerke: den L’Art poétique, der gemeinhin als Programmschrift des französischen Klassizismus gilt, und daneben den Traité du sublime, eine Übertragung von Peri Hypsous ins Französische, die den griechischen Traktat »wie ein[en] Originalbeitrag zur Theoriediskussion des französischen 17. Jahrhunderts« wirken lässt.8 Das Verhältnis des Traité zum L’Art poétique ist, wie noch deutlich werden wird, strittig. Weitestgehend unstrittig hingegen ist: »Boileau’s translation was the turning point of Longinus’s reputation in England and France«9 – und, so ist zu ergänzen, ebenso in Deutschland. Longins Schrift war, wie Till aufwendig gezeigt hat, auch vor der Wiederentdeckung durch Boileau »kein unbekannter Text, wie die Forschung bisweilen meint«10. Im gelehrten Diskurs der Philologen, Rhetoriker und Poetiker war Peri Hypsous durchaus präsent, was bereits die verschiedenen Ausgaben, Übersetzungen und Kommentare seit Mitte des 16. Jahrhunderts belegen.11 Auch in den Rhetorik- und Poetikhandbüchern des Humanismus und Barock wird der antike Traktat Till zufolge regelmäßig genannt,12 und er dient »in den gelehrten Auseinandersetzungen um die richtige Eloquenz stets als Berufungsinstanz für eine ›Rhetorik des Genies‹«13. Aber Longin steht an Bedeutung insgesamt weit hinter den Autoritäten Aristoteles, Cicero, Quintilian und Horaz zurück, und sein Leitbegriff, das hypsos, wird infolge der Dominanz vor allem der römischen Rhetoriktradition mehr oder weniger »bruchlos in die rhetorische Stillehre integriert«14. Ohne das Widerständige des Textes wahrzunehmen, ordnen die Schulrhetoriker Peri Hypsous in das Koordinatensystem der Dreistillehre ein und lesen den Traktat 8 K. MAURER: Boileaus Übersetzung der Schrift PERI UYOUS als Text des französischen 17. Jahrhunderts, 235. Boileau übersetzt nicht primär aus dem griechischen Original, sondern verwendet die zweisprachige griechisch-lateinische Ausgabe von Tanneguy Le Fèvre von 1663 und stützt sich vor allem auf die lateinische Übersetzung Le Fèvres (vgl. D. TILL: Das doppelte Erhabene, 198). 9 S. H. MONK: The Sublime, 21. 10 D. TILL: aaO. 127; vgl. 209: »Vor diesem Hintergrund erweist sich Boileau gerade nicht als eigentlicher Begründer des Konzepts einer simplicité du sublime, sondern als Kompilator und Propagator theoretischer Postulate, die in den gelehrten Diskursen längst bekannt waren – und die nun in die Volkssprache übersetzt wurden, wo sie erst ihre eigentliche Wirksamkeit entfalteten.« 11 Eine Auflistung der Ausgaben findet sich bei Till im Anhang, 413. Vgl. zur Rezeptionsgeschichte von Peri Hypsous in der Renaissance K. LEY: Das Erhabene als Element frühmoderner Bewußtseinsbildung. Zu den Anfängen der neuzeitlichen Longin-Rezeption in der Rhetorik und Poetik des Cinquecento. 12 D. TILL: aaO. 126f, belegt diese Behauptung mit G. J. VOSSIUS: Commentarium Rhetoricum sive Oratoriarum Institutionum libri sex (1 1606) – also immerhin mit einem der wichtigsten Rhetorikkompendien des 17. Jahrhunderts. 13 C. ZELLE: Die doppelte Ästhetik der Moderne, 50. 14 D. TILL: aaO. 27.
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
entsprechend »als eine Spezialabhandlung über den hohen Stil, das genus grande«15. Insgesamt hielt sich das Interesse an Longin verständlicherweise daher auch unter den Gelehrten des Humanismus und Barock in relativ engen Grenzen, so dass er selbst im Vergleich mit Pseudo-Demetrius und Hermogenes im Geistesleben der Zeit ein Schattendasein führte. Erst recht galt solches außerhalb der gelehrten Welt, wo trotz zweier volkssprachlicher Übersetzungen ins Italienische und Englische von dem antiken Rhetoriker ›Longin‹ so gut wie keine Notiz genommen wurde, so dass Isaac Casaubons Wort aus dem Jahre 1605 vom aureolus nec satis unquam lectus libellus16 die Rezeptionssituation wohl bis in die 1670er Jahre hinein insgesamt treffend kennzeichnet. Die Situation änderte sich grundlegend mit dem Erscheinen von Boileaus Traité du Sublime. Diese erste Übertragung ins Französische, die schon zu Lebzeiten ihres Urhebers in vielen Auflagen erschien, belebte die neuzeitliche Konjunktur nicht nur von Longins Traktat, sondern auch von dessen zentraler Idee: »Boileau’s translation in 1674 started the sublime on its long career as an aesthetic concept«17. 1.1.1. Der ›Traité du Sublime‹ im Kontext klassizistischer Literaturtheorie Neben der Volkssprachlichkeit der Longin-Übersetzung18 und dem Namen ihres Übersetzers, »which his own popularity gave to any work recommended by him«19, ist ein wesentlicher Grund für den Aufstieg des Erhabenen im sachlichen Zusammenhang des Traité mit der Querelle des Anciens et des Modernes zu erblicken, dem damals sich anbahnenden Streit um die Vorbildgeltung der Antike, der zugleich ein Streit um das rechte Ideal der zeitgenössischen Dichtung war. Die Publikation des Traité du Sublime ist als Moment einer poetologischen Neuausrichtung zu verstehen, und als Grunddatum dieser Neuausrichtung hat der Umstand zu gelten, dass sich Boileau mithilfe von Peri Hypsous aus dem Bann der Schulrhetorik befreite und »das Erhabene Longins als eine klare Alternative zur rhetorischen Dreistillehre [profilierte]«20. Boileau nimmt die betreffende Profilierung in seiner Préface 15
AaO. 28. I. CASAUBON: In Persii satiras liber commentarius, zit. n. J. BRODY: Boileau and Longinus, 10. 17 S. A. MONK: The Sublime, 18. 18 Zu Boileaus Übersetzungsweise vgl. K. MAURER: Boileaus Übersetzung, und B. WARNICK: The Bolevian Sublime in Eighteenth-Century British Rhetorical Theory. 19 S. A. MONK: aaO. 30. 20 D. TILL: aaO. 26. Als wichtigen Vorläufer der Boileau’schen Differenzierung zwischen Longins hypsos und dem genus grande der Dreistillehre weist Till den Gräzisten und 16
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zum Traité du Sublime vor, wo er dem Leser vorweg eine Skizze von Longins Leitidee liefert, um gleich alle eingeschliffenen Vorurteile bezüglich des Sublimen auszuräumen. Vor allem die folgende Passage ist für die neu einsetzende Longin-Rezeption sowie für die entsprechende Auffassung des Erhabenen maßgeblich geworden: Il faut donc sçavoir que par Sublime, Longin n’entend pas ce que les Orateurs appellent le stile sublime: mais cet extraordinaire et ce merveilleux qui frape [!] dans le discours, et qui fait qu’un ouvrage enleve, ravit, transporte. Le stile sublime veut toujours de grands mots; mais le Sublime se peut trouver dans une seule pensée, dans une seule figure, dans un seul tour de paroles.21
Man muss also wissen, dass Longin unter ›erhaben‹ nicht dasselbe versteht, was die Redner den ›erhabenen Stil‹ nennen; sondern jenes Außerordentliche und jenes Wunderbare, welches in der Rede Eindruck macht und welches bewirkt, dass ein Werk erhebt, entzückt, hinreißt. Der erhabene Stil will immer die großen Worte; aber das Erhabene kann sich in einem einzigen Gedanken, in einer einzigen Figur, in einer einzigen sprachlichen Wendung finden.
Indem Boileau in enger Anlehnung an Peri Hypsous 1,4 gegenüber dem großen, weit ausgreifenden Stil die mögliche Plötzlichkeit und Kürze und damit die Schlichtheit des erhabenen Ausdrucks betonte – an anderer Stelle spricht er von der »petitesse energique des paroles«22 und von der »simplicité« des wahrhaft Sublimen23 –, markierte er deutlich wie wenige vor ihm die Differenz zwischen »dem Erhabenen« (im longinischen Verständnis) und dem erhabenen Stil der klassischen (lateinischen) Rhetorik. Damit konnte er indes nur deshalb eine so nachhaltige geistesgeschichtliche Wirkung entfalten, weil die Befreiung aus den Banden der Systemrhetorik zugleich eine Korrektur der klassizistischen Regelpoetik bedeutete. Auf diesen Zusammenhang hat nach Monk, Litman und anderen auch Zelle mit Nachdruck hingewiesen. Zelle erblickt in der gleichzeitigen Publikation von L’Art poetique und Traité du Sublime einen »paradoxen Coup«24 Boileaus. Denn mit den beiden Werken sei es ihm gelungen, »neben der Charta der doctrine classique zugleich auch den Hebel zu ihrer Beseitigung Longin-Editor Tanneguy Le Fèvre (1615–1672) aus, vgl. aaO. 129ff. N. CRONK hat in der Untersuchung The Classical Sublime: French Neoclassicism and the Language of Literature einige Spuren freigelegt, an denen sich ablesen lässt, dass und inwiefern das von Boileau unter dem Begriff des Sublimen profilierte literarische Ideal in der französischen Rhetorik und Poetik der Zeit bereits präsent war: vgl. bes. 84ff; 118ff. 21 Préf. 338. Alle deutschen Übersetzungen in diesem Kapitel stammen vom Verfasser dieser Arbeit. 22 Réfl. X 550. C. ZELLE: Die doppelte Ästhetik, 56, nennt Boileaus Bestimmung entsprechend eine »energetische Definition des Erhabenen«. 23 Réfl. X 550; vgl. Préf. 340. 24 C. ZELLE: aaO. 29
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
[vorzulegen]«25. Ziele der L’Art poétique auf eine Dichtung der Regeln und der Vernunft, der gefälligen26 Ordnung und clarté, bringe die Übersetzung von Longins Erhabenheitstraktat ein gegenläufiges Literaturideal zur Geltung, gekennzeichnet durch Genie, Enthusiasmus, Regellosigkeit und Erschütterung. »Mit der neuen antiken Autorität im Rücken eröffnete sich Boileau die Möglichkeit, in werk-, produktions- und wirkungspoetischen Fragen über den Klassizismus hinauszugehen«27 und so zum »Begründer der ästhetischen Moderne«28 zu werden. Zukunftsweisend ist für Zelle an der Etablierung des antiken Klassikers und seines Literaturideals vor allem die Neugewichtung der Wirkungsdimension des Poetischen: die Anschauung, dass es in der Dichtung nicht so sehr auf die »werkpoetischen Kriterien Fehlerfreiheit, Schliff und eleganter Stil« ankomme, sondern auf die »mitreißende Wirkung«.29 Wie bereits für Monk und Litman liegt der Grund für die neuzeitliche Konjunktur des Erhabenen auch für Zelle in seinem innovativen, systemsprengenden Potential, und so kann es tatsächlich paradox anmuten, dass ausgerechnet »der strenge ›Gesetzgeber‹ des klassischen Parnass«30 mit Peri Hypsous die Waffen für die Überwindung des Klassizismus bereitgestellt haben soll. Freilich hat Monk eingeräumt, dass diese Paradoxie als solche erst in der ästhetikgeschichtlichen Rückschau entsteht, nämlich in der historischen Konstruktion eines einlinig »rationalistischen« Klassizismus auf der einen und eines einlinig »emotionalistischen« Erhabenheitsbegriffes auf der anderen Seite.31 Boileau selbst hat offenbar das longinische Erhabene nicht als systemsprengend erachtet,32 sonst hätte er ihm nicht innerhalb seines »Systems«, nämlich innerhalb des L’Art poétique selbst einen Ort angewiesen. Hier, innerhalb des Chef-d’œuvre des französischen Klassizismus, warnt Boileau vor einem schulmäßigen »ordre methodique«33 und preist die Wirkung des »beau desordre«34; hier empfiehlt er dem Dichter, in den Herzen
25
Ebd. Vgl. aaO. 27. 27 C. ZELLE: Schönheit und Erhabenheit. Der Anfang doppelter Ästhetik bei Boileau, Dennis, Bodmer und Breitinger, 59; vgl. DERS.: Angenehmes Grauen, 77. 28 C. ZELLE: Die doppelte Ästhetik, 29. 29 C. ZELLE: Schönheit, 60. 30 E. KÖHLER: Art. Je ne sais quoi, 642. 31 Vgl. S. A. MONK: The Sublime, 29: »Paradoxical as it may seem in the light of the future career of Longinus’s ideas in England…« 32 Vgl. dazu ebd.: »Every man of taste in the neo-classic period was prepared to admit that there are effects in literature that cannot be obtained except through ›strokes of genius‹.« 33 N. BOILEAU: L’art poétique III, 303; vgl. II, 74: »ordre didactique«. 34 AaO. II, 72. 26
1. Konstellationen im 18. Jahrhundert
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»douce Terreur«35 zu erregen.36 Es ist daher dem Urteil Karl Maurers zuzustimmen, dass »von einem prinzipiellen Gegensatz von Art poétique und Traité du sublime nicht die Rede sein [kann]«37. Zelles auch gegenüber seinen Vorgängern Monk und Litman deutlich zugespitzte, paradoxe Boileau-Deutung verdankt sich wesentlich der Intention, schon beim eigentlichen Urheber der neuzeitlichen Renaissance des Erhabenen »die Struktur der doppelten Ästhetik der Moderne zu profilieren«38, und zwar als dualistische Struktur zweier gegenläufiger Tendenzen: der Rationalisierung des Ästhetischen – unter dem Titel des Schönen – auf der einen und des »emotionalistischen« Widerstandes gegen solche Rationalisierung – unter der Losung des Erhabenen – auf der anderen Seite. Das Erhabene fungiert demzufolge als kritische Gegeninstanz gegen Rationalisierungstendenzen in der Aufklärungsästhetik:39 als die subversiv-irratio35
AaO. III, 18. Es ist an dieser Stelle eine Boileau-Interpretation zu ihrem Recht zu bringen, die sowohl von Litman als auch von Zelle als eine die innersystematischen Spannungen im Werk Boileaus »harmonisierende« Fehldeutung disqualifiziert worden ist (vgl. C. ZELLE: Die doppelte Ästhetik, 29; TH. A. LITMAN: Le Sublime, 70). Das im ersten Teil der vorliegenden Arbeit bereits zitierte Buch von J. BRODY: Boileau und Longinus, weist beispielsweise in subtilen Analysen nach, dass Boileaus Begriff der raison sich durchaus eng mit dem berührt, was in subl. 2 über die unverzichtbare Rolle der Kunst (technê) bzw. Methode für das Zustandekommen des Erhabenen ausgeführt wird; vgl. dazu vor allem 43ff. 37 K. MAURER: Boileaus Übersetzung, 251; ähnlich W. STRUBE: Schönes und Erhabenes. Zur Vorgeschichte und Etablierung der wichtigsten Einteilung ästhetischer Qualitäten, 33. Bei näherem Hinsehen deutet sich bei C. ZELLE selbst eine weniger steile Lesart von Boileaus Poetologie an, wonach dessen Longin-Rezeption die klassizistische »Doktrin heute weniger eindeutig, sondern vielmehr irritierend komplex und ambivalent erscheinen läßt« (Die doppelte Ästhetik, 28). Zelle warnt in diesem Zusammenhang vor einseitigen Epochenkonstruktionen und insbesondere vor »der Verengung des französischen Klassizismus auf ein ›âge de raison‹« (27). Am Ende setzt sich freilich bei ihm selbst die Generalhypothese von der inneren Widersprüchlichkeit von Boileaus Poetologie und vom Zeitalter des Klassizismus überhaupt durch. So zeichnet Zelle den Klassizismus nicht als »irritierend-komplexes«, vielschichtiges, sondern als dualistisches Gebilde: als einen – ganz konventionell gefassten – Hauptstrom mit einer untergründigen Gegenströmung. Zwar drängt er mit dem Verweis auf Boileaus Traité auf die Wahrnehmung eines »anderen Klassizismus«, aber dieser andere Klassizismus ist nicht das Ganze, sondern lediglich die selbst recht eindimensional gezeichnete »subversive« Gegenkraft innerhalb des nach wie vor »monolithisch gefaßten Klassizismus« (45). Das Ergebnis ist das fragwürdige dualistische Konstrukt von »Boileaus antiklassizistische[m] Klassizismus« (ebd.). Eine mittlere Position nimmt in dieser Frage A. T. DELEHANTY: From Judgment to Sentiment: Changing Theories of the Sublime, 1674–1710, ein, insofern sie innerhalb von Boileaus Erhabenheitsbegriff eine Entwicklung von einer regelorientierten zu einer das Irrationale der Dichtung akzentuierenden Konzeption auszuweisen versucht. 38 C. ZELLE: aaO. 29. 39 Stellenweise werden ihm noch weiter reichende Implikationen zugerechnet, nämlich die Funktion der Aufklärungskritik überhaupt; vgl. aaO. 3 u. 30. 36
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
nale, die »andere Seite«40 des rationalistischen Klassizismus. Unter Zuhilfenahme psychoanalytischer Semantik (und in an Adorno gemahnendem Pathos) formuliert: Die mit Boileaus Traité anhebende »Ausbildung einer Ästhetik des Erhabenen [ist] die Wiederkehr dessen […], was aus der klassizistischen Poetik des Schönen verdrängt ward«41. Entsprechend »entwickelte sich das Erhabene« nach Zelles Ansicht »schnell zu der poetischen Kategorie, die alle jene Phänomene versammelte, die nicht im Prokrustesbett klassizistischer Schönheit Platz fanden, aber gleichwohl ästhetisches Interesse beanspruchten. Unter dem Mantel des Erhabenen findet das Nichtschöne: das Entsetzliche, Häßliche und Schreckliche Einlaß in die Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts«42 und bahnt sich den Weg weiter bis zur modernen Dominanz der »nicht mehr schönen Künste«43. Mag Zelles Konstruktion einer »Dichotomie« zwischen dem Klassizismus des Schönen und dem »anderen Klassizismus« des Erhabenen sowie die darin enthaltene geschichtsphilosophische Interpretation von Letzterem als Inbegriff einer irrationalen Gegenströmung innerhalb eines allgemeinen ästhetischen Rationalisierungsprozesses auch nicht überzeugen44 – gewisse Spannungen zwischen den aus Peri Hypsous stammenden Theorieelementen und einer Reihe von Leitbegriffen der doctrine classique sind nicht zu leugnen. Zelle hat zweifellos richtig gesehen, dass an der Konjunktur des Sublimen ein ästhetischer Umformungsprozess sichtbar wird, er hat diesen Prozess lediglich auf eine überpointierte Formel gebracht. Monk etwa hat die zur Frage stehende Entwicklung weniger hochstufig charakterisiert. Für ihn macht Boileaus Longin-Begeisterung deutlich, »that even the great formulator of the neo-classic code felt the need of a higher sort of art and stronger emotions than the rules could produce«45. Demnach wäre das nachdrückliche Eintreten für Longin, formelhaft gesprochen, Signum eines Bewusstseins für die Grenzen der Regelästhetik und für die Notwendigkeit ihrer »Auflockerung«46 – eines Bewusstseins, das offenbar auch innerhalb des Klassizismus möglich war.
40
AaO. 57. AaO. 29. 42 C. ZELLE: Schönheit, 60; vgl. DERS.: Angenehmes Grauen, 77. 43 Vgl. den Titel des dritten Tagungsbandes der Arbeitsgruppe ›Poetik und Hermeneutik‹ von 1968: ›Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen‹. Vorläufer von Zelles Auffassung ist einmal mehr S. A. MONK: The Sublime, 85: »The sublime came as a justifiable category into which could be grouped the stronger emotions and the more irrational elements in art.« 44 Auch W. STRUBE: Schönes und Erhabenes, 33, kann eine solche Dichotomie bei Boileau nicht entdecken. 45 S. A. MONK: aaO. 32. 46 E. KÖHLER: Art. Je ne sais quoi, 642. 41
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Wenn das Erhabene als wichtigstes »Supplement«47 des Klassizismus aufgefasst werden soll, dann kann dies auch in dem schlichten Sinn geschehen, dass damit eine drohende Verkürzung des Kunstverständnisses korrigiert wurde. Das Erhabene steht dann, wie Zelle selbst formuliert hat, wesentlich für einen »unaussprechlichen Rest«48 ästhetischen Gelingens und Erlebens, der sich nicht allein durch Einhaltung bestimmter Regeln erzielen lässt. Boileau bringt dieses Bedeutungsmoment des Erhabenen, das auf die letzte begriffliche Nichterhellbarkeit der ästhetischen Erfahrung verweist, unübertroffen mit der Wendung vom je ne scay quoy du Sublime zum Ausdruck. Indem er das Erhabene mit dem bis in die Antike zurückreichenden Topos des Je ne sais quoi, des »geheimnisvollen Etwas«49, expliziert, macht er es »zur Bezeichnung der unbenennbaren Aura, die zum Schönen erst hinzutreten müsse, um ihm Glanz zu verleihen«50. Das Sublime verweist auf ein »ästhetisches Surplus«51, das sich der normativen Verfügung durch die Kunstlehre entzieht und daher Genie erfordert, das sich auch innerhalb des Kunstwerks kaum begrifflich lokalisieren lässt, das aber konstitutiv ist für gewisse ästhetische Erfahrungen, die ein bloßes Wohlgefallen an schöner Regelmäßigkeit übersteigen. Boileaus Sinn für den fraglichen Überschuss des Ästhetischen war nun freilich nicht allen Zeitgenossen gegeben. So konnte eine einseitige Orientierung der Dichtung am Maßstab der »Kunst«, an Regelmäßigkeit und artistischer finesse, unterlegt von einem stolzen Bewusstsein der Fortschrittlichkeit aller Künste und Wissenschaften in der modernen (französischen) Kultur, den Blick für alles rational Unverrechenbare in der Kunst verstellen und das Erhabene lediglich als Inbegriff längst überholter ästhetischer Ideale erscheinen lassen: als »résultante d’égarements et de ›transports‹ insensés de certains grands poètes de l’Antiquité«52. Entsprechend kommt, wie bereits angedeutet wurde, der Auseinandersetzung um das Erhabene nach allgemeiner Überzeugung der Forschung eine wichtige Rolle innerhalb der Querelle des Anciens et des Modernes zu. Die öffentliche Debatte um die Vorzugsstellung der Antike, die ihren Höhepunkt in der publizistischen Auseinandersetzung zwischen Nicolas Boileau und Charles Perrault (1628–1703) in den Jahren 1687–1694 hatte,53 war deshalb ein Streit auch um das Erhabene, weil das vom antiken Rhetori47
Vgl. C. ZELLE: Die doppelte Ästhetik, 43 u. 59. C. ZELLE: aaO. 57. 49 E. KÖHLER: aaO. 640. 50 C. ZELLE: aaO. 58. 51 AaO. 43. 52 Th. A. LITMAN: Le Sublime, 166. 53 Die literarischen Früchte dieses Streits sind vor allem Boileaus Réflexions critiques und Perrauls Parallèles des Anciens et des Modernes. 48
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ker »Longin« an antiken Größen der Rhetorik und Poesie ausgewiesene Konzept von Boileau von vornherein als Gegenkonzept gegen die Grundtendenz des zeitgenössischen Geschmacks rezipiert wurde. Anstelle höfischgalanter Poesie auf der einen und schaler christlicher Epik auf der anderen Seite propagiert Boileau mit dem Sublimen eine Dichtung wahrer Kraft und Noblesse. Statt der delikaten Darstellung von Nichtigkeiten soll die Poesie nach Maßgabe von Longins Ideal erhabener Schlichtheit nach dem energischen Ausdruck großer Leidenschaft streben. Umgekehrt mangelt es der von Longin/Boileau gepriesenen großen Dichtung der Alten nach dem Empfinden der Modernen an Raffinement und Esprit, und gerade der Ausdruck ungefilterter Leidenschaft zeugt, gemessen an deren Ideal verfeinerter Kultur, lediglich von barbarischer Rohheit. Summarisch lässt sich der am Erhabenheitsbegriff sich artikulierende Gegensatz des Geschmacks also auf den Gegensatz von galanterie und grandeur, von raffinement und simplicité, von finesse und noblesse, von préciosité und passion bringen. Im Übrigen gefährdete die mit dem Sublimen verbundene Behauptung jenes irrationalen »Restes« der Poesie den Nachweis der methodischen Überlegenheit des gegenwärtigen Zeitalters in Sachen der Kunst: »Pour Perrault, le sublime représente surtout une menace redoutable pour sa théorie du progrès dans l’art de la poésie.«54 1.1.2. Die ethische Dimension des Sublimen Die Skizze der Rolle des Sublimen in der Querelle hat einen Aspekt des Boileau’schen Erhabenheitsbegriffs berührt, der von Zelle zugunsten der Akzentuierung von dessen Wirkungsdimension unterdrückt worden ist. So hat sich angedeutet, dass in der Auseinandersetzung um das »antike« oder »moderne« Dichtungsideal durchaus auch inhaltliche Differenzen thematisch sind. Jedenfalls geht es Boileau mit dem Votum für das Sublime auch um die Wahl der rechten Sujets. Statt der amourösen Themen, von denen die Modepoesie der Zeit in unvergleichlicher Verfeinerung zu sprechen weiß, sollen, wie in der großen Literatur der Alten, die großen Stoffe und Ideen Gegenstand der Dichtung sein. Aber anders als im zeitgenössischen christlichen Epos sollen sie auch auf angemessene Weise gestaltet werden. Entsprechend kann Monk Boileaus Erhabenheitsideal auf die Formel »the greatest thought in simple language«55 bringen. Nun kann bei der Lektüre von Boileaus Ausführungen zum Sublimen tatsächlich immer wieder der Eindruck entstehen, dieser sei »in erster Linie nicht an dem […] Inhalt« der von ihm angeführten erhabenen Stellen »inte54 55
Th. A. LITMAN: aaO. 169. S. A. MONK: The Sublime, 31.
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ressiert«,56 sondern vielmehr an der spezifischen sprachlichen Gestalt auf der einen und an der besonderen Wirkmächtigkeit derselben auf der anderen Seite. So kreist etwa die zehnte Longin-Reflexion beständig um das Thema der »simplicité« des Sublimen und um deren eigentümliche »force energique«.57 Die Konzentration auf die darstellungsästhetische58 Seite des Erhabenen erklärt sich indes aus dem Debattenzusammenhang, wie sich an der besagten Schrift exemplarisch zeigen lässt. Boileau verfolgt hier angesichts der Einlassungen seiner literarischen Gegner, der Theologen Pierre-Daniel Huet (1630–1721)59 und Jean le Clerc (1657–1736)60, ein doppeltes Argumentationsziel. Zum einen muss er sich erneut gegen die Identifizierung von sublime und stile sublime abgrenzen, zum anderen gegen die Gleichsetzung des Erhabenen mit der Hoheit des dargestellten Gegenstandes (mit Huets granditas rerum bzw. sublime des choses).61 Entgegen der Ansicht seiner Kritiker ist für Boileau das Erhabene weder eine Angelegenheit des großen Stils noch eine bloße Frage des Sujets. Daraus zu schließen, das Sublime Boileaus sei den Sujets gegenüber indifferent, wäre allerdings genauso kurzschlüssig wie zu meinen, es habe überhaupt nichts mit Stil (im weitesten Sinne von sprachlicher Gestaltung) zu tun.62 Was die sprachliche Gestalt des Erhabenen betrifft, streicht der Autor der Réflexions lediglich heraus, dass das Erhabene nicht die »grands mots«63 erfordere, sondern sich gerade »dans les paroles les plus simples« finde: »et dont la simplicité mesme
56
C. ZELLE: Die doppelte Ästhetik, 56. Réfl. X 550. 58 Wie bereits erläutert, wird der Terminus ›darstellungsästhetisch‹ hier als abgeschwächte Variante des gängigen Begriffs ›werkästhetisch‹ gebraucht. Er bezeichnet die ästhetische Reflexion auf die Bedingungen gelungener Repräsentation bestimmter Sujets, ohne ein emphatisches Konzept des abgeschlossenen Kunstwerks zu implizieren. 59 Der Jesuit P.-D. HUET, zeitweilig Erzieher des Dauphin, seit 1674 – dem Jahr des Erscheinens von Boileaus Hauptwerken – Mitglied der Académie française und seit 1692 Bischof von Avranches, versucht in seiner 1679 erschienen Demonstratio evangelica die Wahrheit der heiligen Schrift vernünftig zu erweisen. Das schließt den Erweis der mosaischen Autorschaft des Pentateuch ein (vgl. dazu D. TILL: Das doppelte Erhabene, 195ff). 60 Der Arminianer J. LE CLERC (lat. Clericus), der seit 1684 als Professor für Hebräisch und Philosophie am Amsterdamer Remonstrantenseminar lehrt, unterstreicht in seinem Genesis-Kommentar von 1693 (Genesis sive Mosis prophetae liber primus. Ex translatione Joannis Clerici, cum eiusdem paraphrasi perpetua, Commentario philologico, dissertationibus criticis quinque et tabulis chronologicis) Huets Leugnung der Erhabenheit der Genesis. Im Hintergrund steht hier offenbar der arminianische Geist der freien Schriftauslegung mit seiner Ablehnung der orthodox-protestantischen Verbalinspirationslehre. 61 Vgl. D. TILL: aaO. 197. 62 Trotz der Abgrenzung gegenüber dem stile sublime scheut sich Boileau nicht, vom sublime dans le stile (Réfl. X 550) zu sprechen. 63 Réfl. X 547 und öfter. 57
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
fait quelquefois la sublimité«64. Um diese These zu belegen, bleibt Boileau nichts übrig, als sich auf die unbestreitbare Wirkung zu berufen, den die von ihm angeführten Beispiele schlichter Erhabenheit bei jedermann auslösen: auf jene immer wieder geltend gemachte wunderbare Kraft des Erhabenen, die Gemüter mitzureißen. Was andererseits die inhaltliche Seite des Erhabenen angeht, bezieht sich Boileau im selben Zusammenhang auf die in Anlehnung an Longins erste Quelle konzipierte Kategorie des ›Erhabenen in den Gedanken‹65: auf das Sublime, »qui vient de la grandeur de la pensée«66. Dabei scheint die »sublimité dans les pensées« nicht identisch zu sein mit der Erhabenheit des darzustellenden Gegenstandes als solchem – das wäre die Position Huets –, sondern es sind eben die durch die spezifische Darstellung des Gegenstandes aufgerufenen »Gedanken«, welche die Erhabenheit der jeweiligen Darstellung grundlegend konstituieren.67 In dem fraglichen Kapitel des Traité etwa ist es das von Homer inszenierte Schweigen des Aias, das laut Boileau/Longin eine unfassbare »grandeur de courage«68 sichtbar macht. Nichts deutet dabei darauf hin, dass der erhabene Stoff, eben der Heroismus des Aias bzw. der beim Leser durch Homers Darstellung geweckte erhabene Gedanke von dessen Heldentum, für Boileau keine zentrale Bedeutung hätte. Es ist demnach höchst einseitig, im Blick auf Boileau eine »wirkungsästhetisch profilierte Definition des Erhabenen« hervorzukehren und sie gegen eine »Ausrichtung des Sublimen im Sinne heroisch-erhabener ›grandeur‹« und damit gegen ein auch inhaltlich bestimmtes Verständnis von Erhabenheit auszuspielen.69 Was Zelle als »subjektive Bestimmung« einer »objektiven Definition«70 des Erhabenen entgegensetzt, sind vielmehr verschiedene Seiten eines in sich zusammenhängenden Phänomens. Diesen Zusammenhang bringt sehr gut die Definition aus der Réflexion XII zum Ausdruck, in der die eigentümliche Wirkung des Erhabenen mit deren Ursachen gekoppelt wird, wobei innerhalb der Ursachen, die in freier
64
Réfl. X 547. Bereits D. TILL hat darauf hingewiesen, dass der Longin-Übersetzer den Abschnitt über die erste Quelle des hypsos mit einer gesonderten Überschrift »De la Sublimité dans les pensées« (Chap. VII) »besonders hervor[hebt]« und »diesen Typus des Erhabenen damit zu einer eigenständigen Kategorie [macht]« (aaO. 199). Die betreffende erste ist laut Traité unter den fünf Quellen des Erhabenen »la premiere et la plus considerable« (Tr. 351). 66 Réfl. X 547f. 67 Vgl. zur Differenzierung zwischen dem erhabenen Gedanken und seinem Gegenstand unten Kap. 3.4.2. 68 Tr. 351. 69 C. ZELLE: Die doppelte Ästhetik, 124. 70 AaO. 125. 65
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Anlehnung an das Fünf-Quellen-Schema Longins formuliert sind, wiederum inhaltliche und formale Elemente nebeneinanderstehen: Le Sublime est une certaine force de discours, propre à eslever et à ravir l’Ame, et qui provient ou de la grandeur de la pensée et de la noblesse du sentiment, ou de la magnificence des paroles, ou du tour harmonieux, vif et animé de l’expression; c’est-à-dire d’une de ces choses regardées separément, ou ce qui fait le parfait Sublime, de ces trois choses jointes ensemble.71
Das Erhabene ist eine bestimmte Kraft der Rede, geeignet, die Seele zu erheben und zu entzücken. Sie rührt her entweder von der Größe des Gedankens und dem Adel der Empfindung oder von der Pracht der Worte oder von der harmonischen Periode, lebendig und beseelt im Ausdruck; nämlich aus einer dieser Dinge je für sich, oder – was das vollkommene Erhabene ergibt – aus einer Verbindung aller drei.
Was den Inhaltsaspekt betrifft, dürfte bereits klar geworden sein, welches Sujet für Boileau in besonderem Maße für die ›Erhabenheit in den Gedanken‹ infrage kommt, was ihm also bei den Wendungen von der grandeur de la pensée und der noblesse du sentiment in erster Linie vorschwebt. So präsentiert er – den antiken Traktat Peri Hypsous vor Augen – vornehmlich Exempel aus der Sphäre des Ethischen, genauer: des Heroischen, um dem Leser sein Literaturideal nahezubringen, und an einer Stelle legt er die inhaltliche Dimension des Erhabenen geradezu auf ein bestimmtes Thema aus diesem Bereich fest: »les grands Hommes, à qui il eschappe [!] de dire des choses grandes et extraordinaires«72. Als Beispiel eines solchen großen Ausspruchs eines großen Mannes wird ein (bei Longin73 und Boileau ohne Angabe des Autors zitiertes) Wort Alexanders des Großen angeführt,74 das sich trotz bzw. wegen seiner immensen sprachlichen Schlichtheit und Kürze dadurch auszeichnet, »que toute la grandeur de l’ame d’Alexandre s’y fait voir«75. Boileau greift mit der Wendung von der grandeur de l’ame offensichtlich die tugendethische Leitidee von Longins Erhabenheitstheorie auf. Gemeint ist der im ersten Teil der vorliegenden Arbeit ausführlich erörterte Begriff der megalophrosynê, den Boileau im Traité in Anlehnung an dessen lateinisches Äquivalent (magnanimitas oder magnitudo animi) mit eben jener Wendung wiedergibt.76 Es ist die Darstellung von heroischer Seelengröße, die 71
Réfl. XII 562f. Réfl. X 548. Bei dieser Formulierung handelt es sich um ein fast wörtliches Zitat aus dem Traité; vgl. 351: »grands Hommes qu’il échappe de dire des choses extraordinaires«. 73 Im longinischen Original (De subl. 9,4) ist die Stelle nur fragmentarisch überliefert. 74 Vgl. Réfl. X 548. 75 Ebd. 76 Tr. 351. Der Bezug auf Longins Grundthese vom Erhabenen als ›Widerhall von Seelengröße‹ wird besonders deutlich, wenn man in Betracht zieht, dass das fragliche Alexander-Wort im Traité im unmittelbaren Zusammenhang jener These fällt, die in Boileaus 72
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Boileau mit Longin als wesentliche Quelle der ›Erhabenheit in den Gedanken‹ ansieht. Neben den beiden genannten Beispielen aus Peri Hypsous – der Ausspruch des Alexander und das Schweigen des Aias – führt Boileau in späteren Texten77 auch zwei moderne Musterstellen für das Heroisch-Erhabene an. Er hat sie aller Wahrscheinlichkeit nach Dominique Bouhours’ (1628– 1702) La Manière de bien penser dans les Ouvrages d’esprit (1687) entnommen. Bouhours hatte, seinerseits unter dem Einfluss des Traité,78 als einen Grundtyp der erhabenen Gedanken »la pensée d’un homme généreux & magnanime« genannt, um daraufhin das berühmt gewordene Qu’il mourût aus Corneilles Horace und das Moi aus dessen Medée als Muster der Darstellung heroischer Größe vorzuführen.79 Wie das marginale lateinische Zitat aus Gabriel de Petras Longin-Übersetzung zeigt, hat auch Bouhours Longins These von der Erhabenheit als Widerhall von Seelengröße80 vor Augen, wenn er das Qu’il mourût des Horatius als Ausdruck einer typischen »génerosité Romaine«81 und das Moi der Medea als Äußerung stolzer Größe (von grandeur und orgueil)82 apostrophiert. Dieser Seitenblick auf Bouhours soll als Beleg dafür dienen, dass die poetologische Anknüpfung an Longins tugendethische Zentralthese im Sinne einer Poetologie des Heroischen im französischen Klassizismus offenbar einigermaßen nahelag. Boileau jedenfalls deutet das Qu’il mourût aus dem Horace ebenso als Expression von grandeur heroique: Cependant il n’y a personne qui ne sente la grandeur heroique qui est renfermée dans ce mot, Qu’il mourût, qui est d’autant plus sublime, qu’il est simple et naturel, et que par là on voit que c’est du fond du cœur, que parle ce vieux Heros, et dans les transports d’une colere vraiment Romaine.83
Indessen gibt es niemanden, der nicht die heroische Größe empfindet, die in dem Wort ›Qu’il mourût‹ enthalten ist, das umso erhabener ist, als es schlicht und natürlich ist und man dadurch sieht, dass es vom Grunde des Herzens stammt, was dieser alte Held spricht, und dass es im Ausbruch eines wahrhaft römischen Zorns gesagt ist.
Übertragung besagt, »que cette Elevation d’esprit« – also die Erhebung zu erhabenen Gedanken – »estoit une image de la grandeur d’ame« (ebd). Vgl. dazu oben Teil I/Kap. 3.2. 77 Nämlich in der letzten Fassung der Préface und in der zehnten der Refléxions critiques. 78 D. BOUHOURS zitiert im Zusammenhang des Beispiels vom Schweigen des Ajax Boileaus Übersetzung: »ce silence a je ne sçay quoy de plus grand que tout ce qu’il auroit pu dire« (La manière de bien penser dans les ouvrages d’esprit, 168; vgl. Tr. 351). Vgl. zu Bouhours S. HACHE: La Langue du ciel, 86ff. 79 Vgl. D. BOUHOURS: aaO. 174f. 80 Vgl. aaO. 168: »imago, quae animi magnitudinem referat«. 81 AaO. 174. 82 AaO. 175. 83 Préf. 340.
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Boileaus Beschreibung der Corneille’schen Szene kommt dem sehr nahe, was in der Peri-Hypsous-Interpretation der vorliegenden Arbeit als das longinische Konzept des Pathetisch-Erhabenen rekonstruiert wurde. Im Moment des Affekts offenbart der Held in einem höchst knappen Ausspruch seine in der Tiefe des Gemüts gründende Größe.84 Dabei ist die Einfachheit und Natürlichkeit des Ausdrucks ein maßgebliches Mittel, um den Eindruck heroischer Gesinnung zu steigern bzw. zu erzielen. »Ainsi c’est la simplicité mesme de ce mot qui en fait la grandeur.«85 Der erhabene Ausdruck ist eine Funktion des darzustellenden Inhalts, dessen lebendige Darstellung der Grund der erhabenen Wirkung ist, der Empfindung heroischer Größe.86 Die genannten Beispiele und Zitate mögen genügen, um zu belegen, dass das Heroische für Boileau ein vorzüglicher Fundus der ›Erhabenheit in den Gedanken‹ darstellt.87 Das Sublime konstituiert sich zu einem wesentlichen Teil in der Darstellung heroischer Seelengröße, womit es seiner inhaltlichen Seite nach eine sehr konkrete Bestimmung erhält. Boileau erweist sich mit diesem Konzept des Erhabenen als treuer Schüler Longins, und er hat damit großen Einfluss ausgeübt. Diese noch näher zu dokumentierende Feststellung gilt ungeachtet des Sachverhalts, dass das Heroisch-Erhabene in der Literatur zur Geschichte des Sublimen eine untergeordnete Rolle spielt.88 Bei Zelle ist die Abdrängung des Heroisch-Erhabenen bedingt durch die entschiedene Fokussierung auf das »subjektive Element«, also die wirkungsästhetische Seite des Sublimen, von der bereits die Rede war. Es machen sich hier aber auch noch andere Prämissen der Literatur- bzw. Ästhetikgeschichtsschreibung geltend, die mit dem Vorgenannten eng zusammenhängen. Zelle bringt die Renaissance des Erhabenen um 1700 nämlich nicht nur mit einer Tendenz zur Subjektivierung der Poetik im 18. Jahrhundert in Verbindung, sondern auch mit dem zugleich sich vollziehenden Prozess »der Entflech-
84
Dazu M. FUMAROLI: L’héroisme cornélien et l’idéal de la magnanimité. Préf. 340. 86 C. ZELLE räumt für Bouhours ein, was er Boileau unzutreffenderweise abspricht: »Für Bouhours steht das ›Qu’il mourust‹ des Horatius für einen Ausdruck der Großmut« (Die doppelte Ästhetik, 56). 87 Vgl. etwa auch N. BOILEAU: Discours sur l’Ode, 228: »J’ay pris pour sujet la prise de Namur, comme la plus grande action de guerre qui se soit faite de nos jours, et comme la matiere la plus propre à échauffer l’imagination d’un Poëte.« Vgl. ferner die neunte der Réflexions critique über die »noblesse du mœurs«. 88 Für C. ZELLE etwa fallen entsprechende Konzeptionen schlicht gegenüber dem Niveau der avancierten Theorie ab – einer Theorie, für die Boileau selbst verbucht wird, dessen Exempel zur Darstellung heroischer Größe einfach beiseite gesetzt werden mit der Bemerkung, es komme ihm »nicht in erster Linie« auf den inhaltlichen Aspekt an; vgl. Die doppelte Ästhetik, 123. 85
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tung der Sphären des Ethischen und Ästhetischen«89. Die These, mit dem Erhabenen gewinne das Nicht-Schöne, Entsetzliche ästhetische Valenz, so dass jenes als Motor einer Ästhetik des Schrecklichen fungiere, setzt voraus, dass der ästhetischen Bewertung des Schrecklichen keine moralischen Schranken gesetzt sind. In der Neuentdeckung des Erhabenen vollzieht sich nach Zelle die Emanzipation des Ästhetischen aus der Fremdbestimmung durch die Moral, und die Kunst gewinnt daher nicht zuletzt mit seiner Hilfe ihre Autonomie. Einem solch einfachen Junktim zwischen der Erhabenheitsrenaissance und dem Prozess der Ausdifferenzierung von Ethik und Ästhetik steht die Berücksichtigung der prominenten Rolle des Heroischen innerhalb der zeitgenössischen Theorien des Erhabenen klar entgegen. Denn insbesondere das Motiv der Seelengröße verleiht der ästhetischen Kategorie offensichtlich eine ethische Dimension. So bedeutet die Darstellung von heroischer Größe immerhin die Darstellung einer kardinalen Tugend, der magnanimité oder générosité, die in der Ethik des 17. und 18. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielt.90 Dabei deutet alles darauf hin, dass die Darstellung dieser Tugend nicht auf bloßen ästhetischen Lustgewinn abgestellt ist, sondern durchaus auf eine ethisch relevante Resonanz zielt. Bei Boileau wird das besagte Moment etwa an der Stelle der Longin-Übertragung deutlich, wonach die erhabenen Gedanken den Geist mit »einem gewissen edlen und großmütigen Stolz« erfüllen: »d’une certaine fierté noble et généreuse«91. Nach Longin/Boileau »nährt«92 das Erhabene durch die Darstellung von Seelengröße auch die Seele des Rezipienten und lässt sie gewissermaßen über sich selbst hinauswachsen. [I]l [sc. le veritablement sublime] esleve l’ame, et luy fait concevoir une plus haute opinion d’elle mesme, la remplissant de joye, et de je ne sçay quel noble orgueil…93
89
Es erhebt die Seele und lässt sie eine höhere Meinung von sich selbst gewinnen, indem sie sie mit Freude und mit ich weiß nicht was für einem edlen Stolz erfüllt…
C. ZELLE: Angenehmes Grauen, XV. Zum Beleg sei hier nur auf die Schlüsselstellung der générosité innerhalb von Descartes’ Affektenlehre hingewiesen, die die Grundlagen von dessen Ethik enthält, welche mindestens für den Rationalismus des 17. und 18. Jahrhunderts maßgebend war. Vgl. R. DESCARTES: Die Leidenschaften der Seele, 153ff; vgl. dazu J. ROHLS: Geschichte der Ethik, 329f. Vgl. ferner B. SAINT GIRONS: Fiat lux. Une philosophie du sublime, 441ff (›Du sublime de générosité chez Descartes‹). 91 Tr. 351. 92 Ebd.: nourir. 93 Tr. 348; vgl. Réfl. XII 562. 90
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Noch deutlicher als beim prominenten Longin-Übersetzer selbst prägen diese longinischen Motive einen anderen Traité du Sublime (1732). Der Parlamentsadvokat François Silvain hat die betreffende Schrift 1708 verfasst und Boileau gewidmet. Dieser Traité, der immerhin zwei Neuauflagen (1741 und 1763) erfuhr und der nach dem Urteil Lawrence Kerslakes innerhalb des 18. Jahrhunderts als »the most substantial and thorough discussion of the sublime written in French«94 zu gelten hat, ist von seinem Autor gewissermaßen als kritischer Kommentar des Boileau’schen Traité konzipiert, mit dem dezidierten Ziel, den Begriff des Sublimen klarer zu konturieren.95 Das Ergebnis ist tatsächlich ein sehr klares, nämlich entschieden ethisches Konzept des Erhabenen. Denn nach Silvain … de toutes les parties de la Rhétorique, il n’y en a point qui ait tant de rapport à la morale que celle-ci. Il n’y a rien qui soit plus capable de faire sentir à l’homme sa grandeur naturelle que le Sublime; non-seulement parce qu’il éleve l’ame, & qu’il la remplit d’une fierté noble, qui vient de la vertu & de la magnanimité; mais encore parce qu’il nous fait reconnoître que ce Sublime si merveilleux qui nous ravit, a sa principale source dans notre cœur.96
… gibt es unter allen Elementen der Rhetorik nichts, was so viel Bezug zur Moral hat wie dieses. Es gibt nichts, was besser in der Lage ist als das Erhabene, den Menschen seine natürliche Größe empfinden zu lassen; nicht nur weil es die Seele erhebt und sie mit einem edlen Stolz erfüllt, der von der Tugend und der Seelengröße herrührt; sondern weil es uns überdies erkennen lässt, dass dieses Erhabene, so wunderbar wie es uns ergreift, seine Hauptquelle in unserem Herzen hat.
Das Erhabene steht für Silvain paradigmatisch für den Zusammenhang zwischen dem Rhetorischen und dem Moralischen, also, modern gesprochen, zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen. Denn es zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es im Menschen die Empfindung seiner »natürlichen Größe« erweckt oder, wie es wenig später heißt, ein Bewusstsein »de l’excellence de notre nature«97. Diese charakteristische Wirkung des Erhabenen begründet Silvain offenbar ganz Longin-nah mit dem Theorem der Mitteilung von Hochsinnigkeit.98 Angesichts des Erhabenen – nämlich der erhabenen Darstellung von vertu und magnanimité99 – wird die Seele des 94
L. KERSLAKE: Essays on the Sublime. Analyses of French Writings on the Sublime from Boileau to La Harpe, 185. 95 Vgl. F. SILVAIN: Traité du Sublime, 1f. 96 AaO. 6f. 97 Vgl. aaO. 8: »Il seroit à souhaiter qu’on pût donner à tous les peuples, le goût de ce qui éleve l’ame & qui la remplit de ce généreux orgueil que les vertus héroïques, & le sentiment interieur de l’excellence de notre nature, devroient nous inspirer.« 98 Vgl. dazu oben Teil I/Kap. 4.1.2.4. 99 In Kap. XI des Traktats findet die Magnanimitas-These ihre tugendethische Entfaltung.
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
Lesers selbst zu »edlem Stolz« erhoben, wie Silvain in wörtlicher Übernahme aus Boileaus Longin-Übersetzung formuliert,100 gleichsam als hätte sie das Dargestellte selbst vollbracht. In dieser wunderbar-erhobenen Gestimmtheit kommt es nun aber außerdem, wie Silvain eigens hervorhebt, zu einem Bewusstsein einer selbiger Gestimmtheit innewohnenden Bedeutung für das Selbstverständnis des jeweiligen Menschen. Die erhabene Empfindung führt zur Reflexion auf ihren Ursprung »in unserem Herzen«, d.h. sie wird als Reflex der Beschaffenheit der eigenen Seele begriffen: Sich angesichts der Darstellung von Tugend und Großgesinntheit erhoben zu fühlen, offenbart die Hoheit der eigenen Seele. Man kann die gestufte Erfahrung des Sublimen, die in dem zitierten Satz auf das knappste geschildert wird, auch so beschreiben, dass die durch die erhabene Darstellung ausgelöste Empfindung, die mit Longin/Boileau als ›edler Stolz‹ bezeichnet wird, sich zum Bewusstsein der ihr innewohnenden Selbstbezüglichkeit, die im Begriff des Stolzes enthalten ist, entfaltet: eine zunächst noch unbestimmte Erhobenheitsempfindung wandelt sich zum ausdrücklichen »Stolz« auf die Hoheit des eigenen Wesens, die sich als der Grund für eben jene Erhobenheit angesichts von fremder Tugend und Hochgesinntheit zu erkennen gibt. Die ethische Leistung des Erhabenen besteht demnach in der Darstellung von Tugend und Seelengröße, vermittels derer beim Rezipienten eine entsprechende Hoheitsempfindung erweckt wird. Dabei überwindet das Sublime Silvain zufolge alle gegenläufigen Tendenzen im menschlichen Gemüt, das in der stetigen Flucht vor sich selbst alle Aufmerksamkeit auf sich selbst zu verlieren droht: L’homme se fuit incessamment, & semble n’estimer que ce qui est hors de soi. On ne doit donc pas perdre une occasion de la ramener à lui-même, afin de le convaincre, que de toutes ces choses qu’il admire, & qu’il recherche avec tant d’ardeur, il n’y en a aucune qui ne soit infiniment au-dessous de lui; & qu’après Dieu, il est lui-même le seul objet digne de ses soins.101
Der Mensch weicht sich beständig aus und scheint allein wertzuschätzen, was außerhalb seiner selbst liegt. Man darf folglich keine Gelegenheit auslassen, ihn zu sich selbst zurückzuführen, um ihn davon zu überzeugen, dass es unter allen Dingen, die er bewundert und die er mit solchem Eifer sucht, nichts gibt, was nicht unendlich unterhalb seiner stünde; und dass außer Gott er selbst der einzig würdige Gegenstand seiner Sorge ist.
Entgegen der Neigung zur Selbstvergessenheit wird der Mensch dank des Selbstbezuges der erhabenen Empfindung aufmerksam auf sich und seinen ureigenen Wert, so dass er sich auch wieder der notwendigen Selbstsorge widmet. Das Erhabene überwindet des Menschen Geringachtung seiner selbst und schafft in ihm mit dem Bewusstsein seiner natürlichen Vortreff100 101
Vgl. Tr. 351: »fierté noble«. Vgl. dazu oben Teil I/Kap. 2.2. F. SILVAIN: aaO. 7.
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lichkeit zugleich das Bewusstsein – so wird man die entsprechenden Andeutungen zu verstehen haben –, dass er sich um die tatsächliche Realisierung seiner wesenhaften Würde als vorzügliches Ziel seiner »Sorge« zu bemühen hat. Offenbar steht das Motiv der Seelengröße hier wie bei Cicero und bei Longin in einem inneren Zusammenhang mit dem Menschenwürdekonzept,102 und mithin gewinnt die ästhetische Kategorie des Erhabenen aufgrund der Verkopplung mit jenem Motiv eine schlechthin fundamentale ethische Tiefendimension. Angesichts solcher Gedanken kann von einer »Entflechtung von Ethik und Ästhetik«103 offenkundig nicht die Rede sein, vorausgesetzt, man verengt den Begriff des Ethischen nicht auf ein eindimensionales Bild von aufgeklärter »Moraldidaxe«104. Man kann die sichtbar gewordene ethische Dimension des Erhabenheitsbegriffs auch nicht als Produkt eines Moraldiskurses von einem »autonomen« ästhetischen Begriff des Sublimen abgrenzen, wie es sich vielleicht in Hinsicht auf René Rapins Schrift Du Grand ou du Sublime dans les moeurs et dans les différentes conditions des hommes (1686) nahelegt, die in diesem Zusammenhang auch näher zu untersuchen wäre.105 Denn dass Silvains Theorie tatsächlich eine poetologische Theorie mit ethischer Absicht ist, wird spätestens an seiner Definition des Erhabenen deutlich, deren einzelne Elemente im Fortgang des Traité entfaltet werden: Le Sublime est un discours d’un tour extraordinaire, qui par les plus nobles images, & par les plus grands sentimens, dont il fait sentir toute la noblesse par ce tour même d’expression, éleve l’ame au-dessus de ses idées ordinaires de grandeur, & qui la portant tout à coup avec admiration à ce qu’il y a de plus élevé dans la nature, la ravit, & lui donne une haute idée d’elle même.106
Das Erhabene ist eine Rede mittels einer außerordentlichen Wendung, die mit den edelsten Bildern und größten Empfindungen, deren ganzen Adel sie mit selbiger Ausdrucksweise spüren lässt, die Seele über ihre gewöhnlichen Ideen von Größe erhebt und die sie plötzlich in Bewunderung versetzt gegenüber dem, was es an Höherem in der Natur gibt, die sie entzückt und ihr eine hohe Idee ihrer selbst gibt.
Auch wenn in der zitierten Definition auf der inhaltlich-objektiven Seite das Motiv der Darstellung von Seelengröße zugunsten allgemeinerer Formulierungen (Adel, Größe, Höhe) zurücktritt – vor allem in Kap. XI wird die Tugend der magnanimité zur Erläuterung der ›großen Empfindungen‹ erneut ausführlich herangezogen –, ist auf der subjektiven Seite die ethisch 102
Vgl. dazu oben Teil I/Kap. 3.2. C. ZELLE: Angenehmes Grauen, XVI. 104 AaO. 39 und öfter. 105 Vgl. zu Rapin A. T. DELEHANTY: From Judgment to Sentiment, 160ff. 106 F. SILVAIN: Traité, 14. 103
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relevante Funktion des Erhabenen deutlich. Die Darstellung der in der außergewöhnlichen sprachlichen Wendung sich artikulierenden »grandeur des objets & des sentimens«107 zielt auf die seelenerhebende, plötzlich hinreißende Bewunderung des ungewöhnlich Hohen, die der bewundernden Seele am Ende ein Bewusstsein ihrer eigenen Hoheit eingibt. Ohne dass ihre einzelnen Elemente hier noch näher erläutert werden müssten, lässt sich an Silvains Definition erneut die innere Komplexität ablesen, die der von Longin und Boileau inspirierte Erhabenheitsbegriff Anfang des 18. Jahrhunderts erreichen kann. Es mag auch bereits an dieser Stelle vorausblickend notiert werden, dass die fragliche Definition in dieser Hinsicht für die Poetik des Erhabenen im 18. Jahrhundert als exemplarisch zu gelten hat, wenn auch die wenigsten Autoren ihr ähnlich vielschichtiges Verständnis des Sublimen auf eine vergleichbar präzise Formel bringen. Vor allem aber kommt es hier darauf an, dass Silvain mit seiner pointiert ethisch konturierten Theorie eine Dimension des Erhabenheitsbegriffs herausstellt, die in der Theoriegeschichte des gesamten 18. Jahrhunderts präsent bleibt. Es ist dies die bereits bei Boileau ausgewiesene ethische Dimension der rhetorischen, poetologischen bzw. ästhetischen Kategorie, die sich wesentlich der Nachwirkung des tugendethischen Leitmotivs von Peri Hypsous, dem Theorem vom Erhabenen als Mitteilung von Hochsinnigkeit, verdankt. Wie gezeigt wurde, kann sich diese Dimension sowohl auf der objektiven (Darstellung von heroischer Tugend und Seelengröße) wie auf der subjektiven Seite des Sublimen (Weckung von Seelengröße beim Rezipienten) zur Geltung bringen. Die betreffende ethische Komponente des Erhabenen erschließt ein zentrales Motiv der Tragödientheorie des 18. Jahrhunderts und eröffnet ein vertieftes Verständnis für die pädagogische Funktion, die dem Drama in der Aufklärungsepoche bis hin zu Lessing und Schiller beigemessen wird.108 Als eine Art Resümee der betreffenden ethischen Linie innerhalb der französischen Geschichte des Sublimen kann der einschlägige EncyclopédieArtikel (1765) von Louis Chevalier de Jaucourt (1704–1780) gelesen werden. Gerade in Anbetracht des Umstandes, dass man in diesem Artikel in keiner Weise eine eigenständige Theorie vorfindet, sondern lediglich »a patchwork of extracts«109 aus verschiedenen Autoren – hier sind unter anderem wiederum Boileau und Silvain zu nennen –, ist es bemerkenswert, dass sich in dieser Kompilation ein recht einheitliches Bild des Erhabenen ergibt, und zwar ein Bild mit durchgängig ethischer Kontur. In der Lektüre des 107
AaO. 18. Vgl. A. MEIER: Dramaturgie der Bewunderung. Untersuchungen zur politisch-klassizistischen Tragödie des 18. Jahrhunderts. 109 L. KERSLAKE: Essays, 419. 108
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Artikels vermittelt sich ein Verständnis des Sublimen, wonach es allgemein durch »[l]’expression d’une grandeur extraordinaire«110 zustande kommt. Als Beispiele solcher Größe werden fast ausschließlich Stellen aus Tragödien Corneilles vorgeführt, in denen sich »une grande ame« bzw. »l’ame sublime«111 darstellt. Solche Seelengröße (magnanimité)112 oder Tugend (vertu)113 manifestiert sich dem Artikel zufolge wiederum als grandeur du courage114, als orgueil115 oder générosité116, vor allem aber in Gestalt stoischer tranquillité117 angesichts von Gefahr und Tod. Die spezifische Wirkung solcher Darstellung gibt der Artikel immer wieder mit der Wendung von der ›Erhebung der Seele‹118 an. Angesichtes des Qu’il mourût des Horatius etwa bestehe diese Erhebung darin, »[que] nous trouvant pour un moment animés de la même grandeur que lui«119. Kurz: Es kommt beim Erhabenen auf die Darstellung »des sentimens héroïques«120 an, »qui transportent l’ame avec l’emotion héroïque du sublime«121. Entsprechend ist das Erhabene für de Jaucourt deshalb ein besonders reizvoller Gegenstand der Beschäftigung, … parce qu’elle [sc. cette matiere] annoblit le cœur, & qu’elle éleve l’ame au plus haut point de grandeur dont elle soit capable, & parce qu’enfin c’est le plus beau sujet de l’éloquence & de la poésie.122
… weil es [sc. dieser Gegenstand, also das Erhabene] das Herz veredelt, weil es die Seele zum höchsten Grad von Größe erhebt, den sie erreichen kann, und endlich weil es der schönste Gegenstand von Beredtsamkeit und Poesie ist.
1.1.3. Die numinose Wirkung des Sublimen Es ist nun neben dem dargetanen ethischen Aspekt des Sublimen, wie er bei Longin/Boileau grundgelegt ist, auf ein weiteres maßgebliches Moment hinzuweisen, das in der gängigen Literatur entschieden unterbelichtet bleibt. Dazu ist noch einmal auf Zelles These von Boileaus wirkungsästhetischer Profilierung des Erhabenen zurückzukommen. Dass ungeachtet möglicher Akzentverschiebungen gegenüber der klassizistischen Regelpoetik die Wir110
L. CHEVALIER DE JAUCOURT: Art. Sublime, 569. AaO. 568. 112 AaO. 570. 113 AaO. 568. 114 AaO. 566. 115 AaO. 567. 116 AaO. 568. 117 Ebd. 118 Vgl. aaO. 566, 567, 568, 570. 119 AaO. 567. 120 AaO. 570. 121 AaO. 569. 122 AaO. 571. 111
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kungsseite des Sublimen bei Boileau und seinen Nachfolgern nicht von dessen Inhaltsseite abgekoppelt werden kann, wurde bereits hervorgehoben. Darüber hinaus ist Zelles Charakterisierung dieser Wirkungsseite näher in Augenschein zu nehmen. Zelle rekurriert in diesem Zusammenhang auf Boileaus Bestimmung, »daß das Erhabene eine gewisse Kraft der Rede sei, die die Seele erhebt und mitreißt«123, aber er lässt in seinen diesbezüglichen Ausführungen das auch für die Boileau nachfolgende Geschichte des Erhabenen so wesentliche Moment der Seelenerhebung fallen, um sich in seiner Interpretation ganz auf die »mitreißende Wirkung«124 zu konzentrieren. Um das Erhabene als emotionalistische Gegenkategorie zum Schönen aufzubauen, fokussiert er mit Entschiedenheit die Heftigkeit der Affektwirkung, und so lässt sich das Ziel seines Interpretationsverfahrens trefflich mit einem Satz wiedergeben, der sich bei ihm auf Boileaus Gewährsmann Longin bezieht: »Gegenübergestellt werden das Schöne, das gefällt, und das Erhabene, das durch Macht und Gewalt hinreißt.«125 Hält man diese Formulierung neben die ethischen Wirkungsbestimmungen bei Boileau und seinen Erben, etwa neben die sprechende Wendung von der ›Erhebung der Seele‹ zu ›edlem Stolz‹, sticht die Diskrepanz klar ins Auge. Die Prämisse der Ausdifferenzierung von Kunst und Moral bringt sich offensichtlich nicht nur in Form einer Ausblendung der ethischen Inhalte des Erhabenen zur Geltung, sondern sie führt auch zu einer entsprechend reduzierten Sicht auf dessen psychischen Effekt, insofern alle qualitativen Momente desselben – womöglich aufgrund ihrer Nähe zum Ethischen – zugunsten der alleinigen Akzentuierung der Wirkungsintensität, die mangels Inhalt tendenziell ethisch indifferent ist, völlig aus dem Blick geraten. Dass Boileau die charakteristische Wirkung des Sublimen nicht allein in der besonderen Intensität des Effektes erblickt, dass er sich vielmehr auch um eine Näherbestimmung von dessen eigentümlicher Beschaffenheit bemüht, zeigen überdies Beschreibungen, die nicht ethisch konnotiert sind. Hier ist zunächst noch einmal das Motiv vom Je ne sais quoi zu nennen. Denn das besagte Motiv bringt nicht allein den produktionsästhetischen Sachverhalt regelhafter Unverfügbarkeit zum Ausdruck – dieser Punkt wurde oben bereits verhandelt –, sondern es ist vor allem hinsichtlich der wirkungsästhetischen Eigenart des fraglichen Phänomens äußerst aussagekräftig. So markiert das Je ne sais quoi eine »Dimension des Unbegreiflichen« in der Erfahrung des Erhabenen und verleiht ihr den Charakter der unbe-
123
C. ZELLE: Schönheit, 62 (Hvhg. M.F.). AaO. 60. 125 AaO. 62. 124
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stimmten Ahnung eines »geheimnisvollen Zaubers«.126 Diese Erfahrung expliziert Boileau etwa an einer schon im Traité du Sublime (XXV) angeführten Herodot-Stelle: On y sent toutefois une certaine force energique, qui marquant l’horreur de la chose qui y est enoncée, a je ne sçay quoy de sublime.127
Man empfindet hier gleichwohl [sc. trotz der äußerst schlichten Wortwahl Herodots] eine gewisse nachdrückliche Gewalt, die den Schrecken hervorhebt über das, was hier berichtet wird, und die zugleich etwas – ich weiß nicht was – Erhabenes an sich hat.
Am Beispiel einer schreckenerregenden Schilderung Herodots weist Boileau als Spezifikum des Erhabenen eine unbestimmte »Gewalt« aus und artikuliert mit der Formel vom je ne sais quoi de sublime dessen eigentümliche Unfassbarkeit und das entsprechende Verwunderungsmoment in der fraglichen Erfahrung. Eben dieses Moment der Verwunderung ob der ungreifbaren Präsenz des Erhabenen hebt bereits die Préface des Traité du Sublime hervor, wenn sie das Erhabene in einer abschließenden128 Definition als »l’Extraordinaire, le Surprenant, et […] le Merveilleux dans le discours«129 bestimmt. Mit der Kategorie des Erstaunlichen (surprenant) greift Boileau den in Peri Hypsous zentralen Begriff des thaumasion auf, akzentuiert ihn hier aber nicht vorwiegend im Sinne der Bewunderung des Außergewöhnlichen, Großen (ein Motiv, das bei Boileau mit dem Terminus admiration indessen auch durchgehend präsent ist), sondern im Sinne der Verwunderung oder des Staunens vor dem Unbegreiflichen. Indem er jener Kategorie zusätzlich den Begriff des Wunderbaren (merveilleux) zur Seite stellt, legt er der Erfahrung des Erhabenen vollends den Charakter der Ergriffenheit vom Geheimnisvollen bei, und angesichts des Umstandes, dass le Merveilleux im Titel des Traité130 als Wechselbegriff für le Sublime fungiert, kann davon ausgegangen werden, dass für den LonginÜbersetzer dieses Moment keinen Nebenaspekt innerhalb des Sublimen darstellt. Boileau kommt in der zehnten Longin-Reflexion von 1710 (veröffentlicht postum 1713) noch einmal auf den Begriff des Wunderbaren zurück und stellt heraus, … que le Sublime n’est pas proprement une chose qui se prouve et qui se demonstre; mais que c’est un Merveilleux
126
… dass das Erhabene nicht eigentlich etwas ist, was sich beweisen oder demonstrieren ließe; sondern dass es etwas
E. KÖHLER: Art. Je ne sais quoi, 642f. Réfl. X 550. 128 In der ersten Fassung von 1674 bildet diese Definition den Abschluss. 129 Préf. 338. 130 »Traité du sublime, ou du merveilleux dans le discours«. 127
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qui saisit, qui frappe, et qui se fait sentir.131
Wunderbares ist, welches ergreift, welches Eindruck macht und welches sich nur der Empfindung erschließt.
»Wunderbar« ist das Erhabene Boileau zufolge nicht zuletzt deshalb zu nennen, weil es im jeweiligen Text spürbar präsent ist, ohne sich dabei jedoch ausdrücklich aufweisen zu lassen. Es entzieht sich letztlich der rationalen Demonstration, insofern es nicht anhand bestimmter poetologischer Regeln dingfest gemacht werden kann, und lässt sich doch wie eine geheime Aura deutlich empfinden. Wie eine zauberische Kraft zeigt es sich allein in einer eigentümlichen Wirkung, in einem vage greifbaren Eindruck im Innersten des Gemüts, einem tiefen Ergriffensein. Derselbe Eindruck wird im folgenden Satz metaphorisch beschrieben als »une certaine elevation d’ame«132. Unbeschadet seiner inhaltlichen Seite zeigt sich das Erhabene sonach primär in einer »gewissen«, ungreifbar-wunderlichen Empfindung inneren Erhobenseins angesichts einer bestimmten sprachlichen Darstellung. Ohne auf den oben ausgewiesenen ethischen Begriff eines gesteigerten Selbstbewusstseins gebracht zu werden, behält die erhabenheitstypische ›Erhebung der Seele‹ hier etwas von eben jenem Charakter des Schwebend-Unbestimmten, der sich soeben als ein Spezifikum der erhabenen Wirkung ausweisen ließ, das über das Moment außerordentlicher Heftigkeit hinausreicht. Die Erfahrung des Erhabenen, so lässt sich nach alledem festhalten, zeichnet sich für Boileau nicht allein durch ein besonders intensives ästhetisches Erleben aus, sondern sie ist das intensive, aber gleichwohl ahnungshaft-ungreifbare Erlebnis eines wundersamen Erhobenseins angesichts einer Darstellung, in der sich dem staunenden Rezipienten ein geheimnisvoll-unfassbares Außerordentliches zeigt. In der Wirkung des Sublimen lassen sich also neben der enormen Intensität, die Longin einst in Erschütterungssemantik und Sturmmetaphorik zum Ausdruck brachte, mindestens zwei Komponenten namhaft machen, die ihre charakteristische Qualität beschreiben: Deren erste, das auf Longins thaumasion zurückweisende Moment des ahnungshaften Staunens ob des Unbestimmt-Geheimnisvollen, lässt sich am besten als Moment des Numinosen133 bezeichnen, während die zweite Komponente mit dem auf Longins platonisierendes Motiv vom Seelenaufschwung zurückgehende Metapher von der ›Erhebung der Seele‹ unübertroffen zum Ausdruck kommt. Ein vollständiger Begriff von Boileaus Bild 131
Réfl. X 546. Vgl. Tr. 341f. 133 Vgl. D. TILL: Das doppelte Erhabene, 205f: Boileau nimmt »eine Form der Erhabenheit« in den Blick, »die rhetorischem Kalkül gänzlich entzogen und in den Bereich des – quasi-›numinosen‹ – je ne sais quoi verschoben ist«. 132
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der erhabenen Empfindung entsteht demnach erst dann, wenn das Intensitäts-, das Numinositäts- und das Elevationsmoment zusammengenommen werden. Wie bereits deutlich wurde, kann das so beschriebene, zunächst wesenhaft unbestimmte Erlebnis in Ansätzen von Boileau und dezidierter von Silvain eine ethische Näherbestimmung erfahren. Aus der schaudernden Erhebung der Seele ob einer geheimnisvollen Aura des Außerordentlichen wird die Erhebung zum Selbstbewusstsein eigener Hoheit. An den zuletzt interpretierten Äußerungen Boileaus fallen indessen nicht nur ethische, sondern auch religiöse Konnotationen auf. Die Wirkung des Erhabenen, gefasst als Erhebung der Seele angesichts einer geheimnisvollen Aura oder Kraft, weist allem Anschein nach Züge religiösen Erlebens auf. Die fraglichen Anklänge lassen sich schlaglichtartig an Boileaus zentralen wirkungsästhetischen Bestimmungen dartun. Ähnlich wie beim ›Wunderbaren‹ liegt die Nähe zur religiösen Vorstellungswelt bei der Metapher von der ›Erhebung der Seele‹ auf der Hand. So ist die nämliche Metapher, die, wie oben gezeigt worden ist,134 auf Platons metaphysische Gleichnisrede vom Aufschwung in die Sphäre des Idealen, Überwirklichen, Göttlichen zurückführt, etwa von Origenes als Wesensmerkmal des Gebets ausgewiesen worden.135 Aber auch die Wendung vom Je ne sais quoi hat begriffsgeschichtliche Wurzeln in der Sphäre der Religion. So hallt in der Formel nicht nur eine »eher psychologisch-ästhetisch orientierte« Tradition nach, für die beispielsweise Ciceros Formulierung nescio quid praeclarum ac singulare stehen kann, sondern auch eine »psychologisch-theologische«, die bei Augustin beginnt und von da aus besonders in der mittelalterlichen Mystik Resonanz findet.136 Die Erfahrung eines nescio quid magnum et divinum (Augustin)137 wird bei Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz zum »Inbegriff mystischer Ekstase«138, um etwa bei Dominique Bouhours im Kontext des Geniebegriffs in der Wendung je ne sais quoi de divin139 nachzuklingen. Indem Boileau die erhabene Empfindung als seelenerhebende Ahnung einer wunderbaren Kraft begreift, stellt er sie sonach anscheinend – bewusst oder unbewusst – in eine gewisse Nähe zum Erlebnis des Heiligen, für das eine entsprechende Numinositäts- und Elevationsdimension wesentlich ist.
134
S.o. Teil I/Kap. 2.2. Vgl. Orig. De or. IX, 2; vgl. P. HEIDRICH: Art. Erhebung. 136 E. KÖHLER: aaO. 640. 137 Aug. conf. IV, 16. 138 Vgl. zu den antiken Wurzeln des Begriffs E. KÖHLER: Art. Je ne sais quoi, 640. 139 Zit. n. E. KÖHLER: aaO. 643. 135
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1.1.4. Religiöse und theologische Implikationen des Sublimen Der beschriebene Eindruck einer Affinität des Erhabenen zur Sphäre der Religion lässt sich an Boileaus Ausführungen zum Sublimen weiter erhärten. So bezieht sich die bereits zitierte Passage aus der zehnten Longin-Reflexion über die Empfindung des ›Wunderbaren‹ und die ›Erhebung der Seele‹ ausdrücklich auf einen religiösen Text, nämlich auf das von Longin gepriesene Fiat lux der biblischen Genesis. Von ebendiesen berühmten Worten heißt es, sie könnten nicht angehört werden, ohne »eine gewisse Erhebung der Seele zu erregen«140. Angesichts des biblischen Bezuges liegt die Vermutung nahe, dass Boileau selbst den Topos der Seelenerhebung mit der Sphäre religiösen Erlebens assoziiert. Von derselben Bibelstelle wird bereits in der Préface zur Longin-Übersetzung von 1674 konstatiert: Ce tour extraordinaire d’expression qui marque si bien l’obeissance de la Creature aux ordres du Createur, est veritablement sublime, et a quelques chose de divin.141
Diese außerordentliche Ausdrucksweise, die so gut den Gehorsam des Geschaffenen gegenüber den Befehlen des Schöpfers zeichnet, ist wahrhaft erhaben und hat etwas gewisses Göttliches an sich.
Der Rekurs auf die Genesis und die Wendung vom quelques chose de divin verleiht dem Erhabenen und seiner geheimnisvollen Resonanz in den Seelen im betreffenden Zusammenhang eine deutlich religiöse Färbung. Denn es ist die unvergleichliche Schilderung des göttlichen Befehls und seiner Wirkung, welche die Seele erhebt und welcher daher selbst von Boileau »etwas gewisses Göttliches«, eine Art göttlicher Kraft zugeschrieben wird. Andererseits gibt die zögernde Formulierung zu erkennen, dass das Sublime auch nicht einfach mit einem religiösen Phänomen identifiziert wird. Vielmehr bleibt es eigentümlich in der Schwebe zwischen dem Ästhetischen und dem Religiösen. Der Umstand, dass die Literatur zu Boileau über den dargelegten religiösen Einschlag des Erhabenen kaum etwas zu sagen weiß, mag zu dem Schluss verleiten, dass es sich hierbei um ein peripheres Moment innerhalb der einschlägigen Texte handele. Von einer solchen Randständigkeit kann aber keine Rede sein. Das deutet schon die Tatsache an, dass in der ersten Auflage der Préface zum Traité du Sublime von 1674 das genannte Bibelzitat das einzige Beispiel zur Erläuterung dessen ist, was unter dem Sublimen zu verstehen sei, während die oben genannten Beispiele für das Heroisch-Erhabene erst in den Auflagen nach 1694 hinzukommen. Es betraf daher anscheinend nicht die Peripherie von Boileaus Konzept des Sublimen, wenn fünf Jahre nach Erscheinen des Traité der Jesuit Pierre140 141
Vgl. Réfl. X 546: »excite[r] […] une certaine elevation (!) d’ame«. Préf. 338.
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Daniel Huet in seiner Demonstratio evangelica (1679) just die Erhabenheit der Genesis-Stelle leugnete. Jedenfalls antwortete Boileau auf diesen publizistischen Angriff (nach einer ersten Reaktion in der Version der Préface von 1683) schließlich in seiner ausführlichsten Abhandlung zum Erhabenen, nämlich in der schon des öfteren zitierten Réflexion X (1713 postum veröffentlicht). In der damit angesprochenen Querelle du fiat lux142 nimmt Boileaus Konzept des Sublimen stellenweise ein religiöses Gepräge an, das über die Anklänge in der Vorstellung der numinosen Erhebung der Seele noch deutlich hinausgeht. So findet sich in der Vorrede des Traité du sublime in der Version von 1683, die bereits auf Huets Bestreitung der Erhabenheit des Genesiszitats reagiert, ein interessanter Bezug auf die These des jansenistischen Theologen Louis Isaac le Maistre (genannt de Sacy), die Erhabenheit der Genesis erweise deren Inspiriertheit durch den Heiligen Geist. De Sacy hatte 1672 als ersten Teil des Bibelübersetzungsprojekts von Port-Royal La Genèse traduite en françois veröffentlicht. In seiner der Neuauflage von 1682 als Vorrede hinzugefügten Idée générale de l’ecriture sainte hatte er sich unter dem Titel ›Simplicité sublime de l’Ecriture‹ auf Longin bezogen und hatte ausführlich aus dem einschlägigen siebten Kapitel der Boileau’schen Longin-Übersetzung zitiert. Ein solch ausführliches Longin- bzw. BoileauZitat in der Vorrede einer Bibelübersetzung ist bemerkenswert. Noch bemerkenswerter ist es, dass und in welcher Weise der große Literaturkritiker wiederum auf die theologische Inanspruchnahme »seines« Traité du Sublime rekurriert. Boileaus Zusammenfassung zufolge wird die einschlägige Longin-Passage – neben anderen »exzellenten Beweisen« – bei de Sacy angeführt, … pour montrer combien les Chrestiens doivent estre persuadez d’un verité si claire, et qu’on Payen même a sentie par les seules lumières de la raison.143
… um zu zeigen, wie sehr die Christen von einer so klaren Wahrheit überzeugt sein können, die man selbst als Heide allein aufgrund des Lichts der Vernunft empfunden hat.
De Sacy wertet die Einsicht in die Erhabenheit der mosaischen Schöpfungserzählung als hinreichenden Grund für eine unabhängig von persönlichem Glauben zu gewinnende Überzeugung von deren göttlichem Ursprung – und Boileau leuchtet diese Bewertung offenbar ein. Ganz gegen die Erwartung taucht im poetologischen Kontext der dogmatische Topos der Schriftinspiration auf – und wieder handelt es sich dabei nicht um eine Randbemerkung. Denn gewissermaßen im Sinne einer nachträglichen Begründung der steilen These, ihre Erhabenheit belege objektiv die Eingebung der bibli142 143
Vgl. dazu D. TILL: aaO. 193ff. Préf. 339.
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schen Texte durch den Heiligen Geist, beruft sich Boileau in der zehnten Réflexion noch einmal auf das Inspirationsdogma. So bescheidet er die Erwägungen des Gegners, ob sich Mose bei der Verfassung der Heiligen Schrift rhetorischer Kunstgriffe bedient habe oder nicht, mit der Auskunft: Asseurément Moyse n’y a point pensé; mais l’Esprit Divin qui l’inspiroit y a pensé pour luy, et les y a mises en œuvre, avec d’autant plus d’art, qu’on ne s’aperçoit point qu’il y ait aucun art.144
Sicher hat Mose hier überhaupt nicht gedacht, sondern der göttliche Geist, der ihn inspiriert hat, hat für ihn gedacht, und es gibt hier Ausführungen, die umso mehr Kunst haben, je weniger man merkt, dass es da irgendeine Kunst gibt.
Der Genesisanfang ist in seiner Verbindung von Kunstlosigkeit und Kunst, in seinem Verzicht auf »falschen Schmuck« und »leeren Pomp«, der der Wirkung gleichwohl keinen Abbruch tut, von solcher Art, »que le Livre de Moyse est en mesme temps le plus eloquent, le plus sublime, et le plus simple de tous les Livres«145. Das Einzigartige an der biblischen Genesis ist ihr unvergleichliches, kunstvoll-kunstloses Ineins von Einfachheit und Majestät, und daher ist sie in solchem Maße erhaben, dass, so die unausgesprochene Conclusio, eigentlich nur der Heilige Geist als Autor derselben infrage kommt. Mag das Erhabene grundsätzlich eine außerordentliche Qualität menschlicher Sprachkunstwerke bezeichnen – in seiner höchsten Perfektion übersteigt es menschliche Möglichkeiten und weist auf einen göttlichen Sprecher hin. In eine ähnliche Richtung geht eine Äußerung aus Boileaus Discours sur l’Ode (1693) über »das Erhabene der Psalmen Davids«, wonach es der »schönen Unordnung«, die den ekstatischen Zustand des menschlichen Dichters anzeigt,146 zukommt, »à en faire sentir la Divinité«147. Mit der christlichen Umdeutung der platonisch-longinischen Figur des ›Enthusiasmus‹ durch die Einführung des Heiligen Geistes zielt Boileau darauf ab, den erhabenen Eindruck der biblischen Worte auch produktionsästhetisch, genauer: »produktionstheologisch« plausibel zu machen. Das Erhabene wirkt, sei es aufgrund der übermenschlichen Vereinigung von Einfachheit und Majestät, sei es aufgrund der auf den übernatürlichen Zustand des menschli144
Réfl. X 554. Ebd. 146 Vgl. N. BOILEAU: Discours, 227: »… pour marquer un esprit entierement hors de soy«. Das Changieren zwischen antikem Enthusiasmus- und christlichem Inspirationsmotiv zeigt sich daran, dass hier Gleiches von David wie von Pindar gesagt wird. Vgl. L’art poetique I,1–6: »C’est en vain qu’au Parnasse un temeraire Auteur / Pense de l’Art des vers atteindre la hauteur; / S’il ne sent point du Ciel l’influence secrette, / Si son astre en naissant ne l’a formé Poëte. / Dans son genie estroit il est toûjours captif: / Pour lui Phebus est sourd, & Pegaze est retif«. 147 Ebd. 145
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chen Sprechers verweisenden Abweichung von der natürlichen Wortfolge, eine Empfindung der Gottheit und lässt auf die göttliche Entstehung der Bibel rückschließen. Es fungiert sonach als Begriff einer Rede, die gewissermaßen den göttlichen Sprecher durch das Gewebe der menschlichen Worte hindurchscheinen lässt. Es ist in Anbetracht einer solch überdeutlichen religiösen bzw. theologischen Inanspruchnahme des Sublimen erstaunlich, wie wenig Beachtung die Literatur zur Geschichte des Erhabenen diesem Aspekt geschenkt hat. Zwar wird selbstverständlich überall die Debatte mit Huet und die Rolle von Gen 1,3 erwähnt, es werden aber keinerlei Schlüsse hinsichtlich der religiösen Implikationen dieses Diskurses für die Signatur des infrage stehenden Begriffes gezogen. »Boileau defends his theory, gives other illustrations, and […] tends more and more to insist on simplicity of expression for the sublime«148, resümmiert Monk den Ertrag der gegen Huet und Le Clerc gerichteten Réflexions. Bei Litman findet sich immerhin eine relativ eingehende Auslegung von Boileaus Interpretation des Genesiszitats, in der etwa auch die von diesem behauptete Empfindung der »présence extraordinaire de Dieu«149 zur Sprache kommt. Litman fasst die von Boileau namhaft gemachte religiöse Dimension des Erhabenen im Sinne einer textlichen Manifestation göttlicher Gegenwart auf. Diese religiöse Dimension gerät dann aber wieder aus dem Blick, wenn Litman am Ende aus alledem lediglich zwei recht allgemeine Qualitäten des Erhabenen ableitet, nämlich zum einen das Merkmal der Einfachheit und Natürlichkeit und zum andern die Eigenschaft, »par la grandeur du sentiment«150 hinzureißen und zu erheben. Im Blick auf die Auseinandersetzung mit Huet hält Litman des weiteren fest, dass die Frage der Erhabenheit des Fiat lux »était étroitement liée au problème religieux«151, aber diese Einsicht schlägt sich in der Rekonstruktion von Boileaus Begriff des Sublimen nicht weiter nieder. Im Übrigen werden die bibelhermeneutischen Bezüge von Boileaus Erhabenem mitunter auch dezidiert als Indiz eines religiösen Bedeutungsschwundes gedeutet: »In dem Maße […], in dem die Bibel als Beispielsammlung erhabener Dichtung ästhetisiert wird«, heißt es bei Zelle, »verliert sie […] ihren sakralen Offenbarungscharakter.«152 Hintergrund dieses Urteils ist offenbar die Perspektive eines einfachen Säkularisierungsparadigmas, welche die Wahrnehmung religiöser Aspekte in der neuzeitlichen Kulturgeschichte häufig steuert – worauf an anderer Stelle noch näher einzugehen ist.153 148
S. A. MONK: The Sublime, 34. TH. A. LITMAN: Le Sublime, 75. 150 Ebd. 151 AaO. 79. 152 C. ZELLE: Die doppelte Ästhetik, 108f. 153 S.u. Kap. 3.1. 149
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Ausführlichere Würdigung erfahren die religiösen und theologischen Implikationen von Boileaus Erhabenheitsbegriff in der neuesten Literatur. Bereits für N. Cronk ist es im Blick auf die Querelle du fiat lux »significant to note that Boileau’s staunchest support comes from those Ancients most eminent as theologians«, also, neben de Sacy, von Männern wie Fénelon und Fleury. Cronk zufolge erklärt sich dieser Umstand aus Boileaus Fassung des fraglichen Begriffs: »Boileau’s sublime may not be a moral term as such, but it is a literary term with definite moral underpinning.«154 Das theologische Interesse am Erhabenen muss Anhalt an Boileaus Konzept haben. Offenbar hat demnach die poetologische Kategorie beim französischen Kritikerpapst einen im weitesten Sinne »moralischen« Unterbau, gewissermaßen eine das geistige Leben des Menschen betreffende Tiefendimension. Diese hellsichtige Einschätzung wird bei Cronk selbst freilich nicht weiter entfaltet, und so kann er wenig später hinsichtlich der Auseinandersetzung zwischen Boileau und Huet feststellen: »The exchange did not produce arguments of great significance«155. Anders scheinen Kerslake und Till zu urteilen, die besagtem »Austausch« sehr umfängliche Darstellungen widmen. Dabei notiert Till – ähnlich wie Cronk –, dass der Streit in einer religiösen bzw. theologischen Dimension von Boileaus Auffassung des Erhabenen seinen Anhaltspunkt hat, nämlich in dessen »nachhaltige[r] Pointierung des ›numinos‹-göttlichen Charakters erhabenen Sprechens«156, die – wiederum aus theologischen Gründen – Kritik auf sich gezogen habe. Den Kernpunkt des Streits macht Till in der »Frage nach der mosaischen Autorschaft des Pentateuch«157 aus. Das Entscheidende dürfte hier eher Kerslake getroffen haben, der als das Schlüsselthema der Querelle du fiat lux das Problem der Repräsentation Gottes in menschlicher Sprache identifiziert. Die Auseinandersetzung zwischen Boileau und Huet (samt Le Clerc) dreht sich wesentlich um die Frage, ob und gegebenenfalls wie die Attribuierung des biblischen Textes als ›erhaben‹ zu-
154
N. CRONK: The Classical Sublime, 131. AaO. 132. 156 D. TILL: Das doppelte Erhabene, 202. Auch Till geht, abgesehen von dem Verweis auf das Je-ne-sais-quoi-Motiv (205f), nicht weiter auf diese religiöse Pointierung ein. 157 AaO. 194. »Im Kern der Kontroverse geht es um die theologische Frage, wer das fiat lux spricht« (ebd.). Tatsächlich spielt diese Frage eine Rolle, insofern Boileau darauf insistiert, dass der eigentliche Sprecher der Bibel und mithin des Fiat lux der Heilige Geist sei. Es ist weniger die historische Bestreitung der mosaischen Autorschaft durch Spinoza, die hier zur Debatte steht, wie Till annimmt (195), sondern die dogmatische Lehre der Schriftinspiration. Hier nimmt der dem Jansenismus von Port Royal nahestehende Boileau mit de Sacy gegenüber dem Jesuiten Huet auf der einen und dem Arminianer Le Clerc auf der anderen Seite offenbar eine annähernd orthodox-protestantische Position ein. 155
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sammengeht mit dem Bewusstsein »concerning the total inability of any human being to conceive or express the divine«158. Huet hatte jene Attribuierung nicht nur aus stilkritischen, sondern auch aus theologischen Gründen abgelehnt. Er konnte im Fiat lux nicht nur faktisch keine Merkmale erhabener Sprachformung entdecken, sondern solche Merkmale waren vom göttlichen Wort seiner Ansicht nach a priori auszuschließen. Denn unter der Voraussetzung, dass sprachliche Erhabenheit immer auf die Kunst rhetorischer Steigerung zurückzuführen sei, bedeutete erhabenes Reden von Gott immer den Versuch, sich des schlechthin Transzendenten sprachlich zu bemächtigen und dabei dessen unendliche Würde doch notwendigerweise zu verfehlen. Jede erhabene Rede von Gott ist für Huet daher »un discours qui avilit infiniment et déshonore son sujet«159, und die doppelte Behauptung aus dem Traité du Sublime, Mose habe Gott am Anfang der Genesis in seiner Größe recht begriffen und würdig dargestellt – »ayant fort bien conçu la grandeur et la puissance de Dieu, l’a exprimée dans toute sa dignité«160 –, ist für ihn daher schlicht als »error Longini«161 zu werten. Für den fraglichen höchst-erhabenen »Gegenstand« ist stattdessen lediglich eine gänzlich kunstlose Sprache angemessen, eine Sprache, die den Hiat zwischen menschlichem Ausdruck und göttlichem Gehalt nicht zu verwischen sucht und sich unmittelbar an den menschlichen Geist wendet, anstatt ihn mit den Mitteln der Kunst hinters Licht zu führen.162 »Viewing the sublime of which Longinus speaks as an artificial human product that stands opposed to the transparent and direct communication of ›le sublime de la chose‹ through simple, unadorned language«, Huet »denounces the pretensions of any human speech to convey adequately the qualities of God.«163 Boileau verteidigt demgegenüber die Behauptung Longins, ohne die eigentliche Unbegreifbarkeit und Undarstellbarkeit Gottes, »la foiblesse hu158 L. KERSLAKE: Essays, 49. Beim Arminianer Le Clerc dürfte sich hier die metaphysische Grundüberzeugung des Calvinismus von der unüberbrückbaren Differenz zwischen Gott und Welt zur Geltung gebracht haben, die sich auf die Formel finitum non capax infiniti bringen lässt und die im Kontext der Abendmahlslehre die Vorstellung vom sog. Extra-Calvinisticum hervorgebracht hat. Demnach ist Christus in den Abendmahlselementen nur seiner göttlichen Natur nach präsent, während er seiner menschlichen Natur nach außerhalb (»extra«) jener, im Himmel verbleibt 159 Zit. n. L. KERSLAKE: aaO. 48. 160 Tr. 353. 161 P.-D. HUET: Demonstratio evangelica, 110, zit. n. D. TILL: aaO. 197. 162 »Le [sublime des choses] ne trompe point l’esprit, ce qu’il lui fait paraître grand l’est en effet. Le sublime de l’art, au contraire, tend des pièges à l’esprit, et n’est employé que pour faire paraître [grand] celui qui ne l’est pas, ou pour faire paraître plus grand qu’il n’est« (zit. n. L. KERSLAKE: aaO.). 163 L. KERSLAKE: aaO. 48f.
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maine«164, zu leugnen. Er betont zu diesem Behufe noch einmal das abweichende Verständnis von sprachlicher Erhabenheit, das alle Konnotationen von Artifizialität und rhetorischer Manipulation gerade ausschließt und daher mit der Huet’schen Vorstellung schlichter Rede von Gott übereinkommt. Und er bedient sich des inspirationstheologischen Theorems der Akkommodation, der Anpassung des göttlichen an den menschlichen Geist als dem Adressaten der Offenbarung. So seien sämtliche bildlichen Darstellungen Gottes in den biblischen Schriften, die Huet als Herabwürdigungen des Höchsten inkriminiert hatte, zwar »fort petites devant Dieu«165; in den Augen der Menschen jedoch seien sie keinesfalls niedrig, sondern es gelte, insofern sie Gott dem menschlichen Fassungsvermögen vergegenwärtigten, »qu’elles deviennent nobles, grandes, merveilleuses, et dignes en quelque façon de la Majesté Divine«166. Von einer sprachlichen Erhabenheit der Bibel ist daher für Boileau selbstverständlich nur aus menschlicher Sicht zu reden, nichtsdestoweniger aber von einer sprachlichen Erhabenheit göttlichen Ursprungs. Während Huet um der Wahrung der göttlichen Majestät willen – so lässt sich die zur Frage stehende offenbarungstheologische Differenz zusammenfassen – die menschliche Erkenntnis von Gott ganz in die Sphäre des Gedankens setzt, dem nur eine aller rhetorischen Gestaltung bare Sprache dienen kann, geht Boileau davon aus, dass der göttliche Geist bei der Inspiration der Schrift in gewisser Weise in die Sprache eingegangen ist, um sich dem menschlichen Geist zu vermitteln,167 und das Erhabene bezeichnet für ihn gleichsam die entsprechende Spur des Göttlichen in der Sprache, die sich letztlich nur der Empfindung erschließt. Wie Kerslake hervorgehoben hat, betrifft der entscheidende Differenzpunkt in der Debatte das Verhältnis von erhabenem Gegenstand – über die Majestät Gottes, also die Erhabenheit des fraglichen Sujets besteht zwischen Boileau und Huet kein Streit – und dessen sprachlichem Ausdruck in der Heiligen Schrift. »Huet’s distinction between ›la chose‹ and ›l’expression‹ in the area of the sublime is marked by a dissociation of the two elements«168, wohingegen für Boileau die Erhabenheit der Sprachgestalt von der Erhabenheit des sprachlich gestalteten Gegenstands nicht zu trennen ist. Der erhabene Gegenstand muss eine adäquate sprachliche Darstellung finden, und 164
Réfl. X 557. Ebd. 166 Ebd. 167 Hier zeigt sich wieder die Nähe des jansenistisch geprägten Literaturkritikers zur protestantischen Theologie, insofern Boileau hier dem lutherischen Gedanken der Inverbation des Geistes nahekommt, wonach der Heilige Geist nicht unabhängig vom Wort der Bibel wirkt, an das er sich gebunden hat. 168 L. KERSLAKE: aaO. 48. 165
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eine sprachliche Darstellung gewinnt ihre Erhabenheit zuvörderst von ihrem Inhalt her. So erreicht die mosaische Genesis für Boileau das ihr eigene, nicht mehr menschlich zu nennende Höchstmaß an Erhabenheit eben dadurch, dass sie ihr religiöses Objekt – das höchste denkbare Objekt überhaupt169 – »in aller seiner Würde ausdrückt«170, wie er, die einschlägige Stelle aus dem Traité zitierend, formuliert. Die extraordinäre Erhabenheit, die sich in der Bibel findet, gründet für Boileau wesentlich in der Angemessenheitsrelation zwischen ihrem zentralen religiösen Gegenstand und dessen sprachlicher Darstellung – ein Strukturmerkmal, das auch in der deutschen Erhabenheitstheorie des 18. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielen wird.171 Während Kerslake seine erhellenden Analysen ebenfalls nicht für die Reformulierung von Boileaus Auffassung des Sublimen fruchtbar macht, weil er deren religiöse und theologische Implikationen offenbar als diskursbedingte Verfremdungen eines poetologisch allgemeinen Begriffs ansieht,172 erscheint es der interpretierten Theorie und der an sie anschließenden Theoriegeschichte angemessener zu sein, jene Momente bei der Bestimmung des Erhabenheitsbegriffs zu berücksichtigen. Dementsprechend soll nun eine zusammenfassende Skizze der Idee des Religiös-Erhabenen gegeben werden, wie sie sich in Boileaus Schriften abzeichnet. Dabei ist zuerst festzuhalten, dass sich die fragliche Idee am deutlichsten im bibelhermeneutischen Zusammenhang artikuliert. Bei Boileau steht das Sublime an der Grenze von Poetologie und Schrifthermeneutik, womit er den wesentlichen Anstoß gegeben hat für den noch zu schildernden Aufstieg des Erhabenen zu einer zentralen schrifthermeneutischen Kategorie.173 Schon der betreffende Konnex mit der Auslegung des heiligen Textes gibt dem Sublimen eine religiöse Färbung, dürfte doch die Schriftauslegung für den jansenistisch gesinnten Boileau den Inbegriff des religiösen Vollzuges darstellen. Unverkennbar tritt der religiöse Zug durch den Rekurs auf die Inspirationsvorstellung hervor, die mit dem antiken Enthusiasmusmotiv assoziiert wird. Mangels eines allgemeinen Religionsbegriffs, mit dem sich religiöses Erleben als solches qualifizieren ließe, markiert die Vorstellung vom Heiligen Geist, der vermittels der Ekstase des biblischen Autors in den heilig-erhabenen Text eingeht, auf deutlichste, dass mit dem Erhabenen ein religiöser Sachverhalt ins Auge gefasst wird. Der explizite Bezug auf das vorausgesetzte Inspirationsdogma 169 Vgl. Réfl. X 556: »Pour le Sublime des Choses, je ne vous en dis rien, puisque vous reconnoissez vous-mesme qu’il s’agit dans ce passage de la plus grande chose qui puisse estre faite, et qui ait jamais esté faite.« 170 Réfl. X 557: »exprimée dans toute sa dignité«. 171 S.u. insbesondere Kap. 3.4. 172 Vgl. L. KERSLAKE: aaO. 50: Huet »provides a few general statements which hint at a conception of the sublime not delimited by Biblical or theological considerations.« 173 S.u. Kap. 3.3 und Kap. 4.
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wird aber zugleich kontrapunktiert durch den Ausweis der Affektqualitäten des Numinosen sowie des Elevativen, die sich gerade durch ihre eigentümliche Vagheit, ihre begriffliche Unfassbarkeit auszeichnen. Dem Erhabenen scheint somit die Funktion zuzukommen, im Horizont der klassischen dogmatischen Schriftlehre eine Dimension des Religiösen zu beschreiben, die sich der lehrhaften Bestimmung gerade entzieht. Analog zur schrifttheologischen Eigenschaftslehre rangiert die Erhabenheit als Eigenschaft der Schrift, in der die göttliche Autorschaft, bestimmte Textmerkmale und der spezifische Eindruck des heiligen Textes zusammengeschlossen sind, um das Potential, die »Kraft« der Schrift zum Ausdruck zu bringen, die numinos-erhebende Erfahrung der Präsenz des Göttlichen zu evozieren. So entwickelt Boileau in der Querelle du fiat lux einen Begriff von Erhabenheit, der sich zusammensetzt aus dem darstellungsästhetischen Element einer schlicht-majestätischen Repräsentation Gottes auf der einen und dem wirkungsästhetischen Element einer unfasslichen, wunderbar erhebenden Ahnung des Göttlichen auf der anderen Seite, der produktionsästhetisch komplettiert wird durch die Vorstellung einer Inspiration durch den Heiligen Geist. Vollkommen erhaben ist demnach eine Rede, welche die Majestät Gottes auf eine solch würdige Weise vor Augen stellt, dass der Leser oder Hörer sich im Innersten durch eine Empfindung der Gottheit wundersam erhoben fühlt – und daraufhin kaum anders kann, als solche Rede der Autorschaft des Heiligen Geistes zuzuschreiben. Auch wenn bei Boileau stellenweise dieser Eindruck entstehen kann, ist die betreffende Idee des Religiös-Erhabenen indes nicht identisch mit dessen Idee des Sublimen überhaupt. Wie etwa die oben zitierte Definition aus der zwölften der Longin-Reflexionen zeigt, bleibt das Erhabene für den französischen Dichtungstheoretiker durchgehend eine allgemeine poetologische Kategorie – eine poetologische Kategorie allerdings, die, wie oben ebenfalls gezeigt, teils ein ethisches, teils ein religiöses Gefälle hat. So schwierig es ist, das damit angedeutete Changieren der verschiedenen Begriffsdimensionen interpretatorisch zu bewältigen, so unangemessen wäre es, die entsprechenden Dimensionen der Kategorie, die über die Sphäre des Poetologischen bzw. Ästhetischen gleichsam hinausragen, im Interesse eines möglichst homogenen Begriffs oder einer sauberen Scheidung der Kultur- und Wissenschaftsgebiete einfach beiseitezuschieben. Womöglich steht ja das Erhabene quer zur Prämisse der modernen Ausdifferenzierung der Kultursphären, die solchen Homogenitätsbedürfnissen zugrundeliegt. Es ist jedenfalls festzuhalten, dass die Forschung, die das Erhabene ganz auf seine ästhetisch-rhetorischen Elemente reduziert hat, im Lichte der Ergebnisse des ersten Teils dieser Untersuchung hinsichtlich des durch Boileau an Longin gewonnenen Begriffs des Sublimen in vier Punkten zu korrigieren ist. Neben der Verdrängung der religiösen Seite des Begriffs, die auf
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die metaphysische Dimension von Longins Theorie zurückgeht, und der Achtlosigkeit gegenüber der ethischen Seite, die mit den tugendethischen Theoremen bei Longin korreliert, ist hier drittens die Abblendung der inhaltlichen Elemente zugunsten eines einseitig subjektiven, sprich: wirkungsfixierten Erhabenheitsbegriffs zu nennen. Schließlich ist ein Aspekt zu notieren, der die bisher genannten Reduktionstendenzen mitbedingt, nämlich die Verengung der Wirkung des Erhabenen auf ihre besondere Intensität bei gleichzeitiger Missachtung von verschiedenen qualitativen Wirkungsmomenten – Momenten, in denen das Hinüberspielen des poetologischen bzw. ästhetischen Begriffs ins Ethische bzw. Religiöse gewissermaßen angelegt ist. Eine Abdrängung der genannten Aspekte bedeutet eine unsachliche Vereinnahmung des Erhabenen für den Ästhetikdiskurs, die sich sowohl in Anbetracht von Boileaus antiker Hauptquelle, in der ästhetische, ethische und metaphysisch-religiöse Züge des Erhabenen eng miteinander verschränkt sind, als auch im Blick auf seine entsprechenden eigenen Erläuterungen zum Sublimen verbietet. Die Erhabenheitsidee, wie sie Boileau in enger Anlehnung an Longin und in kritischer Absetzung von Tendenzen der zeitgenössischen Poesie begreift, stellt sich, so lässt sich resümieren, wie in der antiken Vorlage als komplexes Gebilde dar, das sich nicht ohne weiteres auf eine einfache Formel bringen lässt. Zunächst ist dabei noch einmal herauszustellen, dass jene Idee bei Boileau (wie bei Longin) durchgehend an der sprachlichen Darstellung entwickelt wird. Sie ist in den Anfängen eine poetologische Idee, die sich nur auf geformte Texte bezieht, die anderen Kunstgattungen hingegen unberücksichtigt lässt. Sie entzündet sich an Texten zeitgenössischer oder – vorzugsweise – klassischer Dichtung oder aber an Stellen der Bibel, die unter Voraussetzung des Inspirationsdogmas als gottgegebenes Offenbarungsbuch angesehen wird. Im letztgenannten Fall betrifft das Erhabene also gewissermaßen die Nahtstelle zwischen Poetologie und Bibelhermeneutik. Den Ehrentitel des Sublimen erhält demnach eine poetische Sequenz, in der ein großer Stoff, vorzüglich die Seelengröße des Helden oder die Majestät Gottes, auf eine Weise dargestellt wird, die auf die »großen Worte« des stile sublime verzichtet, die dem hohen Sujet aber gleichwohl adäquat ist, insofern sie ihm in weit größerem Maße die ihm gemäße »frappierende« Wirkung zu verschaffen vermag. Die darstellungsästhetischen Merkmale einer solchen Sequenz sind vor allem Schlichtheit, Kürze und, insbesondere im Falle der Ode, ›schöne Unordnung‹ als Ausdruck des dichterischen Furors. Dies deutet bereits auf ein weiteres Moment des Erhabenen hin, wonach es gewissermaßen die Grenze regelgeleiteter Kunstproduktion indiziert. Es beinhaltet den Grundsatz, dass wahre künstlerische Vollendung auf ein Moment genialer Eingebung angewiesen ist, das sich jeder ästhetischen
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Regel letztlich entzieht. Während das Sublime den »Modernen« als »letzte sprachliche Citadelle des Irrationalen«174 erscheint, bedeutet es aus Boileau’scher Sicht, zugespitzt gesagt, den »Triumph über die monotone Regelschönheit«175, aber mitunter auch die Spur göttlicher Inspiration. Damit ist neben dem Genie- bzw. Inspirationsmoment auf der Produktionsseite auch die charakteristische Wirkung des Erhabenen berührt. Sie ist als eine spezifische Ergriffenheit des Rezipienten zu fassen, die ein Moment des Staunens angesichts einer numinosen Aura enthält und ein Moment inneren Erhobenseins – Momente, aufgrund derer sie jedes bloße Amüsement über die raffinierte Anwendung der Regeln hinsichtlich der Intensität und der Erfahrungstiefe weit hinter sich lässt. Je nach Inhalt kann die besagte Wirkung auch noch ein deutlicheres ethisches bzw. religiöses Gepräge annehmen und sich zum »Stolz« über eigenen Seelenadel oder zur Erfahrung der Präsenz des Göttlichen bestimmen. Mit etwa diesem Profil und den darin enthaltenen Unschärfen und Ambivalenzen tritt das Erhabene seinen Siegeszug durch Europa an. »Thus the eighteenth century saw various critics and philosophers take up the idea of the sublime where Boileau had left it, and develop it through a series of phases into an aesthetic concept of the first importance.«176 Nach der Betrachtung des französischen Grundimpulses der modernen Renaissance des Erhabenen sollen im Folgenden einige exemplarische Stationen der weiteren Begriffsgeschichte in den Blick genommen werden, an denen sich wesentliche Entwicklungen studieren lassen, die auch für die spätere Renaissance des Erhabenen in Deutschland von Bedeutung sind.
1.2. Die Konjunktur des Erhabenen in England und in der Schweiz Es dauerte nicht lange, bis die französische Wiederentdeckung des Sublimen auch in England Nachhall fand. »The close relationship between French and English criticism during the last decades of the seventheenth century, made any literary event in the one country of some importance to the other. The controversy between the Ancients and the Moderns had elevated Longinus to a position of eminence in France, and had brought the sublime into critical discussions. One may justly infer that Boileau’s praise and use of Peri Hupsous created an interest in Longinus across the channel.«177 Bereits fünf
174
E. KÖHLER: Art. Je ne sais quoi, 642. AaO. 643. 176 S. A. MONK: The Sublime, 45. 177 AaO. 43. 175
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Jahre nach Erscheinen des Traité du Sublime (1674) ist Longin beim englischen Kritikerpapst John Dryden (1631–1700) in die vorderste Reihe antiker Klassiker der Literaturtheorie vorgerückt: »Aristotle with his interpreters, and Horace, and Longinus, are the authors to whom I owe my lights.«178 1.2.1. ›Reformation‹ der Dichtung im Namen Longins: John Dennis Bald avancierte Longins Idee des Sublimen auch zur Leitidee einer ausgeführten Literaturtheorie. So findet sich die erste englische Erhabenheitskonzeption in den Hauptschriften des Literaturkritikers John Dennis (1657–1734). Offenbar durch Vermittlung von Boileaus Traité du Sublime179 steht Dennis’ Denken von Anfang an unter dem Einfluss von Peri Hypsous, was ihm bei seinem Antipoden Alexander Pope (1688–1744) den Spottnamen »Sir Tremendous Longinus« eingetragen hat.180 Der antike Rhetoriker liefert Dennis das Ideal für die Programmschrift The Advancement and Reformation of Modern Poetry (1701), das auch dem unvollendeten Folgewerk The Grounds of Criticism in Poetry (1704) zugrundeliegt. Beide Werke sind als englische Stellungnahmen zur Querelle des Anciens et des Modernes zu lesen,181 insofern sie nicht zuletzt zu erweisen suchen, unter welchen Bedingungen die moderne gegenüber der antiken Poesie Gleichwertiges oder gar Überlegenes zu leisten im Stande ist. Als Musterbeispiel für die potentielle Überlegenheit der Gegenwart dient dabei Miltons Paradise Lost, laut Dennis »the greatest Poem that ever was written by Man«182. Das Verlorene Paradies wird bei Dennis zum Paradigma erhabener Dichtung, worin ihm zahlreiche Autoren gefolgt sind. Das Interesse der Historiker des Erhabenen hat Dennis aber vorwiegend aus anderen Gründen auf sich gezogen. Ähnlich wie für Monk ist Dennis auch für Zelle als Autor von Belang, der das Erhabene in den Rahmen eines entschieden »emotionalistischen« Poetikansatzes183 einschreibt und damit im Gefolge Boileaus die Erregung starker affektiver Resonanz als dessen
178
Zit. n. S. A. MONK: aaO. 43. Vgl. die zahllosen Belege bei A. ROSENBERG: Longinus in England bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. 179 Vgl. S. A. MONK: aaO. 53f. 180 Vgl. aaO. 47. 181 Vgl. C. ZELLE: Die doppelte Ästhetik, 115. 182 J. DENNIS: The Grounds of Criticism in Poetry, 351. Vgl. zu Dennis’ Milton-Rezeption D. B. MORRIS: The Religious Sublime. Christian Poetry and Critical Tradition in 18th-Century England, 66f. 183 Vgl. dazu z.B. J. DENNIS: The Advancement and Reformation of Modern Poetry, Chap. V: ›That Passion is the chief Thing in Poetry…‹
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entscheidendes Definitionsmerkmal bestimmt.184 Die maßgebliche Leistung von Dennis besteht nach Zelle darüber hinaus darin, dass er erstmals dem Schrecken eine Schlüsselrolle innerhalb des Erhabenheitsbegriffs einräumt. Indem er der Wirkung des Sublimen das Moment des Grauens einzeichne, begreife er sie als »Gefühlsdissonanz«185 oder als »vermischte Empfindung«186. Dennis gilt Zelle damit als Begründer einer Linie, die in Burkes epochalem Werk über das Schöne und Erhabene gipfelt, um dann in Deutschland zu Mendelssohn und Kant zu führen: Er ist für ihn »der Begründer einer Ästhetik des Erhabenen, die suggestiv den Schrecken in ihr Zentrum stellt«187. Zudem komme mit Dennis insofern ein neues Element in die Geschichte des Erhabenheitsbegriffs, als er die fragliche Gefühlsdissonanz nicht nur im poetologischen Zusammenhang, sondern zuerst in der Beschreibung von Naturerfahrung ausgewiesen hat. So beschreibt er die Empfindungen, die ihn selbst beim Anblick des Hochgebirges ergriffen haben, mit zwei paradoxen Wendungen als delightful horrour und terrible joy.188 Damit gilt Dennis Zelle nicht nur als Entdecker des ›angenehmen Grauens‹ als der Essenz des Erhabenen, sondern zugleich als moderner Entdecker des Erhabenen in der Natur. Schließlich wird Dennis bei Zelle dank seines Ausweises der erhabenen »Gefühlsmischung angenehmen Grauens«189 auch zum Pionier der ›doppelten Ästhetik der Moderne‹. Insofern nämlich jene spannungsvolle Erfahrung augenfällig von dem »vertrauten Vergnügen am Schönen«190 absteche, mache sie innerhalb der ästhetischen Reflexion eine grundsätzliche »Zweiteilung«191 notwendig, die von Dennis denn auch in seiner Literaturtheorie – wenigstens in Ansätzen bzw. implizit192 – vollzogen werde. »Da die Gefühlsdissonanz des ›delightful Horrour‹ […] unter Schönheit nicht zu subsumieren war[ ], wurde die Einführung einer neuen, gleichrangigen poetologischen Kategorie notwendig«193. Zelles Beobachtung, dass der Schrecken bei Dennis eine prominentere Rolle spielt als bei Boileau – der freilich im Anschluss an das Longin’sche
184
Für C. ZELLE steht Dennis für die »Aufwertung der emotiven Seite der Dichtung« (Schönheit, 65) und mithin für die »emotionalistische Wende in der Kunsttheorie« (Angenehmes Grauen, XVI) im späten 17. und im 18. Jahrhundert. 185 AaO. 66. 186 AaO. 63. 187 C. ZELLE: Die doppelte Ästhetik, 112. 188 J. DENNIS: Letter describing his crossing the Alps, 380. 189 C. ZELLE: aaO. 113. 190 C. ZELLE: Schönheit, 64. 191 AaO. 65. 192 AaO. 66. 193 Ebd.
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deinon194 auch vom douce terreur195 zu reden weiß – ist nicht zu widersprechen. Und doch wird man bei näherem Hinsehen sagen müssen, dass Zelle das im Reisebericht beschriebene Moment im Blick auf Dennis’ Poetik unzulässig generalisiert. Statt den »Entdecker« des delightful horrour des Erhabenen auch gleich noch zum Autor einer »implizit vorgetragene[n] doppelten Ästhetik«196 zu erklären, empfiehlt es sich, der Einschätzung Monks zu folgen, wonach die Bestimmung des Poetischen als Kunst der Affekterregung die Kategorie des Schönen schlicht aus dem Horizont der Poetik rückt als »the barely pleasing, or the barely persuading«197, wie es eher für die Prosa oder andere Künste einschlägig ist. Dennis’ »interest in the sublime, with its powerful emotions and overwhelming effects, left him no time to consider the beautiful, or to make the inevitable separation of the two categories«198. Mag die besagte Trennung aufgrund von Dennis’ Charakterisierung der dissonanten Wirkung des Erhabenen sachlich unvermeidlich geworden sein – in seiner Literaturtheorie hat »Sir tremendous Longinus« solches in keiner Weise vollzogen.199 Vergleicht man Zelles Darstellung weiter mit derjenigen Monks, fallen auch hinsichtlich der Gewichtung des Schreckens in Dennis’ Konzept des Erhabenen Diskrepanzen auf. Auch Monk hält – insbesondere im Blick auf die spätere begriffsgeschichtliche und literarische Entwicklung – die Einführung des Schreckens für »the most interesting aspect of Dennis’ treatment of the sublime«200. Aber anders als Zelle münzt er die Prominenz dieses Motivs bei Dennis nicht zu der These um, es stehe »im Zentrum«201 oder sei gar »Inbegriff«202 des Erhabenen. Dieser Rang gebührt auch keineswegs dem Schrecken, sondern der Bewunderung. Zwar ist Dennis der Meinung, dass 194
Vgl. dazu oben Teil I/Kap. 4.1.2. Vgl. N. BOILEAU: L’art poétique III,18. 196 C. ZELLE: Schönheit, 66. W. STRUBE schließt sich dieser Bewertung der Sache nach an; vgl. Schönes und Erhabenes, 39f. und 43. 197 J. DENNIS: The Grounds, 359. 198 S. A. MONK: The Sublime, 54. 199 Es müsste schon die Unterscheidung zwischen Poesie und Nicht-Poesie als Keim doppelter Ästhetik gedeutet werden, dann aber hätte diese Unterscheidung nichts mit Dennis’ Fassung des Erhabenen zu tun, das eine bestimmte Art von Dichtung innerhalb der »greater Poetry« beschreibt. 200 Ebd. 201 Vgl. C. ZELLE: Die doppelte Ästhetik, 113; vgl. 93. 202 C. ZELLE: Schönheit, 65. Vgl. DERS.: Die doppelte Ästhetik, 116: »Inbegriff des Enthusiasmus ist neben Begehren, Trauer, Freude, Grauen und Bewunderung insbesondere der numinose Schrecken«. Zelle begründet nicht weiter, woraufhin er sich zu der Hervorhebung des Schreckens veranlasst sieht. Wäre die geplante Fortsetzung des Werkes nicht mangels Subskribenten eingestellt worden, hätten die Ausführungen über die vier in Band 1 noch unbehandelten Leidenschaften (Horror, Grief, Joy, Desire) den Rang des Schreckens noch einmal relativiert. 195
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diesen beiden Affekten innerhalb des Erhabenen eine hervorgehobene Rolle zukommt.203 Unter ihnen wiederum ist es aber nicht der Schrecken, sondern die Bewunderung, welcher der systematische Vorrang innerhalb des Erhabenen gebührt. Denn laut Dennis gibt es zwar Fälle von Bewunderung ohne Beteiligung des Schreckens,204 umgekehrt jedoch tritt der für das Erhabene einschlägige Schrecken immer in Verbindung mit der Bewunderung auf205 – und nur in dieser Verbindung ist er »enthusiastischer« Schrecken, von dem gilt: »[it] contributes extremely to the Sublime«206. Demnach ist es jene »certain Admiration, mingled with Astonishment and with Surprize«207, in der die Seele sich über ihre gewöhnlichen Gegenstände erhebt,208 die das zentrale Merkmal der sublimen Empfindung ausmacht. Unter zwei prominenten Elementen aus Peri Hypsous, dem thaumasion und dem deinon, wird, typisch für die Erhabenheitstheorie vor allem der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, deutlich das erste akzentuiert. Eine weitere notwendige Klarstellung betrifft allgemein die Rolle der affektiven Wirkung in Dennis’ Erhabenheitskonzept. Bereits Monk hat hervorgehoben, die Longin-Lektüre habe Dennis gelehrt, »[to] take into account not only the nature of the sublime object, but its effects also, i.e., the subjective element«209. Diese Einsicht habe Dennis den Weg gewiesen zu einer emotionalistischen210, subjektiven211 Ansicht der Poesie, die das objektive, regelgeleitete Kunstverständnis des Klassizismus mehr und mehr verdrängt habe. Es ist an dieser Einschätzung richtig, dass Dennis’ Poetik die Umstellung von einem werk- auf einen wirkungsästhetischen Ansatz repräsentiert und damit eine »Aufwertung der emotiven Seite der Dichtung«212 vollzieht. Auch hat hier sicherlich Longins Traktat (und seine Interpretation durch Boileau) seinen Einfluss geltend gemacht, insofern jener sich dem hypsos primär über seine spezifische Wirkung nähert. In Anbetracht dieses »subjektiven«, »emotionalistischen« oder »wirkungsästhetisch profi-
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Vgl. J. DENNIS: The Grounds, 363: »Admiration and Terror make the principal Greatness of Poetry, and are the chief of the Enthusiastick Passions«. 204 Vgl. aaO. 341: »… such kind of Thoughts as inspire the Soul with Admiration alone, uncomplicated with Terror, or any other Passion«. 205 Vgl. aaO. 355f: »This Passion [sc. Terror; M.F.] scarce ever goes by it self, but is always more or less complicated with Admiration.« 206 AaO. 361. 207 Ebd. Dennis’ Formulierung fällt im Zusammenhang einer Paraphrase von De subl. 1,4. 208 Vgl. J. DENNIS: The Grounds, 345. 209 S. A. MONK: The Sublime, 45. 210 Vgl. aaO. 46: »a theory of poetry based entirely on emotion«. 211 Vgl. aaO. 50: »that subjective view of art«. 212 C. ZELLE: Schönheit, 65.
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lierten«213 Erhabenheitsbegriffs sind nun allerdings zwei Missverständnisse zu vermeiden. Erstens bedeutet ein Zugang über die Wirkung in der Erhabenheitstheorie noch nicht automatisch ein Zurücktreten des »objektiven« Interesses, also der Reflexion auf die konstitutiven Inhalte des Erhabenen und ihre poetische Gestaltung. Für den engen Zusammenhang dieser Theorieperspektiven kann neben Longin und Boileau gerade Dennis als Musterbeispiel angeführt werden. Schon Longins Traktat setzte mit einer Beschreibung des charakteristischen Effekts des hypsos ein, um dann kapitelweise mögliche Stoffe und Gestalten erhabener Rede zu analysieren. Dasselbe Reflexionsgefälle von der »subjektiven« zur »objektiven« Seite des Sublimen, um diese allzu grobe Differenzierung noch einmal aufzunehmen, ist, wie oben angedeutet, auch bei Boileau zu greifen. Dennis bringt den betreffenden Zusammenhang in der Logik von Ursache und Wirkung zum Ausdruck: »take the Cause and the Effects together, and you have the Sublime«214. Trotz des affekttheoretischen Ansatzes seiner Poetik reicht für Dennis eine rein wirkungsästhetische Definition des Erhabenen offenbar nicht aus. Eine bestimmte Wirkung impliziert eine bestimmte Ursache, und daher wird das Erhabene auch nicht unmittelbar mit den enthusiastischen Leidenschaften, die es hervorruft, identifiziert: »The Sublime […] is never without Enthusiastick Passion: For the Sublime is nothing else but a great Thought, or great Thoughts moving the Soul from its ordinary Situation by the Enthusiasm which naturally attends them.«215 So weit geht Dennis – von terminologischen Unterschieden abgesehen – mit Longin und Boileau konform, und es ist nicht zu erkennen, inwiefern er, was die Akzentuierung der Wirkung betrifft, über beide hinausgegangen sein sollte, wie Monk behauptet hat.216 Das Neue an Dennis’ Theorie ist im Gegenteil eher darin zu erblicken, dass er mit neuer Entschiedenheit und Bestimmtheit über die Wirkungsdimension des Erhabenen dessen Gehaltsdimension fokussiert. So formuliert Dennis in unmissverständlicher Klarheit: »We shall now shew, that the strongest Enthusiastick Passions, that are justly and reasonably rais’d, must be rais’d by religious Ideas; that is, by Ideas which either shew the Attributes of the Divinity, or relate to his Worship«217. Die affekttheoretische Grundlegung des Erhabenheitsbegriffs kann und will gar nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie einem gehalts213
C. ZELLE: Die doppelte Ästhetik, 124. J. DENNIS: The Advancement, 223. 215 J. DENNIS: The Grounds, 359 (Hvhg. M.F.). Dennis kann das Erhabene auch unter Absehung der Wirkung definieren: »And the Sublime is a great Thought, express’d with the Enthusiasm that belongs to it« (The Advancement, 222). 216 S. A. MONK: aaO. 45. 217 J. DENNIS: The Grounds, 339. 214
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ästhetischen Beweisziel dient, nämlich der Begründung der programmatischen These, »that Religion is the Basis and Foundation of the greater Poetry«218. Es lässt sich aus diesem bemerkenswerten Zitat zweierlei schließen. Zum einen kann man ihm entnehmen, dass Dennis’ Poetik die Dichtung keineswegs alleine auf die Funktion der Affekterregung abstellt, sondern sie durchaus auf bestimmte Gehalte verpflichtet. Zum andern macht es sichtbar, dass Dennis’ Rezeption der Erhabenheitskategorie dezidiert im Zeichen der Religion steht. Wie kein Autor vor ihm fixiert Dennis in seinem poetischen Reformprogramm die Inhalte erhabener Dichtung auf einen bestimmten Themenkreis, so dass man seine Poetik geradezu als Gehaltspoetik im wirkungsästhetischen Gewand titulieren könnte. Und deutlicher als bei jedem Autor vor ihm zeigt das Erhabene damit bei Dennis eine religiöse Signatur. Auf den letzteren Punkt wird noch zurückzukommen sein. Was den ersten, gewissermaßen innerästhetischen Gesichtspunkt betrifft, kann von einem Desinteresse gegenüber der objektiven Seite des Erhabenen bei Dennis offensichtlich keine Rede sein, und Gleiches gilt wohl für die gesamte Geschichte des Erhabenen. So hat Walter J. Hipple über den Gegensatz zwischen subjektivem und objektivem Erhabenheitsbegriff treffend geurteilt: »[T]his whole dichotomy […] is an illusion – all the aestheticians from Addison to Kant and onwards« – hier ersetze man getrost Addison mit Longin – »conceive of the sublime as a feeling in the mind caused by certain properties in external objects. The real differences among these men are to be sought in the methods of argument and the causal principles which they employ.«219 Die Frage nach der spezifischen erhabenen Wirkung schließt immer die Frage nach deren Ursachen mit ein. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass die primordiale Stellung der Wirkung, welche die im Gefolge Longins sich ausbildende Theorie des 18. Jahrhunderts bis hin zu Kants Kritik der Urteilskraft kennzeichnet, für den Begriff des Erhabenen von grundlegender systematischer Bedeutung ist. Dennis’ Versuche einer gehaltsästhetischen Fixierung weisen darauf hin, dass der systematische Vorrang des Wirkungsaspekts grundsätzlich die Abkopplung des Erhabenen von bestimmten Objekten impliziert. Das Erhabene wurzelt im erhabenen Gefühl. Der ästhetische gründet in einem psychologischen Begriff des Erhabenen. Die infrage stehende Kategorie bezeichnet zuallererst ein bestimmtes psychisches Resonanzphänomen innerhalb eines ästhetischen Zusammenhangs, das durch ganz verschiedene äs218
AaO. 336. W. J. HIPPLE: The Beautiful, the Sublime and the Picturesque in Eighteenth-Century Aesthetic Theory, 84. 219
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thetische Gehalte und Gestaltungen hervorgerufen werden kann. Dem Primat der Wirkung entspricht demzufolge auf der anderen, »objektiven« Seite eine große Variabilität der möglichen Stoffe und Gestaltungsformen, die als Quelle jener konstitutiven Wirkung herausgestellt werden können. Die Variabilität der Gehalte zeigt sich etwa im Nebeneinander von religiösen und heroischen Sujets, die Variabilität von Gestaltungen im Nebeneinander von Corneille’scher Lakonik und Klopstock’scher Epik, die von Theoretikern des Sublimen jeweils gleichermaßen als dessen Inbegriff gefeiert werden können. Es ist nun noch Dennis’ Wirkungsbestimmung näher in Augenschein zu nehmen, um das zweite Missverständnis hinsichtlich seiner affekttheoretisch begründeten Konzeption des Sublimen aufzuklären. Wird Dennis nämlich als Paradigma eines »emotionalistischen Neuansatzes«220 in der Poetik verbucht, rückt er in unmittelbare Nachbarschaft zu »Dubos’ Ästhetik der Zerstreuung«, die auf dem Grundgedanken beruht »daß die Seele von der bloßen Empfindung leidenschaftlicher Bewegung, welche Qualität sie auch haben mag, auf angenehme Weise gerührt wird«.221 Das Erhabene rangiert dann entsprechend vor allem als Phänomen der »Affektsteigerung«222, verdankt seine Vorzugsgeltung innerhalb der jeweiligen poetologischen bzw. ästhetischen Konzepte also dem Umstand, dass es wie nichts sonst »strongest emotions«223 zu erwecken und Langeweile zu vertreiben in der Lage ist. Nach dieser Lesart erblickt Dennis wie Dubos die Essenz des Erhabenen letztlich in seiner besonders intensiven Wirkung, und auch die Beteiligung des Schreckens bzw. der dissonante Charakter der Gefühlsresonanz wird unter dem Aspekt der Affektsteigerung verbucht. Entgegen der Ansicht, dass für Dennis (wie auch schon für Boileau) die außerordentliche Intensität der Affekterregung das maßgebliche Wesensmerkmal des Erhabenen darstellt, spricht vieles dafür, dessen besondere Leistung gerade in seiner Bemühung um eine qualitative Bestimmung der erhabenen Wirkung zu erkennen. Es fällt zunächst schon auf, dass sich Dennis nicht damit begnügt, es als oberste Regel der »great Poetry« auszuweisen, »that a Poet must every where excite great Passion«224. Die betreffende Regel ließe sich noch rein quantitativ, im Sinne eines Strebens nach möglichst intensiver Affekterregung, verstehen, auch wenn die Korrespondenz von great Poetry und great Passion bereits andeutet, dass hier ›Größe‹ mehr beinhaltet als eine quantitative Bestimmung. Nun werden von Dennis aber innerhalb 220
C. ZELLE: Angenehmes Grauen, 80. AaO. 141. 222 C. ZELLE: Die doppelte Ästhetik, 115. 223 S. A. MONK: aaO. 53 (Hvhg. M.F.); vgl. 54: »Dennis is original in respect to the value which he attaches to powerful emotion in art and particularly in the sublime.« 224 J. DENNIS: The Grounds, 338. 221
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der great Passion noch einmal der enthusiastische (und erhabenheitsrelevante) vom gewöhnlichen Affekt abgehoben. Dass es hier um eine qualitative Differenz geht, macht Dennis deutlich, indem er den Enthusiasmus ausdrücklich als »some sort and some degree of Passion«225, also nach Qualität und Quantität gegenüber dem gemeinen Affekt spezifiziert. Außerdem wird der fragliche enthusiastische Affekt dadurch näher qualifiziert, dass ihm, wie bereits angesprochen, das konstitutive Moment der Bewunderung eingezeichnet wird. Weiterhin versucht Dennis, die fragliche Art von Leidenschaft zu bestimmen, indem er den besonderen Kontext ihrer Entstehung angibt. Der enthusiastische Affekt hat demnach die Eigenart, sich an Ideen zu entzünden, die ihren Ort statt in »ordinary Conversation« innerhalb von »Meditation« bzw. »Contemplation« haben.226 Der Enthusiasmus wird, so ließe sich diese höchst erklärungsbedürftige Erklärung paraphrasieren, an bestimmten Vorstellungen erweckt – Dennis führt Sonne und Donner als Beispiele an –, sofern diese in einem Akt geistiger Betrachtung, der etwa von einem Dichter angestoßen werden kann, uneigentlich als Sinnbilder höherer Wahrheiten oder Wesenheiten »bedacht« werden. Entsprechende Ideen verleihen der Dichtung mit dem ihnen eignenden Tiefsinn »that sort of Spirit in Poetry«227, der die Seele des Lesers mit Bewunderung erfüllt und ihn über seinen gewöhnlichen Lebenskreis hinaushebt. Es ist an dieser Stelle noch einmal das oben berührte Religionsthema aufzugreifen.228 Dennis’ Definition des Enthusiasmus mit ihren der religiösen Andacht assoziierten Schlüsselbegriffen meditation und contemplation legt es nahe, die spezifische Qualität des enthusiastischen und damit des erhabenen Affekts in seiner religiösen Färbung zu suchen. Diese Annahme wird gestützt durch den Umstand, dass das für den Enthusiasmus konstitutive Affektmoment der admiration bei Dennis deutlich religiös konnotiert ist. Das zeigt eines der Beispiele, mit dem die fragliche Definition erläutert wird: As for example, the Sun mention’d in ordinary Conversation, gives the Idea of a round flat shining Body, of about two foot diameter. But the Sun occurring to us in Meditation, gives the Idea of a vast and glorious Body, and the top of all the visible Creation, and the brightest material Image of the Divinity. I leave the Reader there-
225
Ebd. (Hvhg. M.F.). Dennis’ Definition lautet wie folgt: »Enthusiastick Passion, of Enthusiasm, is a Passion which is moved by the Ideas in Contemplation, or the Meditation of things that belong not to common Life« (ebd.). 227 AaO. 341. 228 Vgl. zum Folgenden D. B. MORRIS: The Religious Sublime, 47–78, und D. M. WHEELER: John Dennis and the Religious Sublime. 226
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fore to judge, if this Idea must not necessarily be attended with Admiration; and that Admiration I call Enthusiasm.229
Enthusiasmus in Dennis’ Sinne ruft ein Poem hervor, das im Ausgang von einer Erscheinung etwa der Natur die übernatürliche Idee der Gottheit evoziert und mit ihr die ihr entsprechende Bewunderung. Ferner wäre näher zu zeigen, dass auch die Affektbegriffe wonder (›Verwunderung‹) und astonishment (›Erstaunen‹, ›Erschaudern‹), die im Zusammenhang mit Dennis’ Enthusiasmuskonzept immer wieder fallen,230 eine deutliche religiöse Note haben. Die intendierten religiös getönten Affekte erfordern nun aber zu ihrer Erweckung auch, wie bereits gezeigt, entsprechende religiöse Gedanken oder Ideen als Gegenstand der Dichtung. Bemerkenswerterweise führt Dennis als Kronzeugen für dieses poetologische Postulat keinen anderen an als den Autor von Peri Hypsous: »And now I mention Longinus, this is the properest place to shew, by his Authority, that Religious Ideas are the most proper to give Greatness and Sublimity to a Discourse.«231 Die zeitgenössische Dichtung hat sich in dieser Hinsicht laut Dennis die schon von Longin angeführten antiken Autoren (unter ihnen zuvörderst Homer) zum Vorbild zu nehmen, die mit ihren Schilderungen von göttlichen Zeichen, Wundern, Orakeln und Epiphanien ein hohes Maß an Erhabenheit erreicht haben.232 Aber sie kann diese Autoren – hier gibt sich Dennis innerhalb der Querelle des Anciens et des Modernes deutlich als »Moderner« zu erkennen – auch durchaus übertreffen: For, as our Religion gives us more exalted Notions of the Power of an Infinite Being, than the Heathen Religion did to the Grecian and Roman Poets; it consequently produces a stronger Spirit in Poetry, when it is managed by those who have Souls that are capable of expressing it.233
Höchste Erhabenheit gewährt laut Dennis nur die »wahre«234, die christliche Religion mit ihren hohen Begriffen des Göttlichen – sofern diesen Begriffen von einem Poeten mit geeigneten Anlagen ein angemessener dichterischer 229
J. DENNIS: The Grounds, 339. Vgl. z.B. J. DENNIS: The Advancement, 232: »But to come to those Passages of the ancient Poems, in which the miraculous Part of their Religion was contain’d, and their Revelation more nearly concern’d, as their Signs and Wonders, and their private Inspirations, but above all, the Apparitions of their Gods and their Oracles, it is no Wonder if those Passages, speaking of Things that strike Mankind with the last Astonishment, have almost all the Enthusiasm of which the Mind of Man is, with Reason, capable.« Vgl. ferner DERS.: The Grounds, 356 u. 361. 231 AaO. 357. 232 Vgl. J. DENNIS: The Advancement, 231. 233 AaO. 271; vgl. 274: »And ‘tis is plain, that Milton owes his Greatness, and this Elevation, to the Excellence of his Religion.« 234 Vgl. aaO. 252: »the True Religion, is more favourable to Poetry than Paganism, or Philosophy or Deism«. 230
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Ausdruck verliehen wird. Wenn dies geschieht, wird sich auch beim Leser oder Hörer jener enthusiastische Affekt einstellen, der das Erhabene kennzeichnet. »[H]is Soul must be exalted and lifted up towards its Primitive Objects, and be fill’d and inspired with the highest Admiration«235. Es erhellt aus der Skizze, dass die Zusammenfassung unter dem Begriff ›Emotionalismus‹, die Monk und Zelle gemeinsam ist, noch recht wenig über den eigentlichen Gehalt von Dennis’ »wirkungsästhetisch profilierte[r] Definition des Erhabenen«236 sagt. Gegenüber solcher Verkürzung auf die Wirkungsintensität sind gerade die qualitativen Bestimmungsversuche der seelischen Resonanz des Sublimen interessant – und allem Anschein nach weniger ›peinlich‹ oder ›unbeholfen‹,237 als Monk insinuiert. Betrachtet man die betreffenden Bestimmungen Dennis’ mit einem durch die Longin-Lektüre geschärften Blick, verbietet es sich auch, das Moment des Schreckens innerhalb der erhabenen Wirkung einseitig hervorzuheben. Man wird bei näherem Hinsehen überhaupt eine einseitige Akzentuierung des Wirkungsaspekts auf Kosten des Gehaltsaspekts vermeiden. Vor allem aber ist es geboten, den bei Dennis überaus dominanten religiösen Elementen bei der Nachzeichnung seines Erhabenheitsbegriffs sowohl auf der Wirkungs- wie auf der Gegenstandsseite der Dichtung Rechnung zu tragen.238 Die an Dennis ausgewiesenen Verkürzungstendenzen sind, wie sich schon bei Boileau andeutete, für die Historiographie des Erhabenen typisch, und sie haben, wie sich noch zeigen wird, einen gewissen Anhalt an der Theoriegeschichte selber. Was die religiösen Komponenten des Sublimen 235
J. DENNIS: The Grounds, 345. C. ZELLE: Die doppelte Ästhetik, 124. 237 S. A. MONK: The Sublime, 48: »awkward«. 238 Es lassen sich auch nach Dennis eine Reihe von Theorien finden, die sich entsprechenden Reduktionen massiv widersetzen. Hier wäre etwa an J. BAILLIE: Essay on the Sublime (postum 1747) zu denken, der die Beschreibungen der erhabenen Wirkung nach dem Deutungsparadigma bloßer Wirkungsintensität geradewegs ad absurdum führt. So bestimmt Baillie den Effekt des Sublimen in enger Anlehnung an das Longin’sche Motiv des Seelenaufschwungs als »an elevated Pleasure« (5), in der das Gemüt im Bewusstsein der eigenen Größe gleichsam die Enge des Irdischen hinter sich lässt, womit er ebenfalls einen ethischen sowie einen religiösen Einschlag des Begriffs erkennen lässt. Vgl. 4: »Few are so insensible, as not to be struck even at first View with what is truly Sublime; and every Person upon seeing a grand Object is affected with something which as it were extends his very Being, and expands it to a kind of Immensity. Thus in viewing the Heavens, how is the Soul elevated; and stretching itself to larger Scenes and more extended Prospects, in a noble Enthusiasm of Grandeur quits the narrow Earth, darts from Planet to Planet, and takes in Worlds at one View! Hence comes the Name of Sublime to every thing which thus raises the Mind to Fits of Greatness, and disposes it to soar above her Mother Earth; Hence arises that Exultation and Pride which the Mind ever feels from the Consciousness of its own Vastness – That Object only can be justly called Sublime, which in some degree disposes the Mind to this Enlargement of itself, and gives her a lofty Conception of her own Powers.« 236
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angeht, ist indessen für den englischen Bereich mindestens eine Ausnahme zu nennen. So hat David B. Morris 1972 die literaturwissenschaftliche Untersuchung The Religious Sublime. Christian Poetry and Critical Tradition in 18th-Century England vorgelegt, mit dem ausdrücklichen Ziel, im Sinne eines Nachtrags zur Forschung auf einen gewichtigen, aber weitgehend unterschlagenen Aspekt der Begriffsgeschichte des Erhabenen hinzuweisen.239 Bei Morris findet sich unter anderem eine ausführliche Darstellung der Literaturtheorie von John Dennis – »England’s outspoken proponent of the religious sublime«240 –, während der Fokus ansonsten stärker auf der literarischen Praxis und ihrer Färbung durch das Erhabenheitsideal liegt. Die vorliegende Untersuchung schließt in mehrerlei Hinsicht an das Buch von Morris an. Neben dem gemeinsamen thematischen Interesse an der religiösen Dimension des Erhabenen teilt sie mit ihm insbesondere die methodische Maxime der mehrfachen Exklusion. Sie konzentriert sich gleichermaßen – wie es dem begriffsgeschichtlichen Ausgang von Longins Rhetorik-Traktat entspricht – auf die Poetik (und die von ihr abhängige frühe Ästhetik) und sieht einerseits von den Theorien der übrigen schönen Künste ab, andererseits von der Beschreibung des Erhabenen in der Natur.241 Zum einen ermöglicht dieses exklusive Verfahren »an intensification of analysis by avoiding an almost limitless expansion of scope«242. Der andere Grund liegt schlicht darin, dass ausgeführte Theorien des Erhabenen sich – grob gesagt: vor Burke – fast ausschließlich im Bereich der Literaturtheorie finden. Die methodische Beschränkung schließt dabei die Überzeugung von der Verschränkung der verschiedenen Formen der Erhabenheitserfahrung nicht aus, sondern ein.243 239 Vgl. D. B. MORRIS: The Religious Sublime, 2: »[My] aim is to treat an aspect of the subject which deserves to be rescued from neglect: that is, the close association between sublimity and religious poetry in eighteenth-century England«. 240 AaO. 46. 241 Die klassische Darstellung zum Natur-Erhabenen im englischen 18. Jahrhundert stammt von 1959: M. H. NICOLSON: Mountain Gloom and Mountain Glory. The Development of the Aesthetics of the Infinite; vgl. DIES.: Sublime in External Nature; außerdem E. TUVESON: Space, Deity, and the »Natural Sublime«; vgl. zum deutschen Bereich CH. BEGEMANN: Erhabene Natur. Zur Übertragung des Begriffs des Erhabenen auf Gegenstände der äußeren Natur in den deutschen Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts. 242 D. B. MORRIS: aaO. 8. 243 Vgl. Morris’ Ausführungen über das Erhabene in Natur und Literatur: »Whether meditating by the sea, contemplating the night sky, or crossing the Alps, eighteenth-century enthusiasts for nature rarely forgot their reading: the classics were Addison’s guidebook to Italy, while Joseph Warton’s vision of unspoiled nature comes straigt from Lucretius and Shaftesbury. Nor in their reading did men suddenly enter a region of pure thought, remote from the world of nature. Pope’s primary rule for modern poets was ›First follow Nature,‹ and his direction applies to the amusing story about James Thom-
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Ansonsten verdankt diese Arbeit dem Buch von Morris neben einzelnen Hinweisen vornehmlich die Bestätigung, bei der Suche nach religiösen Bezügen innerhalb der Erhabenheitstradition nicht einer Chimäre zu folgen. Die wesentliche Differenz zu Morris liegt, was das Historische anbelangt, in der Fokussierung auf das deutsche 18. Jahrhundert.244 Vor allem aber steht das Interesse am Sublimen hier wesentlich stärker im Horizont der systematischen Leitfrage nach dem Verhältnis von religiöser und ästhetischer Sphäre, deren Indifferenzpunkt mit dem Erhabenheitsbegriff in den Blick rückt. 1.2.2. Das ›Sublime‹ der Dichtung und das ›Große‹ der Natur: Joseph Addison In dem exemplarischen Durchgang durch die englische Geschichte des Erhabenen ist nun von dem zweiten Autor zu handeln, dem gemeinhin eine »wegweisende«245 Bedeutung für die Ästhetik des Erhabenen beigemessen wird. So hat sich Joseph Addison (1672–1719) mit seinen Essays On the Pleasures of the Imagination (1712), dem Gründungsdokument der englischen Ästhetik (avant la lettre), nach allgemeinem Dafürhalten nicht nur das Verdienst der erstmalig klaren Unterscheidung zwischen Schönheit und Erhabenheit erworben.246 Er hat in diesen Essays nach Zelle auch die maßgeblichen Tendenzen in der Theorie des Erhabenen »gebündelt«247, und son’s contempt for a nameless urban poet. ›He write an Epick poem!‹ Thomson scoffed. ›It is impossible: he never saw a mountain in his life.‹ Even if apocryphal, the story seriously implies that viewing a mountain and writing a poem could be considered complementary and inseparable because both are imaginative activities which involve the experience of sublimity« (aaO. 7); und weiter: »Eighteenth-century man experienced the sublime in two main contexts – literature and nature – but while the context changed, the experience remained much the same« (8). Vgl. dazu außerdem Morris’ kritische Auseinandersetzung mit der Differenzierung zwischen rhetorical sublime und natural sublime (5ff). Man vermisst in Morris’ Aufzählung der für die neuzeitliche Naturerfahrung einschlägigen Literaturwerke die Bibel, insbesondere das Alte Testament, das etwa im Psalter viele Beispiele religiöser Naturlyrik bietet, die im kollektiven Gedächtnis des 18. Jahrhunderts präsent waren – und die im selben Jahrhundert schon früh als Paradigmen des Erhabenen gerühmt wurden: s.u. Kap. 4.3.3. Es steht zu vermuten, dass die Bibellektüre und die christliche Schöpfungstheologie das Naturerleben im Zeitalter der Aufklärung stärker beeinflusst haben als bisher wahrgenommen. 244 Auch Kap. 4 über den englischen Theologen und Poetologen R. LOWTH teilt in gewisser Weise diese Perspektive, insofern dessen – in der internationalen Gelehrtensprache Latein verfasste – Vorlesungen De sacra poesi hebraeorum, die in Deutschland stark rezipiert wurden, mit dafür verantwortlich waren, dass das Erhabene bei deutschen Theoretikern der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – etwa bei Mendelssohn und Herder – sein religiöses Gepräge behielt. 245 Vgl. C. ZELLE: Angenehmes Grauen, 103. 246 Vgl. z.B. W. J. HIPPLE: The Beautiful, 16; W. STRUBE: Schönes und Erhabenes, 43. 247 C. ZELLE: Die doppelte Ästhetik, 124.
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Monk zufolge ist es ihm und seinem überragenden Ruf überhaupt zu verdanken, »that the sublime became an important idea in the philosophy of taste«248. Diese Einschätzung mag ein wenig überraschen angesichts des Tatbestandes, dass der Ausdruck sublime in den Essays genau einmal vorkommt, und zwar gar nicht in terminologischer Bedeutung.249 Addisons einschlägiger Terminus in den Pleasures of the Imagination ist vielmehr das ›Große‹, das neben dem ›Ungewöhnlichen‹ (oder ›Neuen‹) und dem ›Schönen‹ als eine der drei Grundquellen der ›Freuden der Einbildungskraft‹ rangiert. Unter das Große fallen dabei Ansichten von Naturerscheinungen, die zu groß sind für die Fassungskraft der Imagination und bei denen den Betrachter ein ›ergötzendes Erstaunen‹ oder ›Erschaudern‹ (pleasing astonishment)250, eine ›entzückende Stille und Verwunderung‹ (delightful stilness and amazement)251 oder auch ›Bewunderung‹ (admiration)252 ergreift, die sich angesichts des sturmbewegten Ozeans bis zum ›angenehmen Schrecken‹ (agreeable horrour)253 steigern kann.254 Monk erblickt in diesen Bestimmungen einige »essential elements« des Erhabenen, die in späteren Theorien immer wieder in verschiedenen Variationen wiederkehren werden: »the aspiration of the imagination to grasp the object; the preordained failure, and the consequent feeling of bafflement; and the sense of awe and wonder«255. Von daher erklärt sich auch die grundlegende Prämisse von Monks später allgemein anerkannter Addison-Interpretation, dass dessen Begriff der ›Größe‹ ein Äquivalent sei für das Erhabene: »Greatness is identical with sublimity«256. Denn: »The effect of greatness is virtually that of sublimity; certainly, in a general way, it is akin to the effect of Kant’s sublime.«257 Dem letztzitierten Halbsatz ist unumwunden zuzustimmen. Tatsächlich finden sich bei Addison Passagen, die einen mit-
248
S. A. MONK: The Sublime, 59. J. ADDISON: Essays on the Pleasures of the Imagination, No. 417, 295: »In a word, Homer fills his Readers with Sublime Ideas«. Addison assoziiert hier das ›Große‹ mit ›erhabenen Ideen‹, er identifiziert aber nicht das ›Große‹ mit dem ›Erhabenen‹. 250 AaO. No. 412, 279; und The Spectator, No. 489, 48. 251 J. ADDISON: Essays, No. 412, 279. 252 AaO. No. 413, 282. 253 J. ADDISON: The Spectator, No. 489, 48. 254 Demgegenüber empfindet der Rezipient angesichts des Neuen ›angenehme Überraschung‹ (aaO. No. 412, 280: »agreeable Surprise«) und angesichts des Schönen eine ›geheimnisvolle Genugtuung und Selbstzufriedenheit‹ (No. 413, 283: »a secret Satisfaction and Complacency«). 255 S. A. MONK: aaO. 58. 256 AaO. 57. 257 Ebd. 249
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telbaren oder unmittelbaren Einfluss auf Kant mehr als nahelegen.258 Vor allem aber verrät jener Satz die anachronistische Logik in Monks Argumentation. Weil Addisons Begriff der ›Größe‹ in manchem mit dem Begriff des Erhabenen konvergiert, wie ihn Kant rund 80 Jahre nach Addison in der Kritik der Urteilskraft formuliert hat, werden die Essays ohne weiteres als genuiner Beitrag zur Erhabenheitstheorie gelesen. Monk lässt sich dabei nicht von dem durchaus wahrgenommenen Umstand irritieren, dass Addison an anderer Stelle das Wort sublime ganz ausgiebig verwendet, nämlich in seinen eigentlich literaturkritischen Schriften, speziell in jenen über Miltons Paradise Lost.259 »All of this is far from being a theory of the sublime«260, wird den entsprechenden Texten knapp beschieden. Gemessen an den Standards der Kant’schen oder auch Burke’schen Theorie trifft das durchaus zu, nicht aber, wenn man den seinerzeit aktuellen Klassiker der Erhabenheitstheorie zum Maßstab nimmt. So hat Hipple im Blick auf Addisons Milton-Interpretation treffend bemerkt: »The term ›sublimity‹ is really confined in its application to images, to sentiments, and to certain devices of language; Addison uses the word, in short, precisely as Longinus does«261. Bei Addison findet sich einerseits eine unmittelbar Longin-inspirierte262 poetologische bzw. literaturkritische Theorie des Sublimen, die vor allem um die Erhabenheit von Empfindungen (sentiments) und Gedanken (thoughts) insbesondere des epischen Helden kreist;263 um solche Empfindungen und Gedanken also, die sich in ihrem Adel von ›niedrigen und gemeinen‹264 abheben und die, werden sie mit den entsprechenden sprachlichen Mitteln dargestellt,265 den Leser mit einem ureigenen Ernst266 ›erheben und hinrei-
258 Vgl. J. ADDISONs Erörterungen zum Scheitern der Einbildungskraft angesichts des unermesslich Großen: Essays, No. 420, 303f. 259 Vgl. S. A. MONK: aaO. 56. Es sind vor allem die Spectator-Nummern 279 und 285 aus dem Januar 1712 einschlägig. 260 S. A. MONK: aaO. 57. 261 W. J. HIPPLE: The Beautiful, 16f. 262 Vgl. J. ADDISON: The Spectator, No. 279, 332: »Let the Reader compare what Longinus has observed on several Passages in Homer, and he will find Parallels for most of them in the Paradise Lost.« 263 AaO. 331: »Milton’s chief Talent, and indeed his distinguishing Excellence, lies in the Sublimity of his Thoughts. There are others of the Moderns who rival him in every other Part of Poetry; but in the Greatness of his Sentiments he triumphs over all the Poets both Modern and Ancient, Homer only excepted.« 264 AaO. 331f: »low and vulgar«. 265 Vgl. aaO. No. 285, 352: »Milton […] made the Sublimity of his Stile equal to that of his Sentiments.« 266 Vgl. aaO. No. 279, 333: »that serious Air which seems essential to the Magnificence of an Epic Poem«.
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ßen‹, anstatt ihn nur charmant und gefällig zu unterhalten.267 Wenige Monate später formuliert Addison daneben eine »ästhetische« Theorie des Großen, die innerhalb der speziellen Fragestellung nach den »Freuden« visueller Eindrücke oder Vorstellungen den Gefallen an großen Naturerscheinungen – sei es in unmittelbarer Präsenz, in Gemälden, in der Plastik oder in dichterischen Beschreibungen – untersucht. Angesichts der offensichtlichen Heterogenität der beiden Theorien versteht es sich indes alles andere als von selbst, wie diese zueinander ins Verhältnis zu setzen sind. Es gibt gewisse Berührungspunkte, insofern beispielsweise hier wie dort vom ›Erstaunen‹ oder ›Erschaudern‹ (astonishment) die Rede ist, insofern Homer sowohl als Musterautor für das Erhabene als auch für das Große angeführt wird, insofern außerdem auch das Große als Quelle »erhabener Ideen« bezeichnet wird. Im Kern aber stehen beide Theorien einander recht fremdartig gegenüber, und so repräsentieren Addisons Essays aus dem Jahre 1712 – ganz entgegen ihrer Wirkungs- und Interpretationsgeschichte – ein Stadium der Erhabenheitstheorie, in dem eine »identification of the sublime with physical vastness«268 trotz der Ansätze bei Longin gerade noch nicht vollzogen ist, in dem das Erhabene der Dichtung und das Große der Natur noch je unterschiedliche Komponenten der Poetik bzw. Ästhetik darstellen.269 267
Vgl. aaO. 331: »He [sc. Vergil; M.F.] every where charms and pleases us by the Force of his own Genius; but seldom elevates and transports us where he does not fetch his Hints from Homer.« Vgl. ferner 333, wo im gleichen herabstufenden Sinn von entertainment die Rede ist. 268 W. J. HIPPLE: The Beautiful, 18. Es ist an dieser Stelle auch K. AXELSSON: The Sublime. Precursors and British Eighteenth-Century Conceptions (2007) zu nennen. Axelsson übergeht die Differenz zwischen den Begriffen ›Erhabenheit‹ und ›Größe‹ mit der vagen Auskunft: »greatness […], to Addison, is similar to the sublime« (137). Diese Unschärfe steht im Zusammenhang mit der Doppelthese der Studie, bereits von Longin her stehe das Theorem einer gesteigerten Tätigkeit der Einbildungskraft – welche bei Addison weniger das Sublime als das Große prägt – im Zentrum des Erhabenheitskonzepts, und für England seien die Debatten des 17. Jahrhunderts um die Disziplinierung jenes Geistesvermögens eine entscheidende theoriegeschichtliche Voraussetzung für die ästhetische Karriere des Sublimen im 18. Jahrhundert. Angesichts dieses sehr spezifischen Beweisziels ist der sehr allgemeine Titel von Axelssons Buch irreführend. Für die Frage, wie es innerhalb der englischen Erhabenheitstheorie zum einen zur Fokussierung auf die Rolle der Einbildungskraft und zum anderen zur Fokussierung auf die Naturerfahrung gekommen ist – beides gipfelt später in Kants ›Analytik des Erhabenen‹ –, liefert Axelsson indessen interessantes Material. 269 Eine Assoziation gewisser Landschaftstypen, die sich nicht durch herkömmliche Schönheit, sondern gerade durch Wildnis, Größe, Verlassenheit, Stille etc. auszeichnen, mit dem Begriff des Erhabenen findet sich im berühmten Natur-Hymnus von Shaftesburys Moralists (1709). Was die verschiedenen Naturansichten, die am Ende summarisch mit dem Titel ›sublime‹ belegt werden, verbindet, ist ihre Fähigkeit, Gedanken an das Göttliche zu evozieren. Insofern erinnert der Hymnus an Dennis’ Erhabenheitskonzept, in dem die Anregung zur Kontemplation als wesentliches Kriterium des Sublimen rangiert (s.o.). Eine ausgeführte Ästhetik des Natur-Erhabenen bietet Shaftesbury nicht.
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Im Übrigen ist die Lektüre beider Theorien auch für die Gewichtung der Rolle des Schreckens innerhalb des Erhabenen aufschlussreich. Addison thematisiert ausdrücklich das Ergötzen am Schrecklichen, das nach Zelle geradezu das Wesen des Erhabenen ausmacht. Er tut dies freilich nicht innerhalb seiner Theorie des Erhabenen, sondern in den Essays On the Pleasures of the Imagination, hier aber nicht innerhalb der Analyse des Großen, Ungewöhnlichen oder Schönen, sondern im Zusammenhang des anschließenden Ausweises nachgeordneter »Prinzipien« ästhetischen Vergnügens. Neben der Nachahmung270 und der Idealisierung271 der Natur durch die Einbildungskraft wird hier die Möglichkeit der Beschreibung und Erregung von Leidenschaften verhandelt. Dabei kommt der Autor der Essays auch auf die Frage nach dem Vergnügen an schrecklichen Gegenständen in dichterischen Beschreibungen zu sprechen und beantwortet sie mit dem – später zum Basistheorem des Erhabenen avancierenden – Verweis auf »die in diese Wahrnehmung einschießende Reflexion über unsere eigene Sicherheit«272. Es handelt sich bei dieser Sonderform des ästhetischen Vergnügens im Gegensatz zum Großen gar nicht eigentlich um ein Vergnügen der Einbildungskraft, sondern, kantisch ausgedrückt, um eine Reflexionslust, wie Addison selbst andeutet.273 Davon ist dann noch einmal das Vergnügen an dem zu unterscheiden, was Addison mit Dryden the fairy way of writing nennt: die spezifische Wirkung von Schilderungen fiktiver Gestalten aus der Sagen- und Fabelwelt, die beim Leser a pleasing kind of horrour hervorrufen: ein Vergnügen, das Addison nicht etwa mit besagtem Sicherheitsbewusstsein begründet, sondern vor allem mit seiner Kategorie des ›Ungewöhnlichen‹.274 Die vorgetragenen Beobachtungen führen zu dem Schluss, dass sich bei Addison tatsächlich »no hint of the sublimity of the terrific«275 findet – auch wenn er von Zelle im Rahmen seiner ›doppelten Ästhetik‹ zum zentralen
Vgl. A. A. COOPER, EARL OF SHAFTESBURY: The Moralists, a Philosophical Rhapsody (1709), 98ff (in der deutschen Übersetzung von J. J. SPALDING: Die Sittenlehrer oder Erzehlung philosophischer Gespräche, welche die Natur und die Tugend betreffen, 226ff). 270 Vgl. J. ADDISON: Essays, No. 418, 297. 271 AaO. 298f. 272 K. POENICKE: Eine Geschichte der Angst? Appropriationen des Erhabenen in der englischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts, 83. 273 Vgl. J. ADDISON: aaO. 297: »Pleasure of the Understanding«. 274 Vgl. aaO. No. 419, 300: »These Descriptions raise a pleasing kind of Horrour in the Mind of the Reader, and amuse his Imagination with the Strangeness and Novelty of the Persons who are represented in them.« Die oben genannte Differenz verwischt C. ZELLE: Angenehmes Grauen, 160. 275 W. J. HIPPLE: The Beautiful, 20.
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Autor des »Wahrnehmungsschreckens«276 stilisiert wird. Der Schrecken hat seinen primären Ort bei Addison weder im Kontext des Erhabenen noch des Großen noch des Ungewöhnlichen. Vielmehr kommt er im Zusammenhang der Analyse einer ästhetischen Sondererfahrung vor, die weder in der Erhebung des Gemüts angesichts erhabener Charaktere noch in der unmittelbaren Freude an der weiten Aussicht noch in dem Amüsement am Fabelhaften besteht, sondern in einer spezifischen Entspannungswirkung, die sich einem »distanzschaffenden Perspektivwechsel vom belastenden Schreckenseindruck zum angenehmen Bewußtsein eigener Sicherheit«277 verdankt. Affinitäten zur Naturerfahrung des Großen oder zur Poesie des Sagenhaften bestehen allenfalls darin, dass hier jeweils gewisse Momente oder Formen des Schreckens (terror) oder Schauders (horrour) im Spiel sind. All diese ästhetisch relevanten »Arten des Schauders«278 auf einen Nenner oder gar auf den Begriff des Erhabenen bringen zu wollen, bedeutete zumindest im Vergleich zu Addisons Ästhetik eine gewaltige Entdifferenzierung.279 Nimmt man Dennis’ Begriff des enthusiastic terror hinzu, kann zwar mit Recht gesagt werden, dass das Element des Grauens in der englischen Ästhetik von vornherein präsent ist; von dem ›angenehmen Grauen‹ zu sprechen und es ohne weiteres der Ästhetik des Erhabenen zuzuschlagen, ginge dagegen, gemessen an der Komplexität der Verhältnisse, fehl. Mit Longin rechnet Dennis (deutlicher als Addison) damit, dass ein Moment des Schauders vor dem Übermächtigen mit der erhabenheitskonstitutiven Bewunderung verschwistert sein kann. Ähnlich vermag sich das Erstaunen angesichts des Großen nach Addison bis zum delightful horrour vor der übermächtigen Gewalt des sturmgepeitschten Ozeans zu entwickeln, während die Lust an Beschreibungen schrecklicher Gefahr oder an Schilderungen kurioser Fabelwesen sich wiederum anderen Quellen verdankt. Insgesamt sind die ästhetisch einschlägigen Phänomene des Schauderhaften in der Frühzeit der englischen Ästhetik jedenfalls noch nicht zum SchrecklichErhabenen »fixiert«280, so wenig wie das Erhabene im Sinne der Monk-Zel-
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C. ZELLE: Die doppelte Ästhetik, 124. C. ZELLE: Angenehmes Grauen, 160. 278 Vgl. J. ADDISON: Essays, No. 418, 298: »a different kind of Horrour«. 279 Die beschriebene Simplifizierungstendenz hat kanonische Gestalt gewonnen in P.A. ALT: Aufklärung, 84ff. Vgl. 87: »Addisons Leistung besteht darin, daß er den Begriff des Erhabenen (bei ihm aufgehoben in der Kategorie ›Greatness‹) mit einer konzisen Theorie der Imagination zusammenführt […]. Erhaben ist, so darf man Addisons Definition resümieren, was als Naturreiz das Gemüt des Menschen überwältigt und dabei eine gemischte Empfindung in ihm freisetzt, die Lust- und Unlustgefühle, freudige Erregung und Widerwillen gleichermaßen enthält.« 280 C. ZELLE: Die doppelte Ästhetik, 124. 277
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le’schen Emotionalismusthese schlicht als Inbegriff des ästhetischen Strebens nach Affektsteigerung gefasst werden kann. 1.2.3. Empiristische Restriktion: Edmund Burke Die angesprochene schreckenszentrierte und emotionalistische Lesart, wie sie vom englischen und vom deutschen Pionier der Geschichtsschreibung des Sublimen exemplarisch formuliert worden ist, lässt sich mit Klaus Poenicke auf die Neigung zurückführen, »die Geschichte des Erhabenen […] rigoros teleologisch zu begreifen«281. Nur dürfte sich in der besagten Tendenz als geheimes Leitbild der begriffsgeschichtlichen Analyse weniger Kants Konzeption des Erhabenen zur Geltung bringen, wie Hipple angenommen hat,282 als vielmehr diejenige Edmund Burkes. Zelle wenigstens hat den teleologischen Charakter der eigenen Geschichtsdarstellung klar offenlegt, mit dem Satz: »Die englische Entwicklung kulminiert in der Definition des Erhabenen durch den Schrecken bei Edmund Burke […], dessen Ästhetik von konsequent dichotomischer Architektur […] geprägt ist.«283 Tatsächlich hat niemand zuvor einen im Kern so klar umrissenen Begriff des Erhabenen formuliert wie der Ire Edmund Burke (1729–1797), und schon deshalb markiert die Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757) des nachmaligen Abgeordneten des britischen Unterhauses einen Einschnitt in der Theoriegeschichte. So versteht der Autor selbst seine Untersuchung als eine Art Neuanfang. »It was in an effort to correct the confusion and ambiguity of discussions of beauty and sublimity that young Burke undertook his investigation of the subject.«284 Nun hatten im Grunde alle Vorgänger Burkes versucht, dem Erhabenen mit ihren Theorien klarere Konturen zu verleihen, als sie aus Longins »incomparable discourse«285 – so immerhin auch Burke – zu gewinnen waren. Dessen höchst einflussreicher Klärungsversuch stellt dennoch »einen Wendepunkt 281
K. POENICKE: Eine Geschichte der Angst?, 77. Vgl. W. J. HIPPLE: The Beautiful, 284. 283 C. ZELLE: aaO. 125 (Hvhg. M.F.). Auch S. A. MONK lässt seine Prägung durch Burkes Begriff des Sublimen erkennen. Im Anschluss an seine kaum zu bestreitende Einschätzung, historisch betrachtet sei Burkes Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful »certainly one of the most important aesthetic documents that eighteenth-century England produced« (The Sublime, 86f), gibt er an, worin er diese Bedeutung erblickt: »The keystone of Burke’s aesthetic is emotion, and the foundation of his theory of sublimity is the emotion of terror« (87). 284 S. A. MONK: The Sublime, 85. 285 E. BURKE: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful, Preface to the first Edition (1). Burke-Zitate werden im Folgenden mit der Seitenzahl der jeweiligen Ausgabe in Klammern angegeben. Die Übersetzungen stammen aus der deutschen Ausgabe von F. BASSENGE (hg. v. W. STRUBE). 282
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in der modernen Geschichte des Erhabenen«286 dar, insofern er sich mit Entschiedenheit einer empirischen Methode bedient. Burke … deliberately closes his mind to the dicta of the past, forgets Longinus, Boileau, et al., and attempts the somewhat heroic tasc of building up a system on his own observations of his physical and mental being. For this reason, Burke is original as none of his predecessors had been, and the Enquiry marks a new departure in aesthetic thought.287
Das grundlegende Theorem von Burkes Untersuchung ist die Unterscheidung zweier völlig heterogener Grundformen angenehmer Empfindung. So wird neben dem einfachen Vergnügen (pleasure) – dem Effekt des Schönen – auch »the feeling which results from the ceasing or diminution of pain«288 als ästhetisch einschlägiges Gefühl etabliert und, unter der Bezeichnung delight, dem Erhabenen zugeordnet. Die erhabene Empfindung wird nun – analog zu Addisons Beschreibung einer Spezialform ästhetischer Erfahrung – bestimmt als Effekt der Wahrnehmung von Gefahr oder Schmerz »aus einer gewissen Distanz«289: als »Frohsein«290 ob der eigenen Sicherheit, die vom Erschrecken vor dem Wahrgenommenen gleichwohl durchdrungen ist und daher, mit dem Begriff der deutschen Schulpsychologie, als ›vermischte Empfindung‹ zu charakterisieren ist: »a sort of delightful horror, a sort of tranquillity tinged with terror«291. Das Erhabene wird von Burke konzipiert als »a twofold movement of the soul, a response to the object and a selfreflection […]; it excites delight from presenting ideas of pain and danger without actually afflicting us«292. Damit wird der Schrecken bei Burke ausdrücklich zum »ruling principle of the sublime«293: Whatever is fitted in any sort to excite the ideas of pain, and danger, that is to say, whatever is in any sort terrible, or is conversant about terrible objects, or operates in a manner analogous to terror, is a source of the sublime; that is, it is pro-
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Alles, was auf irgendeine Weise geeignet ist, die Ideen von Schmerz und Gefahr zu erregen, das heißt alles, was irgendwie schrecklich ist oder mit schrecklichen Objekten in Beziehung steht oder in einer dem Schrecken ähnlichen Weise
J. HEININGER: Art. Erhaben, 289. S. A. MONK: aaO. 92. 288 E. BURKE: A Philosophical Enquiry I,4 (33). 289 Vgl. aaO. I,7 (36f): »When danger or pain press too nearly, they are incapable of giving any delight, and are simply terrible; but at certain distances, and with certain modifications, they may be, and they are delightful, as we every day experience.« 290 F. BASSENGE folgt mit seiner Wiedergabe von delight mit ›Frohsein‹ M. MENDELSSOHN: Anmerkungen über das englische Buch: On the Sublime and the Beautiful (1758), 248. 291 E. BURKE: aaO. IV,7 (123). 292 W. J. HIPPLE: The Beautiful, 89. 293 E. BURKE: aaO. II,2 (54). 287
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ductive of the strongest emotion which the mind is capable of feeling.294
wirkt, ist eine Quelle des Erhabenen; das heißt, es ist dasjenige, was die stärkste Bewegung hervorbringt, die zu fühlen das Gemüt fähig ist.295
Im Blick auf Burke ist es zweifellos angebracht, von einer Zentralstellung des Schreckens innerhalb der Erhabenheitstheorie zu sprechen. Tatsächlich werden die unterschiedlichsten Qualitäten von Gegenständen – Größe, Macht, Pracht, Unendlichkeit, Plötzlichkeit, Dunkelheit, Lärm, Unvollendetsein und andere mehr – auf das besagte Schlüsseltheorem zurückgeführt. Burkes Ästhetik kann zudem mit Recht als »emotionalistisch« bezeichnet werden, insofern sie das Erhabene dem Schönen aufgrund seiner intensiveren Wirkung klar vorzieht.296 Den Grund für diese intensive Wirkung erblickt Burke im Zusammenhang des Schreckens mit dem menschlichen Selbsterhaltungstrieb. Daher rangiert der Tod beim Menschen als »king of terrors«297 und die Todesdrohung folgerichtig als höchster Gegenstand des Erhabenen. Diese Seite der Burke’schen Theorie ist besonders wirkungsmächtig gewesen, wie etwa ein Blick auf Kants ›Analytik des Erhabenen‹ zeigt. Ähnlich wie später Kant rechnet auch Burke, übrigens mit Verweis auf Longin, mit einem »Gefühl innerer Größe«, das sich bei der Betrachtung schreckenerregender Gegenstände »ohne eigene Gefahr«298 einstellt – auch wenn die jeweiligen Begründungen selbigen Triumphgefühls wenig miteinander gemein haben. Geringe Resonanz hingegen hat Burke mit seiner an Dubos gemahnenden299 physiologischen Erklärung des Wohlgefallens am Schrecklich-Erhabenen gefunden, die den originellsten Teil der Enquiry darstellt.300 »This physiological theory was reckoned an absurdity even in the eighteenth century.«301 Insgesamt lässt sich die Burke-Rezeption im 18. Jahrhundert also mit Hipple als ambivalent beschreiben: »There is a tendency among aestheticians and scholars […] to regard the Sublime and Beautiful [d.i. Burkes Enquiry; M.F.] as valuable chiefly for its collection of aesthetic data but as negligible philosophically.«302 Auch bei prominenten deutschen Autoren gilt 294
AaO. I,7 (36). AaO. I,7 (72). 296 Vgl. aaO. I,7 (36): »I say the strongest emotion, because I am satisfied the ideas of pain are much more powerful than those which enter on the part of pleasure.« 297 Ebd. 298 AaO. I,17 (86). 299 Vgl. S. A. MONK: aaO. 97; C. ZELLE: Angenehmes Grauen, 193. 300 Vgl. E. BURKE: aaO. IV,3. Laut Burke geht das Erhabene auf eine besondere Anspannung der Nerven zurück. 301 W. J. HIPPLE: The Beautiful, 92. Fürsprache findet jene Theorie bei C. ZELLE: aaO. 193f. 302 W. J. HIPPLE: aaO. 98. 295
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Burke als guter Beobachter ästhetischer respektive psychologischer Phänomene, aber als mäßiger Philosoph.303 Die wichtigste Wirkung von Burkes Theorie ist indessen sicher die »Zentrierung des Erhabenen um den Schrecken«304. Auf Burke trifft tatsächlich zu, was Zelle von der »Begriffsentwicklung in England« in toto behauptet: Er nämlich »akzentuiert« tatsächlich »das Paradox des Erhabenen, daß das Schreckliche schön erscheint und das Abstoßende anziehend wirkt. Dadurch wird der negative Grund des Erhabenen fixiert. Unter dem Mantel des Erhabenen findet das Nicht-mehr-Schöne: Entsetzliche, Schreckliche und Häßliche Einlaß in die Ästhetik«305. Auch wenn sich die wenigsten Ästhetiker auf Burkes Theorie der aus der Distanz wahrgenommenen Gefahr festlegen lassen, ist doch für viele deutschen Burke-Leser das Erhabene fürderhin wesentlich eine in sich gegenstrebige, gemischte Empfindung angesichts eines dem unmittelbaren Gefallen zunächst zuwiderlaufenden Gegenstandes. Es soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass gerade die Prävalenz des Schreckens in Burkes Theorie den Zeitgenossen alles andere als selbstverständlich erschien. »[A]lthough in the main the essay was favorably received, the critics were unanimous in stating that Burke had attempted to restrict the sublime too closely when he excluded all emotions but terror from its sphere«306. Es wird von den Kritikern zwar eingeräumt, dass der Schrecken ein Epiphänomen des Erhabenen sein möge, als entscheidendes Wesensmerkmal kommt für viele jedoch eher die Bewunderung infrage.307 So treten selbstverständlich auch nach dem Erscheinen der Enquiry bedeutende Theoretiker auf, die das Sublime im Kern ganz anders konzipieren. Henry Home (Lord Kames) etwa betont in seinen Elements of Criticism (1762) – »one of the most elaborate and systematic treatises on aesthetics and criticism«308 –, dass Größe und Erhabenheit an sich »pleasant emotions« hervorrufen, nämlich eine Erhebung des Herzens und eine Erweiterung des Gemüts.309 Mit dem Schrecken können die fraglichen Emotionen demnach nur eine sekundäre Verbindung eingehen. Es ist mit Werner Stru303
Vgl. M. MENDELSSOHN: Anmerkungen, 247: »Der ungenannte Herr Verfasser sucht auch alle bekannte Systeme niederzureißen. Allein seine Philosophie scheint uns an vielen Orten nicht gründlich genug, und er, die Systeme nicht recht untersucht zu haben, die er zu widerlegen glaubt. Es wäre zu wünschen, daß die Engländer so fleißig unsere Philosophie studirten, als wir ihre Beobachtungen zu Rathe ziehen.« 304 C. ZELLE: aaO. 192. 305 C. ZELLE: Die doppelte Ästhetik, 124. 306 AaO. 98. 307 Vgl. C. ZELLE: Angenehmes Grauen, 189f. 308 W. J. HIPPLE: The Beautiful, 99. 309 H. HOME: Elements of Criticism (1762), Bd. 1., 272f: »the heart swells and the mind is delated«; vgl. auch 268.
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be in jedem Falle festzuhalten, dass Burkes Enquiry – neben Joseph Addisons Essays und Robert Lowths einschlägigen Praelectiones310 der in Deutschland einflussreichste englische Beitrag zur Erhabenheitstheorie – im Vergleich zu deren Hauptstrom eine enorme Reduktion bedeutet. Im Zuge einer deutlichen »Vereinseitigung der ästhetischen Begriffe«311 hat Burke »allein den Typus des ›Furchtbar-Erhabenen‹ fixiert und nicht den des Feierlich-Erhabenen oder des Erhabenen, das ›mit stiller Majestät wirkt‹, ›nicht drohend, sondern herzerhebend‹. Die gotische Kathedrale oder der sternenklare Nachthimmel […] sind mit Burkes Bestimmung des Erhabenen nicht getroffen«312. Trotz der betreffenden Reduktion – Preis für den entschlossen »empiristisch-sensualistischen«313 Ansatz und die entsprechend große systematische Geschlossenheit von Burkes Theorie – finden sich in der Enquiry noch etliche Spuren der älteren, stärker Longin-geprägten Theorietradition, die auch nur relativ äußerlich in selbige Theorie integriert sind. Hier ist zuerst das bereits angesprochene »Gefühl innerer Größe« zu nennen, das an die entsprechenden Motive etwa bei Baillie, Silvain und bei Boileau erinnert und letztlich auf den ethisch-metaphysischen Komplex von Seelenaufschwung und Hochsinnigkeit bei Longin zurückweist. Ferner gewinnt Burkes Begriff des Sublimen de facto einen unerwartet starken metaphysischen Einschlag angesichts der zentralen Rolle, die darin der Unendlichkeitsidee zugeschrieben wird. So gibt Burke zu bedenken, »daß kaum irgend etwas dem Gemüt durch seine Größe imponieren kann, das sich nicht irgendwie dem Unendlichen näherte«314. Zum Beleg wird nicht nur auf Miltons Beschreibung des Satans, sondern auch auf »eine Stelle von auffallender Erhabenheit«315 aus dem Buch Hiob316 verwiesen, einem weiteren klassischen Bezugstext der zeitgenössischen Debatte.317 Begründet wird jene These freilich im Sinne der leitenden Logik der Enquiry anhand der »ahnungsvollen Dunkelheit«318 und der damit gegebenen »schreckensvollen Unbestimmtheit«319, die mit einschlägigen Beschreibungen verbunden sei. Schließlich begegnet in dem Abschnitt über die Macht (power) als vorzügliche Quelle des erhabenheitskonstitutiven Schreckens überraschender310
R. LOWTH: De sacra poesi hebraeorum praelectiones (1753). S.u. Kap. 4. W. STRUBE: Schönes und Erhabenes, 48. 312 W. STRUBE: Einleitung, 19. 313 AaO. 9. 314 E. BURKE: aaO. II,4 (58): »that hardly any thing can strike the mind with its greatness, which does not make some sort of approach towards infinity«. 315 AaO. II,4 (98). 316 Hiob 4,13–17. 317 Vgl. unten Kap. 4.3.3.2. 318 E. BURKE: aaO. II,4 (97). 319 AaO. II,4 (98). 311
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weise eine Theorie der sinnenfälligen Gottesvorstellung bzw. -darstellung.320 Diese Theorie hat ihren Ausgangspunkt in der Einsicht in die Abstraktheit des Gottesbegriffs und seiner Attribute sowie in die Notwendigkeit, »zu diesen reinen intellektuellen Ideen durch das Medium sinnlicher Bilder aufzusteigen«321. Womöglich verrät sich an dieser Stelle ein Einfluss von Robert Lowth, der entsprechende Reflexionen in seinen bereits 1753 erschienenen Vorlesungen über die heilige Poesie der Hebräer ausgebreitet hatte.322 Burkes Enquiry konvergiert in diesem Punkt aber auch mit entsprechenden Gedanken innerhalb des deutschsprachigen Erhabenheitsdiskurses im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts.323 Erhaben ist nun offensichtlich das Zustandekommen eines solchen Aufstiegs zur Idee des Göttlichen selbst bzw. eine dichterische Gottesdarstellung, die ihn ermöglicht – und mithin das ›ehrfurchtsvolle‹324 Erlebnis, »von der göttlichen Macht berührt zu werden«325. Unerreichbare Muster für derartige Erhabenheit bietet laut Burke allein die Bibel: Aber die Heilige Schrift allein kann uns Ideen an die Hand geben, die der Majestät dieses Gegenstandes angemessen sind. Allenthalben, wo Gott in der Heiligen Schrift als erscheinend oder redend dargestellt wird, da wird jedes schreckenerregende Ding 320 Burke hat selbst damit gerechnet, dass man die religiöse Erhabenheitserfahrung »als Einwurf gegen meine Vorstellungen in diesen Dingen« (aaO. II,5 [103]), also gegen den empiristischen Ansatz seiner Theorie, gebrauchen würde. Er streicht aber heraus, jene Erfahrung sei vielmehr eine »klare Bestätigung« (ebd.) desselben. 321 Vgl. aaO. II,5 (103f): »Ich sage also: solange wir die Gottheit lediglich als ein Objekt des Verstandes betrachten, das eine komplexe Idee von Macht, Weisheit, Gerechtigkeit und Güte darstellt – alle in einem Grade genommen, der die Grenzen unserer Fassungskraft weit übersteigt – solange wir die Gottheit in diesem verfeinerten, abstrakten Lichte betrachten, werden unsre Einbildungskraft und unsre Leidenschaften wenig oder gar nicht affiziert. Aber weil wir durch die Bedingungen unsrer Natur genötigt sind, zu diesen reinen intellektuellen Ideen durch das Medium sinnlicher Bilder aufzusteigen und jene göttlichen Qualitäten nach ihren sichtbaren Wirkungen und Äußerungen zu beurteilen: so wird es uns äußerst schwer, unsere Idee der Ursache genau von der Wirkung zu scheiden, durch die wir zu ihrer Kenntnis gelangt sind. So also formen, wenn wir die Gottheit betrachten, die Attribute und deren Wirkungen, indem sie sich dem Gemüte vereinigt darbieten, eine Art von sinnlichem Bilde und werden als solche fähig, unsre Einbildungskraft zu affizieren. Obgleich nun in einer richtigen Idee der Gottheit vielleicht keine ihrer Attribute überwöge, so ist doch die Macht für unsere Einbildungskraft bei weitem das wichtigste Attribut. Damit wir uns von der göttlichen Weisheit, Gerechtigkeit und Güte überzeugen, ist einiges Nachdenken und einiges Vergleichen nötig; um aber von der göttlichen Macht berührt zu werden, brauchen wir nur die Augen zu öffnen. Indem wir uns das unermeßliche Objekt, das sich uns dabei darbietet, in der Hand der Allmacht und überall von Allgegenwart erfüllt vorstellen, schrumpfen wir zu der Winzigkeit unserer eigenen Natur zusammen und werden gewissermaßen vor Gott vernichtet.« 322 S.u. Kap. 4.4.2. 323 S.u. die Kapitel 2, 3 und 5. 324 Vgl. aaO. II,5 (103): awe (62). 325 AaO. II,5 (104).
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der Natur aufgeboten, um das Ehrfurchtsvolle (awe) und Feierliche (solemnity) der göttlichen Gegenwart zu erhöhen. Die Psalmen und die prophetischen Bücher sind hierfür voll von Beispielen: ›Die Erde bebete und ward beweget‹, sagt der Psalmist, ›er neigete den Himmel und fuhr herab.‹ (Ps 18,8.10) – Und bemerkenswerterweise zeigt die Darstellung diesen Charakter nicht nur, wenn Gott vorgestellt wird, wie er herabkommt, um Rache an den Gottlosen zu nehmen, sondern behält ihn auch dann, wenn Gott die gleiche Fülle seiner Macht sich in Handlungen der Wohltätigkeit gegen die Menschheit äußern läßt: ›Vor dem Herrn bebete die Erde, vor dem Gott Jakobs, der den Fels wandelte in Wassersee und die Steine in Wasserbrunnen.‹ (Ps 114,7f) Man kann weder bei den heiligen noch bei den weltlichen Schriftstellern die Stellen zählen, die das allgemeine Gefühl des menschlichen Geschlechts hervortreten lassen, daß eine heilige und ehrfurchtsvolle Scheu mit unseren Ideen von der Gottheit untrennbar verbunden ist (the general sentiment of mankind, concerning the inseperable union of a sacred and reverential awe, with our ideas of the divinity).326
Es bedarf kaum weiterer Belege dafür, dass auch Burkes sensualistisches Erhabenheitskonzept von einer religiösen Ader durchzogen ist, worauf überdies die Affektbegriffe astonishment (Erstaunen, Erschaudern), reverence (Ehrfurcht) und awe (Ehrfurcht, Schauer)327 hindeuten, die in die Sphäre der religiösen Erfahrung weisen. Es ist nicht auszuschließen, dass nicht zuletzt diese Nebenlinie innerhalb der Enquiry dazu beigetragen hat, dass sie auch in Deutschland nachhaltigen Eindruck gemacht hat, auf Denker wie Herder, Mendelssohn und Kant, die nicht zuletzt in Aufnahme und Kritik an Burkes materialreichem und geschlossenem Entwurf ihre eigenen Konzeptionen entwickeln.328 1.2.4. Das ›Erhabene‹ und das ›Wunderbare‹: Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger Die Renaissance des Erhabenen in Deutschland begann indessen lange vor Burkes Enquiry. Genau 30 Jahre vor ihrem Erscheinen veröffentlichen in Zürich die beiden einflussreichen Kritiker Johann Jacob Bodmer (1698– 1783) und Johann Jacob Breitinger (1701–1776) gemeinsam eine Schrift Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft (1727), die als erstes wichtiges Zeugnis der modernen Wiederentdeckung Longins im deutschsprachigen Raum gelten kann. Das Buch ist als erster Band eines projektierten (und nie weitergeführten) fünfteiligen Grundlagenwerks zur Dichtkunst konzipiert. Als dessen Abschluss war laut Vorrede ein Kommentar zu Peri Hypsous geplant, um im Medium der Kritik an Longin329 »von dem 326
AaO. II,5 (dt. 105f; engl. 63f). Burke spricht vom »sacred and reverential awe« (aaO. II,5, 64). 328 Vgl. zur Wirkung Burkes in Deutschland W. STRUBE: Einleitung, 24ff. 329 Vgl. J. J. BODMER/J. J. BREITINGER: Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft, Vorrede (unpag.) »Hier untersuche ich von Capitel zu Capitel den Tractat 327
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höchsten Grade der Vollkommenheit, zu welchem die Seele in dem Punct der Wolredenheit hinauf steigen kann, nemlich dem Erhabenen in den Schrifften«330 zu handeln. Tatsächlich scheint der longinische Begriff des Erhabenen in der Poetik »der Schweizer«, wie die beiden Züricher Kunstrichter in der Literaturwissenschaft genannt zu werden pflegen, eine »programmatische Rolle«331 zu spielen, wie Zelle notiert hat, und die prominente Nennung des »Longinus, so der eintzige ist, der über diese Materie geschrieben hat«332, wird in Deutschland wesentlich zu dessen Konjunktur beitragen. Nun wurde der betreffende Longin-Kommentar bedauerlicherweise nie geschrieben, und es stellt sich von daher die Frage, wie die Leitidee von Peri Hypsous in den tatsächlich veröffentlichten poetologischen Schriften der Schweizer zur Geltung gekommen ist. Zelle verweist hier unter anderem auf Bodmers Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde der Dichter (1741), in denen er die »erstmalige[ ] Entgegensetzung von Schönheit und Erhabenheit« »in der deutschen Poetikgeschichte« findet.333 Zwar begegne die »neue Kategorie« hier »unter den Namen des ›Großen‹ und ›Ungestümen‹«;334 da sich darin aber ohne weiteres »Präfigurationen des Mathematisch- und Dynamisch-Erhabenen bei Kant«335 erblicken ließen, fällt diese terminologische Differenz für Zelle nicht ins Gewicht. Weil außerdem die besondere ästhetische Kraft des Großen und des Ungestümen in Zelles Lesart »auf dem Affekt des Schreckens gründet[ ]«336, steht für ihn die Identität mit dem Erhabenen außer Frage. Wie die Theorie Bodmers derjenigen Addisons in vielem ähnelt – Bodmer übersetzt ohne Ausweis teils wörtlich aus den Essays On the Pleasures of the Imagination –, so würde auch die Kritik an Zelles Argumentation im Großen und Ganzen den obigen Ausführungen zu seiner Addison-Interpretation gleichen. Es sei daher nur in aller Kürze notiert, dass insbesondere die Charakterisierung der Wirkung des Großen als Schrecken an Bodmers Beschreibung wesentlich vorbeigeht. Bodmer fasst diese Wirkung mit Addison als »angenehme Bestürzung« (Addison: pleasing astonishment) und »ergetzliche Stille« (delightful stilness) angesichts »gewisser unbegränzter Gedes Longinus, so der eintzige ist, der über diese Materie geschrieben hat. Ich getraue mir die Schwäche seines Buches mit erforderlicher Grundlichkeit und Deutlichkeit entdecket zu haben. Dagegen ich dann gantz neue Begrieffe von dem Erhabnen durch gültige Schlüsse herhole und festsetze.« 330 Ebd. 331 C. ZELLE: Schönheit, 67. 332 J. J. BODMER/J. J. BREITINGER: aaO. 333 C. ZELLE: aaO. 68. 334 C. ZELLE: Angenehmes Grauen, 261. 335 C. ZELLE: Schönheit, 68. 336 C. ZELLE: Angenehmes Grauen, 261.
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genstände«337. Er geht aber einen deutlichen Schritt über Addison hinaus (und einen Schritt auf Kant zu), wenn er diese ambivalente Empfindung als ein zweiphasiges Gefühl von Hemmung und Wiederbelebung der »Würcksamkeit des Gemüthes«338 begreift. Demgegenüber resultiert der eigentliche Schrecken aus der Vergegenwärtigung ungestüm-fürchterlicher Gegenstände durch die Einbildungskraft, wobei Bodmer eine Reflexion auf den Grund des Vergnügens an der Beschreibung solcher erschreckenden Sujets anders als Addison lediglich andeutet.339 Der entscheidende Einwand gegen eine vorschnelle Identifizierung des Großen und Ungestümen mit dem Erhabenen liegt indessen darin, dass Bodmer Gegenstände der Natur ausdrücklich von diesem ausschließt. Er tut dies in den auch von Zelle angeführten Lehrsätzen von dem Wesen der erhabenen Schreibart, die 1746 in den Critischen Briefen abgedruckt wurden (und die an anderer Stelle noch ausführlich zur Sprache kommen werden).340 Werke der Natur können demnach nicht Gegenstände des Erhabenen sein, weil sie nicht in der Lage sind, die charakteristische Bewunderung hervorzurufen, die dafür konstitutiv ist. Erhabene Sujets sind lediglich außergewöhnliche Menschen, übermenschliche Wesen wie die Engel und das höchste Wesen, die Gottheit. Es trifft nicht zu, dass Bodmer in den Lehrsätzen »den enthusiastischen Schrecken als Wirkungsabsicht des Erhabenen an[visiert]«341. Zwar wird unter den »grossen Bewegungen«, die das Erhabene im »Gemüthe der Leser«342 zu erregen imstande ist, auch der Schrecken (neben Entzücken, Mitleiden, Hochachtung, Abscheu und anderen Affekten) genannt; ausschlaggebend scheint – soweit man den recht vagen und unsystematischen Reflexionen eine konsistente Theorie entnehmen kann – aber doch die Bewunderung zu sein, die sich angesichts des Erhabenen »mit Bestürzung und Erstaunen vermischet«343. In den Lehrsätzen, die sich als Exzerpt von Aufzeichnungen aus der Zeit der Arbeit an der Schrift über die Einbildungskraft von 1727 zu erkennen geben, formuliert Bodmer also einen sehr spezifischen Erhabenheitsbe-
337
J. J. BODMER: Critische Betrachtungen über die poetischen Gemälde der Dichter,
211f. 338
AaO. 229. Vgl. aaO. 240: Die Natur versieht den Dichter »mit dem Widrigen, Furchtbaren und Erschrecklichen, aus welchem er durch seine Kunst nach Erfodern seiner Absichten das Ergetzen selbst herausziehen kan; gestalt das Schrecken selbst unter seiner Hand angenehm wird, e di mezzo la tema esce il diletto.« 340 S.u. Kap. 3.4. 341 C. ZELLE: Schönheit, 67. 342 J. J. BODMER: Lehrsätze von dem Wesen der erhabenen Schreibart, 220. 343 AaO. 221. 339
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griff,344 unter den das ›Große‹ und das ›Ungestüme‹ aus den Critischen Betrachtungen keinesfalls ohne weiteres subsumiert werden können. Ähnlich verhält es sich mit einem vierten Leitbegriff von Bodmers (und Breitingers) Poetik, den er vor allem in der Critischen Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen (1740) entfaltet hat. Das ›Wunderbare‹ scheint dem Erhabenen schon insofern nahezustehen, als Milton, der Ersteres in seinem Verlorenen Paradies für Bodmer paradigmatisch verwirklicht hat, auch »die Erhabenheit viele mahle […] zuwegengebracht«345. Bodmer spricht daher – in ähnlich allgemeinem Sinne – wiederholt vom »erhabenen Gedicht«346 Miltons. Auch erfüllt das Verlorene Paradies mit seinen handelnden Wesen (Gott, Engel, die ersten Menschen) die einschlägigen Bestimmungen aus den Lehrsätzen von dem Wesen der erhabenen Schreibart. Gleichwohl sind beide Begriffe auch nicht schlichtweg miteinander zu identifizieren, wie Zelle im Anschluss an Marilyn K. Torbruegge behauptet.347 Scheint doch für das Wunderbare die »Überweltlichkeit« konstitutiv zu sein, während für das Erhabene etwa in der Tragödie durchaus historische Personen infrage kommen. Miltons Epos »erzehlet uns von lauter hohen und göttlichen Dingen, welche ausser unserer Sphär liegen, und berichtet uns von den Verrichtungen, Gedancken und Sitten entweder unsichtbarer Wesen, oder gantz anderer Menschen, als die heut zu Tag lebenden sind«348, wohingegen die erhabene »Unerschrockenheit«349 eines Cato auf der Bühne durchaus noch im Bereich des Menschlichen und Menschenmöglichen anzusiedeln ist. Oder in der psychologischen, aus der Wolff’schen Schulphilosophie entlehnten Terminologie der Züricher Poetik ausgedrückt: Für das Erhabene ist die Einbildungskraft zuständig, für das Wunderbare,
344 Ähnlich scharf konturiert ist das Erhabene in J. J. BODMER: Untersuchung Wie ferne das Erhabene im Trauerspiele Statt und Platz haben könne; Wie auch von der Poetischen Gerechtigkeit (1736). 345 J. J. BODMER: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie […], Vorrede (unpag.). 346 Vgl. ebd.; ferner aaO. 11. 347 Vgl. C. ZELLE: Angenehmes Grauen, 274; und M. K. TORBRUEGGE: Johann Heinrich Füßli und ›Bodmer-Longinus‹. Das Wunderbare und das Erhabene, 170. Der Aufsatz ist ungeachtet dieses vergröbernden Urteils insofern interessant, als er den nach England ausgewanderten Schweizer Füßli (1741–1825) als einen der ersten Maler ausweist, der unter dem Einfluss von Bodmer bzw. Longin (und nicht etwa von Burke; vgl. aaO. 163f) das Erhabene bewusst in der bildenden Kunst umzusetzen versucht. Vgl. ferner DIES.: Bodmer and Longinus. 348 J. J. BODMER: Critische Abhandlung, 10. 349 Vgl. J. J. BODMER: Untersuchung, 103.
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das Breitinger als »die äusserste Staffel des Neuen«350 bestimmt, die Erfindungskraft.351 Bei Breitinger erfolgt die Definition des Wunderbaren primär über den Abstand des Dargestellten von »unsren gewöhnlichen Begriffen von dem Wesen der Dinge, von den Kräften, Gesetzen und dem Laufe der Natur« und mithin über den »Schein der Falschheit«,352 die ihm wesenhaft anhängt. Es muss gar nicht, wie das Erhabene nach Bodmers Lehrsätzen, »ein grosses Herz oder eine hohe Natur«353 zeigen; es spielt überhaupt bei den wunderbaren Sujets der »Unterschied ihrer Grösse oder Kleinigkeit«354 keine Rolle, so dass etwa ein gemeiner Gnom aus der Welt der Fabeln zwar durchaus wunderbar, aber kaum erhaben zu nennen wäre. Andererseits ist menschliches Heldentum zwar als erhaben, aber kaum als wunderbar einzustufen, während wiederum die Welt der Engel sowohl in die Sphäre des Wunderbaren als auch in die des Erhabenen fällt. Es findet sich also bei den Schweizer Kunstrichtern eine Reihe von poetologischen Kategorien, die sich – zumindest aus der Perspektive der späteren Theorieentwicklung – mit dem Erhabenen berühren oder überschneiden. Im Blick auf die poetologischen Hauptschriften muss man indessen feststellen, dass der Begriff die Schlüsselrolle, die ihm in der Ankündigung jener fünfbändigen Poetik verheißen war, höchstens im Hintergrund spielt, als relativ vages Ideal höchster Vollendung und höchster Ergriffenheit angesichts hoher Stoffe. Die konkreten poetologischen Kategorien sind demgegenüber namentlich die ›poetische Mahlerey‹ als das Grundpotential dichterischer Vergegenwärtigung durch die Einbildungskraft, die Nachahmung, das Neue, das Wunderbare und das Wahrscheinliche. Dieser Befund bleibt von der Tatsache unberührt, dass Longin als klassische poetologische Autorität in den Schriften der Züricher fast durchgängig präsent ist. Es ist hier die interessante Beobachtung zu machen, dass Peri Hypsous von den Schweizern keineswegs nur für das Ideal des Erhabenen in Anspruch genommen, sondern als Lehrbuch für viele dichtungstheoretische Grund- und Einzelfragen herangezogen wird, etwa für das poetische Mittel der ›Wahl
350
J. J. BREITINGER: Critische Dichtkunst, 130. Die Steigerung des Wunderbaren gegenüber dem bloß Neuen betrifft »die Entfernung von dem Wahren und Möglichen« (ebd.). 351 Vgl. aaO. 137. 352 AaO. 130f. 353 J. J. BODMER: Lehrsätze, 221. 354 J. J. BREITINGER: Critische Dichtkunst, 117. »Ich erkläre mich demnach […], daß ich diese entzückende Anmuth und verwundersame Kraft der Neuheit allerley Dingen ohne Unterschied ihrer Grösse oder Kleinigkeit beylege. Es scheinet zwar, daß alleine das Hohe und Grosse verwundernswürdig sey, und es hat das Ansehen, als wenn Longinus in der fünf und dreyssigsten Abtheilung vom Erhabenen dem Kleinen das Vermögen, eine angenehme Verwunderung in der Brust zu erwecken, abschlagen wolle« (ebd.).
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der Umstände‹355 sowie vor allem für jenes fundamentale dichterische Vermögen der Repräsentation durch die Phantasie. Will man bei Bodmer und Breitinger eine durchgängige Prägung durch die Kategorie des Erhabenen konkret ausmachen, bleibt nur der Weg über die Bestimmungen der poetischen Wirkung. Identifiziert man hier, wie Zelle es tut, das »emotionalistische[ ] Konzept pathetisch-›herzrührender‹ Gemütsbewegung«356, das die von der klassischen Rhetorik wie von Dubos beeinflussten Schriften der Schweizer tatsächlich prägt, mit dem Erhabenen, dann freilich wird man die These von dessen »programmatischer Rolle«357 überall bestätigt finden. Man wird dann allerdings Gefahr laufen, dass der dabei in Anschlag gebrachte, hochgradig allgemeine Begriff des Erhabenen den Blick für die zu interpretierende Theorie nicht »schärft«358, sondern ihn blind macht für deren Eigenlogik, von der nicht unbedingt ausgemacht ist, dass sie der Logik von anderen und zumal jüngeren Theorien entspricht. Dies alles gilt unbeschadet des Umstandes, dass vor allem Bodmer keineswegs nur mit seiner Theorie des Erhabenen im spezifischen Sinne, sondern namentlich mit seiner Schrift über das Wunderbare bei Milton, aber wohl auch mit seinen Reflexionen zum Großen und Ungestümen auf die spätere Erhabenheitstheorie gewirkt hat – Einflüsse, die im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit noch zur Sprache kommen werden.359 Zürich war gewissermaßen das Eingangstor des Erhabenen auf seinem Weg nach Deutschland. Aber gerade für diesen wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass etwa die großen und gewaltigen Phänomene der Natur wie für Addison so auch für die Schweizer noch keinen Platz innerhalb der genuinen Erhabenheitstheorie haben. Diese Beobachtung rückt noch einmal in den Blick, dass die frühe deutsche Ästhetik des Erhabenen zunächst dezidiert Poetik des Erhabenen ist. Das Erhabene der Natur rückt erst in den späten fünfziger und sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts in den Vordergrund des ästhetischen Interesses. Begegnet der Begriff in den späteren Schriften in einer nicht leicht fassbaren Bedeutung, die ihn hinter den konkreteren poetologischen Kategorien zurücktreten lässt, hat das Erhabene in dem von Bodmer herausgegebenen Brief-Wechsel von der Natur des Poetischen Geschmackes (1736) noch eine 355 Vgl. J. J. BODMER/J. J. BREITINGER: Von dem Einfluß, 25f: »Ich mache mir diese Regel, die er von dem Erhabenen gegeben hat, gerecht, und erstrecke sie auf alle Gattungen der Gegenständen.« 356 C. ZELLE: Schönheit, 70. 357 AaO. 67. 358 Ebd.: »Im Licht der für Boileau, Dennis und Bodmer herausgestellten Dichotomie von Schönheit und Erhabenheit schärft sich der Blick für die zweigliedrige Struktur, die auch Breitingers Critische[r] Dichtkunst zugrunde liegt.« 359 S.u. bes. Kap. 3.4. und 5.1.
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bestimmtere Kontur. Dies gilt insbesondere für die angehängte Untersuchung, wie ferne das Erhabene in den Trauerspielen Platz haben könne. Der Meinungsaustausch Bodmers mit dem italienischen Grafen Pietro dei Conti di Calepio (1693–1762)360 – der im Brief-Wechsel das auf Longin anspielende Pseudonym ›Hypseus‹ trägt – ist im Kern eine Debatte um die Vereinbarkeit von aristotelischer und longinischer Auffassung des Dramatischen und damit ein früher deutschsprachiger Beleg zur Bestätigung der Vermutung, dass das in der Longin-Rekonstruktion dieser Arbeit herausgearbeitete Konzept der Darstellung des Heroischen in der Dramentheorie des 18. Jahrhunderts nicht unbeachtet geblieben ist.361 Calepio fasst die Ausgangspositionen der Diskussion (in Bodmers Wiedergabe) zusammen wie folgt: Das Mitleiden und der Schrecken seyen nicht, so wie ich voraus gesetzet habe, die eintzigen Mittel, welche die Tragödie habe, die Begierden zu reinigen, es gebe derer noch mehr, man könne zum Exempel eben denselben Endzweck mittelst des Erhabenen erhalten, da ihr durch dieses Wort, das sonst vielerley Bedeutungen hat, grosse Thaten und grosse Character verstehet. Leute von ausnehmenden Tugenden treiben uns nach eurem Bedüncken an, daß wir uns, so viel in unserm Vermögen stehet, nach so vortrefflichen Vorbildern richten. Ihr schliesset demnach, daß das Mitleiden, das Schrecken, und das Erhabene drey verschiedene Wege seyn, welche zu einem Ende hinführen, und füget noch hinzu, daß dieses letztere Mittel den beyden andern nicht entgegen lauffe, und daß alle dreye zusammen bestehen können.362
Ohne die verwickelte Argumentation der Briefe hier im Einzelnen nachzuzeichnen, lässt sich herausstellen, dass sich die Untersuchung primär um die Frage nach dem »Nutzen« von »Heroischen Exempeln« dreht,363 mithin um die Frage, ob die beim Zuschauer durch die Darstellung der charakterlichen »Erhabenheit« des Helden364 erweckte Bewunderung der »Großmuth und anderer grossen Tugenden«365 den konstitutiven Wirkungen der Tragödie, Mitleid und Schrecken, allzu sehr »im Licht stehet«366. Wie im Spiegel von Calepios Erörterungen und in einem später publizierten Brief Bodmers367 360 Vgl. zum Einfluss Calepios auf Bodmer L. BENZI: Ästhetische Paradigmen und Rhetorik der Einbildungskraft beim frühen Bodmer. Der Briefwechsel mit dem Grafen Pietro di Calepio. 361 S.o. Teil I/Kap. 5. Vgl. zur dramentheoretischen Debatte zwischen Bodmer und Calepio A. MEIER: Dramaturgie der Bewunderung, 186ff. 362 J. J. BODMER: Untersuchung, 96f. Das italienische Zitat aus dem erhaltenen Originalbrief ist abgedruckt bei W. BENDER: Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger, 84. 363 J. J. BODMER: aaO. 98. 364 Vgl. aaO. 102: »Erhabenheit der Character« [lies: des Charakters; M.F.]. 365 AaO. 110. 366 AaO. 115. 367 Vgl. J. J. BODMER/J. J. BREITINGER (Hg.): Critische Briefe, 67–94 (zweiter Brief). Der erste Brief, auf den sich der zweite bezieht, enthält einen Auszug aus Calepios ›Abhandlung über die Tragödie‹; vgl. 1–66.
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deutlich wird, zielt dieser mit dem Begriff des Erhabenen auf einen dezidiert ethischen Dramenzweck, nämlich die Darstellung und Vermittlung von ›Großmut‹. Mit diesem Begriff – im 18. Jahrhundert das gängige deutsche Äquivalent für lateinisch magnitudo animi bzw. magnanimitas und griechisch megalophrosynê bzw. megalopsychia – greift Bodmer nicht nur den tugendethischen Schlüsselterminus aus Peri Hypsous auf, sondern, wie oben gezeigt wurde, überhaupt den Kern von Longins Erhabenheitstheorie.368 Damit ist Bodmers in Ansätzen entwickeltes Dramenkonzept ein Zeugnis nicht nur für die tragödientheoretische Rezeption Longins, sondern auch für die von Longin ererbte poetologisch-ethische Doppelsignatur des Erhabenen im 18. Jahrhundert, wie sie sich deutlich in der doppelten Belegung des Begriffs als Attribut des Charakters wie der Dichtung manifestiert. Wie bereits angedeutet, ist die Kontur der Erhabenheitskategorie in den späteren Hauptschriften der Schweizer weniger klar (wobei hier wiederum nur Bodmer berücksichtig werden soll). Dass diesem Miltons Epos Paradise Lost als Inbegriff nicht nur des Wunderbaren, sondern auch des Erhabenen gilt, wurde schon erwähnt. Es sind hier allgemein »Schönheiten einer hohen Art« mit dem entsprechenden »hohen Ergetzen«,369 die unter dem Begriff subsumiert werden. Quelle solcher Erhabenheit sind vor allem die Sujets aus der Sphäre des Überweltlichen, die als ›wunderbar‹ wie auch als ›erhaben‹ zu gelten haben. Sie wecken einerseits kraft »der Neuigkeit und Selzamkeit deren Personen, welche vorgestellet werden«370, die einfache ›Verwunderung‹371, die in der menschlichen ›Neugier‹372 wurzelt. Zudem bewirken sie beim Rezipienten eine eigentümliche Gemütserhöhung,373 insofern sie ihn kraft der Darstellung der höheren Wesen an seine eigene »geistliche Natur«374 gemahnen, die ihn – halb Engel, halb Tier – mit den Himmelsmächten verbindet.375 Den Schilderungen von Gott und den Engeln kommt eine »Heiligkeit«376 zu, die »das Gemüthe schon in dieser Zeit zu dem künftigen himmlischen Leben erhebet«377. Sie haben eine erstaunliche »Kraft auf die Hertzen, […] Gehorsam gegen dem Herren, Verwunderung gegen dem All368
S.o. Teil I/Kap. 3.2 und 5. J. J. BODMER: Critische Abhandlung, Vorrede (unpag.). 370 AaO. 21. 371 Vgl. ebd. 372 Vgl. J. J. BODMER: Critische Abhandlung, 12. 373 Vgl. aaO. 10. 374 AaO. 16. 375 Dass Bodmer implizit eine entsprechende Stufung zwischen dem Wunderbaren und dem Wunderbar-Erhabenen vorschwebt, zeigt der Satz: »Der Herr Voltaire sollte demnach Miltons geistlichen Stücken wenigstens diese Kraft zu bewegen, welche sie mit allen Schatten-Personen der Dichtung gemein haben, zugestanden haben« (aaO. 21). 376 AaO. 49. 377 AaO. 50. 369
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mächtigen, Ehrfurcht gegen dem gerechten Richter, Liebe gegen dem Schöpfer, der Quelle alles guten, einzupflanzen«378. Es ist aufgrund des knappen Referats deutlich, dass dem Begriff des Erhabenen im Kontext von Bodmers Milton-Interpretation wiederum eine religiöse Färbung zu eigen ist. Eine Dichtung, die beim Rezipienten Vorstellungen der überirdischen Region der Wirklichkeit erzeugt, ihn damit seiner himmlischen Natur gewahr werden lässt, ihm einen Vorausblick auf das künftige Leben gewährt und in ihm entsprechende religiöse Affekte erweckt, solche Dichtung ist Bodmer zufolge nicht nur ›wunderbar‹, sondern in einem eminenten Sinne ›erhaben‹. Wie sich auch an Bodmers Definition aus den Lehrsätzen von dem Wesen der erhabenen Schreibart demonstrieren lässt,379 tritt damit einmal mehr – und zwar an einer Schlüsselstelle der Theoriegeschichte – hervor, dass sich die poetologische Kategorie des Erhabenen gerade dadurch auszeichnet, dass sie über das Poetologische im engeren Sinne hinausweist.
1.3. Das dreifache Erhabene Es hat sich an maßgeblichen Stationen der neuzeitlichen Begriffsgeschichte der Eindruck vom eigentümlichen Zwittercharakter des Erhabenen bestätigt, der sich bereits bei der Longin-Interpretation eingestellt hat. In der Rückschau auf die vorliegende Skizze der Renaissance des Erhabenen vom Ende des 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts lässt sich resümieren, dass das Proprium des Erhabenen auch in der fraglichen Epoche in der Eigenschaft zu liegen scheint, zwischen verschiedenen Sphären zu changieren: zwischen dem Ästhetischen und Ethischen einerseits und zwischen dem Ästhetischen und Religiösen andererseits. Mit dieser Signatur beerbt der neuzeitliche Erhabenheitsbegriff offenbar sein antikes Vorbild. Korrespondiert die ästhetische Dimension des Erhabenen der rhetorischen Seite der Kategorie bei Longin, wirkt in der ethischen Dimension der Tugendbegriff der megalophrosynê von Peri Hypsous nach, während sich schließlich in der religiösen Dimension des Erhabenen das metaphysische Element innerhalb des Longin’schen hypsos widerspiegelt, das vor allem mit dem platonischen Motiv des Seelenaufschwungs und mit den entsprechenden Implikationen des Hochsinnigkeitsbegriffs verknüpft ist. Demgegenüber erscheinen Deutungen, die das Sublime auf den Bezirk des Ästhetischen begrenzen, indem sie zugunsten einer einseitigen Akzentuierung der Dissonanz sowie der besonderen Intensität der Wirkung sowohl von den spezifischen Sujets als 378 379
AaO. 44. S.u. Kap. 3.4.
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auch von der spezifischen Qualität der Wirkung des Erhabenen abstrahieren, die in den jeweiligen Theorien die Kontur des Begriffs bestimmen, als anachronistische Reduktionen, die dem modernen Paradigma der Autonomie des Ästhetischen geschuldet sind. Um das charakteristische Oszillieren des Erhabenen formelhaft zum Ausdruck zu bringen – und damit das Ergebnis des ersten und die Ausgangsthese des zweiten Teils dieser Arbeit –, ließe sich in Umdeutung von Dietmar Tills Wendung ebenfalls von einem ›doppelten Erhabenen‹ sprechen. Die strukturelle Duplizität des Erhabenen besteht demzufolge – gegen Till – nicht in einem immanent rhetorischen respektive poetologischen Aspekt, nämlich dem Nebeneinanders von Stilus-sublimis-Tradition und HypsosTradition in der Erhabenheitstheorie, sondern in der besagten Eigenschaft des Begriffs, als poetologische Kategorie immer zugleich wesentlich auf eine transästhetische Sphäre bezogen zu sein. In Anbetracht des ausgewiesenen Umstandes, dass es sich dabei um die Bereiche des Ethischen und des Religiösen handelt, dass sich also ästhetische, ethische und religiöse Dimension im Sublimen durchdringen, wäre freilich die Rede von einem ›dreifachen Erhabenen‹ noch treffender. Diesem ›dreifachen Erhabenen‹ in all seinen Facetten nachzugehen wäre höchst reizvoll. So würde die ästhetisch-ethische Spur zur tragödientheoretischen Debatte zwischen Friedrich Nicolai, Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing führen,380 zu Johann Georg Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste (1771/74) sowie zu Kants und Schillers Theorien des Erhabenen, um nur die klangvollsten Namen zu nennen. Im Weiteren wird jedoch lediglich diejenige Linie der deutschen Erhabenheitstheorie verfolgt, in der jenes zweite Element besonders profiliert zur Geltung kommt. Dabei werden zwar auch immer wieder ethische Motive begegnen, das Hauptaugenmerk der Auswahl und Interpretation wird aber auf der religiösen Dimension des Erhabenen liegen.
380
spiel.
G. E. LESSING/M. MENDELSSOHN/F. NICOLAI: Briefwechsel über das Trauer-
2. Pietismus, Aufklärung und Hallische Ästhetik Wer sich im Ausgang vom antiken Traktat Peri Hypsous und nach einem Durchgang durch die westeuropäische Renaissance dieses Traktats im späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts nach Deutschland wendet, wird unweigerlich an die Saale geführt. Halle war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht nur das geistige Zentrum Preußens, sondern die Stadt besaß auch über die Grenzen Preußens hinaus große Ausstrahlung. Mehrere Gründe sprechen dafür, gerade hier Aufschluss über die deutschen Anfänge der Ästhetik des Erhabenen zu suchen. Zum Ersten ist Halle die Geburtsstadt der philosophischen Ästhetik. 1735 erschien mit den Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus1, der Dissertation des 21jährigen Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762), das Gründungsdokument der neuen philosophischen Disziplin. Mit Baumgarten, dem nachmaligen Autor der ersten so genannten ›Ästhetik‹, und seinem Schüler Georg Friedrich Meier, »dessen Einfluß auf die deutsche Kultur kaum groß genug angenommen werden kann«2, beherbergte die Preußische Universitätsstadt ab Mitte der dreißiger Jahre die avanciertesten Vertreter der schönen Wissenschaften in Deutschland. »Was den Zeitgenossen bald als Logik der Phantasie bald als Kodex des Geschmacks in verworrenen Umrissen vorgeschwebt« hatte, gewann »hier zum erstenmal feste Gestalt«.3 Baumgarten entwickelte auf der Basis der rhetorischen und poetologischen Tradition einerseits und der Philosophie Christian Wolffs andererseits ein philosophisches Kategoriensystem, das für das poetologische und ästhetische Denken des Jahrhunderts bis zu Kant und mithin auch für die Ästhetik des Erhabenen in diesem Zeitraum den Theorierahmen abgegeben hat. Aber nicht nur hinsichtlich der Bedeutung für die spätere Erhabenheitstheorie ist die Hallische Ästhetik von Interesse. Mag auch die Sekundärliteratur, die Baumgartens Ästhetik bisher fast ausschließlich als Theorie des Schönen thematisiert hat, anderes suggerieren, liegt doch die Erwartung 1
›Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts‹. A. BAEUMLER: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft (1923), 209. 3 E. BERGMANN: Die Begründung der deutschen Ästhetik durch Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier (1911). 2
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nahe, dass es hier auch nähere Beziehungen zum Erhabenen geben könnte. Schon der immense Bildungshorizont von Baumgarten und Meier spricht dafür, dass ihnen ›Longin‹, in der französischen und englischen Debatte längst allgegenwärtig, begegnet ist. Insbesondere aber deuten die engen Beziehungen der Hallenser zu den »Schweizern« darauf hin, dass jenen die westeuropäische Konjunktur von Peri Hypsous und von dessen rhetorischpoetologischem Ideal nicht verborgen geblieben sein kann. Dass man unter den Prämissen der hallischen Theorie der schönen Wissenschaften auch ein besonderes Interesse an Longins Leitbegriff nehmen konnte, dafür spricht wiederum das eigentümliche Gepräge des geistigen Lebens im Halle der dreißiger und vierziger Jahre des 18. Jahrhunderts, das sich auch der dort begründeten Ästhetik in gewisser Weise mitgeteilt hat. Unter Voraussetzung des Ergebnisses von Teil I dieser Arbeit, dass es zu den Charakteristika des longinischen Erhabenen zählt, den Bereich des Ästhetischen und des Metaphysisch-Religiösen zu umgreifen, zeigt sich geradezu eine innere Affinität zwischen dem Erhabenen und der Hallischen Ästhetik. Dies gilt, sofern man selbige als ein Resultat des Zusammenwirkens von Pietismus und Aufklärung begreift, das in der fraglichen Epoche für Halle generell und insbesondere für die betreffenden Denker typisch ist. Wie im Folgenden zu skizzieren ist, kommt es in Halle zwischen 1730 und 1750 zur zunehmenden Annäherung und Verschränkung von Pietismus und Aufklärung, was sich innerhalb der hallischen Wissenschaft der schönen Künste im Ineinander von theologischen und ästhetischen Motiven widerspiegelt. So passt es ins Bild, dass ausgerechnet im Überschneidungsbereich von Pietismus und Aufklärung eine der ersten deutschen Longin-Übersetzungen in Angriff genommen wurde, ergänzt um einen der ersten deutschsprachigen Versuche, sich Longins Idee des Erhabenen produktiv anzueignen; scheint sich doch gerade die Erhabenheitskategorie vermöge ihrer überkommenen Signatur dazu empfohlen zu haben, die mehr oder weniger verdeckten theologischen Intentionen der Ursprungsgestalt der Ästhetik zur Geltung zu bringen. Von den Gemeinsamkeiten zwischen Pietismus und Hallischer Ästhetik wird seit einigen Jahren vermehrt Notiz genommen. Nachdem der praktische Theologe Wilhelm Ludwig Federlin 1993 ausführlich auf entsprechende Spuren im Denken A. G. Baumgartens hingewiesen hatte,4 lieferte die 4 W. L. FEDERLIN: Kirchliche Volksbildung und Bürgerliche Gesellschaft. Studien zu Thomas Abbt, Alexander Gottlieb Baumgarten, Johann David Heilmann, Johann Gottfried Herder, Johann Georg Müller und Johannes von Müller (1993). Das betreffende Kapitel des Buches bietet einen Überblick über den Gang der Sozialisation und über grundlegende Gedanken Baumgartens, bleibt aber historisch und theoretisch allzu sehr im Ungefähren. Eine sehr schematische Skizze des pietistischen Einflusses auf Baumgarten
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germanistische Untersuchung von Joachim Jacob über Heilige Poesie (1997)5 weiterführende Beobachtungen zur Verschränkung von Religion und Ästhetik in der fraglichen Epoche hallischer Geistesgeschichte. In dem Kapitel über Jakob Immanuel Pyra wird die Saalestadt als Geburtsort des betreffenden »literarischen Modells« ausgewiesen, wobei dessen Bezüge zum Pietismus und zur Hallischen Ästhetik insbesondere am Topos der ›lebendigen Erkenntnis‹ aufgezeigt werden.6 Ferner hat der Philosoph Ernst Müller in seinem weit ausgreifenden Buch über Ästhetische Religiosität und Kunstreligion. In den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus (2004) eine Fülle von Material zusammengetragen, das die engen Beziehungen zwischen Wolffianismus, Pietismus und Hallischer Ästhetik belegt.7 Eine Detailanalyse dieser Beziehungen hat Simon Grote in dem Aufsatz Pietistische Aisthesis und moralische Erziehung bei Alexander Gottlieb Baumgarten (2008) vorgelegt. Wie bei Jacob und Müller stehen hier die theologischen Debatten über den religiösen Wert der Affekte im Mittelpunkt, deren Reflex Grote nicht nur in Baumgartens ästhetischer Wissenschaft, sondern sogar im Terminus ›Ästhetik‹ selbst aufweisen zu können meint.8
zeichnet ferner ST. W. GROSS: The neglected programme (2002), 405ff; vgl. DERS.: Felix Aestheticus (2001), 32ff. Die eigentlich religiösen bzw. theologischen Elemente von Baumgartens Ästhetik kommen weder bei Groß noch bei Federlin zur Geltung. 5 J. JACOB: Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland (1997). 6 Vgl. dazu C. SCHWAIGER: Baumgartens Ansatz einer philosophischen Ethikbegründung (2008), 232ff, wo »Baumgartens pietistische Prägung« (232) anhand von dessen Ethik dokumentiert wird. S.o. Kap. 2.3. 7 Der Ertrag der Untersuchung wird nicht wenig durch den rhapsodischen Gang der Argumentation und die unscharfe Gedankenführung geschmälert. Womöglich ist es dem Umfang und der Komplexität des Themas geschuldet, dass sich Müller in der Interpretation des Materials regelmäßig auf Assoziationen und Andeutungen beschränkt, die insgesamt nur ein sehr schemenhaftes Bild von dem zur Frage stehenden Phänomen einer »ästhetischen Religiosität« entstehen lassen. Das schließt selbstverständlich nicht aus, dass sich im Einzelnen treffende Urteile finden, etwa wenn Baumgartens Ästhetik auf die Formel »Vermittlung zwischen Rationalismus und Pietismus« (aaO. 54) gebracht wird. 8 S. GROTE: aaO. 180ff, deutet Baumgartens Begriffswahl für die neue Wissenschaft als Reflex eines Terminus von August Hermann Francke. Bei Francke heißt derjenige hermeneutische Habitus aisthesis, der zum Verstehen des Affektgehalts von Bibelstellen notwendig ist. Grote ist zuzustimmen, dass Baumgarten diesen Terminus »gekannt haben [muss]« (180). Daraus jedoch zu folgern, Baumgarten habe sich selbigen Terminus mit dem Begriff ›Ästhetik‹ auf eigenwillige Weise angeeignet, erscheint doch allzu weit hergeholt. Denn zum einen verweisen die Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (§ 116) bei der Einführung des Ästhetikbegriffs auf einen ganz anderen Theoriekontext (die aristotelische Unterscheidung von aisthêtá und noêtá), um die neue Disziplin von dem Kreis der logischen Fächer der Philosophie abzugrenzen. Zum anderen soll jene Disziplin von bestimmten Formen der Darstellung (§ 117: de proponendo) handeln und nicht von Fragen des Verstehens. Es scheint alles andere als naheliegend gewe-
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In ihrer Studie über Ethische Aspekte von Alexander Gottlieb Baumgartens ›Aesthetica‹ (2008) hat schließlich Dagmar Mirbach an Baumgartens Aneignung von Longins Begriff der Hochsinnigkeit die metaphysische und theologische Imprägnierung der Hallischen Ästhetik exemplarisch vor Augen geführt.9 Jacob, Müller, Grote und Mirbach haben in den genannten Arbeiten auch mehr oder weniger ausführlich die Bedeutung der Longin-Rezeption bzw. der Erhabenheitskategorie angesprochen. Die folgenden Kapitel knüpfen also an Einsichten der genannten Autoren und der Autorin an und führen dabei manches aus, was von ihnen im Modus der Andeutung oder der Vermutung geäußert worden ist. Vor allem wird der Ausweis der religionstheoretischen Dimension der Hallischen Ästhetik (Kap. 2) wesentlich weiter ausgreifen, um sodann differenzierter die Schlüsselrolle des Erhabenen in diesem Kontext herauszuarbeiten (Kap. 3). Ziel ist dabei eine angemessenere Bestimmung der religiös-ästhetischen Signatur des Begriffs, die Jacob noch als »Konkurrenz zwischen seiner dogmatischen und seiner ästhetischen Dimension«10 beschrieben hat.11 Dazu soll zuerst an exemplarischen Autoren die Verquickung von ästhetischen und theologischen Reflexionen aufgezeigt werden (2.1). Dabei wird sen zu sein, sich für diese Darstellungswissenschaft einen Terminus aus der Hermeneutik zu borgen. 9 D. MIRBACH: Ingenium venustum und magnitudo pectoris. Ethische Aspekte von Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica (2008). Auf Baumgartens Konzept der ›ästhetischen Hochsinnigkeit‹ (magnanimitas aesthetica) und dessen metaphysisch-religiöse Dimension ist in Kap. 3.2.1 näher einzugehen. In demselben Band der Zeitschrift ›Aufklärung‹ hat Mirbach in ihrer ›Einführung‹ zum Auszug von A. G. Baumgartens Frankfurter Praelectiones Theologiae dogmaticae dazu aufgefordert, »die für sein [sc. Baumgartens] Werk so bedeutende Schnittstelle zwischen Ästhetik, Ethik und theologischer Reflexion in vertiefender Form in den Blick zu nehmen« (308). Einen Beitrag zu einer derart vertieften Baumgarten-Sicht soll das vorliegende Kapitel liefern. – Es sind an dieser Stelle auch H.-J. KERTSCHER und G. SCHENK zu nennen, die in ihren Kommentaren zu den Textausgaben der einschlägigen Autoren den Zusammenhang von Pietismus und Hallischer Ästhetik hervorgehoben haben; vgl. Nachwort, 181f. 10 J. JACOB: Heilige Poesie, 110. 11 Auch in der Arbeit von P. BAHR: Darstellung des Undarstellbaren. Religionstheoretische Studien zum Darstellungsbegriff bei A. G. Baumgarten und I. Kant (2004) findet sich ein Abschnitt über den Hallischen »›genius loci‹ zwischen Wolffianismus und Pietismus« (Kap. 1.2). Hier wird Halle als »geistige[s] Zentrum zweier komplex gegeneinander und miteinander mäandernden Geistesströmungen« (20) bezeichnet und es wird notiert, dass Baumgarten »aus bestimmten Gedanken des Pietismus ästhetiktheoretische Funken schlagen« (21) konnte. Ersteres wird freilich kaum, Letzteres gar nicht näher erläutert. Das größte Defizit der »religionstheoretischen« Untersuchung (neben der unklaren Disposition und der nicht weniger konfusen Argumentation) liegt darin, dass sie die genuin religionstheoretischen oder »religionsästhetischen« Reflexionen Baumgartens, die an den gnoseologischen Schlüsselbegriff der cognitio sensitiva anknüpfen, unberücksichtigt lässt.
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die Untersuchung zum ersten Mal innerhalb der Hallischen Ästhetik auf den Begriff des Erhabenen stoßen. Nach einem Überblick über Grundaspekte der ästhetischen Wissenschaft A. G. Baumgartens (2.2) gilt es innerhalb derselben Ansätze zu einer Theorie der Ästhetisierung der Religion kenntlich zu machen, an denen deutlich wird, dass jene Wissenschaft ausdrücklich »religionsästhetische« Intentionen verfolgt (2.3). Das darauf folgende Kapitel (Kap. 3) legt an dem früh verstorbenen Theologen und Poeten Jakob Immanuel Pyra und seinem näheren und weiteren Umfeld – hier wird neben Georg Friedrich Meier und Samuel Gotthold Lange auch noch einmal Johann Jakob Bodmer zu Worte kommen – dar, inwiefern die junge Hallische Ästhetik dezidiert auch als Ästhetik des Erhabenen anzusprechen ist und welche religiösen und theologischen Motive sich in diesem Zusammenhang mit dem Erhabenen verbinden.
2.1. Die Verschränkung von Religion und Ästhetik 2.1.1. Die Annäherung von Pietismus und Schulphilosophie Ferdinand Josef Schneider hat 1938 das »Geistige Leben von Halle« zwischen 1700 und 1750 »im Zeichen des Endkampfes zwischen Pietismus und Rationalismus«12 beschrieben. Eine ähnlich drastische Formel gebrauchte noch vor wenigen Jahren Ursula Goldenbaum bezüglich der dreißiger Jahre des 18. Jahrhunderts, indem sie die Auseinandersetzung um die Wertheimer Bibel – von der noch die Rede sein wird13 – als »philosophisch-theologische Entscheidungsschlacht zwischen Pietisten und Wolffianern« betitelte.14 Derartige Etikettierungen für das Verhältnis von Pietismus und Aufklärung suggerieren, es handele sich bei den beiden betreffenden Geistesmächten um klar umgrenzte Größen und es habe im »Widerstreit«15 zwischen denselben klare Fronten gegeben. Und in der Tat mag es etwa im Blick auf die Affäre um die Ausweisung Christian Wolffs aus der Preußischen Universitätsstadt im Jahre 1727, die von maßgeblichen Hallenser Theologen betrieben wurde, den Anschein haben, als führten »die Pietisten« Krieg gegen »die Rationalisten«.
12 F. J. SCHNEIDER: Das geistige Leben von Halle im Zeichen des Endkampfes zwischen Pietismus und Rationalismus (1938). 13 S.o. Kap. 3.3.2. 14 U. GOLDENBAUM: Der Skandal um die Wertheimer Bibel. Die philosophisch-theologische Entscheidungsschlacht zwischen Pietisten und Wolffianern. 15 H. POSER: Pietismus und Aufklärung – Glaubensgewißheit und Vernunftgewißheit im Widerstreit.
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Die Forschung hat indessen gezeigt, dass hinsichtlich ›Pietismus‹ und ›Aufklärung‹ die Annahme zweier distinkter Einheiten allenfalls zur Groborientierung dienen kann. So hat Martin Schloemann an Siegmund Jakob Baumgarten dargelegt, wie sich religiöse, theologische und philosophische Motive ›pietistischer‹ und ›aufklärerischer‹ Provenienz im Denken eines der gelehrtesten Zeitgenossen der fraglichen Epoche aufs engste miteinander verschränken.16 Ferner wurde von James Jakob Fehr der Königsberger Theologe (und Lehrer Kants) Franz Albert Schultz »als Pietist und Aufklärer«17 beschrieben, und von Albrecht Beutel18 wurden bei Philipp Jakob Spener, dem »Vater« des Pietismus, verschiedene positive Bezüge zur Aufklärung ausgemacht. Schließlich hat Peter Schicketanz gegenläufig zur oben angeführten martialischen Beschreibung das »Miteinander von Pietismus und Aufklärung in Halle« hervorgehoben19 – um nur einige exemplarische Forschungsbeiträge zu nennen. Statt also von einem glatten Antagonismus zweier »Blöcke« auszugehen, empfiehlt sich im Blick auf die fragliche Epoche der Geistesgeschichte die methodische Maxime, mit der Möglichkeit wechselseitiger Durchdringung zu rechnen. Statt der Annahme grober Einheiten und anstelle entsprechend grober Sortierungen sind geistesgeschichtliche Konstellationen20 zu betrachten, in denen sich verschiedene Komponenten, die aus der historischen Fernperspektive womöglich als unvereinbar erscheinen, miteinander verbinden können, um je eigentümliche Charaktere zu formen, die keine eindeutige Zuordnung mehr erlauben. Selbige Maxime gilt auch für das Verhältnis des Pietismus zu den Künsten oder, allgemeiner gesprochen, zur Sphäre des Ästhetischen. Hat die ältere Forschung insbesondere im Bezug auf seine hallische Spielart vornehmlich die Kunstfeindlichkeit des Pietismus herausgestellt,21 hat sich inzwischen auch hier eine sehr viel differenziertere Sicht etabliert.22 16 M. SCHLOEMANN: Siegmund Jacob Baumgarten. System und Geschichte in der Theologie des Übergangs zum Neuprotestantismus. 17 J. J. FEHR: Die Verwissenschaftlichung des ›Herzens=Glaubens‹ in Königsberg. Franz Albert Schultz als Pietist und Aufklärer. 18 A. BEUTEL: Spener und die Aufklärung. In seiner Darstellung der Aufklärung in Deutschland verhandelt Beutel den Pietismus unter den »Frühformen« der Aufklärung (§ 17). 19 P. SCHICKETANZ: Das Miteinander von Pietismus und Aufklärung in Halle. 20 Zum Ansatz der Konstellationsforschung vgl. D. HENRICH: Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie. 21 Vgl. W. MARTENS: Hallescher Pietismus und Literatur. 22 Vgl. dazu beispielsweise die Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung aus der Sektion ›Der Pietismus und die Künste‹: U. STRÄTER (Hg.): Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001, Bd. 1, 341ff.
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Die »Erfindung« der Ästhetik in Halle fällt in eine Zeit des Übergangs. Die religiös-theologische Reformbewegung, die von ihren Gegnern mit dem Schimpfnamen ›Pietismus‹ belegt worden ist, stellt eine einflussreiche Kulturmacht in der Saalestadt dar, hat ihren Zenit aber überschritten. Auch an der theologischen Fakultät, wie die Universität Halle insgesamt seit den Gründungsjahren 1690–94 stark pietistisch geprägt,23 ist der Wandel unübersehbar. Die Epoche der Gründerväter, in der das Dreigestirn von Joachim Justus Breithaupt (1658–1732), Paul Anton (1661–1730) und August Hermann Francke (1663–1727) die einzigartige Ausstrahlung der Hallenser Theologie begründete, ist im Versinken begriffen. Seit Johann Jakob Rambach (1693–1735), Nachfolger auf dem Lehrstuhl Franckes und vielseitig gelehrter Vertreter eines »mild-lutherischen Pietismus«24, nach Gießen (1731) berufen wurde, lehrt in Halle als einziger pietistischer Theologe von Format noch der in die Jahre gekommene Joachim Lange (1670–1744), der sich als antiwolffianischer Polemiker und Intrigant einen zwiespältigen Namen gemacht hat. In dem »allmählich zum Querulanten gewordene[n] Theologe[n]«25 verkörpert sich gleichsam das Altern der einst so vitalen Erneuerungsbewegung, insofern sie in der Person Langes eine gewisse doktrinäre Erstarrung angenommen hat. Die Zeichen des Wandels sind spätestens in den vierziger Jahren so unverkennbar, dass auch jenem frommen Eiferer die schmerzliche Einsicht nicht erspart bleibt, dass die Zeit über ihn und seine Brüder im Geiste in gewisser Weise hinweggegangen ist. »Status noster pristinus penitus mutatus, schrieb Lange 1743, und er meinte damit auch sich selbst, der einst höchst erfolgreich gelehrt hatte, seit Mitte der dreißiger Jahre aber vor leeren Bänken lesen mußte.«26 Einer der wenigen Hörer auf diesen »leeren Bänken« war Jakob Immanuel Pyra, der als enger Freund von Joachim Langes Sohn Samuel Gotthold im Hause Lange aus- und eingegangen zu sein scheint.27 Die Verehrung für den ergrauten Erzpietisten, die in der Dedikation von Pyras Ode ›Das Wort des Höchsten‹ (1738) an Joachim Lange zum Ausdruck kommt, hat den Theologiestudenten gleichwohl nicht davon abgehalten, auch bei dessen jungem Konkurrenten und Lieblingsfeind zu hören: bei Siegmund Jakob Baumgarten (1706–1757).28 In Baumgarten, seit 1734 Ordinarius an der theologischen Fakultät, stand dem Nestor des hallischen Pietismus ein The23
Vgl. E. KÄHLER: Art. Halle, Universität. J. WALLMANN: Der Pietismus, 127. 25 F. J. SCHNEIDER: Das geistige Leben von Halle, 146. 26 W. SPARN: Auf dem Wege zur theologischen Aufklärung in Halle: Von Johann Franz Budde zu Siegmund Jakob Baumgarten, 81f. 27 Vgl. G. WANIEK: Immanuel Pyra und sein Einfluß auf die deutsche Literatur des achtzehnten Jahrhunderts, 28. 28 Vgl. F. J. SCHNEIDER: aaO. 161. 24
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ologe anderen geistigen Zuschnitts gegenüber, der auf die akademische Jugend eine ungleich größere Anziehung ausübte. Langes Zurückdrängungsversuche und Invektiven gegen Baumgarten blieben denn auch ohne Erfolg, und so wurde der Pietismus der Gründergeneration an der Hallenser Fakultät immer mehr von einer Gestalt von Theologie an den Rand gedrängt, die sich in der produktiven Auseinandersetzung mit dem Gedankengut der Aufklärung ausbildete; konkret: in der Auseinandersetzung mit dem einst von Lange und den Seinen inkriminierten Wolffianismus. S. J. Baumgarten hatte sich trotz seiner Erziehung im Waisenhaus der Franckeschen Stiftungen schon als Student der Überzeugungskraft des wolffischen Denkens nicht verschließen können. Die intellektuelle »Attraktivität, die die Philosophie Christian Wolffs für die aufgeweckteren Köpfe der zweiten pietistischen Generation hatte«29, war so groß, dass sie sich weder durch die Kampfschriften pietistischer Theologen noch durch die von ihnen veranlassten politischen Zwangsmaßnahmen auf die Dauer unterdrücken ließ. Zwar hatte J. Lange 1723 am Berliner Hof die Ausweisung des seit 1707 in Halle lehrenden Wolff durchgesetzt und obendrein 1727 für die kurbrandenburgischen Lande ein Verbot von dessen Schriften erwirkt. Den Aufstieg des Wolffianismus zu der Philosophie der Zeit schlechthin konnte er mit alledem freilich nicht verhindern. Trotz aller Pressionen wuchs die Anhängerschaft von Wolff auch und gerade in Halle, vor allem im akademischen Nachwuchs.30 In die gängigen Lehrbücher der Philosophie war Wolff’sches Gedankengut ohnehin längst eingegangen, so dass man sich nicht einmal in Gefahr begeben musste, um selbiges kennenzulernen.31 Aber dank einer erstarkenden prowolffischen Partei in Berlin und gewisser Ermüdungserscheinungen beim König ob der endlosen Hallenser Querelen konnte dann ohnehin schon im Wintersemester 1736/37, also bereits vor dem Thronwechsel und der triumphalen Wiederkehr Wolffs nach Halle im Jahre 1740, auch in der Saalestadt offen über die Philosophie Wolffs gelesen werden.32 Das Abflauen der Gegensätze, wie es sich im Werk S. J. Baumgartens dokumentiert, ist indessen nicht einfach als Folge einer Depotenzierung der pietistischen Bewegung zu verstehen. Zwar hat sich spätestens gegen Ende der dreißiger Jahre des 18. Jahrhunderts der Pietismus – wohl nicht zuletzt aufgrund seines ethischen Rigorismus und seiner Intellektualitätsfeindlichkeit – als religiöse Breitenbewegung und als avancierte Gestalt von Theologie einigermaßen überlebt. Gleichwohl leben verschiedene Elemente dessel29
J. WALLMANN: aaO. 124. Vgl. G. F. MEIER: Alexander Gottlieb Baumgartens Leben, 356ff. 31 Vgl. z.B. L. PH. THÜMMIGs Institutiones philosophiae Wolfianae (1726). 32 Vgl. F. J. SCHNEIDER: aaO. 146. 30
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ben auch in der Aufklärungstheologie und in der allgemeinen Kultur der Aufklärung fort. »Der« Pietismus wird nicht durch »die« Aufklärung – ohnehin zwei nur schwer zu definierende kulturhistorische Einheitskategorien – verdrängt, sondern im Zuge des Wechsels der Generationen durchdringen sich Motive der »alten« Frömmigkeitsbewegung mit solchen des »neuen« Rationalitätsideals. So ist der hohe Stellenwert des Innerseelischen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der sich etwa in der Kultur der Empfindsamkeit und in der Ausbildung einer ›Erfahrungsseelenkunde‹ manifestiert, offenkundig auch durch das pietistische Interesse an innerer religiöser Erfahrung mitbedingt.33 Erst recht lässt sich im Bereich von Religion und Theologie pietistisches Erbe unschwer ausmachen. Wieder kann S. J. Baumgarten als Beispiel dienen. Mag er sich in Aufnahme wolffischer Gedanken um eine zeitgemäße Theologie bemüht haben, die sich an den aktuellen Rationalitätsstandards messen lassen kann; und mögen die Angriffe Langes das Verhältnis des ehemaligen Waisenhauszöglings zum »zunehmend in seiner Rechtgläubigkeit erstarrenden Pietismus«34 kühl haben werden lassen – dennoch war »Baumgartens Theologie […] von ihren frömmigkeitsbiographischen und materialen dogmatischen Voraussetzungen her pietistisch und ist es immer geblieben«35. »Pietistische Subjektivität« und »wolffianischen Rationalismus«36 miteinander verschmelzend bringt Baumgarten die Erfahrungstheologie mit philosophischen Mitteln gleichsam in eine moderne Reflexionsgestalt und schafft auf diese Weise eine »Synthese von halleschem Pietismus und hallescher Schulphilosophie«37. Diese Andeutungen mögen genügen, um darzutun, dass mindestens in der Stadt Franckes und Wolffs die Amalgamierung von ›pietistischen‹ und ›aufklärerischen‹ Motiven zur Signatur der dreißiger und vierziger Jahre des 18. Jahrhunderts gehört. Vor diesem Hintergrund wird auch J. I. Pyras Poetik zu lesen sein: als Synthese von hallischem Pietismus und schulphilosophischer Ästhetik, als deren zentrale Synthesekategorie das Erhabene fungiert.
33 Vgl. beispielsweise die in A. G. Baumgartens Ethik gegebene Empfehlung »eine[r] methodische[n] Selbsterforschung mittels eines abendlichen Tagesrückblicks oder eines regelmäßig geführten Tagebuchs«, die die »unterschwellige Fortwirkung pietistischen Gedankenguts« (C. SCHWAIGER: Baumgartens Ansatz, 235) belegt. 34 U. BARTH: Die hermeneutische Krise des altprotestantischen Schriftprinzips. Francke – Baumgarten – Semler, 177. 35 AaO. 176. 36 W. SPARN: Auf dem Wege zur theologischen Aufklärung, 82. 37 U. BARTH: aaO. 177.
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2.1.2. Die Geburt der Ästhetik aus dem Geist von Pietismus und Aufklärung Die Begründung der deutschen Ästhetik durch A. G. Baumgarten (und seinen Schüler G. F. Meier)38 hat ihren historischen Ort ebenfalls im Halle der dreißiger und vierziger Jahre. Sie fällt also in den Zeitraum der beschriebenen Durchdringung von Pietismus und Aufklärung – und kann ebenfalls als Produkt dieser Durchdringung verstanden werden.39 Dass ausgerechnet in der vormaligen Hochburg des Pietismus erstmals eine »Philosophie der Musen und der Grazien«40 entwickelt wurde, erscheint ob des sicher nicht aus der Luft gegriffenen Klischees von der Kunstfeindlichkeit des Pietismus zunächst freilich geradezu als kurios und wird für gewöhnlich mit dem Hinweis auf die vermeintliche Verdrängung des Pietismus durch den Geist der Aufklärung verständlich gemacht, als dessen Frucht die junge Hallische Ästhetik zweifellos zu gelten hat. Bei näherem Hinsehen indes stehen sich Pietismus und Ästhetik weniger fremd oder gar feindlich gegenüber, und es lassen sich hier wie dort Indizien ausmachen, die es wahrscheinlich machen, dass auch für die Erfindung der Ästhetik pietistische Einflüsse in Anschlag zu bringen sind. Die pietistische »Feindschaft gegen Musen und Grazien«41 ist in der älteren Forschung am Beispiel des hallischen Pietismus ausführlich beschrieben worden.42 Die Gründe dieser Feindschaft hat man vor allem in einem religiös begründeten moralischen Rigorismus erblickt, der alles, was der bloßen »Wohllust« dient, abweichend von der orthodox-lutherischen Lehre von den ›Mitteldingen‹ (Adiaphora) nicht einer den sündigen und guten Werken gegenüber neutralen Region zurechnet, sondern eben dem Bereich der Sünde.43 Wenn demgemäß schon bloßes Spazierengehen in den 38 Das Verhältnis der beiden Philosophen muss hier nicht problematisiert werden. Es ist mit der communis opinio von einer großen Übereinstimmung in den Grundzügen des ästhetischen Denkens auszugehen, auch wenn Meier im Einzelnen Modifikationen gegenüber Baumgarten vorgenommen haben mag. E. MÜLLERs Ausweis von »Akzentverschiebungen« (Ästhetische Religiosität, 53ff, hier 53) kann m.E. nicht überzeugen. 39 Vgl. H.-J. KERTSCHER/G. SCHENK: Nachwort, 181f: »Die Ästhetik in Halle entstand im Kontext der ›pietistischen Aufklärung‹ als Universitätsdisziplin und ist sozusagen ein Produkt der aufklärerischen und pietistischen Reformbewegungen«. 40 Koll. § 1, 66. 41 W. MARTENS: Officina Diaboli. Das Theater im Visier des halleschen Pietismus, 184. 42 Vgl. vor allem W. MARTENS: Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung; ferner W. SCHMITT: Die pietistische Kritik der ›Künste‹. Untersuchungen über die Entstehung einer neuen Kunstauffassung im 18. Jahrhundert. 43 Vgl. TH. VERWEYEN: »Halle, die Hochburg des Pietismus, die Wiege der Anakreontik«. Über das Konfliktpotential der anakreontischen Poesie als Kunst der »sinnlichen Erkenntnis«, 226ff. – Vgl. zur Sache I. SCHEITLER: Der Streit um die Mitteldinge. Menschenbild und Musikauffassung bei Gottfried Vockerodt und seinen Gegnern.
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Verdacht eines unnützen und mithin sündlichen Tuns geraten konnte, wie sehr musste das Lesen unnützer Bücher oder das Besuchen von Schauspielen dem religiösen Verdikt verfallen! Aber nicht nur ihre Müßigkeit und Nutzlosigkeit konnte die Dichtung vor dem Richterstuhl pietistischer Moral in Misskredit bringen, sondern zudem ein Misstrauen gegenüber ihrem Einfluss auf die Imagination. Gemäß den einschlägigen Ausführungen des bereits erwähnten J. J. Rambach Von dem Mißbrauch und rechtem Gebrauch der Poesie (1722) sind allzu viele Dichtungen aufgrund verschiedenster »Würckungen einer in unreinen Vorstellungen geübten Phantasie« dazu geeignet, »unreine und unehrbare Gedancken«44 zu erwecken und so »das Gemüth ihrer Leser zu verderben«45. Mit diesem Vorwurf werden weite Teile der antiken und modernen Dichtkunst als Ausflüsse sündlicher »Geilheit« inkriminiert, allen voran die zeitgenössischen »Romäne« und »HochzeitGedichte« mit ihren Schamlosigkeiten und Anzüglichkeiten.46 Der sich in dem beschriebenen Kunstverdikt aussprechende Moralismus wurde offenbar von immer mehr Zeitgenossen als übersteigert empfunden, und insofern ist die Schwächung der ehemals hegemonialen Kulturmacht Pietismus vielleicht nicht zum geringsten Teil als moralische Ermüdungserscheinung zu begreifen. Auch die Hallenser Anakreontik47 hat sicher im Aufbegehren gegen jene überspannten Sittlichkeitsforderungen eine ihrer Triebkräfte, und angesichts der unbefangenen Berücksichtigung »anakreontischer Tändeleien«48 in den ästhetischen Reflexionen Baumgartens und Meiers darf man wohl auch der jungen Wissenschaft eine entsprechende emanzipatorische Seite zuschreiben.49 Es ist mit alledem nun freilich weder zum Verhältnis des hallischen Pietismus zur Kunst noch zum Verhältnis von Hallischer Ästhetik und Pietismus alles gesagt. So hat es unbeschadet der massiven Vorbehalte gegenüber 44 J. J. RAMBACH: Von dem Mißbrauch und rechtem [!] Gebrauch der Poesie § 6 (unpag.). 45 AaO. § 4. 46 Ebd. Vgl. W. MARTENS: Literatur und Frömmigkeit, 101ff und 157ff. 47 Vgl. TH. VERWEYEN: aaO. 48 AaO. 215. 49 Die Kritik eines derartigen religiös-begründeten Moralismus ist eines der zentralen Gehalte der Wochenschrift Der Mensch, die in den Jahren 1751–1756 von G. F. MEIER zusammen mit S. G. LANGE herausgegeben worden ist. Vgl. etwa Meiers Beitrag Daß niemand vollkommen gut und vollkommen lasterhaft sey (1751). Meier zufolge fehlt es manchem Frommen »an hinlänglichem Verstande, und er ist nicht vermögend zu begreifen, daß alles, was gut und rechtmäßig ist, zur Frömmigkeit gerechnet werden muß; oder daß die Frömmigkeit eine Vollkommenheit sey, welche alle übrige Vollkommenheiten eines Menschen in sich fassen kan und muß. Daher setzt er der Gottseligkeit Dinge entgegen, die doch in einer freundschaftlichen Verwandtschaft mit derselben stehen. Deswegen ist er ein Feind der Gelehrsamkeit […] und bemüht sich eine Barbarey einzuführen, damit die Frömmigkeit ausgebreitet werde« (26f).
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fast allen Formen weltlicher Kunst doch auch und gerade im Pietismus eine reiche Kunstpflege gegeben, nämlich in Gestalt der religiösen Poesie und der geistlichen Musik. Die Namen der Hallenser Liederdichter Richter und Freylinghausen mögen als Beleg dessen genügen. Auch Rambach selbst eröffnet mit den bereits zitierten Gedanken Von dem Mißbrauch und rechtem Gebrauch der Poesie 1722 eine Sammlung geistlicher Lieder und Gedichte aus eigener Feder. Er begleitet die eigene poetische Praxis mit einer poetologischen Reflexion, um durch die Unterscheidung zwischen rechtem und unrechtem Gebrauch eine differenzierte Position zu gewinnen, von der aus sich bei aller Reserve gegenüber der Dichtung überhaupt das religiöse Dichten als frommes Tun rechtfertigen lässt. Legitim sind laut Rambach Gedichte – so lassen sich die Ausführungen knapp zusammenfassen –, die der Ehre Gottes dienen sowie »das Hertz rühren, und die Andacht entzünden«50. Interessant an dieser Funktionsbestimmung ist zum einen, dass Rambach mit der Herzensrührung einen Allgemeinplatz der zeitgenössischen Poetik und Rhetorik aufgreift, der auf den klassisch-rhetorischen Topos des movere zurückgeht. Der geistliche Zweck der Poesie wird zuerst mit einer rhetorisch-poetologischen Kategorie beschrieben, um dieselbe dann mit der theologischen Kategorie der ›Andacht‹ näher zu bestimmen. Demnach ist jener Zweck eine bestimmte Form des allgemeinen Wirkungsziels der Poesie: eine bestimmte, nämlich die fromme Herzensrührung. Um das geistliche Wirkungsziel der religiösen Dichtung zu erfassen, muss Rambach fundamentale Kategorien aus der Theologie und der Poetik miteinander verschränken. Noch bemerkenswerter ist es, dass Rambach einige Jahre später eben diese geistliche Wirkung mit den vormals ausschließlich kritisch beurteilten »Kräften der Imagination« in Zusammenhang bringt.51 Im sechsten Kapitel seiner Christlichen Sitten-Lehre (1736) ›Von dem Unterscheid der Natur und Gnade in Absicht auf die Einbildungskraft‹ wird zwar zunächst konstatiert, dass die Phantasie »durch den Fall verdorben« sei »und in einen solchen Zustand gesetzet, daß sie den Menschen zu vielen Schwachheiten und Irrthümern verleiten kan«52. Durch eben diese Verderbtheit komme es zum bekannten Missbrauch der Poesie: »Indem Dichter, Romänenschreiber und Comoedianten die schändlichsten Sachen oft so lebhaft und mit solchen schlüpfrigen Ausdrücken vorstellen, daß unsere Einbildungskraft durch ienes Einbildung angesteckt und vergiftet wird.«53 Trotzdem rechnet Rambach nun aber auch mit der Möglichkeit einer Heiligung der Einbildungs50
J. J. RAMBACH: Geistliche Poesien, Vorrede (unpag). Vgl. zum Folgenden J. JACOB: Heilige Poesie, 72f. 52 J. J. RAMBACH: Christliche Sitten-Lehre, 587. 53 AaO. 588. 51
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kraft unter der »Zucht des Geistes GOttes«54. Mittel solcher Zucht ist die »öftere Vorstellung des Leidens Christi«, durch welche … der Heil. Geist der Einbildungskraft beygebracht, mitgetheilet und insinuieret wird, dieselbige von allen heimlichen Unreinigkeiten reiniget, und in derselben vermittelst des Wortes Gottes solche Bilder hervorbringet, dadurch heilige Gemüthsbewegungen erwecket, und das Herz zur Andacht entzündet werden kan.55
Dass Rambach der Meditation der Passion Christi als des zentralen christlichen Heilsgeschehens die betreffende Reinigung zutraut, muss hier nicht weiter diskutiert werden. Festzuhalten ist, dass er die von der geistlichen Dichtung zu leistende Erregung frommer Herzensrührung demselben Seelenvermögen zuschreibt, das er vordem als Quelle sündiger Gedanken diskreditiert hatte, nämlich der (durch den Heiligen Geist gelenkten) Einbildungskraft. Die Andacht, die ein geistliches Gedicht erwecken kann, ist vermittelt durch die Vorstellungsbilder derselben Phantasie, die im Gemüt »Bewegungen und Ausbrüche der unreinen Lust […] zu erwecken«56 im Stande ist. Demnach entscheidet sich die Frage von falschem und rechtem Gebrauch der Dichtung am rechten Gebrauch der Einbildungskraft; am geistlichen oder ungeistlichen Gebrauch desjenigen Seelenvermögens also, das mit seinen Vorstellungen offenbar den stärksten Einfluss auf das Herz und seine Affekte (›Gemütsbewegungen‹) hat. Rambachs Quellen für diesen poetologischen Grundgedanken, für das Theorem von der unmittelbaren Wirkung der Phantasiebilder auf das »Herz«, auf die affektive Dimension der Seele, kann hier nicht im Einzelnen identifiziert werden. Es findet sich in der klassischen Rhetorik, etwa bei Quintilian, oder bei Longin, den Rambach in seiner Hermeneutik zitiert.57 Es findet sich ferner bei seinem theologischen Lehrer Buddeus58, aber auch in der empirischen Psychologie Christian Wolffs,59 den der wohl gebildetste pietistische Theologe seiner Generation tatsächlich rezipiert hat60 – ein weiteres Beispiel aus den dreißi54
AaO. 608. Ebd. 56 J. J. RAMBACH: Von dem Mißbrauch § 4. 57 S.u. Kap. 3.3. 58 Vgl. J. F. BUDDEUS: Institutiones Theologiae Dogmaticae (1723), Bd. 1, 791f (im Lehrstück De homine): »Augetur ista mortalium miseria, per vinculum arctissimum, quo adfectus coniuncti sunt cum imaginatione. Inde enim contingit, ut indomita vis imaginationis numquam non adfectus excitet, quibus mirum in modum homines excruciantur, agitanturve, & ad pessima quaevis abripiuntur; quemadmodum rursus per adfectus movetur & excitatur imaginatio, immo & determinatur, ad obiectum aliquod ita repraesentandum, prout adfectui, qui dominatur, hoc et conveniens.« 59 Vgl. z.B. CH. WOLFF: Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schriften (1726), 254: »Zu dem unteren Theile der Seele rechne ich die dunckele und undeutliche Vorstellungen, und die daraus entstehende Appetite«. 60 Vgl. K.-G. WESSELING: Art. Rambach, Johann Jacob. 55
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ger Jahren für das Ineinanderfließen von ›pietistischem‹ und ›rationalistischem‹ Denken. Im Blick auf Rambach ergibt sich der überraschende Befund, dass der pietistische Theologe mit seinen theologisch-poetologischen Reflexionen sich nicht nur überhaupt auf das Feld der Philosophie respektive Poetik begibt – um die von dort entlehnten Gedanken dann mit dem Verweis auf Schriftmeditation und Heiligen Geist theologisch zu integrieren –, sondern dass er für seine rudimentäre Theorie geistlicher Poesie ein Theorem rezipiert, das für die gesamte Poetik der Zeit und auch für die junge Ästhetik schlechthin fundamental ist (worauf noch zurückzukommen sein wird). Schon an den knappen Ausführungen Rambachs zur geistlichen Poesie – übrigens von J. J. Breitinger zur Lektüre empfohlen61 – wird sonach deutlich, dass der Abstand zwischen theologischem und poetologischem bzw. ästhetischem Denken in den zwanziger und dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts weniger groß ist als zumeist vermutet. Auch ein pietistischer Theologe von Rang ist auf die philosophische bzw. poetologische Theoriebildung angewiesen, um seinem dezidiert theologischen Interesse an der religiösen Poesie theoretisch gerecht zu werden. Eine entsprechende Verschränkung von theologischer Intention und philosophischer Methode wird sich auch in J. I. Pyras Reflexionen zum Erhabenen erkennen lassen, und daher werden sie in gewissem Sinne als Fortführung von Rambachs Überlegungen Von dem Mißbrauch und rechtem Gebrauch der Poesie zu lesen sein. Dass es im zeitgenössischen Denken nicht wenige Berührungspunkte zwischen theologischer und ästhetischer Reflexion gab, lässt sich indes auch im Blick auf die Poetik bzw. Ästhetik der Zeit belegen. Wie sehr die Schriften vor allem Bodmers von religiösen und theologischen Themen durchzogen sind (und wie sehr gerade deren Verständnis des Erhabenen religiös imprägniert ist), wurde bereits angedeutet.62 Aber auch im Schrifttum der Hallenser Ästhetiker Baumgarten und Meier – beide im Waisenhaus der Franckeschen Stiftungen groß geworden – ist die Präsenz religiöser bzw. theologischer Motive bemerkenswert. Dies gilt schon für Baumgartens Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus von 1735. Wenn dort im Scholium zu § 58 herausgestellt wird, dass wir als Christen dazu angehalten seien, »mit Gedichten solches zu beglaubigen, was die Tugend und die Religion befördert«63, und wenn unter Verweis auf einen Traktat des Helmstedter Theologen Johann Andreas Schmidt De modo propagandi religionem per carmina (1710) festgehalten wird, dass dies faktisch beinahe zu allen Zeiten 61
Vgl. J. J. BREITINGER: Critische Dichtkunst (1740), 99. S.o. Kap. 1.2. 63 Med. § 58, 48: »Quum enim, tanquam civitatis divinae quotaecunque portiones, obligemur ad talia carminibus consignanda quae virtutem et religionem promovent…« 62
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einer der Hauptzwecke der Dichtung gewesen sei,64 so ist das kaum nur als Nebenbemerkung zu werten. Baumgarten sieht es offenbar als eine der wesentlichen Funktionen der Poesie an, die von sich aus abstrakt-allgemeinen65 Materien der Religion (und der Tugend) in eine poetische, d.h. möglichst sinnliche Form zu gießen, um ihr durch diese Form zu möglichst großer Ausbreitung zu verhelfen. Dieser Eindruck wird durch eine Vielzahl von Aussagen der späteren Ästhetik bestätigt. Laut § 126 der Aesthetica (1750) waren die Theologen die ersten Dichter, und es war von alters her ihre Aufgabe, »die würdigsten Dinge« – man ergänze: aus Religion und Tugend – »dem sinnlichen Fassungsvermögen des gemeinen Mannes anzupassen«66. In den Ausführungen der Nachschrift zu Baumgartens Ästhetikkolleg zum selben Paragraphen, welcher der Passage zur Unterscheidung zwischen logischer und ästhetischer Denkweise zugehört, liest man: Die Theologie gehöret am ersten in das Feld, das beiden Gesichtskreisen gemein ist […]; und das Wort Theologie bezeichnet ehemals nichts mehr, als von Gott und göttlichen Dingen auf eine schöne Art denken. […] Man kann zwar eben diese Wahrheiten [sc. die von der Theologie behandelten Offenbarungen der Religion; M.F.] in den logischen Horizont übertragen; allein man muß sie auch dem großen Haufen sinnlich bekannt machen. Man kann das Dasein Gottes philosophisch beweisen, man kann es aber auch schön tun.67
Die ursprüngliche Aufgabe der Theologie bestand nach Baumgarten seit jeher darin, die Gegenstände der Religion »auf eine schöne Art [zu] denken«, d.h. in eine anschaulich-schöne Darstellung zu bringen, um sie »dem großen Haufen« zugänglich zu machen. Inwiefern eine solche Darstellung gewissermaßen als ästhetischer ›Beweis‹ der religiösen Wahrheiten angesehen werden kann, mag hier dahingestellt bleiben. Es überrascht nach alledem jedenfalls nicht, dass ›Gott und göttliche Dinge‹ auch im Zusammenhang der ›ästhetischen Größe‹ (magnitudo aesthetica), einer der sechs zentralen ästhetischen Kategorien der Aesthetica, wiederkehren. Analog zur Stufung der rhetorischen Dreistillehre klassifiziert Baumgarten hier die ästhetischen Stoffe in niedrige, erhabene und mittlere. Die Gegenstände der Religion gelten ihm dabei als Paradigma des Erhabenen.68 Der große Künstler zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sein Geist »bis zu himmlischen Dingen aufsteigen« kann, ohne dass diese »in seinen Gedanken« etwas »von [ihrer] Würde verlieren«69. Der Vorrang solch hoher Gegenstände vor dem
64
Vgl. ebd. Ebd.: universalia. 66 Med. § 58, 63: res gravissimas ad vulgarem popularemque sensum accommodare. 67 Koll. § 126, 136. 68 Vgl. z.B. Koll. §§ 206, 209, 211, 291, 292, 298, 300. 69 Koll. § 394, 213. 65
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ästhetisch Niedrigen liegt mindestens für einen solch hohen Geist offen zu Tage: Wann er über solche Dinge denkt und sie dann mit anderen Dingen vergleicht, die geringer, aber doch auch in ihrer Art schön sind, so werden ihm in diesem Vergleiche die letzten fast verächtlich scheinen. Man nehme den Messias [sc. Klopstocks] und eine anakreontische Ode z.E.; die letzte ist schön, aber was ist sie gegen den erstern?70
Offensichtlich korrespondiert der dreifachen Stufung innerhalb der Stoffe eine entsprechende Abstufung in der Wertschätzung Baumgartens. In dieser Hochschätzung des Erhabenen trifft sich der Begründer der Ästhetik mit den wichtigsten Protagonisten der hallischen Longin-Entdeckung, mit Jakob Immanuel Pyra, Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier.71 Werner Strube hat darauf hingewiesen, dass Baumgarten vermutlich durch deren Rezeption der longinischen Idee dazu bewogen wurde, den Erhabenheitsbegriff in das Set seiner ästhetischen Fundamentalkategorien zu integrieren.72 Aus historischen und sachlichen Gründen ist seine Ästhetik daher – gegen die herrschende Meinung – auch als Ästhetik des Erhabenen anzusehen, wenngleich die fragliche Kategorie bei ihm noch »keine selbständige ästhetische Wertqualität«73 im Sinne etwa der kantischen Konzeption einer »doppelten Ästhetik« bezeichnet. In einem anderen Sinne freilich erfüllt das Erhabene diese Funktion in der Aesthetica durchaus, insofern es nämlich als Inbegriff der magnitudo aesthetica ein zentrales Kriterium für die Bewertung des Ranges eines Kunstwerks abgibt. Mit der Erhabenheit der Darstellung steigt der ästhetische Wert, die ›Schönheit‹ eines Kunstwerks, und daher bedeutet die »Einschränkung der Ästhetik auf die Theorie des Schönen«74 bei Baumgarten nicht schon eine Vernachlässigung des Erhabenen, wie sie ihm von Kant zum Vorwurf gemacht worden ist.75 Schönheit und Erhabenheit werden nicht als einander gegenüberstehende Grundformen des Ästhetischen konzipiert, sondern pulchritudo fungiert als Basismerkmal für die Identifikation der Geistessphäre des Ästhetischen, während sublimitas innerhalb des gehaltsästhetischen Kriteriums für die Relevanz eines Kunst70
Koll. § 395, 213f. S.o. Kap. 3. 72 Vgl. W. STRUBE: Baumgartens Ästhetik als Transformation seiner Theorie des Gedichts, 39f. 73 W. STRUBE: Die Entstehung der Ästhetik als einer wissenschaftlichen Disziplin, 24. 74 Ebd. 75 Vgl. ebd. Siehe auch W. STRUBE: Schönes und Erhabenes. Zur Vorgeschichte und Etablierung der wichtigsten Einteilung ästhetischer Qualitäten, 28ff. Gegen jenen Vorwurf wäre auch ins Feld zu führen, dass von den ästhetischen Grundkriterien die ›Größe‹ innerhalb der Aesthetica »die weitaus umfänglichste Behandlung« (D. MIRBACH: Ingenium venustum, 203) erfährt. 71
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werks (magnitudo) den höchsten Rang markiert. Damit – so viel kann hier im Vorgriff auf die näheren Ausführungen in Kap. 3 schon gesagt werden – stellt das Erhabene, sofern es im Zusammenklang mit anderen zentralen ästhetischen Qualitäten verwirklicht wird, geradezu die »allergröste Schönheit« (Meier)76 oder das »höchste Schöne« (Herder)77 dar. Von einer Missachtung kann folglich keine Rede sein. Entsprechend häufig wird Longin im entsprechenden Zusammenhang als einschlägige Autorität angeführt.78 So kommentiert Baumgarten etwa den locus classicus der christlichen PeriHypsous-Rezeption wie folgt: Longin als ein Heide erhob den Ausdruck Moses: Es werde Licht, und es ward, als das Erhabenste und Größte; dies ist aber gleichsam nur der Positivus; das letzte Wort Christi teteles[t]ai [Joh 19,30: ›Es ist vollbracht‹; M.F.] ist gewiß uns Christen weit größer, und der letzte Gedanke aus dem Briefe Pauli an die Korinther [1 Kor 15,28c: ›Gott sei alles in allem‹; M.F.]79 gehet auf die Ewigkeit. Kann er wohl größer sein?80
Baumgarten ergänzt das longinische Lob der mosaischen Schöpfungsschilderung aus dezidiert christlicher Perspektive, indem er das johanneische Kreuzeslogion und ein paulinisches Wort aus dem großen Auferstehungskapitel des 1. Korintherbriefs als herausragende Exempel des Erhabenen anfügt. Die drei Stellen bilden einen Bogen, in dem mit Schöpfung, Erlösung und Vollendung die Grunddaten der christlichen Heilsgeschichte, gewissermaßen die höchsten Wahrheiten des Christentums, auf unübertroffene Weise dargestellt sind. Nun scheint Baumgarten tatsächlich den erhabenen Materien der Religion insgesamt die Höchstgeltung innerhalb des ästhetischen Reichs zuzuschreiben. Abgesehen von den bereits zitierten Abschnitten ergibt sich dieser Eindruck etwa aus der folgenden Äußerung zur notwendigen Bildung des »Ästheticus«: Wann wir ihm hier überhaupt etwas vorschlagen sollen, so ist es erstlich eine ordentliche Kenntnis von Gott und seinen Eigenschaften. Da der schöne Geist sich die 76
Vgl. ASW 169: »Weil das Erhabene die allergröste Schönheit ist, so will ich hier verschiedene Beyspiele geben, ich will aber sonderlich meinen Lesern rathen den Longin vom Erhabenen zu lesen, denn derselbe hat sehr viele unverwerfliche Beyspiele vom Erhabenen angeführt.« 77 J. G. HERDER: Kalligone, 874. 78 Das Namensregister der zweisprachigen Ausgabe der Aesthetica führt 32 Paragraphen auf. Baumgartens Auseinandersetzung mit Peri Hypsous im Einzelnen nachzuzeichnen, wäre ein Kapitel für sich, würde aber von der Frage der religiösen Dimension des Erhabenen zu weit abführen. Da diese Dimension im Umfeld Baumgartens (bei J. I. Pyra, ferner S. G. Lange und G. F. Meier) noch stärker hervortritt – unter den Prämissen von seiner Ästhetik –, wird sich die Darstellung hinsichtlich der Erhabenheitstheorie auf die betreffenden Autoren konzentrieren; s.u. Kap. 3. 79 Vgl. Aesth. § 300: Sit deus omnia in omnibus. 80 Koll. § 300, 192.
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edelsten und wichtigsten Gegenstände aussuchen muß, wann seine Erkenntnis vollkommen sein soll, so erhellet bald, daß Gott unter allen der edelste und größte Gegenstand seiner Gedanken sei.81
Bei aller Hochschätzung der religiösen Dichtung warnt Baumgarten indes vor ihrer Absolutsetzung – wie sie ihm etwa in der pietistischen Poetologie eines Rambach begegnet sein mag. Hier … spannen andere die Saiten gar zu hoch, und wann man ihnen folgen wollte, so würde uns gar zu wenig zum schönen Denken übrigbleiben und das Reich des Schönen würde sehr eng werden. Sie verdammen Dinge, die weder christlich noch vernünftig sündlich sind, und die ihren Nutzen äußern, wann man von ihnen schön gedacht hat. Sie setzen die Religion und was sehr nahe zum Christentum gehört allein in das schöne Reich. Sie wollen, hier soll man anfangen und aufhören schön zu denken, und erwägen nicht, daß man von dem, was sie erlaubt nennen, nicht schön denken kann, wann man sich nicht zuvor geübt und von schlechten [also niedrigeren; M.F.] Dingen schön gedacht hat.82
Das ›schöne Denken‹, also die poetische Darstellung von mittleren und niedrigen Gegenständen rechtfertigt Baumgarten nicht mit Berufung auf das vom Pietismus verworfene Adiaphora-Argument, sondern mit der (etwas gezwungen wirkenden) Behauptung einer Übungsfunktion für die poetische Verarbeitung der höheren religiösen Stoffe. Von einer Geringschätzung religiöser Dichtung ist hier wie sonst nichts zu spüren. So wird man die Kritik am pietistischen Verdikt über alle weltliche Dichtung nicht als Ausdruck einer radikalen Abkehr von den eigenen pietistischen Wurzeln zu lesen haben, sondern als Äußerung eines gewissen liberalen Geistes, der sich, aller religiösen Überspanntheit bestimmter Zeitgenossen überdrüssig, für verschiedenste Arten von Dichtung geöffnet hat – ohne sich von den eigenen religiösen Wurzeln (und einer entsprechenden Vorliebe für die religiöse Poesie) loszusagen.83 Die dargelegte Affinität Baumgartens zum religiösen Gegenstandsbereich mag angesichts seiner pietistischen Herkunft als äußerliches Relikt 81
Koll. § 64, 108. Koll. § 197, 160f. Vgl. § 183, 157: »Wir sind gar nicht der Meinung, daß man keine andere schöne Gedichte als zum Lobe der Gottheit machen könne, obgleich dies die besten unter den schönen sein können, allein sie müssen doch niemals der Ehre Gottes zuwider sein.« Vgl. ferner ASW § 70, der mit dem Fazit schließt: »Wenn also eine Sache gleich nicht in die Beförderung der Gottseeligkeit einen nähern Einfluß hat, so kan sie doch die kleinern Tugenden, die Ehrbarkeit der Sitten, die Höflichkeit, die Artigkeit u.s.w. befördern. Diejenigen urtheilen also zu strenge, welche alle Gedichte verdammen, die nicht von der Religion handeln« (133). 83 G. F. MEIER hebt hervor, dass sich Baumgarten »immer, neben der Weltweisheit, mit der Gottesgelahrtheit und der [sc. biblischen; M.F.] Philologie beschäftigte« (Baumgartens Leben, 360), wovon etwa seine Frankfurter Dogmatik-Vorlesung und verschiedene Jesaja-Vorlesungen zeugen. 82
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innerhalb einer philosophischen Disziplin erscheinen, die sich der Erkundung des an sich eigenständigen, »autonomen« Reichs des Schönen verschrieben hat. Es lässt sich hingegen zeigen, dass jene Affinität mehr ist als eine biographische Reminiszenz, insofern sich Baumgartens »Krypto-Pietismus«84 bis zu den Fundamenten der von ihm begründeten Wissenschaft verfolgen lässt. Denn selbst bezüglich ihrer philosophischen Grundfrage, so die These des folgenden Abschnittes, beerbt die Hallische Ästhetik in gewisser Hinsicht das Denken Speners und Franckes. Insofern sie diese Grundfrage mit den Mitteln wolffianischer Philosophie ausformuliert, kann sie, analog der Theologie S. J. Baumgartens, mit einigem Recht als eigentümliche »Synthese von Halleschem Pietismus und Hallescher Schulphilosophie«85 begriffen werden. Vor diesem Hintergrund wird dann auch das Ineinander von religiösen und ästhetischen Motiven innerhalb der poetologischen Reflexionen Pyras (Kap. 3) und ferner Klopstocks (Kap. 5) besser zu verstehen sein.
2.2. Die Ästhetik als Wissenschaft der Versinnlichung 2.2.1. Die kognitive Funktion der Kunst Ausgangspunkt für die These vom pietistischen Erbe innerhalb der Hallischen Ästhetik ist ein Aspekt, auf den zuletzt Alfred Baeumler in seiner Baumgarten-Interpretation das nötige Gewicht gelegt hat. Es ist dies die Einsicht in den schlichten Sachverhalt, dass es sich bei der Hallischen Ästhetik im Kern um eine Kunstlehre der Veranschaulichung handelt.86 Zwar umfasst die ursprüngliche Idee der Ästhetik, wie sie Baumgarten in den Meditationes (1735) und dann im Aletheophilus87 (1741) ins Auge gefasst hatte, auch grundsätzliche erkenntnistheoretische Fragestellungen nach der Struktur und Funktion der unteren Erkenntnisvermögen, was noch in § 1 der Aesthetica in der Wendung von der Ästhetik als gnoseologia inferior widerhallt.88 In der Ausführung jedoch kreisen Baumgartens Reflexionen sowohl in den Meditationes als auch in der Aesthetica im Wesentlichen um die praktische Frage, wie sich gegebene ›Wahrheiten‹ oder ›Sätze‹ in eine möglichst vollkommene sinnliche Gestalt bringen lassen, um ihnen eine mög84
C. SCHWAIGER: Baumgartens Ansatz, 235. U. BARTH: Die hermeneutische Krise, 177. 86 Vgl. zum Folgenden A. BAEUMLER: Das Irrationalitätsproblem, 207ff; vgl. ferner den grundlegenden Aufsatz von W. STRUBE: Baumgartens Ästhetik. 87 Vgl. Aleth., 6. 88 Vgl. Aesth. § 1: »Aesthetica (theoria liberalium artium, gnoseologia inferior, ars pulcre cogitandi, ars analogi rationis,) est scientia cognitionis sensitivae.« 85
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lichst breite und tiefe Wirkung zu verschaffen. Die anvisierte gnoseologia inferior wird dabei mehr vorausgesetzt als entfaltet.89 »›Ästhetisch‹ bedeutet in der Praxis bei Baumgarten und Meier […] hauptsächlich eine Art des Vortrags ›abgezogener‹ Wahrheiten. Es heißt: abstrakte Materien anziehend, verständlich, konkret darstellen und dadurch mitteilbar machen.«90 Entsprechend lautet die bei weitem deutlichste Angabe Baumgartens über den Nutzen der Ästhetik, sie diene dazu, »wissenschaftlich Erkanntes dem Fassungsvermögen eines jeden beliebigen Menschen anzupassen«91. Von dieser Funktionsbestimmung her ist auch die berühmte Definition der Ästhetik als ›Wissenschaft sinnlicher Erkenntnis‹ (scientia cognitionis sensitivae)92 ihrem grundlegenden Sinn nach zu verstehen. Dabei muss man berücksichtigen, dass sinnliche ›Erkenntnis‹ nicht Erkenntnis im gnoseologisch qualifizierten Sinne von Wahrheitserkenntnis meint, sondern eher eine spezifische Form der Kenntnisnahme oder des Vorstelligwerdens von etwas, was zuvor bereits anderweitig als wahr ›erkannt‹ wurde – hier im gnoseologischen Vollsinne des Wortes verstanden. Innerhalb der Definition der Ästhetik als scientia cognitionis sensitivae ist cognitio also im selben schwachen, psychologischen Sinne von ›Vorstellung‹ oder ›Kognition‹ zu lesen wie im schulphilosophischen Begriff der facultas cognoscitiva bzw. cognoscendi aus der empirischen Psychologie, der mit dem unteren ›Erkenntnisvermögen‹ etwa der Sinne ja auch gnoseologisch sehr basale Formen der Kenntnisnah-
89 Die Frage der Gewichtung der allgemein erkenntnistheoretischen und der spezifisch kunstphilosophischen Motive von Baumgartens Ästhetik ist in der Forschung umstritten. W. STRUBE: Die Entstehung der Ästhetik, 23f, unterscheidet bei Baumgarten treffend zwischen einem frühen weiten und einem späteren engen Ästhetikkonzept und wendet sich gegen die anachronistische Bevorzugung des Ersteren in der neueren Baumgarten-Forschung. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist das angesprochene Gewichtungsproblem nicht weiter von Belang. Entscheidend ist der unbestreitbare Umstand, dass Baumgartens ausgeführte Ästhetik der betreffenden Gestaltungsfrage gewidmet ist. 90 A. BAEUMLER: aaO. 209 (Hvhg. im Original). Demgegenüber erblickt P.-A. ALT in seinem germanistischen Lehrbuch Aufklärung eine der wesentlichen Erkenntnisse Baumgartens in der Ansicht, »daß Kunst sich nicht auf die Vermittlung universeller Lehren verlegen, sondern eine konkrete Botschaft bieten solle. […] Kunst, so weiß Baumgarten, verschafft nur dort ästhetische Erkenntnis, wo sie sinnlich evident und konkret bleibt, statt sich auf die Übermittlung abstrakter Botschaften zu konzentrieren« (97). Alt lässt sich in dieser Einschätzung auch nicht durch eine von ihm selbst zitierte BaumgartenStelle irritieren, die mit dem Ausweis von Allgemeinbegriffen als wesentliches Material der Poesie ausdrücklich das Lehrgedicht als vorzügliche poetische Gattung hervorhebt (98). 91 Aesth. § 3: scientifice cognita captui quorumvis accommodare. Hier nimmt Baumgarten die Konzeption der Rhetorik bzw. Poetik als ars popularis auf. Vgl. z.B. J. J. BREITINGER: Critische Dichtkunst, 59. 92 Aesth. § 1.
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me umfasst.93 Im Lichte der von Baumgarten hervorgehobenen Akkommodationsfunktion der Ästhetik bezieht sich die Wendung von der scientia cognitionis sensitivae also auf die Problemstellung, dass gegebene (Wahrheits-) Erkenntnis zum Zwecke allgemeiner Verständlichkeit umzuformen ist in die Gestalt sinnlicher Vorstellung (cognitio sensitiva). Baumgartens ästhetische Wissenschaft wiederum versteht sich dementsprechend als Wissenschaft (scientia) dieser Umformung. Es spricht vieles dafür, dass in der Idee der ›Versinnlichung‹ unsinnlicher Wahrheiten im Sinne der Überführung in ›sinnliche‹ Vorstellungen – von Baumgartens Begriff der ›Sinnlichkeit‹ wird noch näher gehandelt werden94 93
Baumgarten selbst gibt cognitio häufig mit ›Kenntnis‹ wieder; vgl. z.B. Koll. 96, 108, 120. – Eine gnoseologisch starke Lesart von cognitio vertritt z.B. U. FRANKE: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten (1972), und neuerdings DIES.: Sinnliche Erkenntnis (2008). Es ergeben sich daraus weitreichende Konsequenzen für die Gesamtinterpretation von Baumgartens Ästhetik. Franke versteht cognitio unter Verweis auf dessen Metaphysica (§ 507) grundsätzlich als Vergegenwärtigung des Universums und seiner Vollkommenheit (vgl. Kunst als Erkenntnis, 41; Sinnliche Erkenntnis, 81ff). Die eigentlich entscheidende Begründungslinie von Baumgartens Ästhetik sei nicht die »gnoseologische[ ] Komponente« (ebd.) – auf diesen Aspekt wird die Argumentation des vorliegenden Kapitels abheben – sondern sei vielmehr »erkenntnismetaphysischer« Art (vgl. Kunst als Erkenntnis, 41). Baumgarten verleihe der Kunst einen »metaphysischen Grund« (aaO. 78), insofern er ihr die ›sinnliche Erkenntnis‹ der Weltordnung zuspreche und darin ihre eigentümliche ›Wahrheit‹ erblicke. Unter der Voraussetzung von Leibniz’ metaphysischer Hypothese der ›besten Welt‹ und dem ihr entsprechenden Vollkommenheitspostulat rechne Baumgarten mit einer spezifischen Erkenntnisfunktion der Künste (vgl. aaO. 89), nämlich der »ästhetische[n] Repräsentation des Ganzen, der Vollkommenheit der Welt, in der wir leben« (Sinnliche Erkenntnis, 92). Die betreffende metaphysische Aufladung der Baumgarten’schen Ästhetik ist nicht zwingend, wenn man auf der Basis einer schwachen kognitionspsychologischen Lesart von cognitio darauf verzichtet, ihr die Annahme einer eminenten ›Erkenntnis‹-Funktion der Kunst zuzuschreiben. Die schulphilosophischen Begriffe cognitio und perfectio sind zu unspezifisch, um an jeder Stelle, wo sie begegnen, eine dezidierte metaphysische Pointe zu vermuten, auch wenn natürlich das fragliche Weltbild überall im Hintergrund steht. 94 Es sei hier schon vorweggenommen, dass ›sinnlich‹ in diesem Zusammenhang nicht den lateinischen Terminus ›sensualis‹, sondern ›sensitivus‹ wiedergibt. ›Sinnlichkeit‹ in diesem Verständnis bezieht sich nicht allein auf die Sinnesempfindungen (sensûs), sondern ist eine Eigenschaft der Vorstellungen sämtlicher unterer Erkenntniskräfte, also etwa auch der Einbildungskraft. Insofern geht P.-A. ALT doppelt fehl, wenn er Baumgarten als Vertreter einer »sensualistischen Ästhetik« (Aufklärung, 95) etikettiert. Wie angedeutet, trifft die Formulierung schon innerhalb des Baumgarten’schen Systems, dessen »Schwierigkeit und innere Komplexität« Alt selbst hervorgehoben hat (aaO. 96), nicht das Gemeinte. Erst recht aber verfehlt sie Baumgartens Denken, wenn sie im geläufigen Sinne einer sensualistischen Erkenntnistheorie gemeint ist. Von Derartigem ist Baumgarten als Wolff-Schüler weit entfernt. Zwar basieren die ›sensitiven‹ Vorstellungen, um die sich seine Ästhetik dreht, – wie die ›distinkten‹ Vorstellungen auch – auf Sinneseindrücken; sie gehören selbst aber bereits in die Sphäre des Mentalen, sind also, mit Wolff gesprochen, ›Gedanken‹. Sie sind mentale Bestimmungen, die sich im Gegensatz zu den
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– die Zentralidee der Hallischen Ästhetik zu erblicken ist.95 Dabei steht die Reflexion auf die erkenntnistheoretischen Bedingungen solcher Versinnlichung, in einer (freilich nur in Ansätzen realisierten) gnoseologia inferior, im Hintergrund. Schon Baeumler hat herausgestellt, »daß sich die Ästhetik [sc. Baumgartens] aus einer Theorie des Beispiels entwickeln läßt«96, wobei das Beispiel als das paradigmatische Mittel veranschaulichenden Sprechens und Denkens anzusehen ist.97 Im Exempel, das in seiner Veranschaulichungslogik bereits von Baumgartens Lehrer Wolff ausführlich traktiert wird,98 wird das Allgemeine durch den konkreten Fall individualisiert oder, um in der Terminologie von Baumgartens Meditationes zu reden, es wird die ›darzustellende Sache‹ durch einen individuellen Fall ›determiniert‹99. In der Poesie kommt Baumgarten zufolge alles darauf an, möglichst ›determiniert‹, möglichst bestimmt oder konkret zu sprechen. So ist das Beispiel – laut Definition von § 21 »die Vorstellung von etwas stärker Bestimmtem, die zur Erklärung einer Vorstellung von weniger Bestimmtem beigebracht wird«100 – geradezu das kardinale poetische Mittel. Daher gilt: Si philosophica vel universalia quaevis repraesentanda poetice, determinare quam maxime, § 18, exemplis involvere, § 22, […] mens est…101
Wenn irgendwelche philosophischen oder allgemeinen Gegenstände poetisch vorgestellt werden sollen, dann macht es Sinn, diese möglichst umfassend zu bestimmen, § 18, [und] mit Beispielen [besser: in Beispiele; M.F.] einzuhüllen, § 22…
deutlichen Vorstellungen durch spezifische Eigenschaften auszeichnen, die von Baumgarten analysiert werden. Mit ›Sensualismus‹ im herkömmlichen Verstande hat das ›Sinnlichkeits‹-Ideal seiner Ästhetik also nicht das Geringste zu tun. 95 Auch in der Züricher Poetik ist diese Idee zentral. Vgl. z.B. J. J. BODMER: Critische Betrachtungen über die poetischen Gemälde der Dichter (1741), 138: »Mit aller unserer Liebe zur Wahrheit lieben wir gemeiniglich die theoretischen Begriffe nicht sonderlich. Die Leute halten mehr von sinnlichen Bildern, sie arbeiten mehr mit der Phantasie als mit dem Verstande […]. Und diese Arbeit muß ihnen von der vortrefflichen poetischen Schilderei erspart werden, indem die schweren und metaphysikalischen Grundwahrheiten so geschickt in sinnliche Farben und cörperliche Ausdrücke eingekleidet werden, daß das rohe Volk selbst sie begreifen kann, und wenn es sie auf diese Weise versteht, ein Ergetzen daran empfindet.« 96 A. BAEUMLER: Das Irrationalitätsproblem, 210. 97 Vgl. Koll. § 64, 108: »Aber er muß als Ästhetikus beständig auf die Exempel herunterrücken, und so sehr er als Metaphysikus abstrahiert, so wenig muß er im Schönen an die Abstraktion gedenken.« 98 Vgl. CH. WOLFF: Philosophia practica universalis, Tl. 2, §§ 249f. 99 Med. § 18: »Ergo in poemate res repraesentandas quantum pote determinari, poeticum«. Vgl. zu den Meditationes W. STRUBE: Alexander Gottlieb Baumgartens Theorie des Gedichts, und ST. BUCHENAU: Die Sprache der Sinnlichkeit. Baumgartens poetische Begründung der Ästhetik in den Meditationes philosophicae. 100 Med. § 21: repraesentatio magis determinati ad declarandam repraesentationem minus determinati suppeditata. 101 Med. § 58 (Übers. H. PAETZOLD).
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Der logische Zentralbegriff der Meditationes, die determinatio, hat sein psychologisches Pendant im gleichermaßen zentralen Theorem von der Erregung ›sinnlicher Vorstellungen‹ (repraesentationes sensitivae). Hintergrund dieses Theorems ist die aus der empirischen Psychologie Christian Wolffs übernommene Unterscheidung zwischen ›dunklen‹, ›klaren‹ (bzw. ›verworrenen‹) und ›deutlichen‹ (oder ›distinkten‹) Vorstellungen.102 Während dunkel Vorgestelltes gar nicht von anderem unterschieden werden kann, »entstehet die Klarheit aus der Bemerckung des Unterscheides im mannigfaltigen«103. Das klar Vorgestellte ist mir als von anderem verschieden bewusst (und ich kann es daher wiedererkennen)104, es ist dies aber im Gegensatz zum deutlich Vorgestellten noch lediglich auf ›verworrene‹ Weise, weil ich diesen Unterschied nicht benennen kann. Erst wenn »wir den Unterscheid dessen, was wir gedenken [d.h. vorstellen; M.F.], bestimmen, und also auch auf Erfordern ihn andern sagen können«105, wird die Vorstellung deutlich, und diese Bestimmungsleistung ist Sache des oberen Erkenntnisvermögens, des Verstandes, wohingegen für die dunklen und verworrenen Vorstellungen das untere Erkenntnisvermögen hinreicht. Eben diese dunklen und verworren-klaren, also alle nicht-distinkten und mithin alle »durch den unteren Teil des Erkenntnisvermögens gestifteten«106 Vorstellungen fasst Baumgarten unter den Begriff der repraesentationes sensitivae. Dieser Begriff bedeutet nun aber keineswegs nur eine terminologische Neuerung, sondern zeigt zugleich eine Aufwertung dieser nicht-distinkten Vorstellungssphäre an. Sprach Wolff die gnoseologische Höchstgeltung unmissverständlich den deutlichen Vorstellungen zu, räumt Baumgarten den sensitiven Vorstellungen in gewisser Hinsicht einen Vorzug gegenüber den Bestimmungsleistungen des oberen Erkenntnisvermögens ein. Dieser Vorzug besteht darin, dass die sensitive Vorstellung tendenziell mehr Teilvorstellungen umfasst als die deutliche, und insofern »größer« und damit auch »stärker«, also wirkungsvoller ist als sie.107 Denn der Bestimmungsgewinn auf dem Weg zur deutlichen Vorstellung verdankt sich einer Abstraktions102 Vgl. z.B. H. ADLER: Fundus Animae – der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung, 198ff; A. AICHELE: Die Grundlegung einer Hermeneutik des Kunstwerks. Zum Verhältnis von metaphysischer und ästhetischer Wahrheit bei Alexander Gottlieb Baumgarten, 84ff; G. GABRIEL: Baumgartens Begriff der »perceptio praegnans« und seine systematische Bedeutung, 64ff. 103 DM § 201. 104 Vgl. Med. § 13: »ad recognoscendum et distinguendum«. 105 DM § 206. 106 Vgl. Med. § 3: »Repraesentationes per partem facultatis cognoscitivae inferiorem comparatae sint sensitivae.« Vgl. Met. § 521: »Repraesentatio non distincta sensitiva vocatur. Ergo vis animae meae repraesentat per facultatem inferiorem perceptiones sensitivas.« 107 Vgl. Med. § 16; Met. §§ 515. 517. Vgl. Aesth. § 560: »Quid enim est abstractio, si iactura non est?«
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leistung: einer Abblendung von Merkmalen einer Vorstellung zugunsten der genaueren Bestimmung des Ganzen bzw. von einzelnen Merkmalen desselben. Im Unterschied zur Deutlichkeit, die auch als ›intensive Klarheit‹ firmiert, bezeichnet Baumgarten die Eigenschaft einer Vorstellung, eine Menge von Merkmalen respektive Einzelvorstellungen zu umfassen, als ›extensive Klarheit‹ oder ›Lebhaftigkeit‹.108 Eben diese Eigenschaft ist in den Meditationes und in der Aesthetica eine Schlüsselqualität derjenigen sensitiven Vorstellungen, die Baumgarten zufolge für die Poesie und überhaupt für die Kunst konstitutiv sind, und zwar genau aus dem Grund, dass sie »größer« und »stärker« sind als die deutlichen Vorstellungen, um die sich das logische Denken bemüht. Die für seine Ästhetik schlechthin fundamentale Bedeutung des Gedankens der Erweckung extensiv-klarer sinnlicher Vorstellungen zeigt an, dass es Baumgarten »durchaus nur auf das Illustrieren, klar, lebhaft, eindrücklich Machen an[kommt]«109 – man ergänze: auf das Illustrieren von gegebenen allgemeinen Begriffen, ›Wahrheiten‹ oder ›Sätzen‹.110 Wie das Beispiel seiner Logik nach ein Beispiel für ein Allgemeines ist, so ist die Dichtung generell die Veranschaulichung von nicht-anschaulicher Erkenntnis. Der Wert eines Gedichtes entscheidet sich also letztlich an dem Wert des Gehaltes, des »gegebenen Themas«111, dessen mehr oder weniger gelungene Veranschaulichung es ist – ein Punkt, der in der neueren Baumgarten-Literatur unterbelichtet bleibt.112 Das ›schöne Denken‹ ist insofern schön, als es eine schöne, d.h. möglichst vollkommene sinnliche Darstellung bedenkenswerter Wahrheiten leistet. Die ästhetische ›Denkart‹ mit ihren sinnlichen Vorstellungen ist der Grundunterscheidung von Baumgartens Ästhetik zufolge zwar kategorial von der logisch-wissenschaftlichen Denkart und ihrer abstrakten Allgemeinheit verschieden,113 andererseits aber in ihren Operationen zugleich bleibend auf deren Erkenntnisse bezogen, insofern sie ihre zu illustrierenden Gegenstände eben von dorther empfängt.114 Dies lässt sich an der Auf108
Vgl. Met. § 531: »Claritas claritate notarum maior, intensive (a), multitudine notarum, extensive maior (b) dici potest. Extensive clarior perceptio est vivida (c).« 109 A. BAEUMLER: Das Irrationalitätsproblem, 222. 110 Vgl. Koll. § 360, 205: »Wann die Gelehrsamkeit fehlet, so fehlet die Materie zum Schönen, wann auch sonst die Form gut sein würde.« 111 Aesth. § 47: datum thema. 112 Wie P.-A. ALT: Aufklärung, 95ff, hebt schon H. R. SCHWEIZER ganz auf Baumgartens Fokussierung des Individuellen gegenüber dem Allgemeinen ab, ohne dabei die Rückbindung von jenem an dieses zu beachten (vgl. z.B. Einführung. Begründung der Ästhetik als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis, XIIff). Indes hat auch das Beispiel ein Einzelnes zum direkten Gegenstand, dabei aber ein Allgemeines zum eigentlichen Inhalt. 113 Vgl. Aesth. § 752; dazu A. BAEUMLER: aaO. 222. 114 Gegen A. BAEUMLER: aaO. 225: »Die ästhetische Wahrheit ist also autonom, nicht abhängig von der intellektuellen.« Um unter Berufung auf den diffizilen und hochgradig
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fächerung des schönen Denkens in genus cogitandi aestheticodogmaticum, aestheticohistoricum und poeticum belegen. Die fundamentale Verwiesenheit des ästhetischen auf ›Wahrheiten‹ des logischen Denkens ist in der ästhetikodogmatischen Denkart zweifellos am augenfälligsten. Schon deren Definition als »Denkart, in der Allgemeinbegriffe zur Darstellung kommen, aber in kunstgerechter Form«115, lässt die funktionale Veranschaulichungslogik erkennen, die diesem Konzept des Ästhetischen, dessen Paradigma das Lehrgedicht ist, zugrunde liegt. Im Rahmen dieses Konzeptes ist die Ästhetik geradezu als anwendungsorientierte Hilfsdisziplin der klassischen Wissenschaften zu begreifen, durch welche deren Zug zum Abstrakten, zur ›formalen Wahrheit‹, um das gegenläufige Streben nach sinnlicher Konkretion, nach möglichst großer ›materialer Wahrheit‹116 komplementiert wird.117 Sonach kann die ästhetikodogmatische Denkart ›theologisch‹, ›philosophisch‹ und anderes mehr heißen, je nachdem, aus welcher Wissenschaft die lehrhaften Stoffe stammen, mit denen sie sich befasst.118 Der Antrieb zu solcher ästhetischen Umformung wissenschaftlicher Erkenntnisse ist das gnoseologische Ideal ›ästhetikologischer Wahrheit‹119: das Ideal einer Wahrheitserkenntnis, in der Balance herrscht zwischen ›logischer‹ Abstraktion und ›ästhetischer‹ Konkretion bzw., vermögenspsychologisch formuliert, eine Harmonie zwischen den oberen Erkenntnisvermögen mit ihrem Streben nach Distinktheit und den unteren Erkenntnisvermögen, denen die Fülle konkreter Sinnlichkeit eignet.120 Erst eine solche ästhetikologische Erkenntnis wird der Zwitternatur des Menschen gerecht: »Wir sind Geister, wir müssen Deutlichkeit haben, aber wir sind endliche Geister und müssen also auch Sinnlichkeit haben. Es ist gut, beides zu verbinden, wann es nur nicht verwechselt wird.«121
missverständlichen Begriff der veritas aesthetica bei Baumgarten nun doch die Annahme einer »Wahrheit ›anderer Art‹« auszuweisen, fällt Bäumler hinter die Einsicht zurück, dass jener der Kunst vorzüglich eine Illustrationsfunktion zuweist. Die neuere Forschung ist Bäumler hier in der Regel gefolgt; paradigmatisch für eine derartige wahrheitstheoretische Aufladung von Baumgartens Ästhetik ist U. FRANKE: Kunst als Erkenntnis, 88f (›Die Wahrheit der Kunst‹). – Der Terminus veritas aesthetica etabliert analog zu den Reflexionen der Schweizer primär ein Konzept ästhetischer Wahrscheinlichkeit, mit dem das freie Walten der dichterischen Einbildungskraft gleichsam eingehegt wird; s.u. 115 Aesth. § 566: genus cogitandi generalia sed eleganter exprimens. 116 Aesth. § 570: ad maiorem veritatem materialem. 117 Vgl. Aesth. § 562. 118 Vgl. Aesth. § 567. 119 Aesth. § 561 u.ö.: veritas aestheticologica. 120 Vgl. Aesth. § 573: »per harmoniam facultatum cognoscitivarum inferiorum et superiorum«. 121 Koll. § 567, 248.
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Als Paradigma eines ästhetikodogmatischen Denkers gilt Baumgarten Cicero: »Man sagt: Cicero ist ein Philosoph, allein eigentlich handelt er in seinen Schriften philosophische Gedanken sinnlich schön ab. […] Er ist ein großer Ästhetikus.«122 Gemessen an dem wolffianischen Methodenideal mathematischer Gründlichkeit kann Cicero nicht eigentlich als Philosoph ernst genommen werden, weil er, von Hause aus Rhetoriker, seine Gedanken auf Kosten der trockenen Demonstration und genauen Definition stets in Beispiele, Bilder und Metaphern einhüllt. Im Lichte des Ideals ästhetikologischer Erkenntnis hingegen ist Cicero als Meister der »ästhetischen Einkleidung«123 geradezu das klassische Muster eines »großen Ästhetikus«, genauer: eines großen »Ästheticodogmaticus« auf dem Felde der Philosophie. Bezeichnenderweise kann für Baumgarten aber nicht nur der Verfasser der Tuskulanischen Gespräche unter dem Topos des Ästhetikodogmatischen firmieren, sondern auch der Dichter einer religiösen Ode: Logisch und ästhetisch denken ist der Form nach sehr unterschieden, ob es gleich der Materie nach oft einerlei sein kann. Der Dichter und Philosoph können beide einen Satz auszuführen haben, z.B. das Lob Gottes aus seinen Vollkommenheiten erweisen. Die Materie ist einerlei, allein ein jeder wird sie auf eine andere Art ausführen. Der Philosoph beweiset die Vollkommenheiten Gottes, allein sein eigentlicher Hauptsatz kommt erst zuletzt, den er mit Q.E.D. besiegelt. Der Dichter, der seine Ode zum Lobe der Gottheit entwirft, verfährt anders. Er setzt seinen Satz vorher und führet ihn durch viele Exempel durch und ziehet Folgen daraus.124
Das Dichten des religiösen Poeten, der hier als Beispiel des Ästhetikodogmatikers fungiert, komplementiert das Denken des philosophischen Theologen, indem er den von diesem erwiesenen Satz voraussetzt und ästhetisch »ausführt«, ihm durch Beispiele und andere Konkretisierungsmittel die nötige sinnliche Einkleidung verleiht. Erst im gegenseitigen Verweis der so unterschiedlichen Denkarten ergibt sich – idealerweise in einer Person125 – die »zusammengesetzte«126 ästhetikologische Wahrheit. Das von Baumgarten an dritter Stelle behandelte genus [sc. pulcre] cogitandi poeticum unterscheidet sich als genus eleganter heterocosmica meditandi127, d.h. als Fähigkeit, ›heterokosmische‹ Fiktionen zu ersinnen, in seinem spezifischen Verfahren vom genus aestheticodogmaticum; in seiner Zweckbestimmung hingegen kommt es mit ihm letztlich überein. Denn auch bei der 122
Koll., 250. Vgl. Aesth. § 576. Vgl. Koll. § 583, 251. 124 Koll. § 569, 248. 125 Vgl. Koll. § 3, 74: »Man muß die Sprache des Verstandes und der Sinnlichkeit reden können.« 126 Vgl. Aesth. § 562: »perfectio veritatis aestheticologicae composita«. 127 Aesth. § 566. Vgl. dazu P. PIMPINELLA: Veritas aesthetica. Erkenntnis des Individuellen und mögliche Welten. 123
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Erfindung fiktiver Welten geht es dem Dichter nach Baumgarten um nichts anderes als um die ästhetische Umsetzung gegebener ›Sätze‹. Es steht für den Verfasser der Aesthetica außer Frage, dass auch jeder fiktive Stoff, in seiner Terminologie: jede ›Fabel‹ (fabula), ihren Lehrsatz (sententia) hat, dessen Veranschaulichung sie ist.128 Entsprechend ist das letzte Kriterium für die poetische Fiktion ihre ›dogmatische Wahrheit‹129, also ihre Eignung, »die dogmatische Wahrheit des Lehrsatzes auszudrücken«130 bzw. »den Lehrsatz ausreichend zu illustrieren«131. Besonders die Religionen scheinen zur Illustration ihrer Lehren auf solcherlei Erdichtungen angewiesen zu sein, denn: »Fast alle Religionen haben ein bestimmtes, ihnen zugehöriges Gebiet in der poetischen Welt«132, wie die Mythologie »aller Zeiten und Länder«133 zeigt. Beispiel einer gelungenen christlichen Fiktion ist – hier zeigt sich besonders deutlich die Nähe Baumgartens zu den poetologischen Idealen der Schweizer – die poetische »Welt Miltons«134, die von einem Christen »über Christliches um der Christen willen«135 geschaffen wurde, also zur offenbar legitimen und notwendigen Versinnlichung der christlichen Lehre.136 Die noch verbleibende Untergattung der ästhetischen Denkart, das genus [sc. pulcre] cogitandi aestheticohistoricum, scheint sich auf den ersten
128
Vgl. Koll. § 526, 239: »Wann ich gewisse einzelne Dinge erzähle, um mir einen gewissen praktischen Lehrsatz mit vielen Kennzeichen einzudrücken, [und] wann diese Dinge erdichtet und nicht in dieser Welt geschehen sind, so mache ich eine Fabel, und die Erzählung einer Begebenheit von dieser Art ist eine Fabel. So wußten die Verständigen in Rom sehr wohl, daß ihre Erzählungen von dem Reiche der Toten nicht wirklich waren; allein, weil sie diese Erzählungen brauchten, gewisse allgemeine Sätze vorzutragen, so ließen sie es sich nicht merken, und diese Erzählungen waren in ihrer wahren Bedeutung Fabeln.« 129 Aesth. § 603: veritas dogmatica. 130 Aesth. § 604: veritatem sententiae dogmaticam exprimere. 131 Ebd.: ad illustrandam sufficienter sententiam. 132 Aesth. § 600: Habent omnes paene religiones aliquam suam partem in mundo poetarum. 133 Aesth. § 596: omnium temporum et locorum. 134 Aesth. § 600: Miltoni mundus. 135 Ebd.: de Christiano Christianorum gratia. 136 Vgl. dazu BHM, 96: »Die Heyden hielten ihre Gottheiten für würckliche Gottheiten. Ihre Dichter konten also, durch die Einführung dieser chimärischen Wesen, die poetische Wahrscheinlichkeit, das Erhabene, das Rührende, das Wunderbare erreichen. Allein wir Christen wissen, daß diese Gottheiten erträumet sind. […] Die heilige Schrift, und die Tradition der Juden und Christen geben uns den Stof zu einer christlichen Mythologie, wenn mir dieses Wort erlaubt ist. Milton hat hier schon die Bahn gebrochen, und er hat den Tasso zu seinen Vorgänger gehabt. Herr Klopstock hat, durch seinen schöpferischen Geist, diese Sache noch verbessert. Ich wünschte, daß unsere grossen Dichter diese eröfnete Laufbahn betreten möchten, so würden wir eine gantz neue poetische Welt bekommen, welche unter uns mehr gute Dienste thun würde, als die alte poetische Welt, welche wir in unsern aufgeklärtern Zeiten nicht anders als ein Chaos betrachten können.«
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Blick von der dogmatischen Funktion der beiden beschriebenen Gattungen deutlich abzuheben – sofern Baumgartens äußerst knappe Ausführungen hier überhaupt ein Urteil erlauben. Als »die Wirklichkeiten dieser Welt schön abmalende«137 Denkart fällt ihr die Schilderung vergangener Ereignisse, der Ausdruck gegenwärtiger Seelenzustände und die Vorausschau zukünftiger Geschehnisse zu, und so kann der Eindruck entstehen, als ziele die ästhetikohistorische Darstellung auf das bloße Ergötzen am schönen Gemälde, oder um den klassischen Topos zu gebrauchen: an der gelungenen Nachahmung der Natur. Allerdings kommt Baumgarten zufolge auch das ästhetikohistorische Werk nicht ohne die »Einstreuung allgemeiner Sätze«138 aus, die der Darstellung ›dogmatische Wahrscheinlichkeit‹ verleihen sollen – und damit just diejenige Wahrheitsqualität, auf die auch die ästhetikodogmatische Denkart abhebt.139 Die Vermutung, dass nach Baumgarten auch dem genus aestheticohistoricum – und folglich dem ästhetischen ›Denken‹ in allen seinen Formen – die Veranschaulichung gegebener allgemeiner Wahrheiten obliegt, bestätigt sich im nächsten Paragraphen, der den Abschnitt über die poetische Denkart eröffnet. Denn nach § 585 ist das ›poetische‹ Ausschweifen in fremde Welten nur dann legitim, wenn ›die Historie‹ bzw. – so kann historia im Lichte der Definition des Ästhetikohistorischen gelesen werden – die Aktualia dieser wirklichen Welt im Blick auf eine bestimmte (Wahrheits-)Erkenntnis zu wenig an ästhetischer ›Fülle‹ (ubertas), ›Größe‹ (magnitudo), ›Wahrheit‹ (veritas), ›Licht‹ (lux), ›Gewissheit‹ (certitudo) und ›Leben‹ (vita) zu bieten hat, als dass es zur gelungenen sinnlichen Darstellung dieser Erkenntnis, die sich an eben diesen sechs Kriterien bemisst, ausreichen würde.140 Entsprechend heißt es im Ästhetikkolleg zum selben Paragraphen: Wann ich unterrichten will, und ich merke, mein Leser wird eher einen Begriff von einem Beispiel aus der Fabelwelt haben als von einem historischen Exempel, das ihm unbekannt ist, so bin ich verbunden, die Fabel der strengen Wahrheit vorzuziehen. Wie oft wird der Weg durch eine Erdichtung eher erlanget als durch eine wahre Begebenheit.141
Ziel des Ästhetikers ist es, durch Beispiele zu unterrichten, also Exempel für die zu vermittelnde ›Wahrheit‹ bzw. den zu vermittelnden ›Satz‹ ästhetisch 137
Aesth. § 566: actualia huius mundi venuste pingens. Vgl. Aesth. § 584: »in interspersis suis generalibus«. 139 Baumgarten selbst verweist in § 584 der Aesthetica auf § 577, der dem spezifischen ›Wahrheitsstreben im Ästhetikodogmatischen‹ (studium veritatis in aestheticodogmaticis) gewidmet ist. 140 Vgl. zu den genannten sechs ästhetischen Hauptkategorien der Aesthetica S. TEDESCO: A. G. Baumgartens Ästhetik im Kontext der Aufklärung: Metaphysik, Rhetorik, Anthropologie, 140f. 141 Koll. § 585, 252. 138
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so zu gestalten, dass die betreffende Wahrheit bzw. der betreffende Satz möglichst anschaulich und eindrücklich wird. Dazu gehört nicht zuletzt die basale Verständlichkeit der Darstellung, die unter dem Titel lux aesthetica unter anderem thematisiert wird, und daher ist womöglich das bekanntere »Beispiel aus der Fabelwelt« dem weniger bekannten »historischen Exempel« vorzuziehen.142 Demzufolge geht es auch der ›historischen‹ Manier der ästhetischen Denkart, die wesentlich eine Kunst der Gestaltung ›historischer‹ Beispiele für allgemeine Erkenntnisse ist, jedenfalls vorwiegend um die anschauliche Vermittlung gegebener Wahrheiten. So lässt sich nach alledem festhalten, dass nach Maßgabe von Baumgartens Theorie die Bemühung um Veranschaulichung143 abstrakter Gedanken durch sinnliche Vorstellungen tatsächlich als Kern aller ästhetischen Bemühungen anzusehen ist. Baumgarten beerbt mit seiner Veranschaulichungswissenschaft verschiedene Denktraditionen. Er selbst nennt die Rhetorik, die Poetik und die Musik als diejenigen Kunstlehren, deren Begriffe und Regeln – auf die Stufe größerer Allgemeinheit gehoben – in die Ästhetik integriert werden können.144 Vor allem die rhetorische Überlieferung, aus der ja auch die Poetik und Musik der Zeit schöpfen, ist tatsächlich in der Aesthetica überall präsent und hat mit ihrer Grundfrage nach Kriterien für eine möglichst anschauliche und damit wirkungsvolle Rede – man denke zum Beispiel an Kapitel 15 von Peri Hypsous – sicher für Baumgartens Idee der neuen Wissenschaft Pate gestanden. Der rhetorischen Kultur der Zeit entsprechend ist die Redepraxis als Anwendungsfeld der Ästhetik bei Baumgarten indes nur in einer ganz bestimmten Ausprägung im Blick, nämlich in Gestalt der Kanzelberedsamkeit. Tatsächlich ist es, soweit sich aus den Beispielen erheben lässt, neben dem Dichter eigentlich nur der Prediger, der ihm als konkreter Fall eines praktizierenden »Ästhetikus« vor Augen steht.145 So heißt es in der Kolleg142
Vgl. Aesth. § 585, wonach die ficta exempla heterocosmica gegebenenfalls den Vorrang vor exempla historica haben. 143 Der Interpretationsbegriff der ›Veranschaulichung‹ bzw. ›Anschaulichkeit‹ deckt sich wohlgemerkt nicht mit Baumgartens Begriff der ›anschaulichen Erkenntnis‹ (cognitio intuitiva), die von der ›symbolischen Erkenntnis‹ (cognitio symbolica) unterschieden wird. Es handelt sich hier nicht um eine kategoriale Differenz, sondern um zwei alternative Modi der Aufmerksamkeit. Bei der symbolischen Erkenntnis steht das Wie der Artikulation im Vordergrund, während die anschauliche Erkenntnis direkt auf die Gehalte geht. Vgl. Met. § 620; entsprechend TLG § 57, 68: »Ist die Vorstellung der Sache grösser als die Vorstellung des Zeichens, so ist die Erkenntniß anschauend.« Im Falle der cognitio intuitiva (die wiederum distinkt oder sensitiv sein kann) tritt die Vorstellung des Zeichens quasi sofort zurück, um der Vorstellung der Sache Platz zu machen. Die Zeichen stellen hier die Sache gleichsam unmittelbar vor Augen. 144 Vgl. Aesth. § 69. 145 Vgl. UVG 62: »Was die Redner betrift, so haben ausser den Predigern wenige andere Gelegenheit Reden zu halten, und das ist die Ursach, warum ich ausser den vortreff-
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nachschrift von der Neigung zur ästhetischen Wahrheit, sie müsse »der Theologe wie der Dichter besitzen, wann einer schön reden und der andere ein wahrhaftig schönes Gedicht verfertigen will«146. Mit dem »schön redenden« Theologen ist natürlich der Pfarrer auf der Kanzel gemeint – genauer: das allzu selten real anzutreffende147 Idealbild eines Pfarrers, der sich durch rhetorische bzw. ästhetische Bildung zu einem »schön redenden« Prediger entwickelt hat: Die Rhetorik, wann sie nach Gründen des Schönen soll erlernet werden, muß sich auf die allgemeinen Regeln der Ästhetik gründen und ihr Besonderes nach denselben bestimmen; sie werden richtige Gründe vom Rührenden, Edlen usf. geben, und also wird sie auch der Kanzelredner mit Vorteil brauchen können, dessen Redekunst zuweilen sehr verstellt ist.148
»Verstellt« sein kann die homiletische Redekunst durch die trockene, demonstrierende Denkart der zeitgenössischen Philosophie bzw. der theologischen Dogmatik, sofern sie der Prediger auch auf der Kanzel beherzigen zu müssen meint.149 Bevor man jedoch die Gemeinde mit dogmatischen Richtigkeiten und Allgemeinheiten langweilt, kann es nach Baumgarten um der Anschaulichkeit willen sogar angebracht sein, »ein Wort in einer Predigt [zu] brauchen, das nicht nach aller Schärfe der Dogmatik recht ist«150. Die Kunst des Predigers bestünde ganz im Sinne seines Veranschaulichungsprogramms vorwiegend darin, für die zu lehrenden dogmatischen Sätze »theologische Fabeln«151 zu ersinnen: Ebenso müssen die Hauptschlußsätze in Fabeln und Sinnlichkeit eingekleidet werden. Dies kann man zwar, nach der Mode zu reden, falsch nennen, aber es ist es lichen Predigern, dergleichen der Herr Abt Moßheim ist, wenige ietztlebende gute Redner anführen kan.« 146 Koll. § 555, 244f. 147 Vgl. UVG 63: »Gegen einen guten Prediger muß man fünfzig rechnen, die nicht einmal mittelmäßig gut predigen.« 148 Koll. § 4, 75. 149 Vgl. UVG: Die »heutige Art zu philosophieren« (67) »drenget sich so gar an solche Orte, wo sie nicht einmal hin gehört, und sie ist schon ofte so verwegen gewesen, so gar die Cantzeln zu besteigen. Diese lächerlichen und abgeschmackten Predicanten sind verrückt, und da unter uns die Cantzeln bey nahe die eintzigen Oerter sind, wo die Redekunst einen Aufenthalt, auf ihrer Flucht aus Deutschland, noch zum gutem Glücke gefunden hat, so verderben dieienigen den Geschmack noch auf eine unverantwortlichere Art, welche auch in ihren Predigten nur auf eine trockene Art philosophiren« (70). Es handelt sich hier wohl um eine Polemik gegen Gottscheds Homiletik von 1740; vgl. A. STRASSBERGER: Johann Christoph Gottsched und die »philosophische« Predigt. Studien zur aufklärerischen Transformation der protestantischen Homiletik im Spannungsfeld von Theologie, Philosophie, Rhetorik und Politik. 150 Koll. § 431, 217. 151 Aesth. § 538: fabulae theologicae. Baumgarten versäumt es nicht, in diesem Zusammenhang auf die Gleichnisse Jesu als Vorbilder zu verweisen; vgl. Koll. § 527, 239.
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nicht. Der schöne Geist muß das Beste von der Wahrheit in Wahrscheinlichkeit bringen, und ob es gleich nicht demonstriert ist, so ist es im Schönen doch wahr, oder der Wahrheit ähnlich. Er bleibt immer beim Wahren, aber er geht nur von dem demonstrierten Wahren ab. Der Gottesgelehrte muß dies in einer jeden Predigt vor einer schlechten [lies: schlichten; M.F.] Gemeinde tun.152
Wie jeder Ästhetikus muss der Gottesgelehrte als Prediger die demonstrierten Wahrheiten seiner Wissenschaft – der dogmatischen Theologie – in sinnliche Gestalt bringen, und das heißt: in eine »der Wahrheit ähnliche« (vero similis), wahrscheinliche (verisimilis) Form, welche zwar das streng Logische der eigentlichen, demonstrierten Wahrheit selbst nicht aufweist, ihm aber zugleich auch nicht widerspricht und insofern der Wahrheit immerhin »ähnelt«. Der überraschend häufige Rekurs auf die Kanzelrede als exemplarischen Anwendungsfall der Ästhetik macht noch einmal deutlicher, was schon die anderen Bezüge in Baumgartens Ästhetik zu Religion und Theologie vermuten ließen: dass bei der Erfindung der Ästhetik in Halle nicht zuletzt ein religiöses Veranschaulichungsinteresse präsent gewesen ist. Womöglich ließe sich in Baumgartens Denken auch die Rezeption derjenigen theologischen Disziplin aufweisen, die für die Reflexion solcher religiöser Veranschaulichung von Hause aus zuständig war, die Rezeption also der zeitgenössischen Homiletik.153 Jedenfalls spiegelt sich Baumgartens Interesse für die Kanzelrede und ihre religiöse Versinnlichungsleistung obendrein darin, dass er die Predigtlehre neben der allgemeinen Rhetorik, der Poetik, der Musik (und verschiedenen anderen Kunstlehren) auch explizit als Spezialdisziplin der Ästhetik begreift.154 Insgesamt lässt sich notieren, dass für Baumgarten die Veranschaulichung von Wahrheiten aus der Religion – neben solchen aus Metaphysik155 und Moral156, welche ebenfalls zu den erhabenen Sujets gezählt werden – zu den vornehmsten Funktionen des Ästhetischen gehört, wobei in concreto vorwiegend an Poesie und Predigt als Träger der betreffenden Funktion zu denken ist. 2.2.2. Die affektive Funktion der Kunst Mit der Abhängigkeit von der rhetorischen Tradition und deren Anschaulichkeitsinteresse ist nun auch unmittelbar eine Seite der Ästhetik Baum152
Koll. § 492, 228. Hier wäre an A. H. Francke, J. Lange und insbesondere J. J. Rambach zu denken. Vgl. dazu immer noch M. SCHIAN: Johann Jacob Rambach als Prediger und Predigttheoretiker. 154 Vgl. Aesth. § 4. 155 Vgl. z.B. Koll. § 121, 134. 156 Vgl. z.B. Koll. § 501, 232; § 585, 252. 153
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gartens verbunden, die von A. Baeumler als die »schädliche Wirkung der rhetorischen Theorie«157 in der Baumgarten-Interpretation mehr oder weniger ausgeblendet wurde,158 die aber gleichwohl als ein schlechthin kardinaler Aspekt jener jungen Wissenschaft anzusehen ist. Eben dieser Aspekt wird ein weiteres Mal die Nähe von Baumgartens neuer Wissenschaft zur zeitgenössischen Religion und Theologie deutlich machen und sie noch besser als gemeinsames Kind von Pietismus und Aufklärung zu verstehen lehren. Gemeint ist die eng mit dem Veranschaulichungsthema verbundene Dimension der affektiven Wirkung: die durchweg als zentraler Zweck des ›schönen Denkens‹ anvisierte, gleichwohl von Baeumler als dem Schönen äußerlich inkriminierte »Erregung von Leidenschaften und die dadurch herbeigeführte Bestimmung des Willens im Zuhörer«159. Tatsächlich kreist die Hallische Ästhetik als Wissenschaft der Versinnlichung abstrakt-allgemeiner Wahrheiten von vornherein nicht nur um das »Problem der ›Mitteilbarkeit‹«160 jener Wahrheiten. Die Veranschaulichungsfunktion des ›schönen Denkens‹ zielt vielmehr neben allgemeiner Verständlichkeit mindestens ebenso sehr auf möglichst große Eindrücklichkeit des schön Gedachten, auf dessen möglichst starke Wirkung auf ›das Herz‹ bzw. ›die Leidenschaften‹.161 Nun fällt dieser Wirkungsaspekt bei Baumgarten selbst – anders als bei seinem Schüler G. F. Meier – tatsächlich nicht unmittelbar ins Auge. Dies liegt vor allem an dem betrüblichen Umstand, dass das hier einschlägige Kapitel über die vita cognitionis aesthetica (›das ästhetische Leben der Erkenntnis‹), die sechste und letzte in der Reihe der Hauptkategorien der Aesthetica, in dem fragmentarisch veröffentlichten Werk unausgeführt geblieben ist. Dass der heuristische Teil der theoretischen Ästhetik mit eben diesem Kapitel in Ausführungen zum affektiven Wirkungspotential der ›schönen Erkenntnis‹ kulminiert hätte, lässt sich aber aus mannigfachen Hinweisen innerhalb und außerhalb des Baumgarten’schen Werkes mit einiger Sicherheit schließen.162 Mit der Kategorie der vita cognitionis aesthetica greift Baumgarten einen gängigen Terminus der zeitgenössischen Philosophie auf: den Begriff der
157
A. BAEUMLER: Das Irrationalitätsproblem, 210. Vgl. E. STÖCKMANN: Anthropologische Ästhetik. Philosophie, Psychologie und ästhetische Theorie der Emotionen im Diskurs der Aufklärung, 107. 159 Ebd. 160 Ebd. 161 Es ist das Verdienst von J. JACOB, diesen Aspekt der Hallischen Ästhetik hervorgehoben zu haben: Heilige Poesie, 43ff. Seine Ausführungen sind nur insofern zu kritisieren, als sie ›Lebendigkeit‹ (vita) und ›Lebhaftigkeit‹ (vividitas) in eins setzen, welche jedoch bei Baumgarten zwei verschiedene, wenn auch eng zusammenhängende Aspekte des Ästhetischen darstellen. 162 Vgl. D. MIRBACH: Ingenium venustum, 201. 158
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›lebendigen Erkenntnis‹ (cognitio viva).163 Dem Eintrag unter ebendiesem Stichwort in J. G. Walchs Philosophischem Lexicon (1726) zufolge ist eine Erkenntnis ›lebendig‹ zu nennen, wenn »durch selbige der Wille in eine Bewegung gesetzt wird«, während jede Erkenntnis ›tot‹ heißt, die solches nicht zu bewirken vermag, »ohnerachtet sie wahr ist«164. Die Differenzierung zwischen ›lebendiger‹ und ›toter‹ Erkenntnis thematisiert den problematischen »Übergang von theoretischer Erkenntnis zu praktischem Handeln«165, oder vermögenspsychologisch formuliert: den Konnex von Erkenntnis- und Begehrungsvermögen. Innerhalb der empirischen Psychologie von Baumgartens Metaphysik hat die fragliche Unterscheidung ihren systematischen Ort daher im allgemeinen Teil zur facultas appetitiva. Ausgehend vom Seelenzustand der Gleichgültigkeit (indifferentia) werden hier die Bedingungen des Erwachens des Begehrungsvermögens analysiert. Es geht also um die Frage, wie die jeweils aktuellen Vorstellungen bzw. die aktuelle ›Erkenntnis‹ der Seele (cognitio im oben beschriebenen allgemeinen Sinn) beschaffen sein müssen, um auch deren appetitiven Modus anzusprechen. Baumgartens Antwort: Cognitio, quatenus elateres animi continet, movens (afficiens, tangens, ardens, pragmatica, practica & viva latius), quatenus minus, iners (theoretica & mortua latius), & haec caeteroquin satis perfecta, §. 515, 531. speculatio (speculativa, vana, cassa) dicitur.166
Eine Erkenntniß, in so ferne sie Triebfedern des Gemüths enthält, ist eine rührende, (cognitio movens, afficiens, tangens, ardens, pragmatica, practica et viva latius), in so ferne sie dergleichen nicht enthält eine leblose (cognitio iners, theoretica et mortua latius), welche eine speculativische (speculatio, cognitio vana, cassa) genennt wird, wenn sie übrigens sehr vollkommen ist.167
Die entscheidende Eigenschaft der lebendigen Erkenntnis ist es, ›Triebfedern des Gemüts‹ zu enthalten. Diese Bestimmung setzt das Konzept von Begehren voraus, wie es im Kontext der Stelle entwickelt wird. Die Seele 163
Vgl. zum Folgenden J. JACOB: Heilige Poesie, 43ff, und E. STÖCKMANN: Anthropologische Ästhetik, 105ff. 164 J. G. WALCH: Philosophisches Lexicon, 1606. 165 J. JACOB: Heilige Poesie, 43. 166 Met. § 669. 167 Übers. G. F. MEIER, § 493, 157. Die Paragraphenzählung in Meiers Übersetzung weicht von derjenigen Baumgartens ab; sie wird daher mit Paragraph und Seitenangabe zitiert. – Bei CH. WOLFF lautet die Definition: »Cognitio viva dicitur, quae fit motivum voluntatis vel noluntatis. Ast mortua vocatur cognitio, quae non fit motivum voluntatis vel noluntatis« (Philosophia practica universalis § 244). In § 169 der Deutschen Ethik von 1720 heißt es etwas spezifischer: »Die jenige Erkäntnis wird lebendig genennet, welche einen Bewegungs-Grund des Willens abgiebet, entweder das Gute zu vollbringen, oder das Böse zu lassen. Hingegen die Erkäntnis ist tod, welche keinen dergleichen Bewegungs-Grund abgiebet«.
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begehrt, um der leichteren Fasslichkeit wegen die Paraphrase Meiers zu zitieren, »wenn sie sich bemüht eine vorhergesehene Vorstellung in sich hervorzubringen«168. Gegenstand des Begehrens ist immer ein zukünftiger Seelenzustand, das heißt – unter Voraussetzung des Leibniz-Wolff’schen Grunddogmas, dass die Seele wesentlich vis repraesentativa ist – ein zukünftiger Vorstellungszustand. Infrage kommt etwa der Zustand einer bestimmten »äußerliche[n] Empfindung, das ist, eine Vorstellung einer Sache die ausser uns würcklich gegenwärtig ist«169. Um diesen Vorstellungszustand begehren zu können, muss er erstens irgendwie als möglicher zukünftiger Zustand in den Blick geraten; wir müssen zweitens davon ausgehen können, den betreffenden status animae tatsächlich mit einiger Wahrscheinlichkeit hervorbringen zu können. Und es muss drittens die Bedingung erfüllt sein, »daß der Seele die begehrte Vorstellung wohlgefallen müsse«170. Das Begehren ist also zu fassen als Antizipation des wahrscheinlich zu erlangenden Gemütszustandes einer wohlgefallenden Vorstellung, und Vorstellungen wiederum, die eine solche Antizipation evozieren, sind ›Triebfedern der Seele‹. Baumgarten bestimmt das gemeinte Wohlgefallen näher als billigende Anschauung der Vollkommenheit eines Gegenstandes bzw. als Anschauung eines Gegenstandes als eines ›Gutes‹, d.h. als eines Gegenstandes, der als Ursache einer bestimmten Vollkommenheit in den Blick kommt.171 Der Zustand der Seele in der betreffenden billigenden Anschauung ist die voluptas, die ›Lust‹ oder das ›Vergnügen‹ (Meier), so dass das Begehren vollständiger zu bestimmen ist als die Vorausschau auf den erreichbaren lustvollen Gemütszustand der Vorstellung einer Vollkommenheit bzw. eines Gutes.172 168 TLG 21. Vgl. Met. § 663: »Si conor seu nitor aliquam perceptionem producere, i. e. si vim animae meae seu me determino ad certam perceptionem producendam, appeto.« 169 TLG 24. 170 TLG 25. Vgl. Met. § 664: »Quae appeto, 1) praevideo continenda in futuris perceptionum mearum totalium seriebus, 2) praesagio exstitura vi mea ad eadem determinata, 3) placent«; ferner § 665: »Lex facultatis appetitivae haec est: Quae placentia praevidens exstitura nisu meo praesagio, nitor producere. Quae displicentia praevidens impediendo nisu meo praesagio, eorum opposita appeto«. 171 Vgl. Met. § 651: »Hinc obiecti alicuius aut perfectionem intueor, & placet […]. Quod placet, intueor, ut bonum, sub ratione boni, § 100.« Vgl. § 100: »Bonum est, quo posito ponitur perfectio.« 172 Vgl. Met. § 665: »Hinc multa bona […], sub ratione boni, possum appetere.« Ferner § 666: »Multa bona possum non appetere…« Vgl. S. G. LANGE: Daß das Wesen der Dichtkunst in unserer Natur gegründet sei (1751), 162f: »Die lebendige Erkentnis wird durch die sinnlichen Vorstellungen lebendig. Die untern Kräfte der Seele, die Begierden und Verabscheuungen, machen das Leben einer Erkentnis aus. Alles, was diese untern Kräfte in Ruhe läst, wenn wir es erkennen, ist eine todte Erkentnis. Wenn wir den Satz, daß 2 mal 2 vier ausmachen, vollkommen erkennen, so bleiben wir ganz kaltsinnig und ruhig: so ist die todte Erkentnis beschaffen, welche die untern Kräfte der Seele so in Ruhe
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›Triebfedern der Seele‹ wiederum sind dementsprechend Vorstellungen, die eine solche Vorausschau hervorrufen. Dabei wird noch einmal unterschieden zwischen vernünftigen173 und sinnlichen Begierden174, je nachdem ob sie aus deutlichen oder sinnlichen ›Triebfedern‹ entspringen; je nachdem also, ob diese den Zustand einer rationalen oder sinnlichen Lust175 bei einer deutlich-anschauenden bzw. einer sinnlich-anschauenden Vollkommenheitserkenntnis antizipieren. Das ›Leben‹ einer Erkenntnis (respektive Vorstellung) lässt sich nach alledem fassen als ihre Eigenschaft, lustvolle Zustände der sinnlichen oder deutlichen Vorstellung von Vollkommenheit (oder Güte) zu antizipieren. Entsprechend ist auch innerhalb des Begriffs der vita cognitionis mit Meier noch einmal zu differenzieren: Eine jede Erkentnis ist lebendig, in so ferne sie Begierden und Verabscheuungen erregt. Ist sie deutlich, so bringt sie den Willen, die obere Begehrungskraft in Bewegung, und alsdenn hat sie ein vernünftiges Leben; ist sie aber undeutlich, so erregt sie nur die untere Begehrungskraft, und diese ihre bewegende Kraft ist das sinliche Leben derselben.176
Wie bereits notiert, rangiert die vita cognitionis in der Disposition von Baumgartens Aesthetica als eine der sechs fundamentalen ästhetischen Qualitäten. Das bedeutet für die durch das ›schöne Denken‹ gestalteten Vorstellungen, dass sie in irgendeiner Weise jene Antizipationsfunktion erfüllen und damit jenes Appetenzpotential bieten müssen, um die fragliche Qualität zu verwirklichen. Hinweise darauf, dass die skizzierte Begehrenstheorie für Baumgartens Ästhetikverständnis tatsächlich maßgebend ist, finden sich indes keineswegs nur in der Gliederung der Aesthetica, sondern auch in Ausführungen des Ästhetikkollegs: Denn, was schön sein soll, muß bewegen, dies ist eine Eigenschaft der schönen Erkenntnis. Was mich bewegen soll, muß Begierden in mir hervorbringen, Begierden aber können nicht anders als wegen eines zukünftigen Gutes entstehen, da nun ein schöner Geist bewegen soll, so muß er auch in die Zukunft sehen.177 läst, daß weder Furcht noch Hofnung, noch die geringste Begierde sich dabey reget, und kein genuß oder Mangel empfunden wird.« 173 Met. § 689: appetitiones rationales. 174 Met. § 676: appetitiones sensitivae. Vgl. § 681. Weiter werden die ›sinnlichen Begierden‹ in dunkle (instinctus) und verworrene (affectus) unterteilt (§ 676f). 175 Vgl. Met. § 656: voluptas rationalia und sensitiva. 176 ASW 420f (Hvhg. M.F.). – Eine konzise Zusammenfassung von Meiers Begriff der ›lebendigen Erkenntnis‹ gibt eine Dissertation, die 1747 unter dessen Vorsitz in Halle verteidigt wurde: G. F. MEIER (Praes.): Meditationes philosophicae de vita cognitionis ab eius claritate, veritate et certitudine non necessario pendente. 177 Koll. § 31, 87. Vgl. auch § 36, 89f: Ein schöner Geist »muß die Sprache des Herzens reden, das ist rühren, soll er andere rühren, so muß er selbst zuvor gerührt sein. Er kann nicht rühren, wann er nicht Begierden erregt, und er kann nicht Begierden erregen, wann der Gegenstand derselben nicht zukünftig ist.« Vgl. Aesth. § 36, wo die vita
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»Was schön sein soll, muß bewegen«, dieser Satz ist eine schlichte Paraphrase des in der Disposition der Ästhetik zum Ausdruck kommenden Grundsatzes, dass die schöne, d.h. vollkommene sinnliche Erkenntnis auch ›lebendige Erkenntnis‹ sein muss. Entsprechend der Bestimmung der Metaphysik entscheidet sich die ›Lebendigkeit‹ der Vorstellungen tatsächlich an ihrem Potential, »Begierden in mir hervorzubringen«, und dieses Potential wiederum hängt ab von der Vorhersehung eines potentiellen ›zukünftigen Gutes‹, dessen aktuelle Vorstellung die begehrende Seele zu generieren sucht. »Was schön sein soll, muß bewegen«, muss also das Streben nach einem zukünftigen Gut (bzw. psychologisch exakt: nach dessen Vorstellung) bzw. nach einer zukünftigen Vollkommenheit (als das mit einem Gut als dessen Folge per definitionem Mitgesetzte)178 erwecken. Eine Präzisierung der skizzierten begehrenstheoretischen Ästhetikkonzeption ergibt sich aus einer weiteren Bestimmung aus dem Abschnitt von Baumgartens Metaphysik über das Appetenzvermögen: Mihi bona [* mir gut] sunt, quibus positis in me ponitur realitas; mihi mala [* mir böse], quibus positis in me ponitur negatio latius sumta. Quumque mei, corporis mei, & utriusque status magis i.e. verius, clarius, certius […] sim conscius, quam multarum aliarum rerum […], patet cur ea, quae intueor ut mihi bona, vel mihi mala, voluptates & taedia producant maiora, quam multa alia, licet hae vel meliora, vel peiora iudicem…179
Was mir gut ist (mihi bonum) dadurch werden in mir Vollkommenheiten gesetzt [eigentlich: wird eine Realität gesetzt; M.F.], und was mir böse oder für mich ein Uebel ist (mihi malum) dadurch werden in mir Unvollkommenheiten gesetzt [eigentlich: wird eine Negation gesetzt; M.F.]. Da ich mir nun meiner, meines Körpers und meiner Zustände, mehr, das ist richtiger klärer gewisser u.s.w. bewußt bin, als vieler anderer Sachen […], so erhellet, warum diejenigen Sachen, die ich mir anschauend als mi[r] gut und böse vorstelle, ein grösseres Vergnügen und Mißvergnügen verursachen, als viele andere Sachen, ob ich gleich von den letztern urtheile, daß sie viel besser und schlimmer sind, als jene.180
Versetzen Güter (bona) bzw. Vollkommenheiten (als mit Gütern per definitionem mitgesetzte) das Gemüt in den Zustand des Vergnügens, tun selbiges in noch höherem Maße die mihi bona als deren Untergattung: diejenigen Güter also, die einen spezifischen Bezug zu »mir und meinem Körper« cognitionis im Kontext von praevisio und praesagium thematisiert wird, mit Verweis auf Met. § 665 über die lex facultatis appetitivae. 178 Vgl. Met. § 100. 179 Met. § 660. 180 Met. (Übers. G. F. MEIER) § 486, 154f.
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haben, insofern sie nämlich meinem psychischen und physischen Leben in irgendeiner Hinsicht zuträglich sind.181 Ebendies ist gemeint mit der kategorialen Bestimmung, dass mit der Setzung eines mihi bonum in mir eine ›Realität‹ mitgesetzt wird. Die Setzung einer ›Realität‹ in mir bedeutet, dass ich eine positive ›Bestimmung‹ (determinatio) erfahre, d.h. dass mir eine positive Beschaffenheit zuteil wird.182 Der Sachverhalt, dass der Bezug eines Gutes auf meine Existenz gegenüber jedem mir äußerlichen Gut das Vergnügen daran steigert, bedeutet begehrenstheoretisch gewendet: Die praevisio zukünftiger Güter (bona) wird in ihrer appetitiven Wirkung noch übertroffen von Gütern, die für mich gut sind (mihi bona). Und daraus wiederum folgt für den Ästhetiker, dass er die gewünschte Wirkung eigentlich nur dann erreicht, wenn er mit seiner poetischen Darstellung beim Rezipienten die Antizipation eines Gutes aufruft, das für ihn eine entsprechende subjektive Bedeutsamkeit hat. Erst dann wird die von ihm dargestellte Erkenntnis auch wirklich ›lebendige Erkenntnis‹ sein, insofern sie das Begehren nach dem antizipierten Gut wachruft. Entsprechend heißt es in Meiers Anfangsgründen im Abschnitt zur cognitio viva (›Von dem sinlichen Leben der Gedanken‹), man müsse … den Gegenstand nicht nur überhaupt als gut und volkommen vorstellen, sondern auch als ein Gut, wovon so wol wir als unsere Zuhörer Vortheile und Volkommenheiten zu erwarten haben, (ut bona nobis & aliis, cogitata sint afficientia, interressants [!]). Eine Sache mag noch so schön seyn, wenn sie uns gar nichts angeht, wenn wir dadurch nicht volkommener werden, wenn wir dieselbe gar nicht in unsern Besitz bekommen können, und wenn wir von derselben gar nicht die geringsten Vortheile zu hoffen haben; so denken wir, es kan alles wahr seyn, was geht es aber uns an?183
Dass das ›schöne Denken‹ nach Baumgartens (und Meiers) Auffassung auf die Weckung von Begierden zielt, ist deutlich geworden.184 Insofern der 181
Vgl. Med. § 26. Vgl. Met. § 36. 183 ASW 433. Auf die in der Fortsetzung des oben zitierten Baumgarten-Paragraphen (§ 660) vorgenommene Unterscheidung von inneren und äußeren mihi bona bezieht sich Meier, wenn er wenig später schreibt: »Man mus den guten Gegenstand als eine Sache vorstellen, die nicht ausser uns, sondern in unserm innern Zustande befindlich ist; oder wenigstens als etwas Guts, wodurch unsere innern Güter und Volkommenheiten erhalten, vermehrt und befördert werden. Quae extra nos nihil ad nos. Eine Sache, die ganz ausser uns befindlich ist, und mit dem innern Zustande, unserer Seele und unsers Körpers, in keiner merklichen Verbindung steht, rührt uns entweder gar nicht, oder doch nur auf eine sehr geringe Art. Im Gegentheil aber rühren uns die Güter, die mitten in unserm Bezirke und Umfange entweder würcklich sind, oder daselbst Volkommenheiten verursachen, recht innig, und setzen den Grund der Seele in Bewegung« (434). 184 Vgl. den Essay von Pyras und später Meiers Freund S. G. LANGE: Wesen der Dichtkunst (1751), 163: »Das innere Wesen der Dichtkunst bestehet in sinnlichen Vorstellungen und im Affect, der den Affect erregen kan, in Vorstellungen, die unserer Phan182
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Rezipient von der dargestellten »Sache« unmittelbar affiziert, in seinen innersten Lebensinteressen getroffen werden soll, kann von einem ›interesselosen Wohlgefallen‹ im Sinne Kants als Wirkungszweck des Ästhetischen noch keine Rede sein. Indes ist die Frage noch unberührt geblieben, ob es eher ›vernünftige‹ oder ›sinnliche‹ Begierden sind, die sich nach Ansicht der Hallenser Ästhetiker durch das ›schöne Denken‹ hervorrufen lassen. Freilich deutet hier alles in eine Richtung. Wie schon der soeben zitierte Titel des einschlägigen Abschnittes der Anfangsgründe verrät, hat der Ästhetikus nach G. F. Meier den darzustellenden Gedanken nicht ›vernünftiges‹, sondern ›sinnliches Leben‹ einzuhauchen. Unter »aesthetischer Rührung«185 versteht Meier – in Anlehnung an den rhetorischen Topos vom affectus movere, dessen Wiedergabe der Terminus ›Rührung‹ ist – nichts anderes als die Erweckung »sinlicher Begierden« (und »Verabscheuungen«), und zwar sowohl der dunklen Begierden (der natürlichen Triebe, lat. instinctus) als auch (und vor allem) der verworrenen Begierden, also der »Leidenschaften«.186 In diesem Sinne widmet Meier bereits 1744 in dezidiert ästhetischer Absicht eine eigene Schrift der Theoretischen Lehre von den Gemütsbewegungen überhaupt, die als direkte Umsetzung von Baumgartens Idee einer Pathologia aesthetica187 gelten kann. Sie ist der Versuch, die Wirkungsintention des Ästhetischen auf der Basis der Begehrenstheorie der Wolff-Baumgarten’schen Metaphysik188 mit einer ausgeführten Affekttheorie zu fundieren189 – natürlich mit breiter Berücksichtigung des Begriffs der »lebendigen Erkenntniß«190. Schon jene Idee der Pathologia aesthetica deutet wiederum darauf hin, dass auch Baumgarten selbst der Affekterregung im Ästhetischen eine zentrale Rolle zuschreibt. Auch die generelle Fokussierung auf die Sinnlichkeit innerhalb der Ästhetik, die sich im Programm einer ästhetischen Suppletasie lebhafte Bilder eindrücken, und auf das Herz wirken, und Leidenschaften erregen. Der Poet muß Sachen abhandeln, die auf die Leidenschaften wirken, durch das Annehmliche, oder Unannehmliche, und die sehr viel mit einmal in sich halten, er muß uns mit solchen Vorstellungen bestürmen, und sie so auf einander häufen, daß der Leser gleichsam nicht zu sich selbst kommen und die Ruhe erhalten kan, die man erhält, wenn man sich besinnet.« 185 ASW passim (z.B. 462). 186 Vgl. ASW passim (z.B. 458); vgl. Met. § 677f. 187 Vgl. Met. § 678. Vgl. zum Terminus und zu Meiers Schrift D. KLICHE: Ästhetische Pathologie: Ein Kapitel aus der Begriffsgeschichte der Ästhetik, 207ff. 188 Vgl. TLG Vorrede (unpag.). 189 Vgl. ebd.: »Ich fand, daß die vornehmsten Bücher, in welchen die Rede- und Dichtkunst abgehandelt wird, in dem Capitel noch sehr mangelhaft sind, in welchem von der Bewegung der Gemüther gehandelt werden soll. […] Und deswegen bin ich bewogen worden, einen Versuch zu thun, ob ich den Lehrern der Rede- und Dichtkunst ein Mittel zeigen könne, wodurch sie ihre Regeln, eine Rede pathetisch zu machen, vollständiger und ausführlicher machen können.« 190 Vgl. TLG § 54ff.
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mentierung der deutlichen Erkenntnis ausspricht, indiziert, dass Baumgartens ›Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis‹ entsprechend auf die Erregung sinnlicher Begierden abzielt.191 Für eine prägnante Äußerung zu dieser Frage muss man freilich, mangels Ausführung des entsprechenden Abschnittes in der Aesthetica, auf eine etwas entlegenere Schrift zurückgreifen: auf die 1769 postum herausgegebene Sciagraphia Encyclopaediae Philosophicae, die in die Zeit vor 1741 zurückweist. Dort heißt es über die Ästhetik: Aesthetica de sensitive proponendo docebit eloquentiam [* die Beredtsamkeit] s. perfectionem in oratione sensitiva, cuius ratio determinans est auditorem (lectorem) movere [** rühren, bewegen] s. appetitiones aversationesve sensitivas in eodem excitare.192
Die ästhetische Kunstlehre von der sinnlichen Darstellung lehrt die Beredsamkeit, d.h. die Vollkommenheit in der sinnlichen Rede, deren Bestimmungsgrund die Rührung des Hörers (bzw. Lesers) ist, d.h. die Erregung von sinnlichen Begierden und Abneigungen in demselben.
Die Ästhetik und mithin das Bemühen des Ästhetikus zielt auf ›Vollkommenheit in der sinnlichen Rede‹. Insofern Baumgarten schon in den Meditationes die sinnliche Rede als sprachliche Evokation sinnlicher Vorstellungen definiert hatte,193 kommt diese Bestimmung – bei allen Veränderungen in der Begrifflichkeit und Theoriearchitektur – sachlich überein mit der Definition von § 14 der Aesthetica, derzufolge das ›Ziel der Ästhetik‹ in der ›Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis‹ (perfectio cognitionis sensitivae) besteht.194 Interessanterweise benennt Baumgarten in der Sciagraphia ausdrücklich den ›Bestimmungsgrund‹ der betreffenden Vollkommenheit, den
191 Baumgartens Prämisse eines engen Wirkungszusammenhangs zwischen dem unteren Erkenntnis- und dem unteren Begehrungsvermögen – also die vermögenspsychologisch reformulierte Prämisse der Rhetorik vom Konnex von Phantasie und Affekt – bringt besonders deutlich eine Äußerung G. F. MEIERs in § 66 der Theoretischen Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt zum Ausdruck: »Aus dem was ich bisher abgehandelt habe erhellet also, daß in den Leidenschaften bey nahe die gantze untere Erkenntnißkraft der Seele würcksam sey. Und wie ist es auch anders möglich? In den Leidenschaften ist, bey nahe die gantze untere Begehrungskraft, in Bewegung, und die soll doch immer den Würckungen der ersten gleich seyn« (80); vgl. 124: »Nun habe ich erwiesen, daß in den Leidenschaften bey nahe die gantze untere Erkenntniß- und Begehrungskraft beschäftiget sey, das ist, bey nahe der gantze untere Theil der Seele.« Vgl. Met. §§ 667; 676. 192 Sciagr. § 90, 33 (Übers. M.F.). Vgl. § 102, 39: »Summum eloquentiae bonum cum sit auditorem movere §. 90. …« 193 Vgl. Med. § 5. 194 Vgl. Aesth. § 14: »Aesthetices finis est perfectio cognitionis sensitivae, qua talis, (§ 14) haec autem est pulchritudo, et cavenda eiusdem, qua talis, imperfectio, haec autem est deformitas (M § 521, 662).«
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focus perfectionis195, also das Wozu der Zusammenstimmung, die jede Vollkommenheit per definitionem bedeutet. Demnach kommt es im Falle der vollkommenen sinnlichen Rede (bzw. ›Erkenntnis‹ oder Vorstellung) darauf an, dass ihre mannigfaltigen Momente zu einem Wirkungsziel zusammenstimmen, nämlich dazu, beim Rezipienten ›sinnliche Begierden und Abneigungen zu erregen‹. Die Vollkommenheit einer sinnlichen Rede bemisst sich daran, ob ihre verschiedenen Elemente so zusammenwirken, dass beim Hörer oder Leser eine ästhetische ›Rührung‹ erzeugt wird, oder mit der einschlägigen Formel: ob die erregten Vorstellungen ›sinnliches Leben‹ haben. Die ›sinnliche Darstellung‹ eines Themas ist in dem Maße vollkommen, wie sie durch Evokation sinnlicher Vorstellungen sinnliche Begierden zu erwecken vermag.196 In der Konsequenz dieser Bestimmung und in Aufnahme der bisherigen Ausführungen ist die Ästhetik zu verstehen als Kunstlehre der Versinnlichung abstrakter Wahrheiten mit dem letzten Zweck der Erregung sinnlicher Begierden, d.h. mit dem Zweck affektiver (und instinktiver) Wirkung.197 Gemäß der modernen Klassifikation ist die schulphiloso195 Vgl. Met. § 94: »Si plura simul sumta unius rationem sufficientem constituunt, consentiunt, consensus ipse est perfectio, et unum, in quod consentitur, ratio perfectionis determinans (focus perfectionis).« 196 Als entsprechende Kurzformel für das Programm des ausgeführten Teils der Aesthetica lässt sich die Wendung lesen, wonach es in der Heuristik darum geht, »ein Ding […] so vor[zu]stellen, daß es in die Sinne fällt und rührt« (Koll. § 14, 80). 197 Vgl. S. G. LANGE: Wesen der Dichtkunst (1751), 163: »Das innere Wesen der Dichtkunst bestehet in sinnlichen Vorstellungen und im Affect, der den Affect erregen kan, in Vorstellungen, die unserer Phantasie lebhafte Bilder eindrücken, und auf das Herz wirken, und Leidenschaften erregen. Der Poet muß Sachen abhandeln, die auf die Leidenschaften wirken, durch das Annehmliche, oder Unannehmliche, und die sehr viel mit einmal in sich halten, er muß uns mit solchen Vorstellungen bestürmen, und sie so auf einander häufen, daß der Leser gleichsam nicht zu sich selbst kommen und die Ruhe erhalten kan, die man erhält, wenn man sich besinnet.« – In Baumgartens Meditationes kann man zunächst durchaus den Eindruck gewinnen, als spiele die Affekterregung für das Gedicht nur eine nachgeordnete Rolle. Denn die hier entfalteten protoästhetischen Reflexionen kreisen ganz um die zentralen Theoreme der ›sinnlichen Vorstellungen‹ und der ›extensiven Klarheit‹, und auch das Affektthema wird auf selbige Theoreme zurückgeführt und scheint ihnen daher untergeordnet zu sein (vgl. §§ 24ff). Immerhin wird zweimal die Schlussfolgerung gezogen, ›Affekte erregen‹ sei ›poetisch‹ (§§ 25f: ergo affectus movere est poeticum). Indes stößt der Leser gegen Ende der Meditationes noch einmal auf die Affekte – und stellt überrascht fest, dass sie inzwischen zu einem essentiellen Element des Gedichts avanciert sind. Im Durchgang durch verschiedene Gedichtdefinitionen anderer Autoren nimmt Baumgarten in § 113 u.a. auf D. H. ARNOLDTs Versuch einer systematischen Anleitung zur Deutschen Poesie überhaupt (1732) Bezug und notiert drei Definitionsmerkmale des Gedichts: neben dem Metrum und ›möglichst lebhaften Vorstellungen‹ notiert Baumgarten als drittes Merkmal eine ›auf die Erregung des Lesers zielende Einwirkung auf dessen Gemüt‹ (ad commotionem lectoris tendentem actionem in animum eius), und er stellt unumwunden fest, dass die Definition ganz mit der eigenen Theorie übereinstimme. Demnach ist Baumgarten offenkundig schon 1735
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phische Ästhetik demnach als Wirkungsästhetik mit breitem werk- oder darstellungsästhetischem Vorbau zu beschreiben. Nun steht diese Interpretation in Konflikt mit der gängigen Lesart der Baumgarten’schen Aesthetica, die sich nicht zuletzt auf den zitierten und vieldiskutierten198 § 14 stützt. Denn die ›Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis‹ (perfectio cognitionis sensitivae), das ›Ziel der Ästhetik‹, wird hier mit der ›Schönheit‹ (pulchritudo) identifiziert. Sofern aber Schönheit nach Maßgabe der Metaphysica als perfectio phaenomenon (›Vollkommenheit als Erscheinung‹)199, als sinnlich wahrgenommene Vollkommenheit respektive Zusammenstimmung verstanden wird, deren Wahrnehmung als solche Vergnügen hervorruft,200 legt sich im Gegenzug zu der obigen Rekonstruktion ein Verständnis der Ästhetik nahe, das in einem ›interesselosen Wohlgefallen‹ an der Zusammenstimmung des Mannigfaltigen als solcher ihr Wirkungsideal erblickt, ohne dass dabei irgendwie das Begehrungsvermögen involviert wäre. Die als ›Ziel der Ästhetik‹ anvisierte ›Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis‹ scheint dann schlicht ein durch das sinnliche Urteilsvermögen201 wahrgenommener consensus der mannigfaltigen Elemente des Kunstwerks zu sein (Fülle, Größe, Wahrheit etc.), welcher das selbiger Schönheitswahrnehmung zugehörige Ergötzen auslöst.202 Indessen gibt es auch innerhalb der Aesthetica Hinweise auf ein gewisses finales Gefälle innerhalb der in §§ 14ff angesprochenen Zusammenstimmung der verschiedenen Aspekte des Kunstwerks. So kann Baumgarten die vita cognitionis, die in § 36 eindeutig in begehrenstheoretischem Kontext verhandelt wird (und unter Verweis auf § 665 der Metaphysik), ebenda als primaria pulchritudo apostrophieren, als ›vornehmste Schönheit‹. Ferner findet sich in § 22 der Gedanke, dass alle übrigen ästhetischen Qualitäten zur Qualität der vita cognitionis zusammenstimmen,203 der unmittelbar an die Äußerung der Sciagraphia über den Bestimmungsgrund der ästhetischen der Meinung, dass abgesehen vom äußerlichen Sprachmerkmal des Metrums sinnlichlebhafte Vorstellungen und affektive Wirkungsintention das Wesen des Poetischen ausmachen. Nur nutzt er die vorstellungstheoretische Gedichtdefinition nicht, diesen funktionalen Zusammenhang zwischen den beiden Momenten hinreichend klar zu machen. 198 Vgl. U. FRANKE: Kunst als Erkenntnis, 88. 199 Met. § 662. 200 Vgl. ebd.: »Hinc pulcrum, ut tale, intuentem delectat«; ferner Met. § 655: »Hinc intuitus perfectionis & bonorum, ut talium, voluptatem […] producit«. 201 Vgl. Met. §§ 606f; ferner § 662. 202 Vgl. A. BAEUMLER: Das Irrationalitätsproblem, 226; ferner U. FRANKE: aaO. 76ff. Bei Franke kommt noch der metaphysische Aspekt hinzu, wonach die wahrgenommene Vollkommenheit des Kunstwerks von Baumgarten als Repräsentation der Vollkommenheit der Welt gedeutet wird. 203 Aesth. § 22: »omnes reliquae [sc. pulchritudines] ad vitam [sc. cognitionis] […] consentiunt«.
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Vollkommenheit erinnert.204 Nimmt man diese Bemerkungen ernst und versteht man die Eigenschaft des ›Lebens‹ der sinnlichen Vorstellung als Bezeichnung für deren affektives Wirkungspotential, dann ist die Komplexion von Vorstellungen, die das Kunstwerk ausmacht, genau dann als ›sinnlich vollkommen‹ und damit als ›schön‹ anzusehen, wenn eben jene Vorstellungen aufgrund ihrer Fülle, Größe, Wahrheit, Klarheit und Überzeugung zum Endzweck der affektiven Resonanz des Rezipienten zusammenstimmen.205 Unter der Bedingung der begehrenstheoretischen Fassung des Affektbegriffs ist ein Kunstwerk demnach schön zu nennen, wenn die von ihm dargestellten und beim Rezipienten aufgerufenen sinnlichen Vorstellungen nach den genannten fünf kardinalen Aspekten konvergieren und dabei ›Triebfedern des Gemüts‹ abgeben, indem sie nach Maßgabe einer gegebenen ›Wahrheit‹ dem Hörer, Leser oder Betrachter eine potentielle Vollkommenheit (bzw. ein für ihn existentielles Gut) vor Augen stellen und so ein Sehnen seiner Seele nach der Verwirklichung dieser Vollkommenheit erwecken. Auf diese Weise haben die Vorstellungen des Kunstwerks durch Versinnlichung eine affektive »Verlebendigung« der gegebenen Wahrheit zu leisten, wobei sich die für die angestrebte ›Lebendigkeit‹ konstitutive Lust an Schönheit auf die antizipierte Vollkommenheit richtet. Sie ist Lust gleichsam nur als antizipierte Lust, nur insofern also, als die Vorausschau auf den künftigen Lustzustand auch sinnliche Vorstellung einer Vollkommenheit ist und als solche Quelle von Ergötzen. ›Schön‹ ist also Baumgarten zufolge das, so ließe sich pointiert zusammenfassen, was mit sinnlichen Mitteln die Sehnsucht nach einer subjektiv bedeutsamen ›Schönheit‹ (einer sinnlich wahrgenommenen Vollkommenheit bzw. einem sinnlich wahrgenommenen mihi bonum) weckt. Es ist gleichwohl nicht ohne weiteres zu übergehen, dass Baumgarten die Ansicht der Sciagraphia (vor 1741), die Vollkommenheit der sinnlichen Rede bestehe in ihrer affektiven Wirkungspotenz, in der Aesthetica (1750/58) in dieser Deutlichkeit nicht wiederholt hat – ob er es bei Vollendung der Ästhetik im einschlägigen Abschnitt getan hätte, wissen wir nicht. Womöglich liegt hier ein gewisses Changieren in der Ästhetikkonzeption vor. Einerseits ist deren begehrenstheoretische Grundanlage mit dem Fokus auf die vita 204
Vgl. ASW §§ 35; 182. Vgl. S. TEDESCO: A. G. Baumgartens Ästhetik im Kontext der Aufklärung: Metaphysik, Rhetorik, Anthropologie, der das Axiom der vita cognitionis als »Fixstern« (143) von Baumgartens ästhetischer Theorie bezeichnet; nach E. STÖCKMANN: Anthropologische Ästhetik, handelt es sich beim ›Leben der Erkenntnis‹ um den »Schlüsselbegriff der Baumgartenschen Ästhetik« (107); vgl. ferner W. STRUBE: Die Entstehung der Ästhetik, 22: Die »Stücke der Schönheit oder ästhetischen Vollkommenheit sind hierarchisch geordnet; an oberster Stelle steht die ›vita cognitionis aesthetica‹«. 205
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
cognitionis mit ihrer antizipativen Struktur unübersehbar. Andererseits scheint das Theorem des Vergnügens an der Vollkommenheitsanschauung als solcher, das eine gewisse Selbständigkeit von voluptas (und taedium) gegenüber dem Begehrensvermögen voraussetzt, Baumgarten den Blick für ein interesseloses Ergötzen an der bloßen immanenten Stimmigkeit des Kunstwerks eröffnet zu haben. Jedenfalls könnte die (freilich traditionelle) Wendung von der doppelten Wirksamkeit des Kunstwerks, seiner ad delectandum ac movendum efficacia206, auf ein solches Changieren hindeuten. Mit dem delectare wäre dann vorwiegend das genannte Ergötzen am consensus des Mannigfaltigen unter Abwesenheit einer Affekterregungskomponente angesprochen, mit dem movere hingegen das eigentliche und letzte Ziel des Ästhetischen, nämlich die Erweckung des Begehrungsvermögens. Baumgartens Ästhetik enthielte demnach das Konzept einer doppelten ästhetischen Wirkung: eines Zugleich von aktueller Lust an der wahrgenommenen Stimmigkeit des Kunstwerks auf der einen und von antizipierter Lust an einem zu erlangenden Gemütszustand auf der anderen Seite. Es wäre in Baumgartens Denken dementsprechend eine formästhetische von einer inhaltsästhetischen Seite zu unterscheiden. Die formästhetische Integration des Wirkungsziels des Ergötzens neben demjenigen der Rührung wäre dann wohl auch verantwortlich für die Offenheit Baumgartens gegenüber leichterer Poesie – bei gleichzeitiger Bevorzugung der poetischen Behandlung hoher Themen aus den Sphären der Religion und der Tugend; von Themen also, bei deren schöner Darstellung die Aussicht und Angewiesenheit auf die affektive Beteiligung des Rezipienten von vornherein ungleich höher zu veranschlagen ist als bei »anakreontischen Tändeleien«. Trotz der zarten Ansätze zu einer Ästhetik des reinen Ergötzens an der vollkommenen sinnlichen Form des Kunstwerks dominiert bei Baumgarten, so kann nach der Darstellung ihrer Grundzüge abschließend festgehalten werden, doch bei weitem die Idee, die ›Wissenschaft des schönen Denkens‹ habe eine Kunstlehre der Versinnlichung auszuarbeiten, die die anschauliche Darstellung von bestimmten Gehalten vorwiegend aus der Sphäre von Religion und Tugend zum Gegenstand hat und letztlich darauf zielt, nämlichen Gehalten eine angemessene Herzenswirkung zu verschaffen.207 Diese Rekonstruktion ließ sich, vor allem was die Religion betrifft, bereits mit einzelnen Zitaten untermauern. Es haben sich Baumgartens (und Meiers) Überlegungen zum Verhältnis von Ästhetik und Religion aber nicht auf solche eher en passant geäußerten Bemerkungen und Beispiele innerhalb der 206
Aesth. § 565. Zur poetologischen Nachwirkung von Baumgartens Ästhetik vgl. K. F. HILLIARD: Die ›Baumgartensche Schule‹ und der Strukturwandel der Lyrik in der Gefühlskultur der Aufklärung. 207
2. Pietismus, Aufklärung und Hallische Ästhetik
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ästhetischen Schriften beschränkt. Vielmehr finden sich auch in religionstheoretischen Abhandlungen der beiden Hallenser Ästhetiker interessante Äußerungen zur Angewiesenheit der Religion auf die Ästhetik, denen im Folgenden nachzugehen ist.
2.3. Ästhetisierung der Religion Im Jahr des Erscheinens von Band II der Anfangsgründe der schönen Wissenschaften (1749) veröffentlicht G. F. Meier auch eine kleine Schrift mit Gedancken von der Religion. Eine der grundlegenden Aussagen der Abhandlung ist die an Wolff anschließende Bestimmung, »daß das Wesen der Religion […] in der lebendigen Erkentniß der göttlichen Volkommenheiten […] bestehe«208. Wie die Fortsetzung des Paragraphen zeigt, zielt diese Wesensbestimmung – anders als bei Wolff209 – darauf, die gelebte Frömmigkeit von der philosophischen oder dogmatischen Theologie abzuheben, und stimmt damit ganz mit einem Grundanliegen des Pietismus überein. Denn der wahrhaft religiöse Mensch, der das »Leben der Erkentniß GOttes« sucht, so Meier, … begnügt sich nicht etwa bloß mit einer trockenen Theorie, mit einer unfruchtbaren Untersuchung der göttlichen Volkommenheiten. Sondern seine Begriffe von der GOttheit sind feurig, und durchglühen ihn durch und durch. Sie sind Triebfedern, die ihn beleben, und zu Handlungen antreiben, welche der GOttheit gemäß sind.
Offenkundig handelt es sich bei diesen Gedanken um eine religionstheoretische Variante des begehrenstheoretisch zugespitzten Begriffs der cognitio viva, der, in Baumgartens Metaphysik prägnant ausgeführt, bei der Erfindung der ästhetischen Wissenschaft als Schlüsselmotiv gewirkt hat. Allem Anschein nach ist Meier auch hier unmittelbar von seinem Lehrer abhängig. Jedenfalls hat auch Baumgarten das Konzept der ›lebendigen Erkenntnis‹ im Rahmen religionstheoretischer Reflexionen zur Anwendung gebracht, näm208
G. F. MEIER: Gedancken von der Religion § 17. Vgl. DE § 658: »Da nun die göttlichen Vollkommenheiten Bewegungs-Gründe zu unseren Handlungen abgeben, so bald sie mit Gewißheit erkand [!] werden (§. 169); so befördert der Mensch die Ehre GOttes, so bald er eine lebendige Erkäntniß von ihm hat (§. cit.), und demnach ist eine lebendige Erkäntniß GOttes das Mittel ihn zu ehren und seine Ehre zu befördern (§. 912. Met. & 652. 653. Mor.).« 209 Wie das Zitat in der vorangehenden Anmerkung andeutet, hängt das Leben der Erkenntnis nach Wolff gerade vom Grad der theoretischen Gewissheit ab. An der hier bestehenden Differenz zwischen Wolff einerseits und Meier (sowie Baumgarten) andererseits lässt sich innerhalb der Aufklärungsphilosophie ein grundlegendes Umdenken aufweisen bezüglich der Frage, wie die Theorie (sei es in Philosophie oder Theologie) praktisch zu werden vermag.
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lich in seiner Ethica philosophica (1751), die ein Jahr nach Erscheinen von Band I der Aesthetica veröffentlicht wurde und die, der traditionellen Dreiteilung folgend (Pflichten gegen Gott, gegen sich selbst und gegen andere), im ersten Kapitel auch die Religion behandelt.210 In Übereinstimmung mit der zitierten Religionsbestimmung von Meier definiert Baumgarten dort: »Religio est viva entis perfectissimi cognitio.«211 Sectio V des Kapitels widmet sich ausführlicher dem Thema der viva Dei cognitio und setzt in § 66 ein mit dem Grundsatz: Quaere in te et aliis ardentissimam s[eu] maxime vivam, quae tibi, quae per te aliis possibilis est, plurimarum maximarum perfectionum divinarum cognitionem […]. Idem hinc patet, quia vita cognitionis sacrae est consectarium, sine quo delectatio in deo summa, ad quam obligaris […] exsistere non potest…212
Suche in dir und in anderen die feurigste bzw. am meisten lebendige Erkenntnis, die dir und durch dich anderen möglich ist, von möglichst vielen und großen göttlichen Vollkommenheiten. Dasselbe ergibt sich klar daraus, dass das Leben der religiösen Erkenntnis eine Folge ist, ohne die das höchste Ergötzen an Gott, zu dem du angehalten bist, nicht wirklich sein kann.
Wie bei Meier ist Frömmigkeit für Baumgarten die Suche nach lebendiger Gotteserkenntnis, d.h. in der Terminologie der zugrunde liegenden Metaphysik: Suche nach lebendiger Erkenntnis der göttlichen Vollkommenheiten. Von solcher Erkenntnis hängt ab, ob einer das oberste Ziel der Religion erreicht, das Ergötzen an Gott. Solches Ergötzen gibt es nicht, um mit Meier zu reden, ohne »feurige« »Begriffe von der GOttheit«, die ihn »durch und durch durchglühen«; ohne solche Gottesbegriffe also, welche ›Triebfedern‹ sind oder enthalten und mithin eine Vorausschau auf künftige Lustzustände der frommen Seele gewähren. Die Begriffe der »trockenen Theorie« reichen zur Erweckung einer solch affektiven Frömmigkeit nicht hin: Quum symbolica divinorum cognitio omni observabili intuitu destituta, s. littera, sit mortua, M. §. 669. denuo obligaris ad intuitum divinorum quaerendum, M. §. 652. Hic autem intuitus vel sensitivus, est, vel intellectualis, M. §. 651, 607. Utrumque quaere, quantum potes, §. 41, 43. Utriusque augmentum, seu mutatio in veriorem, clariorem, certiorem, ardentiorem, est aedificatio; hinc aedificatio-
210
Weil die symbolische Erkenntnis des Göttlichen oder der ›Buchstabe‹, von aller merklichen Anschauung entkleidet, tot ist, darum bist du immer wieder aufs Neue dazu angehalten, Anschauung des Göttlichen zu suchen. Diese Anschauung aber ist entweder sinnlich oder intellektuell. Suche beides, so viel du kannst. Die Vermehrung von beidem oder die Veränderung zum Wahreren, Klareren,
Vgl. zum Folgenden C. SCHWAIGER: Baumgartens Ansatz, 232ff. Eth. § 15: ›Religion ist die lebendige Erkenntnis des vollkommensten Wesens‹ (Übers. M.F.). 212 Eth. § 66. 211
2. Pietismus, Aufklärung und Hallische Ästhetik
nem tuam et aliorum, nec sensitivam, nec intellectualem, neglige, §. 66.213
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Gewisseren, Feurigeren, ist die ›Erbauung‹; daher vernachlässige nicht die Erbauung von dir und anderen, weder die sinnliche noch die intellektuelle.
Vermutlich unter Anspielung auf 2 Kor 3,6b (›Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.‹) bezieht Baumgarten die aus Metaphysik und Ästhetik bekannten Unterscheidungen von symbolischer und intuitiver Erkenntnis214 einerseits und von sensitiver (bzw. verworrener) und intellektueller (bzw. deutlicher) Erkenntnis andererseits auf die Gottesvorstellungen, die der Gehalt des frommen Bewusstseins sind. Der tote ›Buchstabe‹, die um abstrakte Begriffe kreisende ›trockene Theorie‹215 – Baumgarten dürfte die Gotteslehre der Metaphysik oder der orthodoxen Dogmatik vor Augen haben – bedürfen der Ergänzung um oder der Umformung in ›Anschauung des Göttlichen‹, um das Gemüt aus dem Stand religiöser Indifferenz (um diesen Terminus geht es in den angegebenen §§ 651f der Metaphysik) zu bewegen, das Begehrungsvermögen zu religiösem Leben zu erwecken und mithin die fromme Seele zu ›erbauen‹. Mit seiner psychologischen Theorie der ›Erbauung‹ verallgemeinert Baumgarten einen traditionellen theologischen Begriff, der vor allem in der Reformorthodoxie des 17. Jahrhunderts (z.B. bei J. Arndt, J. Gerhard) und dann im Pietismus eine wichtige Rolle spielt, zur Bezeichnung des zentralen Ziels des religiösen Lebens: der frommen Erweckung des inneren Menschen.216 Baumgarten lässt zwei Formen der aedificatio gelten: die ›intellektuelle Erbauung‹ durch deutliche und die ›sinnliche Erbauung‹ durch ver213
Eth. § 69. Vgl. Anm. 144. Im Falle der symbolischen Erkenntnis haftet das Vorstellungsvermögen primär an den sprachlichen Zeichen statt an der sprachlich dargestellten Sache. Die affektive Wirkung, die an der Sache hängt, wird dadurch völlig blockiert, weil der Darstellungsgehalt erst aufwendig dechiffriert werden muss. Nur die intuitive Erkenntnis kann überhaupt den Affekt ansprechen, innerhalb der intuitiven aber wiederum weniger, wie gezeigt, die intellektuelle als die sensitive Erkenntnis. Vgl. S. G. LANGE: Die Lehre von der Ode (1749), 128: »Noch weniger aber ist es einem Dichter erlaubt, solche Gedanken anzubringen, die den Affect selbst hindern und ersticken. Nicht ist der aufgebrachten Leidenschaft gemässer, als eine Sache sich sinlich und unter Bildern vorzustellen; allein diese Bilder sind lebhaft, das ist, sie stellen die Sache ungemein helle vor die Augen, so daß man sie sogleich in einem unvermutheten Lichte erblickt, ohne durch vieles und langes Nachsinnen sie erst herauszubringen. Hieraus fliesset ganz natürlich, daß die schönste Allegorie eine Ode verdirbt, wenn sie lang ist, und den Leser nöthiget, die verborgene Sache zu errathen, und ihr sehr lange nachzugehen.« 215 Vgl. Koll. § 583, 251: »das philosophisch Trockene«. 216 Zur Erbauung gehört konstitutiv die »Erregung religiöser Gefühle im Individuum« (H.-H. KRUMMACHER: Art. Erbauung, 603). – Vgl. TLG § 70: »Das ist der Grund, warum man gemeiniglich die accurate Ausführungen der practischen Wissenschaften, für kraftlose Grübeleyen ausgibt, und ihnen die Erbaulichkeit abspricht.« 214
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
worrene Vorstellungen des Göttlichen. Entsprechend werden in Abschnitt III über die Clara Dei Cognitio auch die beiden korrespondierenden Formen von Klarheit gewürdigt: Quaere in te et aliis clarissimam, quae tibi, quae per te aliis possibilis, plurimarum maximarumque perfectionum divinarum cognitionem, §. 31. Esto pro virili studiosus lucis, sed divinae, et claritatis in theologicis tam intensivae, per perceptiones divinorum distinctissimas, quam extensivae, per perceptiones eorundem vividissimas, M. §. 531.217
Suche in dir und in anderen die klarste Erkenntnis, die dir und durch dich anderen möglich ist, von möglichst vielen und großen göttlichen Vollkommenheiten. Nach Kräften sollst du in der Theologie nach Licht streben, aber nach göttlichem Licht, und nach Klarheit, sowohl nach intensiver Klarheit, durch möglichst deutliche Begriffe des Göttlichen, als auch nach extensiver Klarheit, durch möglichst lebhafte Begriffe desselben.
Sowohl die intensive als auch die extensive Klarheit haben bei den Gottesvorstellungen der Frömmigkeit ihren Platz, und nur in der gegenseitigen Ergänzung beider Aspekte kann es – um die gnoseologischen Reflexionen der Ästhetik zur ästhetikologischen Erkenntnis in Erinnerung zu rufen – in der Theologie bzw. in der Religion zum vollkommenen religiösen Bewusstsein kommen. Auf die Bedeutung der extensiven Klarheit für die religiösen Vorstellungen wird wenig später noch einmal eigens hingewiesen, unter Verwendung des Wechselbegriffs der ›Lebhaftigkeit‹: Quaere vividissimas, quas potes, divinorum repraesentationes, §. 40. earumque, quas habes, et vividam, et distinctam perspicuitatem in dies maiorem, M. §. 531. Ad illam concinant omnes facultates animae tuae inferiores, M. § 521 [520; M.F.]. ut quicquid iis, quicquid analogo rationis est in te virium, hunc in modum fiat anathema divinae gloriae. M. § 640.218
Suche möglichst lebhafte Vorstellungen des Göttlichen, und von denen, die du hast, suche von Tag zu Tag eine größere sowohl lebhafte als auch deutliche Durchsichtigkeit. Zu jener [sc. zur lebhaften Durchsichtigkeit] sollen alle unteren Vermögen deiner Seele zusammenstimmen, auf dass alles, was ihnen, was dem Analogon der Vernunft in dir an Kräften eignet, auf diese Weise der göttlichen Ehre geweiht werde.
In der Ausrichtung der Frömmigkeit auf eine möglichst lebhafte Gotteserkenntnis artikuliert sich einmal mehr Baumgartens Bestreben, auf eine Komplementierung der deutlichen (respektive intensiv-klaren) durch die lebhafte (respektive extensiv-klare) Erkenntnis zu dringen – nun auch auf dem Gebiet des Religiösen. Das Ideal einer doppelten Durchsichtigkeit, einer et vivida et distincta perspicuitas, erinnert unmittelbar an das Konzept der ästhetikologischen Wahrheit. Ziel ist eine Harmonie der oberen und 217 218
Eth. § 40. Eth. § 43.
2. Pietismus, Aufklärung und Hallische Ästhetik
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unteren Erkenntnisvermögen im religiösen Bewusstsein, gewissermaßen eine Frömmigkeit des ganzen Gemüts, das nicht nur seinen Intellekt, sondern auch die vorrationale Dimension seiner Vorstellungskraft »der Ehre Gottes weiht«. Ziel ist, mit einer Distinktion aus Baumgartens Frankfurter Dogmatik-Vorlesung formuliert, ein Christentum, das nicht allein »lehrend« bleibt, sondern auch »thätig« wird.219 Auch das analogon rationis, das nur vernunftähnliche untere Vorstellungsvermögen,220 soll am religiösen Leben beteiligt sein und damit derjenige Teil der Seele, in dem die wirkmächtigsten Triebfedern ihren Ort haben und also die potentiellen Beweggründe für ein appetitives und folglich auch praktisches Engagement des Gemüts. Es ist demnach wohl kein Versehen, wenn Baumgarten im zitierten Abschnitt nicht von den unteren Erkenntnisvermögen spricht – auch wenn der mit dem Verweis gemeinte § 520 der Metaphysik von der facultas c o g n o s c i t i v a inferior handelt –, sondern allgemeiner von den unteren Vermögen der Seele. Die Zusammenstimmung, auf die Baumgarten hier abhebt, ist allem Anschein nach eine solche zwischen unterem Erkenntnis- und Begehrungsvermögen, wie auch in der Ästhetik die extensiv-klaren Vorstellungen (lokalisiert im unteren Erkenntnisvermögen) immer auch in ihrer Funktion für die ›Lebendigkeit‹ der Erkenntnis und mithin in ihrer Wirkung auf das Begehrungsvermögen in den Blick genommen werden. Dass der Ästhetik als Kunstlehre der Hervorbringung extensiv-klarer Vorstellungen für die Religion Bedeutung zukommt, liegt vor dem Hintergrund der in der Ethik skizzierten Theorie lebhafter und lebendiger Gotteserkenntnis in jedem Falle offen zutage. Denn das Streben nach möglichst lebhaften Vorstellungen des Göttlichen ist in gewissem Sinne selbst ein ästhetisches Streben, sobald mit Baumgarten jede Bemühung um möglichst vollkommene sinnliche Erkenntnis als ›ästhetisch‹ zu gelten hat. Sinnlich respektive extensiv-klar vom Göttlichen zu ›denken‹ heißt, wenigstens im Prinzip221, ›schön‹ von ihm zu denken, und nur solch schönes Denken vom Göttlichen vermag entsprechend das nötige Feuer in der Seele zu entzünden, das wahrhafte Frömmigkeit vom bloßen religiösen bzw. theologischen Wissen unterscheidet.
219 Vgl. A. G. BAUMGARTEN: Praelectiones Theologiae dogmaticae § 5, wonach das Christentum auf zweierlei Ebenen verwirklicht werden will, als »Christianismus theoreticus (das Lehrende [!])« und »Christianismus practico-practicus (das thätige Christenthum)«. Baumgarten verweist hier auf Eth. § 70 aus dem Abschnitt über die viva Dei cognitio. 220 Vgl. zum Begriff Met. § 640. 221 Zur ›Schönheit‹ dem Vollsinne des Begriffs nach ist, der Definition von § 14 der Aesthetica zufolge, freilich noch die ›Vollkommenheit‹ der ›sinnlichen Erkenntnis‹ gefordert, also das Zusammenstimmen der ersten fünf ästhetischen Qualitäten.
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
Es fällt von daher noch einmal neues Licht auf den oben ausgeführten Sachverhalt, dass Religion und Theologie innerhalb der Ästhetik Baumgartens (und Meiers) eine so überraschend große Rolle spielen. Die Konzeption der Ästhetik als Wissenschaft bzw. Kunstlehre der Versinnlichung nichtsinnlicher Wahrheiten hat im fünften Kapitel der Ethica philosophica gewissermaßen ein religionstheoretisches Gegenstück in der (in der Ästhetik bereits anklingenden) Ansicht, dass die Religion auf eine entsprechende Versinnlichung ihrer Gehalte unbedingt angewiesen ist, will sie nicht trockene Theorie, sondern lebendige Frömmigkeit sein. Der Befund, dass sowohl die Kanzelrede als auch die religiöse Dichtung für Baumgarten paradigmatische Anwendungsfälle der Ästhetik darstellen, verdankt sich also tatsächlich nicht einer zufälligen Vorliebe, sondern hat seinen Grund in einem Zusammenhang von religions- und kunstphilosophischer Reflexion. Wer die Lebhaftigkeit der Gottesvorstellungen als notwendiges Merkmal lebendiger Frömmigkeit begreift, muss der ästhetischen Darstellung des Göttlichen religiöse Relevanz zuschreiben und wird, sofern er sich trotz seiner Zugehörigkeit zur philosophischen Zunft als verantwortliches Glied der civitas divina222 weiß, der Eigenart und Genese solcher Darstellung ein gesteigertes Interesse entgegenbringen. Von daher erscheint es dann auch nicht eben als abwegig, in dem religiösen Veranschaulichungsinteresse, das in der Philosophischen Ethik seine theoretische Explikation findet, ein Motiv zu erblicken, das bei der »Erfindung« der Ästhetik eine Rolle gespielt hat. In jedem Falle eröffnet die theologisch interessierte Lektüre eine schlüssige Gesamtperspektive auf zentrale Elemente von Baumgartens Werk. So wird in der Zusammenschau von Metaphysica, Aesthetica und Ethica philosophica eine komplexe Versinnlichungstheorie sichtbar, die auf die Idee der Ästhetisierung der Religion zuläuft. Für die besagte Theorie baut die Metaphysik das psychologische Koordinatensystem auf, indem sie die vierfach differenzierte Struktur der vis repraesentativa aus oberen und unteren Erkenntnis- und Begehrungsvermögen beschreibt. Innerhalb dieses Koordinatensystems entwirft die Ästhetik eine Kunstlehre der Evokation sinnlichlebendiger Vorstellungen. Die Ethik qualifiziert daraufhin die Religion – in der Ästhetik bereits als erhabenster Gegenstand der Kunst ausgewiesen – als maßgeblichen Anwendungsfall der skizzierten Veranschaulichungswissenschaft. Sie begründet damit eigens die herausragende Bedeutung ästhetischer Gestaltung für Predigt und geistliche Dichtung, die als Praxisbeispiele in der Aesthetica schon durchgehend präsent sind.223 222
Vgl. Med., Scholium zu § 58. Eine Applikation von Grundmotiven der Ästhetik A. G. Baumgartens auf die Theologie, nämlich die Schriftlehre, findet sich bereits 1742 bei seinem Bruder S. J. BAUMGARTEN: De efficacia S. Scripturae naturali et supernaturali. Hier fällt auch der Begriff Aesthetica (8). 223
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Die Funktion von Predigt und geistlicher Dichtung ist, so lässt sich nach alledem festhalten, die Illustration der religiösen Gehalte; oder mit Baumgarten: die Schaffung anschaulicher Vorstellungen der göttlichen Vollkommenheiten, und zwar möglichst als solcher, welche die Seele des Hörers oder Lesers in selige Zustände zu versetzen verheißen. Ziel derartiger Darstellung des Göttlichen ist es nicht zuletzt, das Gemüt des Rezipienten »sinnlich zu erbauen« – ›sinnlich‹ im spezifisch Baumgarten’schen Sinn von ›sensitiv‹, also sinnlich-mental verstanden –, in ihm fromme Begehrungen zu wecken und ihm auf diese Weise zu einer »glühenden« Frömmigkeit zu verhelfen. Die entscheidende Aufgabe geistlicher Rede und Dichtung besteht also, modern gesprochen, in der Ästhetisierung der religiösen Vorstellungen, sofern sie in unsinnlich-lehrhafter Form, in Gestalt der philosophischen oder theologischen Dogmatik vorliegen. Dabei dürfte deutlich geworden sein, dass ›Ästhetisierung‹ im Sinne des ästhetisch-theologischen Denkens Baumgartens alles andere bedeutet als den Gebrauch jener Gehalte zum Zwecke eines bloßen Ergötzens und mithin einen Verlust ihrer religiösen Bedeutsamkeit. Wie gezeigt werden konnte, versteht ja schon die Ästhetik ein solches Ergötzen generell nur als Nebenaspekt, insofern die Versinnlichungsleistung der Dichtung bzw. Kunst eigentlich die affektive Ergriffenheit des Rezipienten vom dargestellten Inhalt intendiert. Entsprechend zielt das von Baumgarten in Ansätzen entworfene Programm einer Ästhetisierung der religiösen Vorstellungen darauf, dieselben in eine dem aus Rationalität und Sinnlichkeit zusammengesetzten Menschen angemessene Gestalt zu bringen und damit in eine Gestalt, die ihnen ihren eigentlichen Zweck zu erfüllen erlaubt: die Erbauung des ganzen Menschen.224 Mit seiner Fokussierung auf die lebendige Gotteserkenntnis lässt sich Baumgartens Konzept der Ästhetisierung der Religion als eigentümliche Antwort auf ein Problem der zeitgenössischen Theologie verstehen. So greift Baumgarten mit der Verwendung des Topos der cognitio viva einen Begriff auf, der zwar längst zum allgemein gebräuchlichen philosophischen Terminus geworden ist225, um dessen Herkunft ex foro Theologorum die Zeitgenossen aber durchaus noch wissen.226 Ein relativ spätes Beispiel der theologischen Verwendung des Begriffs liegt in Johann Jakob Rambachs Christlicher Sitten-Lehre (postum 1736) vor.227 Bezeichnenderweise fällt der Topos hier innerhalb der Abhandlung des menschlichen status corruptionis, also des 224 Vgl. zu diesem Topos den Sammelband von H.-J. SCHINGS (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. 225 Vgl. die oben zitierte Definition aus J. G. WALCHs Philosophischem Lexicon von 1726. 226 Vgl. CH. WOLFF: Philosophia practica universalis (1739) § 244: »Denominatio haec (sc. cognitio viva) desumta est ex foro Theologorum, ubi scriptura praeeunte introducta.« 227 Vgl. zu Rambachs Sittenlehre M. MATTHIAS: Der Bildungsbegriff bei Johann Jakob Rambach.
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Standes des Menschen nach dem Sündenfall. Dies deutet bereits darauf hin, dass die Unterscheidung von cognitio viva und cognitio mortua von vornherein das Problem eines Defizits artikuliert: Zum fünften finden wir in dem Verstande eine todte Erkentniß. Denn wenn ja der Mensch einmahl eine richtige Erkentniß von der Sache hat, wenn ohngefehr sein Begriff mit den Grundsätzen der Vernunftlehre überein kömt: so ist doch seine Erkentniß todt und unkräftig, indem er durch eigene Schuld verhindert, daß keine geistliche Lebensbewegungen in ihm erwecket werden, und in äusserliche Handlungen ausbrechen.228
Rambach schlägt hier im Rahmen der Sündenfallthematik ein urpietistisches Thema an, nämlich das Problem des allgemeinen Mangels an »geistlichen Lebensbewegungen«, auch unter nominellen Christen. Die Empfindung dieses Mangels führt zur vollständigen Ausrichtung der pietistischen Theologie auf die ›Erbauung‹ der Seelen, und das heißt: auf die Erweckung von ›lebendiger Erkenntnis‹ der Heilswahrheiten. Tatsächlich lässt sich »[d]ie pietistische Bewegung […] mit dem Programm einer ›lebendigen Erkenntnis‹« der christlichen Glaubenswahrheiten »nahezu identifizieren«229 und mit der darin implizierten Kritik an einer Theologie und Frömmigkeit, deren Erkenntnis ›tot‹ ist. Ausgangspunkt des pietistischen Reformprogramms ist die Missbilligung einer Theologie, die sich allein in der theoretischen Festschreibung und systematischen Ordnung der überkommenen Offenbarungsbestände sowie in unfruchtbarer Disputiersucht ergeht, und das empfundene Ungenügen an einer damit korrespondierenden Frömmigkeit, die sich an der nüchternen Zustimmung zu den entsprechend festgeschriebenen Heilstatsachen genügen lässt, ohne sich davon tiefer ergreifen oder gar im praktischen Leben grundlegend bestimmen zu lassen. So kann auch die Vaterfigur des hallischen Pietismus, August Hermann Francke, im Blick auf die Zeit vor seiner Bekehrung in seinem Lebenslauf (1690/91) selbstkritisch resümieren: »[M]eine theologiam faste ich in den Kopff, und nicht ins Hertz, und war vielmehr eine todte wissenschaft als eine lebendige Erkenntniß«230. Vor dem Hintergrund der kardinalen pietistischen Fragestellung, wie die überlieferten Heilstatsachen auch in das Herz dringen und eine heiligende Wirkung im Leben des Einzelnen entfalten können (die von Christian Wolff dann philosophisch verallgemeinert wird zur Frage nach der Genese lebendiger Erkenntnis überhaupt), ist noch einmal auf die poetologischen Reflexionen J. J. Rambachs zurückzukommen; lassen sich diese Reflexionen doch just als eine Antwort auf jene Fragestellung begreifen. Denn offenbar gilt 228
J. J. RAMBACH: Christliche Sitten-Lehre, 131. J. JACOB: Heilige Poesie, 46. 230 Zit. n. J. WALLMANN: Der Pietismus, 106. 229
2. Pietismus, Aufklärung und Hallische Ästhetik
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Rambach eine religiöse Poesie, die »das Hertz rühren, und die Andacht entzünden«231 kann, als ein mögliches Mittel gegen das problematische Ausbleiben ›geistlicher Lebensbewegungen‹ beim natürlichen, postlapsarischen Menschen. Insofern durch die Vorstellungsbilder einer geheiligten Einbildungskraft »heilige Gemüthsbewegungen erwecket, und das Herz zur Andacht entzündet werden kan«, kann die Erschaffung entsprechender religiös-poetischer Bilder für die notwendige »Erbauung«232 der Seelen schließlich nicht von geringer Bedeutung sein. Entscheidende Bedingung für solche erbaulichen Dichtungen ist lediglich, dass sie »zur Ehre Gottes« gebraucht werden, und das entscheidet sich für Rambach primär an ihrem Inhalt. Denn zur Ehre Gottes dient die Poesie mit der »Besingung seiner unendlichen Vollkommenheiten, seiner liebenswürdigsten Eigenschaften, seiner anzubetenden Majestät«233. Die Aufzählung erinnert an Baumgartens Bestimmung der Religion als Suche nach möglichst vollkommenen Vorstellungen von den Vollkommenheiten Gottes. Dessen Vollkommenheiten können laut Rambach freilich auch in seinen Werken ansichtig werden. So besteht der mögliche Inhalt religiöser Poesie … nicht weniger in der Betrachtung seiner wunderbaren Wercke, die er so wol im Reich der Gnaden, als im Reich der Natur verrichtet und darstellet, davon der berühmte Herr L. Brocks in seinem irrdischen [!] Vergnügen in GOTT, herrliche Proben abgeleget hat.234
Die poetische Darstellung der verschiedenen religiösen Gehalte zielt, wie gesagt, auf Erbauung. Im Einzelnen besteht die intendierte »GemüthsErweckung«235 bzw. »Gemüths-Ermunterung«236 der Leser (oder auch des Dichters selber)237 nach Rambach darin, … daß ihre Hertzen dadurch zur Ehrfurcht vor GOtt, zur Liebe JEsu Christi, zum Lobe des Schöpfers, zur Erkäntniß ihrer Nichtigkeit, zum Verlangen nach seiner seligen Gemeinschaft, zum heiligen Wandel und gottseligen Leben erwecket werden…238
Es ist bemerkenswert, wie nahe sich Rambachs und Baumgartens ästhetischtheologische Reflexionen im Grundsätzlichen stehen. Auch Rambachs Ausführungen artikulieren die Idee einer Ästhetisierung des Religiösen. Die pietistische Neuausrichtung der Religion am cultus internus, an innerer Erfahrung und lebenspraktischer Verwirklichung, d.h. an der ›Erbauung‹ der 231
J. J. RAMBACH: Geistliche Poesien, Vorrede (unpag). J. J. RAMBACH: Von dem Mißbrauch § 1. 233 AaO. § 11. 234 Ebd. 235 Ebd. 236 AaO. § 2. 237 Vgl. aaO. § 11. 238 Ebd. 232
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Seele durch die ›lebendige Erkenntnis‹ der religiösen Wahrheiten, führt den Theologen über das psychologische Theorem vom Konnex von Einbildungskraft und Herz zur Einsicht in den religiösen Nutzen poetisch-anschaulicher Darstellung der zentralen religiösen Gehalte. Sollen die Menschen »zum heiligen Wandel und gottseligen Leben« gelangen, müssen in ihren Herzen die zentralen religiösen Affekte erweckt werden: »Ehrfurcht vor Gott«, »Liebe Jesu Christi« sowie die im »Lobe des Schöpfers« sich aussprechende Freude, und dazu wiederum muss die Einbildungskraft mit entsprechenden Vorstellungen angefüllt werden. Es genügt nicht »eine richtige Erkentniß von der Sache«239 der Theologie, selbst wenn eine solche in Gestalt des Dogmas womöglich vorliegen mag, sondern es bedarf der Umbildung derartiger Erkenntnis in poetische Vorstellungsbilder, um jene auch in Herz und Leben der Menschen wirksam werden zu lassen. Eine derartige Ästhetisierung ist die Aufgabe der religiösen Poesie – auch nach Baumgartens Ansicht. Zwar sind dessen ästhetisch-theologische Reflexionen wesentlich umfänglicher und philosophisch »gründlicher« als diejenigen Rambachs. Zudem beschränkt sich der Philosoph schon aus Gründen der Fachzuständigkeit überwiegend auf Überlegungen zur natürlichen Religion, während der Theologe auch Gottes Werke im ›Reich der Gnaden‹ als Poetisierungsgegenstand ins Auge fasst. Schließlich wird man auch einen Verweis auf den Heiligen Geist als (Mit-)Akteur der Ästhetisierung bei Baumgarten vergeblich suchen. Im Kern kann die in der Zusammenschau von Ästhetik und Philosophischer Ethik sichtbar werdende Theorie der Ästhetisierung der Religion jedoch durchaus als wissenschaftliche Ausarbeitung von Anliegen ex foro Theologorum angesehen werden. Die eigentümliche Verbindung von religiöser Intention und schulphilosophischer Durchführung lässt Baumgartens Reflexionen als typisches Phänomen der Übergangszeit der späten dreißiger und vierziger Jahre des 18. Jahrhunderts in Halle erscheinen: Die pietistische Fokussierung auf innerlich-persönliche Erfahrung und lebenspraktische Verwirklichung der Religion, der sich die Tendenz zur Poetisierung bzw. Ästhetisierung derselben verdankt, trifft sich mit dem Wissenschaftlichkeitsideal der Aufklärung. Baumgarten repräsentiert eine Form von Aufklärungsphilosophie, deren religionskritischer Zug nicht auf Reduktion oder Zurückdrängung der Religion zielt, sondern auf deren Umformung zum Zwecke ihrer innerlichen und praktischen Verlebendigung. Einem weiteren, freilich weit weniger prominenten Exponenten der betreffenden Übergangsepoche wird sich das nächste Kapitel zuwenden. An dem Baumgarten-Schüler Jakob Immanuel Pyra soll vorgeführt werden, in welchen Zusammenhängen und mit welchen Intentionen um 1740 der an239
J. J. RAMBACH: Christliche Sitten-Lehre, 131.
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tike Traktat Peri Hypsous in Deutschland gelesen werden konnte. Es wird sich zeigen, dass das Erhabene hier nachgerade als Leitidee der Ästhetisierung der Frömmigkeit rezipiert worden ist.
3. Poetologie religiöser Dichtung: Jakob Immanuel Pyra 3.1. Das Erhabene als Vehikel der Säkularisierung? »Die Pyraische Muse bezaubert mich ganz«, schwärmt Georg Friedrich Meier (1718–1777) im Jahre 1745 in einem Brief an den Pastor Samuel Gotthold Lange (1711–1781). »Mein jetziges Collegium ästheticum soll sie allen meinen Zuhörern anpreisen.«1 Gut ein Jahr nach dem frühen Tod Jakob Immanuel Pyras (1715–1744) wünscht der junge hallische Philosophiedozent »diesem vortrefflichen Poeten, diesem deutschen Horaz, sein Ruhm wäre [lies: währe; M.F.] ewig, [t]rotz allen seinen ungehirnten Tadlern!«2 Meier mag mit dem Eintreten für die offensichtlich nicht unumstrittene Poesie Pyras das Seine dazu getan haben, dass dieser Wunsch sich erfülle – sein Wünschen und Werben hatte jedoch allem Anschein nach nicht allzu viel Erfolg. Spätestens mit dem Aufgehen von Klopstocks Stern am Himmel der deutschen Dichtung – 1748 erscheinen die ersten Gesänge des Messias, den derselbe Meier als »Meisterstück« eines »deutschen Homer« feiert3 – verblasst die Glorie jenes »deutschen Horaz«. Entsprechend hatte die Erwähnung Pyras in den meisten Kompendien der deutschen Literaturgeschichte lange nur den Rang einer Fußnote.4 Dass sich dieses Bild seit einigen Jahren verändert, hat wesentlich mit dem neu erwachten Interesse am Erhabenen zu tun, denn seit der Edition einiger unveröffentlichter Manuskripte durch Carsten Zelle (1991) kann Pyra als einer der aufschlussreichsten Autoren der Frühgeschichte des Erhabenen im Deutschland des 18. Jahrhunderts gelten. Von jenen Manuskripten her fällt auch ein neues Licht auf die schon bisher bekannten, aber mehr oder weniger vergessenen poetischen und poetologischen Texte Pyras.
1 G. F. MEIER an S. G. Lange, 18. Oktober 1745, in: DERS.: Frühe Schriften zur ästhetischen Erziehung der Deutschen, Teil 3, 23f. 2 Ebd. 3 BHM 100. 4 Vgl. den Überblick bei H.-G. KEMPER: Der Himmel auf Erden und seine poetische Heiligung. Säkularisierungstendenzen in den Freundschaftlichen Liedern von Immanuel Jakob Pyra und Samuel Gotthold Lange, 270.
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Mit den Fragment gebliebenen Reflexionen Pyras, die Carsten Zelle gemeinsam mit dessen etwa gleichzeitig entstandener und ebenfalls unvollendeter Übersetzung von Peri Hypsous unter dem Titel Über das Erhabene veröffentlicht hat, liegt wohl »eine der ersten, wenn nicht […] die erste deutschsprachige Schrift« vor, »die ausschließlich der Klärung des Erhabenen gewidmet ist«5. Der Theologiestudent und nachmalige Schulmann hat sie irgendwann im Zeitraum zwischen 1736 und 1743 zu Papier gebracht.6 Auch wenn man der von Zelle favorisierten Frühdatierung (»um 1737«) mit Skepsis begegnen mag, ist sie damit jedenfalls in großer zeitlicher Nähe zu den anderen frühen Zeugnissen des deutschsprachigen Erhabenheitsdiskurses in der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert zu verorten. Im Gegensatz etwa zu Carl Heinrich Heinekens Untersuchung von dem was Longin eigentlich durch das Wort Erhaben verstehe7 (erstmals 1737 als Anhang zu dessen Longin-Übersetzung gedruckt) verstehen sich Pyras Ausführungen weniger als Beitrag philologischer Gelehrsamkeit zur Erklärung einer traditionellen rhetorischen Kategorie denn als programmatischer Entwurf eines neuen Dichtungsideals. Aber nicht nur aufgrund dieser programmatischen Ausrichtung, die einen Einschnitt in der deutschen Rezeption des Erhabenheitsbegriffes markiert, verdienen Pyras Manuskripte vor den anderen genannten Texten vorzügliches Interesse. Es sind darüber hinaus vor allem zwei Gesichtspunkte, die innerhalb einer problemgeschichtlichen Untersuchung zum Erhabenen besondere Aufmerksamkeit verdienen. Beide hängen unmittelbar mit Pyras Bildungsgang zusammen und mit dem historischen Ort jener Reflexionen. Pyra hat von 1735 bis 1738 in Halle Theologie studiert. Wie oben dargelegt, fällt sein Studium in eine Zeit, in der an der Hallenser Universität immer noch zwei konkurrierende Bildungsmächte miteinander ringen, sich zugleich aber auch immer mehr durchdringen: das pietistische Erbe August Hermann Franckes und die rationalistische Schulphilosophie Christian Wolffs.8 Beide Bildungsmächte haben auf Pyra gewirkt, und die Wirkung beider ist in seinen Schriften, nicht zuletzt im Fragment Über das Erhabene, manifest. »In der Entstehung der deutschen Tradition der Erhabenheitstheorie wirken also Pietismus und Aufklärungsphilosophie in eigentümlicher
5
C. ZELLE: Einleitung, 11. Vgl. zur Datierung C. ZELLE: Apparat, 75f. 7 HEINEKENs Untersuchung hebt in Abgrenzung von der Dreistillehre (und in Übereinstimmung mit dem französischen Longin-Übersetzer Boileau) darauf ab, dass das longinische Erhabene nicht in der Stilhöhe, sondern »in der Vollkommenheit der Gedanken« (346) bestehe. »Von diesem Erhabenen hat Longin gehandelt; wer Lehrsätze der Schreibart bei ihm suchet, wird sich verirren« (341). 8 S.o. Kap. 2.1.1. 6
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
Weise zusammen.«9 Die Bedeutung dieses historischen Befundes, auf den in der Forschung wiederholt hingewiesen wurde, für das Erwachen des Erhabenheitsideals in Deutschland und für die Signatur des fraglichen Begriffs gilt es im vorliegenden Kapitel zu analysieren. Schulphilosophischer Einfluss zeigt sich im Falle Pyras vor allem in einer gedanklichen Nähe zur entstehenden philosophischen Ästhetik. Pyra nimmt sein Studium in dem Jahr auf, in dem der Wolff-Schüler Alexander G. Baumgarten in Halle seine Dissertation, die Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, verteidigt, mit der die Geschichte der wissenschaftlichen Ästhetik in Deutschland beginnt.10 Zuerst hat indes das poetologische Denken eines anderen Wolffianers auf den jungen Theologen gewirkt, nachdem er wohl bald nach Studienantritt – wahrscheinlich durch Vermittlung Samuel G. Langes – einem gottschedianisch inspirierten literarischen Zirkel namens »Gesellschaft zur Beförderung der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit« beitrat. Wenig später geriet Pyra aber in persönlichen Kontakt mit Baumgarten. So erhält der Student im Frühjahr 1737 einen Verweis der noch immer überwiegend pietistisch geprägten theologischen Fakultät wegen Teilnahme an Privatvorlesungen Baumgartens über Ästhetik und Metaphysik.11 Entsprechend rühmt sich Pyra einige Jahre später in seinem Erweis, daß die Gottschedianische Sekte den Geschmack verderbe (1743, Fortsetzung 1744), der die Abwendung von dem Leipziger Literaturkritiker dokumentiert, den »Unterredungen« mit Baumgarten »in der philosophischen Einsicht«12 viel zu verdanken. Seine Hochachtung bringt Pyra an anderer Stelle der Fortsetzung zum Ausdruck, indem er den Autor der Meditationes als den »tiefsinnige[n] und starke[n] Weltweise[n]« tituliert, … der die lateinische Abhandlung von einigen zur Poesie gehörigen Stücken geschrieben, […] welche so ungemein gründlich philosophisch, nach seiner Gewohnheit ausgearbeitet ist, und den Deutschen ganz einen andern Begrif, als die critische Dichtkunst [sc. Gottscheds; M.F.], von der Poesie hätte beibringen können.13
9 W. STRUBE: Der Begriff des Erhabenen in der deutschsprachigen Ästhetik des 18. Jahrhunderts, 273. 10 S.o. Kap. 2. 11 Vgl. H.-J. KERTSCHER/G. SCHENK: Nachwort, 187; C. ZELLE: Einleitung, 19; F. J. SCHNEIDER: Das geistige Leben von Halle, 162f. 12 FErw. 40. 13 FErw. 20; vgl. 40. Ein weiterer Verweis auf die Meditationes findet sich ganz am Schluss der Fortsetzung, wo Pyra einem Gegner nicht ohne Herablassung empfiehlt: »Er lese noch einmal Baumgartium, de nonnullis ad Poesin pertinentibus« (110). Die Vertrautheit mit Baumgartens Metaphysik belegt die Diskussion der Definition der ars critica von Met. § 607 (40).
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In derselben Schrift, um deretwillen Pyra in der Ästhetikgeschichte ein Platz als Gefolgsmann der Schweizer im Literaturkrieg zwischen Zürich und Leipzig eingeräumt wird, findet sich auch der Hinweis darauf, dass er den Theorierahmen für sein poetologisches Denken keineswegs allein aus Zürich bezog. Vielmehr sind es auch Theoreme, die in der Hallischen Ästhetik eine zentrale Rolle spielen, die Pyras praktisches wie theoretisches Interesse gerade am Erhabenheitsbegriff gesteuert haben, zentrale Motive nämlich von Baumgartens ›Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis‹.14 Die fraglichen Motive sind bei dem Hallenser Theologiestudenten mit dem in Herkunft und Intention ohnehin eng verwandten Züricher Gedankengut schon früh eine untrennbare Verbindung eingegangen. Dieser Sachverhalt ist der erste Gesichtspunkt, der die folgende Darstellung leiten wird. Er ist bisher zwar des Öfteren notiert, aber noch nicht eingehender entfaltet worden. Es gilt im Folgenden also darzulegen, inwiefern sich Pyras Erhabenheitskonzept aus Ideen der frühen Ästhetik speist. Der zweite Leitgesichtspunkt des vorliegenden Kapitels betrifft den Einfluss des hallischen Pietismus auf das Erwachen des ästhetischen Erhabenheitsideals im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Auch dieser Einfluss ist bei Pyra unübersehbar. Spätestens seit der Gymnasialzeit in pietistischem Geist erzogen,15 wohnte der mittellose Theologiestudent seit Oktober 1736 im Waisenhaus der Franckeschen Stiftungen. Vorlesungen hörte er unter anderem bei dem pietistischen Theologen Joachim Lange (1670–1744), mit dessen Sohn Samuel Gotthold (1711–1781) ihn bald eine enge Freundschaft verband. Sein Beichtvater war der Theologe und Liederdichter Johann Anastasius Freylinghausen (1670–1739). Pyras Dichtung selbst ist von religiösem Geist durchdrungen. Sein erstes großes Opus, das Lehrgedicht Der Tempel der wahren Dichtkunst (1736), ist ein einziges »poetisches Glaubensbekenntnis, daß die wahre Poesie ausschließlich die religiöse und zwar die christlich-religiöse sei«16. Aber auch in Pyras Reflexionen zum Erhabenen ist der religiöse Ton deutlich hörbar – wenngleich er in der neueren literaturwissenschaftlichen Forschung wenig Resonanz gefunden hat. Nach Gustav Wanieks Monographie von 188217 wird die für Pyra typische Verbindung des Erhabenheitsideals mit einem sich aus dem Pietismus speisenden »neuen religiösen Enthusiasmus«18 erneut in Karl Viëtors Studie
14
S.o. Kap. 2.2. Vgl. G. WANIEK: Immanuel Pyra und sein Einfluß auf die deutsche Litteratur des achtzehnten Jahrhunderts, 11f. 16 AaO. 28. 17 Vgl. aaO. 83. 18 K. VIËTOR: Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur, 250. Vgl. F. J. SCHNEIDER: Das geistige Leben von Halle (1938), 166: Pyra war »der erste, der den reli15
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
über Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur (1937) notiert. In einer Anmerkung findet sich hier auch der Hinweis auf die einschlägigen Manuskripte Pyras im Gleim-Haus zu Halberstadt. Carsten Zelle ist diesem Hinweis Jahrzehnte später nachgegangen und hat sich den Mühen einer Herausgabe der entsprechenden Texte unterzogen. In seiner Einleitung zu der Edition (1991)19 äußert er sich dann auch zu Pyras Ideal hoher Poesie und dessen Verhältnis zum Religiösen. Im Gegensatz zu Waniek und Viëtor bestimmt Zelle dieses Verhältnis nun allerdings durchweg negativ. Zelle liest Pyras Dichtung und seine Reflexionen über das Erhabene nicht mehr als Zeugnisse »tief empfundener Religiosität«20, so Waniek, sondern umgekehrt als Dokumente einer Befreiung von den Zwängen pietistischer Frömmigkeit. Laut Zelle sind es die »Pressionen pietistischer Literaturfeindlichkeit«21, gegen die das junge Dichtergenie »vehement anschrieb«22. »Es ist das schlechte Gewissen des Befreiten, das den pietistisch auf Schule und Universität erzogenen und ausgebildeten Pyra immer wieder dazu zwang, die Dichtkunst in theologischer Hinsicht vor sich und den Instanzen seines Bildungsganges zu legitimieren.«23 In entsprechend legitimatorischer Berufung auf die longinische Erhabenheitskategorie vollzieht Pyra, so Zelle, eine Sakralisierung der Poesie, die freilich am Ende nur die »Ästhetisierung religiöser Gehalte« bewirke. Denn eigentlich »gewinnt Pyra in der Auseinandersetzung mit dem Erhabenen eine Einsicht in die Autonomie des Ästhetischen«24, d.h. – so wird man Zelle zu verstehen haben – die Einsicht in die Unabhängigkeit der Kunst und des »Kunstgenusses«25 von jedweder religiösen Funktion. Alle ästhetisch-theologischen Reflexionen über das Erhabene, Pyras »poetische Theologie«26, sind demzufolge allein dem »Rechtfertigungszwang«27 des jungen Poeten geschuldet, der als ehemaliger Pietist vor seinem »schlechten Gewissen« und vor der pietistischen Umwelt seinen Drang nach freiem poetischem Schöpfertum und nach freiem Vergnügen am Ästhetischen religiös verbrämt, um ihm vor dem inneren und den potengiösen Ernst und die gemütweckende Innerlichkeit des hallischen Pietismus auch in der deutschen Dichtung wirksam werden ließ«. 19 I. J. PYRA: Über das Erhabene. Vgl. zum Folgenden auch C. ZELLE: »Logik der Phantasie« – Der Beitrag von Immanuel Jakob Pyra zur Dichtungstheorie der Frühaufklärung. 20 G. WANIEK: aaO. 28. 21 C. ZELLE: Einleitung, 18. Siehe dazu oben Kap. 2.1.2. 22 C. ZELLE: aaO. 19. 23 AaO. 18. 24 AaO. 22. 25 AaO. 18. 26 Ebd. 27 AaO. 29. Diese Einschätzung hat auch der sonst sehr umsichtig urteilende W. STRUBE übernommen: Der Begriff des Erhabenen, 272f.
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tiellen äußeren Kritikern den Schein theologischer Legitimität zu verleihen. Eigentlich, so ließe sich Zelles Interpretation zusammenfassen, geht es Pyra um die freie Ausübung seines poetischen Genies und um die Befreiung von allen diesbezüglichen, insbesondere religiösen Einschränkungen. Die unter dem Deckmantel einer Sakralisierung des Ästhetischen betriebene »Ästhetisierung des Sakralen«28 bedeutet demnach die Verwertung religiöser Gehalte zu rein ästhetischen Zwecken, zu Zwecken nämlich des bloßen Ergötzens. Pyras programmatische Sakralisierung des Ästhetischen im Namen des Erhabenen ist nach Zelle letztlich als Versuch zu lesen, sich durch ihre poetische Verarbeitung dem religiösen Anspruch der überkommenen Frömmigkeitsgehalte zu entziehen. An Zelles Interpretation lässt sich exemplarisch ein nach wie vor verbreitetes Muster der literaturwissenschaftlichen Bewertung der Zusammenhänge von Religion und Literatur im »Zeitalter der Aufklärung« vorführen. Es sind insbesondere zwei miteinander eng verknüpfte Begriffe bzw. Kategorienpaare, die für gewöhnlich die Wahrnehmung der betreffenden Beziehung leiten: einmal der Begriff der Autonomisierung (und der darin implizierte Gegensatz ›heteronom – autonom‹), zum anderen der Begriff der Säkularisierung (und die darin implizierte Opposition ›religiös – säkular‹). Nach gängiger Auffassung lässt sich die neuzeitliche Geschichte der Kunst im Rahmen der allgemeinen gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozesse als Vorgang der Emanzipation von aller Indienstnahme durch Größen wie Religion und Moral bzw. durch deren Institutionen (Kirche, Staat) beschreiben. Diese Autonomisierungsthese findet sich vielfach in Verschränkung mit der Ansicht, die Geschichte der christlichen Religion sei (spätestens) im Zeitalter von Aufklärung und Moderne eine Geschichte zunehmender ›Säkularisierung‹, will heißen: der Prozess eines wachsenden Bedeutungsverlustes des Religiösen zugunsten einer rein immanenten Weltund Lebensanschauung und der Eingang religiöser Traditionsbestände in eben jene weltlichen Daseinsansichten und -vollzüge bei gleichzeitiger Entkleidung von ihrer genuin religiösen, transzendenten Bedeutungsschicht.29 Als Modus solcher ›Säkularisierung‹ rangiert dann regelmäßig auch die ›Ästhetisierung‹ des Religiösen, also die Verwandlung der betreffenden Traditionsbestände von Elementen religiöser Überzeugung in Sujets autonomer
28
C. ZELLE: aaO. 18. K. STIERLE: Säkularisierung und Ästhetisierung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, spricht beispielsweise von einem allgemeinen »Transzendenzentzug« (56 und öfter). Einen knappen Überblick über die literaturwissenschaftliche Verwendung des Säkularisierungsbegriffs und ihre Hintergründe gibt U. RUH: Bleibende Ambivalenz. Säkularisierung/Säkularisation als geistesgeschichtliche Interpretationskategorie; ferner E. MÜLLER: Ästhetische Religiosität und Kunstreligion, XXff. 29
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Kunst.30 In der schlichteren Variante beinhaltet das Junktim der fraglichen Begriffe die Annahme, dass die religiösen Motive im Zuge ihrer Verwertung durch die Kunst allein dem freien, von allen außerästhetischen Hinsichten ledigen Wohlgefallen dienstbar gemacht werden. Die sich auf ihre Autonomie besinnende Kunst kündigt nicht nur ihre vormalige religiöse Indienstnahme auf, sondern entwendet der Religion zugleich deren ureigene Gehalte, um sie im Gegenzug für das ästhetische Vergnügen zu instrumentalisieren.31 Die subtilere Variante des säkularisierungstheoretischen Ästhetisierungsbegriffs deutet die Überführung religiöser Gehalte in Gegenstände der autonomen Kunst als Kompensationsvorgang. Demzufolge korrespondiert der allgemeinen Schwächung der Religion eine ›Sakralisierung‹ der Kunst, insofern dieser quasireligiöse Leistungen zuwachsen. Die religionsäquivalente Funktion kann etwa als »innerweltliche Erlösung« (Weber) von den Rationalisierungszwängen der Alltagswelt32 oder als »weltimmanente Transzendierung« im Sinne einer ästhetischen »Überschreitung der Faktizität«33 beschrieben werden. Beide Varianten stimmen indessen in der Prämisse überein, dass die Ästhetisierung der Religion mit ihrer Depotenzierung einhergeht. Beide rechnen mit einer »Unterminierung theologisch-religiöser Inhalte durch die ästhetische Form ihrer Präsentation«34. In der Applikation auf Pyra führt diese Grundannahme geradewegs zu jener fragwürdigen Einschätzung Zelles, wonach alle augenfällig fromme Emphase bloß als Schleier eines Desakralisierungswillens zu verstehen ist oder allenfalls als Rest einer noch nicht in letzter Konsequenz vollzogenen Tilgung. Auch in Hans-Georg Kempers Opus Magnum über die Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit scheinen die beschriebenen Deutungsparadigmen in den Äußerungen zum Zusammenhang von Religion und Dichtung immer wieder durch. Pyra handelt Kemper in dem Band zur Empfindsamkeit (1997) bezeichnenderweise unter dem Titel »Sakralisierung der Poesie und Säkula30 Nach C. ZELLE etwa »findet die in Pietismus und Empfindsamkeit verfeinerte Gefühlskultur mit dem Erhabenen ein Feld sprachlicher Ausdrucksmittel, die mit der Ästhetisierung zugleich zum Geltungsverlust religiöser Gehalte führt« (Die doppelte Ästhetik, 137). 31 Vgl. z.B. S. VIETTA: Europäische Kulturgeschichte. Eine Einführung, 289: »Mit ihm [sc. Dante] beginnt eine Ästhetisierung der Religion, in der diese selbst zu einer Funktion der Ästhetik wird.« 32 Vgl. E. MÜLLER: aaO. XXII. 33 K. STIERLE: Säkularisierung und Ästhetisierung, 57. 34 So reformuliert D. KEMPER: Literatur und Religion. Von Vergil bis Dante, 38, den Säkularisierungsbegriff von S. VIETTAs Europäischer Kulturgeschichte. Kemper selbst äußert begründete Vorbehalte gegenüber der fraglichen Deutungskategorie und schlägt vor, zur Beschreibung des Verhältnisses von Literatur und Religion – mindestens für den Zeitraum von Vergil bis Dante – »gänzlich auf die präsupponierte Logik des Säkularisierungsbegriffs zu verzichten« (44).
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risierung des Pietismus«35 ab, um auf ihn später noch einmal im Kapitel »Ästhetisierung der Religion und Sakralisierung der Ästhetik im ›Erhabenen‹«36 zurückzukommen.37 In eine etwas andere Richtung weist immerhin die Bemerkung, die »Konzeption einer erhabenen Poesie« ermögliche Pyra »die Vereinigung der widersprüchlichen Triebkräfte seines Erziehungs- und Bildungsweges«38. Demzufolge dient das Erhabene nicht mehr der (bewussten oder unbewussten) Substitution des Religiösen durch das Ästhetische (so Zelle), sondern wird als Integrations- oder »Vermittlungskategorie«39 zwischen religiöser und ästhetischer Sphäre verstanden.40 Indem Pyra die »Poesie im Zeichen des Erhabenen« als »Vehikel pietistischer Gläubigkeit«41 konzipiere, ziele er auf die Synthese von künstlerischem und religiösem Streben. Das Erhabene wird auf diesem Wege »als ein ästhetisches Phänomen sui generis« ausgewiesen, das zwar einerseits »für sich selbst den Sonderstatus des Ästhetischen reklamiert«, sich also frei von kirchlich-traditionellen Ansprüchen in autonomen Kunstwerken manifestiert, das aber andererseits jenen Sonderstatus zugleich »faktisch […] ständig transzendiert«.42 Das Erhabene zeichnet sich demnach gerade dadurch aus, dass es sich, an sich eigenständige Kunst, auf die autonome ästhetische Funktion des bloßen Ergötzens wiederum nicht festlegen lässt, sondern immer auch eine Wirkung zeitigt, die religiösen Gemütszuständen mindestens zum Verwechseln ähnlich sieht: die spezifisch »erhabene Herzens-Rührung«43. Mit den äußerst knappen, hier nachgerade weitläufig interpretierten Andeutungen Kempers zum Vermittlungscharakter des Erhabenen ist eine Spur gelegt, die über die starren Dualismen der Säkularisierungs- und Autonomisierungskonzepte und dem 35 H.-G. KEMPER: Deutsche Lyrik der Frühen Neuzeit, Bd. VI/I: Empfindsamkeit, 96. Insbesondere die Freundschaftsdichtung von Pyra und S. G. Lange interpretiert Kemper mithilfe der Dialektik von Sakralisierung und Säkularisierung; vgl. DERS.: Der Himmel auf Erden. 36 H.-G. KEMPER: Empfindsamkeit, 252. 37 In einigermaßen enigmatischer Formulierung schreibt Kemper dem Erhabenen gerade bei Pyra »zentrale Bedeutung […] für eine letztlich auf Autonomie zielende Funktionsbestimmung der Dichtung zwischen heteronomer Gottesverehrung und vernünftiger Moraldidaxe« (aaO. 258) zu. In Pyras »Tendenz, die Bibel selbst als ›Hauptbuch des Erhabenen‹ zu ästhetisieren«, sieht Kemper ferner die »Absicht […], das Ästhetische in seiner ›Unmittelbarkeit zu Gott‹ zu verankern und damit in seiner Würde und Eigenständigkeit zu stärken« (260), oder anders gesagt: in seiner Autonomie. 38 AaO. 259. 39 Ebd. 40 Kemper selbst spricht etwas unglücklich von einer Vermittlung »zwischen den Weltbildern« bzw. von einer »Vereinigung der widersprüchlichen Triebkräfte« von Pyras Bildungsgang (ebd.). 41 Ebd. 42 AaO. 261. 43 AaO. 258.
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darin implizierten Substitutionsdenken hinausführt. Dieser Spur wird im Folgenden nachzugehen sein. Die bisher umfangreichste neuere Auseinandersetzung mit Jakob Immanuel Pyra erschien ebenfalls 1997 mit Joachim Jacobs Arbeit über die Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland. Im Pyra-Teil seiner Untersuchung bietet Jacob vor allem eine umfangreiche Interpretation von Der Tempel der wahren Dichtkunst, kommt aber auch ausführlich auf die Manuskripte Über das Erhabene zu sprechen.44 Obgleich auch hier manches an Zelles Autonomisierungsthese denken lässt,45 bedeuten diese Bemerkungen demgegenüber insgesamt einen wesentlichen Einsichtsgewinn. So hält Jacob zum einen fest, dass Pyra der religiös-erhabenen Dichtung eine für die Frömmigkeit unverzichtbare Versinnlichungsleistung zuschreibt.46 Von dieser Notiz aus – die bei Jacob nicht weiter ausgeführt wird, aber im vorangegangenen Kapitel dieser Arbeit eine eingehende Erläuterung gefunden hat – wäre Pyras Poetologie des Erhabenen als ernsthaftes religiöses bzw. theologisches Projekt zu verstehen, mit dem Ziel, »in der Darstellungsform des Erhabenen poetische Praxis und christliche Erbauung zu vermitteln«47; und dies nicht etwa, so wäre zu ergänzen, um zwei einander äußerliche Größen zusammenzuzwingen, sondern um der Religion eine ihr angemessene Ausdrucksgestalt zu geben. Jacobs zweite große Leistung ist der Hinweis auf den Zusammenhang der soeben angedeuteten Funktionszuschreibung mit der zeitgenössischen Theologie und Philosophie. Jacob hat darauf aufmerksam gemacht, dass Pyra mit dem Theorem von der poetischen Versinnlichung abstrakter Verstandeswahrheiten auf einen Grundgedanken der jungen Hallischen Ästhetik zurückgreift. Und er hat den Konnex dieses Theorems mit der theologischen und philosophischen Problematik der ›lebendigen Erkenntnis‹ (cognitio viva) herausgestellt, der sich, wie oben (Kap. 2.2.2) gezeigt worden ist, tatsächlich als einer der Grundimpulse der »Erfindung« der neuen Wissenschaft begreifen lässt. Die ›Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis‹ zielt 44 Jacob liefert durchweg eine Fülle von interessanten Einzelbeobachtungen, die ein integrierendes Argumentationsziel nicht immer erkennen lassen. Auch bezüglich des Verhältnisses von Dichtung und Religion in Pyras Konzept heiliger Poesie und in seinem Begriff des Erhabenen ist der Leser im Wesentlichen auf verstreute Bemerkungen angewiesen. 45 So insistiert J. JACOB: Heilige Poesie, darauf, dass bei Pyra in Theorie und Praxis der religiösen Dichtkunst ein »Eigensinn der Poesie« (sc. gegenüber der Religion; 222) bzw. ein »Eigenrecht der Form« (sc. gegenüber dem religiösen Gehalt; 223) festgehalten sei. Die Hervorhebung dieses selbstverständlichen Sachverhalts ist offenbar notwendig, um den verhandelten Autor vor dem Forum der Literaturwissenschaft von dem Verdacht hoffnungsloser Modernitätsfeindlichkeit loszusprechen. 46 Vgl. aaO. 222 und öfter. 47 AaO. 99.
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letztlich vor allem auf die ›lebendige Erkenntnis‹ von gegebenen Wahrheiten: auf eine Form von Erkenntnis, die nicht auf der Ebene theoretisch-abstrakten, aber wirkungslosen Gelehrtenwissens verbleibt, sondern die auch das Herz ergreift, den Willen bewegt und in diesem Sinne praktisch wird. Von daher lässt sich Pyras Theorie der erhabenen Poesie als eine auf das Religiöse fokussierte Spielart der Hallischen Ästhetik begreifen. Jacob hat auf den Zusammenhang der Konzepte heiliger Poesie mit dem Problem der cognitio viva generell hingewiesen, hat es aber versäumt, diesem Zusammenhang auch in den Texten Pyras genauer nachzugehen. Dieses Versäumnis nachzuholen (und dabei einige Ergänzungen und Korrekturen anzubringen) ist eines der Ziele des vorliegenden Kapitels.48 Ausgehend von Einsichten Kempers und Jacobs sollen Pyras poetologische Texte49 unter Berücksichtigung des hallischen genius loci, dem Nebenund Ineinander von Pietismus und Wolffianismus (in Gestalt der Hallischen Ästhetik), als Versuch verstanden werden, das Erhabene als religiös-ästhetische Synthesekategorie zu etablieren: als Bezeichnung derjenigen ästhetischen Qualität, die im eigentlichsten Sinne allein der adäquaten Darstellung des Religiösen zugesprochen werden kann. Nachdem in Kap. 2 bereits der hallische Bildungshintergrund von Pyras Dichtungstheorie skizziert wurde, wird es im Folgenden darum gehen, in der Analyse der einschlägigen Ausführungen Pyras und in deren Zusammenschau mit Abhandlungen von Autoren aus dessen Umfeld das Erhabene als zentrale Kategorie der theologisch-ästhetischen Reflexionen der hallischen Frühzeit der Ästhetik zu konturieren.
48 Der kurze Abschnitt über Pyra in der Monographie von D. TILL: Das doppelte Erhabene (2006) bietet nur eine knappe Zusammenfassung der einschlägigen Manuskripte (mit Verweisen auf Zelle, Kemper und Jacob) und läuft auf die Feststellung hinaus, dass sich auch bei Pyra die Boileau’sche Unterscheidung zwischen le stile sublime und le sublime wiederfindet. Bedeutender für die literarhistorische Lokalisierung Pyras in der Geschichte des Erhabenheitsbegriffs ist Tills Darstellung der Longin-Rezeption innerhalb der altprotestantischen Bibelhermeneutik (141–165). Darauf ist in Kap. 3.3 näher einzugehen. 49 Zu Pyras poetischen Texten siehe H.-G. KEMPER: aaO. 103ff; DERS.: Der Himmel auf Erden; J. JACOB: aaO. 55ff; B. DOHM: Pyra und Lange: Zum Verhältnis von Empfindsamkeit und Pietismus in ihren Freundschaftlichen Liedern; J. HEINZ: Architektur des Erhabenen. Eine Besichtigung von Immanuel Pyras Tempel der wahren Dichtkunst. Heinz liest Pyras dichterisches Hauptwerk, den Tempel der wahren Dichtkunst, selbst als eine in Verse gesetzte »ars poetica des Erhabenen« (76) und damit als »Parallelprojekt zu Longinus« (75).
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3.2. Das Erhabene und die Bestimmung des Menschen 3.2.1. Das anthropologische Fundament des Erhabenheitsbegriffs Pyra hat spätestens seit Beginn seines Theologiestudiums im Sommersemester 1735 auch intensive poetologische Studien betrieben.50 Vor allem Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst (11730) scheint er früh »eingesogen«51 zu haben. Ansonsten bezeugen seine überlieferten Texte aus den folgenden Jahren die Kenntnis einer Vielzahl von Klassikern der Poetologie, etwa der Poetik Scaligers52 und von Boileaus L’art poetique53. Besonderen Eindruck haben aber offenbar die Schriften der Schweizer auf ihn gemacht, die er etwa 1736 kennenlernte. Eine dieser Schriften dürfte Bodmers und Breitingers Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft (1727) gewesen sein, deren zentrale Theoreme mit dem konvergierten, was er in A. G. Baumgartens Poetikübungen, die er ebenfalls 1736/37 besuchte, zu hören und in diesem Zusammenhang in dessen Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (1735) zu lesen bekommen haben dürfte. In der genannten Schrift der Schweizer könnte Pyra auch auf den »Tractat des Longinus« gestoßen sein, von dem es da heißt, er habe als einziger »von dem höchsten Grade der Vollkommenheit, zu welchem die Seele in dem Punct der Wolredenheit hinauf steigen kann, nemlich dem Erhabenen in den Schrifften«54 gehandelt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich Pyra nach der begeisterten Lektüre noch während seines Studiums (1735–38) an die Übersetzung des nämlichen Traktats machte und an den Versuch, sich das dort entwickelte literarische Ideal in freien Reflexionen anzueignen. Dieser Versuch ist überliefert in einer Fragment gebliebenen handschriftlichen Abhandlung in drei Teilen, die im ersten Teil ›Von der Erklärung des Hohen‹ und im zweiten Teil ›Von der Schreibart überhaupt‹ handelt, um im dritten Teil noch einmal eine abschließende ›Erklärung des Hohen‹ zu geben. Schon der Terminus ›das Hohe‹, den Pyra meist anstelle des ›Erhabenen‹ gebraucht, lässt den unmittelbaren Bezug auf Peri Hypsous (wörtlich: ›von
50
Vgl. zum Folgenden C. ZELLE: Apparat, 75ff. Vgl. FErw. 7. 52 I. C. SCALIGER: Poetices libri septem (1561). Vgl. Pyras Brief an Gottsched vom 26.1.1737, in: I. J. PYRA: Über das Erhabene, 90. 53 Vgl. Pyras Brief an Gottsched vom 4.8.1738, in: I. J. PYRA: Über das Erhabene, 92f. 54 J. J. BODMER/J. J. BREITINGER: Von dem Einfluß und Gebrauche der EinbildungsKrafft, Vorrede (unpag.). Dass Pyra tatsächlich durch die betreffende Schrift mit Peri Hypsous bekannt gemacht worden sein könnte, legt sich angesichts des Umstandes nahe, dass Pyra seine eigenen Erörterungen zum Thema ausdrücklich dem Urteil der Schweizer anempfiehlt; vgl. ÜE 56; vgl. C. ZELLE: Apparat, 75. 51
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der Höhe‹ oder ›dem Hohen‹) erkennen. Pyra betont aber auch ausdrücklich den außerordentlichen Stellenwert, den er, im Einklang mit den Schweizern, dem Traktat Longins beimisst. Nachdem er seine Leser auf das Hohe eingeschworen hat – die entsprechenden Passagen werden noch genauer in den Blick zu nehmen sein –, versäumt er es nicht, ihnen auch den maßgeblichen Lehrer zu empfehlen, der sie im Streben nach Verwirklichung dieses Ideals anleiten kann. Es ist natürlich der Autor des »goldenen Buches«55, dessen Übersetzung der Essay Über das Erhabene56 flankieren sollte, und damit jener Autor, dem er selbst die Bekehrung zu dem propagierten Dichtungsideal verdankt: Allein wer kan sich doch selbst zum Meister machen? Wer braucht bey der natürlichen Unvolkommenheit nicht Anweisung? Und wer wird sie in dem Hohen nicht brauchen? Longin hat sich zum Anfürer auf diesem steilen Wege aufgeworfen. Er ist glücklich gewesen, man hat ihm Beyfall gegeben, man hat ihn bewundert. […] Die Hoheit der Kunst, und die hohe Ausarbeitung seines Buchs zeugen auch in der That von seinem erhabenen Geiste, der billig die Verehrung der Nachwelt verdienet[,] die der NachKlang seines Ruhmes angefüllet hat. Man betrachtet seine Schrift billig als den kostbarsten Rest aus dem Schifbruche des Alterthums, ja als ein goldnes Buch. Ich rühme mich, aus der Menge der Verehrer dieses erlauchten Geistes zu seyn. So bald ich ihn erblicket, so bald habe ich ihn bewundert. Ein natürlicher Zug, riß mich durch seine Hoheit entzücket, in sein bezauberndes Lehrgebäude. Was vor ein neues Licht leuchtete mir überall entgegen. Was vor erhabne Gedancken vernahm ich, was vor prächtige Bilder sahe ich, lauter hohes, lauter herliches ja Götliches.
Trotz aller literarischen Stilisierung geben die zitierten Zeilen Zeugnis von der Begeisterung, welche die Begegnung mit Peri Hypsous beim jungen Pyra ausgelöst hat. Vor lauter Entzückung über Inhalt und Form des Traktats lässt er sich, in kühner Steigerung einer Wendung von Boileau57, zu der Aussage hinreißen, man habe in eben dieser Schrift »den kostbarsten Rest aus dem Schifbruche des Alterthums« vor sich. Um sein singuläres Lektüreerlebnis noch augenfälliger zu machen, bringt Pyra es anschließend in das Bild einer Schlossbegehung: Alles schien mir hier erstaunenswürdig. So gehet es einem reisenden[,] der in ein königliches Schloß den Eintritt erlanget, die marmornen Mauren die prächtigen ohrientischen Säulen die BildSäulen der G[ö]tter lauter glänzende Zieraten[,] die des durchlauchtigen Erbauers würdig sind, setzten ihn allenthalben in Verwunderung. Er siehet sich in den weitläuftigen Vorhofe um. Er wirft seine[n] Blick zu den stolzen Zinnen, die sich fast in den Wolken verbergen, hier durchschauet er stuzend die zulaufende Durchsicht von den lange[n] Reihn der Säulen auf beiden seiten. […] Dort sind reiche Schatzgewölber, und hier bewundernswürdge Bildergänge, wo er 55
Bereits Isaac Casaubon bezeichnet Peri Hypsous als aureolus libellus; s.o. Kap. 1.1.1. Trotz der terminologischen Verschiebung wird hier der von Zelle eingeführte Titel gebraucht. 57 Vgl. Préf. 334: »un des plus precieux restes de l’antiquité«. 56
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die Kunststücke der großen Meister ganz entzückt betrachtet. Mitten unter diesem Pomp der Eitelkeit heißet ihn seine Andacht bey der geweihten, stillen Capelle stehen bleiben, wo er das Wort Gottes wiederschallen und preisen höret. Also traget er lauter prächtige Vorstellungen und erhaben fromme Gedanken mit sich aus diesem königlichen Baue.58
Mit atemlosen Staunen wandelt der Kunstreisende durch Flure und Gewölbe und bewundert all die Pracht, die sich seinem Blick darbietet. Aber dies Staunen über die letztlich doch nur als eitler »Pomp« anzusehenden Kostbarkeiten bliebe doch oberflächlich, fände es nicht in der Stille der Schlosskapelle seine Vertiefung im andächtigen Vernehmen des Wortes Gottes und seiner Hoheit. Erst hier – gemeint ist die Longin’sche Würdigung der mosaischen Gottesdarstellung von Gen 1, die innerhalb des heidnischen Traktats für den christlichen Leser zu stehen kommt wie ein Sakralraum innerhalb eines Profanbaus –, wo nicht nur irgendwelche »prächtigen Bilder« zu sehen sind und großartige Statuen von Göttern, die längst zu Figuren der poetischen Welt herabgesunken sind, sondern wo etwas sinnenfällig wird von der Macht und Herrlichkeit des wahren Gottes – erst hier wird das Anstaunen glanzvollen Gepränges zur weihevoll-stillen Bewunderung göttlicher Hoheit, und der Besucher verlässt das bezaubernde Gebäude nicht nur mit »lauter prächtigen Vorstellungen«, sondern obendrein mit »erhaben frommen Gedanken«. Mag diese Interpretation der Pyra’schen Schloss-Allegorie vorläufig noch etwas überzeichnet wirken – dass die enthusiastische Schilderung der Longin-Lektüre dem Genesiszitat zentralen Rang beimisst und dass sie im Bezug auf den biblischen Text selbst religiöse Töne anstimmt, liegt offen zu Tage. Bevor jedoch die bibelhermeneutischen Aspekte (Kap. 3.3) und die religionspraktischen Intentionen (3.4) von Pyras Erhabenheitstheorie näher in Betracht gezogen werden, ist zunächst ein Blick auf die Eröffnung des Essays zu werfen, die nicht von der Heiligen Schrift und nicht von hoher Poesie handelt, sondern vom erhabenen Wesen des Menschen: Der Mensch ist zur Hoheit geboren. Der Schöpfer hat ihn dazu bestimmt. Aus der Betrachtung seiner Natur erkennen wir es, die Erfahrung bestätiget es. Auch in dem geringsten wachet ein geheimer Trieb seinen Zustand zu verbeßern, und sich aus dem unglückliche[n] Staube auf erhobnere [von Pyra korrigiert aus: erhabnere; M.F.] Stufen zu schwingen.59
Mit wenigen Strichen umreißt der junge Dichtertheologe ein Bild vom Menschen, in dessen Lichte zu ermessen ist, welch grundlegende Bedeutung Pyra dem Erhabenen für die humane Existenz zuschreibt, gibt doch das Motiv von der Bestimmung des Menschen zur Hoheit gewissermaßen den 58 59
ÜE 53. ÜE 51.
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anthropologischen Rahmen ab, in den daraufhin die Poetik des Erhabenen eingezeichnet wird. Das heißt: Pyra weist dem Erhabenen eine maßgebliche Funktion für die Verwirklichung der menschlichen Natur zu.60 Pyras anthropologische Leitthese speist sich vermutlich aus verschiedenen Quellen. Die Idee von der Hoheit des Menschen weist über die Renaissance61 zurück in die Antike62. Insofern im Deutschland des 18. Jahrhunderts an den höheren Schulen Grundkenntnisse antiker Philosophie vermittelt wurden und insofern im Bildungshaushalt der Aufklärungsepoche auch mit einer »vitalen Präsenz humanistischer Traditionen«63 zu rechnen ist, kommen beide Epochen für die Übermittlung jenes Gedankens infrage. Seine nähere Herkunft dürfte bei Pyra freilich im pietistisch-mystischen Bereich zu suchen sein. So hatte das eng verwandte64 Motiv vom göttlichen Adel der menschlichen Seele, vormals prominent bei mittelalterlichen Mystikern wie Meister Eckart und Tauler65 und alsdann beim orthodoxen Reformtheologen Johann Arndt, offenbar gerade im hallischen Pietismus, dessen Beeinflussung durch mystische Literatur in der Forschung herausgestellt worden ist66, eine gewisse Rolle gespielt.67 Das belegen neben Zeugnissen aus der Zeit des Grafen Zinzendorf am hallischen Paedagogium (1710– 16)68 verschiedene Schriften Hallenser Pietisten. So heißt es in den Erbaulichen Betrachtungen vom Ursprung und Adel der Seelen aus der Feder des Liederdichters Christian Friedrich Richter (1676–1711): »Also bestehet nun die Vortrefflichkeit des Menschen in dem Adel der Seele: der Adel aber der Seelen bestehet […] darinn, daß sie ein Gleichniß und Ebenbild Gottes, und 60 J. HEINZ: Architektur des Erhabenen, hat bereits auf die »anthropologische Fundierung« (74) von Pyras Erhabenheitstheorie hingewiesen. 61 Unter den zahlreichen Abhandlungen der Epoche über die Würde des Menschen ragen G. PICO DELLA MIRANDOLA: De hominis dignitate (1486, gedruckt 1496) und G. MANETTI: De dignitate et excellentia hominis (1532) heraus. 62 Hier ist vor allem an den stoischen Begriff der Würde des Menschen zu denken, der, wie oben in Teil I/Kap. 3.2.2 gezeigt, prominent von Cicero entfaltet und dann auch in der christlichen Theologie im Zusammenhang des Gottebenbildlichkeitsgedankens aufgegriffen wird; vgl. U. BARTH: Herkunft und Bedeutung des Menschenwürdekonzepts. Der Wandel der Gottebenbildlichkeitsvorstellung. 63 A. BEUTEL: Aufklärung in Deutschland, 203. 64 S. G. LANGE spricht in einem Essay von 1748 von der »Hoheit der Seele« (BER 573). 65 Vgl. G. LÜERS: Die Sprache der deutschen Mystik des Mittelalters im Werke der Mechthild von Magdeburg, 58ff. 66 Vgl. z.B. E. PESCHKE: Die Bedeutung der Mystik für die Bekehrung August Hermann Franckes. 67 Vgl. dazu A. LANGEN: Der Wortschatz des deutschen Pietismus, 353f. 68 Nach Aufzeichnungen Zinzendorfs wurde im Jahre 1714 in einem Kreis von Schülern eine Disputation abgehalten zum Thema De anima, Utrum sit aliquid ex parte divina; vgl. G. REICHEL: Der »Senfkornorden« Zinzendorfs. Ein Beitrag zur Kenntnis seiner Jugendentwicklung und seines Charakters, 1. Teil, 108.
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göttlich gesinnet sey«69. Richter greift mit diesem Satz den traditionellen Gedanken auf, dass die Auszeichnung des Menschen vor allen anderen Lebewesen, seine besondere Würde oder »Vortrefflichkeit«, in seiner Gottebenbildlichkeit bestehe, bzw. genauer: in der Gottebenbildlichkeit seiner Seele.70 Die an Gen 1 anschließende Rede von der Gottebenbildlichkeit bringt dabei zum Ausdruck, dass der Seele, die nach gängiger Lesart von Gen 2 dem Menschen von Gott eingehaucht wurde – im Gegensatz zum Leib, der lediglich aus irdener Materie geformt ist – göttliche oder gottähnliche Natur zukommt.71 Spätestens seit der Renaissance ist mit der Vorstellung vom Adel der Seele denn auch regelmäßig der Topos von der Zwitternatur des Menschen zwischen Tier und Himmelswesen verknüpft, der zwar nicht bei Richter, aber bei Pyra in der Spannung zwischen »Staub« und »Hoheit« anklingt. Auch im unmittelbaren Hallenser Umfeld Pyras ist der beschriebene Motivkomplex nachweisbar. Zumindest haben S. G. Lange, Sohn des Erzpietisten Joachim Lange und Pyras Gegenüber in den Freundschaftlichen Liedern, und der Baumgarten-Schüler G. F. Meier in ihrer Wochenschrift Der Mensch (1751–56) den Gedanken Von der hohen Würde des Menschen einige Jahre nach Pyras Tod nachdrücklich propagiert. Bereits im 3. Stück mit dem gleichlautenden Titel72 beschreibt Meier ein Grundanliegen des Blattes, wenn er betont, es solle den Lesern »einen recht hohen Begrif von der menschlichen Natur«73 vermitteln und mithin »große Gedanken von sich selbst ein[ ]flößen«74. Nun hat der Ausweis der schöpfungsmäßigen Hoheit des Menschen, die das Theologoumenon der Gottebenbildlichkeit artikuliert, in der klassischen theologischen Anthropologie sein Gegenstück in der Lehre von der Sünde. Der Mensch, so lässt sich die Gesamtaussage des altprotestantischen Lehrstücks De homine aufs knappste zusammenfassen, ist zwar ursprüng69 CH. F. RICHTER: Erbauliche Betrachtungen vom Ursprung und Adel der Seelen und von deren ietzigen Beschaffenheit, von der Wiedergeburt und geistlichem Leben (1718; zit. n. A. LANGEN: Der Wortschatz, 353). 70 Vgl. zu diesem Motivkomplex R. P. HORSTMANN: Art. Menschenwürde. 71 Vgl. z.B. J. A. FREYLINGHAUSEN: Grundlegung der Theologie (1703), 118f: »Zur Erkäntniß des Menschen nach dem ersten Stande, nemlich der anerschaffenen Unschuld und Heiligkeit, gehöret die Betrachtung seines Ursprungs und Herkommens, davon ausführlich gehandelt wird. 1. Mos. I. und II. cap. Aus der Beschreibung deßelben ist zu sehen, daß der Mensch unter allen sichtbaren Geschöpffen das alleredelste und fürtrefflichste sey […]. Es bestehet aber solcher Vorzug überhaupt in dem göttl. Ebenbilde, dazu der Mensch für allen sichtbaren Creaturen erschaffen worden ist.« 72 G. F. MEIER: Von der hohen Würde des Menschen. 73 AaO. 18. 74 AaO. 21. Vgl. zu G. F. Meier G. GAWLICK: G. F. Meiers Stellung in der Religionsphilosophie der deutschen Aufklärung.
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lich in gottebenbildlicher Würde erschaffen worden. Durch den Fall ist seine ursprüngliche Natur jedoch gänzlich verdorben und damit jene Würde ganz und gar verloren – und lediglich durch das Erlösungswerk Christi und das Vollendungswerk des Heiligen Geistes wiederzugewinnen. Dem entspricht es, dass laut August Hermann Francke (1663–1727) »der rechte Adel der menschlichen Seele […] in der Erneuerung zum Eben-Bilde GOttes bestehet«75, und dass nach Christian Friedrich Richters berühmtestem Kirchenlied das Ziel christlichen Lebens darin zu erblicken ist, durch Christus »zu der göttlichen Würde geführet«76 zu werden. Adel, Würde und Gottebenbildlichkeit sind demzufolge eigentlich nur vom Menschen im Urstand und vom wiedergeborenen Christen auszusagen, nicht aber vom Menschen überhaupt.77 Pyras Menschenbild scheint mit der betreffenden Idee einer wiederherzustellenden Gottebenbildlichkeit zu konvergieren. »Der Mensch ist zur Hoheit geboren. Der Schöpfer hat ihn dazu bestimmt.« Die Hoheit ist demnach nicht etwa ein habituelles Charakteristikum der (postlapsarischen) menschlichen Natur, sondern deren Bestimmung. Sie ist das in der Natur des Menschen angelegte Telos und damit der Gottebenbildlichkeit analog, sofern diese als »Zweck und Ziel unserer Erneuerung« verstanden wird, wie es in Freylinghausens Grundlegung der Theologie, der »Normaldogmatik des hallischen Pietismus«78, heißt.79 Selbiger Bestimmung der menschlichen Natur zur Hoheit korrespondiert laut Pyra ein »geheimer Trieb« im Gemüt des Menschen, ein stetiges Streben nach dem Höheren, das den je erreichten »Zustand« zu »verbessern« sucht, um sich immer weiter aus dem »unglücklichen Staube« der irdisch-animalischen Sphäre des Lebens zu erheben auf Stufen, die immer näher zum von Gott bestimmten himmlischen Ziel des menschlichen Seins führen. 75 A. H. FRANCKE: Kurzer und einfältiger Unterricht, wie die Kinder zur wahren Gottseligkeit und christlichen Klugheit anzuführen sind (1702), 125f: »Wann die Kinder zur beständigen Furcht und Liebe des allgegenwärtigen GOttes erwecket werden, und ihnen der rechte Adel der menschlichen Seele, so in der Erneuerung zum Eben-Bilde GOttes bestehet, mit lebendigen Farben vor Augen gemahlet wird…« 76 CH. F. RICHTER: Es glänzet der Christen inwendiges Leben, Str. 1. 77 Auch nach J. A. FREYLINGHAUSEN sind »Zweck und Ziel unserer Erneuerung […] die Auffrichtung des Bildes GOttes, oder die Wiederdarstellung der uns anerschaffenen Herrligkeit« (aaO. 125). Der Hallische Pietismus hatte sich mit dem entsprechenden orthodoxen Einwand gegen die Rezeption des mystischen Motivs vom Adel der Seele auseinanderzusetzen und berief sich in diesem Zusammenhang mit Vorliebe auf die pointiert sündentheologische Mystikrezeption Johann Arndts; vgl. A. H. FRANCKE: De Theologia Mystica (1704), 203. Vgl. E. PESCHKE: Studien zur Theologie August Hermann Franckes, Bd. 1, 21f. 78 J. WALLMANN: Der Pietismus, 127. 79 Vgl. zu Freylinghausens Anthropologie S.-P. KOSKI: Zur theologischen Anthropologie der Freylinghausenschen Gesangbücher.
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Mag die von Pyra zur Geltung gebrachte teleologische Fassung des Hoheitsgedankens der orthodox-protestantischen Sündenlehre auch nicht so augenfällig widerstreiten wie die katholische Lehre einer bleibenden Gottähnlichkeit der menschlichen Natur – der Autor der ›Erklärung vom Hohen‹ hat hier womöglich immer noch eine gewisse Anstößigkeit empfunden. Jedenfalls versucht der junge Theologe dem Sündendogma zu genügen, indem er die Verderbtheit jenes Strebens nach dem Hohen einräumt: Laßt uns zugeben, daß diese Begierde von Natur vergiftet, und kaum bey wenigen gereiniget, daß diese Feder [lies: Triebfeder; M.F.] verdorben sey, daß wenige das wahrhaftige Beßere erkennen oder darnach zu streben vermögend seyn; Ist nicht dem ohngeachtet dieses Verlangen, das würdigste für das unsterbliche Geschlecht der Menschen[?]80
Die dem Menschen anerschaffene »Begierde« nach dem Höheren ist durch den Fall »vergiftet«. Sie ist »von Natur«, d.h. hier: der postlapsarischen Natur nach, so verunreinigt und »verdorben«, dass nur wenige jene Begierde tatsächlich auch realisieren. Aber »dem ohngeachtet« ist es offenbar dasselbe Streben nach dem Hohen, das für Pyra die ureigene Würde des Menschen ausmacht. Es ist in dieser Äußerung ein gewisses Lavieren zwischen Erbsündendogma und Hoheitsbehauptung auszumachen. Denn auch wenn die Hoheit des Menschen lediglich in ein Streben nach Hoheit gesetzt wird, impliziert doch die Behauptung eines solchen Strebens, dass die menschliche Natur durch den Sündenfall nicht durchweg korrumpiert ist. Es bleibt eine Spannung zur radikalen protestantischen Fassung des Erbsündendogmas bestehen.81 Mit dem sich abzeichnenden Problem, dem schwierigen Ausgleich zwischen orthodoxer Sündenlehre und dem – wohlgemerkt ebenfalls theologisch begründeten – Gedanken der »hohen Würde des Menschen« (Meier), ringen Anfang der fünfziger Jahre dann auch die beiden Autoren der Wochenschrift Der Mensch. Bereits im 7. Stück, in dem Pastor Lange es zu zeigen unternimmt, Daß die Tugend uns natürlich sey82, wird diese theologisch gewagte These konsequenterweise auch mit der Erbsündenlehre »unserer Gottesgelehrten«83 konfrontiert. Lange gibt vor, hier keinerlei Widerspruch zu sehen, und er begründet diese überraschende Einschätzung in 80
ÜE 51. So etwa auch bei J. A. FREYLINGHAUSEN: aaO. 151: »Unsere Pflicht nach dieser Lehre [sc. der Lehre vom freien Willen; M.F.] ist […] GOtt zu dancken, daß er nach dem Fall unserer ersten Eltern noch so viel Kräffte in der menschlichen Natur übrig gelassen, daß die Menschen, so lange sie ihnen selbst gelassen und der blossen natürlichen Vernunfft folgen, iedennoch GOtt und seine Wercke noch einiger maßen erkennen und ihn suchen, auch gegen und mit einander vernünfftig sich betragen können«. 82 S. G. LANGE: Daß die Tugend uns natürlich sey. 83 AaO. 50. 81
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derselben Logik, die sich schon bei Pyra andeutete. Demnach ist die gottgegebene Natur des Menschen zwar durch den Fall massiv beeinträchtig, aber nicht vollständig destruiert: »Wir erkennen also, daß unsere Natur verderbt sey: aber eben der Begrif, der mit dem Worte verderben verknüpfet ist, zeiget uns, daß unsere Natur von dem Verderben, an sich betrachtet, sehr unterschieden sey.«84 Die Natur des Menschen ist durch den Fall nicht essentiell tangiert, sondern hält sich bei aller Verderbnis durch. Wie um die Behauptung einer trotz des Falls fortbestehenden menschlichen Natur weiter zu belegen, handelt Lange ein Jahr später im 134. Stück Von den Ueberbleibseln der ursprünglich dem Menschen anerschaffenen Hoheit. Das allgemeine Interesse an Relikten aus der Antike aufgreifend fordert der Autor seine Leser dazu auf, ihren archäologischen Spürsinn auf einen viel wichtigeren Gegenstand zu richten, um jener so oft verschütteten Hoheit des Menschen auf die Spur zu kommen: Ich kann mich füglich des Ausdruckes der Ueberbleibsel gegenwärtig bedienen. Denn die Offenbarung und die eigne Erfahrung lehrt uns, daß das menschliche Geschlecht, durch den schweren Sündenfal, so zerstöhrt worden, und so von seiner alten Pracht und Würde herunter gekommen sey, daß es sich nicht ähnlich ist, und daß es nur noch die Spuren seiner alten Hoheit durch klägliche Reste der Ruinen zeiget. Die heilige Schrift belehret uns, daß der Mensch anfänglich das göttliche Ebenbild an sich gehabt habe: er war ein irdischer sichtbarer Gott. Ob er nun zwar von dieser Würde sehr herunter gekommen ist, noch tiefer wie das jetzige Rom, in Betrachtung des alten; so finden sich doch, so wie in Rom, also auch bey dem Menschen, noch viele Ueberbleibsel, die uns sicher auf seine ursprüngliche und anerschaffene Hoheit und Grösse schliessen lassen.85
Was für Lange im Einzelnen von jener »ursprünglichen und anerschaffenen Hoheit und Grösse« des Menschen zeugt, kann hier dahingestellt bleiben.86 Es kommt in diesem Zusammenhang darauf an, dass der ehemalige Studienfreund Pyras in Abweichung von der protestantisch-orthodoxen Sündenlehre der menschlichen Natur eine Hoheit zubilligt, von der – trotz der Beschädigung »durch den schweren Sündenfal« – immerhin »Spuren« übrig geblieben sind. Außerdem ist es bemerkenswert, dass für Lange an diesen Spuren auch »der Beruf und die Bestimmung des Menschen […] und der Zweck seiner Einrichtung zum göttlichen Ebenbilde«87 abzulesen sind. Trotz des Sündenfalls ist der Mensch seiner Natur nach »zum göttlichen Eben84
Ebd. S. G. LANGE: Von den Ueberbleibseln der ursprünglich dem Menschen anerschaffenen Hoheit, 11. 86 Der Pastor Lange lehnt sich hier an das traditionelle Theologoumenon vom dominium terrae an. Das wichtigste Signum der Gottebenbildlichkeit des Menschen ist für ihn seine »ungemein grosse Wirkungskraft« (aaO. 13), mit der er sich in Nachahmung des Schöpfers die Welt unterwirft und sich zum »König der Geschöpfe« (12) macht. 87 AaO. 16. 85
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bilde eingerichtet«, d.h. er trägt die Spuren seiner ehemaligen Hoheit als Möglichkeiten in sich, die zu verwirklichen ihm als Telos seines Menschseins aufgetragen ist. Die »Überbleibsel« der ursprünglichen gottebenbildlichen Natur werden zugleich als Keime begriffen, die auf ein Entwicklungsziel hin »eingerichtet« sind, das zu erreichen des Menschen »Beruf und Bestimmung« ist. Wolfhart Pannenberg hat die »etwas verlegene[ ] Auskunft, ein ›Rest‹ des Gottesbildes sei eben trotz des Sündenfalls erhalten geblieben«88, als zwar verbreiteten, aber wenig überzeugenden Ausweg aus den inneren Aporien der reformatorischen Erbsündenlehre eingestuft. An den Äußerungen Langes lässt sich indes das innovative Potential des Gedankens vom Rest der Gottebenbildlichkeit aufweisen. Vollzieht sich doch offenbar im hallischen Fluidum von Pietismus und Aufklärung mithilfe selbigen Gedankens genau jene zukunftsweisende Umformung der theologischen Anthropologie, die Pannenberg auf die Formel von der »Gottebenbildlichkeit als Bestimmung des Menschen«89 gebracht und deren wichtigsten Protagonisten er in Herder erblickt hat. Denn wenngleich die Rede von den »Ueberbleibseln der ursprünglich dem Menschen anerschaffenen Hoheit« noch ganz in der Logik der Urstandslehre formuliert ist, lässt sich bei Lange hier bereits die Wandlung des Gottebenbildlichkeitsbegriffs von einer protologischen zu einer teleologischen Kategorie beobachten, im Zuge derer »die Gottebenbildlichkeit des Menschen« immer mehr »als seine urbildliche Bestimmung statt als ehemaliger paradiesischer Zustand verstanden«90 wird. Wie sich bereits abzeichnete, wird der von der Verderbnis der Sünde unberührte Rest der Gottebenbildlichkeit von Lange nämlich nicht als übrig gebliebener Grundbestand gottähnlicher Eigenschaften (wie z.B. Vernunftvermögen oder Willensfreiheit) gedacht, wie die Wendung von den »Überbleibseln« suggeriert, sondern als der menschlichen Natur innewohnende Anlage, der das Ziel ihrer Entwicklung eingezeichnet ist. Für dieses Ziel steht die Vorstellung der »ursprünglich anerschaffenen« Natur. Sie hat die Funktion eines Urbildes, welches annäherungsweise zu verwirklichen die ethische Aufgabe, der »Beruf« des Menschen ist. Trotz traditionell protologischer Semantik gewinnt die Vorstellung der Gottebenbildlichkeit im Lichte der Idee von der Bestimmung des Menschen tatsächlich eine teleologische Signatur, was am deutlichsten in der Wendung von der »Einrichtung zum göttlichen Ebenbilde« zum Ausdruck kommt. Versäumt es der Mensch, jene Anlage auszubilden, lebt er wider seine »Einrichtung«, verfehlt die ihm vorgezeichnete Natur. Dass dies faktisch regelmäßig geschieht und Menschen 88
W. PANNENBERG: Gottebenbildlichkeit als Bestimmung des Menschen, 8. Vgl. den Titel von W. PANNENBERGs oben zitierter Schrift. 90 W. PANNENBERG: Gottebenbildlichkeit und Bildung, 218. 89
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»sich selbst tief unter ihre Würde erniedrig[en]«91, so dass sie gar nicht mehr im Vollsinne als Menschen anzusehen sind, führt Lange in einem weiteren Beitrag für die genannte Zeitschrift im Jahre 1752 unter dem Titel Von der Einschränkung der menschlichen Hoheit aus. Schließlich versäumt er es nicht, in einem Artikel aus dem Jahre 1756 Von der höchsten Würde des Menschen in Ausbreitung der Ehre Gottes zu handeln, um die (christliche) Frömmigkeit als Gipfelpunkt der Verwirklichung menschlicher Hoheit auszuweisen. Die bei Lange freigelegte Idee einer Bestimmung des Menschen zu gottähnlicher Tugend und Hoheit firmiert offenbar bei dessen vormaligem Studienfreund Pyra Jahre zuvor als anthropologisches Fundament seiner Lehre vom Erhabenen. Woher Pyra das Motiv der menschlichen ›Bestimmung‹ übernommen hat, ist kaum klar zu benennen.92 Der Sache nach dürfte es ihm bereits in antiken, vor allem in stoischen Texten im Zusammenhang »der Frage nach der ›natura‹ bzw. der ›excellentia et dignitas‹ des Menschen«93 begegnet sein – und nicht zuletzt bei Longin, demzufolge alles Außerordentliche und Große in der Natur »rasch erkennen« lässt, »wozu wir geboren sind«.94 Was die Gottebenbildlichkeitsvorstellung betrifft, spielt Pyra zum einen mit der Rede von einer dem »Schöpfer« zu verdankenden Bestimmung zur Hoheit, zum anderen mit der Verwendung des Motivs vom Gott-ähnlich-Werden95 auf den fraglichen Komplex an. Im Übrigen berührt die Wendung vom ›unsterblichen Geschlecht der Menschen‹ mit 91
S. G. LANGE: Von der Einschränkung der menschlichen Hoheit, 233. Nimmt die »Karriere« der betreffenden sprachlichen Wendung »offenkundig mit Spaldings immer wieder aufgelegter Betrachtung über die Bestimmung des Menschen von 1748 ihren Anfang« (N. HINSKE: Eine antike Katechismusfrage. Zu einer Basisidee der deutschen Aufklärung, 4), scheint der entsprechende Gedanke Pyra – ungefähr ein Jahrzehnt vor Erscheinen von Spaldings »Erfolgsbuch« (6) – noch nicht unter jenem geprägten Ausdruck vorzuliegen. Darauf deutet hin, dass Pyra die Idee einer teleologischen Wesensnatur des Menschen mit der doppelten Formulierung ›geboren zu‹ und ›bestimmt zu‹ umschreibt. Im Übrigen sind frühere Belege eines entsprechend terminologischen Gebrauches von ›Bestimmung‹ bzw. von anderen Derivaten des Verbs ›bestimmen‹ nicht ohne weiteres ausfindig zu machen, und so »[stößt] [d]ie begriffsgeschichtliche, am Auftreten eines bestimmten Terminus orientierte Methode […] hier an ihre Grenzen« (5). 93 AaO. 4. 94 De subl. 35,3; vgl. oben Teil I/Kap. 3.2.3. Vgl. zur Herkunft des Motivs der ›Bestimmung des Menschen‹ C. SCHWAIGER: Zur Frage nach den Quellen von Spaldings Bestimmung des Menschen. Ein ungelöstes Rätsel der Aufklärungsforschung; ferner zur Nachwirkung des Motivs G. D’ALESSANDRO: Die Wiederkehr eines Leitworts: Die »Bestimmung des Menschen« als theologische, anthropologische und geschichtsphilosophische Frage der deutschen Spätaufklärung. 95 Vgl. ÜE 52: »Durch nichts [sc. anderes als Bewunderung Gottes und Tugendliebe; M.F.] wird ein Mensch Gott selbst ähnlicher.« Der platonische Topos von der homoiosis theô (Tht. 176 b) ist bereits von Origenes mit dem biblischen Gottebenbildlichkeitsmotiv verbunden worden. Vgl. U. BARTH: Gott ähnlich werden. Platons ethisch-religiöse Telosbestimmung der Dialektik. 92
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dem Unsterblichkeitsbegriff ein Thema, das traditionell sowohl mit der Gottebenbildlichkeitsidee als auch mit dem Motiv der Bestimmung des Menschen verknüpft ist.96 Pyra erblickt die maßgebliche Spur der menschlichen Hoheit, die der hohen Bestimmung entsprechende Anlage, in einem natürlichen Verlangen des Menschen nach dem Höheren. Dieser »geheime Trieb« erinnert an den hochsinnigen ›Eros alles Großen‹, der als anthropologischer Kerngedanke von Peri Hypsous ausgewiesen wurde.97 Er konvergiert zudem mit einem Motiv, das in Baumgartens Aesthetica eine prominente Stellung einnimmt – und das seinerseits auf die antike Abhandlung zurückgeht. Gemeint ist die Aneignung von Longins Hochsinnigkeitsbegriff in Gestalt des Terminus der magnanimitas aesthetica, der im Zusammenhang der Kategorie der ›ästhetischen Größe‹, genauer: im Kontext des Erhabenheitsthemas, breit entfaltet wird, und zwar in ausführlicher Auseinandersetzung mit Peri Hypsous. Um den Gipfel der Schönheit zu erklimmen, um mithin von den erhabensten Stoffen auch entsprechend erhabene Vorstellungen fassen zu können,98 dazu braucht der Ästhetiker eine natürliche Geistesgabe, die in Anlehnung an Longins megalophrosynê und in Aufnahme des entsprechenden lateinischen Tugendbegriffs magnanimitas (›Großmut‹, ›Seelengröße‹, ›Hochsinnigkeit‹) genannt wird.99 Um Höchstes angemessen darstellen zu können, bedarf es als Disposition aufseiten des Künstlers einer generellen geistigen Orientierung am Hohen, die Baumgarten – ein traditionelles Grundmotiv jenes Tugendbegriffs aufgreifend – als Unterordnung des Menschlichen unter das Göttliche beschreibt.100 »[S]o ein Geist wird bis zu himmlischen Dingen aufsteigen, und sie werden in seinen Gedanken nichts von [ihrer] Würde verlieren.«101 Die erforderliche Disposition ist indes nicht eigentlich eine erwerbbare Tugend, sondern, wie es an anderer Stelle heißt, eine »gewisse angeborene
96 So bei J. J. SPALDING: Gedanken über die Bestimmung des Menschen (1748) oder in J. F. W. JERUSALEMs Predigten, deren erster Band im Jahre 1745 publiziert wurde. Vgl. dazu W. PANNENBERG: Gottebenbildlichkeit als Bestimmung, 16ff. Bei Spalding heißt es 1748, in einer Pyras Essay erstaunlich ähnlichen Formulierung: »Zu einer solchen Hoheit bin ich bestimmt, und der will ich immer näherzukommen suchen« (aaO. 16). Jerusalem spricht von dem »wahren Wert« und der »hohen Natur und Bestimmung unserer Seele« (zit. n. W. PANNENBERG: aaO. 17). 97 S.o. Teil I/3.2.3. 98 S.u. Kap. 3.4.2. 99 S.o. Teil I/Kap. 3.2. 100 Vgl. Aesth. § 399: »Vielmehr ist das erste Gesetz […] für das Erhabene dieses: Alles Menschliche […] muß dem Göttlichen unterworfen werden« (Übers. D. MIRBACH). 101 Koll. § 394, 213.
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Größe des Herzens«102. Diese Herzensgröße wiederum wird im selben Satz näher als instinctus in magna potissimus gefasst, als »ein vorzüglichster Trieb zum Großen hin«103. Die gefragte »Ausrichtung auf […] das Göttliche«104 ist nach Baumgartens Psychologie also ein »blinder Trieb« mit nur dunkel empfundenen Triebfedern,105 womit die Konvergenz nicht nur zu Longins Beschreibung des ›Eros alles Großen‹, sondern auch zu dem von Pyra behaupteten ›dunklen Trieb‹ des Menschen zum Höheren noch augenfälliger wird. Longin, Pyra und Baumgarten gehen offenbar darin überein, dass sie als psychologische Voraussetzung zur Verwirklichung des Erhabenen ein im Grund der Seele wurzelndes Streben nach dem Höheren, Göttlichen annehmen, das beim Ästhetiker in besonderem Maße ausgebildet sein muss. Das Erhabene wird einhellig als ästhetisches Korrelat einer ethisch-religiösen Anlage verstanden. In diesem Sinne verweist Baumgarten auch ausdrücklich auf Longins These vom Erhabenen als »Echo«106 von Hochsinnigkeit. Baumgarten hat diesen Gedanken selbst nur im produktionsästhetischen Zusammenhang entfaltet. Höchstens Andeutungen lassen darauf schließen, dass er die erhabene Kunst auch auf eine entsprechende Wirkung beim Rezipienten – die Weckung von Hochsinnigkeit – verpflichtet hätte, wäre ihm die Vollendung der Aesthetica vergönnt gewesen.107 Bei Pyra hingegen zielt die Berufung auf die betreffende menschliche Anlage primär auf einen bestimmten Erfolg. Es ist für den Longin-Übersetzer nämlich die Funktion des Erhabenen, jenem natürlichen, aber allzu oft verschütteten Verlangen nach dem Hohen aufzuhelfen: Es ist aber die Pflicht der vernünftigen, nicht nur selbst den Weg zu dieser Höhe zu suchen sondern auch die irrenden dahin zurück zu rufen. Und verdienen denn nicht diejenigen unsern Beyfall[,] die ihre Bemühungen zu unserm Besten nicht sparen; ob es gleich ihre Schuldigkeit von Ihnen fordert[?]108
Der Verpflichtung zur eigenen Höherentwicklung, die in der menschlichen Bestimmung zur Hoheit liegt, korrespondiert laut Pyra eine Verpflichtung 102 Aesth. § 45 (Übers. D. MIRBACH). Auf die sachliche Zusammengehörigkeit des Paragraphen zum Abschnitt über die magnanimitas aesthetica hat D. MIRBACH hingewiesen: Ingenium venustum, 203f. 103 Aesth. § 45. 104 D. MIRBACH: aaO. 208. 105 Vgl. Met. § 677: »Fortior appetitus ex obscuris stimulis est instinctus«; in der Fußnote zum Wort instinctus findet sich die deutsche Wiedergabe als »blinder Trieb«. 106 Aesth. § 401. 107 Nach Aesth. § 412 rechnet Baumgarten damit, dass mindestens die »edleren Gemüter« sich »durch gute Eingebungen« und »große Beispiele« auf das Höhere ausrichten lassen, dass sich bei ihnen also offenbar eine edle Anlage durch ästhetische Einwirkung weiter ausbilden oder aktualisieren lässt. 108 ÜE 51.
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gegenüber den Mitmenschen. Wie jeder »selbst den Weg zu dieser Höhe zu suchen« hat, wozu er kraft seiner Natur verbunden ist, so muss er andere zu dem bestimmungsgemäßen, aber oftmals versäumten Streben nach dem Hohen »zurückzurufen« versuchen. Es ist klar, auf welche »Vernünftigen« diese allgemeine Forderung in der Einleitung der Erörterungen Über das Erhabene zielt. Nach Pyras Überzeugung sind insbesondere die Redner und Dichter von jener Verpflichtung betroffen. Ihre »Schuldigkeit« ist es, mit erhabener Rede bei ihren Hörern und Lesern den angeborenen Trieb nach dem Erhabenen zu erwecken und ihnen so zu ihrem »Besten« zu verhelfen. Die damit ausgesprochene Hochschätzung der Rhetoren und Poeten weiß sich freilich im Widerspruch zur landläufigen Beurteilung der besagten Professionen: Gesetzt, die Sache dünket uns geringe, worauf sie ihren Fleiß verwendet haben. Sollen wir denn nicht überhaupt suchen volkomner zu werden? Darf man nun wohl ein Stücke versäumen[,] das darzu gehöret[?] Man ist einig, daß unsre Seele vornemlich aller unsrer Sorge würdig sey.109
Der allgemeinen Geringschätzung der kunstmäßigen Bemühung um die Rede begegnet Pyra noch einmal mit dem Argument eines natürlichen Strebens des Menschen, dem der Fleiß der Redner und Dichter seiner Ansicht nach in irgendeiner Weise korrespondiert. Was vordem als Streben nach dem Hohen bzw. nach Hoheit eingeführt wurde, wird diesmal anders tituliert, nämlich als Trachten, »volkomner zu werden«. Diese Reformulierung ist bemerkenswert, weil sie einen doppelten Verweis auf den geistesgeschichtlichen Hintergrund von Pyras Menschenbild enthält. 3.2.2. Die Poesie als Mittel der Sorge für die Seele Der Vollkommenheits- bzw. Vervollkommnungsgedanke spielt sowohl im Pietismus110 als auch in der Aufklärungsphilosophie im Gefolge Christian Wolffs, der »dem Begriff der Vollkommenheit auf breiter Front […] zu grundlegender Geltung in der Philosophie verholfen«111 hat, eine tragende Rolle. Unbeschadet dieser doppelten Herkunft und der entsprechenden »doppelten Anschlußfähigkeit«112, die die Argumentation des Hallensers
109
Ebd. A. RITSCHL: Die Geschichte des Pietismus, bestimmt die nach umfassender Heiligung des Christen trachtende Frömmigkeitsbewegung als »Richtung, welche dem Verfall des christlichen Lebens den Anspruch auf Vollkommenheit entgegengesetzt« hat (Bd. 2, 483). Vgl. etwa A. H. FRANCKE: Von der Christen Vollkommenheit (1691). 111 TH. S. HOFFMANN: Art. Vollkommenheit, 1124. 112 J. JACOB: Heilige Poesie, 100. 110
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mit dem Aufgreifen der Perfektionssthematik erreicht, weist doch die Allgemeinheit der Formulierung vor allem in Richtung Schulphilosophie. Pyra postuliert, dass die Menschen »überhaupt«, in jeder Hinsicht »suchen [sollen] volkomner zu werden«, und dass sie in diesem Bemühen kein »Stücke versäumen« dürfen. Er scheint damit unmittelbar die Grundmaxime der praktischen Philosophie Wolffs und Baumgartens aufzugreifen, die Letzterer auf die einfache Formel perfice te113 gebracht hat.114 Im Zusammenhang der Pflichten gegen sich selbst zielt dieser Imperativ bei beiden Philosophen nicht zuletzt auf die Vervollkommnung der einzelnen Seelenvermögen, wobei Baumgarten im Gegensatz zu Wolff auch die unteren Vermögen mit einbezieht. Die Vollkommenheit der Vermögen differenziert sich nach Baumgarten noch einmal in eine materiale – nach Maßgabe dessen, was erkannt bzw. begehrt wird – und eine formale Vollkommenheit, welche sich nach der Art und Weise des Erkennens bzw. Begehrens bemisst und sich nach den im vorangehenden Kapitel erläuterten sechs Qualitäten der Vorstellungen ausdifferenzieren lässt.115 Infolgedessen ergibt sich hinsichtlich der Erkenntnisvermögen der Grundsatz: Perfice facultatem tuam cognoscitivam, […] et inferiorem, analogon rationis, […] ita, ut cognitio materialiter optima, i.e. optimorum, quae potes cognoscere, sit simul formaliter optima, quam praestare potes, uberrima, gravissima, verissima, clarissima, certissima, ardentissima…116
Vervollkommne dein Erkenntnisvermögen – und zwar […] auch das untere, vernunftähnliche – so, dass die inhaltlich beste Erkenntnis, d.h. die Erkenntnis vom Besten, was du erkennen kannst, zugleich auch formal so gut sei, wie du bewerkstelligen kannst: möglichst reich, würdig, wahr, klar, sicher und feurig…
Die erneute Berücksichtigung Baumgarten’scher Philosopheme ist für die Interpretation von Pyras Essay insofern von Interesse, als das Vollkommenheitsstreben von diesem im Rahmen seiner Theorie des Hohen tatsächlich auf ein bestimmtes Erkenntnisvermögen bezogen und auf nämliche Weise nach einer materialen und einer formalen Seite unterschieden wird, wie an späterer Stelle zu explizieren ist. Es ist demnach genau das Ziel erhabener Rede, eine in Baumgartens Sinne »formal« möglichst vollkommene Vorstellung möglichst vollkommener, hochstehender, guter Gegenstände zu vermitteln. 113
Eth. § 10. Bei CH. WOLFF lautet die entsprechende »Allgemeine Regel für die freye Handlungen« – bereits unter Einbeziehung der Pflichten gegen andere: »Thue was dich und deinen oder anderer Zustand vollkommener machet; unterlaß, was ihn unvollkommener machet« (DE § 12). 115 Vgl. Eth. § 202: »Perfectio facultatum in anima materialis est, qua cognoscenda et appetenda, formalis, qua ita, ut decet, cognoscunt et appetunt.« 116 Ebd. (Übers. M.F.). 114
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Mit solcher Vervollkommnung kann die hohe Poesie laut Pyra einen maßgeblichen Beitrag zur »Sorge für die Seele« leisten. Mit dieser Wendung gebraucht der Hallenser Student wieder einen Terminus, dessen Vorgeschichte bis in die vorchristliche Antike zurückreicht, um dann im Christentum zu einem theologischen Schlüsselbegriff aufzusteigen.117 Pyra war der Seelsorgebegriff aus lutherischer Orthodoxie und Pietismus sicher wohl vertraut. Nach A. H. Francke ist die »Cultura animi oder die gemüths Pflege […] das einige Mittel, wodurch [der] Haupt-Zweck in Anweisung der Jugend«, nämlich die Ehre Gottes, »erhalten wird«118. In der »Gemütspflege« des christlichen Pädagogen wird dem Kind »zu einer lebendigen Erkäntnüß GOttes« verholfen, und es wird ihm »der rechte Adel der menschlichen Seele, so in der Erneuerung zum Eben-Bilde GOttes bestehet, mit lebendigen Farben für Augen gemahlet«119. Francke weicht mit dem Ausdruck cultura animi bzw. ›Gemütspflege‹ vom klassischen theologischen Sprachgebrauch (cura animi bzw. animarum bzw. ›Seelsorge‹) ab – und scheint sich darin mit Pyra zu berühren, der kurz nach der Eingangspassage der Aufzeichnungen Über das Erhabene selbst davon spricht, dass kein Teil der Seele »ungebauet bleiben« dürfe, worin die Vorstellung einer cultura animi (von colere, ›bebauen‹) anklingt. Nach Franckes Verständnis hat die »Gemütspflege« die »Liebe zur Ehre GOttes« bzw., was gleichbedeutend ist, die ›lebendige Erkenntnis‹120 Gottes zum Ziel, und durch solche Erkenntnis wird im Christen der anerschaffene gottähnliche Adel der Seele, der durch den Fall verloren oder getrübt war, wieder erneuert. Die Seelsorge führt den Menschen zu seiner schöpfungsgemäßen Hoheit, indem sie ihm mit der lebendigen Erkenntnis zugleich die Liebe Gottes mitteilt und ihn so zu dessen Verehrer macht. Schon 1702 findet sich damit bei Francke im Kern formuliert, was der pietistisch aufgezogene S. G. Lange 50 Jahre später in dem bereits erwähnten Wochenschriftartikel Von der höchsten Würde in Ausbreitung der Ehre Gottes ausführt: dass der Mensch seine eigentliche Hoheit erst in dem Moment verwirklicht, in dem er Gottes »Vollkommenheiten recht lebendig erkant«121 hat und ihn infolge dieser Erkenntnis ehrt. In der Erkenntnis und Ausbreitung der Ehre Gottes nämlich ist der Mensch Lange zufolge eins mit seiner Natur und realisiert die ihr eigene Würde, und so ist er mit Recht
117
Vgl. J. A. STEIGER: Art. Seelsorge. A. H. FRANCKE: Kurzer und einfältiger Unterricht, wie die Kinder zur wahren Gottseligkeit und christlichen Klugheit anzuführen sind, 125. 119 Ebd. 120 Vgl. zum Terminus oben Kap. 2.2.2 und 2.3. 121 S. G. LANGE: Von der höchsten Würde des Menschen in Ausbreitung der Ehre Gottes (1756), 501. 118
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»ein göttlicher Mensch, oder ein Mensch GOttes«122 zu nennen. Nach Überzeugung der beiden Hallenser erfüllt der Mensch seine Bestimmung zur Hoheit erst als homo religiosus, und das Ziel der Seelsorge kann entsprechend darin erblickt werden, den Mitmenschen zur Gotteserkenntnis respektive -verehrung und eben damit zugleich, weil er hier selbst »gleichsam einen Stral der göttlichen Herrlichkeit [empfänget]«123, zur höchsten Stufe der Selbstverwirklichung zu leiten. Von Pyras pietistischem Sozialisationshintergrund und vom theologischen Traditionshintergrund seiner Aussagen her liegen die religiösen Konnotationen der anthropologischen Skizze zu Beginn des Fragments Über das Erhabene offen zutage. Was insbesondere den Seelsorge-Begriff angeht, bestätigt sich sein religiöser Einschlag noch einmal von womöglich unerwarteter Seite. So bestimmt A. G. Baumgarten das vom Menschen geforderte Vervollkommnungsstreben insgesamt als cura, als »Sorge für sich und das Seine«124, und infolgedessen ist bei ihm auch von der Sorge für die Seele die Rede, nämlich in Gestalt des Bemühens um die Vervollkommnung der einzelnen Seelenvermögen.125 In Anbetracht der noch näher auszuweisenden Tatsache, dass Pyra im vorliegenden Kontext tatsächlich auf die Vervollkommnung der Einbildungskraft zielt, ist es nicht unwahrscheinlich, dass der Baumgarten-Schüler hier einen entsprechenden Gebrauch des Seelsorgebegriffes vor Augen hat. Indessen ist auch beim hallischen Begründer der Ästhetik die religiöse Dimension der angemahnten Seelsorge nicht zu übersehen. In seiner Philosophischen Ethik wird nämlich aus dem Selbstvervollkommnungsaxiom auch die Verbundenheit des Menschen zur Religion abgeleitet. Hatte § 10 diesen ethischen Grundsatz formuliert (perfice te), folgt in § 11, im ersten Paragraphen des Teils über die ›Pflichten des Menschen gegen Gott‹, sogleich dessen Adaption auf die Religion: Weil die formal vollkommene Erkenntnis des material vollkommensten Gegenstandes, des ens perfectissimum, für den Erkennenden eine Realitätssteigerung bedeutet126; weil die Religion mit dieser Erkenntnis wesentlich zur Glückseligkeit beiträgt127 und weil überhaupt die menschliche Natur auf die Religion hin angelegt ist128, daher stellt die 122
Ebd. AaO. 504. 124 Eth. § 197: »Te et res tuas cura«. 125 Vgl. Eth. § 202. 126 Eth. § 11: »Ens perfectissimum uberius, dignius, verius, clarius, certius, ardentius nosse est realitas. M. § 36. Ergo gloria Dei in te ponit realitatem. M. § 947.« 127 Eth. § 13: »Religio est pars tuae beatitudinis, M. § 947«. 128 Eth. § 14: »Natura tua consentit ad religionem, M. 949 […]. Ergo religio statum tuum moralem facit consentire cum natura. M. § 947 […] hinc te perficit. […] Ergo obligaris ad religionem«. 123
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Religion für den Menschen eine Vervollkommnung dar: religio te perficit.129 Daraus folgt unter Berücksichtigung der Selbstvervollkommnungsmaxime: adeoque obligaris ad religionem. Das Streben nach Vervollkommnung seiner selbst schließt Baumgarten zufolge das Streben nach – möglichst vollkommener – Gotteserkenntnis mit ein, und das ist auch im Rahmen der Schulphilosophie gleichbedeutend mit dem Trachten nach der Ehre und Verherrlichung Gottes.130 In dieser Hinsicht konvergiert Baumgartens Philosophische Ethik ganz mit Langes Ansichten Von der höchsten Würde in Ausbreitung der Ehre Gottes. Der nämliche Zusammenhang von Vollkommenheitsstreben und Religion begegnet dann auch wieder in den Kapiteln über die ›Pflichten gegen sich selbst‹ und die ›Pflichten gegen andere‹. Innerhalb Ersterer ist das Religionsthema mit der Forderung der Vervollkommnung des Erkenntnisvermögens implizit angesprochen, insofern diese, wie bereits erwähnt, neben der formalen auch eine materiale Seite hat. Das Streben nach Verbesserung des Erkenntnisvermögens beinhaltet bei Baumgarten auch das Trachten nach Erkenntnis von hinsichtlich des Vollkommenheitsgrades möglichst hochstehenden Gegenständen. Hier steht selbstverständlich das höchste bzw. vollkommenste Wesen, das ens perfectissimum, an erster Stelle,131 und insofern sind die Ausführungen im Religionskapitel, die oben132 als Programm einer Ästhetisierung der Religion ausgewiesen wurden, der Sache nach vorgezogene Explikationen eines speziellen Aspekts der Pflichten gegen sich selbst. Das Streben nach möglichst vollkommener, und das heißt vor allem: nach möglichst ›lebhafter‹ und ›lebendiger‹ Gotteserkenntnis, welche allein aus der ästhetischen Darstellung der Gottesidee resultieren kann, ist nach Baumgarten gewissermaßen der höchste Ausdruck des Strebens nach Selbstvervollkommnung. Da das grundlegende Vollkommenheitsstreben auch die Vollkommenheit der anderen mit einschließt,133 verwundert es nach alldem nicht, dass zu den Pflichten gegen andere auch das studium propagandi religionem gezählt wird:134 das Bemühen, die Erkenntnis respektive Ehre Gottes »auszubreiten«
129
Vgl. ebd. Vgl. Met. § 947 (»Gloria dei & illustratio eius sunt religio.«) und § 949 (»Ergo religio est finis creationis ultimus«). 131 Vgl. DE § 657: »Weil der Mensch verbunden ist, nach so vieler Erkäntniß zu trachten, als ihm zu erlangen möglich ist […]; GOtt aber unter allen Dingen, die wir erkennen, das allervollkommenste ist (§. 1083. Met.) […]: so ist auch der Mensch GOtt zu erkennen verbunden.« 132 Kap. 2.3. 133 Vgl. Eth. §§ 10. 301ff. 134 Vgl. Eth. § 367ff; dem entsprechen die §§ 118ff und überhaupt der Begriff der Verherrlichung Gottes (§ 11: illustratio gloriae divinae). 130
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bzw. für die Nachwelt »fortzupflanzen«135, was von Baumgarten als der beste Dienst an der Menschheit apostrophiert wird.136 Selbiges Bemühen hat denn auch die Erziehung zu bestimmen, die zwar einerseits das Ziel »formaler« Vervollkommnung hat, also der Entfaltung und Übung der verschiedenen Fertigkeiten der Seele, die aber andererseits bei der cultura ingenii et indolis, der »Bearbeitung«137 von »Gemüths-Faehigkeit«138 und »GemüthsArt«139, auch auf »materiale« Vervollkommnung aus ist und eine Geistesund Charakterbildung zu gewähren sucht, durch die nicht zuletzt der »Grund gelegt« wird für des Zöglings »ungetrübte ewige Glückseligkeit«.140 Daher legt Baumgarten dem Erzieher nahe – ganz im Sinne der Pädagogik der Francke’schen Bildungseinrichtungen, die er selbst als Schüler und Lehrer durchlaufen hat –, dass bereits die ersten Übungen des intellektuellen Vermögens »inhaltlich möglichst hochstehend« sein sollten, und er empfiehlt dafür »beispielsweise die Stoffe der Religion«141. Die Sorge für die Seele der Mitmenschen, der Einsatz für deren »Vervollkommnung«, der im Kapitel über die Pflichten gegen andere thematisch ist, umfasst wie für den pietistischen Theologen Francke auch für den im hallischen Pietismus aufgewachsenen Philosophen die Sorge für deren religiöses Seelenheil und mithin die Sorge für ihre Gotteserkenntnis und -verehrung. Wie der Begriff der Vervollkommnung dabei nach seiner materialen Seite auf die religiösen Gehalte der Seelsorge verweist, deutet sein formaler Aspekt in diesem Zusammenhang darauf hin, dass für den Autor der Aesthetica bei dem fraglichen Bemühen ästhetische Mittel unverzichtbar sind, weil es allein mit deren Hilfe zu der für das Gemüt höchst förderlichen ›lebhaften‹ und ›lebendigen‹ Erkenntnis des höchsten Wesens kommen kann.142 Wie die verschiedenen begrifflichen Anklänge bereits vermuten lassen und wie an späterer Stelle weiter auszuführen sein wird, liegt auch Pyras Konzeption vom Erhabenen als Mittel der Seelsorge ganz auf dieser Linie, insofern er das Erhabene entsprechend als Inbegriff gelungener poetischer Gestaltung religiöser Stoffe begreift. Der Ausblick auf verschiedene Schlüsselgestalten des Hallenser Geisteslebens in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, so lässt sich als Zwischenresümee festhalten, hat das theologisch-philosophische Bezugssystem der 135
Vgl. Eth. § 453. Vgl. Eth. § 367. 137 Met. § 646. 138 Met. § 648. 139 Met. § 732. 140 Vgl. Eth. § 453: »educatio integrae aeternae felicitatis fundamenta iaciens«. 141 Eth. § 454: »Prima huius exercitia sint etiam, quae possunt, materialiter optima, […] qualia religionis semina«. 142 Vgl. dazu Kap. 2.3. 136
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Eröffnungspassage von Pyras Abhandlung Über das Erhabene sichtbar gemacht. Wenn Pyra das Erhabene als ein Mittel der Seelsorge auffasst, das die Menschen auf den ihnen von Natur aus vorgegebenen Weg zur Hoheit »zurückruft«, ihr natürliches Trachten nach Vervollkommnung erweckt, um sie ihrer schöpfungsgemäßen Bestimmung entsprechend auf höhere Stufen des Seins zu tragen, dann ist das nicht nur eine eigenwillige Adaption longinischer Gedanken durch einen christlich-religiösen Schwärmer und auch nicht der Versuch einer poetologischen Enteignung von Grundlehren christlicher Theologie, sondern eine beachtliche Synthese von Motiven des antiken Traktats mit dem wechselseitig sich durchdringenden theologischen und philosophischen Denken führender Köpfe seiner Hallenser Umwelt. In Anknüpfung an die platonisierenden Elemente von Peri Hypsous – die Rede vom ›Aufschwung der Seele‹, vom ›Eros des Großen‹ und vom Erhabenen als ›Widerhall von Hochsinnigkeit‹143 – unterlegt Pyra seiner Theorie des Erhabenen ein metaphysisch-religiöses Bild vom Menschen, das für den Überschneidungsraum von ›Pietismus‹ und ›Aufklärung‹ im Halle der 1730erund 1740er-Jahre als typisch gelten kann. Was es mit dem Erhabenen auf sich hat, wird demnach erst in Gänze deutlich, wenn es in seiner Beziehung zur Natur des Menschen betrachtet wird. Diese gottgegebene Natur wiederum besteht wesentlich in der Bestimmung zur Hoheit, zur Hoheit nämlich von Religion und Tugend. Um diese Bestimmung aber tatsächlich zu verwirklichen, um auf dem Weg ›nach oben‹ zu bleiben und die vorgezeichneten Höhen wirklich zu erreichen, braucht der Mensch in seiner Schwäche Hilfe. Er bedarf der Seelsorge, und weil die Natur der Seele nach der grundlegenden Einsicht der Schulphilosophie darin zu erblicken ist, Vorstellungskraft zu sein, muss die fragliche Seelsorge im Wesentlichen darauf abzielen, die Seele mit möglichst vollkommenen Vorstellungen vom Hohen und Höchsten zu versorgen, auf dass sie sich ihm in der Vorstellung nahen, sich auf den Schwingen der Vorstellungskraft in die entsprechenden Höhen erheben kann. Das Mittel der Sorge für diesen Aufschwung der Seele, in dem der Mensch sein Wesen erfüllt, ist, mit einem Wort, das Erhabene. Dass in einer derartigen anthropologischen Interpretation der antiken rhetorischen Kategorie nicht der willkürliche Einfall eines intellektuellen Einzelgängers zu erblicken ist, sondern eher die pointierte Zusammenfassung zeitgenössischer Tendenzen, soll im Folgenden anhand von zwei weiteren Dokumenten aus dem Hallenser Umkreis Pyras belegt werden.
143
S.o. Teil I/Kap. 5.
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3.2.3. Ästhetische Apologie der Religion: Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier 1748, vier Jahre nach Pyras Tod, veröffentlicht S. G. Lange in der ersten zusammen mit G. F. Meier herausgegebenen Wochenschrift (Der Gesellige, 1748–50) Betrachtungen über das Erhabene in der Religion. Der Artikel ist schon deshalb beachtenswert, weil er das Erhabene – bereits im Titel – ausdrücklich mit der Religion in Verbindung bringt. Lange, der Pyras Bemerkung in den Aufzeichnungen Über das Erhabene zufolge in der Begeisterung für das Hohe mit diesem »gleich gesinnet«144 war, verfolgt dabei auch ein dezidiert theologisches Ziel. Mit dem Verweis auf die Kategorie des Erhabenen und auf den antiken »Kunstrichter« Longin soll nämlich die Position der »Gottesleugner« entkräftet werden: Es ist in der That eine grosse Schande für das menschliche Geschlecht, daß man ist genöthiget gewesen, auf abstracte und metaphysische Beweise zu denken, durch welche man die Wahrheit der Religion darthut. […] Setzen diese Beweise nicht voraus, daß es solche Elende unter den Menschen gibet, welche nicht so viel Hoheit der Seele besitzen, als nöthig ist, um eine so erhabene Sache, als die Religion ist, mit Beyfall einzusehen? Alle diejenigen verrathen die lächerliche und unendliche Kleinigkeit ihres Geistes, welche das Grosse in der Iliade nicht empfinden können; und ein Kunstrichter hält es selbst für einen Beweis des Erhabenen in den Homerischen Gedanken, wenn kleine Geister dasselbe nicht gewahr werden können. Um wie viel kleiner muß nun nicht der Geist der Gottesleugner, der Religionsspötter seyn, da sie keine Empfindungen von dem Erhabenen in der Religion haben? Sie mögen also immerhin spotten; sie sind die Perraultianer mitten unter den Anhängern und Verehrern der Gottheit.145
In Anspielung auf die französische Querelle des anciens et des modernes, den poetologischen Streit zwischen Boileau und Perrault insbesondere um die Erhabenheit Homers,146 tituliert Lange die »Religionsspötter« seinerseits spöttisch als »Perraultianer« auf dem Gebiet der Religion. Wie es im Sinne Longins, der das hypsos als Reflex von Seelengröße begreift, umgekehrt als Zeugnis der »Kleinigkeit« des Geistes zu gelten hat, wenn einer keinen Sinn für das Erhabene in den homerischen Epen aufbringt, so verraten erst recht die Verächter der Religion einen beträchtlichen Mangel an Größe des Geistes bzw. der Seele147, »da sie keine Empfindungen von dem Erhabenen in der Religion haben«148. Analog der in Peri Hypsous dargetanen Korrespondenz 144
ÜE 55. BER 573. 146 S.o. Kap. 1.1.1. 147 Wenig später spricht Lange davon, dass »man keinen tiefsinnigen Beweis für die Wahrheit der Religion führen« müsste, wenn nur »alle Menschen« eine ausreichend »grosse Seele besässen« (BER 575). 148 BER 573. 145
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zwischen dem rhetorischen Phänomen des Erhabenen einerseits und einem psychologischen (›Eros des Großen‹) bzw. tugendethischen Sachverhalt (›Hochsinnigkeit‹) andererseits149 wird die Religion mit der ihr eigenen Erhabenheit von Lange mit einem menschlichen Sinn für Größe als dem anthropologischen Korrelat alles Erhabenen in Beziehung gesetzt. Dieser Sinn kann in der menschlichen Seele vorhanden oder auch nicht vorhanden bzw. entfaltet oder auch nicht entfaltet sein. Hätten alle Menschen genügend »Hoheit der Seele« und würden – so lässt sich unter Hinzuziehung der späteren Äußerungen Langes über die Würde des Menschen formulieren – damit ihrer natürlichen Bestimmung zur Hoheit gerecht, dann wären alle metaphysischen Anstrengungen zum Erweis der Wahrheit der Religion überflüssig. Denn: »Die Religion ist sowol für den Verstand, als auch für das Herz eines vernünftigen Wesens, die alleredelste, erhabenste und majestätischste Sache.«150 Dieser Satz scheint die These zu beinhalten, dass die Religion einer recht gebildeten, ausreichend »hohen« Seele schon aufgrund ihrer Erhabenheit fraglos als wahr gelten müsse. Erhabenheit impliziert demnach im Falle der Religion eigentlich Selbstevidenz – eine Evidenz, die nur bei »kleinen Geistern«, also bei Nichtentfaltung der bestimmungsgemäßen Geistes- oder Seelengröße, nicht Platz greifen kann. Ein Mensch, der die Wahrheit der Religion in Zweifel zieht oder gar leugnet, gerät gewissermaßen in einen Widerspruch zu seiner eigentlichen hohen Natur, zu deren voller Verwirklichung der Bezug auf die Religion als der »alleredelsten, erhabensten und majestätischsten Sache« konstitutiv ist.151 Der psychologische Ort, an dem sich die Wahrheit der Religion als evident erweist, ist Lange zufolge nicht der Verstand, auf den die »abstracten und metaphysischen Beweise« der klassischen Apologetik zielten, sondern die Empfindung. Denn wie sich die Hoheit der Seele in literis daran erweist, ob einer die Erhabenheit der »homerischen Gedanken« empfinden kann, so bemisst sich selbige Hoheit auf dem Felde der Religion daran, ob einer eine »Empfindung von der allererhabensten Sache«152 hat oder nicht. Der Inanspruchnahme des ästhetischen Begriffs des Erhabenen für die Verteidigung der Religion entspricht eine Verlagerung der Evidenzlast vom Intellektuellen ins Affektive. Die Empfindung der Erhabenheit der Religion bezeugt die 149
S.o. Teil I/Kap. 5. BER 573. 151 Den Gedanken, dass die menschliche Natur auf die Religion hin angelegt ist, formuliert A. G. BAUMGARTEN in Eth. § 14: »Natura tua consentit ad religionem […]. Ergo religio statum tuum moralem facit consentire cum natura. […] hinc te perficit. […] Ergo obligaris ad religionem«. Vgl. zum schulphilosophischen Begriff der obligatio naturalis D. HÜNING: Christian Wolffs Begriff der natürlichen Verbindlichkeit als Bindeglied zwischen Psychologie und Moralphilosophie. 152 BER 577. 150
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Zusammenstimmung der Religion mit der menschlichen Natur und mithin ihre Wahrheit. Es stellt sich nun gleichwohl die Frage, worin denn die behauptete Erhabenheit der Religion näherhin besteht. Lange zufolge sind hier vor allem die »erhabnen Begriffe[ ] von der Gottheit«153 zu nennen. Wie elend sind nicht diejenigen, welche bis zu diesen Begriffen sich nicht erheben können. Ein Mensch, der Gott nicht kennt, oder leugnet, ist ein kleiner Geist, der nicht groß und weit genug ist, um gleichsam nur den schwachen Grundriß des Begrifs von der Gottheit zu fassen. Er dehne seinen Geist noch so weit aus; er stelle ihn auf die grösste Höhe, erhebt er sich nicht bis zur Gottheit, so klebt er immer noch an der Endlichkeit.154
Die »allererhabenste Sache« ist die Religion der zitierten Passage nach vor allem deshalb, weil sie den Menschen »auf die grösste Höhe« erhebt, indem sie ihn mittels der Gottesvorstellung über die Endlichkeit hinausführt. Mithilfe der »erhabnen Begriffe von der Gottheit«, dem unendlichen Wesen, schwingt sich der menschliche Geist zu seiner bestimmungsgemäßen Hoheit auf, erweitert sich, seinem wesensgemäßen Umfang entsprechend, zum Begriff des Unendlichen. Findet dieser Aufschwung, diese Erweiterung mangels Religion nicht statt, dann bleibt das Gemüt unter den in ihm angelegten Möglichkeiten, bleibt, um eine Wendung Pyras aufzugreifen, an dem »unglücklichen Staube«155 der Endlichkeit »kleben«. Dann erhebt sich der Mensch nicht nach der himmlischen, gottähnlichen Seite seines Zwitterwesens, sondern bleibt ein »kleiner Geist«: nicht Gott ähnlich, sondern einem erdverhafteten Tier, das auf die höhere Würde wahrer Menschheit verzichtet.156 Es ist bemerkenswert, dass Lange hinsichtlich des durch die Religion eröffneten Unendlichkeitsbezugs des Menschen auch den Begriff der ›Großmut‹ gebraucht, das zeitgenössische Äquivalent für den longinischen Schlüsselterminus megalophrosynê. So zeigt sich Lange im Blick auf seine Ausführungen überzeugt, dass sie mindestens bei entsprechend disponierten Gemütern ihr apologetisches Ziel nicht verfehlen werden: »Diese Gedanken müssen nothwendig die Religion allen edlen und großmüthigen Seelen anpreisen.«157 Dementsprechend lassen sich bei Lange Konturen eines Erhabenheitsbegriffes erkennen, der dem longinischen Konzept vom Erhabenen als »WiederHall der Großmuth« – so Pyras Übersetzung der einschlägigen Stelle158 – strukturell nahe kommt, wenngleich er anders als in Peri Hypsous 153
BER 575. Ebd. 155 ÜE 51. 156 Vgl. dazu den schönen Titel des 54. Stücks von Der Mensch: ›Etliche Menschen sind nur eingepökeltes Menschenfleisch‹ (1751). 157 BER 577. 158 ÜE 44; vgl. De subl. 9,1. 154
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von vornherein dezidiert religionstheoretisch gewendet wird. Der Erhabenheit in Poesie und Religion korrespondiert sonach aufseiten des Menschen eine Anlage zur Geistes- und Seelengröße, die sich auf der höchsten Stufe ihrer Entwicklung als ein Unendlichkeitssinn darstellt, angesichts dessen die Religion mit ihren »erhabenen Begriffen von der Gottheit« sich als höchste Realisierung der menschlichen Natur und damit zugleich als wahr erweist. Dabei oszilliert Langes Beschreibung zwischen einer eher kognitiven und einer eher affektiven Fassung des besagten Unendlichkeitssinnes. Denn einerseits wird dieser als Fähigkeit angesprochen, den »Begriff von der Gottheit zu fassen« und so den »Geist« über das Endliche »zur Gottheit zu erheben«. Andererseits liegt der Schlüssel zur wahren Großmut Lange zufolge in den »Empfindungen von dem Erhabenen in der Religion«. Die nachgezeichneten Betrachtungen über das Erhabene in der Religion fügen sich ohne weiteres in das entstehende Bild des Ideals von Hoheit und Erhabenheit, wie es um 1740 aus dem hallischen Ineinander von Pietismus und Aufklärung hervorgeht und dabei verschiedene Motive aus Poetologie und Metaphysik sowie aus theologischer und philosophischer Anthropologie in sich vereinigt. Den Hintergrund dieses Ideals gibt die schulphilosophische Metaphysik zunehmender Vollkommenheit ab, in die sich das Erhabene als Inbegriff des vollkommeneren und vollkommensten Seienden bzw. – überführt in eine Logik der Höhe – als Inbegriff der höheren und höchsten Stufen des Seins zwanglos einfügt. Vor diesem Hintergrund führt der Begriff des Erhabenen schon deshalb notwendig auf die Religion, weil deren Gegenstand das vollkommenste bzw. höchste Seiende ist und somit Inbegriff eines erhabenen Gegenstandes. Der metaphysische Rahmen des fraglichen Ideals begründet einen natürlichen Konnex zwischen dem Erhabenen und der Religion. Der betreffenden »Metaphysik des Erhabenen« korrespondiert wiederum eine »Anthropologie des Erhabenen«, die sich in der Vorstellung einer menschlichen Bestimmung zur Hoheit ausspricht. Dabei ist die Behauptung einer naturgegebenen Anlage, eines angeborenen Strebens nach Vollkommenheit bzw. Hoheit impliziert. Im Kern besteht jenes Ideal demzufolge in dem Gedanken, dass der zur Hoheit geborene Mensch sich vermittels des Erhabenen zur Erfüllung seiner Bestimmung und mithin zu hoher Menschlichkeit und Würde sowie, als letztem Ziel jener Bestimmung und als konstitutivem Aspekt solcher Würde, zur religiösen Verehrung des höchsten Wesens heranzubilden hat. Selbiger Gedanke wird von Lange zur These eines natürlichen Unendlichkeitsstrebens des menschlichen Geistes weitergeführt und zu einer anthropologischen Rechtfertigung der Religion in Anspruch genommen. Demnach erfährt die Religion ihre maßgebliche Plausibilisierung nicht durch die rationale Beweisführung der philosophischen Theologie, sondern durch die Empfindung des Erhabenen in den religiösen
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Vorstellungen. Der Begriff des Erhabenen dient bei Lange der Fundierung eines neuen, ästhetischen Typs von Apologetik, der ausdrücklich als Alternative zum klassischen Modell einer Begründung der Religion durch rationale Gottesbeweise ins Feld geführt wird. Fehlt bei Lange im betreffenden Artikel eine poetologische Weiterführung der Gedanken ›über das Erhabene in der Religion‹, finden sich entsprechende Andeutungen bei Langes Freund G. F. Meier, und zwar in der zwei Jahre früher erschienenen Untersuchung Einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks der Deutschen, in Absicht auf die schönen Wissenschaften (1746), die sich im Zusammenhang der Auseinandersetzungen zwischen Gottsched und den Schweizern gegen den rhetorischen und poetologischen Rationalismus Leipziger Provenienz richten.159 Die Untersuchung beklagt das Eindringen der »trocknen mathematischen Lehrart«160 aus der (Wolff’schen) Philosophie in Rede und Dichtung, mokiert sich über die deutsche Neigung zur Reimerei der Kasualpoesie, warnt vor dem verderblichen Einfluss von Roman und abgeschmacktem Theater und anderes mehr. Unter alledem thematisiert sie – wohl nicht zuletzt unter dem Eindruck des Streits um die Bewertung von Miltons Paradise Lost – auch das vernachlässigte Verhältnis von Poesie und Religion. In diesem Kontext fällt mehrfach der Begriff des Erhabenen. Wie Lange sieht Meier einen Zusammenhang zwischen dem Erhabenen und der Religion, und auch er erblickt diesen Zusammenhang in den erhabenen Vorstellungen der Letzteren. Denn diese »erfült die Gemüter« Meier zufolge … mit gewissen erhabenen ehrwürdigen und wunderbaren Begriffen, welche sonst nirgends anders woher entstehen können. Selbst die Andacht führt etwas reitzendes und entzückendes mit sich, welches das Gemüt über die Sphäre der Endlichkeit erhebt.161
Das »Erhabene in der Religion«, um die nachmalige Formulierung Langes zu gebrauchen, sind ihre unerreichbar erhabenen »Begriffe« bzw. deren Wirkung auf »die Gemüter«. Soweit ist die Aussage des zitierten Absatzes klar. Schwieriger ist es zu rekonstruieren, was Meier mit dem zweiten Satz der Passage zum Ausdruck bringen will. Es ist, ähnlich wie bei Lange, von einer »Erhebung« des Gemüts »über die Sphäre der Endlichkeit« die Rede, und es liegt nahe, dieses als Näherbestimmung besagter Wirkung der religiösen Begriffe zu lesen. Freilich wird die besagte Erhebungswirkung nicht unmittelbar den erhabenen Begriffen der Religion zugeschrieben, sondern einem Moment von ›Reiz‹ und ›Entzückung‹, das wiederum der (ganz unvermittelt eingeführten) ›Andacht‹ beigelegt wird, also – so wird man den 159
Vgl. H.-J. KERTSCHER/G. SCHENK: Nachwort und Textkommentare, 201ff. UVG 69. 161 UVG 76. 160
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Begriff ganz allgemein umschreiben können – der Gemütsverfassung innerlicher religiöser Gestimmtheit.162 Es lässt sich dem Abschnitt ein guter Sinn abgewinnen, wenn man entsprechend unter ›Andacht‹ den Zustand der Erfülltheit des Gemüts durch die erhabenen Begriffe der Religion versteht. Demnach erläutert der zweite den ersten Satz derart, dass er einerseits mit den klassischen rhetorischen bzw. ästhetischen Begriffen ›Reiz‹ und ›Entzückung‹ noch einmal eigens die ästhetische Signatur des religiösen Vollzuges herausstreicht, die mit der Attribuierung der religiösen Begriffe als ›erhaben‹ und ›wunderbar‹ bereits angedeutet war. Zudem beschreibt Satz 2 das spezifisch Religiöse des religiösen Vollzuges, der nach seiner kognitiven Seite durch den Bezug auf bestimmte ›erhabene‹ Begriffe gekennzeichnet ist, metaphorisch als Erhebung des Gemüts über die Endlichkeit. Die damit angesprochene Transzendierungsleistung schreibt er ausdrücklich der ästhetischen Dimension jener Begriffe zu: dem ›Reizenden‹ und ›Entzückenden‹, das die erhabenen und wunderbaren Begriffe der Religion der Andacht verleihen. Nicht die hohen Begriffe der Religion in abstracto, sondern in ihrer anschaulich-erhabenen Gestalt rufen Andacht hervor und erheben das Gemüt in die Sphäre des Unendlichen.163 Aus der spezifischen Erhabenheit der Begriffe der Religion und aus der damit angesprochenen ästhetischen Bedingtheit des religiösen Vollzuges zieht Meier daraufhin poetologische Schlussfolgerungen. Ihm geht es darum, den mit dem Erhabenen berührten Zusammenhang von Ästhetik und Religion auch für die Dichtung fruchtbar zu machen. Denn: Ein Gedicht, welches demnach, ausser den übrigen Schönheiten der Poesie, mit den Religionssätzen des Dichters angefült ist, bekommt, in Absicht auf ihn und seine Glaubensverwanten, eine gantz besondere und ungemeine Schönheit.164
Mehr als alle Schönheiten der poetischen Gestaltung und mehr als alle anderen Stoffe vermag ein religiöser Gehalt einem Gedicht ästhetischen Wert zu verschaffen, »eine gantz besondere und ungemeine Schönheit«. Meier spricht damit einen wesentlichen Beweggrund der zeitgenössischen Tendenzen aus, die üblicherweise als Sakralisierung der Poesie bezeichnet werden. Es mag dabei ganz so scheinen, als strebe der Hallenser Aufklärungsphilosoph hier just jene Funktionalisierung religiöser Gehalte für die Erzeugung von Schönheit und mithin von ästhetischem Lustgewinn an, die gemeinhin mit dem Begriff der Ästhetisierung der Religion assoziiert wird.
162
Vgl. W. SCHÜTZ: Art. Andacht. S.u. Kap. 5.3. Werden die Begriffe der Religion hingegen »auf eine elende Art« (UVG 76) vorgebracht und mithin vorgestellt, ermangelt es ihnen an der beschriebenen Wirkung. S.u. Kap. 3.4.2. 164 UVG 76. 163
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Bei näherem Hinsehen stellt sich der Sachverhalt komplexer dar. Zwar zielt Meier mit der poetologischen Empfehlung religiöser Stoffe tatsächlich auf eine extraordinäre Schönheit, es darf aber nicht übersehen werden, dass er von den »Religionssätzen des Dichters« spricht, welche seiner Dichtung für »ihn und seine Glaubensverwanten« diese »besondere und ungemeine Schönheit« verleihen. Die erstrebte ›Schönheit‹ ist anscheinend in irgendeiner Weise von der Geltung der poetisch verarbeiteten Glaubenswahrheiten abhängig. Es ist damit derselbe Gesichtspunkt berührt wie kurz zuvor, wo die – in der vorliegenden Darstellung bisher unterschlagene – Einschränkung gemacht wird, die Religion erwecke bei denjenigen erhabene Begriffe, »die sie für wahr annehmen«165. Die mit der poetischen Inanspruchnahme dieser Begriffe intendierte ›Schönheit‹ setzt beim Produzenten wie beim Rezipienten die Wahrheitsannahme voraus. Das heißt offenbar, dass diese besondere ›Schönheit‹ nicht rein ästhetischer Natur ist, sondern sich selbst aus religiöser Quelle speist. Das »Besondere« und »Ungemeine« an der fraglichen Qualität ist augenscheinlich gerade der Umstand, dass sich in ihm ästhetische und religiöse Dimension durchdringen. Das wird insbesondere daran deutlich, dass der betreffenden ›Schönheit‹ von Meier explizit religiöse Wirkungen zugesprochen werden. Solche Wirkungen hatten einst die Dichtungen Homers und Vergils, deren ›Schönheit‹ durch den Niedergang der heidnischen Religion empfindlich gelitten hat.166 Gleiches wäre indessen auch von zeitgenössischen Poeten zu erreichen, so Meier, würden sie ihren Werken die »erhabenen Wahrheiten«167 des Christentums zugrunde legen: Die heydnischen Dichter haben diese Schönheit, durch die Mythologie, ihren Gedichten verschaft. Sie gaben sich selbst für begeisterte Personen aus, und riefen die Musen an. Sie führten in allen ihren Gedichten ihre Gottheiten nach der Analogie ihres Glaubens an, und man kan sagen, daß sie dadurch der Dichtkunst ungemein aufgeholfen, und sie mit Gedancken angefült, welche in einem Heyden Ehrfurcht, Andacht und Bewunderung gewürckt haben. Wir Deutschen rauben unsern Gedichten mehrentheils diese hohe Schönheit.168
165
Ebd. Vgl. ebd.: »Unsere deutsche Dichter bedienen sich […] der Mythologie, und wenn sie […] die heydnischen Gottheiten […] anführen, so machen sie bey einem Christen keinen Eindruck, wenigstens können sie die heiligen Gedancken nicht verursachen, die daher bey einem Heyden entstehen.« 167 UVG 77. 168 UVG 76; vgl. 96: »Die Heyden hielten ihre Gottheiten für würckliche Gottheiten. Ihre Dichter konten also, durch die Einführung dieser chimärischen Wesen, die poetische Wahrscheinlichkeit, das Erhabene, das Rührende, das Wunderbare erreichen. Allein wir Christen wissen, daß diese Gottheiten erträumet sind. […] Die heilige Schrift, und die Tradition der Juden und Christen geben uns den Stof zu einer christlichen Mythologie, wenn mir dieses Wort erlaubt ist. Milton hat hier schon die Bahn gebrochen, und er hat den Tasso zu seine[m] Vorgänger gehabt. Herr Klopstock hat, durch seinen schöpferi166
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Die von Meier anvisierte ›hohe Schönheit‹, welche durch die erhabenen Begriffe der Religion erzeugt werden kann, zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie bei den Anhängern der entsprechenden Religion religiöse Resonanz zeitigt: »Ehrfurcht, Andacht und Bewunderung« und, mehr auf kognitiver Ebene, »heilige Gedancken«169. Insofern sie nicht allein auf ein ästhetisches Vergnügen zielt, gehört die ins Auge gefasste Qualität der Dichtung, die Meier mit den Ausdrücken ›besondere‹, ›ungemeine‹ oder ›hohe Schönheit‹ beschreibt, also nicht mehr allein der Sphäre des Geschmacks im engeren ästhetischen Sinne an. Vielmehr ragt das Ästhetische mit der ›hohen Schönheit‹ religiöser Poesie gewissermaßen in das Gebiet der Religion hinein, in welchem dem Geschmack nach dem weiten schulphilosophischen Begriff eine maßgebliche Rolle zukommen muss; ist er doch, wie Meier im Gefolge Wolffs und Baumgartens anderwärts definiert, das »Vermögen, die Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten, auf eine sinnliche Art, zu erkennen«170. Als derartige vernunftähnliche Sensibilität für das Vollkommene, die, wie das Nebeneinander von Vollkommenheits- und Hoheitssemantik bei Pyra zeigt, ohne weiteres auch als Sinn für das Hohe beschrieben werden kann, ist der Geschmack für die religiösen Strebungen der Seele insofern konstitutiv, als sie dem Vollkommensten und Höchsten gelten. Darum ist die Verbesserung oder »Bildung«171 des Geschmacks mit rhetorischen und literarischen Mitteln, auf die Meiers Untersuchung Einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks der Deutschen insgesamt zielt, in seinen Augen für die allgemeine religiöse Kultur in hohem Maße relevant.172 So tut die Poesie der Religion keinen Abbruch, wenn sie sich ihrer Gehalte annimmt. Indem sie selbst nach der ›hohen Schönheit‹ trachtet, die schen Geist, diese Sache noch verbessert. Ich wünschte, daß unsere grossen Dichter diese eröfnete Laufbahn betreten möchten, so würden wir eine gantz neue poetische Welt bekommen, welche unter uns mehr gute Dienste thun würde, als die alte poetische Welt, welche wir in unsern aufgeklärtern Zeiten nicht anders als ein Chaos betrachten können.« 169 UVG 76. Vgl. zum ästhetischen Terminus des ›Gedankens‹ unten Kap. 3.4.2. 170 TLG § 65. 171 UVG 76. 172 Zum Geschmacksbegriff und der allgemeinkulturellen Tragweite einer »Verbesserung des Geschmacks« bei G. F. Meier und in seinem Umfeld vgl. F. SCHÜMMER: Art. Geschmack, 451f. Vgl. S. J. BAUMGARTEN: Vorrede (1746). Nach Baumgarten »ist selbst alle Beförderung und Vermerung des guten Geschmacks unter den Menschen dienlich und brauchbar eine richtige Beurtheilung des Guten und Bösen auf eine mittelbare und entferntere Weise zu befördern, ja sogar gottesdienstlicher Blindheit und Schwermerey zu begegnen […]. Die Leidenschaften, Einbildungskraft und Witz der Menschen bleiben nie unwircksam, und können von der menschlichen Natur nicht getrennet w[e]rden: je weniger sie demnach bearbeitet, ausgebessert, in regelmäßige Ordnung gebracht und auf eine anständige Art beschäftiget werden; je eher und leichter brechen sie in die ungezämteste Ausschweifungen aus, mit einem so wilden Feuer, das sonderlich in gottesdienstlichen Sachen gar häufig viel Unheil angerichtet« (unpag.).
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»sonst nirgends anders woher entstehen« kann als vonseiten der Religion, leistet sie dieser vielmehr zugleich einen wertvollen Dienst. Denn zum einen verschafft sie ihr im Gemüt des Rezipienten aktuell kognitive wie affektive Geltung, zum anderen hilft sie damit in demselben einen für die Religion maßgeblichen Habitus zu entwickeln: jenen Sinn für das Hohe, dessen Bildung nach Maßgabe der schulphilosophischen Ethik elementarer Bestandteil der umfassenden Vervollkommnung des Menschen ist. Im Trachten des Dichters nach ›hoher Schönheit‹ wird nicht nur die Religion zum thematischen Fundus der Poesie, sondern zugleich wird die Poesie zum ästhetischen Medium der Religion: zum Medium des religiösen Vollzugs sowie der religiösen Bildung des Menschen. Doch zum Leidwesen beider unterbleibt die Verschränkung von Religion und Poesie nach Meiers Einschätzung weitgehend, was er als eine der »Ursachen des verdorbenen Geschmacks der Deutschen« ausmacht. »Wir entfernen unsere Gedichte mehrentheils von der christlichen Religion«, und »so fehlt ihnen doch dasienige erhabene, welches allein mit der Religion verbunden ist«173. Meier beklagt, dass die zeitgenössische Dichtung sich der erhabenen Begriffe der (christlichen) Religion entschlägt und damit ohne Not auf eine ansonsten unerreichbare Qualität verzichtet – und er belegt diese religiös-ästhetische Qualität, jene ›ungemeine‹, ›hohe Schönheit‹, mit dem Begriff des Erhabenen. Mit der Religion begibt sich die Poesie des Erhabenen und verzichtet auf die Chance, zum Medium der Andacht zu werden. Sie verliert damit jene unersetzbare Kraft, welche »das Gemüt über die Sphäre der Endlichkeit erhebt«174. Vor dem Hintergrund dieser Problemanzeige verwundert es nicht, mit welcher Emphase Meier zwei Jahre später die ersten Gesänge von Klopstocks Messias (1748) begrüßt. »Ich bin gleich bey der ersten Durchlesung«, bekennt der Nachfolger auf A. G. Baumgartens Hallenser Lehrstuhl für Philosophie, »so starck durch die erhabenen und rührenden Gedancken bewegt worden, daß ich mich an diesem Gedichte nicht satt lesen kann.«175 Das christliche Epos Klopstocks löste die von Meier erhobene Forderung der Synthese von Religion und Dichtung geradezu idealiter ein, und es erweist damit dem Christentum nach dessen Überzeugung einen unschätzbaren Dienst: Die gantze Stärcke der Poesie zeigt sich in demselben [sc. in Klopstocks Messias; M.F.], auf die prächtigste Weise. Und da das aufmercksame Lesen desselben das 173
UVG 76. Ebd. Vgl. S. J. BAUMGARTEN: aaO., wonach der biblische Schatz »sinreicher Betrachtungen erhabener Vorstellungen und lebhafter Bilder […] einen unleugbaren Einflus in den menschlichen Geist hat, denselben zu beleben aufzumuntern und über sich selbst zu erheben«. 175 BHM 92. 174
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Hertz mit den gottseligsten Empfindungen anfült, wenn man anders kein Ruchloser ist, so kan dieses Gedicht beydes den guten Geschmack und die Frömmigkeit befördern. Das letzte komt in unsern Tagen recht zu gelegener Zeit. Man fängt an, es häufig für ein Zeichen der Dumheit oder des Betrugs zu halten, wenn man ein Christ ist. Solche Gedichte aber, als der Meßias, sind geschickt das Erhabene und Heroische in unserer Religion zur Beschämung der Spötter fühlbar zu machen. […] Unser Dichter thut mehr zur Befestigung der christlichen Religion, als mancher Gottesgelehrter, welcher auf die allerorthodoxeste Art seinen Glauben vertheidiget.176
Deutlich tritt nun auch bei Meier der Gedanke einer »ästhetischen Apologie des Christentums«177 hervor. In einer zunehmend kritischen Atmosphäre, in der die christliche Religion mehr und mehr als philosophisch rückständig und moralisch fragwürdig gilt, bedarf es neuer Wege zu deren »Befestigung«. Statt sie mit den Argumenten der herkömmlichen Apologetik rational zu rechtfertigen, kommt es nach Meier darauf an, die Zeitgenossen auf affektive Art von der Wahrheit des Christentums zu überzeugen. Solches leiste eine christlich-religiöse Poesie, die mit den ästhetisch-psychologischen Potentialen der Dichtung »das Erhabene und Heroische in unserer Religion«, ihre menschlich-übermenschliche Hoheit, »fühlbar« und, so ist zu ergänzen, ihre Wahrheit gefühlsmäßig gewiss zu machen vermag. Wird auf diese Weise das Herz des Lesers, sofern nicht seine natürlichen humanen Regungen wie bei einem »Ruchlosen« verschüttet sind, »mit den gottseligsten Empfindungen« erfüllt, dringen die spöttischen Stimmen – von außen und womöglich von innen – nicht mehr bis zu der durch die eigentümliche Evidenz des Erhabenen innerlich gewonnenen Gewissheit vor. Das Erhabene markiert bei Meier, so lässt sich rückblickend zusammenfassen, einen Schnittpunkt von Poesie und Religion. Es bezeichnet den Umstand, dass sich die Poesie religiöser Stoffe bzw. Wahrheiten annimmt und diese so wirkungsvoll gestaltet, dass ihr dabei eine religiöse Dimension zuwächst, die sich von den übrigen poetischen Schönheiten als ›ungemeine und hohe Schönheit‹ abhebt. Umgekehrt steht das Erhabene für den Sachverhalt, dass sich die Religion poetischer Mittel bedient und dadurch eine seelenerhebende Wirkung erlangt, die sie ohne solche Mittel schwerlich erzielen könnte. Diese Wirkung des Erhabenen verleiht der Religion zugleich eine spezifische Überzeugungskraft, die sie gegenüber dem aufkommenden Zweifel an ihrer Wahrheit stabilisiert. Im Hintergrund dieser Konzeption steht wie bei Lange die Ansicht, dass die religiöse Sphäre generell die denkbar erhabensten Gegenstände bzw. Begriffe umfasst, allen voran den Begriff von Gott als dem Inbegriff aller Vollkommenheit. Ferner verbindet Meier, ähnlich wie Lange, mit dem Erhabenen das Motiv der sich über die Endlichkeit hinausschwingenden Seele sowie die religiösen Seelen176 177
BHM 94. E. MÜLLER: Ästhetische Religiosität, 61.
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zustände Ehrfurcht, Andacht und Bewunderung. Schließlich berührt sich seine schulphilosophische Auffassung vom Geschmack als – mehr oder weniger ausgebildetem – Vermögen vernunftanaloger Beurteilung des Vollkommenen mit Langes Postulat einer der menschlichen Wesensnatur eignenden Empfindung für das Erhabene. Das in Meiers Untersuchung implizierte Programm einer allgemeinen Geschmacksbildung zielt demnach mit der Werbung für die ästhetische Gestaltung des Religiösen durch erhabene Poesie – auch eine entsprechende Verbesserung der Kirchenlieddichtung wird in diesem Zusammenhang angemahnt178 – nicht zuletzt auf die Entwicklung des angeborenen Sinnes für das Hohe und mithin auf die Ausbildung einer religiösen Sensibilität. Der im Geschmacksbegriff der Schulphilosophie enthaltene Sinn für das Hohe führt zurück zum Ausgangspunkt des vorliegenden Kapitels, zu dem von Pyra im Zusammenhang der These von der Bestimmung des Menschen und im Gefolge Longins postulierten Trachten des Menschen nach Hoheit. Die Bedeutung dieses Postulates für die Signatur des Erhabenen wird im Lichte von Langes und Meiers einschlägigen Reflexionen noch deutlicher; scheint doch bei beiden die Annahme eines entsprechenden natürlichen Strebens durch, das jeweils als Unendlichkeitsstreben gefasst wird. Das Erhabene wird von den herangezogenen Ästhetikern im Umkreis Baumgartens sämtlich mit einer Neigung innerhalb der menschlichen Natur in Verbindung gebracht, die Schleiermacher ein halbes Jahrhundert später als »Streben nach dem Höheren«179 bezeichnet und als fundamentale »religiöse Anlage«180 begreift. Selbige religiöse Anlage wird unter den Voraussetzungen der schulphilosophischen Psychologie und Ästhetik der Jahrhundertmitte als Verlangen nach hohen Vorstellungen verstanden, anhand derer sich die Seele, metaphorisch gesprochen, über den Kreis des Endlichen er178 Vgl. UVG 76: »Ich bin gut dafür, daß der gute Geschmack der Deutschen in der Dichtkunst, auch so gar unter dem gemeinen Manne, allgemeiner seyn würde, wenn die Kirchenlieder poetischer wären. Denn dieselben sind die Muster, wonach die meisten ein Gedicht beurtheilen. Wenn in einem Gedichte von der christlichen Religion gar nichts gesagt wird, oder wenn wol gar die Mythologie angebracht worden, so wird es von den meisten nicht gelesen, sondern als eine Schulfuchserey verachtet. Wenn aber die elendsten Reime nur eine christliche Wahrheit, in der Melodie eines Kirchengesanges, abhandeln, so wird es gebilliget. Der Geschmack der Deutschen würde also eine ungemeine Verbesserung erhalten, wenn wir entweder lauter wahrhaftig poetische Kirchenlieder hätten, oder wenn viele andere gute Gedichte verfertiget würden, in welchen mehr Christenthum enthalten wäre.« Meiers Mahnung greift gut zwei Jahrzehnte später G. W. ZAPF: Von dem Erhabenen der Dichtkunst in den geistlichen Liedern (1769) wieder auf. Der Erhabenheitsbegriff fungiert auch hier als Inbegriff der poetischen Gestaltung des Religiösen. 179 F. D. E. SCHLEIERMACHER: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), 145 (Originalpag.). 180 AaO. 144.
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heben kann. Solche »Erhöhung unsrer Seele«181, wie Pyra in seinem Erweis formuliert, ist innerhalb der Hallenser Ästhetik wesentliche Funktion und maßgebliches Definitionsmerkmal des Erhabenen. In der Konstellation von pietistisch geprägter Theologie, platonisierender Hoheitsanthropologie und Aufklärungsästhetik wird das Erhabene als diejenige Qualität ästhetischer Darstellung konzipiert, das die religiöse Anlage des Menschen anspricht, ihn in Andacht versetzt und besagte Erhöhung bewirkt – eine Erhöhung, die nach ihrer kognitiven Seite eine Frage erhabener Vorstellungen ist, deren religiöse Qualität sich aber wesentlich in der affektiven Dimension des Gemüts erweist: in der Empfindung von Ehrfurcht und Bewunderung. Nachdem im Ausgang von Pyra die anthropologischen Grundaxiome des Hallenser Erhabenheitsdiskurses zwischen 1735 und 1755 freigelegt worden sind, ist im Folgenden wieder zum Fragment Über das Erhabene zurückzukehren, um von da aus eine weitere theologische Linie innerhalb der zeitgenössischen Debatten in Deutschland zu verfolgen. An der schrifthermeneutischen Longin-Rezeption wird sich zeigen lassen, dass die longinische Leitidee selbst in der Prinzipienlehre der protestantischen Theologie ihre Spuren hinterlassen hat – und umgekehrt die Bibelhermeneutik im Begriff des Erhabenen.
3.3. Das Erhabene in der Heiligen Schrift 3.3.1. Die Bibel als Muster des Erhabenen Wie bereits die Entstehung des Essays Über das Erhabene im Zusammenhang der Longin-Übersetzung deutlich macht, verdankt Pyra die Entdeckung seines anthropologisch-poetologischen Ideals dem heidnischen Traktat Vom Erhabenen. Die oben zitierte Eloge auf den »königlichen Bau«182 von Peri Hypsous weist freilich noch auf eine zweite antike Quelle hin, die für Pyras Poetik des Erhabenen maßgebend ist. Denn immerhin endet die metaphorische Begehung des Traktats in der »geweihten, stillen Capelle«183 des Schlosses, also bei Longins Lobrede auf das mosaische Fiat lux. Erst die Zitierung und Preisung der Heiligen Schrift durch Longin erweckt beim begeisterten Leser neben »lauter prächtigen Vorstellungen« auch »erhaben fromme Gedanken« und macht die antike Abhandlung damit zur vollkommenen Darstellung des Hohen.184 Die naheliegende Vermutung, die bereits sich andeutende religiöse Konturierung des Erhabenen bei Pyra habe wo181
Erw. 66. ÜE 53. 183 Ebd. 184 Ebd. 182
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möglich nicht unwesentlich mit dessen Bibelfrömmigkeit zu tun, kann sich zudem auf explizite Äußerungen des hallischen Dichtertheologen stützen. So heißt es bereits im zweiten Absatz des Fragments Über das Erhabene: Damit ich alle Einwürfe auf einmal niederschlage; So berufe ich mich auf das Verfahren Gottes selbst. Wozu hat er seine geheiligte Schriften Menschen eingegeben, und vorlegen laßen, als Sterbliche göttlich tugendhaft und glücklich zu machen? Wie sind den[n] seine annehmungswürdige Unterweisungen beschaffen? Leuchten sie nicht durchaus von einer recht himlischen Hoheit? […] Soll denn das nicht nützlich seyn, was der weiseste, als ein Mittel, seine seeligen Absichten zu treffen, erwehlet hat[?]185
Gott selbst wird von Pyra als vorbildlicher Autor erhabener Rede vorgestellt. Gott selbst habe bei der Inspiration der Bibel den von ihm eingegebenen Schriften die Gestalt »himmlischer Hoheit« verliehen, um seine Unterweisungen bei den Menschen »annehmungswürdig« zu machen und so den Sterblichen zum Heil, zu Göttlichkeit, Glück und Tugend zu verhelfen. Wer wiederum von den sterblichen Rednern und Dichtern entsprechend »seelige Absichten« verfolgt – wozu sie Pyra zufolge kraft ihres Amtes verbunden sind186 –, der muss auch den göttlichen Autor der Schrift nachahmen und eben jene spezifische Qualität des Hohen zu verwirklichen suchen, die aus der Bibel überall hervorleuchtet.187 Pyra verschweigt nicht, dass er die Entdeckung dieser poetischen Qualität in den »geheiligten Schriften« demselben Autor schuldet, der ihn überhaupt auf das Ideal der hohen Rede gestoßen hat, nämlich Longin und seiner Lobrede auf Gen 1: Werde ich lieblose Urteile besorgen dürfen [lies: müssen; M.F.], Wenn ich nicht verhöle [lies: verhehle; M.F.], daß ich[,] durch diese Stelle des Longins [sc. das Genesiszitat in Peri Hypsous 9,9; M.F.] gereitzt, in der Lesung der Schrift unter einer heiligen Bewunderung auch diese von Gott selbst eingedrückten Vorzüge bemerckt [sc. habe; M.F.]?188
Schon angesichts der wenigen angeführten Bemerkungen des Essays zeichnet sich ab, dass die spezifisch religiöse Akzentuierung, die am Erhabenheitsbegriff des jungen Dichters und Theologiestudenten bereits zutage trat, nicht zuletzt einem bibelhermeneutischen Impuls folgt. Die Beurteilung des mosaischen Fiat lux durch den heidnischen Rhetor öffnet dem christlichen Leser der Schrift die Augen für gewisse ihr »von Gott selbst eingedrückte Vorzüge«. Im Lichte von Longins Genesisinterpretation und 185
ÜE 51f. Vgl. ÜE 52. 187 Vgl. die biblischen Exempel im Erhabenheitsparagraphen (§ 85) von G. F. MEIERs Anfangsgründen. Meier führt Ps 114,3.4; Ps 18,8–16 und Jes 40,12–16 an. Von der letztgenannten Stelle heißt es: »Diese Gedanken übertreffen alles Erhabene, was im Homer von dem Jupiter gesagt wird« (ASW 171). 188 Vgl. ÜE 54. 186
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ihrer Schlüsselkategorie »bemerkt« der christliche Leser eine spezifische poetologische »Vollkommenheit«189 der Schrift, die in ihm eine »heilige Bewunderung« gegenüber dem Wort Gottes hervorruft. An dieser Beschreibung lässt sich bereits ablesen, dass die Entdeckung der Erhabenheit der Heiligen Schrift auch auf die in Anschlag gebrachte Kategorie selbst zurückwirkt. Denn diese Entdeckung geht im Rahmen der schrifttheologischen Inspirationsvorstellung einher mit dem Bewusstsein der göttlichen Herkunft der Bibel und mit der entsprechenden »heiligen Bewunderung« gegenüber dem heiligen Text, und so bekommt die Rede vom Erhabenen einen genuin religiösen Klang. Insofern die Erhabenheit der Schrift »von Gott selbst eingedrückt« wurde, scheint sie geradezu als poetologische Spur der Göttlichkeit der Bibel zu firmieren. – Nun meint Pyra sich aufgrund seiner bibelhermeneutischen Entdeckung gegen gewisse »lieblose Urteile« verwahren zu müssen. So fährt er fort: Habe ich dis [sc. jene Vorzüge zu bemerken; M.F.] nicht thun sollen? Hat man aber mehr Recht, die Hoheit die Vortreflichkeit, die Volkommenheit dem Worte Gottes selbst abzusprechen? Nein, gotloß wäre das; man giebt es zu.190
Dem zu erwartenden Vorwurf der Frommen, die Suche nach poetischen Qualitäten in der Heiligen Schrift sei schon im Ansatz verfehlt, weil die Frömmigkeit nur nach dem Gehalt des göttlichen Wortes frage und alle formalen »Vorzüge« als äußerliches Wesen geringachte, hält Pyra das theologische Vollkommenheitspostulat entgegen: Hinsichtlich des Wortes Gottes die poetische Qualität der Hoheit zu leugnen, hieße, seine formale Vollkommenheit zu leugnen und mithin die Vollkommenheit im Ganzen, was der Leugnung seiner Heiligkeit bzw. Göttlichkeit gleichkomme.191 Auch der
189
Ebd. Ebd. 191 Eine derartige Entsprechung von Form und Inhalt der Bibel konstatiert auch J. F. BUDDE: Institutiones theologiae dogmaticae (1723) unter dem Stichwort der ›Heiligkeit‹ der Schrift: »Nec dogmata scripturae tantum sancta sunt, sed eo quoque sermonis genere proponuntur, in quo summa gravitas pariter, ac sanctitas elucescit. Nihil enim, quod leve, aut turpe, vel obscenum sit, vel speciem quamdam vitii animis lectorum obiicere queat, in scriptura sacra deprehenditur« (143). S.u. Kap. 3.3.2. S. J. BAUMGARTEN: Vorrede, stellt fest, dass durch die Einsicht in ihre poetologische Vollkommenheit »unstreitig die Hochachtung der heiligen Schrift […] nicht wenig erleichtert, bestätiget und erhoben werden kan. […] Überdis würde es gewis manchen Gesängen und Red[en] der heiligen Schrift ergehen, wie dergleichen mit andern schätzbaren Meisterstücken der Beredsamkeit und Dichtkunst geschehen, daß sich Liebhaber derselben daran nicht sat, müde und überdrüßig lesen können, und bey keiner Wiederholung unempfindlich bleiben mit steigendem Wachstum der Bewunderung und Hochachtung« (unpag.). Der letzte Satz dürfte auf den Topos aus De subl. 7,3 vom wiederholten Anhören anspielen. 190
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schlichte Einwand, das Wort Gottes sei »doch nicht dazu gegeben[,] die RedeKunst daraus zu lernen«192, verfängt nach Pyra nicht. Er entgegnet: Ganz recht. Ist es den[n] aber nicht die Richtschnur und das Muster unsrer Reden von g[ö]ttlichen Dingen, frage ich abermals? Wollte Gott! Da[ß] nicht so viele bey andern h[ä]tten lernen wollen, was sie hier lernen sollten; ja stat dieses lebendigen Stromes aus unreinen Pfützen geschöpfet und dis Opfer des Altars besudelt und entheiliget hätten! […] Aber das Hohe in der Biebel, und noch darzu nach der Anleitung eines Heiden zu suchen, welch ein Gräuel wird das bey Leuten heißen müßen, die immer auf die Einfalt dringen!193
Dem Argument, die Bibel sei ein Offenbarungs-, kein Rhetoriklehrbuch, begegnet Pyra mit einer Differenzierung: Zwar sei die Bibel kein Lehr- oder Musterbuch für die Rhetorik (oder Poetik) im Allgemeinen, und überhaupt, so ließe sich ergänzen, liege ihr eigentlicher Zweck zweifellos in der Vermittlung der Heilswahrheiten und in der christlichen Erbauung der Menschen. Genau um dieses letzten Zweckes willen könne und müsse die Heilige Schrift gleichwohl auch als rhetorische bzw. poetologische »Richtschnur« dienen, nämlich als »Muster unsrer Reden von göttlichen Dingen«.194 Denn ein bestimmter, nämlich göttlicher oder heiliger Gehalt bzw. Zweck verlange, so kann als implizites Gegenargument aus dem Gesagten geschlossen werden, auch eine entsprechende Form, und genau für diese Entsprechung ist das Wort Gottes selbst das unübertroffene Paradigma.195 Es kann an dieser Stelle als vorläufiges Ergebnis notiert werden, dass der Entdeckung der Erhabenheit des göttlichen Wortes für die Entwicklung von Pyras Poetik des Hohen eine zentrale Rolle beizumessen ist. Im Hintergrund des neuen poetologischen Ideals erhaben-religiöser Dichtung steht die Erfahrung der durch Longin poetologisch sensibilisierten Schriftlektüre des Waisenhauszöglings. Die Erhabenheitstheorie hat hier gewissermaßen ein bibelhermeneutisches Fundament. Diese Fundierung beschränkt sich keineswegs darauf, dass die Bibel »als Bilder-Reservoir des Erhabenen«196, als besonders ehrwürdiger Fundus von gelungenen Beispielen hoher Rede angesehen wird. Vielmehr gilt Pyra die Heilige Schrift als Maßstab für die 192
ÜE 54. Ebd. 194 Vgl. H.-G. KEMPER: Empfindsamkeit, 259. 195 Ähnlich argumentiert einige Jahre später S. J. BAUMGARTEN: aaO. Auch seiner Ansicht nach ist die poetologisch informierte Lektüre der Bibel »sehr dienlich den Vortrag des wichtigen Inhalts der heiligen Schrift und die Ausbreitung der darin befindlichen Warheiten, ja den gesamten Zweck dieser götlichen Bücher und der darin enthaltenen nähern Offenbarung GOttes zu befördern, richtige und fruchtbare Erkentnis GOttes und seines Dienstes, herschende Liebe zur ächten Tugend und Has der Sünde andern beizubringen und jederman aufs nachdrücklichste zur U[e]bung dieser Warheiten zu überreden« (unpag.). 196 D. TILL: Das doppelte Erhabene, 284. 193
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erhabene Rede von göttlichen Dingen. Das Erhabene, wie es sich im heiligen Buch des Christentums durch Gott selbst verwirklicht findet, soll als Muster für die christlich-religiöse Rede oder Dichtung dienen. Die Wahrnehmung des Erhabenen in der Bibel ist also offenbar ein maßgeblicher Faktor für Pyras dezidiert religiöse Fokussierung der Erhabenheitstheorie. Mag man die bibelhermeneutische bzw. religionspoetologische Anwendung des Erhabenheitsbegriffs als Ästhetisierung der Schriftlektüre bzw. der religiösen Rede bezeichnen – es entspricht ihr allem Anschein nach eine Sakralisierung des poetologischen Begriffs selbst. Pyras Reflexionen zum Erhabenen bestätigen die Vermutung, die sich bereits bei Boileau nahelegte.197 Sie belegen die These, dass im Zuge der bibelhermeneutischen Rezeption des Erhabenen gewissermaßen eine Wechselwirkung zwischen Deutungskategorie und Deutungsgegenstand stattgefunden hat. Einerseits verstärkt die Applikation der Kategorie des Erhabenen auf die Bibel – durch Longins Genesiszitat vorbereitet – die Aufmerksamkeit auf die Sprachgestalt biblischer Texte (und religiöser Rede überhaupt). Andererseits treten an der poetologischen Kategorie, die schon bei Longin ins Ethisch-Metaphysische hinüberspielt, ihre religiösen Bezüge stärker hervor. Diese Wechselwirkungsthese soll im Folgenden weiter untermauert werden, indem der historische Hintergrund von Pyras bibelhermeneutischer Longin-Rezeption näher untersucht wird. Einen Hinweis auf den unmittelbaren historischen Kontext gibt Pyra mit dem Bezug auf potentielle Einwände gegen seine Bibelhermeneutik und die damit verschränkte Poetik des Erhabenen. Zum Schluss der letztzitierten Passage bringt der pietistisch erzogene Pyra den vermuteten Vorbehalt der Frommen auf den Begriff der ›Einfalt‹ und rekurriert damit auf eine Leitvorstellung insbesondere des hallischen Pietismus.198 Gemeint ist das Ideal, zugunsten eines innerlich-frommen Lebens allem äußerlichen Gepränge zu entsagen und gerade auch von Gott und göttlichen Dingen entsprechend ›einfach‹ oder ›einfältig‹ zu reden. Diesem Ideal und der korrespondierenden Hermeneutik der Simplizität199 scheint Pyras Versuch, seine Poetik der erhaben-religiösen Dichtung mit der Bibel zu legitimieren und an ihr zu exemplifizieren – und das »noch darzu nach der Anleitung eines Heiden« – diametral entgegenzulaufen. Pyra begegnet der entsprechenden Re197
S.o. Kap. 1.1.4. Vgl. zum Begriff J. JACOB: Einfalt. Zu einigen ästhetischen und rhetorischen Implikationen eines pietistischen Leitbegriffs; ferner D. TILL: aaO. 60ff; C. HENN: Simplizität, Naivetät, Einfalt. Studien zur ästhetischen Terminologie in Frankreich und Deutschland, 1674–1771. 199 Vgl. A. H. FRANCKE: Einfältiger Unterricht, Wie man die H. Schrift zu seiner wahren Erbauung lesen solle (1694). Die ›Einfalt‹ rangiert auch im Text als hermeneutischer Leitbegriff. 198
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serve gegenüber dem Hohen mit dem auf Longin und Boileau zurückgehenden Konzept des ›einfachen Erhabenen‹:200 Dafern sie [sc. die pietistischen Erhabenheitsverächter; M.F.] sich aber einbilden daß zwischen der Einfalt und Hoheit ein gänzlicher Wiederspruch walte, so kan ich Ihnen alle Versicherung voraus geben, daß sie durch diese Meinung ungemein sind getäuschet worden.201
Pyra rechnet auf »verständige Fromme«202, denen die Vereinbarkeit von Einfalt und Hoheit entweder aus eigenem Empfinden einleuchtet oder die aufgrund ihrer Bildung poetologisch auf der Höhe der Zeit sind und nicht mehr an den überholten Vorurteilen gegenüber dem Erhabenen festhalten, die auf der Verwechslung mit dem stilus sublimis beruhen. Denn die LonginLektüre klärt hinreichend darüber auf, dass das Erhabene »Einfältige Majestät«203 ist bzw. »edle Einfalt«204, wie Pyra später unter Vorwegnahme von Winckelmanns berühmten Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Mahlerei und Bildhauerkunst (1755) formuliert. Wie Pyra zu erkennen gibt, gehörte freilich auch er selbst keineswegs immer schon zu jenen »verständigen Frommen«. Auch der ehemalige Waisenhausschüler hat, so lässt sich aus den Andeutungen schließen, ganz im Sinne des hallischen Pietismus einen Widerspruch zwischen Einfalt und Hoheit empfunden, und zwar offenbar auch noch bei der ersten Begegnung mit Longins »scharfsinnige[r] Anmerkung über die Stelle aus der Sch[ö]pfungsGeschichte«205. Und er konnte seine Vorbehalte erst aufgrund der Entdeckung überwinden, dass jene Anmerkung »einen besondern Ruhm und Beyfall fast bey allen Gottesgelehrten«206 gefunden hatte: »Ihre Billigung hat mich einsehen laßen, daß man sich nicht an dem heiligsten Worte vers[ü]ndige, Wann man seine Hoheit bewundre.«207 Die Berufung auf die Zustimmung »fast aller« Theologen zur Genesisinterpretation Longins ist bemerkenswert. Sie weist auf eine Spur, die – abseits der geläufigen Bahnen der Ästhetikgeschichtsschreibung – zu einer theologischen Longin-Rezeption führt. Ihr ist im folgenden Abschnitt nachzugehen, um ein breiteres Bild vom Prozess der religiösen Akzentuierung des Erhabenen im Verlauf seiner schrifthermeneutischen Karriere zu gewinnen.
200
Vgl. D. TILL: aaO. 264ff. ÜE 54f. 202 ÜE 55. 203 Ebd. 204 FErw. 104; vgl. dazu D. TILL: aaO. 283ff; ferner A. LANGEN: Der Wortschatz, 364. Nach Langen findet sich die Formel vereinzelt im Spätpietismus. 205 ÜE 54. 206 Ebd. 207 Ebd. 201
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3.3.2. Die Longin-Rezeption in der protestantischen Dogmatik: Johann Franz Budde und Johann Jakob Rambach Die Theologie lag lange völlig außerhalb des Blickfelds der Begriffsgeschichte des Sublimen. In den einschlägigen Darstellungen kam als einziger Theologe in der Regel der Jesuit Pierre-Daniel Huet zu Wort – und damit ein dezidierter Gegner von Longins Lesart des Fiat lux. Dieser Befund schien auch ganz natürlich zu sein, insofern eine positive Bezugnahme auf eine ästhetisierende Schriftlektüre vonseiten der Theologie im Lichte des allgemein geltenden Säkularisierungsparadigmas undenkbar war. Seit Dietmar Tills 2006 erschienenem Forschungsbeitrag ist nun auch die Wirkung von Peri Hypsous auf die (protestantische) Hermeneutik und Dogmatik nicht mehr gänzlich terra incognita.208 Es sind damit auch im näheren zeitlichen und kulturellen Umfeld Pyras einige Gottesgelehrte in den Blick gerückt, die tatsächlich dem heidnischen Rhetor »Ruhm und Beifall« gezollt haben und die Pyra an der einschlägigen Stelle im Auge gehabt haben könnte. In Anknüpfung an Tills Forschungen soll diese Tradition nun näher in Augenschein genommen werden. Es wird dabei an Kontur gewinnen, was bei Pyra (und schon bei Boileau) von der Wechselwirkung zwischen der Erhabenheitskategorie und dem religiösen Grundtext des Christentums sichtbar wurde. Zunächst kann mit einiger Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass Pyra im Zusammenhang mit dem Streit um die sog. Wertheimer Bibel auf eine beistimmende Rezeption der longinischen Bewertung des Fiat lux gestoßen ist.209 Im Jahre 1735 war in Wertheim am Main eine Bibelübersetzung des Theologen Johann Lorenz Schmidt (1702–1749) erschienen, genauer: der Versuch einer freien, modernisierenden Bibelübertragung im Geist des wolffianischen Rationalismus.210 Es schloss sich eine umfangreiche publizistische Auseinandersetzung um die Legitimität dieses Unternehmens an, die bis etwa 1738 eine Flut von Anklage- und Verteidigungsschriften hervorgebracht hat. Dabei wird auch Longins Belobigung der Genesisstelle immer wieder gegen Schmidts Übertragung in Stellung gebracht.211 Der 208 D. TILL: aaO. Die Grenze von Tills ungeheuer materialreicher Darstellung ist ihr begrenztes Beweisziel: Till interessiert an den vorgeführten Texten im Grunde nur, inwiefern sich in ihnen die scheinbar gegenläufigen Momente Simplizität und Sublimität zum Begriff eines ›doppelten Erhabenen‹ vereinigen. Die Frage nach den Motiven der theologischen Rezeption des Erhabenheitsbegriffes wird zwar immerhin gestreift, aber m.E. viel zu einseitig (und falsch) beantwortet; vgl. dazu oben Kap. 1.1.4. 209 Vgl. zum Folgenden D. TILL: aaO. 213ff. Auch E. MÜLLER: Ästhetische Religiosität, ist der Ansicht, »daß die poetische Interpretation der Bibel vor dem Hintergrund der rationalistischen [sc. Wertheimer] Bibelübersetzung zum Thema wird« (59). 210 Vgl. U. GOLDENBAUM: Der Skandal um die Wertheimer Bibel. Die philosophischtheologische Entscheidungsschlacht zwischen Pietisten und Wolffianern; ferner E. HIRSCH: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 2, 417–437. 211 Vgl. D. TILL: aaO. 218ff.
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Verweis auf Longins Genesiszitat drängte sich geradezu auf, weil sich mit der Hervorhebung der Erhabenheit des Fiat lux die Differenz zwischen einer rationalistisch-prosaischen Übertragung, die nur auf die verständliche Mitteilung begründeter Wahrheiten abhob, und der gewohnten Übersetzung Luthers, die in größerer Nähe zum sakrosankten Text auch dessen sprachästhetische Kraft zur Geltung zu bringen schien, exemplarisch aufweisen und auf den Begriff bringen ließ. Schon der Vergleich des jeweils ersten Satzes der beiden Übersetzungen lässt erahnen, dass erst die Übertragung des Wertheimers, gewissermaßen als Kontrastfolie zur gängigen Luther-Bibel, manchem die Augen für jene sprachästhetische Dimension der Heiligen Schrift geöffnet haben könnte und dass der Streit um jene Übertragung daher womöglich die Anwendung der longinischen Leitkategorie auf die heiligen Schriften für viele in hohem Maße plausibel machte. Lautet Vers 1 der Genesis bei Luther: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde«, klingt er bei Schmidt wie folgt: »§ 1. Alle Weltkörper, und unsere Erde selbst, sind anfangs von Gott erschaffen worden.« Und Vers 3 – das berühmte »Und Gott sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht« – gibt Schmidt mit dem Satz wieder: »Es wurde aber bald auf derselben [sc. der Erde; M.F.] etwas helle, wie es die göttliche Absicht erforderte.« Schon diese kurze Gegenüberstellung macht begreiflich, dass die Verfremdung der vertrauten Worte durch die hochgradig nüchterne Übertragung des Wertheimers bei vielen frommen Zeitgenossen ein Sensorium für die poetische Dimension der biblisch-religiösen Sprache geweckt haben könnte. Wo selbst ein Gottschedianer wie Friedrich Wilhelm Stübner (1710– 1736), der die Wertheimer Bibel insgesamt sehr freundlich rezensiert, einräumen muss, dass die biblischen Worte bei Schmidt etwas an »Kraft […] verlieren«212, da muss überdies die religiöse Valenz jener poetischen Dimension vielen zu klarem Bewusstsein gekommen sein.213 So wäre es womöglich ohne die Debatte über die Wertheimer Bibel in Deutschland auch nicht zu der 212
F. W. STÜBNER: Art. Wertheim, in: Neue Zeitungen von gelehrten Sachen. Leipzig in der Zeitungs-Expedition, N.LXX. September 1735, 622–625, hier 624 (zit. n. U. GOLDENBAUM: aaO. 192). 213 Vgl. auch die Bemerkung eines anderen Gottschedianers, des Theologen J. G. REINBECK (1683–1741), der Wertheimer Übersetzung fehle es oftmals an »Nachdruck« (zit. n. Till, 221), und ihre Wiedergabe der Fiat-lux-Stelle erwecke keinen Eindruck von der »Krafft« Gottes (Auszug aus […] Vorrede zu dem dritten Theil seiner Betrachtungen über die augsburgische Confession, in: J. L. SCHMIDT (Hg.): Sammlung der Schriften, welche bei Gelegenheit des Wertheimischen Bibelwerks für oder gegen dasselbe zum Vorschein gekommen sind, Frankfurt/Leipzig 21738, 260–274, hier 261; zit. n. D. TILL: aaO. 221f). Die Bibelübersetzungen, die der Pietismus im 18. Jahrhundert hervorgebracht hat, haben selbstverständlich auch ihre Kritiker gefunden. Sie konnten aber nicht dieselbe öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen wie die Wertheimer Bibel; vgl. B. KÖSTER: »Mit tiefem Respekt, mit Furcht und Zittern«. Bibelübersetzungen im Pietismus.
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Longin-Konjunktur innerhalb der Theologie gekommen, von der eine Anmerkung zum Genesiszitat in der ersten veröffentlichten deutschen LonginÜbersetzung (1737) von Carl Heinrich Heineken (1706–1791) zeugt, wo es (mit einiger Übertreibung) heißt: »Denn man muß wissen, daß fast keiner […] von der christlichen Religion geschrieben habe, der nicht diese Stelle beybringe.«214 Pyra kann indessen auch im genuin akademischen Kontext auf die theologische Aneignung der Erhabenheitsidee gestoßen sein. So stammt eine der prominentesten Äußerungen über die Erhabenheit der Genesis aufseiten der Theologie von Johann Franz Budde (1667–1729), dem Lehrer Johann Jakob Rambachs. Er war Emanuel Hirsch zufolge »der gelehrteste und der fleißigste wissenschaftliche Theolog seines Zeitalters«215, und, wie Walter Sparn in einer grundlegenden Studie gezeigt hat, eine bemerkenswerte Übergangsgestalt zwischen den Epochen, insofern sich bei ihm Motive von Spätorthodoxie und eklektizistischer Frühaufklärung, von wolffianischer Philosophie und pietistischer Theologie verschränken.216 Im Übrigen dürfte er aufgrund seiner Affinität zum Pietismus auch unter Hallenser Theologen studiert worden sein. Bereits 1691 war unter Buddes Vorsitz in Jena eine philosophische Dissertation über die göttliche Dimension der menschlichen Rede verteidigt worden, die sich schon im Titel auf eine Stelle aus Peri Hypsous bezieht: ›JEION RHJORIKON, sive illud, quod in oratione divinum est, ad illustrandam sectionem XXXI Dionysii Longini‹217. In der Schrift selbst apostrophiert Budde Longin als »weitaus berühmtesten Rhetor« und gibt an, ihn »aufs höchste zu schätzen und immer vor Augen zu haben«.218 Die Prominenz Longins innerhalb einer theologischen Dissertation zu Zeiten der Hoch214 C. H. HEINEKEN: Vom Erhabenen, 78. Dass der Theologiestudent Pyra die Debatten zur Wertheimer Bibel verfolgte und nicht zuletzt in diesem Zusammenhang mit der theologischen Longin-Rezeption in Berührung kam, ist schon deshalb wahrscheinlich, weil sich sein enger Studienfreund S. G. LANGE mit der Schrift Harmonia Per Inflvxvm Stabilita: Das ist, Die durch einen erwiesenen Einfluss gewirckte Übereinstimmung der Wolfischen Philosophie mit dem Wertheimischen Bibelwerck (1737) an jenen Debatten selbst beteiligte. Er tat dies zwar nicht mit rhetorisch-poetologischen, sondern mit philosophischen Argumenten, indem er die gedankliche Verwandtschaft zwischen der Übersetzung und dem wolffianischen System aufzeigte und jene damit aus Sicht der hallischen Pietisten aufs stärkste diskreditierte. Aber Lange dürfte generell Interesse an dem fraglichen Diskurs genommen und dieses Interesse mit seinem Freund Pyra geteilt haben. 215 E. HIRSCH: Geschichte, Bd. 2, 319. 216 Vgl. W. SPARN: Auf dem Wege zur theologischen Aufklärung in Halle: Von Johann Franz Budde zu Siegmund Jakob Baumgarten; vgl. ferner E. HIRSCH: aaO. 319–335. 217 J. F. BUDDEUS: JEION RHJORIKON, sive illud, quod in oratione divinum est, ad illustrandam sectionem XXXI Dionysii Longini, Diss. Jena 1691. 218 Vgl. aaO. V/§ I (unpag.): »Istud me docuit Dionysius Longinus, Rhetor longe clarissimus, quem maximi facere, & in oculis semper ferre soleo.«
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orthodoxie ist bemerkenswert, zumal inzwischen die erhebliche wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung der Dissertationen an den altprotestantischen Fakultäten in den Blick gerückt ist.219 Nicht in den dogmatischen Kompendien, sondern in den Dissertationen fand in der akademischen Wissenschaftskultur der Orthodoxie die eigentliche Forschungsarbeit statt. Hier vollzogen sich dementsprechend zuerst die wissenschaftlichen Umbildungen, lange bevor sie sich in der Lehrbuchliteratur niederschlugen oder gar einem breiteren außerakademischen Publikum – das als solches ohnehin erst mit dem »Strukturwandel der Öffentlichkeit« (Habermas) in der Aufklärung entsteht – bekannt wurden.220 Anders als es die Erwähnung der Budde-Dissertation bei Till suggeriert,221 ist die im Titel genannte Stelle aus dem longinischen Traktat nicht das berühmte Genesiszitat. Es handelt sich vielmehr um Peri Hypsous 34,4222, wo es von Demosthenes heißt, er habe seine unerreichbaren rhetorischen Vorzüge »wie gottgesandte Gaben (denn sie menschlich zu nennen verbietet die Ehrfurcht)«223. Buddes Erläuterung dazu lautet: ›Er [sc. Longin; M.F.] meint, es sei durchaus frevelhaft, etwas menschlich zu nennen, worin man die Spuren der Gottheit (divinitatis vestigia) so handfest greifen kann‹224. In Anlehnung an Longins Theorie des Erhabenen und ihre religiösen Konnotationen versucht der Theologe an den verschiedenen Elementen des Rhetorischen – etwa an der zauberischen Kraft des Sprachrhythmus225,
219
Vgl. K. G. APPOLD: Orthodoxie als Konsensbildung. Das theologische Disputationswesen an der Universität Wittenberg zwischen 1570 und 1710 (2004). 220 Neben der Budde-Dissertation sind hier ferner – freilich aus späterer Zeit – zu nennen: CH. WOLLE: De eo quod sublime est in his Moseis verbis GENESJV FVS. Ad Longin. PERI UYOUS TMHM. J, Diss. Leipzig 1735; PH. D. KRÄUTER: Dissertatio philologico-critica de eo quod sublime est in oratione ad defendendum Longinum contra Werthemiensem interpretem et illustrandum Mosen Genes. I.3, Diss. Jena 1738; J. H. BENNER: De censura Dionysii Longini rhetoris in Mosen Genes. 1,3, Diss. Gießen 1739; A. L. WILKE: UYOS Scriptorum Divinorum e Longini excelsa disciplina expensum, Diss. Wittenberg 1758. Anders als für die Vorgenannten ist für Wilke die Erhabenheit der Genesis gar nicht mehr strittig, weshalb ihm auch eine Rekapitulation der Querelle du fiat lux überflüssig erscheint (vgl. 27). Im selben Jahr, in dem der erste Band der Göttinger Ausgabe von R. LOWTHs Vorlesungen über die heilige Poesie der Hebräer erscheint (s.u. Kap. 4), versucht er das Erhabene mithilfe der longinischen Theorie auch an anderen Stellen des Alten und Neuen Testaments aufzuweisen. 221 D. TILL: Das doppelte Erhabene, 159. 222 Nach der Kapitelzählung der modernen Ausgaben; Budde zitiert in der Dissertation die griechisch-lateinische Ausgabe von TANNEGUY LE FÈVRE von 1663. 223 Übers. R. BRANDT. 224 J. F. BUDDEUS: aaO. VI/§ II: »Sane nefas esse arbitratur illud humanum vocare, in quo tam manifesta divinitatis vestigia deprehendere licet«. 225 Vgl. aaO. IV. ›De eo, quod in Periodorum Compositione divinum est‹. Hier schließt sich Budde eng an De subl. 39 an.
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an der numinosen Erregung der Einbildungskraft im furor poeticus226 oder an dem geheimnisvollen Einfluss der Rede auf die Affekte227 – ein unbestimmtes divinum quid228, einen ›gewissen himmlischen Geist‹229 auszuweisen. In Frontstellung gegen den aufkommenden Rationalismus230 sollen damit innerhalb eines begrenzten Ausschnittes der Wirklichkeit »Spuren der Gottheit«231, Momente göttlicher Einwirkung auf die Welt, behauptet werden.232 226 Vgl. aaO. V. ›De eo, quod in Inventione divinum est‹. Im Anschluss an die Ausführungen zur phantasia in De subl. 15 hält Budde die Einbildungskraft (§ 1: imaginandi facultas) für das wichtigste Vermögen des Redners bzw. Dichters, das ein hervorragender Redner daher in außerordentlicher Ausprägung als natürliche Begabung mitbringen müsse. Gleichwohl bedürfe diese Begabung einerseits der ›Kunst‹ (ars), also der Ausbildung durch die rhetorische Regelkunde, andererseits aber und vor allem einer übernatürlichen Einwirkung, ohne die jedem Redner der Gipfel letzter Vollendung verschlossen bleibe: »Turpiter autem decipitur, si quis humanae cognitionis ambitu totum hoc, quantumcunque est, circumscribit. Quin Numine quodam repletum esse oportet, ac coelesti quasi furore percitum, qui ad summum sublimitatis hoc fastigium, ascendere annitur«; vgl. § II: »Divinamque & inusitatam imaginationis vim tota loquitur eruditorum natio.« 227 Vgl. aaO. VI. ›De eo, quod in commovendis affectibus divinum est‹. 228 AaO. passim: ›etwas Göttliches‹ oder ein ›göttliches Etwas‹; vgl. III/§ II: »divinum quid atque arcanum«. 229 Vgl. aaO. IV/§ II: »Et istud quidem est quod Dionysius Longinus […] disserit, sublimitatem orationis sine harmonia atque numero, neutiquam perfectam & omnibus modis absolutam statuens. Etenim si tibiarum ista vis est, ut insania compleant hominem, furiisque quasi concitatum in transversum agant, mox demulceant, & coelesti quodam Spiritu perfundant, ut deponere sibi videatur quicquid habet humanae sortis, quidni hominum sermo numerorum legibus attemperatus idem praestaret efficeretque?« Ferner ist die Rede von einem divinus quidam impetus (VI/§ II). 230 Als Beleg für die antirationalistische Stoßrichtung soll exemplarisch ein Satz zitiert werden, der sich im Kontext auf die Zergliederungsversuche der Rhetoren bezüglich des Phänomens der wohlklingenden Periode bezieht, der aber gleichwohl die Gesamttendenz der Dissertation treffend wiedergibt: »Nunquam tamen tanta subtilitate cuncta perscrutati sunt, ut non relinquerentur, quae divinum quid spirarent« (J. F. BUDDEUS: aaO. IV/§ I). 231 Das Motiv ist in der christlichen Theologie seit Augustin (vgl. z.B. De trin. 10,11) geläufig. Es findet sich etwa bei Thomas von Aquin (z.B. Quaest. disp. 9,7) und bei Melanchthon (z.B. Loc. com. 1535, De creatione) im Rahmen der Lehre von der natürlichen Gotteserkenntnis, ferner in der deutschen Mystik (»Fußspuren« oder »Fußstapfen Gottes«). Es gehört aber bereits dem Neuplatonismus an; vgl. G. LÜERS: Die Sprache der deutschen Mystik, 292. 232 Während die Kapitel IV bis VI, die sich explizit auf Longin berufen, Hauptthemen der klassischen Rhetorik behandeln (selbiges gilt auch von dem abschließenden Kap. VII. ›De eo, quod in gestibus, & externo oratoris habitu divinum est‹), gehen Kap. II und III dem divinum quid in den Grundelementen der Sprache bzw. Schrift nach: in den Buchstaben und Schriftzeichen (II. ›De eo, quod in literis, earundemque Characteribus divinum est‹; hier findet sich u.a. eine kritische Auseinandersetzung mit der kabbalistischen Buchstabenmystik) sowie in den Worten und Eigennamen (III. ›De eo, quod in vocibus nominibusque divinum est‹; hier kommt u.a. ein geschichtsmagischer Zusammenhang zwischen Herrschernamen und dem Schicksal der jeweiligen Reiche zur Sprache). Kap. I geht einleitend der Frage nach, wo göttliches Einwirken in den verschiedenen »Wissen-
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Gut 30 Jahre später taucht der Name Longin wieder in Buddes Dogmatik auf, in den Institutiones Theologiae dogmaticae (1723), und zwar innerhalb des Lehrstücks von der Heiligen Schrift. Dort werden u.a. verschiedene Argumente für die Inspiriertheit der Bibel angeführt. Eines dieser Argumente ist ihr unverwechselbarer stilistischer Charakter, den Budde mehrfach auf die Formel simplicitas cum summa maiestate coniuncta233 bringt. Innerhalb dieser ›mit höchster Majestät verbundenen Einfachheit‹ bestimmt Budde das Element der Einfachheit oder Einfalt folgendermaßen: Simplicitatem autem dum voco, eam sermonis virtutem intelligo, quae fucum omnem, adfectatum artificium, aut quidquid ad iactantiam & ostentationem facit, ab eo procul abesse demonstrat.234
Wenn ich aber ›Einfalt‹ sage, meine ich diejenige Qualität der Rede, die zeigt, dass alle Schminke, gesuchte Künstlichkeit, oder was zu Beifall heischender Prahlerei dient, ihr völlig fern steht.
Einfalt ist für Budde – ähnlich wie für Boileau235 – Natürlichkeit und Verzicht auf allen falschen Schein und konvergiert damit weitgehend mit jenem moralisch-religiösen und zugleich hermeneutisch-rhetorischen Ideal des Pietismus, auf das auch Pyra in seinem Traktat anspielt. Bemerkenswerterweise betont Budde daraufhin ausdrücklich, dass die fragliche Einfalt nicht mit dem niedrigen, schlichten Stil der Dreistillehre zusammenfalle. Laut Budde ist sie mit den verschiedenen Stilhöhen vereinbar, lässt sich also selbst gar nicht unter die Kategorie der Stilhöhe fassen.236 Gleiches gilt laut Budde für die charakteristische Verbindung von Einfalt und Majestät, welche man überall in der Schrift antreffe. Diese Identität der Spracheigenschaft trotz aller temporaler und lokaler Differenzen zwischen den einzelnen menschlichen Schriftstellern wertet Budde als Indiz für deren Inspiration »durch ein und denselben [sc. göttlichen; M.F.] Geist«237. Neben der Einfalt versucht Budde auch die spezifische Würde des biblischen Stils noch näher zu beschreiben. Negativ bedeutet diese »einzigartige Würde«, »dass in ihr [sc. in der Schrift; M.F.] nichts begegnet, was der göttlichen Majestät unwürdig wäre«238; und dass darin zweitens »nichts den schaften«, etwa in der Medizin oder der Magie, thematisch wird (I. ›De eo, quod in disciplinis divinum est in genere‹). 233 J. F. BUDDEUS: Institutiones Theologiae dogmaticae § 14, 138. Die Wendung kommt auch in der Abwandlung simplicitas cum summa gravitate coniuncta vor (vgl. ebd.). 234 Ebd. (Übers. M.F.). 235 Vgl. Réfl. X 554. 236 Vgl. J. F. BUDDEUS: aaO.: »Hinc nec diversitas stili, quae in scriptoribus sacris conspicitur, eius obstat simplicitati. Quantumvis enim sublimius dicendi genus in uno, planius autem, & facilius in alio conspiciatur, in nullo tamen fucati aliquid, aut adfectati, aut quod naturale non sit, deprehenditur.« 237 Ebd: »uno eodemque […] spiritu«. 238 Ebd: »… quod nihil in eo occurrat, quod divina indignum sit maiestate«.
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Leser beleidigt, was kindisch oder läppisch oder zu wenig schicklich wäre«239. Aber auch ein positives Kennzeichen jener Würde wird von Budde formuliert, nämlich »dass alles – gleichmaßen was zu glauben und was zu tun ist – so vor Augen gestellt wird, dass man leicht eine gewisse höhere Gewalt und die Autorität des Herrschenden erkennt«240. Inbegriff biblischer simplicitas cum summa gravitate coniuncta ist für Budde die prophetische Wendung sic dicit dominus241, mit der die Propheten »den göttlichen Ursprung ihrer Rede anzeigen« und »selbiger Rede damit eine einzigartige Majestät verleihen und eine einzigartige Gewalt, die Gemüter der Menschen zu erschüttern«242. Indessen ist sich Budde der Umstrittenheit der betreffenden Stilqualität durchaus bewusst, und er ruft daher eine neutrale Kapazität in Sachen Stilkritik zu Hilfe: Quam autem profani nostrae aetatis homines, in luce clarissima caecutientes, in stilo scripturae perspicere nequeunt gravitatem, maiestatemque, eam ex ipsis ethnicis in eo deprehendit Dionysius Longinus, rhetor clarissimus, adeoque idoneus in hacce caussa (!) iudex.243
Diese Würde und Majestät, welche die weltlich gesinnten Menschen unserer Zeit, die im hellsten Licht doch wie Blinde wandeln, im Stil der Schrift nicht entdecken können, diese hat selbst ein Heide in ihm gefunden: Dionysius Longinus, der hochberühmte Redner, der daher in dieser Angelegenheit ein kompetenter Richter ist.
Es folgt die einschlägige Stelle aus Peri Hypsous 9,9 samt Genesiszitat, auf Griechisch und Lateinisch (nach der zweisprachigen Ausgabe von Tanneguy Le Fèvre von 1663). Anschließend äußert sich Budde noch zur Frage der Bedeutung von Longins Schlüsselbegriff: Non equidem nescio, disputatum non ita pridem fuisse, num in verbis, an in rebus ipsis to? uÄyow, quod Longinus hic deprehendit, quaerendum sit? Mihi autem in ipsa verborum ad rei gravitatem adcommodatione id posuisse videtur. Rem enim maximi momenti ita Moses describit, ut ipsa sermonis brevitas, & summam imperandi potestatem arguens, 239
Freilich weiß ich meinerseits wohl, dass vor nicht allzu langer Zeit diskutiert wurde, ob das hypsos, das Longin hier ausmacht, in den Worten oder in den Sachen selbst zu suchen sei. Mir aber scheint es gerade in der Angleichung der Worte an die Würde der Sache zu liegen [wörtl.: gelegen zu haben]. Die Begebenheit des größten Augenblicks nämlich
Ebd.: »… ut nihil, quod puerile, aut leve, aut parum decorum sit, lectorem offendat«. 240 Ebd.: »… quod cuncta, credenda pariter ac agenda, ita proponantur, ut vim quamdam superiorem, & auctoritatem imperantis facile agnoscas«. 241 ›So spricht der Herr‹. 242 Vgl. ebd.: »Immo, haec ipsa formula, sic dicit dominus, qua divini subinde utuntur vates, ut divinam sermonis originem demonstrat, ita maiestatem singularem, vimque, animos hominum percellendi, sermoni ipsi conciliat; praesertim si conditio, notaque & perspecta virtus & integritas eius, qui ea utitur, respondeat.« 243 Ebd.
3. Poetologie religiöser Dichtung: Jakob Immanuel Pyra
rei ipsi egregie attemperata, plane divinum quid, & minime vulgare indicare videatur.244
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beschreibt Mose so, dass gerade die Kürze der Rede höchste Befehlsgewalt verrät und, der Sache selbst in hohem Maße angemessen, etwas ganz und gar Göttliches und in keiner Weise Gemeines anzuzeigen scheint.
Anscheinend rekurriert Budde auf die »nicht allzu lange« zurückliegende Querelle du fiat lux zwischen Boileau auf der einen und Pierre-Daniel Huet sowie Jean le Clerc auf der anderen Seite.245 Wie gezeigt worden ist, war ein wesentlicher Streitpunkt besagter Kontroverse tatsächlich die Frage, ob die von Longin konstatierte Erhabenheit des ersten Schöpfungsberichts in der Sprache (Boileau) oder lediglich in den geschilderten Sachen (Huet) begründet sei. Budde hebt die fragliche Alternative auf mit der These, die betreffende Schriftstelle sei aufgrund der Angemessenheit der Sprachgestalt in Bezug auf ihren erhabenen Gehalt selbst erhaben zu nennen – und nimmt damit Boileaus Auffassung des Sublimen auf und ein zentrales Theorem der Erhabenheitslehre der Hallenser (und nicht zuletzt Pyras) vorweg.246 Gerade in der schlichten Kürze der Gottesrede stelle sich höchste Befehlsgewalt dar, oder genauer: im Kontrastverhältnis von kurzer Rede und darin zum Ausdruck gebrachter ›Sache‹, nämlich der Macht zur Erschaffung des Lichts (respektive der ganzen Welt). Der Kontrast zwischen höchster Wirkung und knappstem Befehl lässt Budde zufolge etwas von der göttlichen Schöpfermacht sprachlich aufscheinen und verleiht der Stelle damit »etwas ganz und gar Göttliches«, welches die einzigartige Gewalt hat, »die Gemüter 244 AaO. 139. Die nämliche Stelle führt zwölf Jahre später CH. WOLLE: De eo quod sublime est (1735) an, um seine Dissertation damit als ausführliche Explikation von Buddes Auffassung der Erhabenheit von Gen 1 zu kennzeichnen: »Hoc eximii viri [sc. Buddei] iudicium eiusmodi est, ut ea, quae maiori verborum ac rationum circuitu nos hactenus disputavimus, omnia breviter circumscripteque complecti videatur« (61). Indem Wolles Schrift einen Überblick über die bis dato erschienenen Ausgaben und Übersetzungen von Peri Hypsous sowie über die zentralen Streitpunkte der Querelle du fiat lux zwischen Boileau, Huet, Le Clerc und anderen bietet, bringt sie gewissermaßen die deutsche Wissenschaft auf den Stand der westeuropäischen Debatte. Wolle selbst nimmt die Position Boileaus ein und versucht sie mit der Unterscheidung zwischen einem sublime rhetoricum – in etwa Boileaus stile sublime – und einem sublime philosophicum resp. metaphysicum zu untermauern (§ XXIII). Die ›metaphysische Erhabenheit‹ der mosaischen Schöpfungsschilderung liegt demzufolge darin, dass sie zur Darstellung der unendlich erhabenen Sache – Gottes Allmacht – mangels ausreichender sprachlicher Steigerungsmöglichkeiten (i.S. des sublime rhetoricum) zur nüchternen Sprache der Metaphysik greift, zur simplicitas dictionis Metaphysica (50). Die Erhabenheit der Gottesdarstellung liegt laut Wolle mithin nicht allein in der dargestellten Sache – so Huet und Le Clerc –, sondern gerade im Verzicht auf rhetorischen Aufwand, womit die Sprachgestalt dem Gehalt aufs beste entspricht. 245 S.o. Kap. 1.1.2 und 1.1.4. 246 Siehe dazu oben Kap. 1.1. und unten Kap. 3.4.
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
der Menschen zu erschüttern«. Daher ist eben diese Kürze die einzig angemessene sprachliche Gestaltung der darzustellenden Sache und ein hervorragendes Beispiel jener schrifttypischen simplicitas cum summa maiestate coniuncta, die das Menschenmögliche übersteigt und daher als Beleg für die Göttlichkeit der Schrift zu gelten hat.247 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die vorgeführten Reflexionen aus Buddes Dogmatik von 1723 Jakob Immanuel Pyra den Zugang zur Erhabenheit der Bibel eröffnet haben, sei es unmittelbar über eigene Lektüre, sei es mittelbar als Stichwortgeber für jene Gottesgelehrten, die in der Debatte um die Wertheimer Bibel Longin als Gewährsmann im Kampf für die überlieferte Sprachgestalt bzw. für die althergebrachte Übersetzung der Heiligen Schrift aufriefen.248 Schließlich können Buddes Gedanken zum Erhabenen auch über seinen Schüler Rambach auf Pyra gewirkt haben. Als einer der versiertesten pietistischen Theologen seiner Generation, ehemaliger Hallenser Professor und Schwager seines Herzensfreundes Lange,249 muss Rambach für den Theologiestudenten Pyra ein relevanter Autor gewesen sein, zumal er sich als religiöser Dichter und auch Dichtungstheoretiker einen Namen gemacht hatte.250 Und so kann Pyra sowohl in Rambachs lateinischer Hermeneutik (1735)251 als auch in seinen 1738 aus dem Nachlass herausgegebenen deutschen Erläuterungen zur Hermeneutik252 auf die zustimmende Erwähnung von Longins Genesisinterpretation gestoßen sein – und auf eben jenes Konzept einer simplicitas cum summa maiestate coniuncta, das Rambach (wörtlich zitierend) von Budde übernommen hat. Interessant an den Longin-Bezügen bei Rambach ist vor allem der Umstand, dass etwa zeitgleich mit Pyra ein weiterer pietistisch geprägter Theo247
Auch in dieser Schlussfolgerung berührt sich Budde eng mit Boileau; s.o. Kap.
1.1.4. 248 Auf die Auseinandersetzungen um die Wertheimer Bibel bezieht sich auch die bereits genannte Dissertation von PH. D. KRÄUTER: Dissertatio philologico-critica de eo quod sublime est (1738). Die Abhandlung zielt auf die gegen den »Wertheimer« sowie gegen Huet und Le Clerc gerichtete These »De DEO sublimi modo loqui possumus« und die damit vorbereitete Maxime, »ut [sc. homines] non nisi hac ratione de DEO loquerentur« (27), sowie auf die Verteidigung der »anthropopathischen« Redeweise von Gott, wie sie die Wertheimer Bibel durchgehend vermeidet (§ XIX). Die Dissertation von J. H. BENNER: De censura Dionysii Longini (1739) hingegen beharrt – allerdings ohne Nennung des Wertheimer Kasus – auf der Huet’schen Leugnung des Erhabenen in Gen 1. Hier sei lediglich eine Erhabenheit in re, nicht aber in cogitatione, geschweige denn in verbis anzutreffen. »Longinus igitur, id quod in rebus erat sublime, cum eo quod est in mente verbisque sancti scriptoris, confundit« (20f). 249 Vgl. K.-G. WESSELING: Art. Rambach. 250 S.o. Kap. 2.1. 251 J. J. RAMBACH: Institutiones hermeneuticae sacrae […] Cum praefatione Ioannis Francisci Buddei. 252 J. J. RAMBACH: Erläuterung über seine eigene Institutiones Hermeneuticae Sacrae.
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loge sich nicht nur überhaupt für die Integration poetologischer Reflexion in die Theologie öffnet, wie an seinen Ausführungen zur geistlichen Poesie gezeigt werden konnte,253 sondern sich innerhalb der Lehre von der Schrift (bzw. ihrer Auslegung) ausgerechnet auf Longin und seine Idee vom Erhabenen beruft, um den charakteristischen Stil der Bibel zu beschreiben. Es ist nun noch einmal näher nach den Motiven dieser theologischen Longin-Rezeption zu fragen. Der säkularisierungstheoretische Verdacht, die Applikation der Erhabenheitsidee auf die Schriftlehre diene der Etablierung einer rein ästhetischen anstelle der religiös-erbaulichen Bibellektüre, dürfte bei Rambach wie auch bei Budde von vornherein ausscheiden. Es müssen genuin theologische Beweggründe gewesen sein, die den Beifall der Gottesgelehrten zu Longins Genesisinterpretation provoziert haben – und die offensichtlich schwerer wogen als alle Vorbehalte gegen die Beachtung ästhetischer Kriterien bei der Auslegung der Schrift, »noch darzu nach der Anleitung eines Heiden« (Pyra)254. Ein wesentlicher Gesichtspunkt bei der theologischen Inanspruchnahme der longinischen Zentralidee ist bei Rambach und Budde offensichtlich ein apologetisches bzw. kontroverstheologisches Beweisziel. Der Ausweis der Erhabenheit der biblischen Schriften, verstanden als Verbindung von Einfalt und Majestät, soll als Beleg für den göttlichen Ursprung255 derselben, für deren Inspiriertheit dienen.256 So wird die Erhabenheit zunächst als eine Qualität angeführt, die ein notwendiges Kriterium für die Göttlichkeit der heiligen Schriften ist. Während einerseits ein bloßer sermo humilis der Hoheit des Inhalts und des göttlichen Sprechers unwürdig erschiene; während andererseits eine im grandiosen Stil vorgetragene Rede dem Verdacht verfiele, oberflächlicher Putz und mithin wiederum Produkt allzu menschlicher Rhetorik zu sein, beschreibt die als simplicitas cum summa maiestate coniuncta begriffene Erhabenheit die einzige Sprachgestalt, die für eine wahrhaft göttliche Rede infrage kommt. Ganz ähnlich argumentiert ja, wie gezeigt, auch Pyra, wenn er die Unmöglichkeit der Ableugnung der Erhabenheit der Bibel als einer formalen Vollkommenheit betont, und wenn er in diesem Zusammenhang die Frage stellt: Irre ich, wann ich sage, daß auch der Mangel dieser Erkentnüß [sc. von der Hoheit des Wortes Gottes; M.F.] bey vielen von deßen Ver[ä]chtern, eine Quelle der Geringschätzung sey? Hat nicht die falsche Meinung in diesen Stücke bey vielen seinem G[ö]ttlichen Ansehen wiederstanden[?]257
253
S.o. Kap. 2.1. ÜE 54. 255 Vgl. J. F. BUDDEUS: Institutiones § 14, 138: »divinam eius originem arguentibus«. 256 So schon bei Louis Isaac le Maistre (genannt de Sacy); s.o. Kap. 1.1.4. 257 ÜE 54. 254
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
Mit dem vorgeführten Argument scheint nun freilich die Attraktivität der Erhabenheitsidee für die theologische Schriftlehre noch nicht in Gänze erfasst zu sein. Es fällt auf, dass sich sowohl Budde als auch Rambach, der die Erhabenheit der Schöpfungserzählung unter anderem im Kapitel De Textu Sacro unter dem Titel Divina vis et efficacia verhandelt, vor allem für die spezifische »Kraft und Wirksamkeit« des göttlichen Wortes interessieren, auch wenn sie vordergründig stilistisch oder, zutreffender formuliert, darstellungsästhetisch argumentieren. Für die beiden Gottesgelehrten ist mit dem Begriff der Erhabenheit der Schrift ihre charakteristische, Göttliches in Einfalt und Würde darstellende Sprachgestalt benannt, der – das ist mindestens ebenso wichtig – eine charakteristische Resonanz bei ihrem Hörer oder Leser korrespondiert. Es findet sich in der dogmatischen Longin-Rezeption also eben jene signifikante Verbindung von darstellungs- und wirkungsästhetischer Seite innerhalb des Erhabenheitsbegriffs, die sich schon in Peri Hypsous258 und im Überblick über die westeuropäische Longin-Renaissance259 aufweisen ließ. Eben in dieser Doppelseitigkeit dürfte, insbesondere im Umfeld des Pietismus mit seinem gesteigerten Erfahrungsinteresse, die besondere Leistungsfähigkeit des Erhabenheitskonzepts für die Schriftlehre liegen. Denn einerseits entsprach die »neue« Kategorie damit strukturell der rhetorisch-theologischen Kategorie der efficacitas bzw. efficacia, mit der die Schriftlehre der altprotestantischen Dogmatik die Eigenschaft der Schrift bezeichnete, eine bestimmte Wirkung erzielen zu können (nämlich die Überzeugung bzw. das Heil des Glaubens). Andererseits ließ sich dieses Wirkungspotential, wurde es mit dem Begriff der Erhabenheit bezeichnet, dank dessen darstellungsästhetischen Begriffsmerkmalen konkret an der Sprachgestalt der Bibel ausweisen – und das auf der Höhe der aktuellen rhetorisch-poetologischen Debatte. Mittels des Erhabenheitsbegriffs ließen sich konkrete sprachliche Beobachtungen mit bestimmten religiösen Erfahrungen bei der Schriftlektüre koppeln, um auf diese Weise dem Axiom von der Inspiriertheit der Schrift eine doppelte »empirische« Plausibilität zu verleihen. Hatte sich der Heilige Geist nach der lutherischen Inspirationstheorie an das Wort der Schrift gebunden, um durch dieses Wort Glauben und Heil zu wirken, so konnten nun mithilfe der Kategorie des Erhabenen im »heiligen Text« Spuren jenes Geistes namhaft gemacht werden. Diese Spuren waren aufgrund des Zusammenhangs von darstellungs- und wirkungsästhetischer Dimension innerhalb des Erhabenheitsbegriffs zudem ohne weiteres mit jenen Gemütsbewegungen in ursächliche Verbindung zu bringen, die sich nach Maßgabe von dogmatischer Lehre und religiöser Erfahrung im Umgang mit der Schrift einstellten. Die 258 259
S.o. Teil I/Kap. 5. S.o. Kap. 1.1.2 und 1.1.4.
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apologetische Plausibilisierungsleistung des Erhabenheitsbegriffs innerhalb der Schriftlehre bestand nicht nur in der Vermittlung von Einfalts- und Majestätsidee innerhalb der Darstellungscharakteristik, sondern überdies in der Verknüpfung von Darstellungs- und Wirkungscharakteristik, aufgrund derer dem Postulat der Göttlichkeit der Schrift ein doppeltes Korrelat in der Erfahrung zugeordnet werden konnte.260 Die skizzierte Theorie von der Erhabenheit als empirischem Korrelat der göttlichen Autorschaft der Bibel kann freilich einigermaßen befremdlich erscheinen in Anbetracht der Tatsache, dass das Attribut des Erhabenen ursprünglich – nämlich bei Longin, auf den man sich in diesen Zusammenhängen explizit beruft – vorwiegend heidnischen Texten zugebilligt wird, Texten, denen die christlichen Gottesgelehrten die Eigenschaft der Inspiriertheit kaum zugesprochen hätten. Bei enger Anlehnung an Longin hätte die Erhabenheit lediglich als Eigenschaft firmieren können, die der heilige Text mit vielen anderen Texten teilte, der also keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal der Heiligen Schrift darstellte. Sie hätte den Rang einer formalen ›Vollkommenheit‹ haben können, die als Kriterium für Vollkommenheit im Ganzen und mithin für die Göttlichkeit der Bibel zu gelten hätte. Wie oben gezeigt wurde, insistiert ja Pyra tatsächlich in diesem Sinne auf der Erhabenheit der Heiligen Schrift, und er betont dabei sogar ihre Vergleichbarkeit mit Werken der profanen Literatur: Allein hat den[n] dis himlische Buch nicht, nach dem Geständnüße aller verständigen Gottesgelehrten, mit den weltlichen Schriften die Eigenschaften einer guten Schreibart gemein? Diese müßet ihr nach dem Maße der Vernunft beurteilen und ihr hat Longin gefolget.261
Für Pyra liegt der apologetische Wert der von Longin und dann auch von »allen verständigen Gottesgelehrten« konstatierten Erhabenheit der Bibel darin, dass die Heilige Schrift die maßgebliche poetische Eigenschaft »mit den weltlichen Schriften« teilt, wohingegen ein Mangel an dieser »Vollkommenheit« dem »göttlichen Ansehen« der Heiligen Schrift natürlicherweise höchst abträglich wäre; ließe sich doch kaum plausibel machen, wie aus dem Munde Gottes Unvollkommenes hervorgehen könne. Bei Rambach hingegen zielt der Verweis auf den Erhabenheitstopos gerade darauf, die Schrift zu »distinguire[n] von allen Büchern, die blos aus der Vernunft geflossen«262. Deutlicher noch als Budde führt Rambach die Erhabenheit der Bibel als Differenzkriterium zur Unterscheidung zwischen dem heiligen 260 Zum Status dieser Eigenschaft als »formalem internem Kriterium«, also als Indiz, vgl. F. NÜSSEL: Bund und Versöhnung. Zur Begründung der Dogmatik bei Johann Franz Buddeus, 26f. 261 ÜE 54. 262 J. J. RAMBACH: Erläuterung, Bd.1, 92.
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Text göttlichen Ursprungs und den weltlichen Texten aus menschlicher Vernunft an.263 Dieses Argumentationsziel überrascht, insofern es in augenfälligem Konflikt nicht nur mit der heidnischen Herkunft jener Kategorie, sondern auch mit der traditionellen Signatur des Begriffs als Titel einer 263 Vgl. S. G. LANGE: Vorrede des Uebersetzers (1746): »Es rechtfertiget sich, durch diese Hoheit [sc. die Erhabenheit der Psalmen; M.F.] und der Sache würdige Dichtung die Göttlichkeit der davidischen Psalmen hinlänglich, gegen allen Zweifel und Widerspruch« (unpag.). Vgl. DERS.: Von dem guten Geschmack in der heiligen Schreibart (1748): »Diese Untersuchung [sc. der Durchgang durch die Heilige Schrift nach Maßgabe der dargelegten ästhetischen Kategorien mit vorzüglicher Berücksichtigung des Erhabenen; M.F.] wird neue Gründe der Göttlichkeit dieses Glaubensbuches an die Hand geben. Man erwartet von GOtt nichts unvolkommenes; wenn er redet, müssen alle Redner lernen: wenn er dichtet, so müssen alle Dichter ihm die Ehre geben. Da wir uns mit Recht einer Schrift rühmen, die GOtt verfasset hat, so wird es jedem Liebhaber derselben angenehm seyn, wenn man sie also darstellet, daß sie sich gegen alle Einwürfe und Spöttereyen selbst rechtfertiget« (458). Vgl. ferner A. F. W. SACK: Vertheidigter Glaube der Christen, 2. Stück (1748), wo der Poesie der Bibel »eine solche Majestät des Ausdrucks und eine solche Erhabenheit der Gedancken und der Sachen« zugeschrieben wird, »davon ich noch nie die Hälfte bey irgend eine[m] alten und neuen menschlichen Schrift-Steller wahrgenommen habe« (28). Daraus wird geschlossen, »daß hier etwas höheres sey, als ein bloß Menschlicher Verstand« (ebd., zit. n. H.-G. KEMPER: Empfindsamkeit, 231). In der gleichen Weise argumentiert auch Kants Lehrer M. KNUTZEN: Betrachtung über die Schreibart der Heiligen Schrift, und ins besondere über die Mosaische Beschreibung der Erschaffung der Welt, durch ein Göttliches Sprechen (1742), bes. § 1, mit Berufung auf Longin (281) und Ch. Wolle (s.o. Anm. 244). Bei dem Neologen J. F. W. JERUSALEM: Briefe über die mosaischen Schriften und Philosophie (1762) hingegen ist der inspirationstheologische Rahmen schon erheblich gelockert, wenngleich er in der Beurteilung von Gen 1 ebenfalls ganz mit der Longin-Boileau’schen Tradition konform geht: »Dies, hoffe ich, werden Sie mir […] leicht zugeben, daß diese ersten Capitel mit einer sehr majestätischen Kürze geschrieben sind. Setzen Sie hier nur erst voraus, daß die göttliche Handlung der Schöpfung wirklich so, wie sie hier beschrieben ist, geschehen sey; so hätte sie wenigstens nicht kürzer, nicht prächtiger, noch GOtt anständiger beschrieben werden können; […] so wüßte ich nicht was man Erhaben nennen wollte, wenn man es dieser Beschreibung ableugnete. Ich habe es daher nie begreiffen können, wie der Bischof Huet dem Longin hierinn hat widersprechen können« (85f). Eine explizite Kritik der inspirationstheologischen Verwertung sprachästhetischer Empfindungen wird in den von Lessing 1774–1778 herausgegebenen Fragmenten eines Ungenannten (von H. S. REIMARUS) formuliert. In dem zweiten Fragment über die »Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben könnten« heißt es: Es »macht die in der Jugend gefaßte Meinung, Gott spreche in der Bibel mit dem Menschen, daß sie schon zum voraus mit Hochachtung, Ehrfurcht, Bewunderung und mit Vorsatz, auf das Göttliche Acht zu geben, zur Lesung oder Anhörung der Bibel schreiten und alsdenn bald hie- bald dadurch bewegt werden und also das Zeugnis des Geistes von der Göttlichkeit der Schrift bei sich zu spüren vermeinen. Fraget doch aber einen Türken, ob ihm bei Lesung seines Alkorans nicht ebenso zumute sei, und ob er nicht von heiliger Andacht und Bewunderung über die göttliche Schreibart so gerühret werde, daß er glaubt, es sei nicht möglich, wenn auch alle Engel zusammenkämen, ein dergleichen schönes Buch zu verfertigen. Das macht, er kommt zu seinem Alkoran ebenso vorbereitet wie der Christ zur Bibel« (zit. n. E. HIRSCH: Die Umformung des christlichen Denkens in der Neuzeit, 49).
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(wenn auch extraordinären) Qualität verschiedenster, keinesfalls nur heiliger Texte steht. Die Auffassung des Erhabenen als Alleinstellungsmerkmal der Heiligen Schrift setzt offensichtlich eine tiefgreifende Umkodierung des herkömmlichen Begriffs voraus. Tatsächlich lassen sich, wie aufgewiesen wurde,264 Ansätze zu einer solchen Umprägung im Sinne einer Konzentration auf die religiöse Dimension des Erhabenen bereits bei Boileau namhaft machen. Zwar konzipiert der französische Dichtungstheoretiker das Sublime im Anschluss an Peri Hypsous grundsätzlich als eine allgemeine poetologische Kategorie, mit der sich etwa auch Wesen und Wirkung des Höhepunktes einer Corneille’schen Tragödie beschreiben lassen. Gleichwohl hat die obige Interpretation den religiösen Einschlag von Boileaus Erhabenheitsbegriff klar hervortreten lassen, und zwar insbesondere im Zusammenhang der Debatte über die Erhabenheit des Genesiszitats.265 Mag Boileau auch an einem allgemein-poetologischen Erhabenheitsbegriff festgehalten haben – das Gefälle zu einem exklusiv religiösen Verständnis des Sublimen ist unübersehbar. Offenbar legte es der Streit um die Erhabenheit der biblischen Genesis mit seiner Konzentration auf die Gottesdarstellung des heiligen Textes nahe, die rhetorische Kategorie auf ihre bereits in Peri Hypsous angelegten religiösen Konnotationen zu fokussieren. Und mag das Sublime bei Boileau auch noch zwischen allgemeiner Poetik und bibelhermeneutischer Zuspitzung changieren – das Eintreten des Longin-Übersetzers für die Erhabenheit des Fiat lux eröffnete doch zumindest die Möglichkeit, die Leitkategorie des heidnischen Traktats im Sinne eines bibelhermeneutischen bzw., allgemeiner gesprochen, eines »religionspoetologischen« Spezialbegriffes zu konzipieren. Das Erhabene konnte als Chiffre für ein darstellungsästhetisch beschreibbares Potential aufgefasst werden, bestimmte religiöse Erlebnisse freizusetzen. Diese Möglichkeit haben Budde und sein Schüler Rambach genutzt, und zwar allem Anschein nach in unmittelbarer Anlehnung an den französischen Musterautor in der Frage der Erhabenheit der Heiligen Schrift. Offenbar verlaufen geheime Linien von der lutherischen Spätorthodoxie zu dem Pariser »Gesetzgeber des Parnass«, auch wenn solches nicht ohne weiteres in das überkommene Bild der altprotestantischen Gottesgelehrsamkeit passen mag. Budde wie Rambach – die in mancher Hinsicht bereits als Figuren des Übergangs anzusehen sind – scheinen allerdings die französische Spitzenthese vom Erhabenen als hinreichendem Beweis der Inspiriertheit der Heiligen Schrift nicht mitvollzogen zu haben. So wertet etwa Budde die sublimitas der Schrift als Argument, welches die Theopneusie für das menschliche 264 265
S.o. Kap. 1.1. S.o. Kap. 1.1.4.
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Urteil nicht gewiss, sondern lediglich wahrscheinlich mache.266 Gleichwohl betrachten beide die Erhabenheit der Schrift als klares Indiz für deren göttlichen Ursprung und gebrauchen die fragliche Kategorie dabei zur Bezeichnung eines schrifttheologischen bzw., allgemeiner gefasst, religionsästhetischen Komplexes. Für diese religionstheoretische Umkodierung des Erhabenen war sicher die Konzentration der Debatte zwischen Boileau und Huet auf den heiligen Text und auf die Darstellung der göttlichen Majestät die entscheidende Voraussetzung. Zudem scheint das von Boileau herausgestellte Moment der numinosen Unfassbarkeit des Sublimen jene theologische Rezeption begünstigt zu haben. Diese Vermutung legen jedenfalls Äußerungen Rambachs nahe, die im Zusammenhang seiner Aufnahme des Erhabenheitsbegriffes fallen. So wird bereits in der religionspoetologischen Schrift von 1722267 die Wirkung des Erhabenen mit einer Wendung beschrieben, die jene Dimension des Numinosen treffend zum Ausdruck bringt. Nach Rambach besteht der »rechte Gebrauch« der Poesie wesentlich darin, … daß man sie anwende […] zur Ehre GOttes, zur Besingung seiner unendlichen Vollkommenheiten, seiner liebenswürdigsten Eigenschaften, seiner anzubetenden Majestät (deren Beschreibung die Propheten mit einer so erhabenen Schreibart verrichten, daß de[n] Leser dabey ein heiliger Schauer überfallen muß).268
Die poetische »Besingung« der göttlichen Majestät erfordert eine der Erhabenheit des Gegenstandes entsprechende »erhabene Schreibart«, die im Idealfall, wie er bei den biblischen Propheten vorliegt, den Rezipienten solcher Poesie mit »heiligem Schauer« erfüllt. Es liegt hier in denkbar kurzer Form derselbe Konnex von darstellungsästhetischer Seite – angemessene Darstellung des religiös-erhabenen Gegenstandes – und wirkungsästhetischem Aspekt des Religiös-Erhabenen vor, wie er sich bei Boileau freilegen ließ, nur dass Rambach den unbestimmt-numinosen Effekt nicht in psychologisch-metaphysischer Metaphorik als ›Erhebung der Seele‹, sondern affektpsychologisch als ›heiligen Schauer‹ beschreibt.269 Freilich stammt der 266
Vgl. J. F. BUDDEUS: Institutiones, 138. J. J. RAMBACH: Von dem Mißbrauch und rechtem Gebrauch der Poesie. 268 J. J. RAMBACH: aaO. § 11. Die Passage wurde teilweise bereits zitiert. S.o. Kap. 2.1.2. 269 Rambach verwendet damit eine Wendung, die zur Bezeichnung der charakteristischen psychischen Resonanz des Erhabenen in der Folgezeit geradezu klassisch geworden ist. Nicht zuletzt I. KANT wird selbige Formulierung in der Kritik der Urteilskraft (1790) Jahrzehnte später aufgreifen und damit auf die religiösen Implikationen des Erhabenen bewusst oder unbewusst anspielen (B 117). Vor Kant findet sich der Ausdruck im Kontext der Erhabenheitstheorie z.B. bei M. MENDELSSOHN: Rhapsodie oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen, 141f. Nach Kant wird er spätestens in der Frühromantik zur Allerweltsformel für gewisse religiöse oder ästhetisch-religiöse Empfindungen; vgl. 267
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›Schauer‹ nicht aus dem Kanon der klassischen Affekttheorie, und er bezeichnet auch nicht einen begehrens- bzw. abneigungstheoretisch definierbaren Affekt wie etwa den Schrecken, sondern eher ein nicht näher fassbares »Ergriffensein vor dem Ungeheuren«270. Das Unbestimmt-Schwebende des Begriffs wird in der – bereits vorgeprägten271 – Wendung »heiliger Schauer« noch deutlicher, die eine geheimnisvolle Empfindung religiöser Ergriffenheit im Angesicht des Heiligen zu umschreiben scheint. Auch in Rambachs Erläuterungen zur Hermeneutik (postum 1738) taucht die Formel vom ›heiligen Schauer‹ im Kontext der bibelhermeneutischen Longin-Rezeption auf, nun aber nicht im wirkungs-, sondern im produktionsästhetischen Zusammenhang. Auch hier dient sie zur Bezeichnung des numinosen Charakters der Heiligen Schrift – genauer: zur Beschreibung ihrer numinosen Entstehung. Demnach habe die Inspiration durch den Heiligen Geist die biblischen Schriftsteller wie ein »heiliger Schauer«272 überkommen und habe sie zur würdigen Gottesdarstellung ermächtigt. Ja auch in den allersimplesten Worten ist eine solche Maiestät, die man nicht genug admiriren kann. Wann es z.E. 1. Mos. 1,3. heist: Gott sprach: es werde Licht und es ward Licht, etc. so steckt in diesen Worten eine solche emphasis, daß ein gewisser heidnischer Scribent, mit Namen Dionysius Longinus, der ein Buch, peri? uÄyouw, de stilo sublimi geschrieben, und also ein rechter Kenner des stili sublimis gewesen, diese Passage bewundert, und dieses iudicium davon gefället, daß Moses auf eine Gott würdige, und anständige Weise das Wesen Gottes vorgestellet, und eine mit demselben überein kommende Redens-Art gebrauchet, daß auf blossen Befehl das Licht habe müssen dastehen.273
z.B. F. D. E. SCHLEIERMACHER: Über die Religion, 81; W. H. WACKENRODER: Sämtliche Werke und Briefe, 141; 277. 270 R. MEYER-KALKUS: Art. Schauer, 1224. 271 Die genaue Herkunft der Wendung ist schwer zu ermitteln. Sie begegnet Ende des 17. Jahrhunderts in verschiedenen Werken der Erbauungsliteratur: z.B. J. H. WEYHENMAYER: Geistliche Fest-Posaune Durch welche Vermittelst schöner und außerlesener Kern-Sprüchen A. und N. Testaments alle Hohe Feste […] dem Geistlichen Zion und Volcke Gottes angezeiget […], Ulm 1691, 113; 270; REINHARD (VON LINZ): Der GottBegierigen, Suchenden und Liebenden Seele Ihrem Jesu zu Ehren, bey seiner H. AdventsZeit, Vermöge der Liebe erbauetes gantz guldenes Haus, und allerangenehmste Wohnung […] Kurtze Vorbereitung zum heiligen Christ-Tag […] Nürnberg 1697, 426. Im Italienischen findet sich der Ausdruck sacro orrore z.B. bei D. BARTOLI: Delle grandezze di Christo in se stesso, e delle nostre in lui considerationi, Venedig 1675, 431; im Lateinischen kommt die Wortverbindung sacrus horror im religiösen Schrifttum des frühen 17. Jahrhunderts vor, z.B. bei dem Jesuiten PH. DE BERLAYMONT: Paradisus puerorum, […] opus novum et concionibus non minus quam catechismus utile, Köln 1619, 13. Immer fungiert die Wendung als Chiffre inniger religiöser Ergriffenheit. Die Ursprünge der Formel reichen womöglich bis ins Mittelalter und in die Antike zurück. 272 J. J. RAMBACH: Erläuterung, Bd. 1, 92. 273 Ebd.
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
Indem Mose in seiner Schöpfungserzählung »auf eine Gott würdige, und anständige Weise das Wesen GOttes vorgestellet«, wie Rambach in direkter Longin-Paraphrase274 formuliert, und eine dementsprechende, wie aus dem Kontext zu ergänzen ist, schlicht-erhabene »Redens-Art gebrauchet«, hat er die bibeltypische simplicitas cum summa maiestate coniuncta in höchstem Maße verwirklicht. Dieses wiederum ist seiner numinosen Ergriffenheit durch den Heiligen Geist zuzuschreiben, in der ihm die angemessene Darstellung der göttlichen Majestät eingegeben wurde. Nur durch solche Wortwerdung des Geistes im heilig-erhabenen Text ist es möglich – so lässt sich in der Zusammenschau mit dem frühen Beleg der Wendung vom ›heiligen Schauer‹ sagen –, dass schließlich auch der Bibelleser auf entsprechende Weise vom Heiligen Geist erfüllt und von der ihm lebhaft sich darstellenden göttlichen Majestät auf geheimnisvolle Weise tief im Gemüt ergriffen wird. In diesem Zusammenhang sind auch die Ausführungen zur indigatio affectuum, zur notwendigen Erhebung des Affektgehalts der biblischen Texte, aufschlussreich, mit denen Rambach ein Theorem der Francke’schen Hermeneutik aufnimmt.275 Wie für Francke gehört es für Rambach zum Verstehensprozess, den Affekt aufzuspüren, der sich einer Bibelstelle im Medium der Sprache mitgeteilt hat, um auf diese Weise ›im heiligen Stil […] nicht nur die Worte, sondern auch das Gemütsinnere des Sprechenden erklären‹276 zu können. Es ist bemerkenswert, dass dieses Axiom mit einem langen Zitat aus Peri Hypsous begründet wird, wonach der ›edle Affekt‹, der den Redner im Moment der Gottbegeisterung ergreift, – Longins zweite Quelle des Erhabenen – der Rede die größte Gewalt verleihe.277 Indem Rambach das longinische Enthusiasmus-Motiv auf den Inspirationsvorgang bezieht, kommt er von da aus zu dem Schluss, dass das Verstehen eines Schriftwortes erst dann eigentlich ans Ziel gelangt, wenn sich die ›heiligen brennenden Gemütsbewegungen‹278, die in dem jeweiligen menschlichen 274
Vgl. J. J. RAMBACH: Institutiones, Bd. 1, 322, wo die entsprechende Wendung aus De subl. 9,9 griechisch und lateinisch angeführt wird. 275 Vgl. dazu E. PESCHKE: Studien, Bd. 2, 13ff. DERS.: Zur Hermeneutik A. H. Franckes. 276 Vgl. J. J. RAMBACH: Institutiones, 123: »Quodsi vero se produnt in stilo sacro innumeri adfectus, officium utique interpretis est, in lucem illos protrahere, & non verba solum, sed & intimum dicentis animum explicare.« 277 Vgl. ebd. Vgl. De subl. 8,4. S.o. Teil I/Kap. 3.1.2. 278 Vgl. J. J. RAMBACH: aaO. 123f: »Quodsi quis […] putet, jeopneusißan tolli, si quis instrumentis humanos adfectus tribuere velit, illi cogitandum est, scriptores sacros, in consignandis scripturis non truncos ac lapides fuisse, sed eumdem spiritum, qui ipsorum imaginationi rerum imagines obiecit, intellectumque purissima luce perfudit, voluntatem etiam ipsorum sanctis ardentibus motibus concitasse, ut cum sensu exactissimo ea scriberent, quae non sine divino sensu a nobis sunt legenda.« Longin wird in den Institutiones noch zweimal angeführt, nämlich als Zeuge für die Funktion bestimmter Stilfiguren als Ausdrucksmittel von Affekten (352).
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Autor durch göttliche Einwirkung erregt und von ihm dem Text eingeschrieben wurden, auch dem Leser vermittelt haben. Die nämliche Vorstellung einer »Ergriffenheitsmitteilung« durch das sprachlich vermittelte Wirken des Heiligen Geistes ist auch in Rambachs Homiletik leitend. Dort heißt es, ebenfalls im Zusammenhang hermeneutischer Erwägungen: Cum omnia scriptorum sacrorum verba ex sanctissimo affectu profluxerint, ille etiam in explicatione textus subinde respiciendus et auditoribus vivide ante oculos ponendus est.279
Weil alle Worte der heiligen Schriftsteller aus einem hochheiligen Affekt geflossen sind, muss jener auch in der Erklärung des Textes immer wieder berücksichtigt und den Hörern lebhaft vor Augen gestellt werden.
Gerade im Falle des Predigers gilt der Grundsatz, dass der Ausleger des biblischen Textes nicht nur dessen Aussagegehalt zu erläutern hat, sondern seinen Hörern auch den »hochheiligen Affekt« vergegenwärtigen muss, welcher den jeweiligen »heiligen Schriftsteller« beim Schreiben befeuert hat. Nun ist der hier angesprochene Affekt nicht unmittelbar identisch mit jenem »heiligen Schauer«, der nach Rambach den Augenblick der Inspiration kennzeichnet. Es sind vielmehr je unterschiedliche Affekte, etwa »heilige Freude«280 oder auch Traurigkeit281, die ein bestimmtes Wort prägen und die vom Prediger »erst selbst recht anzuziehen und anzunehmen«282 sind, um sie wiederum in der Predigt seinen Hörern zu vermitteln. Aber es scheint doch allen wahrhaft heiligen Affekten gleichsam ein bestimmter Grundton gemeinsam zu sein. Solches lässt sich immerhin aus Rambachs Bestimmung der ›Heiligkeit‹ ablesen, welche der rechte Stil der Predigt mit dem Stil der Schrift teilt: Sanctimonia stili supponit sanctum affectum, reverentia Dei rerumque sacrarum haud leviter tinctum, et verba requirit sancta, Deo digna et stilo scripturae simillima.283
Die Heiligkeit des Stils setzt einen heiligen Affekt voraus, der von der Ehrfurcht vor Gott und den heiligen Dingen stark gefärbt ist, und sie fordert heilige Worte, die Gott würdig und dem Stil der Schrift höchst ähnlich sind.
Der heilige Stil, sei es der Bibel, sei es der religiösen Rede auf der Kanzel, ist immer wesentlich Produkt eines heiligen Affekts. Soweit stimmt diese mit der letztzitierten Passage überein. Die verschiedenen heiligen Affekte haben indes alle eine gemeinsame »Färbung« (lat. tingo: benetzen, färben), die sie 279
J. J. RAMBACH: Erläuterung über die Praecepta Homiletica, 167 (Übers. M.F.). Ebd. 281 Vgl. aaO. 168. 282 AaO. 167. 283 AaO. 274. 280
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zu heiligen Affekten macht, insofern sie nämlich sämtlich von religiöser Ehrfurcht (reverentia) durchdrungen sind. Die Ehrfurcht ist für Rambach gewissermaßen der heiligkeitskonstitutive Grundaffekt, der alle einzelnen Affekte, die sich in religiöser Rede artikulieren können, grundiert. Ehrfurcht und ›heiliger Schauer‹ wiederum liegen für Rambach offenbar nahe beieinander. Denn wurde im frühen poetologischen Text die Resonanz auf die erhabene Darstellung der göttlichen Majestät als ›heiliger Schauer‹ bezeichnet, nimmt in der Homiletik der Begriff der Ehrfurcht (unter dem Ausdruck ›Ehrerbietigkeit‹ oder ›Veneration‹) diese Stelle ein. Dies geht aus einer Passage hervor, die zur Erläuterung der soeben angeführten Bestimmung des heiligen Stils die Notwendigkeit echter religiöser Ergriffenheit des Predigers unterstreicht: Ein profanes Gemüth, das keine Ehrerbietigkeit vor Gott hat, wird sich auf der Cantzel nicht bergen können, wann es auch noch so devot thun will, und mit einer masquerade von heiligen Seufzern und andächtigen Gebärden den Schalck im Hertzen decket. Es ist aber solches ein gräulicher Mißbrauch des Namens Gottes, den der Herr nicht ungestraft lassen will. Es muß also eine wahrhafte veneration vor Gott in dem Hertzen seyn, und damit solches aufs neue jederzeit inflamiret werde, so muß man vorhero im Gebeth zu diesem grosen und venerablen Wesen sich nahen, damit man eine impression von seiner Majestät und Herrlichkeit bekomme…284
Um nicht bloß von heiligen Dingen zu reden, sondern dies auch in einem entsprechend heiligen Stil zu tun, muss der Prediger aktuell und wahrhaft von religiöser Ehrfurcht »inflamiret« sein, und solches geschieht nicht nur durch Vergegenwärtigung des heiligen Affekts der auszulegenden Bibelstelle, sondern vor allem durch die dem Predigtakt unmittelbar vorausgehende Vergegenwärtigung von Gottes »Majestät und Herrlichkeit« im Gebet. Erst aufgrund des durch eine derartige »Impression« erwachten religiösen Grundaffekts, der »veneration vor Gott«, kann die Kanzelrede eine »heilige« Sprachgestalt gewinnen und kann, so darf ergänzt werden, entsprechend grundierte heilige Affekte in den Herzen der Predigthörer wecken: Affekte, die allesamt von einem ehrfürchtigen ›heiligen Schauer‹ »vor Gott und den heiligen Dingen« durchzittert sind. Die sachlichen Konvergenzen und die expliziten Longin-Bezüge legen den Schluss nahe, dass Rambach mit dem skizzierten Konzept heiliger Rede in der Bibel und auf der Kanzel in mancherlei Hinsicht das Konzept der Erhabenheit belehnt, wie es über Longin, Boileau und Budde auf ihn gekommen ist. Schon insofern die Heiligkeit des Stils sich an der »Würdigkeit« gegenüber Gott bemisst, rückt sie offensichtlich in große Nähe zum Erhabenen Longins; rühmt Rambach doch in den Erläuterungen zur Her-
284
AaO. 275.
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meneutik mit Longin, der »ein rechter Kenner des stili sublimis gewesen«285, die »Gott würdige« Weise der Gottesdarstellung in Gen 1. Ferner wird hier der stilus scripturae in starker Anlehnung an Longin bzw. an Buddes LonginRezeption mindestens implizit als erhabener Stil bestimmt (nämlich als simplicitas cum summa maiestate coniuncta). Zudem führt die Bedeutung der Vorstellung von Gottes Majestät für das Zustandekommen des heiligen Affekts der Ehrfurcht bzw. des ›heiligen Schauers‹ und mithin für das Zustandekommen einer »heiligen« Kanzelrede in den Zusammenhang der religiös konturierten Erhabenheitsidee, wie die Assoziierung von göttlicher Majestät, ›erhabener Schreibart‹ und ›heiligem Schauer‹ beim frühen Rambach zeigt. Trotzdem zieht der spätere Rambach an einschlägiger Stelle den Begriff der Heiligkeit (sanctimonia) demjenigen der Erhabenheit (sublimitas) vor und damit die unzweideutig religiöse der nach wie vor auch in einem poetologisch allgemeinen Sinne gebrauchten und von ihm immer noch mit sprachlichem Putz assoziierten286 Kategorie. Er tut dies aber unbeschadet der Tatsache, dass die Vorstellung »heiliger« Rede ihre wichtigsten Strukturmerkmale mit der longinischen Idee der »erhabenen« Rede teilt, so dass das Heilige in unmittelbarer Nachbarschaft zum Erhabenen (im Sinne von Peri Hypsous) zu stehen kommt – und umgekehrt. Die Heiligkeit unterscheidet sich demnach von der Erhabenheit im Wesentlichen durch den Umstand, dass sie ausdrücklicher mit dem Heiligen Geist als Akteur beim Zustandekommen der entsprechenden Rede rechnet. Allgemeiner gesprochen stellt sich die Kategorie der Heiligkeit bei Rambach gleichsam als dogmatisch eingehegte Erhabenheit dar, insofern sie einerseits an dem Freischwebend-Unbestimmten dieser, bei aller religiösen Zuspitzung, poetologisch allgemeinen Kategorie mitsamt deren vagen religiösen Konnotationen partizipiert, zugleich diese Konnotationen aber in das überkommene Gefüge der christlichen Inspirationslehre einordnet. Rambachs Begriff der Heiligkeit markiert dann gleichsam den Grenzpunkt einer zunehmenden religiösen Konturierung des Erhabenheitsbegriffes. Sobald es zur dogmatischen Vereinnahmung kommt, büßt der Begriff seinen eigentümlichen Zwischenstatus zwischen Ästhetik und Theologie ein, der sein besonderes Erschließungspotential für die Religion in der Moderne auszumachen scheint. 285 J. J. RAMBACH: Erläuterung über seine eigene Institutiones Hermeneuticae Sacrae, Bd. 1, 92. 286 Rambach warnt in der Homiletik vor falscher Erhabenheit in der Predigt, vor »affectirter sublimität« (Erläuterung über die Praecepta homiletica § 5, 271), die sich als »hochtrabende schwülstige poetische Redens-Art« (ebd.) »a simplicitate biblica weit entfernet« (272). Hier scheint wieder das Ideal der einfachen Erhabenheit durch, das für Rambach der Terminus ›erhaben‹ aufgrund seiner Herkunft aus der Dreistillehre aber offenbar nicht völlig unmissverständlich zum Ausdruck bringt.
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Weil aber jenes Changieren offenbar unabtrennbar an ihm haftet, kann das Erhabene im selben Moment nicht mehr ›erhaben‹ heißen – und wird zum ›Heiligen‹. 3.3.3. Spur des Göttlichen in menschlicher Rede Es ist an der Skizze der theologischen Peri-Hypsous-Rezeption deutlich geworden, dass spätestens seit der Querelle du fiat lux zwischen Boileau und Huet »der Traktat des Heiden Longin Einzug in die protestantische Dogmatik [hält]«287 – und dass sich in diesem Kontext auch die Signatur des Erhabenheitsbegriffes verändert. In der Zusammenschau der vorgeführten Autoren lassen sich folgende Tendenzen notieren. Das Erhabene wird nach seiner darstellungsästhetischen Seite auf einen bestimmten Gegenstand fixiert, nämlich auf die Majestät Gottes. Gemessen an der Vielfalt der Sujets, die sich in Longins Traktat mit dem hypsos verbinden können – man denke an Schlachten- und Schiffbruchszenen, an Triumphzüge und sapphischen Liebesrausch – findet eine enorme thematische Fokussierung auf das Religiöse statt. Aber auch innerhalb des religiösen Vorstellungskreises wird, verglichen etwa mit der Mannigfaltigkeit der biblischen Gottesbilder, im Rahmen der Fiat-lux-Debatte manches abgeblendet. Nicht der gnädige oder zornige, gerechte oder liebende Gott wird mit der Erhabenheitsidee verknüpft, sondern eben – hier dürfte auch der Gleichklang der Ausdrücke gewirkt haben – Gott in seiner übermenschlich-übermächtigen Erhabenheit. Erhabenheit (im poetologischen Sinne) bemisst sich somit ihrem Vollbegriff nach an der würdigen Darstellung solch göttlicher Hoheit, wie sie am Anfang (und an vielen anderen Stellen) der Bibel ideal verwirklicht ist. In Korrespondenz mit der thematischen Einschränkung wird das Erhabene im Zuge seiner schrifthermeneutischen Applikation auch in wirkungsästhetischer Hinsicht deutlicher religiös akzentuiert. Changierte die Wirkungsbestimmung bei Longin zwischen der formal-psychologischen Behauptung besonderer Intensität (Erschütterung etc.) und der metaphysisch qualifizierten Metapher vom Aufschwung der Seele, schöpft sie nun stellenweise aus der Sphäre des Religionspsychologischen. Zwar lässt sich jenes Schillern auch bei Boileau beobachten, in dessen Definition des Sublimen288 sich neben der Bezeichnung äußerst intensiver Wirkung (fraper, ravir, transporter) immerhin die Andeutung einer besonderen metaphysischen Qualität nämlicher Wirkung findet (merveilleux, enlever). Gerade zur Beschreibung der erhabenen Resonanz des biblischen Fiat lux greift dann aber auch der französische Poetologe in deutlich Longin-analoger Metaphorik zur Formel 287 288
D. TILL: Das doppelte Erhabene, 159. S.o. Kap. 1.1.2.
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von der ›Erhebung der Seele‹. Am klarsten ist die religiöse Qualifizierung der Resonanz des Erhabenen bei Rambach, der die Idee des Erhabenen mit der aus religiösem Schrifttum übernommenen Wendung vom ›heiligen Schauer‹ und mit dem religiösen Grundaffekt der Ehrfurcht assoziiert. Die beschriebenen Tendenzen zur religiösen Konzeptualisierung des Erhabenen als Ehrfurcht weckende Darstellung göttlicher Erhabenheit haben schließlich auch ein produktionsästhetisches Komplement. Betont Boileau zu Beginn seinem parallel zur Longin-Übertragung 1674 erschienen L’art poetique in Anspielung auf den klassischen Musenanruf und die antike Vorstellung vom Enthusiasmus des Dichters noch in unbestimmt-anspielungshafter Diktion, dass erst ein »heimlicher Einfluss vom Himmel« wahrhaft gelungene Dichtung möglich mache,289 wird das in Peri Hypsous prominente Motiv vom furor poeticus in Buddes Dissertation ausdrücklich religionsphilosophisch ausgemünzt zu einem der Hauptbelege für die These vom göttlichen Wirken in der menschlichen Rede. Rambach endlich verbindet – ebenfalls in Anschluss an Boileau – das Enthusiasmusmotiv im schrifthermeneutischen Zusammenhang mit dem Inspirationsgedanken, den er wieder mit der Vorstellung vom ›heiligen Schauer‹ affekttheoretisch zu veranschaulichen sucht. Es ergibt sich, dass der Erhabenheitsbegriff im Rahmen seiner schrifthermeneutischen Anwendung auf allen Ebenen eine religiöse Akzentuierung erfährt. Als Ausgangspunkt dieser Entwicklung lassen sich die ersten Zuspitzungen in Boileaus Rezeption von Longins GenesisBewertung und in Anknüpfung an die religiösen Konnotationen von dessen Hypsos-Idee ansehen. Den vorläufigen Endpunkt stellt Rambachs Rezeption des Erhabenheitsbegriffes dar, welche die Erhabenheit bzw. Heiligkeit menschlicher Rede als Prozess der Mitteilung affektiver Ergriffenheit durch den erhabenen Gott konzipiert. Auf der Basis dieses Befundes ist noch einmal die Frage nach den Motiven der theologischen Longin-Rezeption aufzuwerfen. Von deren – insbesondere in Buddes Dogmatik – augenfälliger apologetischer Funktion war ja bereits die Rede. Dabei meint ›Apologetik‹ nicht, im Sinne des klassischen Begriffs, die philosophische Rechtfertigung theologischer Aussagen vor dem Forum der Vernunft, sondern den Aufweis von deren ästhetischer Evidenz. Der Rekurs auf die rhetorisch-poetologische Erhabenheitsidee soll der Spitzenthese protestantischer Schriftlehre, dem Inspirationsdogma, zur Anschlussfähigkeit auf einem neuen Feld der wissenschaftlichen Debatte verhelfen, nämlich auf dem Feld der Poetologie. Und er soll selbigem Dogma 289 Vgl. N. BOILEAU: L’art poetique I,1–6: »C’est en vain qu’au Parnasse un temeraire Auteur / Pense de l’Art des vers atteindre la hauteur; / S’il ne sent point du Ciel l’influence secrette, /Si son astre en naissant ne l’a formé Poëte. / Dans son genie estroit il est toûjours captif : / Pour lui Phebus est sourd, & Pegaze est retif«.
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mithilfe jener Idee ein doppeltes Korrelat in der Erfahrung verschaffen, nämlich in der poetologisch beschreibbaren Eigenart der biblischen Texte sowie im religiösen Erleben ihrer Leser. Die apologetische Überzeugungsleistung wird nicht mehr allein der rationalen Argumentation zugewiesen, sondern auch der ästhetisch-religiösen Erfahrung, die mit dem Begriff des Erhabenen angesprochen ist. Nun scheint für dieses theologische Plausibilisierungsinteresse bei allem Streben nach theologisch-lehrhafter Bestimmtheit gerade das eigentümliche Unbestimmtheitsmoment innerhalb des Erhabenen konstitutiv zu sein. Jedenfalls fällt auf, dass sich dieses Moment bei Budde und Rambach durchhält. Dass Longins Schlüsselkategorie nach Boileau ein Je ne sais quoi bezeichnet, in dem sich quelque chose de divin zeigt, wird von den fraglichen Gottesgelehrten allem Anschein nach nicht als Mangel, sondern eher als Vorzug jener Kategorie empfunden. So markiert bei Budde, der sich in seiner Longin-Dissertation auf den antiken Autor als Vorgänger290 seines Forschens nach einem gewissen divinum quid atque arcanum291 in der Welt beruft, das Erhabene zwar eine Spur des Göttlichen in der menschlichen Rede bzw. – laut der Dogmatik – die Spur des göttlichen Autors im Text der Heiligen Schrift. Aber dafür ist es unerlässlich, dass jene Spur vage bleibt. Im Erhabenen wird das göttliche Wirken manifest292, aber als Geheimnis, das sich nur im Modus unbestimmter Empfindung gewahren lässt: im ›heiligen Schauer‹, in dem sich die göttliche Majestät vergegenwärtigt, oder in der ahnungshaften ›Erhebung‹, in der sich die Seele dem Gott näher glaubt. Die behauptete Manifestation bleibt im Ungefähren, um zugleich die Weltentzogenheit des Göttlichen zu wahren. In der Konsequenz der vorliegenden Interpretation ergibt sich der paradoxe Eindruck, dass sich in der schrifthermeneutischen Longin-Rezeption an der schlechthin grundlegenden Stelle altprotestantischer Dogmatik, beim Inspirationsaxiom, im Keim das Bewusstsein einer nicht lehrhaft erfassbaren Grunddimension des Religiösen zur Geltung bringt. Der fundamentale Glaube an die Göttlichkeit des Offenbarungsbuches stützt sich auf die nur in Ansätzen ausweisbare Ahnung des Göttlichen in der ästhetischen Sprachgestalt der Heiligen Schrift und auf die tiefe Ergriffenheit, die selbige mit ihrer Repräsentation göttlicher Hoheit im Gemüt des Lesers hervorruft. Bei den betreffenden Autoren hat die Erhabenheitskategorie offenbar die Funktion, solche christlich-religiösen Grunderfahrungen, die sich nicht 290 Vgl. J. F. BUDDEUS: JEION RHJORIKON, Vorwort (unpag.): »istud pariter de sanctiorib[us] quibusdam secretioribusq[ue] eloquentiae recessibus, praeeunte Dionysio Longino, statuam decernamque«. 291 AaO. III/§ II. 292 Vgl. aaO. VI/§ II: »illud humanum […], in quo tam manifesta divinitatis vestigia deprehendere licet«.
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restlos begrifflich-lehrhaft verrechnen lassen, mit der ihr eigenen Unschärfe dennoch auf den Begriff zu bringen, um dieselben zum Beleg jener die Dogmatik fundierenden Inspirationsbehauptung in Anspruch zu nehmen. Das Erhabene dient, so könnte man schließen, gleichsam zur lehrhaften Integration des lehrhaft Nichtintegrierbaren bzw. umgekehrt zur lehrhaften Festschreibung eines nichtlehrhaften Moments im Glauben. Zwar haben die einschlägigen Erfahrungen für Budde nur den Rang von äußeren Indizien für die Inspiriertheit der Bibel, und sie müssen durch das testimonium internum des Geistes überboten werden, das diesbezüglich die eigentliche Gewissheit und damit den Zugang zu dem an der Bibel lehrhaft entwickelten Glauben schafft. Aber immerhin eignet dem Rekurs auf die Erhabenheit der Schrift im Unterschied zum Verweis auf das schlechthin unausweisbare Zeugnis des Geistes bei aller Vagheit ein gewisses Maß an erfahrungsmäßiger Konkretheit. Jener Rekurs hält, so ließe sich seine spezifische Leistung für eine sich der religiösen Erfahrung öffnende spätorthodox-pietistische Dogmatik beschreiben, in seiner Unschärfe gewissermaßen die Mitte zwischen der objektiven Überbestimmtheit der Verbalinspirationsthese und der völligen Unbestimmtheit und Unausweisbarkeit des Postulats vom testimonium internum, das jener These aufseiten des Subjekts korrespondiert, und er gewinnt gerade aufgrund dieser Mittellage sein Plausibilisierungspotential. Die schrifthermeneutische Applikation der Erhabenheitsidee bildet gleichsam einen »erfahrungstheologischen« Kontrapunkt zu den offenbarungstheologischen Setzungen von objektiver Inspiration und subjektivem Geistzeugnis. Hat die vorgeführte Longin-Rezeption innerhalb der protestantischen Theologie die Sensibilität für die überlehrmäßige Dimension der christlichen Religion befördert, markiert sie zugleich den Beginn einer Ästhetisierung der Schriftlektüre. Der Vorgang der ›Ästhetisierung‹ umfasst dabei, so lässt sich im Rückblick auf die vorangehenden Ausführungen resümieren, mehrere Momente. Zunächst ist bei den an Longins Genesisinterpretation geschulten Autoren eine verstärkte Aufmerksamkeit für die erhabene Sprachgestalt des biblischen Textes zu beobachten. Immer wieder wird die einzigartige Verbindung von Majestät und Schlichtheit innerhalb des biblischen ›Stils‹ hervorgehoben und mithin die unerreichte Angemessenheit von Form und Gehalt. Dabei ist zu betonen, dass die unvergleichliche Sprachgestalt der Heiligen Schrift durchgehend als Zeichen ihrer Göttlichkeit wahrgenommen wird. Die Erhabenheit der Bibel stellt sich dar als Spur ihrer himmlischen Herkunft und erweckt ›heilige Bewunderung‹ (Pyra) für das solchermaßen sich als heilig erweisende Buch und seinen Urheber. Es kann demzufolge keine Rede davon sein, dass die im Lichte des Erhabenen statthabende Ästhetisierung, die »Sublimisierung« des Bibellesens, dessen Desakralisierung bedeutete. Offenbar ist eher das Gegenteil der Fall, insofern
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der Ausweis der Erhabenheit des biblischen ›Stils‹ zugleich eine gewisse Erfahrung von deren Göttlichkeit freilegt. Dies führt zu einem zweiten Moment des diagnostizierten Prozesses. Neben der erhöhten Aufmerksamkeit für die sprachliche Darstellung schärft die Kategorie des Erhabenen den Sinn für gewisse schwer fassbare Resonanzphänomene, die in der Begegnung mit dem heiligen Text sich einstellen können. So entspricht der Wahrnehmung der sich im Wort Gottes erhaben darstellenden Majestät des Höchsten als psychische Resonanz der ›heilige Schauer‹ des Lesers gegenüber dem sich Darstellenden, der den religiösen Akt des Bibellesens und -auslegens prägt und von daher auch in den Horizont der Schrifthermeneutik einrückt. Insofern die »Sublimisierung« neben der Sprachform der Bibel stets auch das religiöse Erleben des Bibellesers thematisiert, könnte man hier von einer Psychologisierung sprechen. Dem wäre allerdings hinzuzufügen, dass eine derartige Entwicklung schon in der Reformorthodoxie und im Pietismus ihren Anfang genommen293 und auch – man denke an die affekttheoretischen Elemente der Schrifthermeneutik294 – ihren theoretischen Ausdruck gefunden hat. Neu ist also vor allem das Bewusstsein der Verkopplung von Sprachgestalt und seelischer Resonanz. Vermöge des Erhabenheitsbegriffs wird verstärkt auf die ästhetische Vermittlung der religiösen Empfindungen reflektiert. Die theologische Longin-Rezeption kann sonach als Fortsetzung der von Reformorthodoxie und Pietismus initiierten Verinnerlichungsbestrebungen mit ästhetischen Mitteln bezeichnet werden. Zeichnet man die bibelhermeneutische Aneignung von Peri Hypsous in diese frömmigkeitsgeschichtliche Linie ein, liegt es nahe, innerhalb der beginnenden Ästhetisierung der Schriftlektüre noch ein drittes Moment zu deklarieren. In Abhebung von einem primär lehrhaften Zugang zur Bibel, wie er in der altprotestantischen Dogmatik der Tendenz nach gepflegt wurde, lässt sich die Ästhetisierung der Heiligen Schrift auch als Entdogmatisierung begreifen. Oder vorsichtiger formuliert: Die ästhetische relativiert die dogmatische Perspektive. Gegenüber einem Schriftverständnis, das – holzschnittartig gesprochen – die Bibel als gottgegebene Quelle einer aus ihr abzuleitenden Lehre betrachtet und die einzelnen Worte der Schrift als dicta probantia bestimmter Lehrsätze heranzieht, stellt eine Lektüre, die »das Hohe in der Biebel […] zu suchen« (Pyra) unternimmt, eine deutliche Akzentverschiebung dar. Auch hier knüpft die schrifthermeneutische LonginApplikation an bestehende Tendenzen in den Reformbewegungen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts an. Nur rückt vermöge des neuen ästhetischen 293
Vgl. z.B. U. STRÄTER: Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts, 100ff. 294 S.o. Kap. 3.3.2.
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Paradigmas gegenüber der herkömmlichen Praxis der Schriftmeditation verstärkt das ästhetisch-religiöse Erregungspotential des jeweiligen biblischen Textes in den Fokus. Dem gesteigerten Sinn für die sprachästhetische Seite der Heiligen Schrift entspricht das Bedürfnis, das Religiöse ästhetisch zu erleben. Die skizzierte Ästhetisierung bedeutet, so viel dürfte deutlich geworden sein, nicht eine Nivellierung, sondern eine Transformation des religiösen Interesses. Will man sie gegenüber der seit dem 17. Jahrhundert immer wieder kritisierten Vereinnahmung der Bibel durch die kirchliche Dogmatik konturieren, bedeutet sie sogar in gewisser Hinsicht dessen Intensivierung. Fußte der lehrhafte Umgang mit der Bibel auf einer thetischen Heiligkeitsbehauptung, um sich auf dieser Basis der Erhebung von abstrakten Wahrheiten aus dem Offenbarungsbuch zu widmen, vermittelt sich dem neuen Sensus für das divinum quid atque arcanum in der Schriftlesung die ahnungshafte Erfahrung von Heiligkeit. Die Erhabenheit der Darstellung des Höchsten ist ihm Spur des Göttlichen im biblischen Text, und die innere Ergriffenheit angesichts des Dargestellten kommt für ihn jenem testimonium internum des Geistes gleich, das ihm die Göttlichkeit der Bibel verbürgt. In Analogie zu dieser Erfahrung inneren Erschauerns gewinnt für ihn schließlich auch die Inspiration der biblischen Schriftsteller erlebnishafte Konkretion. In Abhebung von einer dogmatischen Lesart hat die erhabenheitsorientierte Ästhetisierung der Schriftlektüre daher geradezu Züge einer Resakralisierung. Mit seiner ›heiligen Bewunderung‹ des Erhabenen in der Bibel steht auch J. I. Pyra in der Linie der geschilderten Longin-Aneignung und der umrissenen Ästhetisierungstendenzen. Indessen lässt sich kaum übersehen, dass der Essay des jungen Hallenser Theologiestudenten – knapp 50 Jahre jünger als Budde und gut 20 Jahre jünger als Rambach – bereits einen anderen Geist atmet als die Schriften der beiden Gottesgelehrten. Dass bei dem poetisch ambitionierten Pyra im Gegensatz zu den Theologieprofessoren ein eigentlich dogmatisches Interesse nicht erkennbar ist, mag nicht sonderlich überraschen. Auch dass er anders als Rambach, für den der heilige Stil der Schrift Vorbildcharakter für die religiöse Rede auf der Kanzel hat, wohl eher an »heilge Poesie«295 denkt, wenn er das »Hohe in der Bibel« als »Muster unsrer Reden von göttlichen Dingen« apostrophiert, dürfte ebenfalls der persönlichen Neigung geschuldet sein. Es fällt immerhin auf, dass im Blick auf das Gelingen eines solchen Redens nicht wie bei Rambach das Gebet empfohlen wird, sondern das »Lehrgebäude«296 Longins. Vor allem aber lässt der Ver295
Die Wendung fällt im Tempel der wahren Dichtkunst (I,81), womit Pyra die zentrale poetologische Formel Klopstocks vorwegnimmt; s.u. Kap. 5.2. 296 ÜE 55.
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weis auf das Urteil der poetologischen »Vernunft« in Sachen Erhabenheit erkennen, dass sich in Pyras Longin-Rezeption – unbeschadet der religiösen Grundierung – neben dem pietistischen Erbe auch der Geist der Aufklärung zur Geltung bringt. Wie die beiden Hallenser Kulturmächte in Pyras Poetologie des Erhabenen zusammenfinden, soll im Folgenden noch deutlicher werden.
3.4. Das Erhabene als Medium religiöser Mitteilung 3.4.1. Der religiöse Beruf des Dichters Wie sich zu Anfang dieses Kapitels (3.1) bereits andeutete, verfolgt Pyra mit seiner Übersetzung von Peri Hypsous nachgerade missionarische Ziele. Der antike Traktat, der ihn selbst in Verzückung versetzt hat, soll möglichst vielen Zeitgenossen zum Ort der Inspiration und zum ›Lehrgebäude‹ dienen. Vorzügliche Adressaten sind dabei »Redner und Dichter«. Ihnen soll die Übersetzung dazu verhelfen, ihrer spezifischen Verantwortung nachkommen zu können; einer Aufgabe, die Pyra zufolge nicht geringer zu bewerten ist als die so hochgeschätzte Tätigkeit der Philosophen: Man bewundert die Weltweisen, die ihren Verstand anstrengen, in die dunckeln Tiefen der Wahrheit zu dringen; um die gründe zu erblicken, wozu sie andre mit ihrem Lichte führen. Ist es denn nicht minder löblich, seinen Geist bis zu den Volkommenheiten und Gipfeln der Dinge zu erheben, und seine Kräfte in der Vorstellung ihrer Hoheit und Fürtreflichkeit zu üben?297
Obliegt es den »Weltweisen« mit dem Licht des Verstandes immer tiefer in die Dinge einzudringen und ihre tiefsten Gründe freizulegen, hat das Streben des Dichters, wie er Pyra vor Augen schwebt, gewissermaßen einen entgegengesetzten Richtungssinn. Nicht die »dunckeln Tiefen der Wahrheit« sind sein Reich, sondern die lichten Höhen der »Volkommenheiten und Gipfel der Dinge«. Dorthin soll er seinen »Geist erheben«, und dies geschieht konkret auf die Weise, dass er »seine Kräfte in der Vorstellung ihrer Hoheit und Fürtreflichkeit übt«. Der Dichter, so viel lässt sich diesen Bestimmungen immerhin entnehmen, sucht nicht nach Gründen, sondern späht aus nach Dingen oder Aspekten von Dingen, die sich durch irgendwelche Vollkommenheiten oder Vortrefflichkeiten auszeichnen; er tut dies, indem er sich und anderen diese Vortrefflichkeiten vorzustellen sich bemüht. Wie die anschließende Passage deutlich macht, beinhaltet diese Aussage eine psychologische Pointe. Denn bei jenem Bemühen handelt es sich um die Übung im Umgang mit einem bestimmten Seelenvermögen: 297
ÜE 51.
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Warum soll denn dieses fruchtbarste Theil der Seele voll Unkraut, und ungebauet bleiben? Ihr kennet ja den starken Einfluß der VorstellungsKraft auf die Begierden: Die Weißheit selbst verlieret ohne ihre Hülfe an den meisten Seelen die Kraft, zu tugendhaften Handlungen zu bewegen.298
Mit der Vorstellung von Vollkommenheiten und Vortrefflichkeiten ist offenbar ein bestimmter »Teil der Seele« angesprochen, den Pyra als ›Vorstellungskraft‹ bezeichnet. Wenngleich diese Bezeichnung terminologisch Anlass zur Irritation gibt, zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass die von Pyra in Anschlag gebrachte Psychologie sachlich mit Wolff und Baumgarten konform geht.299 Demnach meint ›Vorstellungskraft‹ für Pyra nicht nur das basale Vermögen der Seele, Dinge mental zu repräsentieren, die vis repraesentativa. Vielmehr konvergiert sein Begriff mit dem engeren schulphilosophischen Terminus der facultas cognoscitiva. Quelle der dabei erzeugten Vorstellungen können die äußeren Sinne sein, aber auch die (reproduktive) Einbildungskraft, die dem Bewusstsein entfallene Vorstellungen wieder aufrufen, d.h. dem Vorstellungsvermögen wieder zuführen kann, wobei sie durch das Gedächtnis als schon einmal vorgestellte Vorstellungen identifiziert werden. Außerdem käme die produktive Einbildungskraft (oder ›Erfindungskraft‹), welche aus Elementen vorhandener Vorstellungen neue Vorstellungen zusammenzusetzen vermag, als Schöpferin kognitiver Repräsentationen infrage. Nun ist es laut Pyra das schätzenswerte Geschäft der Dichter, diese Kraft der Repräsentation nicht »ungebauet« zu lassen, sondern von »Unkraut« zu reinigen, zu kultivieren. Begründet wird selbige Kultivierungsaufgabe mit dem »starken Einfluß der VorstellungsKraft auf die Begierden« – ein Gedanke, der unschwer als Variation des rhetorisch-poetologischen Axioms vom Wirkungszusammenhang zwischen Einbildungskraft und Herz zu erkennen ist.300 Pyra bezieht sich auf dieses Axiom hier freilich nicht im Sinne einer poetologischen Maxime – das wird er mit der Formel »Besiege die Phantasie!«301 an anderer Stelle tun –, sondern er thematisiert deren psy-
298
Ebd. Nach Maßgabe der empirischen Psychologie Leibniz-Wolff’scher Provenienz ist die Vorstellungskraft nicht ein Teil der Seele, sondern die Seele ist Vorstellungskraft, welche sich in Erkenntnis- und Begehrungsvermögen ausdifferenziert. Vis repraesentativa zu sein ist das zentrale Definitionsmerkmal der Seele; vgl. Met. § 506. Dass die Schulphilosophen die Unterscheidung zwischen ›Kraft‹ und ›Vermögen‹ freilich selbst terminologisch nicht immer streng einhalten, lässt sich schon an dem allgemein gebrauchten Begriffsausdruck ›Einbildungskraft‹ ablesen, der streng genommen ein Vermögen bezeichnet (vgl. auch Met. § 216, wo Baumgarten vis als Explikationsbegriff für facultas gebraucht). 300 S.o. Kap. 2.2. 301 Vgl. Erw. 54: »Es ist also der erste Hauptlehrsatz der Dichtkunst[:] Besiege die Phantasie«; vgl. 27: »Was ist den Allegorischen Vorstellungen aber für eine andre [sc. Ab299
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
chologische Grundlage, das Gesetz von der Resonanz der Vorstellungen im Begehrungsvermögen.302 Und er spricht damit offensichtlich sogleich das systematisch in diesem Zusammenhang lokalisierte Problem an, wie der Wille zum Handeln bewegt werden kann, also – ohne den einschlägigen Begriff zu nennen – das Problem der ›toten‹ bzw. ›lebendigen Erkenntnis‹. So bedarf nach Pyra die Weisheit, der Inbegriff von »Wahrheiten«, der Unterstützung durch die ›Vorstellungskraft‹, um das Begehrungsvermögen zu wecken und ihr entsprechende, »tugendhafte« Handlungen hervorzubringen. In der Terminologie der Wolff-Baumgarten’schen Psychologie formuliert: Die Weisheit muss aus dem Modus der ›symbolischen‹ in ›anschauliche Erkenntnis‹ überführt werden, weil die symbolische Erkenntnis immer tot, nur die anschauliche Erkenntnis hingegen (je nach dem Grad an Lebhaftigkeit respektive extensiver Klarheit ihrer Vorstellungen) mehr oder weniger lebendig ist.303 Die von Pyra dem Dichter zugewiesene Aufgabe besteht demnach darin, in seiner Dichtung (möglichst lebhafte) Vorstellungen von der »Hoheit und Vortrefflichkeit« der Dinge zu bilden und auf diese Weise einen förderlichen Einfluss auf das Begehrungsvermögen der Menschen auszuüben. Sein Medium bei diesem Unterfangen ist natürlich die Sprache: Die Rede ist das Mittel, wodurch wir in andrer Gemüte diejenigen Begriffe[,] die wir wollen, bilden können. Diese Fähigkeit sind wir der Weißheit des algemeinen Schöpfers schuldig. Er hat dabey die nuzbarsten Absichten gefüret. Wir sind verpflichtet, in dem Gebrauche dieses Pfundes seinem Rathe zu gehorchen. Kan man aber wohl ein vortreflicheres Muster erwehlen, als das selbst in dem Himmel ist ausgelesen worden?304
Mit Anspielung auf das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden305 und mit Verweis auf die Heilige Schrift als das »vortreffliche Muster« hält Pyra dem sicht; M.F.] gerecht, als auf die EinbildungsKraft und dadurch aufs Hertz zu würken«; und FErw. 22: »die nöthige Würckung auf die Einbildung und das Herz«. 302 Siehe dazu Kap. 2.2. 303 S.o. Kap. 2.2.2. In schlichterer Variante findet sich der nämliche Gedanke auch bei den Schweizern; vgl. J. J. BODMER: Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde der Dichter (1741), 138f: »Mit aller unserer Liebe zur Wahrheit lieben wir gemeiniglich die theoretischen Begriffe nicht sonderlich, weil diese sich öfters ohne grosse Mühe nicht begreiffen lassen, und für den grösten Haufen der Menschen voller Dunckelheit sind. Die Leute halten mehr von sinnlichen Bildern, sie arbeiten mehr mit der Phantasie als mit dem Verstande. Eben darum kömmt es ihnen so sauer an, die allgemeinen, geistlichen, und theoretischen Dinge, und die abgezogenen vor den Sinnen verschlossenen Wahrheiten zu verstehen; und diese Arbeit muß ihnen von der vortrefflichen poetischen Schilderey ersparet werden, indem die schweren und metaphysicalischen Grundwahrheiten so geschickt in sinnliche Farben und cörperliche Ausdrücke eingekleidet werden, daß das rohe Volk selbst sie begreifen kan, und wenn es sie auf diese Weise versteht, ein Ergetzen daran empfängt«. 304 ÜE 52. 305 Mt 25,14–30; Lk 19,12–27.
3. Poetologie religiöser Dichtung: Jakob Immanuel Pyra
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Dichter den rechten Gebrauch der Rede als den ihm von Gott aufgetragenen Beruf vor Augen. Es ist der Beruf des Dichters, die menschliche Gabe der Rede zu kultivieren und in bestimmter Weise zu gebrauchen. Mit der Rede nämlich ist dem Menschen das überaus wertvolle Potential gegeben, die eigenen ›Begriffe‹ (hier im weitesten Sinne von ›Vorstellungen‹ gebraucht) anderen Gemütern einzubilden, um daselbst, aufgrund des angesprochenen Zusammenhangs von Vorstellen und Begehren, die affektive Wirkung zu erzielen, die mit den betreffenden Vorstellungen natürlicherweise verbunden ist. Denn die Rede … ist warlich eine Art von einer Zauberey, durch einige Züge der Feder, durch einige T[ö]ne, in des andern Seele Gedanken zu erwecken, ja alle Leidenschaften aufzubringen, und sie in volles Feuer zu setzen.306
Es sind freilich nicht irgendwelche Gedanken und Leidenschaften, die es in dem Gemüt des anderen zu erwecken gilt. Es sind vielmehr solche aus der Sphäre von Religion und Tugend: Die Bewunderung des Urhebers der Welt und seine[r] Werke[,] die Liebe der Tugend, der Haß des Lasters sind die anständigsten Absichten des ewigen [lies: Ewigen; M.F.], die glückseeligsten Gesch[ä]fte der Sterblichen. Nichts ist g[ö]ttlicher als deren Beförderung. […] Die Bewundrung wird von einer gewaltigen Bewegung der EinbildungsKraft durch einen ungemeinen Vorwurf, die Liebe von der starken Vorstellung des guten oder der Volkommenheiten, der Haß durch die fürchterliche Einbildung des schädlichen oder abscheulichen aufgebracht. Jeder siehet, daß man also nothwendig die EinbildungsKraft mit außerordentlichen und hohen Bildern solcher Dinge überfallen und dadurch in volle Bewegung setz[ ]en muß. Kan dis anders als durch hohe Reden volzogen werden[?]307
Pyra nennt drei Leidenschaften, die es im Gehorsam gegenüber den »Absichten des Ewigen« zur Mehrung menschlicher Glückseligkeit durch die Rede zu erregen gilt: Bewunderung, Liebe und Hass. Dabei sind ›Liebe der Tugend‹ und ›Hass des Lasters‹ die komplementären Seiten einer affektiven Einstellung, die man als Begehren des Guten (und die darin implizierte Abscheu vor dem Bösen) summieren kann. Mit der »Bewunderung des Urhebers der Welt und seiner Werke« wiederum ist diejenige affektive Ergriffenheit angesprochen, die gegenüber Gott und seinen Werken natürlicherweise Platz greift. Kurz: Ziel der von Pyra propagierten poetischen Rede ist die affektive Ergriffenheit durch Gott und das Gute. Weiterhin äußert sich Pyra auch über die Vorstellungen, deren sprachliche Mitteilung Aussicht hat, selbiges Ziel zu erreichen. Er tut dies in einer affekttheoretischen Zwischenüberlegung, die sich im Kern mit der schulphilosophischen Theorie des Begehrungsvermögens deckt. Sonach entste306 307
ÜE 57. ÜE 52.
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
hen Liebe und Hass generell aufgrund der – möglichst »starken«308 – »Vorstellung des Guten oder der Vollkommenheiten« bzw. von dessen Gegenteil, dem »Schädlichen oder Abscheulichen«.309 Pyra zieht den Schluss, dass die intendierte Affektwirkung, Bewunderung Gottes bzw. Liebe des Guten, mit einem »Überfall« auf die Einbildungskraft des Rezipienten zu erreichen sei, in welchem dessen Vorstellungsvermögen »mit außerordentlichen und hohen Bildern solcher Dinge« bestürmt wird: von »Dingen«, so lässt sich erschließen, die der Tugend (bzw. dem Laster) angehören, oder in denen Gott als ihr Urheber erkennbar wird. Zudem rechnet Pyra wohl auch Gott selbst und seine Vortrefflichkeiten zu den »Dingen«, die als Vorstellungsgegenstände »hoher Reden« infrage kommen; rühmt doch bereits Longin an Mose, er habe, so die Übersetzung Pyras, »die Almacht Gottes nach aller Hoheit und Würde vorgestelt«310. Schon aufgrund der wenigen interpretierten Passagen von Pyras Essay lässt sich vorläufig festhalten, dass sich dessen in der Longin-Lektüre gewonnene Idee hoher Rede strukturell und inhaltlich in hohem Maße mit den ästhetischen Reflexionen der hallischen Zeitgenossen berührt. Pyras Poetik des Hohen zielt auf die Erweckung moralischer und religiöser Affekte mit den Mitteln der Rede, und das heißt psychologisch: mit der Fähigkeit der Rede, mittels der sprachlichen Evokation bestimmter moralisch bzw. religiös relevanter Vorstellungen Einfluss auf die affektiven Schichten der Seele zu nehmen. Nach diesem ersten Zwischenresümee ist nun etwas eingehender auf die Einzelheiten von Pyras Reflexionen einzugehen (3.4.2), um – unter Einbeziehung anderer zeitgenössischer Entwürfe – einen detaillierteren Begriff von den Voraussetzungen und Grundoptionen der deutschsprachigen Erhabenheitstheorie um 1740 zu vermitteln (3.4.3). Anschließend ist dann noch einmal auf das religiöse Interesse von Pyras Longin-Rezeption zurückzukommen (3.5).
308
Vgl. Met. § 515. Im Vergleich mit der oben vorgeführten Begehrenstheorie Baumgartens (s.o. Kap. 2.2.2) ist zu notieren, dass der konstitutive Zukunftsverweis bei Pyra unerwähnt bleibt. Ansonsten konvergieren die Bestimmungen, nur dass Pyra statt der begehrenstheoretischen Grundstrebungen ›Begierde‹ (appetitio) und ›Abneigung‹ (aversatio) die korrelierenden Grundaffekte ›Liebe‹ und ›Hass‹ nennt. Im Übrigen fällt auf, dass Pyra an dieser Stelle nicht allgemein von der Vorstellungs-, sondern spezifischer von der Einbildungskraft spricht. 310 ÜE 46. 309
3. Poetologie religiöser Dichtung: Jakob Immanuel Pyra
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3.4.2. Die Elemente des Erhabenen Pyra zufolge kommt es bei der poetischen Realisierung des Erhabenen nicht allein darauf an, dass die genannten ›hohen Dinge‹ dargestellt werden, sondern vor allem darauf, dass sie auf eine bestimmte Weise dargestellt werden, nämlich in »außerordentlichen und hohen Bildern«. Es ist damit eine Grundunterscheidung von Pyras Theorie berührt, nämlich die aus der zeitgenössischen Rhetorik311 entnommene Differenzierung zwischen (hohen) Sachen, (hohen) Gedanken und (hoher) Rede (oder Schreibart). Pyra widmet sich dieser Unterscheidung vornehmlich im ›dritten Hauptstück‹ seiner Abhandlung und entwickelt dort mit ihrer Hilfe einen gestuften Erhabenheitsbegriff, wie er für die Hallische Ästhetik der Zeit charakteristisch ist. Um einen Grund- oder »HauptBegriff des Hohen oder der Hoheit« zu erheben, der in erster Linie ein Begriff von der Hoheit der Sachen ist, setzt Pyra beim »algemeinen Gebrauch dieses Wortes« an:312 Auch Kinder werden Rechenschaft geben, warum hervorragende Gebäude und Berge hoch genennet werden: Die Natur oder Kunst hat ihre Wercke entweder ganz oder eines starken Theiles nach so hoch über andre ihrer Art in die Luft geführet, daß sie mit einem so stolzen Vorzuge sich von den übrigen unterscheiden, und gleich vor den übrigen in die Augen fallen[,] ja oft Verwunderung erwecken. Eben deswegen hat man aber das Beywort hoch andern Dingen mitgetheilet[,] die sich zwar nicht durch die Ausdehnung sondern nur durch besondre Zufälligkeiten und Eigenschaften von den übrigen entfernen; So h[ö]ret ihr von hohen Personen hohen Thaten Tugenden pp reden. […] Wenn wir aus dem allen den HauptBegriff des Hohen oder der Hoheit heraussuchen, so werden wir finden, daß er in nichts anders bestehet, als in den besondern Vorzügen[,] wodurch ein Ding alle übrigen übertrift, und sich bewundernswürdig machet.313
›Hoch‹ wird genannt, was sich über andere Dinge gleicher Art in bestimmter Hinsicht, durch besondere »Vorzüge« erhebt, sei es im ursprünglichen Sinn, also seiner Ausdehnung nach (z.B. »hervorragende Gebäude und Berge«), sei es im übertragenen Sinn, im Hinblick auf andere Eigenschaften (z.B. hohe Personen, Taten, Tugenden). ›Hoch‹ ist sonach, mit einem von Pyra immer wieder gebrauchten (und von Longin übernommenen) Wort, das in bestimmter Beziehung ›Außerordentliche‹, das entsprechende ›Verwunderung‹ erregt. Indessen kann der allgemeine Sprachgebrauch das Prädikat ›hoch‹ keineswegs nur solch hohen »Dingen« zuweisen: Wir wollen einige Schritte weiter gehen, und da werden wir auch hohe Gedanken und Reden benennen hören. […] Ich erinnere nochmahls, daß in unsrer Seele sich 311 Hier wäre etwa an J. A. FABRICIUS: Philosophische Oratorie (Leipzig 1724) zu denken, wo es heißt: »den[n] ein hohes obiectum und die gedancke davon, ist ia nicht mit dem ausdruck einerley« (279; zit. n. D. TILL: Das doppelte Erhabene, 257). 312 ÜE 63. 313 Ebd.
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sodann ein hoher Gedancke befinde, wann wir uns eine Sache, in dem starken Glanze außerordentlicher Vorzüge einbilden, und daß die Rede oder Schreibart sodann hoch ist, wann ich die würdigen Zeichen derselben so ordne, daß daraus mein Gedanke mit seiner vollen Kraft in die Seele des Leser leuch[ ]te. […] Diese Beschreibung ist der Grund[,] so überall liegen muß, wofern mein Lehrgebäude sicher stehen soll.314
Der Abschnitt enthält Pyras grundlegende Definition, die das Erhabene gewissermaßen als zusammengesetztes Phänomen begreift, zusammengesetzt aus den Elementen ›hohe Sachen‹, ›hohe Gedanken‹ und ›hohe Rede‹. Grundlegend dafür ist das semiotische Axiom, wonach die »Rede oder Schreibart« als Komplexion (»Ordnung«) von Zeichen für eine ganz bestimmte Komplexion von Gedanken zu verstehen ist.315 Demgemäß hängt die Höhe der Rede von ihrer Leistung ab, die hohen Gedanken des Redners getreu zu bezeichnen und sie der Seele des andern so mitzuteilen, dass sie daselbst die ihnen innewohnende »Kraft«316, die Wirkung auf das Affektleben, entfalten können. Schwieriger zu fassen ist der Begriff der ›hohen Gedanken‹ selbst im Unterschied zu demjenigen der ›hohen Sachen‹. Denn nach Pyra ist die Relation Sache/Gedanke (von der Sache, dem Sujet) nicht identisch mit der Relation Sache/Vorstellung (von der Sache). Vielmehr ist der Gedanke eine ganz bestimmte Art von Vorstellung. Pyras verwickelte Ausführungen zu dieser Frage lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass ein ›Gedanke‹ nicht einfach ein mentales Bild der Sache ist (wie die einfache Vorstellung)317, sondern eine Verknüpfung von Vorstellungen, nämlich die Vorstellung einer Sache als etwas.318 Ein hoher Gedanke ist sonach die Vorstellung 314
Ebd. Vgl. ÜE 57: »Es sind in der Rede oder Schreibart, welches einerley ist, Zeichen der Gedanken zusammen geordnet, und jedes Wort bezeichnet ein besondres Merkmal meines Gedankens oder meiner Vorstellung. Wenn unsern Zuhörer oder Leser die Bedeutungen der Worte bekannt sind, so wird er eben die Merkmale in der Ordnung als die Worte stehen, zusammensetzen und so wird eben der Gedanke und die Reihe von Vorstellungen in seinem Geiste entstehen, die wir in unsrer Seele gehabt, und ihm zu empfinden geben wollen. Dis ist der Zweck der Rede oder Schreibart. Und dis ist warlich eine Art von einer Zauberey, durch einige Züge der Feder, durch einige Tone, in des andern Seele Gedanken zu erwecken, ja alle Leidenschaften aufzubringen, und sie in volles Feuer zu setzen. Ihr dürft aber ohne eine schädliche Veränderung des Gedankens kein Wort mit den andern verwechseln«. 316 Vgl. den Begriff robur Met. § 515. 317 Vgl. ÜE 64: »In den Vorstellungen erblickt die Seele Bilder der einzel[n]en Dinge«. 318 So kann Pyra etwa die Begierden »unter das Geschlecht der Gedanken rechne[n]«, weil sie »entstehen, wann [man] die Vorstellungen von den Guten und Bösen mit den Begrifen von den Nutzen u[nd] Schaden in Ansehung meines Zustandes vereiniget« (ÜE 66). Eine Begierde erwacht, wenn die Vorstellung eines (zukünftigen) Dinges mit seinen (zukünftigen) Folgen verknüpft wird mit der Vorstellung meines (zukünftigen) Zustandes und demjenigen, was ihm zuträglich oder abträglich ist, was seine Vollkommenheit 315
3. Poetologie religiöser Dichtung: Jakob Immanuel Pyra
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eines Dinges als »Gipfelphänomen«: als ein Ding, das andere Dinge gleicher Art weitaus übertrifft. Es ist die Vorstellung einer vortrefflichen Sache »in dem starken Glanze außerordentlicher Vorzüge«, also unter besonderer Hinsichtnahme auf ihre Vorzüglichkeit im Vergleich mit dem Gewöhnlichen. Die skizzierte Unterscheidung zwischen ›hohen Sachen‹ und ›hohen Gedanken‹ hat offenbar vor allem die poetologische Funktion, eine notwendige Angemessenheitsrelation einzuschärfen. Dies wird an korrespondierenden Überlegungen G. F. Meiers zur ästhetischen Größe deutlich.319 Ausgehend von der Maxime, dass für die Rede möglichst hohe Gegenstände zu wählen sind, hebt Meier sogleich die Notwendigkeit entsprechend erhabener Gedanken hervor: [D]ie Gedanken müssen diesen Gegenständen proportioniert seyn, dergestalt, daß sie, durch die Gedanken, in denjenigen Gesichtspunct gestelt werden, aus welchem man sie in ihrer völligen Grösse sehen kann…320
Anders gesagt: [D]ie Grösse der Sache mus […] dergestalt vorgestelt werden, daß man, durch die Vorstellung, die Sache in ihrer Grösse und als eine grosse Sache gewahr wird. Dieses Stück ist unentbehrlich. Man kan, um so zu reden, die grösten Dinge durch ein Verkleinerungs-Glas betrachten, und da ist eben es so viel, als wäre sie gar nicht gros. Die allervortreflichsten Gegenstände schrumpfen, unter den Händen eines kleinen Geistes, zusammen, und sie verlieren in dem Gesichtspuncte solcher Leute alle Grösse.321
Dass die Grundregel der »erhabenen Denkart (genus cogitandi sublime, magnificum, uyow)«322, die Regel der ›Proportioniertheit‹ von erhabenen Gegenständen und erhabenen Gedanken, keine Banalität ist, zeigt für Meier die Dichtung »kleiner Geister« vom Schlage eines Lohenstein323, die noch im erhabensten Sujet ihre nichtswürdigen Kleinigkeiten ausbreiten oder umgekehrt mit haltlosen Übertreibungen einen falschen Schein von Erhabenheit mehrt oder mindert. Die Begierde, oder genauer: deren Triebfeder – so ließen sich diese Ausführungen im Horizont von Baumgartens Metaphysik reformulieren – ist eine Vorstellung eines Dinges als eines potentiellen mihi bonum, also eine Vorstellung desselben unter einer bestimmten Hinsicht, nämlich sub ratione (mihi) boni (vgl. Met. § 660; s.o. Kap. 2.2.2). 319 Diese Ausführungen haben ihre Entsprechung in Baumgartens Aesthetica in den Paragraphen zur magnitudo aesthetica materiae relativa (§§ 17ff). Vgl. oben Kap. 2.1.2 und 3.2.1. 320 ASW 169. 321 ASW 119. 322 ASW 68. 323 Vgl. ASW 177: »Lohenstein sagt an einem Orte: der götlichen [!] Vorsehung in die Speichen treten. Wer kein Bauer ist, der versteht nicht einmal diese Redensart; kan man es ihm daher wol vergeben, daß er so eine erhabene Sache, als die göttliche Vorsehung ist, mit einer so niederträchtigen Redensart ausdruckt?«
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zu erzeugen versuchen. Deshalb bedarf es auch der gesonderten Behandlung dieser beiden Abirrungen vom erhabenen Denken, des »Kriechenden«324 und des »Schwulstes«325. Der erste Fehler liegt, wie gesagt, vor: Wenn man grosse und würdige Gegenstände auf eine Art denkt, die sich nur für Kleinigkeiten und Narrenspossen schickt. […] Es ist zu bedauren, daß viele Geistliche diesen Fehler, bey dem Vortrage göttlicher Wahrheiten, begehen. Ich erinnere mich gelesen zu haben, daß jemand das Bekehrungsgeschäfte des heiligen Geistes, unter dem Bilde eines Schornsteinfegers vorgestelt, wie er ins Herze fährt, dasselbe auskehrt, und, wenn er fertig ist, Abba lieber Vater ruft. Heißt dieses nicht die göttlichen erhabenen Wahrheiten lächerlich und verächtlich machen? Ein einziges Wort verursacht manchmal diesen Fehler. Der Engländer Blachmor [sc. Richard Blackmore (1654–1729); M.F.] sagt, in seinem Hiob, von GOtt: er mißt mit einer wundersamen Geschicklichkeit alle Tropfen, womit die schwarzen Wolken ihre schwimmenden Bouteillen füllen. Das Wort Bouteille verdirbt hier alles.326
Es werden zwei misslungene Metaphern als Beispiele des ›Kriechenden‹, des »Zu-niedrig-Denkens vom Hohen« angeführt. Das erste stammt aus einer Predigt, für Meier der vorzügliche Ort der Realisierung des Erhabenen – und seiner Verfehlung.327 Durch eine Metapher wird ein »Gegenstand« »un324
Vgl. ASW 176. Vgl. De subl. 4. Vgl. ASW 180ff. Vgl. De subl. 3. 326 ASW 139f. 327 Vgl. UVG 77: »Ich darf [lies: muß; M.F.] nicht beweisen, daß die meisten Predigten, die unter uns gehalten werden, nicht einmal den Schatten einer wahren und männlichen Beredsamkeit an sich haben. Die allermeisten Prediger tragen, die erhabenen Wahrheiten der Religion, auf eine so elende niedrige und kriechende Art vor, daß es unverantwortlich ist. Ja einige gehen gar so weit, daß sie es für eine Sünde und für ein weltliches Wesen halten, oratorisch zu predigen. Ich stehe dafür, daß iederzeit derienige Prediger, den man einen hertzlichen, einen lieben Mann nennt, so etwas in den Tag hinein schwatzt, daß Leute von Verstande und Geschmack ein Mitleiden mit ihm haben. Man kan diese Männer durchaus nicht entschuldigen. Die Männer GOttes in der Bibel sind ihnen, mit gutem Exempel, vorgegangen. Esaias hat ein solches Feuer der Beredsamkeit bewiesen, daß ihm weder Demosthenes, noch Cicero völlig gleich sind, und Paulus ist so gar von Longin bewundert worden. Ein ieder wird mir zugestehen, daß der herrschende Geschmack der Deutschen in Absicht auf die Beredsamkeit, von den Predigern gebildet werde. Muß derselbe also nicht verdorben seyn, da die meisten Prediger keine Beredsamkeit beweisen?« – Es ist an dieser Stelle zu bemerken, dass sich J. G. WALTHERs Der Unterschied des Erhabenen in einer Rede, nach des Hermogenes und Longins Grundsätzen (1742), eine der ersten deutschsprachigen Auseinandersetzungen mit Longin neben derjenigen Pyras und Heinekens, dem Erhabenen ausdrücklich aus homiletischem Interesse widmet. Walther stellt in dem Aufsatz »einige Betrachtungen über das Hohe in der geistlichen Beredsamkeit« an, mit dem Ziel zu »zeigen, daß dieses Erhabene weit vollkommener und weit öfterer [!] in der christlichen Beredsamkeit, als in den Reden eines Demosthenes und Cicerons [!], vorkomme« (320). Auch für Walther steht und fällt das Erhabene mit der Größe der dargestellten Sachen bzw. Gedanken – zwischen beidem wird nicht differenziert –, die es eindrücklich darzustellen gilt: »Alles geht endlich dahinaus, daß das Erhabene in der Rede aus einem oder mehrern großen Gedanken entstehe, die sich zusammen auf einen richtigen Vernunftschluß gründen, die Sache völlig erschöpfen, und dem Gemüthe so wohl auf 325
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ter dem Bilde« von etwas, er wird als etwas anderes vorgestellt (z.B. der heilige Geist als Schornsteinfeger), und insofern hier eine Verknüpfung von Vorstellungen vorliegt, durch die der Gegenstand in einen bestimmten »Gesichtspunkt gestellt«, in ein bestimmtes Licht gerückt wird, liegt jeweils ein »Gedanke« vor. Im Falle der missglückten Metaphern ist dies allerdings kein hoher, sondern ein »poßierlicher«328 Gedanke, weil die Verknüpfung der Vorstellung von dem hohen ›Gegenstand‹ (dem Heiligen Geist) mit der Vorstellung eines Schornsteinfegers (mit all den Assoziationen eines gewöhnlichen, geringgeachteten und schmutzigen Berufes) jenen, um noch einmal Pyra heranzuziehen, nicht mit einem »außerordentlichen und hohen Bild«329 vor Augen führt, sondern im Gegenteil mit einem sehr niedrigen. Auf diese Weise wird das göttliche Handeln bzw. sein Subjekt, der heilige Geist, nicht »in dem starken Glanze außerordentlicher Vorzüge« vorgestellt, sondern, gewissermaßen durch ein Verkleinerungsglas, als etwas ganz Gemeines. Und so wird die »göttliche erhabene Wahrheit«, solchermaßen »lächerlich und verächtlich« gemacht, kaum die ihr gebührende Bewegung der Seele hervorrufen. Als konkrete Anweisung aus dem dargelegten Proportioniertheitsgebot folgt laut Meier für den Redner oder Poeten: Wer in den schönen Gedanken jedesmal die gehörige Grösse erreichen will, der mus […] diejenigen Ursachen seines Gegenstandes, oder diejenigen Theile desselben, oder die Folgen und Würkungen aussuchen und vorstellen, welche den Gegenstand in dem Grade der Grösse und Würde vorstellen, den er vorstellen will…330
Die erhabene Denkart, also die Fähigkeit, dem erhabenen Gegenstand angemessene ›Gedanken‹ zu bilden, ist in erster Linie eine Kunst der Auswahl geeigneter Aspekte des zu präsentierenden Gegenstandes331 bzw. – wie sich aus der oben vorgeführten Metaphernkritik schließen lässt – der Auswahl eine neue und lebhafte als recht durchdringende Art vorgehalten werden« (330). Mit deutlichen Anklängen an das wolffianische Gründlichkeitsideal, aber ohne Rekurs auf das Baumgarten’sche Sinnlichkeitstheorem führt die Argumentation auf den Nachweis, dass das Erhabene erst innerhalb des Christentums voll verwirklicht werden kann; waren doch die heidnischen Rhetoren, die Longin als Heroen des hypsos vorstellt, »noch ungemein weit von der Hoheit des Geistes entfernet, zu welcher wir allein auf den Stuffen unser allerheiligsten Religion gelangen« (331). Erst die Offenbarung liefert die unübertrefflich hohen Gegenstände für die wahrhaft erhabene Rede – wie sie mindestens im Idealfall auf der Kanzel erklingen kann. Als Vorbilder dafür werden der berühmte altkirchliche Prediger Chrysostomus sowie der Reformator Luther angeführt: »Diese zween großen und recht heroischen Redner haben durch ihr Exempel gewiesen, wie viel man von einem christlichen Redner fordern könne, welcher der Hoheit unserer Religion mit einem lebhaften und durchdringenden Vortrage nahe kommen will« (335). 328 ASW 177. 329 ÜE 52. 330 ASW 185f. 331 Vgl. De subl. 10.
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adäquater Bilder für denselben: von Bildern, welche ihn in »gehöriger Grösse« oder Würde erscheinen lassen.332 Die erhabene Schreibart wiederum hat die hohen Gedanken dann in möglichst ›proportionierte‹ Worte zu fassen, um jene dem Rezipienten möglichst getreu mitzuteilen. Das Erhabene wird von Pyra wie von Meier, so lässt sich als Zwischenergebnis notieren, seiner darstellungsästhetischen Seite nach als doppelte Proportioniertheitsrelation konzipiert. Es kommt zustande, wo ein hoher Gegenstand in adäquate Gedanken und wiederum diese hohen Gedanken in adäquate Rede umgesetzt werden.333 Außerdem gehört zur Bestimmung des Erhabenen als dessen »vornehmstes Merkmahl«334 seine charakteristische Wirkung auf die Seele: Wan ich nun einem Dinge solche Eigenschaften oder Vorzüge in Gedanken zueigne[,] die bey den gewöhnlichen Vorwürfen uns entweder gar nicht oder doch nicht in einem so hohen Grade aufstoßen[,] so wird die Seele dadurch in ihrer Gleichgültigkeit gestöhret. Es entstehen in ihr ungewöhnliche Veränderungen. Verwunderung Erstaunen Schrecken. […] Stellet euch die Handlung[en,] Reden und Entschl[ü]sse der Götter und Helden vor. Ihr werdet erstaunen. Stellet euch die Wunderwerke der mächtigen Natur[,] der Kunst, oder ihre schreckliche Würkungen im Geiste vor. Ihr werdet erstaunen, erschrecken. Wie nennet man alle diese Gedanken überhaupt? Ich bin sicher alle werden antworten[:] hoch!335
Die hohen Gedanken, Produkt einer »Zueignung von Vorzügen« zu der Vorstellung eines Gegenstandes, stören die Gleichgültigkeit der Seele. Die Aufhebung der Gleichgültigkeit ist der schulphilosophischen Psychologie nach gleichbedeutend mit der Weckung des Begehrungsvermögens, das neben dem Willen (im engeren Sinne) auch die Affekte umfasst. Mit der Halli332
Vgl. ASW 124. Die nämliche Erhabenheitskonzeption formuliert mehr als zwei Jahrzehnte später denkbar knapp J. F. W. JERUSALEM: Briefe über die mosaischen Schriften (1762), unter Hinzunahme des Kriteriums der »majestätischen Kürze« (85). Dort heißt es im vierten Brief ›Von der Schreibart des Ersten Buchs und der Ersten Capitel in demselben insbesondere‹, dass »das Erhabne darinn besteht, daß eine große Sache in wenig Worten so gefasset ist, daß bey den wenigen Worten die Sache sich in ihrer vollen Größe dem Verstande darstellet« (86). Es folgt der Schluss, dass demnach kaum etwas erhabener zu nennen sei als das Fiat lux aus Gen 1. Die Korrelation von Gegenstand, Gedanke und Sprachausdruck hat eine fundamentale Funktion auch bei F. G. KLOPSTOCK: Gedanken über die Natur der Poesie (1759); vgl. unten Kap. 5. 334 Vgl. ÜE 64: »Longin giebt als das vornehmste Merkmahl und Ehrenzeichen[,] welches das hohe unterscheide[,] das algemeine Erstaunen oder doch die Bewunderung an die es in allen würket. Dis ist ein wichtiger Satz des grösten Meisters der und das Nachdenken aufleget. Es ist eine Würkung die er als einen Beweiß von dem Daseyn einer Uhrsache vorlegt. Wir konnen nicht beßer, als von jener auf dieser Beschaffenheit zurückschließen. Die Bewunderung und das [E]rstaunen ist eine Gemüthsbewegung die durch den Anblick oder die Empfindung und Vorstellung eines außerordentlichen Vorwurfs erreget wird.« 335 ÜE 66f. 333
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schen Ästhetik hebt Pyra auf die Erregung Letzterer ab. So sind die »ungewöhnlichen Veränderungen«, die angesichts der hohen Gedanken im Gemüt vor sich gehen, Verwunderung bzw. Erstaunen336 einerseits und Erschrecken337 andererseits – eine Doppelung, die nicht nur der zwiespältigen Beschreibung des Erhabenen in Peri Hypsous entspricht, sondern ohne weiteres auch der duplizitären Struktur der klassischen Affekttheorie, die Begehren und Verabscheuen als die beiden Grundrichtungen der Gemütsbewegungen begreift. Die potentiellen Gegenstände oder Sujets hoher Gedanken unterteilt Pyra in zwei große Gruppen: zum einen außerordentliche Personen (im weitesten Sinne: die »Handlungen, Reden und Entschlüsse der Götter und Helden«), zum anderen außerordentliche Dinge, sei es der Natur oder der menschlichen Kunst. Auf der Basis der beschriebenen darstellungs- und wirkungsästhetischen Bestimmungen gelangt Pyra am Ende des ›dritten Hauptstücks‹ zu einem Resümee. Hier wird eine Reihe von Unterarten des Hohen aufgezählt, wobei nicht mehr allein die verschiedenen Gegenstände oder Themen als Differenzkriterium dienen: Laßet uns aus dem allem eine Beschreibung der hohen Rede oder Schreibart zusamenziehen. Sie ist eine solche Ordnung solcher Worte[,] welche einen hohen Gedancken mit allen seinen Begriffen dergestalt vorstellet, daß dadurch in dem Leser eben der vollständige Gedanke nebst denen daher fließenden Veränderungen der Seele entstehen. Diese aber breitet sich in verschiedne Zweige aus. Das [E]rhabne das Majestätische[,] so aus den Handlungen und Aussprüchen der G[ö]tter Helden und Fürsten in den Werken eines Homers oder Virgil leuchtet. Das Prächtige[,] so in ihren stolzen Beschreibungen glänzet. Das [G]roße in den Begriffen Vorstellungen und Verrichtungen außerordentlicher Gegenst[ä]nde Kr[ä]fte und Uhrsachen. Das [P]athetische das [S]chreckliche[,] welches die Schauplätze erschüttert. Die Entzückungen der Dichter die Phantasierenden Einbildungen u[nd] heftigen Affekten ja die Rasereyen. Dis alles würckt Bewunderung Erstaunen Schrecken. Dis alles erkennt man vor was außerordentliches[,] vor so was hohes[,] deßen Gipfel Gemeine Geister zu erreichen verzagen. Da in jeden von diesen sich dasjenige findet, was das Hohe ausmachet, so muß ich sie allerdings für Arten deßelben erklären.338
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Im Hintergrund steht das longinische thaumazein, das Pyra wechselweise mit beiden Begriffen wiedergeben kann. 337 Vgl. Erw. 33, wo Pyra eine Stelle aus Miltons Paradise Lost kommentiert: »Was könnt ihr euch aber erhabners, schrecklichers vorstellen, als einen flammenden Meerbusen, worauf Winde das Feuer oft in fürchterliche Würbel herum reissen und drehen, wobei stets ein stürmisches, schreckliches Brausen von den wütenden Flammen entsteht. Dis Hohe aber hat er nach Longins Vorschlage, blos durch die geschickte Wahl der Umstände so gewaltig und schreckend gemacht. Wie würde der griechische Kunstrichter eine solche Einbildung bewundert haben!« 338 ÜE 67.
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Die Generaldefinition der hohen Rede339 fasst das bisher Ausgeführte noch einmal konzise zusammen, nimmt allerdings nur eine Hälfte der doppelten Angemessenheitsrelation in den Blick, nämlich die Proportioniertheit von Rede und Gedanken. Es wird einmal mehr deutlich, dass diese Proportioniertheit auf die vollständige Mitteilung nicht nur der Gedanken, sondern vor allem auch der mit ihnen »daher fließenden« Gemütsbewegungen zielt. Neu ist die Aufzählung der unterschiedlichen »Zweige« des Hohen, mit der Pyra offenbar möglichst allen bei Longin vorkommenden Momenten des hypsos Rechnung zu tragen versucht. An erster Stelle findet sich mit dem »Erhabnen« bzw. »Majestätischen« die bereits zuvor ausgewiesene gegenstandsbezogene Klasse der Darstellung hoher Personen wieder. Die zweite gegenstandsbezogene Klasse des Hohen aus der zuvor zitierten Passage ist am ehesten mit dem ›Großen‹ angesprochen. Ansonsten wertet Pyra hier auch den Glanz »stolzer Beschreibungen« (das ›Prächtige‹) als Form des Hohen340, aber auch das durch seine spezifische Resonanz ausgezeichnete ›Pathetische‹ bzw. ›Schreckliche‹. Ferner können auch ein produktionsästhetisches Charakteristikum (die »Entzückungen der Dichter«) oder eine weitere Gegenstandsklasse (die »heftigen Affekte«) als Klassifizierungsmerkmale dienen. All diese so inhomogenen poetologischen Phänomene können als Unterarten einer Kategorie gelten, weil sie allesamt zwei Eigenschaften aufweisen, die von Pyra als Wesensmerkmale des Hohen begriffen werden: einmal – darstellungsästhetisch – die Außerordentlichkeit (der Gegenstände, Gedanken und deren sprachlicher Ausführung), zum anderen – wirkungsästhetisch – die Evokation von Erstaunen bzw. Schrecken. Die vermutete Orientierung dieser abschließenden »Beschreibung« des Hohen an Peri Hypsous bestätigt sich in den direkt anschließenden, das ›dritte Hauptstück‹ abschließenden Sätzen: Der große Longin hat fast von allen die vortreflichsten Muster vorgelegt; aber ohne Unterschied, daher sind die meisten dadurch nur verwirrter gemacht worden. Seine Auslegungen sind schön und hoch, aber die Erklärungen und Einteilungen sind entweder nicht deutlich genung oder sie mangeln gar. Kurz[:] er war ein Criticus von eine[m] ungemeinen Geschmacke und scharfsinnigen Geiste, Aber vielleicht nicht Systematisch genung.341
Ob Pyras Systematisierungsversuch im Falle der Veröffentlichung aller Verwirrung bezüglich des Erhabenen ein Ende gemacht hätte, kann hier dahingestellt bleiben. Das Bemühen, den in der Longin-Lektüre gewonnenen, mehr oder weniger klaren Begriff vom Erhabenen auf die Stufe der Deutlichkeit zu heben, ist damit jedenfalls augenfällig bezeugt. 339
Vgl. dazu W. STRUBE: Der Begriff des Erhabenen, 275f. Vgl. hierzu oben Teil I/Kap. 4.2. 341 ÜE 67. 340
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3.4.3. Zeitgenössische Definitionsversuche: Samuel Gotthold Lange und Johann Jakob Bodmer Pyra stand mit seinem Streben nach systematischer Klärung des Erhabenheitsbegriffs nicht allein. Das soll nach den Ausführungen zu Meier ein weiterer Seitenblick auf Reflexionen zweier Zeitgenossen aus seinem näheren und weiteren Umfeld belegen, nämlich von S. G. Lange, dem engen Freund und poetischen wie poetologischen Gesprächspartner Pyras, und J. J. Bodmer, dem bewunderten dichtungstheoretischen Lehrer aus Zürich. Von ihnen – beide Pioniere der jungen Ästhetik – sind Versuche der Definition des Erhabenen erhalten, und zwar in ein und demselben Text: in Bodmers Lehrsätzen von dem Wesen der erhabenen Schreibart, die innerhalb der 1746 herausgegebenen Critischen Briefe von Bodmer und Breitinger gedruckt wurden (als dritter Brief). Carsten Zelle hat wahrscheinlich machen können, dass dieser Brief an den Pastor Lange adressiert war, mit dem Bodmer seit Januar 1745 in schriftlichem Kontakt stand. Demnach antwortet Bodmer mit dem betreffenden Brief auf eine Anfrage Langes, der »eine wohl Anfang 1745 verfaßte, ungedruckt gebliebene ›Abhandlung vom Erhabenen‹ mit der Bitte um ein Urteil an den Züricher Kunstrichter geschickt«342 hatte. Bodmers Schreiben hebt an mit den Zeilen: Mein Herr! Sie fragen mich, ob sie auch irren, wenn sie glauben daß das Erhabene dasjenige sey, welches einen hohen und sonderbaren Grad der Verwunderung verursacht, wie diejenige ist, welche die Seele mit einem feyerlichen Vergnügen erfüllt, wenn sie das Grosse und Ungemeine betrachtet, dieses liege nun in den Werken der Natur, als in unbegränzten Aussichten, stürmischen Seen, erstaunlichen Bergen, oder in wunderbaren Handlungen der Menschen, als in heftigen und begeisterten Gemüthsbewegungen, hohen Proben der Großmuth und Dapferkeit, oder in Gesinnungen, welche sich über die gewöhnliche Beschaffenheit des menschlichen Gemüthes erheben.343
Zelles Hypothese vorausgesetzt, handelt es sich bei dieser Passage um eine von Bodmer zitierte oder von ihm selbst hergestellte Zusammenfassung von Langes Bestimmung des Erhabenen. Folgt man den biographischen Bemerkungen Pyras in seinem Essay Über das Erhabene,344 dürfte diese Theorie 342
C. ZELLE: Angenehmes Grauen, 281. J. J. BODMER: Lehrsätze von dem Wesen der erhabenen Schreibart, 215. 344 Pyra schildert seine Auseinandersetzung mit Longin von der Begeisterung der ersten Lektüre, über die Kenntnisnahme des kritischen »Urteil[s] der grösten Kunstrichter Deutschlands, Bodmers und Breitingers« bis hin zur Konsultation verschiedener LonginKommentare: »Ich fragte die Orakul um Rath, die ihn zu erklären versprachen; Aber ihre Aussprüche machten mich, wie jene Delphische, nur immer ungewißer. Ich verließ sie alle, ich fing selbst an über ihn nachzudenken. […] Endlich verließ ich den Longin selbst, und fing an der Sache nach zu stellen. Inzwischen hatte ich da[s] Vergnügen, mit einem Freunde, der auch hierin mit mir gleich gesinnet war, unsrer Gewohnheit nach, manche 343
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wiederum auf den engen Gedankenaustausch zwischen den beiden Hallenser Theologiestudenten zurückgehen. Auch die sachlichen Konvergenzen zwischen der vorliegenden Definition und derjenigen Pyras legen solches nahe. Wie Pyra formuliert auch Lange ein wirkungs- und ein darstellungsästhetisches Hauptmerkmal des Erhabenen: einmal den subjektiven Effekt der ›Verwunderung‹ (allerdings ohne Nennung des komplementären Affekts, des ›Schreckens‹, dafür mit der schönen Paraphrase als ›feyerliches Vergnügen‹), zum anderen, als dessen objektive Ursache, ›das Grosse und Ungemeine‹, das sich mit Pyras ›Außerordentlichem‹ trifft. Die Ausdifferenzierung des Erhabenen in Gegenstand, Gedanke und Rede findet nicht statt. Dafür schließt sich eine Klassifizierung möglicher erhabener Gegenstände an, die wieder eine ungefähre Entsprechung bei Pyra hat. So lässt sich die grammatikalische Dreiteilung bei Lange (in den Werken der Natur oder in wunderbaren Handlungen der Menschen oder in Gesinnungen) ohne weiteres auf die pyraische Zweiteilung in erhabene Dinge und erhabene Personen zurückführen. Gleichwohl sind hier signifikante Abweichungen von Pyra zu verzeichnen. Erstens erwähnt Lange neben den Werken der Natur nicht die Werke der Kunst. Zweitens beschränkt er sich bei den Personen auf Menschen, wohingegen Pyra gerade auch Gott zum bevorzugten Gegenstand des Hohen erklärt. Insbesondere dieser Punkt ist bemerkenswert. Sollte der Laublinger Pastor, selber einer der Protagonisten der Entdeckung des »Erhabenen in der Heiligen Schrift«345 und in der Religion überhaupt, theologische Vorbehalte dagegen gehegt haben, Gott auch als Gegenstand der Poesie zu betrachten? Die Vorrede zu seiner Poetischen Übersetzung der Psalmen (1746) deutet in diese Richtung. Dort heißt es prägnant: »Nichts ist erhabener als Gott und seine Handlungen«346, und man möchte schließen, der Erhabene müsse folglich auch das vorzügliche Sujet erhabener Poesie darstellen. Lange fährt jedoch fort: »[N]iemand kennet den Vater der Engel und der Menschen besser, als sein Geist, und niemand kan ihn besser und würdiger besingen, als dieser.« Man kann diese Aussage als Andeutung lesen, dass Lange critische Unterredung davon zu halten. Endlich glückte es mir doch die Sache so zu entdecken, wie ich sie hier vorgetragen habe. Und nun fand ich den Longin in dem Longin wieder« (ÜE 55). 345 S. G. LANGE: Von dem guten Geschmack (1748), 453: »Daher ist unter allen Eigenschaften der Beredtsamkeit vornemlich das Erhabene in der heiligen Schrift zu finden. […] Da GOtt redet, da von den grösten und wichtigsten Sachen, die unserer Vernunft verborgen sind, gehandelt wird, so ist es der Ehre des Redners, und der Hoheit des Inhalts gemäs, daß der Ausdruck und die Schreibart unser Gemüth erhebe.« Vgl. BER 575: »Die ganze heilige Schrift ist mit solchen erhabnen Begriffen von der Gottheit angefüllt. Wie elend sind nicht diejenigen, welche bis zu diesen Begriffen sich nicht erheben können.« 346 S. G. LANGE: Vorrede des Uebersetzers (unpag.).
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die poetische Gottesdarstellung dem göttlichen Autor der Bibel selbst, der »Dichtkunst des Himmels«347, vorbehalten wissen will. Denn: »wer kann schreiben wie Gott?«348. Sonach befürchtete Lange eine Entwürdigung Gottes durch menschliche Poesie und schränkte daher das Erhabene, genauer: das von Menschen zu verwirklichende Erhabene, auf den Bereich des Natürlichen ein.349 Neben Unterschieden eher akzidentieller Art350 läge hier tatsächlich eine wesentliche Differenz zwischen Langes und Pyras Auffassung. Bodmer wiederum entwickelt seine Erhabenheitsbestimmung in den Lehrsätzen von der erhabenen Schreibart als umfängliche Auseinandersetzung mit der Lange’schen Definition. Laut Zelles plausibler Deutung einer Briefstelle351 handelt es sich hierbei um einen Auszug aus älteren Aufzeichnungen Bodmers, die als Vorarbeiten zu einem Longin-Kommentar »ziemlich flüchtig entworfen« worden sind und später von ihrem Autor selbst als »noch sehr unreif und roh« eingeschätzt werden.352 Trotz dieser selbstkritischen Bewertung hält Bodmer die vormals entwickelte Auffassung vom Erhabenen offenbar immer noch für überzeugend genug, um sie der Präzisierung von Langes Definition zugrundezulegen. So ist es seines Erachtens »nöthig, daß wir […] die Verwunderung, so die Frucht des Erhabenen ist, und dann die Sachen welche sie in dem Gemüthe hervorbringen, genauer bestimmen müssen«353. Schon angesichts dieses Satzes kann vermerkt werden, dass das Erhabene wie für Lange und Pyra auch für Bodmer einen gewissen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang bzw. einen Zusammenhang von darstellungs- und wirkungsästhetischen Merkmalen repräsentiert. Es wird primär durch seine »Frucht«, die spezifische affektive Resonanz der Verwunderung, definiert, um von da aus auch anhand der charakteristischen Sujets bestimmt zu werden, welche eine solche Wirkung zu verursachen geeignet sind. Nun meint Bodmer, zuerst die erhabenheitskonstitutive Verwunderung »genauer bestimmen« zu müssen. In erster Linie geht es ihm dabei um die Abgrenzung von der »gemeinen« »Verwunderung des Pöbels«, die »nur ein dummes Angaffen, ein blindes Überraschen, ohne Nachdenken und Tief347
Ebd. Ebd. 349 Vgl. S. G. LANGE an J. J. Bodmer, 26. Mai 1745, in: I. J. PYRA: Über das Erhabene, 110f, hier 110: »Das Erhabene ist allemal natürlich, aber es stehet an der [ä]ussersten Gränze der Natur.« 350 So findet sich bei Pyra im Gegensatz zu Lange beispielsweise keine Differenzierung zwischen erhabenheitsrelevanten ›Handlungen‹, ›Gemütsbewegungen‹ und ›Gesinnungen‹ von Menschen. 351 J. J. BODMER an S. G. Lange, 12. April 1745, in: S. G. LANGE: Sammlung gelehrter und freundschaftlicher Briefe, Nr. 31, 113–120, hier 117. 352 Ebd. 353 J. J. BODMER: Lehrsätze, 216 (Hvhg. im Original). 348
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sinnigkeit«354 ist. Die »hohe Verwunderung«355, die wirklich den »vornehmen Namen« des Erhabenen »verdienet«356, ist allein Sache der »grösten Geister«357 und zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, dass sie auch bei diesen »sehr selten«358 ist. Das Insistieren auf der Abhängigkeit von geistigem Adel und auf der Seltenheit des wahren Erhabenen, in dem ein für die Erhabenheitstheorien der Zeit typischer elitärer Zug zu Tage tritt,359 hat seinen sachlichen Grund in einem von Bodmer akzentuierten Moment des Erhabenheitserlebnisses, das auch bei anderen Autoren eine Rolle spielt:360 in dem rezeptionsästhetischen Aspekt der Reflexivität des Erhabenen. Denn laut Bodmer … gerathen die[ ] grosse[n] Geister[,] wenn etwas wahrhaftig grosses ihre Bewunderung erhält, in ein gewisses Erstaunen, das aber mit einem tiefen Nachsinnen begleitet ist, sie sind in den Gedanken mit den Ursachen und den Umständen beschäftiget, welche eine so ungewohnte Wirkung auf sie thun. Ihre Verwunderung ist demnach vernünftig, indem sie eben aus der Betrachtung der Dinge und ihrer Zusammenfügung entsteht; darum läßt sie auch einige grosse Regungen von Hochachtung oder Abscheu in dem Gemüthe zurücke.361
Dem oberflächlichen »Angaffen« des Ungewöhnlichen stellt Bodmer eine Bewunderung entgegen, die »mit einem tiefen Nachsinnen« einhergeht. Dieses Nachsinnen scheint dem ersten Eindruck des Ungewohnt-Großen 354
Ebd. Ebd. 356 AaO. 217. 357 AaO. 216. 358 Ebd. 359 Vgl. z.B. Erw. 39: »Worte, die von dem Munde des Pöbels weit entfernet sind, müssen genommen werden, damit ein Ich haß, ich verbann den unheiligen Pöbel herauskomme.« Ferner UVG 80: Ich behaupte, daß ein Gedicht von der höchsten Art, von dem gemeinen Manne, gar nicht müsse verstanden werden können, weil es über den Horizont desselben weit erhaben ist. Wer ein grosser Dichter seyn will, muß ein grosser Geist seyn, und kein mittelmäßiger, folglich auch kein kleiner Geist ist vermögend, die höchste Poesie zu schmecken.« 360 Hier ist zuerst der Longin-Übersetzer C. H. HEINEKEN zu nennen, der unter Berufung auf De subl. 7,3 und auf die wolffische Psychologie die Bestimmung formuliert: »Wenn wir die vom Longin angegebenen Kennzeichen des Erhabenen betrachten, so finden wir, daß solches zu erst nachdenklich seyn müsse. Was heist dieß anders, als sinnreich und scharfsinnig?« (Untersuchung, 345). Ähnlich wie Bodmer hebt Heineken auf ein Zugleich von reflexiver und affektiver Wirkung ab, wenn er feststellt, dass durch das Erhabene »unser Herze so wohl gerühret, als auch unser Verstand zum Nachsinnen gereizet« wird (346). Noch L. TIECKs Aufzeichnungen Über das Erhabene (1792) kreisen sachlich um die Kategorie des Sinnreichen, also um die Fähigkeit bestimmter Formen der Rede, einen unausschöpfbaren Reichtum an Vorstellungen aufzurufen. Vgl. zur Rolle des Sinnreichen und Scharfsinnigen innerhalb der Erhabenheitstheorie D. TILL: Das doppelte Erhabene, 259ff. 361 J. J. BODMER: aaO. 216. 355
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nachgängig zu sein, insofern es den anfangs verborgenen Gründen dieses Eindrucks nach-sinnt, woraufhin derselbe sich – im Falle des »wahrhaftig Großen« – über den ersten Moment des Erstaunens hinaus »erhält«.362 Dauernde Verwunderung entsteht erst aus der vernünftigen »Betrachtung der Dinge«. Im Zuge dieser Betrachtung wird ihr »wahrer Werth«363 geprüft, und nur bei erfolgreicher Prüfung bleiben »einige grosse Regungen von Hochachtung oder Abscheu in dem Gemüthe zurücke«. Nachhaltige Bewunderung gründet in einem Werturteil, bei welchem der hohe Wert einer Sache Hochachtung, also gewissermaßen eine billigende Verwunderung (bzw. der hohe Unwert eines Gegenstandes Abscheu, d.h. eine missbilligende Verwunderung) hervorruft. Folglich sind zu einer Beurteilung des wahrhaft Erhabenen nur die »großen Geister« fähig, weil nur sie zu einem angemessenen Werturteil in der Lage sind. Zeichnen sie sich doch wesentlich dadurch aus, dass sie sich nicht »durch den Schein der Dinge […] betrügen lassen, wie der Pöbel, sondern gewohnt sind, bis auf den Grund der Sachen durchzudringen; so daß sie den wahren Werth derselben kennen«364. Mit der beschriebenen Auffassung der ›hohen Verwunderung‹ scheinen nun auch Bodmers Korrekturen von Langes Aufzählung der erhabenheitsrelevanten ›Sachen‹ zusammenzuhängen. Bodmer lässt nämlich nur erhabene Personen als mögliche Ursachen jener Verwunderung gelten, offenbar weil sich die vorausgesetzte Wertungsoperation sinnvoll nur auf Personen (ihre Handlungen, Gesinnungen etc.) beziehen kann. Zuerst werden die Werke der Natur vom Erhabenen ausgeschlossen – mit einer einigermaßen überraschenden Begründung. Zwar haben die Naturerscheinungen, wie Bodmer einräumt, … alle etwas prächtiges an sich, das von ihrem göttlichen Ursprung zeuget. Wer die Werke der Natur, die uns täglich vor dem Gesichte liegen, […] betrachtet, wer ihre Schönheit, ihre Größe, ihre Verschiedenheit erweget, der erkennet darinnen die Macht und die Weisheit des Werkmeisters, und diese Erkenntniß ist allemal mit einer gewissen Bewunderung, die ergetzet, vergesellschaftet.365
Bodmer rechnet mit einer »gewissen Bewunderung« als Resultat der Naturbetrachtung, genauer: als Resultat der Reflexion auf den »göttlichen Ursprung« der Natur. Die »Erwägung« der Schönheit, Größe und Vielfalt in den Werken der Natur ruft die Erkenntnis hervor, dass solche Schönheit, Größe und Vielfalt sich allein der Macht und Weisheit eines allmächtigen und allweisen Gottes verdanken kann, und diese Erkenntnis führt die »ergetzliche« Bewunderung dieses göttlichen »Werkmeisters« mit sich. Soweit 362
Vgl. De subl. 7,3. J. J. BODMER: aaO. 364 Ebd. 365 AaO. 217. 363
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scheint Bodmer ganz mit Pyra übereinzustimmen, welcher die »Bewunderung des Urhebers der Welt und seiner Werke«366 als vorzügliche Wirkung und damit Gott samt seinen Werken als ausgezeichnetes Sujet erhabener Poesie herausgestellt hatte. Gleichwohl ist die Bewunderung der Schöpfungswerke Bodmer zufolge nicht dem Erhabenen zuzurechnen. Denn sie ist … keine solche Bewunderung welche das Gemüthe plötzlich in Erstaunen setze, und solche starke Regungen darinnen verursache, die es in der Entzückung unterhalten. Der Schöpfer hat nicht wollen, daß der Mensch dadurch aus sich selbst gesetzet, in einer fortwährenden Verzückung lebete. Er hat sie ih[m] nur darum vor das Gesicht gestellt, daß sie ergetzeten, und unterrichteten.367
Der entscheidende Grund für die Nichtberücksichtigung der Natur im Rahmen der Erhabenheitstheorie ist nicht etwa die Reflexivität der einschlägigen Naturbetrachtung. In dieser Hinsicht läge diese ja ganz auf der Linie der von Bodmer propagierten ›vernünftigen Bewunderung‹. Die Werke der Natur werden vielmehr deshalb vom Erhabenen ausgeschlossen, weil deren Bewunderung nicht den Charakter plötzlicher und anhaltender Entzückung hat, wie er für das Ausnahmeerlebnis des Erhabenen Bodmers Ansicht nach konstitutiv ist. Dem Alpenländer Bodmer, dem »erstaunliche Berge«, wie sie Lange in seiner Liste der erhabenen Naturerscheinungen aufführt, tatsächlich »täglich vor dem Gesichte liegen«, stellt sich die Bewunderung der Natur und ihres Urhebers nicht in Form einer plötzlichen Überwältigung dar, sondern eher als gelinde bewegende Begleiterscheinung einer dann und wann sich aus dem Alltagsbewusstsein erhebenden Natur-Kontemplation. Um die betreffende religiöse Naturerfahrung mit den terminologischen Mitteln der rhetorischen Tradition zu beschreiben, greift Bodmer daher zu den Begriffen ›ergötzen‹ (delectare) und ›unterrichten‹ (docere)368, wohl in bewusster, wenn auch unausdrücklicher Abgrenzung vom Begriff der heftigen Affekterregung (movere).369 Demnach hat Gott dem Menschen das Buch der Natur als ergötzliches Lehrbuch »vor das Gesicht gestellt«, nicht aber zum Zwecke »fortwährender Verzückung«, die ein normales Leben unmöglich machen würde und die bei keinem Menschen wirklich zu finden ist. Nach den Werken der Natur werden die Werke der Kunst hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zum Erhabenen ins Auge gefasst – obwohl sie in der kritisierten Lange-Definition gar nicht genannt sind. Das negative Ergebnis wird mit dem Theorem von der imitatio naturae begründet. Weil die Kunst nur »Abdrücke« von der Natur verfertigt, können ihre Hervorbringungen 366
ÜE 52. J. J. Bodmer: aaO. 368 AaO. 218. 369 Vgl. aaO. 217: »in Bewegung setzen«. 367
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nicht einmal die Bewunderungswirkung der »Urbilder« erreichen, und schon diese reicht ja laut Bodmer nicht an die hohe Marke des wahrhaft Erhabenen heran.370 Überhaupt bestehe die Hauptwirkung der Kunstwerke nicht in der Bewunderung, sondern im Ergötzen, nämlich im (schon bei Aristoteles beschriebenen) Ergötzen an der Ähnlichkeit zwischen Abbild und Urbild bzw. an der »Geschicklichkeit der Menschen im Nachahmen«371. Dem doppelten Negativbescheid hinsichtlich Natur und Kunst folgen die positiven Bestimmungen zu den möglichen Gegenständen des Erhabenen. Bodmer stimmt mit Lange sachlich darin überein, dass außerordentliche ›Handlungen‹ und ›Gesinnungen‹ von Menschen zu den erhabenen Sachen zu rechnen sind. Wie Lange bezieht sich Bodmer dabei auf das Leitbild des großmütigen Menschen, das er relativ breit entfaltet. Beide verbinden mit dem Erhabenen ganz natürlich die Tugend der Großmut und bestätigen damit nicht nur die Nachwirkung von Longins Hochsinnigkeitsmotiv, sondern überhaupt die oben geäußerte These von der konstitutiven ethischen Seite des Erhabenen.372 Anders als Lange führt Bodmer allerdings neben den Menschen noch zwei weitere Arten von »freien Wesen«373 an, die als Objekte der erhabenheitstypischen Bewunderung infrage kommen. An erster Stelle nennt er Gott: Gott ist der Höchste in der ganzen Natur, er ist ihr Urheber, und hat ein vollkommnes Recht, und eine unumschränkte Gewalt über alles von ihm erschaffene. Sein Wesen ist dem Menschen verborgen, er wohnt in einem Lichte, dessen Glanz die blöden [d.h. schwachen; M.F.] menschlichen Augen blendet. Wir kennen ihn nur aus seinen Thaten, aus seiner Regierung und Anordnung der Dinge, und diese sind allemal seiner Unendlichkeit gemäß und führen den Charakter eines unbegreiflichen Wesens. Darum füllen sie auch die grössesten Gemüther mit heiliger Bewunderung und Ehrfurcht an.374
Die »unumschränkte« Hoheit und Macht, überhaupt die Unendlichkeit Gottes geben den endlichen Menschen, auch und gerade den »größten Gemütern« unter ihnen, Anlass zu höchster Bewunderung. Gottes Unendlichkeit teilt sich dem Menschen mit in der Verborgenheit seines Wesens, in seiner Unbegreiflichkeit für das schwache Begriffsvermögen (»die blöden menschlichen Augen«), die sich noch den mittelbar (»aus seinen Thaten, aus seiner Regierung und Anordnung der Dinge«) gewonnenen Begriffen von
370 Für Bodmer hebt sich die Dichtung in dieser Hinsicht von der bildenden Kunst durch die Fähigkeit ab, mittels der Phantasie Dinge »vor Augen zu stellen«, als ob sie selbst realiter gegenwärtig wären. 371 Ebd. 372 S.o. Kap. 1.1.2 und 1.2.4. 373 J. J. BODMER: aaO. 218. 374 Ebd.
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Gott einprägt.375 Solche Begriffe von dem unbegreiflichen, unendlichen höchsten Wesen erfüllen die Gemüter mit »heiliger Bewunderung und Ehrfurcht«, mit einer Bewegung, die nun offenbar – im Gegensatz zur religiösen Naturbetrachtung – den Charakter der ›Entzückung‹ oder ›bestürzenden Bewunderung‹376 und damit das Signum des Erhabenen trägt. Quellen jener mittelbaren Gotteserkenntnis und der entsprechenden religiösen Gemütsbewegungen sind für Bodmer »insbesondere« die verheerenden oder förderlichen Machttaten Gottes in Natur und Geschichte.377 – Neben Gott und den Menschen können Bodmer zufolge drittens »die übrigen freien Wesen« Ursache des Erhabenen sein. Sie … übertreffen den Menschen an Güte oder an Bosheit kraft ihrer eigenen Natur. Dieses sind die Einwohner der unsichtbaren Welt, diese starken Geister, die andern Gesetzen unterworfen sind als die Menschen; ihre Thaten und Vornehmungen übersteigen die menschlichen weit, weit; und empfangen eben daher eine Kraft uns zu bestürzen, und zu entzücken. Unter denselben sind die seligen Engel im guten, und die gefallenen im bösen auf einem hohen Grade vortrefflich.378
Die »Einwohner der unsichtbaren Welt«, zu denen sich laut Bodmer neben den als real angesehenen Engeln und Teufeln auch die »erdichteten Wesen«, »nämlich die mythologischen Götter, die Nymphen, die Faunen, die Fejen [lies: Fehen; M.F.], die Zauberer, die weisen Frauen« und schließlich »die allegorischen Personen der Poeten«379, zählen lassen, haben allesamt eines gemein, was sie zu Gegenständen der ›hohen Bewunderung‹ macht: Sie »übertreffen den Menschen an Güte oder an Bosheit«, weil sie in der Hierarchie der Wesen ihrer Natur nach oberhalb der Menschen angesiedelt sind. Daraus, dass sie die moralischen Eigenschaften der Menschen im Übermaß besitzen, beziehen sie die Faszination und Bewunderung, von der die mythologischen Dichtungen seit Homer zehren. Im Grunde kann aber eben diese »Übermenschlichkeit« als Charakteristikum aller drei Klassen 375 Vgl. dazu die Erhabenheitsdefinition von M. KNUTZEN: Betrachtung (1742), 193: »Ist ein Ausdruck nicht hoch und erhaben zu nennen, welcher eine hohe Sache, die nach Würden von Menschen nie kann begriffen werden, dennoch so darstellet, daß er in uns Begriffe erwecket, die der hohen Natur derselbigen so nahe, so ähnlich kommen, als es möglich ist.« Indem die Darstellung des Unbegreiflichen hier zum zentralen Bestimmungsmerkmal avanciert, wird das Erhabene per definitionem auf die religiöse Sphäre hin zugeschnitten, was wenig später durch den Rekurs auf den »erhabenen Gott« (194) unterstrichen wird. 376 J. J. BODMER: aaO. 217. 377 Vgl. aaO. 218: »die erschrecklichen Würkungen seines [sc. Gottes; M.F.] Zorns (von welchen die wunderbarsten Veränderungen in den Königreichen und Ländern entspringen), die das Gemüthe ganz danieder drücken; ferner die Würkungen seiner unermeßlichen Stärke, so wohl diejenigen die unmittelbar, als die so durch Mittel geschehen«. 378 AaO. 219. 379 AaO. 219f.
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von erhabenen Personen begriffen werden, wie dem Bodmer’schen Fazit zu entnehmen ist. Wir sehen also deutlich genug, was das für Sachen seyn, welche mit Recht erhaben genannt werden; es sind nämlich die grossen Würkungen und Thaten der freyen Wesen, denen der Charakter eines grossen Gemüthes eingepräget ist, welche die menschlichen Kräfte zu übersteigen scheinen, und vermögend sind, in Erstaunen, in tiefes Nachsinnen, in Furcht und Schrecken zu setzen, und das Mitleiden auf einem hohen Grade rege zu machen.380
Erhaben sind freie Wesen, welche mit ihren »grossen Würkungen und Thaten« ein übermenschlich großes Gemüt bezeugen, Wesen, die sich – um noch einmal Bodmers Ausführungen zur Großmut aufzugreifen – über die normalen Kräfte, Gesinnungen und Handlungen der gewöhnlichen Menschen weit erheben zu einem für selbige unerreichbaren Grad von Tugend oder Laster.381 Übermenschliche Macht und Großmut sind die beiden Attribute, durch die sich erhabene Personen auszeichnen und durch die sie die erhabenheitskonstitutive Resonanz erzielen: ein mit »tiefem Nachsinnen« verbundenes Erstaunen oder, als dessen begehrenstheoretisches Gegenstück, Erschrecken. Ferner nennt Bodmer an dieser Stelle – völlig unvermittelt – auch das Mitleid als möglichen Effekt der Begegnung mit den großmütigen Wesen. Die Erwähnung dieses Begriffes, der innerhalb der Lehrsätze wie ein Fremdkörper wirkt, dürfte dem Willen zur Anbindung der klassischen Tragödientheorie an die Theorie des Erhabenen geschuldet sein – ein Bestreben, das auch in der Untersuchung, wie ferne das Erhabene im Trauerspiele Statt und Platz haben könne (1736) unverkennbar ist. Es liegt auf der Hand, dass dieses Erhabenheitskonzept der übermächtiggroßmütigen Wesen eng mit den dargelegten rezeptionsästhetischen Bemerkungen Bodmers zusammenhängt. Denn um Großmut bewundern zu können, muss ein Werturteil gefällt werden, ein Urteil nämlich über den Wert oder Unwert der Handlungen und Gesinnungen, an denen sich die Größe eines Gemütes offenbart. Und insofern die Einschätzung des wahren Wertes der Dinge (und die entsprechende Orientierung am wahrhaft Wertvollen) eine klassische Bestimmung der Großmut darstellt, bedarf, wer die Großmut der erhabenen Wesen beurteilen und bewundern will, selbst eines (mindestens ansatzweise) großen Gemüts. Demzufolge scheint Bodmer das Erhabene – ähnlich wie Longin – gewissermaßen als Schule der Großmut zu konzipieren: Großen Gemütern sollen Idealbilder großer Gemüter vor Augen gemalt werden, um sie selbst zu Außerordentlichem heranzubilden und 380
AaO. 220. Vgl. Langes bei Bodmer überlieferte Formulierung von den »Gesinnungen, welche sich über die gewöhnliche Beschaffenheit des menschlichen Gemüthes erheben« (aaO. 215). 381
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gleichsam an die Grenzen der menschlichen Natur heranzuführen.382 Die Großmut begegnet schließlich noch einmal in Bodmers produktionsästhetischen Überlegungen zur erhabenen Schreibart, also zur Frage der Darstellung der betreffenden erhabenen Personen: Wer diese großen Würkungen der freyen Wesen kennet, dem mangelt dann zu einer erhabenen Schreibart nichts weiter als daß er von denselben so geschickt schreibe, daß seine Ausdrücke eben so stark auf das Gemüthe würken, wie die Sachen thun würden, wenn wir sie vor Augen und in der Nähe gegenwärtig hätten. Dieses wird ihm desto leichter seyn, wenn er selbst ein hohes Gemüthe hat, in welchem großmüthige Gedanken und Gesinnungen wohnen, indem er dann nicht bloß beschreiben darf, was in andern freyen Wesen grosses lieget und vorgehet, sondern was er in sich selbst empfindet, und durch eigene Erfahrung kennet. In diesem Falle werden seine erhabene Beschreibungen allemal das Gemüthe der Leser mit starken Gedanken und grossen Bewegungen anfüllen, Entzückung, Schrecken, Mitleiden, Hochachtung, Abscheu, werden beständig damit verknüpfet seyn.383
Den für die Schweizer schlechthin zentralen rhetorischen Topos der enargeia384 aufgreifend, gibt Bodmer zunächst die Auskunft, es seien die erhabenen ›Sachen‹ (Personen) schlicht so lebenskräftig darzustellen, dass die Illusion ihrer unmittelbaren Gegenwart entsteht.385 Dem folgt – nicht weniger lapidar – die Verheißung, solches werde dem großen Gemüt gleichsam von selbst gelingen, weil es die »großmütigen Gedanken und Gesinnungen« der darzustellenden Personen »durch eigene Erfahrung kennet«, und sich daher die rechten Ausdrücke aus eigener »Empfindung« des Darzustellenden gleichsam von selbst einstellen.386 Die auf diesem Wege entstandenen »erhabenen 382 Vgl. J. J. BODMER: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie […], 9f. 383 J. J. BODMER: Lehrsätze, 220. 384 Vgl. De subl. 15,2. 385 Damit gibt BODMER nicht nur ein zentrales Theorem von Peri Hypsous wieder (vgl. De subl. 15), sondern auch einen Schlüsselgedanken der 1727 gemeinsam mit BREITINGER verfassten Schrift Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft (z.B. 6;9). 386 Von seinem Titel Vom Erhabenen in der Sprache her könnte man erwarten, dass der vierte der Critischen Briefe noch einige stilkritische Hinweise zur erhabenen Schreibart gäbe. Er hat aber im Gegenteil keinen anderen Zweck, als die von seinem Briefpartner geäußerte Ansicht zu widerlegen, »daß die Sprache ein besonderes Erhabene[s] in sich habe, welches in einer glücklichen Wahl wohlbestimmter und begreiflicher Worte bestehe, die den Verstand kurz, deutlich und nachdrücklich geben« (103). Im Allgemeinen drängt Bodmer damit wie Boileau auf eine Abgrenzung des Erhabenen von dem, was traditionell unter dem erhabenen Stil firmierte, und im Besonderen auf eine Differenzierung zwischen dem Erhabenen und der nachdrücklichen Schreibart, also dem Stilphänomen der Emphase (vgl. 108). Gegen alle anderslautenden Ansichten soll bekräftigt werden, »daß das Erhabene von dem Innhalt und nicht von den Worten oder ihrem Schwung entstehe« (107). »Ich darf demnach behaupten, daß wir für die Ausdruckung des Erhabenen an der Regel genug haben, welche befiehlt, daß die Worte den Begriffen, wie die Begriffe den
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Beschreibungen« würden, so Bodmer weiter, bei den Rezipienten wiederum »starke Gedanken und große Bewegungen« erwecken. Hier scheint wieder das aus Rhetorik und Psychologie geläufige Theorem vom Zusammenhang zwischen kognitiver und affektiver Dimension des Gemüts durch. Bodmers produktionsästhetische Andeutungen bestätigen noch einmal, dass er sich das Erhabene – ganz im Sinne Longins – als ein Geschehen der Mitteilung von Großmut denkt. Großmütige Dichter stellen großmütige Wesen dar, um bei »großen Geistern« deren Großmut fördernde kognitive und affektive Wirkungen zu erzielen. Entsprechend kann es geradezu als Paraphrase der longinischen These vom Erhabenen als ›Widerhall von Hochsinnigkeit‹ gelesen werden, wenn Bodmer am Ende der Lehrsätze feststellt: »Das Erhabene […] zeiget ein grosses Herz oder eine hohe Natur«387. Und man dürfte die Theorie Bodmers kaum verfehlen, wenn man diese Aussage in ihrer vagen Allgemeinheit auf sämtliche Dimensionen des Ästhetischen bezieht: auf den Produzenten, auf den Gegenstand des Werkes und auf den Rezipienten. Der Vergleich der Züricher Reflexionen mit den beiden ebenfalls auf die Longin-Lektüre hin entworfenen Erhabenheitskonzeptionen aus Halle zeigt Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Alle drei Bestimmungsversuche kommen darin strukturell überein, dass sie von einem Fixpunkt ausgehen und von daher einen bzw. (im Falle von Pyra und Bodmer) zwei weitere essentielle Merkmale des Erhabenen ausweisen, so dass sich jeweils ein zweibzw. dreifach gestufter Erhabenheitsbegriff ergibt. Ausgangspunkt der Hallenser und Züricher Reflexionen ist immer die spezifische Wirkung des Erhabenen. In einem zweiten Schritt wird dann jeweils eine bestimmte Ursache dieser Wirkung in den Blick genommen, gewisse erhabene Gegenstände. Bei Pyra und Bodmer schließlich folgen jeweils Bestimmungen zur erhabenen Rede oder Schreibart, also zur sprachlichen Darstellung der betreffenden Gegenstände, welche die betreffende Wirkung zu erzielen vermag. Wie bereits angedeutet, wird diese Stufung bei Pyra (und ansatzweise bei BodDingen, wovon sie Abdrücke sind, gemäß seyn müssen. Wenn erst das Erhabene selbst, eine Würkung, eine That oder ein Entschluß, der den Geist in eine wundervolle Erstaunung setzet, in den Sachen lieget, so darf [lies: muss; M.F.] man sie nur mit den rechten und allein bequemen Worten, und Schwung der Worte vortragen; das Erhabene wird dann nicht verderbt werden, wenn die Wörter und ihr Schwung gleich ganz leicht, und eigentlich, gebraucht sind« (105f). Bodmer formuliert hier just jene bei Pyra und Meier ausgewiesene Regel der doppelten Korrespondenz zwischen Sachen und ›Begriffen‹ (offenbar ein Äquivalent von Pyras ›Gedanken‹) sowie zwischen ›Begriffen‹ und Wörtern. Und er leitet daraus die zweite Regel ab, dass dem Erhabenen am ehesten eine »einfältige Schreibart« (106) entspreche: weil »die Hoheit der grossen Entschlüsse und Würkungen durch ihren eigenen Glanz in die Augen fällt, ohne daß sie erst durch Kunst und Mühe müsse gezeiget werden« (ebd.). 387 J. J. BODMER: Lehrsätze, 221.
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mer)388 erweitert durch die poetologische Reflexion auf die hohen ›Gedanken‹ und deren Verhältnis zu den Gegenständen einerseits und zur erhabenen Rede andererseits. Auch in der Bestimmung der Grundelemente des Erhabenen gibt es – wohl nicht zuletzt dank des gemeinsamen Longin-Bezugs – elementare Konvergenzen. So ist für alle fraglichen Autoren der auf das longinische thaumazein verweisende Begriff der ›Bewunderung‹ das Fundament ihrer Theorie. Abweichungen gibt es allerdings auch hier, und zwar vorwiegend hinsichtlich der Frage, ob dieser Gemütsbewegung mit dem Schrecken auch ein negatives Pendant an die Seite zu stellen ist. Hier steht die konzeptionelle Alternative zur Debatte, ob das Erhabene eindimensional als Attraktionsphänomen (Lange) zu fassen ist oder ob auch gewisse aversive, erschütternde Erfahrungen zu den Wirkungen des Erhabenen zu rechnen sind (Pyra, Bodmer)389. Im Übrigen werden dem Affektpaar Bewunderung/ Schrecken bei Bodmer und Pyra verschiedene weitere Affekte zugeordnet – ohne dass sich dabei ein ganz konsistentes Bild ergäbe. Beide Autoren konvergieren hier insofern, als sie jenes das Erstaunen oder Erschrecken vor dem Enormen artikulierende Begriffsgespann jeweils mit einem weiteren Begriffspaar flankieren, das deutlicher ein Wertungsmoment zum Ausdruck bringt: mit der Nennung von Liebe und Hass (Pyra) bzw. von Hochachtung und Abscheu (Bodmer). Allerdings unterscheidet sich Bodmer wiederum von Pyra darin, dass er das Rationale an dem angesprochenen Wertungsakt betont, den er als vernünftige Einsicht in die Gründe der Bewunderung beschreibt, wohingegen Pyra das Phänomen des Erhabenen gerade von der philosophischen Suche nach Gründen abhebt und die durch die ›poetische Zauberei‹ erzielte Affektwirkung als notwendige Ergänzung rationaler Einsicht begreift: »Denn das Hohe«, so betont Pyra, »wird empfunden«390. Freilich zielen auch Bodmers Überlegungen auf die besondere affektive Resonanz des Erhabenen, die ›hohe Bewunderung‹. Was die Gegenstände als die Ursachen der erhabenen Wirkung betrifft, ist auch hier zunächst ein großer Konsens festzustellen. Von allen drei Autoren wird etwas »Ungemeines«, Außerordentliches als Objekt der Verwunderung veranschlagt. Außerdem ist man sich einig, dass im Besonderen außerordentliche Personen (bzw. deren außerordentlichen Handlungen, Gesinnungen, Gemütsbewegungen etc.) zum Kernbestand der erhabenen Gegenstände gehören. Allerdings variiert sowohl der Umfang dessen, was unter die Klasse der erhabenen Personen gezählt wird, als auch das Verständnis 388
S.o. Anm. 386. Bodmer fasst die erhabene Wirkung an einer Stelle – ganz unvermittelt – als gemischte Empfindung, wenn er die erhabene Wirkung als »eine gewisse Bewunderung, mit Bestürzung und Erstaunen vermischet« (aaO.) beschreibt. 390 ÜE 63. 389
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des Außerordentlichen. Lange führt in seiner Definition nur Menschen als Objekte des Erhabenen an, Pyra Gott und Menschen, Bodmer Gott, Menschen und die »Einwohner der unsichtbaren Welt«. Ansonsten lassen Pyra und Lange neben den hohen Personen auch Naturphänomene als potentielle Quellen des Erhabenen gelten, Pyra nennt darüber hinaus auch noch die Werke der Kunst. Dieser Weite der Gegenstandssphäre korrespondiert die weite Fassung des Begriffs des Außerordentlichen bei Pyra und Lange. Außerordentlich ist, was alles andere seiner Art in einer bestimmten Hinsicht übertrifft (der hohe Berg, das über die Maßen prächtige Gebäude, der überaus tapfere Mensch). Infolge der Beschränkung auf erhabene Personen ist hingegen für Bodmer nur dasjenige erhabenheitsrelevant, was sich über das (Normal-)Menschliche erhebt, genauer: jede übermenschliche Macht und Seelengröße von »freien Wesen«. Überhaupt kann Bodmer das Erhabene aufgrund jener Beschränkung viel entschiedener auf das Motiv der Großmut fokussieren, das zwar auch bei Pyra und Lange vorkommt, das aber entweder nur für den Teilbereich der »wunderbaren Handlungen der Menschen« (Lange) einschlägig ist oder aber eine mehr mittelbare Rolle in der Erhabenheitstheorie spielt (Pyra). In einem Seitenblick auf Baumgarten und Meier sei zur Ergänzung immerhin notiert, dass deren (eng verwandte) Auffassungen von Erhabenheit, wie sich an verschiedenen Stellen ansatzweise zeigte,391 tendenziell der Pyra’schen Theorie am nächsten stehen. Insgesamt lässt sich sagen, dass die vorgestellten Konzeptualisierungen des Erhabenen in mannigfacher Hinsicht longinisches Erbe erkennen lassen. Dies gilt insbesondere für den allgemeinen Sachverhalt, dass der Begriff durchgehend zwischen den Geistessphären changiert: zwischen Ästhetik, Ethik und Religion.392
3.5. Das Erhabene und die Ästhetisierung der Religion Die Erörterung der verschiedenen Entwürfe zum Erhabenen hat sichtbar gemacht, dass sich der junge Pyra mit seinem Versuch, die bei Longin entdeckte Idee auf einen deutlichen Begriff zu bringen, durchaus auf der Höhe der zeitgenössischen Poetik bewegt. Es sind aber auch einige Spezifika seiner Reflexionen hervorgetreten, etwa die weit ausholenden semiotischen und gnoseologischen Überlegungen zum Verhältnis von Gedanken und Worten. Ein weiteres Spezifikum ist nun noch einmal genauer ins Auge zu fassen, nämlich die Fokussierung der Erhabenheitstheorie auf das Religiöse, die sich sowohl in den anthropologischen als auch in den bibelhermeneuti391 392
Siehe vor allem Kap. 3.4.2, ferner 3.2.1 und 2.1.2. S.o. Teil I/Kap. 5.
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schen Ausführungen des Fragments Über das Erhabene bereits erkennen ließ. Gelten Gott und seine Werke bei fast allen behandelten Autoren als mögliche Gegenstände des Erhabenen, sticht das religiöse Interesse an dem poetologischen Begriff bei Pyra doch besonders hervor, vor allem im ersten, einführenden Hauptstück seines Essays. Man denke nur an die Beschreibung der Longin-Lektüre im Bild der Schlossführung, gipfelnd in der Schilderung der »Andacht« in der Schlosskapelle, die den Besucher mit »erhaben frommen Gedanken« scheiden lässt.393 Ferner verweist Pyra, noch bevor er die »Bewunderung des Urhebers der Welt und seiner Werke«394 als erstes Wirkungsziel des Erhabenen herausstellt, zur Rechtfertigung seines poetologischen Programms auf »das Verfahren Gottes« in der Heiligen Schrift: Was vor [lies: für; M.F.] erhabne und prächtige Abschilderungen von Gott, seinen Eigenschaften, und Werken, von den frommen und ihrer Glückseeligkeit! Was vor schreckliche Bilder von den Lastern und ihren grausenvollen Unglücke!395
Wie der göttliche Autor der Bibel hat auch der Poet, dem himmlischen Muster nacheifernd, mit seinen »Abschilderungen« und »Bildern« hohe Gedanken »von Gott, seinen Eigenschaften und Werken« zu transportieren, um auf diese Weise den intendierten frommen Affekt, die Bewunderung, zu erwecken.396 (Und er hat Entsprechendes zur Förderung der Tugendliebe zu tun.) Will man dieses Programm nicht als Feigenblatt des Poeten gegenüber seinen pietistischen Kritikern abtun397 – obgleich die Rechtfertigung gegenüber frommen Anwürfen zweifellos eine Intention des ›ersten Hauptstückes‹ ist398 –, dürfte sich darin eher die Einsicht in die zentrale Rolle der sinnlichen Vorstellungen für die Religion aussprechen, die im Hallenser Umfeld Pyras, wie an Rambach, Baumgarten und Meier gezeigt worden ist, ja durchaus präsent war.399 Solche religiös relevanten Vorstellungen angemessen zu gestalten, stellt für Pyra jedenfalls den Gipfel des Dichter- und Rednerberufes dar: Verwegne Sterbliche! Die von Gott anders als hoch zu denken[,] anders als hoch zu reden sich erkühnen! Redner und Dichter müßen von dieser ihrer Schuldigkeit überführet seyn. Sind sie der Wiederlegung würdig[,] wo sie anders ihren Mund vor dem Höchsten aufzuthun, die Verwegenheit haben? Diejenigen aber[,] so die Würde
393
S.o. Kap. 3.2.1. ÜE 52. 395 ÜE 51f. 396 Vgl. UVG 76f: »Die Psalmen, und alle Gedichte in der Bibel, sind poetische Meisterstücke. Hat also der Geist GOttes uns nicht ein Muster gegeben, die wahre Religion in der erhabensten und feurigsten Poesie vorzutragen?« 397 S.o. Kap. 3.1. 398 S.o. Kap. 3.3.1. 399 S.o. Kap. 2.3. 394
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ihrer Titel zu schätzen wißen, werden überzeugt seyn, daß sie alle Kräfte anwenden müßen, diese Volkommenheit ihres Amtes zu ersteigen.400
Pyra hat sich zur Frage der Legitimität und Notwendigkeit sinnlicher Vorstellungen in der Religion (bzw. religiöser Vorstellungen in der Poesie) noch einmal zu Wort gemeldet. Denn just diese Frage war ein zentraler Punkt des Leipzig-Züricher Literaturstreits, an dem sich auch Pyra mit zwei Schriften beteiligte. Anlass der Auseinandersetzung war das Eintreten der Schweizer Bodmer und Breitinger für Miltons religiöses Epos Paradise Lost, das bei Gottsched und den Seinen als ästhetisch und theologisch inakzeptabel verfemt wurde. Pyra ergreift 1743 im Erweis, daß die Gottschedianische Sekte den Geschmack verderbe und noch einmal 1744 in der Fortsetzung des Erweises in aller Deutlichkeit Partei für die Schweizer und damit für Milton. Entsprechend sind die Bezüge zu den Züricher Poetologen und zum Verlorenen Paradies überall greifbar, wohingegen Pyra dieses in seinem wohl früher entstandenen Essay noch nicht zu kennen scheint und von jenen höchstens die älteren Schriften. Mit der Lektüre von Miltons Epos bzw. von Bodmers Milton-Verteidigung (Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie, 1740) vollziehen sich in Pyras Begriff des Erhabenen gewisse Modifikationen. Die augenfälligste Veränderung gegenüber der Erhabenheitsdefinition des Traktats ist neben der am Rande erwähnten Rezeption der Kategorie des Wunderbaren die Hinzunahme der im Verlorenen Paradies so bedeutsamen »Geister« (vornehmlich der Engel und Teufel) zum Kanon der erhabenen Personen: Überhaupt ist unstreitig, daß die erhabnen Vorstellungen von diesen hohen Wesen die Seele mit einem recht gewaltigen und folglich, desto stärkeren Ergötzen füllen, und mit einer höchst nützlichen Gewalt erheben und entweder zum Abscheu oder Vergnügen an so ausserordentlichen Eigenschaften gewöhnen müssen. Man muß die Natur des menschlichen Geistes gar nicht kennen, wofern man dis leugnen wollte.401
400
ÜE 52. Vgl. F. D. E. SCHLEIERMACHER: Über die Religion, 181: »[I]n einem größern Styl muß die Mittheilung der Religion geschehen […]. Es gebührt sich auf das höchste was die Sprache erreichen kann auch die ganze Fülle und Pracht der menschlichen Rede zu verwenden, nicht als ob es irgend einen Schmuk gäbe, deßen die Religion nicht entbehren könnte, sondern weil es unheilig und leichtsinnig wäre nicht zu zeigen, daß Alles zusammengenommen wird, um sie in angemeßener Kraft und Würde darzustellen. Darum ist es unmöglich Religion anders auszusprechen und mitzutheilen als rednerisch, in aller Anstrengung und Kunst der Sprache, und willig dazu nehmend den Dienst aller Künste, welche der flüchtigen und beweglichen Rede beistehen können.« Wenig später ist davon die Rede, dass die Mitteilung der Religion »in einer eignen erhabenen Sprache« (183) zu erfolgen habe. 401 Erw. 62f
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Interessant an diesen Sätzen ist nicht nur die explizite Berücksichtigung der Geister als potentieller Objekte des Erhabenen, sondern vor allem die neue Beschreibung von dessen psychischem Effekt. Mit dem »Ergötzen« greift Pyra einen poetologisch-psychologischen Allerweltsbegriff auf, und auch das Hervorkehren der besonderen »Gewalt« des Erhabenen bringt sachlich nichts Neues. Sie ist »nützliche Gewalt«, insofern sie im Gemüt »Abscheu oder Vergnügen« an den »ausserordentlichen Eigenschaften« der Engel und Teufel wachzurufen vermag. Mit alledem befindet sich Pyra noch ganz auf der Linie der vormaligen affekttheoretischen Fassung der Wirkung des Erhabenen, die vor allem in der Wendung von der Liebe zur Tugend (und vom Hass des Lasters) zum Ausdruck kam. Als außerordentliche, musterhafte Beispiele des Guten wie des Bösen sind die Engel und Teufel (bzw. ihre Darstellungen) geeignet, starke »Abscheu« gegenüber dem Bösen und »Vergnügen« am (oder Begierde nach dem) Guten im Gemüt zu wecken. Bemerkenswert ist hingegen die Metapher von der ›Erhebung der Seele‹ durch die erhabenen Vorstellungen. Auch sie findet sich schon bei Longin und bei Boileau und ist insofern nicht originell. Bemerkenswert ist sie insofern, als sie außerhalb der affekttheoretischen Konzeptualisierung des Erhabenheitserlebnisses liegt und damit außerhalb der Kenntnisse von der »Natur des menschlichen Geistes«, soweit damit die schulphilosophische Psychologie gemeint sein sollte. Selbiges gilt zum Teil auch für die Beschreibung der fraglichen seelischen Resonanz in der folgenden Passage: Und wie würdig, ansehnlich, majestätisch, ja recht göttlich sind seine [sc. Miltons; M.F.] Ausbildungen aller dieser Personen [sc. der Engel und Teufel; M.F.]. Wir werden von einem gewissen entzückungsvollen Schauer bey ihren Erscheinungen allemal überfallen, der uns zur größten Ehrfurcht gegen so erhobne und herlichkeitsvolle Wesen zwinget. Wer hat dis nicht bey der Lesung empfunden? Welches ein offenbares Zeugnüß ist, daß er sie vollkommen wohl geschildert. Selbst das Grausen, das den Geist, bey den fürchterlichen Versamlungen der Teufel überfällt, verstärket diesen Beweiß mit dem allergrößten Gewichte. Und wie kann das Schrecken groß genung seyn, wann von dem allererschrecklichsten geredet wird.402
Die »würdigen«, ihrer natürlichen Majestät angemessenen und daher selbst »majestätischen« Darstellungen der himmlischen und höllischen Personen überwältigen den Leser oder Hörer mit einem »gewissen entzückungsvollen Schauer« und erzwingen »Ehrfurcht« gegenüber ihrer Hoheit. Diese beiden Bestimmungen greifen Elemente aus Pyras früher Erhabenheitstheorie auf und weisen doch in gewisser Weise auch über diese hinaus. Lässt sich Entzückung noch als Paraphrase einer hochgradigen Bewunderung begreifen und der Schauer als eine dem Schrecken verwandte Gemütsbewegung, so bringt das Oxymoron des ›entzückungsvollen Schauers‹ doch zusammen, 402
Erw. 61.
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was im Longin-Traktat noch unverbunden nebeneinander stand.403 Wären für den jüngeren Pyra Engel und Teufel als Gegenstände des Erhabenen infrage gekommen, hätte er jenen wohl die Bewunderung und diesen den Schrecken als adäquate Wirkung zugeordnet. Beim späteren Pyra rufen Engel und Teufel als beiderseits über das Menschliche »erhobne und herrlichkeitsvolle Wesen« einen »gewissen entzückungsvollen Schauer« hervor: einen schwer zu bestimmenden, in sich spannungsvollen Gemütszustand, der dem nahekommt, was wenige Jahre später unter dem Titel der ›vermischten Empfindung‹ das Interesse der Psychologie auf sich ziehen wird, und zwar nicht zuletzt im Zusammenhang der Theorie des Erhabenen.404 Dass Pyras Beschreibung auf eine nicht ohne weiteres definierbare, diffuse Seelenverfassung zielt, lässt sich überdies am Begriff des ›Schauers‹ selbst ablesen. Denn der Schauer zählt, anders als der Schrecken, nicht zum klassischen Set der Affekte, die sich im Rahmen der schulphilosophischen Psychologie nach begehrenstheoretischen Kriterien klassifizieren und definieren lassen.405 Es ist womöglich kein Zufall, dass in diesem Zusammenhang der Empfindungsbegriff fällt (»Wer hat dies nicht bei der Lesung empfunden?«), der im Gegensatz zum Affektbegriff mit seiner konstitutiven Stereotypik ein Moment des Uneinholbar-Individuellen, Unbegreifbaren zum Ausdruck bringt. Offenbar genügt der »phänomenologischen« (Selbst-) Beobachtung das Instrumentarium der Affektlehre nicht mehr völlig zur Charakterisierung des Erhabenheitserlebnisses. Die Wendung von dem ›gewissen entzückungsvollen Schauer‹, zusammen mit der Metapher von der ›Erhebung der Seele‹, rückt die seelische Wirkung des Erhabenen aus der Helle der Affekttheorie gewissermaßen in ein psychologisches Halbdunkel. Dazu passt auch der Begriff der Ehrfurcht, dem schon von der Begriffsbildung her ein gewisser »Doppelcharakter«406 eingeprägt ist. Abgesehen von den genannten Modifikationen sind die Grundkoordinaten von Pyras poetologischen Reflexionen auch in den Streitschriften von 1743/44 noch dieselben wie im unveröffentlichten Essay. Vor allem sind die Basisaxiome der Hallenser Ästhetik immer noch präsent – so das Motiv der poetischen Illustration abstrakter Wahrheiten: Milton hat weiter nichts gethan, als die grösten Religionswahrheiten durch sinnliche Vorstellungen in ein recht würdig hohes Licht setzen; und das ist die höchste Pflicht 403 Pyras Wendung erinnert an die englischen Formeln delightful horrour (John Dennis) und agreeable horrour (Joseph Addison). S.o. Kap. 1.2.1. und 1.2.2. BODMER kann – vermutlich durch Vermittlung von Addison – von »einer »angenehmen Art Entsetzens« (Critische Abhandlung, 21) reden. 404 Der klassische Beleg hierfür ist M. MENDELSSOHN: Rhapsodie oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen (1771). 405 Vgl. z.B. zum Schrecken (horror) Met. § 686. 406 F. RODI: Art. Ehrfurcht, 323.
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eines Heldendichters. In diesem St[ü]cke hat er den Homer und Virgil sehr weit [ü]berstiegen; weil er bey einem unendlichen hellern Lichte wandelte. Ich verlange also hiermit Beweise von ihnen [sc. den Gottschedianischen Kritikern; M.F.]. Aber nicht nach ihre[m] Eigendünckel; sondern nach den vernünftigen Grundsätzen des Aristoteles und Longin.407
Es ist nicht allein die Nennung Longins, die eine Kontinuität des Denkens zwischen dem Erweis und dem Fragment Über das Erhabene anzeigt. Wenn Pyra Miltons musterhafte poetische Leistung darin erblickt, »die größten Religionswahrheiten durch sinnliche Vorstellungen in ein recht würdig hohes Licht [zu] setzen«, so liegt die programmatische Nähe zur Formel des Traktats, es sei die wichtigste Aufgabe des Dichters, »von Gott hoch zu denken und hoch zu reden«, auf der Hand. Ebenso gut könnte sich jener Satz von der würdigen Illuminierung der »größten Religionswahrheiten« in Baumgartens oder Meiers Ästhetik finden; enthält er doch eine konzise Zusammenfassung des oben vor allem bei Baumgarten identifizierten Programms der Ästhetisierung der Religion. Baumgartens (und Meiers) Grundintention, abstrakte Wahrheiten zu illustrieren, sie in ›sinnliche‹ (›sensitive‹) Vorstellungen der unteren Erkenntnisvermögen umzusetzen, bezog sich ja durchaus auch und gerade auf Wahrheiten der Religion, wie nicht nur anhand vieler Beispiele aus den ästhetischen Schriften, sondern anhand von programmatischen Formulierungen aus der Ästhetik und der Religionstheorie Baumgartens (und Meiers) sichtbar wurde.408 Außerdem enthält die Bemerkung, Milton habe jene Wahrheiten durch die Art der Versinnlichung »in ein recht würdig hohes Licht« gestellt, die ebenfalls bei Baumgarten und Meier sowie beim frühen Pyra formulierte Idee von der notwendigen Proportioniertheit zwischen Gegenständen, Gedanken und deren sprachlicher Darstellung. Demzufolge gehört es zu den maßgeblichen Fähigkeiten des Dichters, die dem Niveau seines Stoffes angemessenen (»würdigen«) Vorstellungen (bzw. Gedanken) zu bilden und sprachlich angemessen umzusetzen. Im Falle eines hohen oder erhabenen Stoffes409 ist dies nach Baumgarten und Meier die Fähigkeit zur ›erhabenen Denkart‹ (sublime cogitandi genus)410, also die ästhetische Großmut oder Seelengröße 407
Erw. 29f. S.o. Kap. 2.1.2. und 2.3. Auch bei den Zürichern finden sich vergleichbare Äußerungen, allerdings haben diese nicht denselben programmatischen Stellenwert wie bei den Hallensern. Vgl. z.B. J. J. BODMER: Critische Abhandlung, 44: »Und was haben diese Eindrücke von dem grossen Exempel der getreuen und der gefallenen Engel [sc. bei Milton] nicht für eine Kraft auf die Hertzen, denselben Gehorsam gegen den Herren, Verwunderung gegen dem Allmächtigen, Ehrfurcht gegen dem gerechten Richter, Liebe gegen dem Schöpfer, der Quelle alles guten, einzupflanzen?« 409 Vgl. Aesth. § 203: »materiae excellenter magnae, grandes atque sublimes«; vgl. ASW § 71. 410 Vgl. Aesth. §§ 281ff; ASW § 85. 408
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(magnanimitas aesthetica)411, zu der noch eine entsprechende Sprachkompetenz hinzukommen muss, um schließlich Hohes dem Leser oder Hörer tatsächlich »in einem recht würdig hohen Licht« vor Augen zu führen. All dies ist Milton Pyra zufolge in seinem religiösen Epos unübertroffen gelungen, und so hat er das von diesem ehedem gezeichnete Ideal des Dichters nahezu verwirklicht. (Und er konnte es sogar in höherem Maße verwirklichen als die klassischen Epiker Homer und Vergil, weil er als Christ hinsichtlich der Religionswahrheiten »bey einem unendlichen hellern Licht wandelte« als die heidnischen Dichter.) Ohne jedes Verständnis für die hallischen Versinnlichungsideen hatten sich die Leipziger Milton-Verächter nicht zuletzt an »Miltons Verwandlung der geistlichen Wesen in körperliche«412 gestoßen. Sie hatten sich darüber empört, dass im Verlorenen Paradies »alle diese Dinge in der Hölle und im Himmel sinnlich vorgestellet würden; da sie es doch nicht wären; und also die gemeinen Leute falsche Begriffe bekämen«413. Darum hatten die Leipziger Miltons Epos unter die »verächtlichsten Gespensterhistorien«414 gezählt, verbunden mit dem Vorwurf, es verstoße damit gegen die aufgeklärte Vernunft und öffne »dem Wahne und Aberglauben Thore und Thüre«415. Dem entgegnet Pyra – nicht ohne den Gestus der Herablassung: Es ist dis eine neue Probe, daß sie den innern Grund der Dichtkunst gar nicht verstehen. Ich will es also zum letzten male erinnern. Daß die Poesie nichts anders als eine Würkung der Einbildungskraft ist, folglich eigentlich, und hauptsächlich mit der Einbildungskraft der Leser zu thun hat. Daher die Dichtkunst nichts anders ist als eine Lehre von dem Gebrauche derselben, wie die Logik von dem Gebrauche der Vernunft. Kein Verständiger wird dis leugnen können. Die Einbildungskraft hat mit lauter klaren und sinnlichen Vorstellungen zu thun. Die abgesonderte allgemeine Begriffe gehören einzig und allein für die Vernunft: Nach iener Kraft ist es unmöglich sich andre als sinnliche oder körperliche Vorstellungen, auch von GOtt, dem aller einfachsten Wesen selbst zu machen.416
Pyra hält der gottschedianischen Berufung auf die Vernunft und mithin dem Streben, immer und »von allen Dingen« möglichst »deutliche Begrife haben
411
Vgl. Aesth. §§ 364ff; ASW § 68. Erw. 53. 413 Erw. 29. 414 Erw. 28. Vgl. J. CH. GOTTSCHED: Versuch einer Critischen Dichtkunst, 224: »Denn nicht zu gedenken, daß es gottlos ist, die geoffenbarte Religion mit ihren abgeschmackten Erdichtungen zu erweitern, d.i. die Wahrheit mit Lügen zu verbrämen, und sie solchergestalt der heidnischen Mythologie gleich zu machen, die jeder Poet drehete und wendete wie er wollte: so sündigen solche Dichter auch wider die vernünftige Poesie selbst, die nicht für Schwärmer, sondern für gescheide Leser arbeitet.« 415 Erw. 29. 416 Erw. 53f. 412
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[zu] wol[len]«417, das Theorem von der Eigengesetzlichkeit des Ästhetischen gegenüber dem Logischen entgegen, ein gegen eine rationalistische Dichtungsauffassung gerichtetes Grundmotiv sowohl der Züricher Poetik als auch der Hallischen Ästhetik. Der »innere Grund der Dichtkunst« ist demnach nicht die Vernunft wie im Falle der Logik, sondern die Einbildungskraft.418 Pyra folgt mit dieser Formulierung der Züricher Variante des Autonomieargumentes, insofern er die Einbildungskraft und nicht, gnoseologisch allgemeiner, die unteren Erkenntnisvermögen (inklusive Einbildungskraft) als Prinzip der Poesie herausstellt. Der nächste Satz mit dem Bezug auf die »klaren und sinnlichen Vorstellungen« freilich klingt wieder eher nach hallischer Theoriebildung, wobei die Paraphrase von ›sinnlich‹ durch ›körperlich‹ wenig später wieder in die Schweiz weist. Offenbar hat Pyra beim Ineinanderlesen des Züricher und des Hallenser Stranges der poetologisch-ästhetischen Fortbildung wolffischer Philosophie das Streben nach akkurater Begriffsdistinktion, von der sein Fragment Zeugnis gegeben hat, inzwischen zugunsten des Strebens nach einer Theoriesynthese etwas zurückgestellt. Dennoch ist die Grundlinie der Argumentation klar: In der Poesie haben die abstrakten, allgemeinen Begriffe der Vernunft keinen Platz, sondern nur die ›sinnlichen‹ Vorstellungen der Einbildungskraft: Vorstellungen, die mittelbar auf Sinneswahrnehmungen zurückgehen und die »durch einen unvermerckten Betrug«419 der Phantasie alles, auch Geistiges, so vergegenwärtigen, als stünde es real und in »körperlicher« Gestalt vor Augen (Zürich); Vorstellungen, die nicht durch Abstraktion auf die Stufe der Deutlichkeit gehoben wurden, sondern noch die Merkmalsvielfalt der (extensiv-)klaren Erkenntnis der unteren Kognitionsvermögen aufweisen (Halle). Diesem poetologischen Doppelprinzip der Verbildlichung des Unsinnlichen und der bildhaften Verkörperung des Geistigen in der Einbildungskraft ist zwangsläufig selbst das allereinfachste, absolut geistige Wesen unterworfen, sofern es Gegenstand der Poesie werden soll. Und eben dieses ist laut Pyra fraglos zu bejahen: 417
Erw. 28. Vgl. Erw. 26: »Muß ich denn nicht die Vorwürfe unterscheiden? Ist es nicht höchst unvernünftig, von den Würkungen der Einbildungskraft und des Witzes, wie von den Würkungen der Vernunft zu urteilen? Hat denn nicht jedes seine besondre Rechte? Es ist wahr, der Vernunft ihr Richteramt erstreckt sich auch über die Würkungen der Einbildungskraft und des Witzes. […] Sie darf also eine Erfindung nicht, wie eine philosophische Demonstration, oder einen sinnreichen Gedanken und Ausdruck, wie einen philosophischen Schatz [lies: Satz; M.F.] richten. Das philosophische muß allemal wahr seyn; das poetische nur wahrscheinlich. […] Ihre [sc. der Einbildungskraft; M.F.] Vorstellungen dürfen [lies: müssen; M.F.] nur klar seyn.« Ferner 43: »Ich erinre nochmals, es ist abgeschmackt, eine dichtermäßige Vorstellung, wie einen theologischen oder philosophischen Aufsatz zu richten, da sie durch gantz verschiednen Regeln gemacht sind.« 419 J. J. BODMER/J. J. BREITINGER: Von dem Einfluß, 118. 418
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Poetische Vorstellungen heißen also sinnliche. Und entweder darf ein Dichter von allen diesen Wesen [sc. den himmlischen Wesen, inkl. Gott; M.F.] den [lies: dann; M.F.] gar nicht schreiben, oder er muß sie sinnlich, das heißt mit Körpern versehen abbilden. Daß es überhaupt nicht unerlaubt sey sie also aufzuführen, zeigen die erhabnen Beyspiele der Schrift, welche größtenteils dem Milton zu Mustern gedienet haben. Daß es aber des Poeten Pflicht sey, davon zu handeln, erhellet vornemlich daraus, daß die Theologie ins besondre von einem epischen Dichter muß unterstützet werden.420
Pyras erstes Argument für die Legitimität der ›Versinnlichung‹ der geistigen Wesen ist der Verweis auf das biblische Muster, wie er schon aus dem Traktat Über das Erhabene bekannt ist. Das zweite Argument ist theologisch weniger konventionell – und argumentationslogisch von zweifelhaftem Gewicht: Denn dass die Theologie durch den Dichter (insbesondere den epischen) »muß unterstützet werden«, ist selbst eine begründungsbedürftige Annahme, die mit der zu begründenden These von der notwendigen Versinnlichung der himmlischen Wesen mehr oder weniger zusammenfällt. Es ist auch nicht per se klar, wie jene Annahme genauer zu verstehen ist. Meint ›Theologie‹ hier theologische Wissenschaft? Dann dächte Pyra wohl primär an deren zentrales Geschäft der wissenschaftlichen Schriftauslegung und schriebe dem Dichter und der Dichtung eine bestimmte hermeneutische Funktion zu. Oder hat der Autor des Erweises einen allgemeineren, eher frömmigkeitspraktischen Begriff von ›Theologie‹ vor Augen? Dann kämen dem Poeten Pyra zufolge Aufgaben der Religionspflege zu, die offenbar vom kirchlichen Amtsträger nicht ausreichend erfüllt werden. Die Behauptung von der Unterstützungsbedürftigkeit der Theologie, für Pyra anscheinend eine Selbstverständlichkeit, wird im unmittelbaren Kontext auch nicht weiter erläutert. Aber sie erklärt sich im Rückgriff auf andere Aussagen. So heißt es im Anschluss an eine bereits zitierte Stelle, wo es um die sinnlichen Vorstellungen der »himmlischen und höllischen Dinge« in den Psalmen und bei den Propheten geht: Ihre [sc. sinnlichen; M.F.] Vorstellungen haben ein ungleich stärkeres Gewichte, zum Glauben zu bewegen. […] Ist es […] nicht höchst unvernünftig, von einem Poeten zu verlangen, daß er, wie ein Ausleger, dergleichen Vorstellungen erklären soll[?] Und endlich, wer ist ein so erstaunlicher Dudontopf, daß er nicht mit leichter Mühe den eigentlichen Sinn einsehen sollte?421
›Sinnliche Vorstellungen‹ von Religionswahrheiten haben im Vergleich zu ›deutlichen Begriffen‹422 größere Kraft, »zum Glauben zu bewegen«. Es ist dies offensichtlich die Applikation des inzwischen zur Genüge bekannten Grundgedankens der Hallenser (und Züricher) Poetik bzw. Ästhetik vom 420
Erw. 54. Ebd. 422 Vgl. Erw. 28. 421
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
Wirkungszusammenhang der unteren Erkenntnis- und Begehrungsvermögen, der schon in Pyras Fragment identifiziert werden konnte und der von Pyra im Erweis kurz vor der zitierten Passage in seiner rhetorischen Ursprungsform angeführt wird. Dort heißt es von einer bestimmten Art der sinnlichen, nämlich von den allegorischen Vorstellungen Miltons, sie hätten keine andere Absicht »als auf die EinbildungsKraft und dadurch aufs Hertz zu wirken«423. »Zum Glauben zu bewegen« vermögen sinnliche Vorstellungen aufgrund ihrer Eigenschaft, die Einbildungskraft (bzw. das untere Erkenntnisvermögen) und infolgedessen auch das Herz (bzw. das untere Begehrungsvermögen) in Beschlag zu nehmen – was all die »Erklärungen« der »Ausleger« mit ihren deutlichen Begriffen gerade nicht erreichen. Es wäre demnach im Interesse der Religion durchaus »höchst unvernünftig«, den Dichter religiöser Materien auf die Deutlichkeit festzulegen – ganz davon abgesehen, dass es schlicht dem Gesetz der Poesie und damit dem Geschmack zuwiderliefe. Das Ergebnis einer solch unvernünftigen Vernunftfixierung wäre ein schlechtes und wirkungsloses Gedicht – wirkungslos, weil es die Seele des Rezipienten den dargestellten Religionssachen gegenüber im Stande der Gleichgültigkeit beließe. Das Potential sinnlicher Vorstellungen, »zum Glauben zu bewegen«, bedeutet, dass sie im Gemüt jene religiösen Affekte zu erwecken vermögen, die auch schon im Blickpunkt des Fragments Über das Erhabene lagen. Der Effekt religiöser Poesie, der es gelingt, von Gott und den göttlichen Wahrheiten angemessen, also »hoch zu denken und hoch zu reden«, ist ein Herzensglaube, um dessentwillen die Theologie der »Unterstützung« durch den Dichter bedarf;424 gebricht es doch der Theologie als wissenschaftlicher Reflexion im Medium deutlicher Begriffe (oder gar im Medium ›symbolischer Erkenntnis‹) mindestens tendenziell an jener lebendigen Erkenntnis, welche die Herzen bewegt. Solcher Herzensglaube ist zugleich durchaus im Stande, »den eigentlichen Sinn« der sinnlichen Vorstellungen »einzusehen«: auf ihre Uneigentlichkeit zu reflektieren und sie lediglich als Illustration geistiger Gehalte (bzw. geistiger Wesen) zu dechiffrieren – ohne dass ihm dies Abbruch täte.425
423
Erw. 27. Dies gilt insbesondere für den Ependichter, weil es dieser aus gattungstheoretischen Gründen vorzüglich mit dem Wunderbaren zu tun hat, womit Pyra auf die Schweizer rekurriert. Vgl. Erw. 59. 425 Von solcher »Kraft der poetischen Vorstellungen« spricht Pyra an anderer Stelle auch ausdrücklich in Bezug auf das Hohe: »Aber diese Herren lieben das Matte mehr als das Hohe, welches Ihnen gleich schwülstig scheint; weil sie aus der Leipzigschen critischen Dichtkunst nur einen Furcht für diesen Fehler, und keine deutliche Begriffe von der Kraft der poetischen Vorstellungen eingesogen haben« (Erw. 35). 424
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Es ist an dieser Stelle ein letzter Seitenblick auf die geistige Umgebung des ehemaligen Hallenser Theologiestudenten angebracht. Kein geringerer als der weithin berühmte theologische Lehrer Pyras, Siegmund Jakob Baumgarten, hat zwei Jahre nach dessen Tod in einer Vorrede für die Poetische Übersetzung der Psalmen (1746) von Pyras Studienfreund S. G. Lange ähnliche Gedanken formuliert. Auch Baumgarten rechnet demzufolge – in Aufnahme von Theoremen seines Bruders Alexander Gottlieb426 – mit einer entsprechenden Hilfsfunktion des Poetischen für die Religion. Auch er sieht in der Poesie ein notwendiges, gottgegebenes … Hülfsmittel[,] dem menschlichen Hertzen beizukommen, nötige Aufmercksamkeit zu erwecken und zu unterhalten, auch die stärcksten Leidenschaften und Neigungen zu erregen und gehörig zu lencken.427
Baumgarten spricht in diesem Zusammenhang ebenfalls ein Defizit aufseiten der Theologie an, indem er beklagt, dass die nämlichen Leistungen der Dichtung »von Liebhabern und Lehrern götlicher Warheiten verabsäumet und ungebraucht gelassen werden«. Und das, obwohl … unleugbar[ ] GOtt selbst in der heiligen Schrift die Pflichtmäßigkeit und Verbindlichkeit solches Gebrauchs derselben bestätiget hat. Die rümliche Mühe, so sich manche Redner, Dichter und Schriftsteller des heidnischen Altertums gegeben, ihre unvolkommene Kentnis der Gottheit und Sittenlehre auf die geschickteste Weise auszubreiten, und so gar den unvolkommenen Schatten der ächten Tugend, so ihnen bekannt gewesen, aufs schönste abzumalen und anzupreisen, mus gewis die Nachläßigkeit und Gleichgültigkeit vieler Kenner und Beförderer so vorzüglicher Warheiten beschämen.428
Im Lichte der hinzugezogenen Belege lässt sich nunmehr recht klar angeben, worin Pyra die Hilfeleistung der Poesie für die Theologie erblickt hat. Diese Hilfeleistung hat einerseits eine hermeneutische Dimension. Pyra versteht unter ›Theologie‹ zuvörderst Bibelexegese, und die poetische ›Unterstützung‹ gilt entsprechend dem akademischen (oder kirchlichen) Exegeten und geht auch von dessen »Erklärungen« aus. Das eigentliche Ziel solcher Hilfe ist es aber gerade, ein Versäumnis der soverstandenen Theologie bezüglich der religiösen Praxis auszugleichen, und insofern spricht Pyra der Poesie vor allem eine frömmigkeitspraktische Aufgabe zu. Die nicht zu unterschätzende Bedeutung religiös-erhabener Dichtung erblickt Pyra darin, die ›tote Erkenntnis‹ der wissenschaftlichen Theologie in die ›lebendige 426
S.o. Kap. 2.3. S. G. BAUMGARTEN: Vorrede (1746), unpag. 428 Ebd. Vgl. BHM 94: »Es ist zu bedauren, und es ist auch ungemein schädlich, daß viele Vertheidiger unserer Religion weder das Erhabene, noch das Reitzende in ihrem Vortrage der Religionswahrheiten erreichen können, welches man doch in den Schriften der Religionsspötter vielmals antrift.« 427
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Erkenntnis‹ wahrhafter Religion zu verwandeln und damit in den Gemütern die Herzensregungen zu erzielen, ohne die der Glaube äußerlich und kraftlos bleibt: Ehrfurcht und Liebe, ›entzückungsvollen Schauer‹ und ›heilige Bewunderung‹. Der Poesie kommt die Funktion zu, die strukturellen Vermittlungsdefizite einer Theologie zu beheben, die sich nach dem Ideal wissenschaftlicher Gründlichkeit in philologische Forschung und dogmatische Zergliederungskunst vertieft, ohne mit solch trockenem Räsonnement noch ihrer Erbauungsaufgabe nachkommen zu können. Betrachtet man diese Verhältnisbestimmung von erhabener Poesie und Theologie in ihrem historischen Kontext, fällt die Konvergenz mit den Frömmigkeitsbewegungen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts ins Auge. Der selbst pietistisch sozialisierte Pyra erwartet von der Dichtung, was die Anhänger von Reformorthodoxie und Pietismus – über die gottesdienstliche Religionspflege in Predigt, Gebet und Kirchenlied hinaus – vor allem vermittels Schriftmeditation und Lektüre von Erbauungsliteratur zu gewinnen erhofften. Mit Bezug auf die eingangs gestellte Frage nach einer möglichen Säkularisierungsfunktion des Erhabenen429 lässt sich mithin festhalten, dass sich Pyra mit seiner Idee erhabener Poesie keineswegs der Depotenzierung der Religion verschrieben hat, sondern ihrer Vermittlung. Die von Pyra ins Auge gefasste Leistung der Dichtung lässt sich in der Tat trefflich als Ästhetisierung beschreiben, aber diese Ästhetisierung dient – das ist vor dem Hintergrund des hallischen Begriffs des Ästhetischen deutlich geworden – nicht dem »Kunstgenuß« (Zelle), sondern der inneren Aneignung des Religiösen. Die Poesie hat sich der Gehalte der Religion anzunehmen, auf dass diese die Erlebnisdimension des Subjekts erreichen. Dank der dichterischen Gestaltung vermögen sie erst jene Erhebung zu initiieren, mit der sich das Gemüt innerlich über die Sphäre der gewöhnlichen Wirklichkeit hinausschwingt, um sich dem Göttlichen zu nähern. Den betreffenden Komplex von religiösem Gehalt, angemessener ästhetischer Gestalt und religiöser Innerlichkeit hat Pyra vor Augen, wenn er vom Erhabenen spricht. Eine Poesie, die solches verwirklicht, gelangt, wie es einst die Schweizer formuliert hatten, zu »dem höchsten Grade der Vollkommenheit, zu welchem die Seele in dem Punct der Wolredenheit hinauf steigen kann«430. Pyra zielt mit seinem Konzept erhabener Poesie in dieselbe Richtung wie das pietistische Streben nach religiöser Erbauung, er verfolgt dieses Ziel aber mit einem poetologischen Programm. Hat es auch im Kontext der genannten Frömmigkeitsrichtungen eine reiche künstlerische Praxis gegeben und mögen, wie ansatzweise gezeigt wurde,431 hier auch poetologische und 429
S.o. Kap. 3.1. J. J. BODMER/J. J. BREITINGER: Von dem Einfluß, Vorrede (unpag.). 431 S.o. Kap. 2.1.2 und 2.3. 430
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ästhetische Überlegungen angestellt worden sein, so indizieren die dichtungstheoretischen Schriften von Pyra und aus seinem hallischen Umfeld doch einen frömmigkeitsgeschichtlichen Wandel. Die religiöse Leitvorstellung intensiver frommer Gemütsbewegung wird mit den Kategorien der entstehenden Wissenschaft der schönen Künste auf einem neuen Niveau ästhetisch reflektiert. Damit wächst zum einen das Bewusstsein für die ästhetischen Bedingungen religiöser Resonanz und zum anderen – nicht zuletzt unter dem Einfluss der Erhabenheitsidee – die Sensibilität für die verschiedenen, kaum fassbaren und womöglich in sich widersprüchlichen Formen derselben. Mit der angesprochenen Theorieentwicklung und der damit einhergehenden religionspsychologischen Sensibilisierung steigen zugleich die psychologischen Ansprüche an das religiöse Erleben sowie die ästhetischen Ansprüche an dessen Vermittlung. Es konstituiert sich die neuartige Gestalt einer ästhetisch-religiösen Erlebnissubjektivität.432 Weil Kirchenlieder und Predigten – man denke an die Klagen in der ästhetischen Literatur über den Mangel an erhabenem Liedgut und an stilsicheren und eindrücklichen Kanzelrednern433 – jenen Ansprüchen offenbar so wenig gerecht zu werden vermögen wie die klassische Erbauungsliteratur (die zumeist aus der Feder kirchlicher Amtsträger stammt), darum ergeht die Aufforderung an den Dichter, sich den religiösen Stoffen zu widmen, weil er dank seiner poetischen Begabung und deren Kultivierung den anstehenden Vermittlungsaufgaben weit besser gewachsen zu sein scheint als der gewöhnliche Theologe. In dem Ruf nach erhabener Poesie kündigt sich mithin ein Wandel im religiösen Mediengebrauch an, wie er sich wenig später mit dem religiösen Erfolg von Klopstocks Messias erstmals auf breiter Linie bemerkbar macht.434 Neben den herkömmlichen Formen und Medien einer (mehr oder weniger) kirchlich gebundenen Frömmigkeitspflege beginnen sich Formen einer (mehr oder weniger) autonomen, sich im Medium der Kunst artikulierenden Religionskultur zu etablieren. Somit gehört die ästhetisch-religiöse Renaissance des Erhabenen im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts in Deutschland offenbar in die Frühgeschichte der modernen Kunstreligion.435 Der betreffende Medienwechsel bahnt sich schon in dem poetologischen Eintreten der Schweizer für Miltons christliches Epos Paradise Lost an, das sich unter anderem in der Leitkategorie des Erhabenen mit Pyras Auffassung der religiösen Dichtung berührt. Deutlicher noch konvergiert diese Auffassung mit der Idee der Hallenser Ästhetiker von der Versinnlichung 432
Vgl. oben Kap. 3.3.3. S.o. Kap. 3.2.3 und 3.4.2. 434 S.u. Kap. 5. 435 S.u. Kap. 5.3 und 6. 433
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der Religion. Sonach war Pyra mit seiner religionstheoretischen Lesart des Erhabenen, das dürfte klar geworden sein, im deutschsprachigen Raum zwar ein Pionier, aber kein Einzelgänger. Von den Gebrüdern Baumgarten und von Meier etwa unterscheidet er sich primär in der monothematischen Entschiedenheit und der religiös getönten Emphase436, mit der er vor allem im Traktat Über das Erhabene die Ästhetisierung der (christlichen) Religion mithilfe des von Longin übernommenen Ideals propagiert. Insgesamt aber wird man sagen dürfen, dass Pyras Programm erhabener Poesie für den fraglichen Zeitraum in Deutschland exemplarischer Rang zukommt. Ein ähnliches Programm war, wie oben andeutungsweise gezeigt worden ist, in England schon drei Jahrzehnte zuvor von John Dennis formuliert worden – ebenfalls unter der poetologischen Leitidee des Erhabenen.437 Im Folgenden ist darzulegen, dass es parallel zu den vorgeführten Tendenzen in Deutschland auch in der britischen Theologie mindestens einen hochkarätigen Versuch gab, die Theorie des Sublimen systematisch auszuarbeiten – einen Versuch, der wiederum stark auf die deutsche Erhabenheitstheorie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gewirkt hat.
436 Vgl. H.-G. KEMPER: Empfindsamkeit, 250: »Zu solch stürmischer Eindeutigkeit und Einseitigkeit haben sich Bodmer und Breitinger nicht hinreißen lassen.«
4. Ästhetische Dechiffrierung des Alten Testaments: Robert Lowth 4.1. Die ›Vorlesungen über die heilige Poesie der Hebräer‹ »Jedermann ist des Bischof Lowths schönes und allgepriesenes Buch de sacra poësi Hebraeorum bekannt«1. Mit diesem Satz eröffnet Herder 1782 sein Werk Vom Geist der ebräischen Poesie und nennt damit einen der wichtigsten Anreger der eigenen Reflexionen über das Alte Testament. Robert Lowth (1710–1787), ab 1777 Bischof von London, war von 1741 bis 1750 Inhaber des Poetik-Lehrstuhls in Oxford und trug in dieser Zeit seine Praelectiones de sacra poesi Hebraeorum vor. Die lateinischen Vorlesungen über die Dichtung der hebräischen Bibel, erstmals 1753 in London2 und noch einmal 1758–1761 in Göttingen (von Johann David Michaelis kommentiert und herausgegeben)3 gedruckt, begründeten Lowths doppelten Ruf als bedeutender Alttestamentler und herausragender Dichtungstheoretiker seiner Zeit.4 Doch dieser Ruf ist im Laufe der Jahrhunderte nicht wenig verblasst. Im kollektiven Gedächtnis der alttestamentlichen Wissenschaft ist Lowth immerhin noch als »Entdecker«5 des ›Parallelismus mem437
S.o. Kap. 1.2. J. G. HERDER: Vom Geist der ebräischen Poesie, 663. 2 R. LOWTH: De sacra poesi hebraeorum praelectiones academicae oxonii habitae. 3 Roberti Lowth […] De sacra poesi hebraeorum praelectiones academicae oxonii habitae, Notas Et Epimetra Adiecit, Joannes David Michaelis, 2 Tle. Laut R. SMEND: Lowth in Deutschland, stehen die »pedantisch-besserwisserischen Zutaten« des deutschen Gelehrten »auch dort, wo sie richtig sind, meist in einem peinlichen Mißverhältnis zu dem großen Schwung des Lowthschen Entwurfs« (49). 4 Daneben hat sich Lowth auch noch auf dem Feld der Sprachwissenschaft einen großen Namen gemacht. Vgl. S. PRICKETT: Words and The Word. Language, poetics and biblical interpretation, 105: »[H]is Short Introduction to English Grammar (1762) showed a linguistic sophistication that kept it still in use at Harvard in the mid-nineteenth century.« 5 Vgl. R. SMEND: Der Entdecker des Parallelismus: Robert Lowth (1710–1787). Darüber hinaus wird Lowth überhaupt als Pionier der Erforschung der hebräischen Poesie gewürdigt: »It is the Anglican bishop Robert Lowth […], who inaugurates the systematic study of biblical poetry. Even though he wrote in Latin and used traditional categories, he showed great sensitivity in perceiving the poetic value of the Bible, pointed out and systematized certain poetic techniques such as parallelism, revealed the similarities and differ1
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brorum‹ präsent. Was den zweiten Aspekt angeht, hat David B. Morris wohl zutreffend geurteilt, indem er Lowth als »one of the most original, important, and today least-known of eighteenth-century critics«6 tituliert hat. Die Vorlesungen des nachmaligen Bischofs von London, die in Deutschland vor allem durch eine Rezension Moses Mendelssohns von 1757 bekannt wurden,7 sind für die Begriffsgeschichte des Erhabenen von eminentem Interesse. Denn die umfangreiche und hoch elaborierte Dichtungstheorie, die Lowth darin im Bezug auf die Poesie der hebräischen Bibel entwickelt, hat ihre wichtigste poetologische Quelle im antiken Traktat Vom Erhabenen, und ihre Leitidee ist unverkennbar die sublimitas. Die Praelectiones sind der breitangelegte Versuch, mithilfe der longinischen Kategorie die poetischen Texte des Alten Testaments als Inbegriff von Dichtung auszuweisen, und Lowth hat mit ihnen »auf Anhieb die […] schönste Gesamtdarstellung seines Gegenstandes geliefert«8. Lowth, »the prototype or precursor of all modern poetics of the Bible«9, gehört damit zweifellos zu den wichtigsten Vertretern der Longin-Renaissance in England, und sein Unternehmen, auf den Spuren von Longin und Boileau die bibelhermeneutische Tragweite des Erhabenheitsbegriffes auszuloten,10 wurde nicht nur von Herder hoch eingestuft.11 Gleichwohl spielt ences in respect of classical authors and analyzed individual poems. A new sensitivity was being brought to bear on a new object but with old implements« (L. ALONSO SCHÖKEL: A Manual of Hebrew Poetics, 3). 6 D. B. MORRIS: The Religious Sublime. Christian Poetry and Critical Tradition in 18th-Century England, 159. Nach D. NORTON: A history of the Bible as literature, ist Lowth »[t]he most substantial and significant figure in the history of the Bible as literature in the eighteenth century, arguably the most important critic after Johnson« (Bd. 2, 59). 7 M. MENDELSSOHN: [Rez.] Robert Lowth: De sacra poesi Hebraeorum (1757). Zuvor waren die Praelectiones 1753 – mehr aus Sicht der Altorientalistik als der Poetologie – von J. D. MICHAELIS in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen besprochen worden (GAGS 1753, 947ff). 8 R. SMEND: Der Entdecker, 193. Der grundlegende Aufsatz des Alttestamentlers Smend bietet einen gehaltvollen Überblick über Lowths Biographie sowie über seine Praelectiones. Smend hebt hervor, dass »Lowth’ bleibende wissenschaftliche Leistung die Herausstellung des Poetischen in der Bibel gewesen ist« (aaO. 187), aber für den Exegeten reduziert sich diese Leistung am Ende doch darauf, »daß er den Parallelismus membrorum ans Licht gebracht hat« (aaO. 193). Eine schrifthermeneutische Pointe hat Smend jener »Herausstellung des Poetischen in der Bibel« offenbar nicht abgewinnen können. 9 W. L. REED: A Poetics of the Bible: Problems and Possibilities, 156. 10 Vgl. zur englischen Vorgeschichte von Lowths Applikation des Sublimen auf die Bibel B. HEPWORTH: Robert Lowth, 50ff; V. FREIMARCK: Introduction, VIIff und S. H. MONK: The Sublime, 77ff. 11 Vgl. z.B. J. G. LINDNER: De eo, quod est poeticum in Sacra Scriptura (1773), 4: »Coryphaeus in hac materia, profundissimus Robertus Lowthus«; vgl. zur Rezeptionsgeschichte unten Anm. 273.
4. Ästhetische Dechiffrierung des Alten Testaments: Robert Lowth
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Lowth in der einschlägigen Sekundärliteratur zum Erhabenen bisher eine Nebenrolle. In Walter J. Hipples The Beautiful, The Sublime, and the Picturesce In Eighteenth-Century British Aesthetic Theory (1957) fehlt der Name Lowth ganz. Die wenigen Seiten bei Samuel H. Monk (The Sublime, 1935) und David B. Morris (The Religious Sublime, 1972) betonen jeweils das Konventionelle an Lowths Konzept, wobei Monks Ausführungen in der Aussage gipfeln: »No very clear idea of the nature of the sublime emerges from Lowth’s remarks«12. In der deutschen Literatur ist der Befund ähnlich. In den beiden Standardwerken von Carsten Zelle etwa findet Lowth nur in Randbemerkungen Erwähnung.13 Immerhin hat Dietmar Till in seiner Untersuchung über Das doppelte Erhabene dem Engländer ein knappes Kapitel gewidmet. Im Ergebnis beschränkt es sich auf die Feststellung, dass sich auch die Lowth’schen Vorlesungen in die Tradition einer Erhabenheitsauffassung einreihen lassen, in der Simplizität und eindrucksvolle Wirkung miteinander vermittelt sind.14 Damit ist das theoretische Potential der Praelectiones freilich bei weitem noch nicht ausgelotet. Es soll also eine ästhetikgeschichtliche Forschungslücke15 geschlossen werden, wenn im Folgenden Lowths Konzeption des Sublimen vorgestellt 12 S. H. MONK: The Sublime, 81. Der Generallinie seiner Darstellung entsprechend (s.o. Kap. 1.2.1) verrechnet Monk die Praelectiones insgesamt als Zeugnis der Emanzipation der affektiven Wirkung innerhalb der Literaturtheorie des 18. Jahrhunderts, indem er abweichende Elemente von Lowths Begriff des Sublimen schlicht als uninteressant abqualifiziert (vgl. 81f). Dem folgt dem Prinzip nach auch noch D. NORTON, wenn er »the fundamental tendency of Lowth’s idea of the sublime« (aaO. 65) in dem Satz zusammenfasst: »It [sc. sublimity] comes from and works on the passions« (64). Bei Norton sticht die anachronistische Einseitigkeit einer solchen Interpretation unmittelbar ins Auge. Denn er begründet seine Deutung nicht zuletzt mit einem vermeintlich Lowth’schen Verweis auf Burkes Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful und die darin vorgenommene Qualifizierung des Sublimen vermöge einer besonderen Gefühlsintensität. Aber Lowths Praelectiones wurden erstmals 1753 publiziert, Burkes Enquiry erst 1757. Der betreffende Verweis findet sich erst in der englischen Übertragung der Vorlesungen von 1787, auf die sich Norton generell stützt, und ist mit einem ›T.‹ (für ›Translator‹) gekennzeichnet. Er stammt also nicht von Lowth, sondern vom Übersetzer Gregory, der das Erhabene – wie offenbar viele neuere Interpreten der Ästhetik des 18. Jahrhunderts (s.o. Kap. 1.2.3) – allem Anschein nach bereits mit der Brille Burkes gesehen und die Praelectiones entsprechend gelesen und übertragen hat. Dass die Erhabenheitstheorie Lowths im Vergleich zu Burke – unbeschadet der Überlegenheit des Enquiry hinsichtlich des psychologischen Beobachtungsreichtums – systematisch komplexer und in mancher Hinsicht interessanter ist, sollen die folgenden Ausführungen belegen. 13 Vgl. C. ZELLE: Die doppelte Ästhetik der Moderne, 109; 137. 14 Vgl. D. TILL: Das doppelte Erhabene, 180ff. 15 Diese Forschungslücke besteht wohl nicht zuletzt deshalb, weil die Praelectiones nach wie vor nur im lateinischen Original und in einer zwar »souveränen« (R. SMEND: Der Entdecker, 191), dabei aber auch recht großzügigen englischen Übertragung von 1787 vorliegen. Die Übersetzung von G. GREGORY aus dem Jahre 1787 unter dem Titel
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wird. Dabei wird zutage treten, dass seine Poetik der alttestamentlichen Dichtung – nach Friedrich Meinecke »vielleicht die geistig bedeutendste Leistung innerhalb der ganzen präromantischen Bewegung Englands«16 – eine der avanciertesten Erhabenheitstheorien der Zeit enthält. Es gilt herauszuarbeiten, dass diese Theorie einen gewichtigen historischen Beleg für die systematische These einer religionstheoretischen Valenz des Sublimen darstellt. Dabei wird schließlich deutlich werden, dass Lowths longinisch instruierte Lektüre des Alten Testaments wegweisende Perspektiven für die Bibelhermeneutik eröffnet hat. Dieses genuin theologische Beweisziel des Kapitels steht in dezidiertem Gegensatz zur herrschenden literaturwissenschaftlichen Einschätzung, wonach Lowths »aesthetic approach«17 eine Schlüsselrolle in der Geschichte der Depotenzierung der Bibel als Heiliger Schrift zukomme. Das Paradigma dieser Lesart ist die 1972 von dem Alewyn-Schüler Dieter Gutzen vorgelegte Dissertation Poesie der Bibel. Beobachtungen zu ihrer Entdeckung und ihrer Interpretation im 18. Jahrhundert. Nach Gutzen zielten die Praelectiones darauf ab, das Alte Testament »als ein poetisches Kunstwerk von hohem Rang darzustellen und seine Schönheiten den Zeitgenossen verständlich zu machen«18. Die damit etablierte Aufmerksamkeit für die Sprachgestalt der heiligen Texte sei nun freilich auch für die Bewertung ihres Gehalts folgenreich gewesen. Denn, so fragt Gutzen rhetorisch, »kann nicht gerade die Entdeckung der die Wahrheit umhüllenden Form die Klarheit und Eindeutigkeit dieser Wahrheit beeinträchtigen?«19 Die gut gemeinte Intention, durch den Aufweis ästhetischer Qualitäten das allgemeine Interesse an der Bibel wiederzubeleben, habe am Ende unweigerlich deren Desakralisierung befördert, also die »Ersetzung des religiösen durch das ästhetische ErlebLectures on the sacred poetry of the Hebrews, die auch D. TILL für »recht zuverlässig« (aaO. 180) hält, erlaubt sich generell große Freiheiten gegenüber ihrer Vorlage. Vor allem verwendet sie den Terminus sublime so häufig – um ein vielfaches häufiger als das lateinische Original –, dass die Konturen des Erhabenen tatsächlich verschwimmen. Der inflationäre Wortgebrauch ist wohl ein Zeugnis der Etablierung der Kategorie im allgemeinen Bewusstsein, wie sie spätestens im Laufe der zweiten Jahrhunderthälfte stattgefunden hat. Eine deutsche Übersetzung der Praelectiones gibt es bisher nicht, sondern lediglich ein einigermaßen kurioses Exzerpt eines Kandidaten der Theologie aus dem Jahre 1793, das für die Lowth-Interpretation wenig austrägt: K. B. SCHMIDT: Auszug aus Robert Lowth’s Vorlesungen über die heilige Dichtkunst der Hebräer, mit Herders und Jones’s Grundsätzen verbunden. Ein Versuch, zur Beförderung des Bibelstudiums des alten Testaments, und insbesondre der Propheten und Psalme. Nebst einigen vermischten Anhängen entworfen von Carl Benjamin Schmidt (d. Pred. Amts Cand.) 16 F. MEINECKE: Die Entstehung des Historismus, 251. 17 D. NORTON: aaO. 64. 18 D. GUTZEN: Poesie der Bibel. Beobachtungen zu ihrer Entdeckung und ihrer Interpretation im 18. Jahrhundert, 78. 19 AaO. 84.
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nis«20 bei der Schriftlektüre. Neben Samuel Gotthold Lange21, Johann Andreas Cramer22, Friedrich Gottlieb Klopstock23 und später vor allem Johann Gottfried Herder24 rückt Lowth deshalb in die Reihe der wichtigsten Protagonisten der »Säkularisierung«25 der Heiligen Schrift ein, deren Anfänge Gutzens Studie nachzuzeichnen unternimmt. Wie jene deutschen Autoren habe der Engländer mit seinem epochalen Werk »der Gefahr Vorschub [geleistet], daß sich das Gefühl des Lesers zwar an der poetischen Schönheit entzündet, dann aber nicht zu dem Offenbarungsgehalt weiter schreitet, sondern diese Empfindung des Schönen schon mit der Erfahrung der Offenbarung verwechselt«26. Das bloße Ergötzen an der schönen Form, so lässt sich der Grundgedanke von Gutzens Interpretation reformulieren, koppelt sich von der Frage der Geltung der religiösen Inhalte ab. Aufgrund der eigenen Erlebnisqualität der »Empfindung des Schönen« bleibt im ästhetisch affizierten Gemüt kein Raum mehr für die »Erfahrung der Offenbarung«. Der historischen These, die poetologische Schriftinterpretation Lowth’scher Provenienz öffne das Tor zur »Ersetzung der Bibel als Offenbarung durch die Bibel als Dichtung«27, entspricht also das unausgesprochene hermeneutische Axiom, dass der ästhetische den religiösen Zugang zur Bibel verstelle. Demzufolge schließen ästhetische und religiöse Schriftlektüre einander aus. Gutzen hat auf Lowths Analyse der poetischen Qualitäten der Bibel offenkundig dasselbe Deuteschema appliziert, das sich auch in der literaturwissenschaftlichen Beurteilung analoger Entwicklungen im Umfeld der Hallischen Ästhetik wirksam zeigte.28 Im Übrigen hat der Germanist damit einen Vorbehalt formuliert, welcher der Aufnahme ästhetischer Fragestellung in die Schrifthermeneutik (und in die Theologie überhaupt) unter Theologen noch immer häufig entgegenschlägt. Dass er dies wiederum unter dem Einfluss gewisser theologischer Diskurse getan hat, verrät die andeutungsweise artikulierte Rezeption der Schleiermacher-Kritik der »Dia20
AaO. 109. Vgl. oben Kap. 3.2.3. 22 Vgl. unten Kap. 5.3. 23 Vgl. unten Kap. 5. 24 Vgl. oben den ›Systematischen Ausblick‹. 25 D. GUTZEN: aaO. 110. 26 AaO. 109. 27 AaO. 110. 28 S.o. Kap. 3.1. Es überrascht daher nicht, dass auch C. ZELLEs Bemerkungen zu Lowth diesem Schema folgen. Vgl. Die doppelte Ästhetik, 109: »Robert Lowth’ Buch De sacra Poesi Hebraeorum (Göttingen [sic] 1753) faßt freilich nur zusammen, was mit der Renaissance des Erhabenen um 1674 beginnt.« Gemeint ist die desakralisierende Ästhetisierung der Heiligen Schrift durch das Erhabene. Dass dieses hochpauschale Urteil nicht zutrifft, hat sich im Folgenden zu erweisen. 21
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lektischen Theologie«. Für Gutzen führt die durch die ästhetische Bibelauslegung angebahnte Säkularisierung, so der Schlusssatz des Buches, geradewegs zu »Schleiermachers ›Theologie des frommen Gefühls‹ […], eines Gefühls, das der Bibel, sei es als Offenbarung, sei es als Dichtung, nicht mehr unbedingt bedarf«29. »Erst über ein Jahrhundert später ist diese Art der Religiosität als im Grunde un-evangelisch wiedererkannt worden«30, heißt es in der Fußnote zur Stelle mit Verweis auf Emil Brunner und Karl Barth. Es tritt zutage, dass sich in dem literaturwissenschaftlichen Beitrag zur Geschichte der Bibelinterpretation folgenreiche theologische Prämissen geltend machen – Prämissen, die heute nicht mehr mit der gleichen Selbstverständlichkeit geteilt werden wie ehedem. Mögen Gutzens Überlegungen heute auch arg holzschnittartig anmuten, kommt das nämliche Schema in der (erstaunlich schmalen) Literatur zu Lowth doch nach wie vor zur Anwendung. So stellen auch für die Religionswissenschaftlerin Grit Schorch die Praelectiones einen »Wendepunkt« im Prozess der »innerprotestantischen Verweltlichung«31 des biblischen Textes dar. Im Horizont des dort entwickelten »systematischen Ansatz[es], die Bibel als literarisches Kunstwerk, als eine Sammlung poetischer und literarischer Texte zu lesen«32, fungiere die alttestamentliche Poesie als Mittel, »das den verlorengegangenen […] religiösen oder theologischen Bedeutungsgehalt der Texteinheit Altes Testament ersetzen sollte und konnte«33. Die radikalste Version der säkularisierungstheoretischen Lesart indessen begegnet in der bisher einzigen Lowth-Monographie. Dort hebt Brian Hepworth nicht nur »the non-religious view Lowth took of Old Testament verse«34 hervor, sondern er lässt seine Ausführungen schließlich in der Aussage gipfeln: »Lowth is a humanistic theorist, not a Christian.«35 29
D. GUTZEN: aaO. 111. AaO. 135. 31 G. SCHORCH: Das Erhabene und die Dichtkunst der Hebräer. Transformationen eines ästhetischen Konzepts bei Lowth, Mendelssohn und Herder (2003), 71. 32 Ebd. 33 AaO. 71f. 34 B. HEPWORTH: Robert Lowth (1978), 61f. Neben diesem Buch ist allenfalls noch J. H. COOK: Bishop Lowth. His Life and Writings, zu nennen. Die gut sechzigseitige Leipziger Dissertation aus dem Jahre 1879 enthält ein relativ ausführliches Referat der Praelectiones, ohne aber auf ihre bibelhermeneutische und religionstheologische Relevanz im Allgemeinen oder auf die Zentralidee des Erhabenen im Besonderen näher einzugehen. 35 AaO. 98. Kritisch zu Hepworths Bild von Lowth »as one of the prime agents of secularization« äußert sich S. PRICKETT: Words, 111ff (hier 111), indem er auch »the very traditional side of his [sc. Lowths] scholarship« (112) hervorhebt, also etwa die von ihm immer wieder geübte christologische Auslegung des Alten Testaments. Vgl. F. MEINECKE: Die Entstehung des Historismus, 250: »Es ist kaum nötig zu sagen, daß auch bei ihm [sc. Lowth] das Neue inmitten zähe festgehaltener Konvention und Tradition er30
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Angesichts solcher Äußerungen ist das Urteil des Alttestamentlers Christoph Bultmann – »[d]ie literaturwissenschaftliche Rezeption von Lowth vereinfacht hier oft zu stark«36 – überaus milde zu nennen. Denn wie sich zeigen wird, konterkariert die abstrakte Entgegensetzung von ›Ästhetik‹ und ›Religion‹, wie sie in der Sekundärliteratur bei der Bewertung der Praelectiones für gewöhnlich in Anschlag gebracht wird, geradewegs deren Theorieanlage. Lowth hebt keineswegs allein darauf ab, die »Schönheiten« der althebräischen Poesie herauszuarbeiten und die Bibel damit dem Ergötzen feinsinniger Leser zugänglich zu machen. Vielmehr bedient er sich der dichtungstheoretischen Analyse vornehmlich, um das genuin religiöse Potential des Alten Testaments zu beschreiben und vermittels dieser Beschreibung zur Geltung zu bringen. Zu diesem Zweck greift Lowth zu einem Begriff, der jene exklusive Alternative von ›ästhetisch‹ und ›religiös‹ strukturell unterläuft: zum Begriff des Erhabenen. Zur Annäherung an die Praelectiones empfiehlt es sich, vorweg kurz ihre etwas verwickelte Disposition vorzustellen – und dabei gleich die sich bietenden terminologischen Fallen zu markieren. Etwas vereinfacht stellt sich der Aufriss im Überblick folgendermaßen dar: Einleitung, Prael. I/II Teil I: rwmzm sive De metris Hebraeis, Prael. III Teil II: lvm sive De stylo parabolico, Prael. IV–XVII 1. De sententioso genere, Prael. IV 2. De genere figurato, Prael. V–XIII 3. De sublimi genere, Prael. XIV–XVII Teil III: Poematum Hebraeorum variae species, Prael. XVIII–XXXIV Zwei einleitenden Vorlesungen folgen drei Teile. Die Pars prima (rwmzm [mismor] sive De metris Hebraeis), bestehend aus lediglich einer Vorlesung (Prael. III), beschäftigt sich mit dem ›Metrum‹ bzw., allgemeiner und damit sachgemäßer formuliert, mit den äußeren Formmerkmalen der alttestamentblühte. […] Als rechtgläubiger Theologe glaubte er auch an der allegorisch-mythischen Deutung des Hohen Liedes festhalten zu müssen. Aber daß er überhaupt die dichterischen Formen und Gehalte, die im Alten Testamente überliefert waren, als ein großes, einheitliches, wundervolles und eigenartiges Phänomen auffasste und diese Eigenart nun in liebevoller Einzeluntersuchung herausarbeitete, ging über alle bisherigen konventionellen Methoden der Bibelbehandlung weit hinaus.« Die religiöse Valenz gerade der zukunftsweisenden Seite von Lowths »Bibelbehandlung«, also der ästhetischen Dechiffrierung des Alten Testaments, kommt weder bei Meinecke noch bei Prickett in den Blick. 36 CH. BULTMANN: Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung. Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes (1999), 77.
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lichen Dichtung. Hier wird nicht nur die Frage nach potentiellen Versmaßen traktiert, sondern in Ansätzen bereits die epochemachende Parallelismus-Theorie artikuliert.37 Der eigentliche erste Hauptteil, der im Mittelpunkt dieser Lowth-Darstellung stehen wird, ist die Pars secunda (lvm [mashal] sive De stylo parabolico, Prael. IV–XVII). Hier findet die generelle Charakterisierung der hebräischen Poesie statt, bevor diese in Pars tertia (Poematum Hebraeorum variae species, Prael. XVIII–XXXIV) nach literarischen Gattungen gesondert betrachtet wird.38 Freilich ist der Titel von Teil II wieder einigermaßen irreführend, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen müsste das hebräische mashal nach einer Bemerkung der Praelectiones lateinisch eigentlich mit stylus poeticus wiedergegeben werden. Stylus parabolicus, ›Gleichnisstil‹, ist nur der geläufige, aber in Lowths Augen zu kurz greifende lateinische Terminus.39 Teil II handelt also De Hebraeorum stylo parabolico, sive poetico40: vom Stil der hebräischen Dichtung, der als ›Gleichnisstil‹ keineswegs erschöpfend bestimmt ist. Zum anderen greift im Grunde überhaupt der Stilbegriff zu kurz, um zu beschreiben, was Lowth als Gegenstand der betreffenden Vorlesungen vorschwebt: SEQUITUR, ut de Stylo Poeseos Hebraeae dicendum sit: quo intelligi velim non nudam solum Vatum Sacrorum dictionem, sed sensus etiam, et rationem cogitandi; unde tanquam ex fonte necessario derivetur, suumque quendam saporem ducat oratio.41
Im Folgenden ist vom Stil der hebräischen Dichtung zu sprechen: worunter ich nicht nur die bloße Ausdrucksweise der Heiligen Seher verstehen will, sondern auch ihre Empfindungen und ihre Denkart; woher die Rede wie aus einer natürlichen Quelle abgeleitet werden mag und woher sie wohl ihre gewisse Farbe [wörtlich: ihren gewissen Geschmack] empfängt.
Die Reflexionen von Teil II ›über den poetischen Stil der Hebräer‹ sollen keinesfalls um »bloße« Stilfragen kreisen, sondern auch ›Empfindungen‹ 37
Die Überschrift von Prael. III enthält bereits Lowths diesbezügliche These: »Poesim Hebraeam metricam esse« (Prael. 498). Vgl. aaO. 263: »In hac peculiari conformatione, sive Parallelismo, Sententiarum Metricae Hebraeae artificium magna ex parte contineri existimo: cui insuper accessisse credibile est numerorum, vel etiam pedum, aliquorum observationem.« 38 Hier werden die Gattungsbegriffe der klassischen Poetik modifiziert auf die alttestamentliche Dichtung bezogen. Gegen dieses Verfahren richtet sich später u.a. Herders Kritik an Lowth. 39 Vgl. Prael. 45ff: »Carmen Hebraeis […] ratione Dictionis et Sensuum lvm dicitur; quod ipsum esse arbitror Styli Poetici vocabulum. Parabolam vocant plerique interpretes; verbo aliqua ex parte non incommodo, sed quod totum Hebraeae vocis ambitum minime complectitur«. 40 Prael. 47. 41 Prael. 44 (Übers. M.F.). Alle Lowth-Übersetzungen des Kapitels stammen vom Vf.
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(sensus) und Denkart der alttestamentlichen Dichter – Lowth gebraucht hier anders als bei den klassischen ›Dichtern‹ (poetae) grundsätzlich das Wort vates (›Seher‹, ›Prophet‹) – einschließen. Was mit ›Empfindungen‹ (sensus) gemeint ist, wird unten noch deutlicher werden.42 Jedenfalls sind, wenn der hebräische Dichtungsstil beschrieben wird, in irgendeinem Sinne auch Bewusstsein, Seelenverfassung und Geisteshaltung der Sprecher thematisch, als dasjenige, was in der poetischen Sprache zum Ausdruck kommt, ihr das eigentümliche Gepräge, ihre unverwechselbare Farbe gibt. Mit anderen Worten: Stil wird begriffen als Manifestation von Geist.43 Worum es Lowth in seinen Vorlesungen De stylo poeseos Hebraeae geht, kommt demnach eigentlich besser in jenem Titel zur Geltung, den Jahrzehnte später Herders Lowthinspirierte Schrift getragen hat. Nicht erst Herder, sondern schon Lowth handelt – wenn auch mit den Mitteln der Literaturkritik – ›vom Geist der hebräischen Poesie‹. Gleichwohl ist Lowth nach außen hin zuallererst Stiltheoretiker. So scheint er innerhalb des Stils der alttestamentlichen Dichtung wiederum drei Stilarten zu unterscheiden. Solches legen wenigstens die Überschriften nahe, denen zufolge der Hörer bzw. Leser in Teil II über dreierlei belehrt wird: 1. De sententioso genere, 2. De genere figurato und 3. De sublimi genere. Spätestens bei der letzten Wendung assoziiert der rhetorisch Gebildete die klassischen genera dicendi und vermutet eine analoge Dreistillehre für die hebräische Poesie – und geht geradewegs in die Irre.44 Denn Lowth beschreibt eigentlich nicht drei verschiedene Unterarten des poetischen Stils, sondern die drei charakteristischen Eigenschaften desselben.45 Die Poesie der Hebräer generell ist ›sentenzenhaft‹ (sententiosa), ›bildlich‹ (figurata) und ›erhaben‹ (sublimis), wobei die Eigenschaft der sententiositas tatsächlich allen, Bildlichkeit und Erhabenheit – zumindest in außerordentlichem Maße – immerhin den meisten der heiligen Dichtungen zukommt.46 42
S.u. Kap. 4.3.1. Vgl. die häufige Verwendung von spiritus in den Praelectiones. In Prael. II etwa heißt es von der hebräischen Poesie, dass sie die übrige Dichtung »sowohl in der Würde der Gegenstände als auch in der Hoheit des Geistes bei weitem überragt« (24: et rerum dignitate et magnificentia spiritus longe antecellit). 44 So etwa R. SMEND: Der Entdecker, 194. 45 Um anzuzeigen, was gemeint ist, könnte man zur Unterscheidung der klassischen Rhetorik zwischen Stilarten und Stilqualitäten greifen (vgl. M. FUHRMANN: Die antike Rhetorik, 114), liefe aber auch hier Gefahr, sich missverständlich auszudrücken. D. TILL: Das doppelte Erhabene, spricht von »Stil-Aspekten« (184). 46 Vgl. Prael. 57: »Plurima quidem sunt in sacris Carminibus et egregie Figurata, et supra modum Sublimia; at sententiose conclusa sunt plane omnia«. – Die Bildlichkeit gilt neben dem Parallelismus in der aktuellen alttestamentlichen Forschung immer noch als »das eigentliche Kennzeichen der Poetizität biblischer Texte« (H. UTZSCHNEIDER: Die Inszenierung des Gestaltlosen. Alttestamentliche Gottesbilder diesseits und jenseits des Bilderverbots, 318). 43
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Was Lowth im Einzelnen mit den genannten Begriffen verbindet und wie sie sich zueinander verhalten, ist im Folgenden darzulegen. Dabei ist das eigentliche Ziel die Konturierung von Lowths Auffassung des Erhabenen. Aber es wird sich zeigen, was vorerst nur als Voraussetzung der Interpretation postuliert werden kann: dass ein volles Verständnis des Erhabenheitsbegriffs der Praelectiones tatsächlich nur unter Berücksichtigung der beiden anderen Stilcharakteristika zu gewinnen ist.47 Bevor Lowth indessen zur eigentlichen Stilanalyse schreitet, bietet er eine ausführliche psychologischhistorische Reflexion über den Ursprung der Poesie. Sie will zunächst nur eine Plausibilisierung dafür liefern, dass gerade die drei genannten Aspekte das Proprium des hebräischen Dichtungsstils kennzeichnen sollen, hat aber für Lowths Auffassung der alttestamentlichen Poesie grundsätzliche Bedeutung. Diese Reflexion ist daher zuerst nachzuzeichnen (4.2), um im nächsten Abschnitt die Lowth’schen Stilkategorien und dabei insbesondere die Erhabenheitskategorie zu entfalten (4.3).
4.2. Der Ursprung der Dichtkunst 4.2.1. Die Quellen der Poesie: Natur und Kunst Die klassische rhetorische Unterscheidung von natura und ars aufgreifend48 beschreibt Lowth den Ursprung der Dichtkunst in zwei Stufen. Was die ›Natur‹ betrifft, lautet Lowths Grundmaxime: Dictionis Poeticae primus ac praecipuus fons est vehemens mentis affectus.49
Der poetischen Diktion erste und vorzügliche Quelle ist der heftige seelische Affekt.
Der Lowth’sche Grundsatz, der von Monk wie von Morris auf John Dennis zurückgeführt wird,50 verrät den Horizont der klassischen Rhetorik. Die nähere Ausführung indes erinnert unmittelbar an Longins Rhetorik des Pathosausbruchs. Der dichterische »Enthusiasmus« ist nach Lowth nichts anderes als ein solcher »vehementer« Affektzustand, in welchem sich das Innerste des Dichters nach außen kehrt, indem sich in ungeordneten und unverbundenen Sätzen, in »plötzlichen Ausrufen«, »drängenden Fragen« etc. seine tiefsten Gedanken und Empfindungen (intimi sensus) kundtun.51 47
Vgl. D. TILL: ebd. Vgl. dazu F. NEUMANN: Art. Natura-ars-Dialektik. 49 Prael. 47. 50 Vgl. S. H. MONK: The Sublime, 80f; D. B. MORRIS: The Religious Sublime, 161. Zu Dennis s.o. Kap. 1.2.1. 51 Vgl. Prael. 47: »Quid enim est aliud ille Poetarum proprius furor, quem Graeci divino afflatui tribuentes enjousiasmon vocant, quam oratio ex ipso naturae habitu de48
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Dem Affekt eignen also bereits natürlicherweise gewisse »poetische« Sprachmittel,52 und weil er wesensgemäß nach möglichst heftigem Ausdruck drängt und dabei auch Stimme und Gestik in Anspruch nimmt, verbindet sich das Ur-Poetische bald mit Formen von Gesang und Tanz. Auf diese Weise vermitteln sich der Dichtung schon in diesem frühen Stadium ihres »gewissermaßen rohen Anfangs«53 ansatzweise bestimmte »metrische« Ordnungen und regelmäßige Satzstrukturen. Obgleich auf dieser Entwicklungsstufe die poetologische Ursituation des Affektausdrucks in gewisser Weise schon ›künstlich‹ überformt zu werden scheint, schaltet sich für Lowth die eigentliche Kunst erst auf einer späteren Stufe ein; dort nämlich, wo die ›natürlichen‹ Affektpotentiale der Dichtung bewusst54 »für Genuss und Nutzen«55 eingesetzt werden. Dies geschieht nach Lowth dort, wo innerhalb einer Kultur rein mündlicher Überlieferung die »Weisen« erkennen, dass poetisch geformte Sprache die hervorragende Eigenschaft hat, sich dem Gemüt mittels Affekterregung unvergleichlich stark einzuprägen: … cum rerum omnium imagines in animo eminenter expressas signaret et effingeret, sensus percelleret, delectaret aures, efficeretque, ut mens attente singula perciperet, nec percepta facile elabi pateretur.56
… weil sie [sc. die Dichtung] die Bilder aller Dinge der Seele über die Maßen deutlich einzeichnet und einbildet, die Empfindungen erschüttert, die Ohren erfreut und macht, dass das Gemüt Einzelnes aufmerksam erfasst und das Erfasste nicht mehr leicht entgleiten lässt.
Wo es galt, etwas dem kollektiven Bewusstsein einzuschreiben, da war die Stunde der Dichter gekommen: … id […] jucundiore stylo ornatum dabant; variis splendidisque orationis coloribus illuminabant; sententiis brevibus, argutis, numerosis, concludebant.57
… durch einen anziehenderen Stil schmückten sie es; sie verliehen ihm Glanz durch die verschiedenen leuchtenden Farben der Rede; sie zwangen es in kurze, gedrängte, rhythmische Sätze.
prompta, animique motu aliquo vehementer concitati veram atque expressam imaginem exhibens? cum mentis quasi ultimos recessus ac penetralia aperiunt; intimosque ostendunt sensus, turbide confluentes, nec suo ordine dispositos, nec suis inter se vinculis connexos: hinc subitae exclamationes, interrogationes crebrae«. 52 Vgl. dazu Prael. 20f: »… quorum [sc. vehementiorum humanae mentis affectuum] ea est natura, ut sese efferant vocibus elatis, ardentibus, maximeque a vulgari sermonis usu abhorrentibus«. 53 Prael. 48: rudi quodam initio. 54 Vgl. F. NEUMANN: aaO. 140. 55 Prael. 48: ad delectationem et utilitatem. 56 Ebd. 57 Prael. 48f.
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Insgesamt fällt der Dichtung in ihren Anfängen, sobald sie das natürliche Stadium der spontanen Gemütsäußerung verlassen hat und Kunst geworden ist, das praeconis cujusdam publici munus58 zu: »die Aufgabe, so etwas wie ein öffentlicher Herold zu sein«. Es kommt ihr zu, in eine eindringliche, affektiv wirkungsvolle Form zu bringen, was von allgemeiner Bedeutung ist: Hae itaque erant Poeticae partes, grandia, pulchra, honesta, signare et depingere; praecepta ad religionem et virtutem spectantia commendare; res praeclare graviterque dictas gestasque, Dei opera, benefacta, laudes, memoriam praeteritorum, futurorum praedictiones, posteris tradere.59
Dieses war daher Sache der Dichtung: Großes, Schönes, Würdiges auszudrücken und abzubilden; Lehren, Religion und Tugend betreffend, angenehm zu machen; vortreffliche und bedeutsame Reden und Taten, Gottes Werke, Gnaden- und Ruhmestaten, die Erinnerung an Vergangenes und die Weissagungen von Zukünftigem den Nachgeborenen zu überliefern.
Auf der Stufe reiner Natur ist Dichtung unmittelbarer Ausdruck des Affekts, auf der Stufe anfänglicher Kunst ist sie Überlieferungsmedium. Lowth will mit dieser Theorie vom natürlich-institutionellen Ursprung der Poesie seine Lehre vom dreifachen Charakter des hebräischen Dichtungsstils begründen. Der Bezug zu den drei Stilmerkmalen liegt auf der Hand. Als praeco publicus spricht die Dichtung in besonders einprägsamer, d.h. erstens in bündiger, sprichwörtlicher oder spruchartiger, also ›sententiöser‹ Form: »in kurzen, gedrängten, rhythmischen Sätzen«60. Als möglichst einprägsame Rede ist sie zweitens auch notwendig bildliche Rede: Sie fasst ihre Gegenstände nicht in Begriffe, sondern stellt Bilder vor Augen, die tief ins Gemüt einsinken. Und drittens ist die Dichtung der Lowth’schen Ursprungskonstruktion zufolge bereits in ihren Anfängen ›erhaben‹: einerseits durch ihre Gestalt, mit der sie sich über die gewöhnliche Sprache erhebt, andererseits und vor allem durch ihre Gehalte. Denn bedichtet wird nur, was von allgemeinem Gewicht, was ›groß‹, ›schön‹ und ›würdig‹ ist unter den »menschlichen und göttlichen Dingen«61. Es sind also, so lässt sich schon mit einem vagen Vorbegriff der betreffenden Stilcharakteristika sagen, im Wesentlichen »Spruchhaftigkeit« (sententiositas), Bildlichkeit (dictio figurata) und Erhabenheit (sublimitas), welche die ars poetica von Beginn an auszeichnen. Es eignet ihr außerdem ›Figürlichkeit‹ in einem allgemeineren Sinn, insofern sie immer schon alle möglichen Stilfiguren einsetzt, um den anvisierten Nutzen, maximale Einprägsamkeit, zu erreichen. Im Gegensatz zu den vorgenannten Stilmerkma58
Prael. 49. Ebd. 60 Ebd.: sententiis brevibus, argutis, numerosis. 61 Prael. 51: rerum humanarum divinarumque. 59
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len hält Lowth allerdings die soverstandene Figürlichkeit nicht für ein Spezifikum der hebräischen Poesie – weshalb er sich für sie im Weiteren nicht mehr sonderlich interessiert. Das obligatorische Abspulen der üblichen Stilmittelkataloge samt deren Exemplifizierung an den alttestamentlichen Dichtungen wird dem Fleiß anderer überlassen.62 Die Aussageintention der skizzierten Ursprungstheorie geht indes über das bisher Gesagte hinaus. Lowth will klar machen, dass die typischen Stilmerkmale der hebräischen Poesie nicht bloß in den Anfängen der Dichtkunst gründen, sondern darüber hinaus in den »gewissermaßen rohen« Anfängen der Dichtung als ›Natur‹. Die Behauptung, dass ihre Wesensmerkmale auf die eigentliche Natur der Dichtung zurückführen, soll die These belegen, dass die alttestamentliche Dichtung ursprünglicher ist als jede andere. Jene eigentliche Natur der Poesie wiederum erblickt Lowth, wie sich bereits andeutete, in der Eigenschaft, Ausdruck von ›heftigem Affekt‹ zu sein. Schließlich ist gerade ihre Affektnatur der Grund, warum sich die Kunst der Dichtung überhaupt angenommen hat, d.h. warum aus den rudimentären Anfängen eine Kunstform entstanden ist: Poeticam, hoc modo, ut videtur, rudi quodam initio ab natura fusam, mature excepit ars, atque ad delectationem et utilitatem transtulit. Nam quemadmodum ex Affectibus mentis suam originem duxerat, […], ita ad omnem animi motum concitandum, seque ei penitus infigendum egregie erat comparata…63
Die Dichtung, offenbar in ihrem gewissermaßen rohen Anfang derart der Natur entsprungen, wurde schon früh durch Kunst fortgeführt und auf Ergötzung und Nutzen gelenkt. Denn wie sie aus den Affekten des Gemüts ihren Ursprung genommen hatte […], so war sie hervorragend dazu geeignet, jede beliebige Bewegung der Seele zu erregen und sich ihr auf diese Weise tief einzuprägen…
Die ›natürliche‹ poetische Rede, wie sie in ihrem »rohen Anfang« als unmittelbare Äußerung des Affekts je und je hervorbrach, wird von der ›Kunst‹ »fortgesetzt«, »in Anspruch genommen« (excipere), d.h. die Kunst tritt nicht einfach an die Stelle der Natur, sondern setzt, was ursprünglich spontan und zufällig hervorbrach, planvoll ein. Die Dichtung, von Natur aus Sprache des Affekts, bleibt dies auch als Kunst. Die Kunst hat gar keine andere Intention, als die Natur der Dichtung bewusst zur Geltung zu bringen. Auch sie will Sprache des Affekts sein und entsprechend affektiv wirken. Aufgrund ihres hohen Alters – auf dieses Argument ist noch zurückzukommen – muss der bleibende Naturbezug der Dichtkunst nun gerade an der hebräischen Poesie sichtbar sein. Folglich muss gezeigt werden können, dass die Charakteristika ihres Stils in exemplarischer Weise »aus den Af62 63
Vgl. Prael. 45. Prael. 48.
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fekten des Gemüts ihren Ursprung nehmen«. Wie Lowth diese Beziehung im Einzelnen herstellt, wird im Durchgang durch die drei Stilmerkmale zu sehen sein. Im Zusammenhang der Ursprungstheorie von Prael. IV finden sich diesbezüglich immerhin Andeutungen: So können die »plötzlichen Ausrufe« und »drängenden Fragen«, in denen sich der Affekt ursprünglich Luft macht,64 gleichsam als Urformen sententiöser Kürze gelten – echte Leidenschaft kennt keine langatmigen Perioden.65 Ferner sieht Lowth die »Anrufe sogar unbeseelter Dinge«66, die er für affekttypisch hält, wohl als eine Art Vorform uneigentlicher, bildlicher Rede an. Nur was die sublimitas betrifft, findet sich in diesem Zusammenhang kein Hinweis. Hier wird erst ein Blick auf Prael. I Aufschluss geben. Es lässt sich vorläufig festhalten, dass Lowth die hebräische Dichtkunst mit ihren eigentümlichen Stilmerkmalen in den Anfängen der Dichtung überhaupt verankert, und zwar zum einen in der institutionellen Funktion der Poesie als Überlieferungsmedium kollektiver Traditionsbestände und darüber hinaus in dem noch fundamentaleren humanen Sachverhalt der sprachlichen Manifestation der intimi sensus, der seelischen Tiefenschichten, im Zustand des Affekts.67 Das skizzierte Wechselverhältnis von ars und natura (wie es sich im Übrigen ähnlich – in klassischer Formulierung – bei Longin findet)68, berührt etwas Wesentliches vom Dichtungsverständnis der Praelectiones, weshalb an dieser Stelle noch einen Moment lang zu verweilen ist. Mit seiner Maxime vom Affekt als primus ac praecipuus fons der Dichtung ist Lowth zu den Longin-inspirierten »präromantischen« Vertretern eines »pathetischen« Poesiebegriffs zu zählen, aus deren Kreis uns mit John Dennis bereits ein 64
Vgl. De subl. 18,1f. Vgl. De subl. 20,2. 66 Prael. 47: rerum etiam inanimarum compellationes. 67 In welchem Verhältnis diese beiden Begründungsebenen zueinander stehen, bleibt unklar. Was einerseits als Funktion einer bewusst intendierten Einprägsamkeit gelten kann, ist andererseits und eigentlich Reflex psychischer Erregung. – Die kardinale Rolle des Affektausdrucks für das Lowth’sche Dichtungsverständnis betont A. CULLHED: Original Poetry. Robert Lowth and Eighteenth-Century Poetics. Die Literaturwissenschaftlerin profiliert die Praelectiones gegenüber einer primär exegetischen Rezeption als genuin poetologischen Entwurf. Lowth gilt ihr als wichtiger Bahnbrecher für die Aufwertung der Lyrik gegenüber Epos und Drama nicht zuletzt in der deutschen Poetik des 18. Jahrhunderts. Auf den Zusammenhang der Praelectiones mit der Longin-Renaissance innerhalb der englischen Poetik geht Cullhed nicht ein. Entsprechend bleibt auch die spezifisch religiöse Dimension von Lowths Auffassung der alttestamentlichen Dichtung stark unterbelichtet, insofern sie gewissermaßen als Rest überkommener Theologie innerhalb einer eklektizistisch verfahrenden Dichtungstheorie gewertet wird (vgl. 40ff). 68 De Subl. 22,1: »Die Kunst nämlich ist dann vollkommen, wenn sie Natur zu sein scheint, die Natur wiederum erreicht ihr Ziel, wenn sie unmerklich Kunst in sich birgt« (Übers. R. BRANDT). 65
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hervorragender Theoretiker begegnet ist.69 Auch geht nicht fehl, wer die Praelectiones mit ihrer Fokussierung auf die ›Natur‹, den ›Ursprung‹ der Dichtung, und auf die vermeintlich ursprünglichste, nämlich die orientalische bzw. hebräische Poesie als Zeugnis des seinerzeit in England grassierenden »Primitivismus« versteht; gingen doch bei den Orientalismus-Anhängern wie bei den Homer- und Ossian-Verehrern jener Tage in der Regel ohnehin Affektzentrierung und Ursprünglichkeitsideal Hand in Hand.70 Aber die Lowth’schen Reflexionen über Natur und Kunst deuten an, dass in diesem Fall kein naiver, sondern ein mindestens in Ansätzen reflektierter Primitivismus vorliegt. Lowth selbst ist nicht ohne weiteres auf die Formel »nature versus art«71 zu bringen, auch wenn er stellenweise tatsächlich das Natürliche (natura) und das Artifizielle (artificium) einander entgegensetzen kann.72 Aber offensichtlich geht er nicht davon aus, dass es wirkliche Dichtung als reine Natur geben kann, sondern auch bei den frühesten Zeugnissen der Poesie, zu denen die hebräischen Dichtungen zu zählen sind, rechnet er mit der Beteiligung von Kunst. Es kommt nur darauf an – und das ist seiner Ansicht nach bei der alttestamentlichen Poesie in höchstem Maße der Fall –, dass die Dichtkunst fortwährend aus ihrer natürlichen Quelle schöpft.73 Noch als praeco publicus, als Kunst mit einer bestimmten Funktion für die Allgemeinheit, in bestimmten institutionellen Bezügen und mit bestimmten konventionellen Formen, streift die Dichtung im Idealfall nicht ihren natürlichen Ursprung ab. Letztlich lebt sie immer noch vom Affekt, auch wenn sie nicht mehr wie in den ersten Anfängen dessen zufällige Hervorbringung ist.74 Wie das Wechselverhältnis von Natur und Kunst in diesem Zusammenhang näher zu denken ist; wie der natürliche Affekt in der planvoll gestalteten Dichtung weiterlebt, wird nicht gesagt75; lediglich, dass dies in größerer historischer Nähe zum »rohen Ursprung« 69
S.o. Kap. 1.2.1. Vgl. R. P. LESSENICH: Aspects of English Preromanticism, 134ff. 71 AaO. 134 und öfter; ähnlich D. TILL: Das doppelte Erhabene, 181f. 72 Vgl. z.B. Prael. 366: »Carmen hoc est ex omni parte nudum imprimis et simplex; nihil habens artificii, nihil in rerum sive inventione sive ordine exquisitum. Naturae solummodo et affectuum vocem audimus«. 73 Vgl. Prael. 25: »Ars omnis [est] cognitio quaedam ex natura deprompta«. 74 Eine analoge Verhältnisbestimmung von natura und ars findet sich noch in H. GUNKELs Auslegung der hebräischen Poesie, nämlich in der Ansicht, »daß Israel« in den vortrefflichsten Dichtungen des Psalters »das Höchste hervorgebracht hat, nämlich die große Persönlichkeit, die sich über die herkömmliche Gattung erhebt und sie mit ihrem eigenen Leben durchdringt« (Einleitung in die Psalmen. Die Gattungen der religiösen Lyrik Israels, 70). 75 Angesichts der psychologischen Dimension der rhetorischen Natura-ars-Reflexion wäre dabei etwa an eine Interpretation zu denken, die Natur und Kunst im Schaffensprozess des Dichters lokalisiert. Demnach hätte dieser seine Dichtung bei aller planvollen Kunst in irgendeiner Form letztlich aus den affektiven Tiefenschichten seiner Seele zu heben. 70
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der Poesie in höherem, mithin bei der alttestamentlichen Dichtung in höchstem Maße zutrifft.76 Wie dem auch sei, Lowth versteht die Dichtung im Allgemeinen und die hebräische Dichtung im Besonderen nicht als bloße Natur, nicht als unmittelbare Äußerung des menschlichen Affekts, sondern als bewusst geformte Natur, als gestalteten Affekt – auch wenn dieses Bewusstsein der Kunstförmigkeit immer wieder zugunsten der Betonung der Natur zurücktreten kann. Die Poesie ist Ausdruck seelischer Tiefenschichten in der Form der Kunst, und mithin nicht spontaner individueller Ausdruck, sondern mit Blick auf Allgemeinheit gestalteter Ausdruck von Affekt. 4.2.2. Die Gegenstände der Poesie: Tugend und Religion Über die Eigenart des der Dichtung zugrundeliegenden Affekts macht Lowth keine näheren Angaben – zumindest nicht in den bisher dargelegten Betrachtungen von Prael. IV. Indes äußert sich bereits die Eröffnungsvorlesung zu diesem Punkt. Unter der Überschrift De poeticae fine et utilitate bringt Prael. I zunächst die Zweckbestimmung der Dichtung auf die modifizierte horazische Formel prodesse delectando:77 Die Poesie hat zu nutzen, indem sie ergötzt. Der Poet hat also dasselbe Ziel wie der Philosoph, nur stehen ihm andere, wirkungsvollere Mittel zu Gebote: weil er – hier begegnet bereits die aus Prael. IV bekannte Maxime – nicht nur den Verstand, sondern vorzüglich die Affekte anzusprechen vermag:78 Praecepta non rationi solum commendat Poesis, sed infundit et admiscet affectibus…79
Die Dichtung empfiehlt die Lehren nicht nur dem Verstand, sondern flößt sie unmittelbar den Affekten ein…
Es ist das Feld der Tugend, das die Dichtung gemeinsam mit der Philosophie bestellt, und ihrem Vermögen, den Seelen moralisch-sittliche Leidenschaft einzupflanzen, ist es zuzuschreiben, dass sie auf diesem Feld die weit größere Ernte einbringt.80 Der Gedanke von der Funktion der Dichtung für 76
S.u. Kap. 4.2.2. CH. BULTMANN, neben R. Smend einer der wenigen deutschen Lowth-Kenner innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft, hat in dem Aufsatz After Horace. Sacred Poetry at the Centre of the Hebrew Bible auf die Präsenz horazischer Topoi innerhalb der Praelectiones ausführlich hingewiesen. Demgegenüber bleibt – abgesehen von der Höherbewertung der Affekte (vgl. 79) – weitgehend unbestimmt, worin die von Bultmann immerhin konstatierte Bedeutung der longinischen Erhabenheitsidee für die Entwicklung der Lowth’schen Bibelpoetik bestanden haben mag. 78 Eine vergleichbare Verhältnisbestimmung zwischen Dichter und Philosoph ist bereits bei Pyra begegnet; s.o. Kap. 3.4.1. 79 Prael. 7. 80 Vgl. dazu auch eine Passage wenig später (ebd.), wo es vom Dichter heißt: »suavitate carminis, pulchritudine imaginum, fabulae artificio, veritate imitationis, lectoris ani77
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die Ausbildung sittlicher ›Empfindungen‹, wie es in der deutschen Philosophie der Zeit heißt, erinnert nicht wenig an die ethischen Implikationen der longinischen Erhabenheitstheorie.81 Dies gilt umso mehr angesichts des Begriffs der generositas, dem lateinischen Äquivalent der griechischen megalophrosynê, und der wiederholt gebrauchten Wendung von der animi elatio, die als Inbegriff von Tugend angesehen wird.82 Jener Gedanke findet sich freilich, wie in den vorangegangenen Kapiteln deutlich geworden ist, häufig in der Ästhetik der Frühaufklärung, wobei insbesondere die Anknüpfung an das horazische aut prodesse aut delectare in Lowths Tagen längst den Status eines Gemeinplatzes besitzt.83 Gleichwohl wartet selbige Vorlesung durchaus noch mit einer originelleren These auf. So ist die Dichtung mit der Zuschreibung jener ethischen Funktion nach Lowths Ansicht noch weit unterbestimmt: Verum de Poetica adhuc levius omnino et humilius, quam ejus dignitas postulat, existimabimus, nisi eo demum convertamus animos, unde ejus magnitudo maxime elucet; nisi eam in sacris versantem, et Religioni ministrantem contemplemur. Hoc primum ei negotium datum est; hoc ita feliciter exequitur, ut in caeteris rebus impositam quandam personam gerere videatur, hic solummodo suam; alibi enim ad artis subsidia semper confugere, hic propria vi niti, aut potius spiritu vere divino sustentari.84
Aber wir würden immer noch viel schwächer und niedriger von der Dichtung denken, als es ihre Würde fordert, wollten wir unseren Sinn nicht endlich dahin wenden, woher ihre Größe am meisten hervorleuchtet; wollten wir sie nicht betrachten, wie sie mit heiligen Dingen Umgang hat als Dienerin der Religion. Dieses ist ihre erste Obliegenheit; dieses führt sie so glücklich aus, dass sie bei den übrigen Dingen gleichsam eine fremde Rolle zu spielen scheint, hier indessen ganz die eigene; denn anderswo scheint sie immer die Kunst zu Hilfe zu nehmen, hier hingegen sich auf eigene Kraft zu stützen, oder besser: vom wahrhaft göttlichen Geist genährt zu werden.
mum alliciat, penetret, delectet, percellat, ad omnem virtutis habitum formet, atque ipsius honesti spiritu quodam imbuat«. 81 S.o. Teil I/Kap. 3.2 und 5. 82 Vgl. Prael. 11: »Quam autem vim habeat hoc genus Poeseos [sc. die Ode] in vita civili tuenda, et in formandis moribus; praecipue autem in generosa illa animi ac sensuum elatione, qua maxime virtus continetur«. 83 Vgl. Hor. ars 333f: »aut prodesse volunt aut delectare poetae / aut simul et iucunda et idonea dicere vitae.« Vgl. D. NORTON: A history of the Bible, Bd. 2, 61: »the opening lecture is a standard Augustan exposition of the nature of poetry«. Die konventionellen Züge mögen auch damit zusammenhängen, dass Lowth die Eröffnungsvorlesung bereits 14 Tage nach seiner Berufung zu halten hatte; vgl. S. PRICKETT: Words, 105. 84 Prael. 20.
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Die eigentliche Sphäre der Dichtung, so Lowth, ist die Religion. Aus dieser Sphäre bezieht sie ihre hohe Würde. Nichts ist so sehr ihrem Wesen gemäß wie der Umgang mit heiligen Dingen, nur hier ist die Poesie ganz bei sich. Mag sie ihre Stimme auch anderen Rollen leihen können, etwa der Moral – mit eigener Stimme spricht sie nur im Dienst der Religion. Als Beleg für diese Behauptung genügt ein Verweis auf die Dichtung des Alten Testaments: Quid enim habet universa Poesis, quid concipere potest mens humana grandius, excelsius, ardentius; quid etiam venustius et elegantius, quam quae in sacris Hebraeorum Vatum scriptis occurrunt? qui magnitudinem rerum fere ineffabilem verborum pondere et carminis majestate exaequant; quorum cum nonnulli vel ipsis Graecorum poetarum fabulis sint antiquiores, ita omnes tantum eos sublimitate exsuperant, quantum vetustate antiquissimi antecedunt.85
Was nämlich gibt es im Reich der Dichtung; was kann das menschliche Gemüt Größeres, Höheres, Glänzenderes aufnehmen; was auch Schöneres oder Erleseneres, als was uns in den heiligen Schriften der hebräischen Seher begegnet? Welche die beinahe unsagbare Größe ihrer Gegenstände mit dem Gewicht der Worte und der Majestät des Gedichts würdig darstellen; welche, von denen einige älter sind als selbst die Sagen der griechischen Dichter, diese sämtlich so sehr an Erhabenheit überragen, wie die ältesten von ihnen sie an Alter übertreffen.
Die hebräische Poesie darf als Inbegriff von Dichtung gelten, weil sie in ihrer Größe und Schönheit unübertroffen ist. Ihre Größe besteht in der »würdigen Darstellung« »beinahe unsagbar großer«, sprich: religiöser Gegenstände. Wo sich indes das an sich Unaussprechliche der Religion derart würdig ausspricht, dass es an die Grenzen menschlicher Fassungskraft reicht, da muss solches einem Geist entspringen, der selbst kaum mehr menschlich zu nennen ist, einem, wie es kurz zuvor hieß, spiritus vere divinus.86 Just in diesem Zusammenhang, der vom religiösen Charakter der (hebräischen) Dichtung handelt, fällt innerhalb der Praelectiones zum ersten Mal der Begriff sublimitas. Was auch immer der betreffende, etwas gewundene Satz genau besagen will – die Erhabenheit, die offenbar mit dem hohen Alter der alttestamentlichen Dichtungen in Verbindung gebracht wird,87 scheint genau jene Eigenschaft zu bezeichnen, die die hebräische Poesie und 85
Prael. 20. Lowths Anspielung auf den göttlichen Geist mag eine Boileau-Reminiszenz sein (s.o. Kap. 1.1.4). Dass hinter der Wendung vom spiritus vere divinus tatsächlich der christliche Inspirationsgedanke steht, zeigt sich bereits in Prael. II, 25. Vgl. dazu ferner Anm. 230. 87 Ähnliches findet sich bei J. G. HERDER in der Wendung von der »uralten Erhabenheit« der hebräischen Dichtung (Vom Geist der ebräischen Poesie, 1001). 86
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letztlich die Poesie überhaupt wesenhaft ausmacht: nämlich unaussprechlich Hohes in entsprechender Majestät zur Sprache zu bringen und damit Stimme der Religion, Sprachrohr göttlichen Geistes zu sein. Mit der Berufung auf diese Eigenschaft – deren Begriff wohlgemerkt dem griechischen Rhetoriker Longin entnommen ist, wie an späterer Stelle explizit gesagt wird88 – proklamiert Lowth den Vorrang der hebräischen vor der griechischen und damit generell vor der klassischen Dichtung. Diese Proklamation, seinerzeit in Oxford wohl nicht mehr gerade eine skandalträchtige Provokation,89 aber doch immer noch eine Spitze gegen den klassizistischen Mainstream der Literaturkritik, wird mit dem höheren Alter der alttestamentlichen Dichtungen begründet. Denn höheres Alter bedeutet größere Nähe zum Ursprung: Quod si ipsius Poeseos ultima origo quaeratur, ad Religionem omnino videtur referenda.90
Denn wenn der erste Ursprung der Dichtung selbst gesucht werden sollte, wird er offenbar ganz der Religion zugeschrieben werden müssen.
Was zuvor vom primum negotium und der propria vis der Poesie gesagt wurde, wird in eine historische Ursprungshypothese überführt: Die Dichtung entspringt religiöser Quelle. Und Erhabenheit, anscheinend wie bei Longin zentrales Kriterium für den Rang von Poesie, bemisst sich nach dem Alter, sprich: nach der Nähe zum religiösen Ursprung. Nun wird, wie dargelegt wurde, in Prael. IV der Affekt als ursprüngliche psychologische Quelle der Dichtung ausgewiesen. Es sind also eine psychologische und eine geschichtsphilosophische Ursprungshypothese zu unterscheiden. Tatsächlich führt Lowth bereits hier in Prael. I beide zusammen: Nam cum sit facultas [sc. Poeseos] a natura profecta, […] non aetatis alicujus aut gentis propria, sed universi humani generis; vehementioribus humanae mentis Affectibus necessario tribuenda est…91
Denn weil die Fähigkeit [sc. zu dichten] aus der Natur herrührt, […] weil sie nicht irgendeiner Epoche oder irgendeinem Volk eignet, sondern der Menschheit im Ganzen; darum ist sie notwendig den heftigeren Affekten des menschlichen Gemüts zuzuweisen…
Die sehr gedrängte Begründung muss vollständig etwa folgendermaßen lauten: Weil mindestens urtümliche Dichtungszeugnisse in allen Völkern aller Zeiten zu finden sind – dieser Sachverhalt wird vorausgesetzt –, ist die Fertigkeit des Dichtens nicht als besondere kulturelle Leistung anzusehen, sondern als natürliche Anlage des Menschen, als Begabung der menschli88
S.u. Kap. 4.3.1. Vgl. S. H. MONK: The Sublime, 80. 90 Prael. 20. 91 Ebd. 89
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chen Seele. Hier wiederum kommen eigentlich nur die ›heftigen Affekte‹ als Ort der natürlichen Dichtungsbegabung infrage. Denn sie sind es, so wird im Folgenden ausgeführt, die sich natürlicherweise »in hohen, brennenden und sich weitestmöglich vom gewöhnlichen Sprachgebrauch abhebenden Worten«92 artikulieren und in »schneidenden, schnellen, bebenden Sätzen«93. Und was hat all das mit Religion zu tun? Lowths Antwort, die den Hörer oder Leser in die Atmosphäre der biblischen Schöpfungserzählungen versetzt, enthält die eigentliche Conclusio der Begründungskette: Hoc in Admiratione et Gaudio vel maxime locum habet; et quid erat quod hominis jam tum creati mentem, opinionum vanitate nondum depravatam, adeo vehementer potuit percellere, ac, quae tum ei plane obversata est, Dei Optimi Maximi bonitas, sapientia, et magnitudo? quid verisimilius, quam primum inconditi carminis conatum in Creatoris laudes ipso exardescentis animi impetu erupisse?94
Das [sc. derartige Affektäußerung] hat wohl am meisten bei Bewunderung und Freude seinen Platz; und was war es anderes, was das Gemüt des damals gerade geschaffenen Menschen, vom leeren Schein der Vorurteile noch nicht verdorben, so heftig erschüttern konnte, als – was ihm damals klar vor Augen stand: des besten, größten Gottes Güte, Weisheit und Größe? Was ist wahrscheinlicher, als dass der erste Versuch eines kunstlosen Gedichts hervorbrach in der Aufwallung einer zum Lob des Schöpfers entbrannten Seele?
Die poetische Sprache ist die Sprache des Affekts, und der dominierende Affekt in den unverdorbenen Anfängen der Menschheit war die selige Bewunderung der göttlichen Größe in der noch unverstellten Gottesschau. Diese primitivistische Konstruktion, die die christliche Urstandslehre ins Kulturphilosophische wendet, sieht Lowth belegt durch den historischen Befund: Id certe minime dubium est, eisdem in sacris enutritam fuisse Poeticam, in quibus nata videtur: obire templa, adesse altaribus, prima ei et propria quaedam occupatio fuit: et cum religiones in variis gentibus atque aetatibus diversissimae obtinuerint, in hoc tamen omnes consensisse accepimus, ut hymnis et carminibus celebrarentur.95
92
Das ist gewiss am wenigsten zweifelhaft, dass die Dichtung an denselben heiligen Orten aufgezogen wurde, an denen sie geboren zu sein scheint: Tempeldienst zu tun, an den Altären zu wirken, war ihre erste und gewissermaßen wesenhafte Beschäftigung: Und obwohl die unterschiedlichsten Religionen in den verschiedenen Völkern und Zeiten Geltung hatten, darin haben sie unseres Erachtens dennoch alle übereingestimmt, dass sie mit Hymnen und Liedern vollzogen wurden.
Prael. 21: vocibus elatis, ardentibus, maximeque a vulgari sermonis usu abhorrentibus. Ebd.: sententi[ae] acres, incitat[ae], vibrantes. 94 Ebd. 95 Ebd. 93
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Zu paradiesischen Urzeiten im Augenblick der Gottesbegeisterung geboren, wächst die Dichtung auch in der Sphäre der Religion heran. Oder mit der Ursprungstheorie von Prael. IV gesprochen: Sobald die Poesie den »rohen Anfang«, den Status bloßer Natur verlässt und von der Kunst in Obhut, von der Allgemeinheit in Gebrauch genommen wird, sind es immer noch vornehmlich religiöse Belange, die sich den affektiven Charakter des Poetischen zu eigen machen. Denn wo die Dichtung eine allgemeine Funktion übernimmt und Kunst wird, steht sie zuerst im Dienste des Kultes. Aber nicht nur dieser kulturgeschichtliche Befund, sondern auch die Gegenwart liefert Lowth zufolge einen Beleg für den religiösen Ursprung der Poesie: Hujusce originis non obscura indicia etiamnum prae se fert Poesis, eo quod sacram et caelestem materiam veluti parentem suam et educatricem ardentissimo affectu semper amplectatur; huc veluti ad germanam patriam amet recurrere, ibique et lubentissime versetur, et maxime vigeat.96
Auch jetzt noch trägt die Dichtung deutliche Anzeichen dieses Ursprungs an sich, insofern sie einen heiligen und himmlischen Stoff wie ihre Mutter oder Amme immer mit glühendster Zuneigung umfängt; insofern sie dorthin wie ins wahre Vaterland zurückzukehren liebt und dort am liebsten sich aufhält sowie am besten gedeiht.
Der religiöse Ursprung der Poesie ist nach Ansicht Lowths nicht allein ein historischer Sachverhalt, sondern er wirkt auch in der gegenwärtigen Dichtung fort. »Auch jetzt noch« kehrt die Dichtung in heimatliche Gefilde ein, wenn sie sich eines religiösen Gegenstandes annimmt, »auch jetzt noch« blüht sie gleichsam auf, wenn sie die religiöse Sphäre betritt, und erreicht ungekannte Wirkungsmacht. Selbst ein moralischer Gebrauch der Dichtkunst, wie er laut Prael. IV erklärtermaßen bereits sehr früh stattfand und wie er in Prael. I selbst in epischer Breite proklamiert wird, ist demgegenüber von untergeordnetem Rang. Einmal mehr wird klar, was sich schon fortwährend andeutete: Lowths Ursprungstheorie entwächst nicht einem bloß historischen Interesse, sondern zielt eigentlich auf eine Wesensbestimmung.97 An ihrem Anfang lässt sich das Wesen der Dichtung ablesen, und es bringt sich auch gegenwärtig noch zur Geltung. Ihr Wesen und Ursprung aber ist es, religiöse Rede zu sein, genauer: Ausdruck von religiösem Affekt. Die hebräische Poesie ist aufgrund ihres hohen Alters dem historischen Ursprung besonders nahe, zugleich damit aber auch dem Wesen der Dichtung. Die alttestamentliche Poesie, obwohl keineswegs bloße Natur, bloßer Affekt, sondern bereits Kunst, also gestalteter Affekt, schöpft am reinsten aus der natürlichen 96
Prael. 21f. Dieselbe Doppelintention führt die in England mit dem Deismus populär gewordene Vorstellung einer natural religion mit sich, die offenbar im Hintergrund von Lowths poetologischer Ursprungsidee steht; vgl. dazu CH. BULTMANN: After Horace, 65ff. 97
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
Quelle der religiösen Erregung und ist darin Inbegriff von Dichtung überhaupt – und zugleich Inbegriff von Erhabenheit. Genau darin gründet ihre unübertroffene sublimitas, dass sie das religiöse Wesen der Poesie am reinsten verwirklicht hat. Von diesen fundamentalen Maximen Lowths ausgehend ist nun zu zeigen, inwiefern alle drei Stilmerkmale der hebräischen Poesie als Niederschlag dieser ihrer spezifischen ›Ursprünglichkeit‹ zu verstehen sind; und inwiefern insbesondere die Erhabenheit der alttestamentlichen Dichtung tatsächlich in deren religiösem Wesen gründet. Die Darstellung macht zu diesem Behufe zunächst einen Sprung zu Teil II/3 (De sublimi genere), wo Lowth den Erhabenheitsbegriff ausdrücklich thematisiert, um einen näheren Eindruck von dessen Inhalt und Struktur zu gewinnen (4.3.1). Daraufhin kehrt sie zum Anfang von Teil II zurück und folgt im Wesentlichen der Lowth’schen Explikation der drei Stilcharakteristika, wobei wo nötig auch die übrigen Teile der Praelectiones herangezogen werden (4.3.2 bis 4.3.4). Das Ziel von Abschnitt 4.3 ist eine Gesamtansicht von Lowths Konzept der sublimitas (4.3.5).
4.3. Die Erhabenheit der alttestamentlichen Dichtung Am Anfang des Vorlesungsteils, der explizit dem Erhabenen als dem Tertius Hebraeorum styli poetici character98 gewidmet ist (Prael. XIV–XVII) steht in Prael. XIV der Nachweis, dass dem Terminus mashal seiner Bedeutung (ex vi) und seinem Gebrauch nach (ex usu) »der Begriff von Erhabenheit innewohnt« und dass daher der hebräische Dichtungsstil, der mit jenem Terminus bezeichnet wird, bereits mit dem Titel proklamiert, »wodurch er die Dichtung der anderen Völker […] weit überragt«99. Die Bemerkung lässt sich als Indiz verstehen, dass die sublimitas innerhalb der Lowth’schen Stilcharakteristik eine herausgehobene Rolle spielt. Nach Lowths Etymologie100 verrät der poetische Stil der Hebräer schon durch seinen Namen, dass er maßgeblich erhabener Stil ist, oder in Anlehnung an den weiten Stilbegriff der Praelectiones formuliert: Den Geist der alttestamentlichen Dichtung ver98
Prael. 168. Vgl. Prael. 170: »Quo exemplo exponere volui […] voci lvm, cum ex vi tum etiam ex usu suo, subesse notionem Sublimitatem; stylumque poeticum apud Hebraeos id ipsum suo nomine ac titulo profiteri, quo aliarum gentium poesi re et veritate longe antecellit.« 100 Lowth bringt das Substantiv lv'm' (›Spruch‹, ›Gleichnis‹) mit dem Verb lvm (›herrschen‹) in Verbindung und deutet diese Verbindung als Hinweis auf eine besondere ›Macht‹ (potestas) und ›Vorzüglichkeit‹ (principatus) der hebräischen Poesie, womit er wiederum den Begriff der ›Erhabenheit‹ (sublimitas) assoziiert; vgl. Prael. 168. 99
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rät schon deren hebräische Benennung als erhabenen Geist. Unter den Propria des hebräischen Dichtungsstils (sententiositas, Bildlichkeit und Erhabenheit) bezeichnet also die Erhabenheit das Wesentliche. Aber was heißt ›erhaben‹? 4.3.1. Definition und Differenzierung Lowth bringt in Prael. XIV sogleich – angesichts der ständigen Präsenz des Begriffs innerhalb der Praelectiones möchte man sagen: reichlich spät – eine Definition und dokumentiert damit ausdrücklich seine Abhängigkeit von Longin: Sublimitatem autem hic intellego sensu latissimo sumptam: non eam modo quae res grandes magnifico imaginum et verborum apparatu effert; sed illam quaecunque sit orationis vim, quae mentem ferit et percellit, quae movet affectus, quae rerum imagines clare et eminenter exprimit; nihil pensi habens, simplici an ornata, exquisita an vulgari dictione utatur: in quo Longinum sequor, gravissimum in hoc argumento et intelligendi et dicendi auctorem.101
Erhabenheit aber verstehe ich hier im weitesten Sinne: Ich meine nicht nur eine Erhabenheit, die große Dinge mit einem großartigen Apparat an Bildern und Wörtern zum Ausdruck bringt; sondern jene Kraft der Rede – welche auch immer es ist – die das Gemüt hinreißt und erschüttert, die Affekte bewegt, die Bilder der Gegenstände klar und herausragend darstellt; und das, ohne dass sie etwas Gesuchtes an sich hat, egal ob sie eine einfache oder geschmückte, eine auserlesene oder gewöhnliche Ausdrucksweise gebraucht. In all dem folge ich Longin, dem bedeutendsten Autor zu diesem Thema, sowohl was dessen Durchdringung als auch dessen Darstellung angeht.
Die Definition ist tatsächlich »thoroughly Longinian«102. Die Distanzierung von der Auffassung, erhabene Rede zeichne sich grundsätzlich durch große Themen aus, die mit großem rhetorischem Aufwand inszeniert werden, erinnert an Boileaus Abgrenzung des longinischen Erhabenen vom stile sublime der klassischen Rhetorik.103 Auch in der Bestimmung des Erhabenen als »hinreißende« »Kraft« oder »Gewalt« (vis) der Rede folgt Lowth Boileau, der, in treffender Summierung von Longins Erhabenheitsbegriff, das Sublime als »une certaine force de discours, propre à eslever et à ravir l’Ame«104 definiert hatte. In der Lowth’schen Wendung quaecunque sit kann man sogar die Boileau’sche Unbestimmtheitsformel vom »je ne sçay quoy de subli101
Prael. 171. D. NORTON: A history of the Bible, Bd. 2, 64. 103 S.o. Kap. 1.1.1. 104 Réfl. XII, 562. 102
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me«105 wiedererkennen, die sich auch im certaine im letztgenannten BoileauZitat spiegelt. Die Betonung der besonderen affektiven Wirkung liegt ebenfalls ganz auf der Longin-Boileau’schen Linie, ebenso wie die Herausstellung des »Ungesuchten«, Natürlichen wahrhaft erhabener Dichtung und die schon in der Abgrenzung vom genus sublime der klassischen Rhetorik implizierte Emanzipation des Erhabenheitsbegriffs von den Kategorien der Stilhöhendifferenzierung. Es fällt allenfalls ein etwas ungelenker Zusatz auf, der über Boileau und Longin hinausgeht, nämlich die Wendung von der ›klaren und herausragenden Darstellung der Bilder‹ (rerum imagines clare et eminenter exprimere). Auch Longin hatte zwar bereits die Anschaulichkeit (enargeia)106 als Merkmal und die Metapher als Mittel erhabener Rede aufgeführt, aber die Einrückung des Gesichtspunktes der Bildlichkeit ins Zentrum der Erhabenheitsdefinition gibt ihm bei Lowth allem Anschein nach ein neues Gewicht. Offenbar kommt der bildlichen Rede für das Erhabene eine besondere Bedeutung zu. Das hätte aber Konsequenzen für die Verhältnisbestimmung der beiden Stilmerkmale Bildlichkeit und Erhabenheit, die konzeptionell enger zusammenrücken, als es die Gliederung der Praelectiones vermuten lässt. Inwiefern sie dies tun, wird im Abschnitt über die Bildlichkeit der hebräischen Poesie (4.3.3) näher zu untersuchen sein. Von der grundlegenden Begriffsbestimmung schreitet Lowth weiter zur Entfaltung der einzelnen Arten (species)107 von sublimitas. Die erste Binnenunterscheidung ist die zwischen Erhabenheit in dictione und in sensibus.108 Offensichtlich bringt Lowth hier die traditionelle Zweiteilung der Rhetorik nach Inhalts- und Formaspekt zur Geltung: Dictio meint dann die Ausdrucksweise im Gegensatz zum Gehalt (sensus). Aber warum der Plural sensus? Weiteren Aufschluss bringt erst die nächste Binnendifferenzierung, nämlich diejenige innerhalb der sublimitas in sensibus. Sie wird zu Beginn von Prael. XVI vorgenommen: Quae in Sensibus unice posita est Sublimitas, nulla Dictionis habita ratione, (ea enim species quam ad Dictionem retulimus, utpote cum qua ar[c]tiori quadam necessitudine conjuncta est, ultimo quidem ad Sensus etiam plerumque referri posset; quae autem Sublimitas proprie est Sensuum,) ea oritur, vel ex insita quadam animi elatione, et felici audacia 105
Réfl. X, 550. Vgl. z.B. De subl. 15,2. 107 Prael. 194. 108 Prael. 171. 106
Die Erhabenheit, die allein in den ›Empfindungen‹ liegt, abgesehen von der Ausdrucksweise – die Art nämlich, die wir der Ausdrucksweise zuschreiben, mit der sie ja gewissermaßen in enger Beziehung steht, könnte freilich letztlich auch zum größten Teil den ›Empfindungen‹ zugerechnet werden –; die Erhabenheit aber, die im eigentlichen Sinne die der ›Emp-
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in formandis conceptibus; vel ex violento impetu mentis vehementioribus affectibus commotae: quorum alterum to peri taw nohseiw adrephbolon vocat Longinus, alterum to sfodron kai enjousias[t]ikon pajow appellat.109
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findungen‹ ist, diese Erhabenheit entsteht entweder aus einer gewissen angeborenen Erhebung der Seele, und aus einer glücklichen Kühnheit im Bilden von Vorstellungen; oder aus einer gewaltigen Eruption eines durch heftige Affekte erregten Gemüts: von denen Longin das eine to peri taw nohseiw adrephbolon nennt, das andere to sfodron kai enjousias[t]ikon pajow.
Zunächst wird wieder die sublimitas in sensibus von der sublimitas in dictione abgehoben. Dabei ist der Ablativus absolutus nulla Dictionis habita ratione bemerkenswert, insofern er anzudeuten scheint, dass es sich bei den verschiedenen ›Arten‹ von Erhabenheit eigentlich um verschiedene Beschreibungshinsichten auf das eine Phänomen ›Erhabenheit‹ handelt: »Wenn man die Ausdrucksweise unberücksichtigt lässt«, bleibt allein dasjenige Moment von sublimitas übrig, das eher den sensus zugeschrieben werden kann. Der folgende, etwas gewundene Einschub bestätigt diesen Eindruck: Die species von Erhabenheit, die Lowth der Diktion »zurechnet«, könnte »letztlich« auch unter der Rubrik ›sensus‹ verhandelt werden. Die Erhabenheits-›Arten‹ wären demnach tatsächlich nicht Unterarten einer Gattung, sondern eher verschiedene Aspekte eines Phänomens – der Begriff species, eigentlich ›Blick‹, ›Anblick‹, stünde dieser Auslegung auch nicht im Wege. Es handelte sich um Aspekte der quaecunque sit orationis vis, wie Lowth sublimitas überhaupt bestimmt hatte. Erhabenheit wäre dann jene »Kraft« oder jener »hohe Geist«110, der sich in den verschiedenen Dimensionen der Sprache manifestiert, in den unterschiedlichen Inhalts- und Formdimensionen, und der hinsichtlich dieser Dimensionen gesondert beschrieben werden kann. Es scheint immerhin so, als habe Lowth etwas Derartiges vor Augen gestanden, auch wenn er diese Einsicht terminologisch nicht vollständig umgesetzt hat. Jedenfalls ergibt eine entsprechende Interpretation, wie sich im Weiteren bestätigen wird, ein sehr einheitliches, überaus schlüssiges Bild von Erhabenheit – ein Bild, aufgrund dessen Lowths Praelectiones in der Geschichte der Erhabenheitstheorie des 18. Jahrhunderts ein eminent hoher Rang zukommt. Aber zurück zu den einzelnen Aspekten der sublimitas und zur Frage der Bedeutung des Begriffs der sublimitas in sensibus. Selbige wird noch einmal nach zwei Quellen differenziert, nach zwei Aspekten, die tatsächlich den beiden ersten »Quellen« des longinischen hypsos entsprechen. Es sind dies, nach den Titeln von Prael. XVI und XVII, die sublimitas conceptuum 109 110
Prael. 194. Vgl. Prael. 170: excelsu[s] spiritu[s].
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
und die sublimitas affectuum. Was die Erstere angeht, stiftet Lowth einige Verwirrung, indem er – wie Longin111 – den Hochsinnigkeitsgedanken und den Gedanken mentaler Konzeptionskraft nebeneinanderstellt. Handelt es sich bei der sublimitas conceptuum demnach um einen ethisch-religiösen Habitus oder um eine besondere Geistes- oder Phantasiebegabung? Das Problem löst sich auf, wenn das et im ersten Vel-Halbsatz (vel ex insita quadam animi elatione, e t felici audacia in formandis conceptibus) explikativ gelesen wird: Der Begriff der animi elatio ist hier wohl ganz als »angeborener geistiger Schwung« zu verstehen und fällt mit der Idee einer besonderen Fähigkeit zur Generierung von Vorstellungen zusammen. Es bleibt die Frage, was unter einer sublimitas in sensibus zu begreifen ist, die eine sublimitas conceptuum und eine sublimitas affectuum umfasst. Vielleicht ist der Sinn der Lowth’schen Termini am besten getroffen, wenn man für den lateinischen Plural sensus auf Deutsch ›Empfindungen‹ setzt, wohlgemerkt in dem weiten Sinne von ›psychischer Inhalt‹ genommen, den der Empfindungsbegriff in der Aufklärungsphilosophie haben konnte.112 Demnach schließt ›Empfindung‹ kognitive und affektive Bewusstseinszustände ein, Vorstellungen sowohl als auch deren affektive Korrelate, mehr oder weniger heftige Emotionen. Die sublimitas in sensibus wäre demnach im Gegensatz zur Erhabenheit der Ausdrucksweise (sublimitas in dictione) die Erhabenheit der (vermittels der sprachlichen Ausdrücke sich darstellenden und mitteilenden) Bewusstseinszustände, also der Gedanken bzw. Vorstellungen (sublimitas conceptuum) und der sie begleitenden Affekte (sublimitas affectuum).113 Es kann festgehalten werden, dass sich im Vorgriff auf Teil II/3 ein mehrschichtiges Bild von sublimitas abgezeichnet hat, wonach die fragliche ›Kraft der Rede‹ jeweils nach einem Vorstellungs- (sublimitas conceptuum), Affekt- (sublimitas affectuum) und Stilaspekt (sublimitas in dictione) beschrieben werden kann. Dabei fallen Überschneidungen mit der Lowth’schen Dreiheit von Grundmerkmalen (genus sententiosum, figuratum, und sublime) der hebräischen Poesie auf. So begegnet das Merkmal der Bildlichkeit als Element der Erhabenheitsdefinition. Außerdem wird bei näherem Hinsehen deutlich, dass die Sprachgestalt, also der Stil im eigentlichen Sinne, sowohl als Moment des Erhabenen (sublimitas in dictione) als auch als Charakteristikum der alttestamentlichen Dichtung überhaupt (sententiosum genus) thematisiert wird.
111
Vgl. De subl. 8,1 und 9,1. S.o. Teil I/Kap. 1. Vgl. O. NEUMANN: Art. Empfindung, 465. 113 In Anlehnung an H. GUNKEL könnte man diese affektive Dimension auch als erhabene »Grundstimmung« der hebräischen Dichtung bezeichnen; vgl. Einleitung in die Psalmen, 68. 112
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Nimmt man diese Beobachtungen mit dem Umstand zusammen, dass die sublimitas von Lowth immer wieder als übergeordnetes Wesensmerkmal der alttestamentlichen Dichtung akzentuiert wird, ergibt sich die Interpretationsthese, dass das mehrdimensionale Erhabenheitskonzept, das in Teil II/3 (Prael. XIV–XVII) expliziert wird, implizit auch schon bei der »Stil«Analyse in Teil II/1 und 2 (Prael. IV–XIII) als integrative Idee fungiert. Das bedeutet, dass sowohl die sententiositas als auch die Bildlichkeit als Momente der Erhabenheit anzusehen sind. Folglich dient die gesamte Darstellung der Stilcharakteristik von Teil II (in Kap. 4.3) der Rekonstruktion von Lowths Erhabenheitsbegriff, womit sich der Titel des Kapitels (›Die Erhabenheit der alttestamentlichen Dichtung‹) rechtfertigt. Allerdings muss die fragliche These ihre Plausibilität erst noch am Text der Praelectiones ausweisen. Mit diesem Ziel hat sich die Interpretation nun den Vorlesungen über die sententiositas (4.3.2) und die Bildlichkeit (4.3.3) zuzuwenden. Es wird sich dabei zeigen, dass einerseits das sententiosum dicendi genus mit der sublimitas in dictione, andererseits das figuratum dicendi genus mit der sublimitas conceptuum konvergiert. Der verbleibenden Dimension von Erhabenheit, der sublimitas affectuum, wird sich anschließend Abschnitt 4.3.4 widmen, auf dass die Lowth’sche sublimitas schließlich in ihrer ganzen Komplexität zur Ansicht gebracht werden kann (4.3.5). 4.3.2. Die Stildimension Lowth zufolge ist die sententiositas auf der Seite des Stils (im engeren, eigentlichen Sinn) so grundlegend für die hebräische Dichtung wie deren spezifische Parallelstruktur, die Prael. III beschrieben hatte, auf der Seite des »Metrums«, also der äußeren Form. Beide hängen auch sehr eng zusammen und machen gemeinsam die spezifisch »poetische Gestalt der Sätze«114 aus, die im Hebräischen bereits auf den ersten Blick die Differenz zwischen Prosa und Poesie markiert. Doch wie ist jene ›Spruchhaftigkeit‹ des Stils näher zu fassen? Auch Lowth scheint diese Frage einige Schwierigkeiten bereitet zu haben. Seine ersten Erläuterungen in Prael. IV jedenfalls sind ähnlich vage wie jene Andeutungen zum Parallelismus in der vorangegangenen Vorlesung. Die sententiositas der hebräischen Poesie besteht, so die erste grundlegende Bestimmung, in einer gewissen sententiarum concinnitas. Nun ist der Begriff der concinnitas so vielsagend, dass damit noch nicht eben viel gesagt ist.115 Eine ›kunstvolle Fügung der Sätze‹, so könnte man übersetzen, ist die sententiositas, aber demnach wäre die betreffende Stilqualität im Grunde eines 114 115
Ebd.: conformatio sententiarum Poetica. Vgl. H. LAUSBERG: Handbuch der literarischen Rhetorik § 166, 3 c.
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
der allgemeinsten Kennzeichen von Poesie überhaupt. Das spezifisch Hebräische kommt demgegenüber schon eher zum Ausdruck, wo Lowth wenig später den Konnex zwischen sententiositas und Parallelismus zu erläutern versucht: Pleraque Hebraei Vates breviter primo ac simpliciter enuntiant, nullis adjunctis illustrata, nullis […] exornata Epithetis: accersunt postea ac subjiciunt ornamenta; idem iterant, variant, augent…116
Das meiste drücken die hebräischen Seher zuerst kurz und einfach aus, ohne es mit Einzelheiten zu illustrieren, ohne es mit Beiwörtern […] zu schmücken. Den Schmuck fügen sie nachträglich hinzu, indem sie das Gesagte wiederholen, variieren, steigern…
Typisch für die hebräische Poesie, so die treffende Beobachtung Lowths, sind gedrängte, schlichte Sätze oder Satzglieder, die – die Unterscheidung dreier Modi des Parallelismus in Prael. IXX deutet sich hier schon an – durch in verschiedener Weise formal wie inhaltlich korrespondierende Sätze oder Satzglieder flankiert werden. Ebendiese eigentümliche Verbindung von gedrängter Kürze und ausschweifender Fülle beschreibt Lowth andernorts als Konkordanz von brevitas bzw. simplicitas einerseits und copia andererseits.117 Brevitas und simplicitas sind demnach die vorzüglichen Eigenschaften, die der Begriff der sententiositas unter sich fasst. Damit fügt sich Lowth mit Boileau und Pyra in die Reihe derer ein, die Longin als klassischen Gewährsmann für das im 18. Jahrhundert verbreitete Elementarisierungsideal der Einfachheit in Anspruch nehmen.118 Darauf läuft auch die Definition hinaus, die in Prael. XII nachgereicht wird: Hoc oritur ex natura Styli sententiosi, qui in Poesi Hebraea perpetuo dominatur: ejus, ut supra exposui, ea ratio est, ut orationem solutam et profluentem coerceat et constringat, crebramque pressam et acutam reddat. Quibus itaque in locis caeteri poetae sunt fere copiosi, fusi, uberes; in iis Hebraei sunt potius breves, densi, incitati; non aequabili tractu ducentes orationem, sed veluti geminatis ictibus contorquentes.119
116
Das [sc. die Kürze der Vergleiche] folgt aus dem Wesen des Sentenzenstils, der in der hebräischen Dichtung durchgehend herrscht. Dessen Eigenart ist es, wie ich oben ausgeführt habe, dass er die ungebundene, fließende Rede zusammenzwingt und zusammenschnürt und sie dicht, gedrängt und eindringlich macht. Wo also die übrigen Dichter in der Regel wortreich, weitläufig und ausschweifend werden, da sind die Hebräer lieber kurz, bündig und vorwärtsdrängend; die Rede nicht in gleichmäßiger Bahn führend, sondern wie mit Doppelschlägen vorantreibend.
Prael. 57. Vgl. Prael. 152; 368: »Hujusce brevitatis dictionis cum rerum copia conjunctae, idemque sublimitatis in hoc genere insigne exemplum apponam Psalmi vicesimi noni.« 118 S.o. Kap. 1.1.2 und 3.3.1. 119 Prael. 153. 117
4. Ästhetische Dechiffrierung des Alten Testaments: Robert Lowth
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Statt überbordender Weitschweifigkeit gedrängte, drängende Kürze – so lässt sich Lowths Charakteristik des Sentenzenstils formelhaft summieren, und concinnitas wäre entsprechend als »Dichtgefügtheit« wiederzugeben. Besagte Sparsamkeit bezieht sich dabei wohlgemerkt nur auf die einzelnen Sätze bzw. Satzglieder, die je für sich »kurz und schlicht«120 gefasst sind, nicht jedoch auf die Rede im ganzen, die mit ihrer spezifischen Redundanz durchaus eine eigentümliche Fülle erreicht. Lowths Ursprungskonstruktion hinsichtlich der betreffenden Stilqualität ist, wie bereits dargelegt, nicht eindeutig. Einerseits kann er diese – als Mittel größtmöglicher Einprägsamkeit – auf die ursprüngliche didaktische Funktion der Dichtung zurückführen, von wo aus besagtes Merkmal »sich auf die ganze Dichtung der Hebräer ausgebreitet«121 habe. Diesem Rückgang auf die Anfänge der Dichtung als ›Kunst‹ stehen auf der anderen Seite Äußerungen gegenüber, die die fragliche sententiositas eher mit der ›natürlichen‹ Herkunft der hebräischen Poesie in Verbindung zu bringen scheinen. So führt Prael. XXVII im Rahmen der Odentheorie das Mose- bzw. Miriamlied von Ex 15 als Paradigma schlichter Kürze an – und zugleich als Beispiel eines ›natürlichen‹ Dichtungsstils: Carmen hoc est ex omni parte nudum imprimis et simplex; nihil habens artificii, nihil in rerum sive inventione sive ordine exquisitum. Naturae solummodo et affectuum vocem audimus: ultro qua licet erumpit Gaudium, Admiratio, et cum pia Veneratione conjunctus Amor. […] haec omnia, ut possunt, exprimunt; abrupte, intercise, fervide, exultanter; singula breviter, eadem tamen saepius efferentes:122
Dieses Lied ist in jeder Hinsicht besonders ungeschmückt und schlicht. Es hat nichts Kunstvolles, nichts Gesuchtes, weder in der Invention noch in der Anordnung des Stoffes. Wir hören ganz die Stimme der Natur und der Affekte: Da bricht Freude, Bewunderung und mit heiliger Verehrung verbundene Liebe über die Maßen hervor. […] Das alles [sc. das Rettungswunder am Roten Meer] drücken sie aus, so gut sie können: abrupt, unzusammenhängend, brennend, stakkatohaft; das einzelne kurz, dasselbe jedoch öfter hervorbringend:
Es folgt Ex 15,1 (bei Lowth auf hebräisch und in eigener, hier angeführter lateinischer Übersetzung): »Cantabo Jehovae, quia magnifice sese extulit; Equum equitemque in mare dejecit.«123
120
Singen will ich dem Herrn, denn hoch erhaben ist er; Ross und Reiter warf er ins Meer.124
Ebd.: breviter simpliciterque. Vgl. Prael. 57: »Nam etsi speciem tantum illam Didacticam quasi jure naturae possedisse videatur, in reliquas tamen immigravit, et universam Hebraeorum Poesim occupavit.« 122 Prael. 366. 123 Ebd.: Ex 15,1. 121
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
Lowth wertet die – in jeder Übersetzung tatsächlich unnachahmliche – Kürze dieser und der darauffolgenden Verse als Ausdruck von Gottesergriffenheit angesichts des Rettungswunders am Roten Meer. Die eigenen Einsichten in die Dialektik von ars und natura unterschlagend schreibt er die brevitas und simplicitas, die er auch hinsichtlich der dictio konstatiert, mithin die sententiositas der betreffenden Dichtung allein der ›Natur‹ zu, dem unmittelbaren religiösen Affekt. Die gedrängte Kürze gilt ihm hier nicht als Funktion maximaler Einprägsamkeit, sondern als Medium authentischen Pathosausdrucks. Der Gedanke an Longins Idee vom hypsos apotomon125, von der schrofferhabenen Affektexpression, liegt nahe. Die sich bereits bei Boileau und Pyra aufdrängende Vermutung, dass der Einfluss eines longinisch gefärbten Stilideals bzw. die Longin-Lektüre selbst den Weg dafür gebahnt haben dürfte, die ehemals so verachtete stilistische Schlichtheit des Alten Testaments unter rhetorisch-poetologischen Gesichtspunkten zu würdigen,126 bestätigt sich auch hier. So finden sich einige Lowth’sche Äußerungen, die brevitas und simplicitas des Stils ausdrücklich als Quelle von sublimitas veranschlagen. Hatte sich bereits Prael. IV in diesem Sinne geäußert127, kommt auch Prael. XXVII noch einmal auf diesen Zusammenhang zu sprechen. Im Rahmen der Interpretation von Ps 24, die den Psalm als Wechselgesang beim feierlichen Einzug der Bundeslade in den Tempel situiert, heißt es dort: Hujusce autem Dialogismi, seu rem ipsam, seu dictionem, imagines, et figuras spectamus, est quaedam simplex et minime arcessita, ideoque vera summeque admiranda sublimitas:128
Kennzeichen aber dieses Wechselgesangs – sei es dass wir seinen Inhalt selbst, sei es dass wir den Stil, die Bilder und Figuren betrachten – ist eine gewisse schlichte, nicht im mindesten gesuchte und daher wahre und höchst bewundernswürdige Erhabenheit:
Es schließen sich Verse des Psalms an:
124 Ex 15,1. Übers. Zürcher Bibel. Die deutschen Übersetzungen der Bibelstellen sind im Folgenden in der Regel der Zürcher Übertragung entnommen, weil diese der concinnitas des Hebräischen generell noch am nächsten kommen mag. 125 Vgl. De subl. 12,4; 39,4; s.o. Teil I/Kap. 4.1.2. 126 Vgl. dazu D. TILL: Das doppelte Erhabene, 133ff. 127 Vgl. Prael. 59: »Nam ut saepe ex hoc fonte eximiam elegantiam, dulcedinem, et nitorem ducunt sacra poemata, ita in multis eidem suam debent sublimitatem et pondus: crebrae sibique instantes sententiae vel maxime concisam, suavem, et incitatam faciunt orationem; nervis eam quibusdam intendit ipsa brevitas, contractamque in ar[c]tissimum spatium acrius contorquet.« 128 Prael. 364.
4. Ästhetische Dechiffrierung des Alten Testaments: Robert Lowth
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»Tollite capita vestra, ô Portae; Vosque exaltemini, aeternae Fores; Et intrabit Rex gloriae.
Hebt hoch, ihr Tore, eure Häupter, erhöht euch, ihr uralten Pforten, dass der König der Herrlichkeit einziehe!
Quis est Rex gloriae?
»Wer ist denn der König der Herrlichkeit?«
Jehova robustus et potens, Jehova potens belli.
Der Herr, der Starke und Held, der Herr, der Held im Streit!
Tollite capita vestra, ô Portae; Vosque exaltemini, aeternae Fores; Et intrabit Rex gloriae.
Hebt hoch, ihr Tore, eure Häupter, erhöht euch, ihr uralten Pforten, dass der König der Herrlichkeit einziehe!
Quis vero est Rex ille gloriae?
»Wer ist denn der König der Herrlichkeit?«
Jehova Armipotens, ille Rex est gloriae.«
Der Herr der Heerscharen, er ist der König der Herrlichkeit!129
Nicht zuletzt die Einfachheit und Kürze der Diktion, die gedrängte Fügung der einzelnen Glieder des Psalms macht nach Lowths Eindruck die quaedam simplex sublimitas dieser Verse aus, ihre »gewisse schlichte Erhabenheit«. Unschwer ist das Longin-Boileau’sche Ideal des sublime simple zu erkennen. Erst dieses Ideal macht es möglich, die spezifische Qualität der alttestamentlichen Dichtung kategorial zu fassen und deren Vorrang vor der klassischen Poesie zu behaupten.130 Es bleibt bei Lowth im Übrigen auch die von Longin vorgenommene Fundierung jenes Ideals in der menschlichen Affektnatur gewahrt. Zwar kann auch Lowth die schlichte Konzinnität der zitierten Verse kaum bloßer Natur zurechnen und als unmittelbaren Ausdruck religiösen Affektes verstehen, ist doch die gestaltende Hand schon an der refrainartigen Wiederholung des ersten Verses sichtbar. Überdies verrät die Verortung des Psalms in der feierlichen Szene der Bundesladen-Prozession ein Wissen um einen bestimmten ›Sitz im Leben‹ und damit um die kollektive Funktion des Psalms. Und doch, so muss man im Sinne von Lowths Verhältnisbestimmung von ars und natura wohl sagen, spricht aus diesen schlichten Versen, wenn auch durch Kunst vermittelt, noch die ursprüngliche Ehrfurcht vor der Macht und Herrlichkeit des Höchsten. Jene quaedam simplex sublimitas dokumentiert auch der wenig später angeführte Vers aus Ps 68, den Lowth sogar als »in gewisser Weise einzigartiges Beispiel unglaublicher Erhabenheit«131 preist:
129
Ps 24,7–10. Übers. Zürcher Bibel. Vgl. D. TILL: Das doppelte Erhabene, 180ff. 131 Prael. 365: singulare quoddam incredibilis sublimitatis exemplum. 130
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
»Exsurgat Deus; dissipentur ejus inimici; Et fugiant a facie ejus qui eum oderunt.«132
Es erhebt sich Gott – seine Feinde zerstieben, und die ihn hassen, fliehen vor ihm.133
Die wenigen Beispiele können vielleicht veranschaulichen, was Lowth im Anschluss an Longin und Boileau als ›schlichte Erhabenheit‹ empfunden hat, auch wenn der charakteristische hebräische Nominalstil im Allgemeinen und die der hebräischen Dichtung im Besonderen eignende brevitas kaum in Übersetzungen wiederzugeben ist.134 Gegenüber der Elaboriertheit von neuzeitlicher Kunst- und Wissenschaftssprache gewinnt die stilistische Schlichtheit die Aura des Elementaren, das menschheitsgeschichtliche Ursprungsnähe und Authentizität des Affekts zu verbürgen scheint. Die nämliche Auffassung schärft Lowth seinen Hörern gegen Ende der ersten Vorlesung über die erhabene Ode (Prael. XXVII) noch einmal ausdrücklich ein (mit Bezug auf das bereits zitierte Moselied Ex 15): Unum tantum adnotabo, quod et in universa Hebraeorum Poesi locum habet, et in hoc Poemate praecipue cernitur: nimirum dictionis Brevitatem unum esse maximum subsidium sublimitatis. Rerum ponderi plerumque officit diffusa et exuberans oratio…135
Eines nur merke ich an, was sowohl in der Dichtung der Hebräer insgesamt statthat, als auch in diesem Gedicht vorzüglich sichtbar wird: dass die Kürze der Diktion ohne Zweifel das größte Hilfsmittel der Erhabenheit ist. Dem Gewicht der Gegenstände ist eine weitschweifige, ausufernde Rede meist abträglich…
An der zitierten Bemerkung lässt sich deutlich ablesen, was das in Teil II/3 gezeichnete multiperspektivische Konzept des Erhabenen vermuten ließ – und was der Hörer oder Leser der Praelectiones schon aufgrund der Omnipräsenz des fraglichen Prädikats früh bemerken muss: dass die Stilmerkmale sententiositas und sublimitas keineswegs auf einer logischen Ebene liegen, wie ihre Nebenordnung innerhalb der Gliederung suggeriert. Denn mit der brevitas, gewissermaßen einem Äquivalent für sententiositas, ist auch diese selbst der Erhabenheit funktional zugeordnet. Die sublimitas ist, wie sich bereits in Prael. I angedeutet hatte, ganz im longinischen Sinne die Stilqualität schlechthin, und die »übrigen Qualitäten«136, also neben den spezifisch hebräischen noch die allgemeinen Stilvorzüge Schönheit, Eleganz etc., sind jener Zentralkategorie klar subordiniert. Damit hat sich die vorgetragene Konvergenzthese im Blick auf sublimitas in dictione und sententiositas bestätigt. – Hinsichtlich der Bildlichkeit als dem zweiten Wesensmerkmal des hebräischen Dichtungsstils ist Entsprechendes im Folgenden aufzuweisen. 132
Ebd.: Ps 68,2. Ps 68,2. Übers. Zürcher Bibel. 134 Vgl. Prael. 368. 135 Ebd. 136 Vgl. Prael. 25: »sublimita[s] caeter[ae]que virtutes«. 133
4. Ästhetische Dechiffrierung des Alten Testaments: Robert Lowth
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4.3.3. Die Symboldimension Lowths Ausführungen De genere figurato nehmen innerhalb von Teil II (Prael. IV–XVII) mit Abstand den größten Raum ein (Prael. V–XIII). Sie haben auch sachlich großes Gewicht, und das, wie bereits der Blick auf die Lowth’sche Definition von sublimitas verriet, auch und gerade was die Erhabenheitsthematik angeht. Denn, so heißt es zu Beginn von Prael. VI De imaginis poeticis (»über die poetischen Bilder«): … id certe facile concedetur, translationum splendore et copia abunde eos [sc. Hebraeos] orationis sublimitati consuluisse; an in earum usu tenuerint modum, dubitari magis poterit. Nam in carminibus saltem, quae grandius quiddam spirant, et ad majestatis speciem composita sunt, ubique dominatur perpetua fere ac sibi instans Metaphora…137
… dies ist sicher ohne weiteres zuzugeben, dass sie [sc. die Hebräer] durch den Glanz und die Fülle der Übertragungen [d.h. der verschiedenen Formen bildlicher Rede] im Überfluss für die Erhabenheit der Rede sorgen (ob sie in ihrem Gebrauch das rechte Maß halten, mag eher angezweifelt werden). Denn in den Dichtungen wenigstens, die eine gewisse Größe atmen, die zur Darstellung von Majestät ersonnen sind, da herrscht überall, mehr oder weniger durchgängig und in gedrängter Folge, die Metapher…
Es wird hier nun auch im Blick auf die »Metapher« bzw. die bildliche, uneigentliche Rede überhaupt (translatio) ausgesprochen, was das letzte Zitat von der stilistischen Kürze behauptet hatte: dass sie subsidium sublimitatis, ein ›Mittel der Erhabenheit‹ sei. Wo es gilt, der Dichtung einen Anhauch von granditas zu verleihen, die Aura oder den Geist von Größe; wo eine Vorstellung erzeugt, ein Eindruck erweckt werden soll von majestas, da erreicht dies die hebräische Poesie mit der Anhäufung von Bildern. Nicht nur die sententiositas also, sondern auch die Bildlichkeit der alttestamentlichen Dichtung trägt maßgeblich zu deren sublimitas bei, und von daher kann tatsächlich von den beiden erstgenannten Stilmerkmalen gesagt werden, dass sie mindestens auch Funktionen des Hauptmerkmals ›Erhabenheit‹ sind. Sie mögen jeweils einen gewissen ästhetischen Eigenwert haben, mögen auch Schönheit und Reiz der Sprache mehren – ihr wesentlicher Effekt ist die vielgepriesene sublimitas der hebräischen Poesie. Es sei hier zunächst ein kurzer Überblick über Lowths Abhandlung des genus figuratum gegeben. Sie setzt in Prael. V mit terminologischen und dispositionellen Klärungen ein: Was unter dem Titel genus figuratum bzw. (meistens) dictio figurata firmiert, ist dasjenige Merkmal des mashal, das ihm die lateinische Übertragung als stylus parabolicus eingebracht hat. Es geht um die für die hebräische Dichtung charakteristische ›figürliche Redeweise‹, 137
Prael. 68.
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
wobei figura nicht die Stilfigur, sondern die Gedankenfigur meint. Dabei hat Lowth einen bestimmten Typus von Gedankenfigur vor Augen, nämlich die bildliche, übertragene Rede. Es werden vier Arten solch uneigentlicher Rede unterschieden, nämlich Metapher, Allegorie, Vergleich (comparatio) und Personifizierung (prosopopoeia), die, z.T. mit verschiedenen Untergattungen, in den folgenden Vorlesungen nacheinander vorgestellt werden. Die Metapher wird am umfänglichsten behandelt, indem Prael. VI bis IX die verschiedenen Gegenstandsbereiche ausbreiten, aus denen die hebräischen Dichter ihre Metaphern vornehmlich beziehen: aus der Natur (ex rebus naturalibus), aus dem Alltagsleben (ex communi vita), aus der sakralen Sphäre (ex rebus sacris) und aus der Geschichte des Volkes Israel (ex historia sacra). Diese Ausführungen sind indessen exemplarisch zu nehmen: Was für die Metapher gilt, gilt auch für die anderen Arten bildlicher Rede, »da sie alle ein gemeinsames Wesen haben«138. Prael. V bringt zuvor einige zukunftsweisende hermeneutische Reflexionen, die erkennen lassen, weshalb sich Lowth gerade der dictio figurata so ausführlich widmet. Er tut es, um den durch Alter und kulturelle Fremdheit aufgeworfenen Graben zu überwinden, der sich zwischen dem modernen Leser und den hebräischen Dichtungen auftut, und zwar insbesondere angesichts von deren Bildwelten: Metaphern, die dort einst klar und prächtig waren, erscheinen hier und heute dunkel und niedrig. Weil also die poetischen Bilder mehr als alles andere durch ihr Alter ferngerückt sind, bedarf es besonderer hermeneutischer Anstrengungen, um deren Sinn und Schönheit zurückzugewinnen. Diese Anstrengungen gipfeln idealiter darin, so die berühmte hermeneutische Maxime Lowths, »dass wir das Hebräische, so weit wie möglich, lesen wie die Hebräer selbst«139. Dies wiederum zielt letztlich darauf, … ut quae in se pulchra sunt, eo modo spectata multo videantur pulchriora; utque quae videri solent dura, deformia, humilia, eorum contra gratia, honestas, sublimitas appareat.140
… dass, was von sich aus schön ist [sprich: auf den Leser wirkt], auf diese Weise betrachtet noch viel schöner erscheint; und dass an dem, was als herb, hässlich und niedrig angesehen zu werden pflegt, stattdessen Anmut, Würde und Erhabenheit offenbar wird.
Lowths diesbezüglichen Bemühungen kann hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden. Stattdessen ist nach dem Wesen der ›bildlichen Redeweise‹ zu fragen und nach ihrem Beitrag zur Erhabenheit der hebräischen Poesie. 138 Prael. 64: »Etenim in Metaphora (ut de ea dicam), quae ad caeteras fere, quas dixi Figuras referri etiam possunt, cum omnes communem habeant natura,) duo praecipue spectanda sunt etc.« 139 Ebd.: ut Hebraea, quantum fieri potest, tanquam Hebraei legamus. 140 Prael. 65.
4. Ästhetische Dechiffrierung des Alten Testaments: Robert Lowth
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4.3.3.1. Die doppelte Funktion des Symbolisierens Die grundlegende Bestimmung zur dictio figurata aus Prael. V lautet: Etenim Dictionis Figuratae […] id consilium est, ea vis, ut Imaginibus aliunde translatis res vel evidentius ac clarius, vel grandius etiam atque elatius exprimantur.141
Denn dies ist Absicht und Vermögen der bildlichen Redeweise, durch irgendwoher übertragene Bilder Dinge teils anschaulicher und deutlicher, teils auch größer und erhabener auszudrücken.
Die besagte doppelte Funktion des Bildergebrauchs, einerseits Anschaulichkeit, andererseits erhabene Größe herzustellen, bringt Lowth auf die traditionellen rhetorischen Begriffe illustrare (›anschaulich machen‹)142 einerseits und augere143 bzw. amplificare144 (›steigern‹) andererseits. Was er dabei vor Augen hat, wird zumindest hinsichtlich der Illustrationsfunktion schnell klar. So kann der stylus parabolicus gewissermaßen als ein spezifischer Sprachcode bezeichnet werden, … in quo per comparationes vel occultas vel apertas, ex iis rebus sumptas quae in sensum cadunt, rerum moralium, civilium, divinarumque notiones signantur et exprimuntur. Ut in sermone communi et proprio certae voces certas res notant, ita fere in Parabolico certae Imagines Naturales certas aliquas notiones magis abstrusas et reconditas illustrant.145
… in dem durch unausdrückliche oder ausdrückliche Vergleiche anhand der Dinge, die in die Sinne fallen, Begriffe aus Moral, Politik und Religion bezeichnet und ausgedrückt werden. Wie in der geläufigen und eigentlichen Rede bestimmte Wörter bestimmte Dinge bezeichnen, so etwa machen in der gleichnishaften Rede bestimmte natürliche Bilder irgendwelche bestimmten mehr abstrakten und verborgenen Begriffe anschaulich.
Nach Lowths Einsicht folgt die hebräische Poesie in ihrer Bildlichkeit einer konventionellen Norm, derzufolge – analog zur konventionellen Verknüpfung von Wörtern und ihrer Bedeutung – auch Bildern und Vergleichen ein jeweils bestimmter Sinn eignet. Im Gegensatz zur konkreten Bedeutung der »normalen«, eigentlich gebrauchten Wörter (den voces proprii)146 zeigen die Bilder bzw. die »uneigentlichen« bzw. »übertragen gebrauchten Wörter« (die voces improprii147 oder translati)148 jeweils einen bestimmten »mehr verborgenen und entlegenen« Sinn an. Sie deuten, so könnte man notio abstrusa 141
Prael. 62. Prael. 62f. 143 Prael. 62. 144 Prael. 63; vgl. 143f. Zur auxêsis (griech.) bzw. amplificatio (lat.) s.o. Teil I/Kap. 4.2. 145 Prael. 70. 146 Prael. 99. 147 Prael. 90. 148 Prael. 99. 142
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
auch übersetzen, auf einen bestimmten abstrakten Begriff, und zwar aus den abstrakten Sphären der Moral, Politik oder Religion. Ein Lowth’sches Beispiel für die feste konventionelle Korrelation von »natürlichem«, konkretem Bild und abstrakter Sache innerhalb des stylus parabolicus sind die Berge Libanon und Karmel: Während der erste, wesentlich höhere für die alttestamentlichen Dichter generell den Inbegriff von Stärke und Majestät bedeute, fungiere Letzterer aufgrund seiner immensen Fruchtbarkeit regelmäßig als Bild von anziehender Schönheit. Die konkreten Sprachbilder symbolisieren also abstrakte Sachverhalte, d.h. sie bezeichnen, wie es an anderer Stelle heißt, »Unsichtbares mit augenfälligeren, Feineres mit gröberen Zeichen«149. Eine derartige Symbolisierungs- oder Veranschaulichungsoperation ist naturgemäß gerade bei solchen Gegenständen unerlässlich, die ihrem Wesen nach schlechthin unanschaulich sind, wie es nach Lowths Überzeugung etwa für die ›letzten Dinge‹ gilt, bzw. genauer: für den Zustand der Menschen nach dem Tod. Fast die Hälfte von Prael. VII ist der Frage gewidmet, wie die alttestamentlichen Schilderungen der Scheol, der von Lowth so genannten »poetischen Unterwelt der Hebräer«150, zu werten sind. Lowths Antwort: Sie sind jedenfalls nicht lehrhafte Offenbarungen über den tatsächlichen Verbleib der Toten, und darum bedeuten sie auch gar keine Leugnung der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, obwohl sich dort nichts von derselben findet. Dies ist … non eo quod permanere post mortem animos non crederent, quod doctis quibusdam placuit; sed quod nec ullam haberent satis claram eorum notionem et intelligentiam, unde ubi et quales essent explicarent; neque eam adepti essent sermonis et argumentationis subtilitatem, ut de rebus abstrusis et a sensu omnino remotis probabiliter dicere, et eruditam disputationem suae ignorantiae praetendere possent.151
… nicht deshalb der Fall, weil sie [sc. die Hebräer] nicht an ein Fortdauern der Seelen nach dem Tode geglaubt hätten, wie es die Ansicht gewisser Gelehrter gewesen ist; sondern weil sie weder einen ausreichend klaren Begriff von ihnen hatten, um zu erklären, wo und in welcher Beschaffenheit sie existieren; noch einen derartigen Scharfsinn in der Sprache und Beweisführung, dass sie von verborgenen und den Sinnen gänzlich entzogenen Dingen glaubhaft hätten reden können – um mit gebildeter Disputation die eigene Unwissenheit zu bemänteln.
149 Prael. 66: »Hinc est, quod omnis Poesis plurimum versatur in iis Imaginibus transferendis, quae per sensus, maximeque per visum, animo imprimuntur; ut obscura manifestioribus, subtilia crassioribus notis designet«. 150 Prael. 87: Hebraeorum infernum poeticum. 151 Prael. 89f.
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Die alttestamentlichen Schilderungen vom Leben nach dem Tod haben nicht lehrhaften, sondern poetischen Status, und genau das ist, so Lowth, ihre Stärke. Denn noch die subtilsten Reflexionen über die Verfassung der Seelen nach dem Tode können, sobald sie mit dem Anspruch auftreten, Wissen zu sein, nur an der unhintergehbaren Unerkennbarkeit von derart sinnenentzogenen Dingen zerschellen. Der einzig glaubhafte Modus, von solcherart Transzendentem zu sprechen, ist die bildhafte Sprache der Poesie: Qualis itaque ab animis a corpore sejunctis vita viverentur, quis eorum locus, forma, conditio, Hebraei juxta cum caeteris mortalibus in summa ignoratione versabantur. Neque eos hac in parte vel minimum sacri Codices adjuvere; haud quia hanc iis cognitionem invideret Divina Revelatio, sed quia humanae mentis conditio eam omnino non recipiat: quae cum res a corpore et materia remotas contemplatur, propriarum notionum inopia cogitur ad improprias confugere, et corporeis incorporea quadantenus adumbrare.152
Wie also die vom Körper getrennten Seelen leben, welches ihr Ort, ihre Gestalt, ihre Beschaffenheit ist, diesbezüglich befanden sich die Hebräer ebenso wie die übrigen Sterblichen in höchster Unwissenheit. Und ihnen halfen in dieser Hinsicht wohl nicht im geringsten die heiligen Bücher; nicht weil die göttliche Offenbarung ihnen diese Erkenntnis verwehrt hätte, sondern weil die Beschaffenheit des menschlichen Geistes sie überhaupt nicht zulässt: Diese zwingt, wenn Dinge, fern von Körper und Materie, betrachtet werden, aus Mangel an eigentlichen Begriffen bei uneigentlichen Zuflucht zu nehmen und mit Körperlichem Unkörperliches wenigstens einigermaßen anzudeuten.153
Die Grenzen des menschlichen Geistes, seine natürliche Bezogenheit auf die materielle Welt, verhindern unmittelbare Aussagen über die Sphäre des Unkörperlichen, Überweltlichen. Sie zwingen daher zur indirekten Bezugnahme mittels »uneigentlicher Begriffe«, also durch Vermittlung von sinnlichen Bildern, die, wie der ersten Zugangsdefinition der dictio figurata zu entnehmen ist,154 mit den von ihnen zu repräsentierenden unsinnlichen Begriffen durch eine bestimmte Ähnlichkeit (similitudo) verbunden sind. Die geistigen Welten der Religion lassen sich nach Lowths Einsicht nur symbolisch, nur über Ähnlichkeitsbeziehungen beschreiben und begreifen. Und weil die Dichtung die Sprache der Bilder, der Symbole ist, bedeutet das, in 152
Prael. 90. Die Argumentation trägt apologetische Züge. Sie verteidigt die Annahme der Unsterblichkeit der Seele gegenüber dem Einwand, dass das Alte Testament diesen Gedanken offenbar nicht kennt. 154 Vgl. Prael. 61: »per Dictionem Figuratam eam intelligo, qua una pluresve Voces vel Imagines in aliarum locum transferuntur, aut etiam aliis illustrandis inserviunt, ex aliqua quam cum iis habent Similitudine.« 153
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
Abwandlung eines Satzes von Paul Tillich: Die Poesie ist die Sprache der Religion. Wo die gewöhnliche, die eigentliche Rede in ihrer Beschränkung auf die Sinnenwelt versagt, da bringt die Dichtung ihre ureigenen Qualitäten zur Geltung. Da verwirklicht sie, um an die Wendungen aus Prael. I zu erinnern, ihr ureigenes Wesen. Es sind Ansätze einer erkenntniskritisch fundierten Symboltheorie, die sich hinter dem harmlosen Begriff der illustratio verbergen, mit dem die erste Funktion der dictio figurata markiert worden war. Als deren zweite Funktion hatte Lowth die amplificatio genannt. Er hatte ihr das Ziel der granditas bzw. elatio zugewiesen und hatte die Bedingung formuliert, die dictio figurata müsse selbst etwas Außerordentliches und Großartiges an sich haben, um jenes Ziel zu erreichen. Offenbar sind nur besonders ausgezeichnete Bilder in der Lage, die anvisierte Steigerungsleistung zu vollbringen. Erst in Prael. VIII wird deutlicher, was gemeint ist. Es geht um eine Art Übertragung majestätischer Größe vom Bild auf den unsinnlichen Gegenstand, für den es steht. So lautet die These der Vorlesung De imaginibus ex rebus sacris, es sei kaum etwas so geeignet zur Erzeugung von Erhabenheit wie »Vorstellungen, die dem Allerheiligsten entliehen sind«155. Für die alten Hebräer war, so Lowth, die kultische Sphäre insgesamt in einem dem modernen Menschen kaum mehr nachvollziehbaren Maße von einer Aura der »Heiligkeit und Ehrfurcht«156 umgeben, die sich auch den einzelnen Kultgegenständen mitteilte und von dorther, beim Gebrauch derselben als Bilder innerhalb der dictio figurata, wiederum auf unsinnliche Gegenstände übertragen konnte. Nun dient jene Aura, der den »heiligen Dingen« anhaftende »Glanz von Majestät«157, nach Lowths Beobachtung vorzüglich der Darstellung von Gottes Majestät. Als Beispiele für einen solchen »Majestätstransfer« wird unter anderem Ps 104 angeführt, »in dem Gottes Einsicht und Weisheit bei der Ausstattung dieser ganzen Welt gepriesen wird«158. Weiter heißt es von dem Psalm: magnificum est in primis exordium, quo depingitur Dei majestas, quatenus eam ex rerum naturae admirabili constitutione investigare animoque complecti possumus. Quo in loco cum Imaginibus translatis uti plerumque necesse esset, eas potissimum adhibuit Vates, quae He-
Großartig ist insbesondere die Eröffnung, in der die Majestät Gottes gezeichnet wird, soweit wir sie aus der wunderbaren Einrichtung der Natur erforschen und im Geist erfassen können. Weil es an dieser Stelle meistens nötig ist, übertragene Bilder zu gebrauchen,
155 Vgl. Prael. 94: »Etenim nihil in rerum natura aeque comparatum est ad sublimitatem, ac conceptus ex Adyto deprompti«. 156 Prael. 95: cum sanctitate et reverentia. 157 Ebd.: majestatis species. 158 Prael. 99: »Notissimum est Carmen, omniumque admiratione celebratum, quo Dei in universo hoc mundo adornando consilium et sapientia laudatur«.
4. Ästhetische Dechiffrierung des Alten Testaments: Robert Lowth
braeis augustissimae tantoque argumento dignissimae haberi possent: nam omnes, ut mihi quidem videtur, ex Tabernaculo sunt desumptae.159
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hat der Seher gerade die verwendet, die den Hebräern als die erhabensten und einem so großen Gegenstand würdigsten gelten konnten: denn alle sind, so scheint es mir wenigstens, der Stiftshütte entliehen.
So gebraucht der Psalmdichter in Vers 1c (»Pracht und Hoheit ist dein Gewand«) mit dem hebräischen Begriff tvbl nach Lowths Meinung »das feierliche Wort für das Gewand des Priesters«160. Vers 2a (»der du in Licht dich hüllst wie in ein Kleid«) erhält seine besondere Würde durch »ein anschauliches Symbol der göttlichen Gegenwart, das Licht, das im Allerheiligsten zu sehen war«161; und in Vers 2b folgt ein »Bild zur allgemeinen und umfassenden Darstellung der unsagbaren Herrlichkeit Gottes«162: »Du breitest den Himmel aus wie einen Teppich«163. Dabei kommt eben jene Herrlichkeit nach Lowth nicht zuletzt dadurch zur Darstellung, dass mit h[yry »dasselbe Wort« verwendet wird, mit dem auch »jene Teppiche« bezeichnet wurden, »mit denen die Stiftshütte oben und ringsum ausgekleidet war«164. Um die höchste, die göttliche Majestät und Würde zu bildlicher Darstellung zu bringen, greift der Dichter zu den denkbar ehrwürdigsten Gegenständen, und das sind für den Israeliten selbstverständlich Gegenstände aus dem kultisch-sakralen Bereich, denen selbst die Aura göttlicher Gegenwart anhaftet. Das Geschilderte ist die erste Form der amplificatio, die in den Praelectiones beschrieben wird, gewissermaßen die amplificatio imaginibus ex rebus sacris. Eine weitere Form – die Darstellung göttlicher Größe durch Bilder aus der Natur – wird nicht etwa in Prael. VI vorgestellt, wie man von deren Titel her erwarten könnte (De imaginibus poeticis; ex rebus naturalibus), sondern erst in Prael. XVI, also in der Vorlesung De sublimitate conceptuum. Einmal mehr erweist sich Lowth nicht unbedingt als Herr über die eigene Disposition. Ein Grund für diese systematische Inkonsistenz mag in dem langen Zeitraum der Entstehung der Vorlesungen zu erblicken sein, der sich über zehn Jahre erstreckte, in denen sich Modifikationen des anfänglichen Vorlesungsplanes ergeben haben mögen. Freilich gibt es auch einen Grund sachlicher Art. Es ist die schon angesichts der Definition von sublimitas 159
Ebd. Ebd.: vox in Sacerdotum amictu solennis. 161 Prael. 100: manifestum divinae praesentiae Symbolum, Lux in Adyto conspicua. 162 Ebd.: ad ineffabilem Dei gloriam generatim et universe exprimendam Imago. 163 Übers. Luther-Bibel. Die Zürcher Bibel bietet hier statt ›Teppich‹ ›Zeltdach‹, was nicht mit Lowths Deutung zusammenstimmt. 164 Ebd.: ipsum vocabulum quo Tabernaculi Aulaea illa, quibus superne et circumque integebatur, semper appellantur. 160
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
vermutete Verschränkung von Bildlichkeit und Erhabenheit, die sich hier zur Geltung bringt. Um diesen Sachverhalt zu erläutern, ist Teil II/3 De sublimi genere heranzuziehen, die eigentliche Explikation des Erhabenheitsbegriffs in Prael. XIV–XVII. Insbesondere Lowths Ausführungen ›Über das Erhabene der Gedanken‹ (Prael. XVI: De sublimitate conceptuum) sind an dieser Stelle nachzuzeichnen. 4.3.3.2. Darstellung des Unendlichen In Anlehnung an Longins Fünf-Quellen-Schema unterscheidet Lowth, wie bereits ausgeführt wurde,165 zwischen sublimitas in dictione (Prael. XIV/XV), sublimitas conceptuum (Prael. XVI) und sublimitas affectuum (Prael. XVII). Die ›Erhabenheit der Gedanken‹ oder der ›Vorstellungen‹ differenziert sich wiederum nach zwei bzw. drei verschiedenen Aspekten: ea [sc. sublimitas conceptuum] tribus in rebus praecipue cernitur: primo in excelsis magnisque Rebus concipiendis; tum in delectu Adjunctorum, quorum pondere et magnitudine earum descriptionibus vis et elatio accedit; postremo in Imaginum splendore et magnificentia, quibus eaedem cum suis adjunctis illustrantur. Quibus omnibus Vates Hebraei unice eminent et excellunt.166
Sie [sc. die Erhabenheit der Vorstellungen] wird vorzüglich in drei Dingen sichtbar: erstens in der Konzeption hoher und großer Gegenstände; dann in der Wahl der Nebenumstände, durch deren Wucht und Größe den Beschreibungen dieser Gegenstände Kraft und Erhabenheit zufließt; schließlich im Glanz und in der Großartigkeit der Bilder, mit denen dieselben mit ihren Nebenumständen veranschaulicht werden. In all dem ragen die hebräischen Seher einzigartig hervor.
Einerseits beruht das ›Erhabene der Gedanken‹ auf der »Größe der Gegenstände bzw. der Gedanken selbst«167, andererseits auf der »Art und Weise, wie die Gedanken dem Geist zugeführt und die Beschreibungen der Gegenstände ausgeführt werden«168. Es werden, ähnlich wie etwa zur gleichen Zeit in Halle bei Pyra und Meier,169 der Inhalt und der Modus seiner Darstellung bzw. seines Vorstelligwerdens unterschieden. Demnach differenziert sich Lowths Schichtenmodell von Erhabenheit um einen zusätzlichen Aspekt. Neben sublimitas in dictionis, sublimitas affectuum und sublimitas conceptuum ist genaugenommen als vierte Dimension des Erhabenen noch die »sublimitas rerum« zu nennen, die Erhabenheit, die in gewisser Weise schon bestimmten Stoffen als solchen zukommt. 165
S.o. Kap. 4.3.1. Prael. 195. 167 Ebd.: rerum ipsarum et Conceptuum magnitud[o]. 168 Ebd.: modus, quo conceptus menti ingeruntur, rerumque descriptiones adornantur. 169 S.o. Kap. 3.4.2. 166
4. Ästhetische Dechiffrierung des Alten Testaments: Robert Lowth
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Die wesentlichen Darstellungsmittel für »großartige Gegenstände« sind zum einen – hier wird ein Topos aus Kap. 10 von Peri Hypsous aufgegriffen170 – die ›Wahl der Nebenumstände‹, also die Zusammenstellung charakteristischer Einzelzüge, an denen die Erhabenheit des Gegenstandes in seiner Gesamtheit sichtbar wird, und zum anderen die Wahl möglichst »großartiger und glänzender« Bilder, die auf etwas andere Weise dieselbe Funktion erfüllen. In allen genannten Punkten sind die hebräischen Dichter, also David und Hiob, aber auch Moses und die Propheten, unerreicht: Rerum ipsarum et Conceptuum magnitudinem quod attinet, non modo caeteros omnes scriptores post se relinquunt, sed et cancellos etiam humano ingenio circumscriptos longe transcendunt. Dei magnitudo, potentia, justitia, immensitas; divinorum factorum et consiliorum infinita sapientia; argumenta sunt, in quibus et perpetuo, et semper digne, versatur; in quibus plane triumphat, Hebraeorum Poesis.171
Was die Größe der Gegenstände selbst und der Gedanken angeht, lassen sie nicht nur alle übrigen Schriftsteller hinter sich, sondern sie überschreiten auch weit die dem menschlichen Geist gesetzten Schranken. Gottes Größe, Macht, Gerechtigkeit, Unermesslichkeit; der göttlichen Taten und Einsichten unendliche Weisheit; das sind die Stoffe, mit denen die Dichtung der Hebräer sowohl fortwährend als auch immer in würdiger Weise sich beschäftigt; und in denen sie gänzlich triumphiert.
Schon allein deshalb, weil sich die alttestamentliche Poesie durchgehend mit religiösen Sujets befasst, überragt sie die Dichtung der antiken Klassiker an Erhabenheit, zumal in Anbetracht dessen, dass sie diese ihre Sujets – anders als etwa Homer172 – niemals unwürdig behandelt.173 Ihre Gegenstände sind im Grunde keine anderen als die göttlichen Eigenschaften und Werke, oder mit einem Wort: Sie handelt letztlich immer von der Dei majestas, so die häufigste summarische Wendung.174 Mit deren unübertroffen würdiger Darstellung überschreitet sie gewissermaßen die Schranken der menschlichen Vernunft, und insofern »erkennen wir nicht nur die einzigartige Erhabenheit der hebräischen Dichtung, sondern wir verehren auch ihre Göttlichkeit«175. Dank der religiösen Poesie des Alten Testaments wird dem menschlichen Geist ein Zugang eröffnet zu der ihm an sich entzogenen göttlichen
170
Vgl. oben Teil I/Kap. 2.1. Prael. 195. 172 Vgl. Prael. XVI, 204f, wo Lowth auf die longinische Homerkritik in De subl. 9,7 Bezug nimmt. 173 Vgl. Prael. 71f. 174 Vgl. z.B. Prael. 98f, 101, 196, 202. 175 Prael. 195: non modo singularem Sublimitatem agnoscemus, verum etiam adorabimus Divinitatem. 171
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
Majestät, und darum ist hier noch mehr als »bloße« Erhabenheit. Hier wird der menschliche von göttlichem Geist angeweht.176 Es ist deutlich: Der religiöse Gehalt ist für Lowth eine ganz wesentliche, wenn nicht die schlechthin unverzichtbare Quelle wahrer Erhabenheit; einer Erhabenheit, die selbst offenbar mehr ist als eine bloße literaturkritische Kategorie, mehr bedeutet als eine bloße ästhetische Qualität von Texten. Lowths Begriff von Erhabenheit kennzeichnet den »Geist« religiöser Poesie, der den Geist des Menschen hinausführt über seine natürlichen Grenzen, um ihn der Größe Gottes ansichtig werden zu lassen. Aber nicht nur die ›Größe‹ des religiösen Stoffes – »welche, auf welche Weise auch immer entfaltet, ihre Kraft und Würde hätte«177 –, sondern auch der Modus seiner Darstellung macht die hebräische Poesie zum Inbegriff erhabener Dichtung: … sive Adjunctorum delectum spectemus, ex quibus ad rerum magnitudinem cumulus quidam accedit; sive Imaginum amplitudinem, quibus ea, quae ab sensibus nostris sunt remotissima, ita explicantur, ut, quanquam humanitus adumbrata, suam tamen divinitatem retineant.178
… ob wir die Wahl der Nebenumstände betrachten, die der Größe der Gegenstände gewissermaßen die Krone aufsetzt; oder die Höhe [oder auch: Weite; oder: Würde] der Bilder, mit denen, was unseren Sinnen überaus fern ist, so entfaltet wird, dass es, obwohl menschlich gezeichnet, dennoch seine Göttlichkeit wahrt.
Um die von sich aus bestehende Größe des religiösen Gegenstandes nun auch augenfällig werden zu lassen und auf diese Weise deren vis et dignitas noch zu steigern bzw. richtig zur Geltung zu bringen, gebraucht die alttestamentliche Dichtung zwei Mittel: zum einen die Wahl (und, so lässt sich von Peri Hypsous 10,1 her ergänzen, die Zusammenfügung) herausragender Einzelheiten zu einem Gesamtbild von Größe und zum anderen die bereits im Rahmen des genus figuratum thematisierte Steigerung durch Bilder. Es fällt auf, dass die beiden vormals genannten Funktionen der Bildlichkeit, illustratio und amplificatio, hier offenbar zusammenfallen: Geht es um die Darstellung der Majestät Gottes, ist Unsichtbares anschaulich zu machen (illustratio) und zwar so, dass dabei aufgrund der Größe des Anschauungsmaterials durch die nur menschlich-sinnliche Beschreibung etwas von der eigentlichen Größe des übersinnlichen »Gegenstandes« durchscheint. Nach alledem ist klar, dass Lowth den ›Bildern‹ und mithin der dictio figurata innerhalb seiner Erhabenheitstheorie selbst eine maßgebliche Bedeutung beimisst. Erhabenheit und Bildlichkeit sind nicht völlig verschiedene Charakteristika der hebräischen Poesie, sondern jene gründet vorzüg176 Vgl. dazu die inspirationstheologischen Anklänge bei Lowth, z.B. Prael. 25; 208f; vgl. Anm. 230. 177 Ebd.: quae quomodocunque explicata suam haberet vim et dignitatem. 178 Prael. 195f.
4. Ästhetische Dechiffrierung des Alten Testaments: Robert Lowth
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lich in dieser. Anders gesagt: Die Lowth’sche Symboltheorie ist Bestandteil seiner Erhabenheitstheorie, und diese kommt nicht aus ohne jene. Die besagte Verschränkung mag noch klarer werden an Lowths Beispielen aus Prael. 16, die allesamt »natürlich den Stellen entnommen sind, an denen die göttliche Majestät dargestellt wird«179. Lowths erstes Exempel ist … toties laudatum illud Sacri Historici, in quo rei et Conceptus magnitudinem (nihil autem majus mens humana potest concipere) commendat brevitas et simplicitas Dictionis: […] »Dixit Deus, Esto lux, et fuit lux.« Quantum addideris verbis, tantum de sublimitate detraxeris…180
… jene so oft gelobte Stelle des Heiligen Geschichtsschreibers, an der die Kürze und Schlichtheit der Ausdrucksweise die Größe des Gegenstandes und Gedankens (nichts Größeres aber kann der menschliche Geist erfassen) angenehm macht: »Gott sprach: ›Es werde Licht‹, und es ward Licht.« So viel du an Worten hinzufügst, so viel ziehst du von der Erhabenheit ab…
Die schon von Longin gelobte181 und im Streit zwischen Boileau und PierreDaniel Huet breit diskutierte182 Genesis-Stelle gilt Lowth als Paradigma der ersten Form von sublimitas conceptuum, einer Erhabenheit also, die (mehr oder weniger) allein aus der res ipsa, aus dem Gegenstand selbst bzw. aus dem bloßen Gedanken von demselben entspringt: aus dem Gedanken der Schöpfungsmacht eines Gottes, der durch das bloße Wort eine ganze Welt aus dem Nichts hervorbringt. Keine Einzelheiten, keine Bilder, sondern die kurze, schlichte Nennung von Wort und Wirkung genügen, um den gewaltigen Eindruck von der »Macht des Schöpfergottes bei der Gründung des Alls aller Dinge«183 hervorzurufen. (Dass freilich auch hier der bloße Gedanke durch eine sinnliche Vorstellung, ein ›Bild‹ vermittelt ist, nämlich durch die eines sprechenden Gottes, wird von Lowth unterschlagen.) Dasselbe Thema wird im Alten Testament freilich oft auch wesentlich breiter entfaltet, unter Zuhilfenahme von Nebenumständen und Bildern.184 So etwa im Buch des Propheten Jesaja – laut Lowth ohnehin »unter den Dichtern aller Zeiten an Geschmack und Erhabenheit bei weitem der erste«185:
179
Prael. 196: ex eis nimirum locis petita, in quibus Divina Majestas exprimitur. Ebd. 181 Vgl. De subl. 9,9. S.o. Teil I/Kap. 2.2. 182 S.o. Kap. 1.1.4. 183 Prael. 196: Dei Creatoris Potentia in rerum universitate condenda. 184 Vgl. Prael. 197: »Idem argumentum saepe explicant latius, additis compluribus Adjunctis, variisque Imaginibus inductis, ad illustrandam descriptionem«. 185 Prael. 92: omnium qui unquam fuerunt poetarum elegantia et sublimitate longe princeps. 180
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
Quis mensus est pugillo suo aquas; Et coelos palmo aptavit; Et comprehendit triente pulverem terrae? Et ponderavit trutina montes, Et colles bilance? Attollite in sublime vestros oculos; Et contemplamini, quis creavit ista: Qui educit numero exercitum eorum, Eaque omnia nominatim appellat; Prae magnitudine virium et robore potentiae, Ne unum quidem desideratur.186
Wer hat die Wasser mit der hohlen Hand gemessen und die Himmel mit der Spanne abgegrenzt? Wer hat ins Hohlmaß gefasst den Staub der Erde wer die Berge gewogen mit der Schnellwaage und die Hügel mit Waagschalen? Erhebt eure Augen zur Höhe und schaut: Wer hat jene geschaffen? Er, der ihr Heer herausführt nach der Zahl, sie alle mit Namen ruft. Ihm, der groß ist an Kraft und stark an Macht, bleibt nicht eines aus.187
Die Schöpfungstätigkeit Gottes wird anschaulich durch die bildhafte Schilderung von ›Nebenumständen‹ derselben, d.h. von exemplarischen Einzeltätigkeiten des Schöpfers: Meere, Himmel, Erdenstaub, Berge und Gestirne messen, wiegen, zählen und benennen, diese einzelnen anthropomorphen Vorstellungen ergeben zusammen eine sinnliche Gesamtvorstellung vom göttlichen Baumeister und seiner Schöpfermacht. Die symboltypische Steigerungswirkung – auf sie wird Lowth noch ausführlich zu sprechen kommen – wird hier offensichtlich dadurch erreicht, dass für den Menschen Unermessliches und Unzählbares aus der Perspektive Gottes ohne weiteres überschaubar und wägbar erscheint, was seine überragende majestas mit einem Mal sichtbar macht. Wieder anders liegen die Dinge, »wenn von den Eigenschaften Gottes, an sich betrachtet, allgemein und abstrakt gehandelt wird, ohne irgendeine gesonderte Anführung von bzw. Steigerung durch Tätigkeiten und Wirkungen, die aus ihnen hervorgehen«188: Hic penitus absorbetur mens humana, planeque obruitur, veluti in profundam quandam voraginem demersa; et frustra conatur aliquid apprehendere, quo sese expedire et extrahere possit.189
186
Hier wird der menschliche Geist völlig verschlungen und gänzlich überwältigt, als ob er gewissermaßen in einem tiefen Abgrund versänke. Und vergeblich versucht er, irgendetwas zu ergreifen, womit er sich heraushelfen und herausziehen könnte.
Prael. 198f: Jes 40,12.26. Jes 40,12.26. Übers. Zürcher Bibel. In dieser Verdeutschung kollidiert der Sinn für Poesie mit dem Streben nach historischer Präzision (»Schnellwaage«). 188 Prael. 199: quando agitur de Attributis Dei in se spectatis, generatim et abstracte, sine ulla particulari inductione aut amplificatione operationum et effectuum exinde profluentium. 189 Ebd. 187
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Die geistige Fassungskraft des Menschen ist an sich völlig überfordert, wenn sie die Größe der göttlichen Eigenschaften, des göttlichen Wesens abstrakt begreifen soll. Die ›Sache selbst‹ ist an sich schlicht zu groß, um dem beschränkten menschlichen Geist mehr als abstrakter Gedanke, um ihm Vorstellung werden zu können. Aber gerade dieses Scheitern kann ihm, so Lowth, über die eigenen Grenzen hinweghelfen: Sed ex rei difficultate aestimamus ejus magnitudinem; dumque animus laborat id complecti, quod ejus angustiae non capiunt, is ipse labor atque irriti conatus incredibilem quandam granditatem exprimunt.190
Aber aus der Schwierigkeit der Sache schätzen wir ihre Größe ab; und während die Seele zu umfassen sich müht, was ihre Beschränktheit nicht fasst, drücken eben diese Mühe und die vergeblichen Versuche eine geradezu unglaubliche Größe aus.
Es wird ein Prozess mittelbarer Vorstellungskonstitution beschrieben. An der Größe der Mühen, welche sie aufwendet, um den unfasslich großen Gegenstand zu erfassen, und an deren Vergeblichkeit gewinnt die Seele einen mittelbaren Eindruck von der immensen Größe des Gegenstandes. Im Gewahrwerden der eigenen Grenzen lokalisiert der Geist seinen Gegenstand jenseits dieser Grenzen und kann auf diese Weise dessen unermessliche magnitudo mindestens vage ermessen. Der skizzierte Konzeptualisierungsvorgang kann in Anlehnung an die traditionelle theologische Eigenschaftslehre als ins Symboltheoretische gewendete via eminentiae charakterisiert werden. Wie der theologische Begriff göttlicher Allmacht auf dem Wege der Überschreitung aller menschlichen bzw. irdischen Macht gebildet wird, so bildet sich nach Lowth der menschliche Geist eine Vorstellung von der göttlichen Majestät, indem er alle Größen, die er fassen kann, transzendiert. Noch die größten Größen, nach denen der Geist auf der Suche nach einer adäquaten Vorstellung greift, werden als zu klein, die eigene Fassungskraft als zu beschränkt befunden; aber in solcher Negation, gerade im Konstatieren der Beschränktheit, wird die Schranke selbst überschritten und die Vorstellung einer noch jenseits liegenden Größe anvisiert. Die Schilderung dieses Prozesses mittelbarer Größenschätzung soll Aufschluss geben über ein poetisches Mittel, das selbigen Prozess abbildet bzw. hervorruft: die von Lowth sogenannte per negationem descriptio191. Es handelt sich dabei um eine »Anhäufung größter und höchster Bilder«, die als »im Vergleich zum verhandelten Gegenstand höchst ungleich und bei weitem zu gering erfunden werden«192. So etwa an einer Stelle im Buch Hiob: 190
Ebd. Prael. 200: ›Beschreibung durch Negation‹. Diese Wendung ist eine Vorwegnahme von Kants Formel der ›negativen Darstellung‹ des Unendlichen (KU A 123). 192 Vgl. Prael. 200: »Verum in hoc genere nihil est majus, quam cum per continuam negationem descriptio instituitur; cum fit congeries maximarum altissimarumque Imagi191
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
Numquid Dei intima pervestigabis? An invenies etiam perfectionem Omnipotentis? Altitudines coelorum; quid ages? Orco profundior; quid cognosces? Mensura ejus terra longior, Et latior est mari.193
Kannst du die Tiefen Gottes ergründen oder die Vollkommenheit des Allmächtigen fassen? die höher als der Himmel – was willst du machen? tiefer als die Unterwelt – was willst du verstehen? weiter als die Erde an Maß und breiter noch als das Meer!194
Lowth beschreibt den Effekt solch ›negativer Deskription‹ folgendermaßen: hoc modo quaquaversum extenduntur, tandemque omnino tolluntur limites; animus deducitur paulatim in Infinitudinem, atque ingenti admiratione et jucundo quodam horrore percellitur, cum primum sese in illa immensitate expatiari persenserit.195
Auf diese Weise werden die Grenzen immer weiter ausgedehnt und endlich ganz aufgehoben. Die Seele wird nach und nach hingeführt zur Unendlichkeit und mit ungeheurer Bewunderung und einem gewissen angenehmen Schauder erschüttert, sobald sie fühlt, dass sie sich in jener Unermesslichkeit verliert.
Wieder erläutert Lowth den Darstellungsmodus negativer Deskription durch die ihm korrespondierende mentale und nun auch affektive Wirkung. Indem zuerst ausdrücklich die menschliche Fassungskraft im Blick auf das Wesen Gottes infrage gestellt wird und daraufhin die höchsten sinnlichen Bilder eins nach dem anderen als inadäquat ausscheiden – der Himmel ist nicht hoch, das Meer nicht breit genug, um die Vollkommenheit Gottes abzubilden –, werden die Grenzen jener Fassungskraft immer wieder angegangen, nach und nach überschritten, und es entsteht endlich – per negationem – ein Eindruck von der immensen Größe Gottes.196 Durch pernum, quae cum re, de qua agitur, comparatae valde impares longeque inferiores reperiuntur«. 193 Prael. 200f: Hiob 11,7–9. 194 Hiob 11,7–9. Übers. Zürcher Bibel. Als zweites Beispiel zitiert Lowth die berühmten Verse aus Ps 139: »Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, / und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? / Führe ich gen Himmel, so bist du da; / bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da. / Nähme ich Flügel der Morgenröte / und bliebe am äußersten Meer, / so würde auch dort deine Hand mich führen / und deine Rechte mich halten« (VV. 7–10; Übers. Luther-Bibel). 195 Prael. 200. 196 Die Stelle ist ein Beleg für die Vermutung, dass bei der Entstehung des neuen Naturerlebens, das sich im 18. Jahrhundert in der Applikation des rhetorisch-poetologischen Erhabenheitsbegriffs auf bestimmte Landschaftseindrücke spiegelt, auch die biblische und nachbiblisch-christliche Deutung der Natur als Spiegel des Schöpfers – man denke an den theologischen Topos von den zwei Offenbarungsbüchern, dem liber scripturae und dem liber naturae – eine beträchtliche Rolle gespielt hat. Abgesehen von den Untersuchungen von E. TUVESON (Space, Deity, and the »Natural Sublime«) und M. H. NICOLSON (Mountain Gloom and Mountain Glory. The Development of the Aesthetic of the Infi-
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manente Überschreitung der denkbar größten Bilder transzendiert die Seele die Grenzen ihres Fassungsvermögens bis hin zur Einsicht in die Unermesslichkeit, ja die Unendlichkeit ihres Gegenstandes. Durch die dargelegte Negationsoperation wird, wie es unmittelbar darauf heißt, »der Begriff der Unendlichkeit dargestellt«: »Exprimitur […] notio Infinitatis.«197 Die affektive Resonanz solcher Unendlichkeitsdarstellung ist admiratio: ›Bewunderung‹, ›Staunen‹, freilich durchsetzt mit einem Moment von horror: von ›Schrecken‹, ›Grauen‹ oder ›Schauder‹ ob des drohenden Selbstverlustes in Sphären, die eigentlich jenseits des eigenen Horizontes liegen. Der Blick auf die Unendlichkeit bedeutet nicht allein Erhöhung der Seele zu bewundernder Schau des Höchsten, sondern er bietet auch einen »öden und unförmigen Anblick«198, in dem die Seele von den gewohnten Bahnen abkommt199, allen gewohnten Halt verliert und der eigenen Begrenztheit und »Schwäche«200 innewird.201 Daher gilt von der Anschauung des Unermesslinite) sowie den Andeutungen bei CH. BEGEMANN (Erhabene Natur. Zur Übertragung des Begriffs des Erhabenen auf Gegenstände der äußeren Natur in den deutschen Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts) ist dieser Zusammenhang m.W. noch nicht umfassender erforscht worden. 197 Prael. 202. 198 Ebd: species vasta atque informis. 199 Vgl. Prael. 200: expatiari; 202: devenire. 200 Vgl. Prael. 204: »Divina omnipotentia et humana infirmitas, inter se collatae, invicem augentur«; ferner 205: »Vates Sacri Naturam Divinam sub humanis imaginibus adumbrant, eo quod illud necessario postulet humanae mentis imbecillitas«. 201 Hier könnte Lowth (wie später auch Kant) von Joseph Addisons Überlegungen zum Scheitern der Einbildungskraft angesichts des unermesslich Großen beeinflusst sein; s.o. Kap. 1.2.2. – Lowth ordnet auch Ps 36 der Kategorie der ›negativen Deskription‹ zu, obgleich hier vom Scheitern der Symbolisierungsversuche nicht explizit die Rede ist: »Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist, / und deine Wahrheit, so weit die Wolken gehen. / Deine Gerechtigkeit steht wie die Berge Gottes / und dein Recht wie die große Tiefe« (Ps 36,6.7a; Übers. Luther-Bibel). Für Lowth stellen auch diese Psalmverse ein Gemüt vor Augen, das mit aller Kraft seines Fassungsvermögens die göttlichen Eigenschaften zu begreifen sucht; das »sich mit höchster Anstrengung nach der unermeßlichen Größe des Gegenstandes auszustrecken scheint, obwohl es sie doch nicht erreichen kann«. Es sucht nach adäquaten Bildern, um die anvisierte Größe zu erfassen, greift dabei nach den größten Erscheinungen, die die Natur, die sein Erfahrungsraum zu bieten hat – Himmel, Wolken, Berge, Meerestiefe – und muss doch erkennen, dass sie »ihr freilich ganz und gar nicht angemessen sind« (vgl. Prael. 199: »Quam ob causam valde sublimis est sequens locus, cum ad immensam rei magnitudinem summo nisu contendere videatur, quanquam eam assequi non possit; iis Imaginibus utens, quae minime quidem sunt ei adaequatae, quibus tamen majus nihil universa natura suppeditavit…«). In der Darstellung des Scheiterns menschlicher Fassungskraft stellt sich per negationem die Größe des göttlichen Gegenstandes dar. Die Einsicht in die Unangemessenheit der Bilder und damit in das Versagen des Fassungsvermögens muss der Leser in diesem Beispiel eigenständig vollziehen, offenbar von einem bestehenden Wissen um die Unermesslichkeit Gottes her. Er muss die Negationsleistung, die die mittelbare Steigerung des Gegenstandes beinhaltet, selbst vollbringen.
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
chen, die den Aufstieg des Geistes zum Begriff des Unendlichen ermöglicht: semper magnam vim habet, et cum horrore quodam conjunctam admirationem.202
Sie hat immer große Gewalt und löst eine mit einem gewissen Schauder verbundene Bewunderung aus.
In Abweichung von der herkömmlichen emotionalistischen Deutung des ›angenehmen Grauens‹, wonach die Steigerung der Empfindungsintensität durch den Schrecken für das positive Gefühlsmoment verantwortlich ist,203 wird der dissonante Effekt, der bereits vor Lowth dem Erhabenheitsbegriff eingeschrieben wurde,204 als affektives Korrelat eines religiösen Transzendierungsaktes aufgefasst. Die typische Resonanz des Sublimen hat bei Lowth dieselbe religiöse Konnotation, die in der deutschen Ästhetik in der Formel vom ›heiligen Schauer‹ ihren klassischen Ausdruck gefunden hat.205 Nach diesem Vorgriff auf die Erhabenheitstheorie von Teil II/3 sind nun rückblickend Lowths Reflexionen zur dictio figurata, zur Bildlichkeit und damit zur Symboldimension der hebräischen Poesie insgesamt zu resümieren. Sie laufen, wie gezeigt wurde, auf eine Theorie der Darstellung göttlicher Majestät, mithin der Darstellung von Unendlichkeit zu. Vorbereitet wird diese Theorie mit dem Ausweis der Doppelfunktion der dictio figurata (illustratio und amplificatio) in Teil II/2, aber die eigentliche Entfaltung erfolgt erst in II/3, gewissermaßen im Herzen der genuinen Erhabenheitstheorie. Das Fundament von Lowths Symboltheorie ist die Einsicht in die prinzipielle Sinnlichkeit des menschlichen Geistes und die Notwendigkeit der illustratio: der Versinnlichung alles Unsinnlichen.206 Es bedarf anschaulicher Bilder, um Unanschauliches für die menschlichen Erkenntniskräfte überhaupt greifbar, vorstellbar werden zu lassen. Diese Notwendigkeit verschärft sich im Falle des zentralen religiösen Gegenstandes: Nun geht es um die Versinnlichung göttlicher Majestät, d.h. unermesslicher Größe, um die Versinnlichung von Unendlichkeit. Dazu noch einmal Lowth in einer Art Fazit (Prael. XVI):
202 Prael. 202: »Cum ultra hos limites provehitur animus, non habet quo possit consistere; in omnes partes evagatur, et rerum metas frustra conatus attingere, devenit tand[e]m in Infinitatem: ejus species vasta atque informis, cum in animo evidenter imprimitur, quod hoc modo consequuntur Sacri Scriptores, semper magnam vim habet, et cum horrore quodam conjunctam admirationem.« 203 Vgl. C. ZELLE: Angenehmes Grauen. S.o. Kap. 1.2.1. 204 S.o. Kap. 1.2.1. 205 S.o. Kap. 3.3.2 sowie unten Kap. 5.1.2. 206 Dieses Grundaxiom erinnert an Baumgartens Ästhetik, deckt sich aber nicht unmittelbar mit deren erkenntnistheoretisch explizierter Versinnlichungsmaxime; s.o. Kap. 2.2.1.
4. Ästhetische Dechiffrierung des Alten Testaments: Robert Lowth
quae [sc. notio Infinitatis] […] haud facile in animo consignatur: si simpliciter, et abstracte, nullaque re adjuncta exponitur, fugit intelligentiae nostrae vim, ac pene elabitur. Confugiunt itaque Sacri Scriptores ad Adjuncta quaedam et Imagines, quarum ope rei tam tenui et subtili quandam inducant soliditatem, et notionem lubricam ab intellectu ad sensus revocent.207
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Dieser [sc. der Begriff der Unendlichkeit] ist nicht leicht der Seele einzuzeichnen: Wenn er schlicht und abstrakt, ohne irgendeine Beifügung exponiert wird, flieht er unser Verständnisvermögen und entgleitet fast völlig. Die Heiligen Schriftsteller suchen daher ihre Zuflucht bei gewissen Nebenumständen und Bildern, mit deren Hilfe sie einer so feinen und abstrakten Sache eine gewisse Festigkeit geben und den so flüchtigen Begriff vom Verstand zu den Sinnen zurückführen.
Lowths Terminus für diese spezifische Versinnlichungsleistung ist amplificatio, ›Steigerung‹.208 Wie nichts sonst sind die größten Naturerscheinungen: Himmel, Meer, Berge, in der Lage, göttliche Größe zu symbolisieren. Sie tun dies mittels ›negativer Deskription‹, d.h., unter gnoseologischem Aspekt betrachtet, dank einer Transzendierungs- bzw. Negationsleistung des menschlichen Geistes. Innerhalb des Symbolisierungsprozesses lassen sich demnach gleichsam zwei Richtungen unterscheiden. Zum einen wird die abstrakte Unendlichkeit anschaulich, indem die »heiligen Dichter« sie »nicht mit allgemeinen und verworrenen Vokabeln bezeichnen, sondern mit einem gewissen sichtbaren Maß, und zwar mit dem größten, das einerseits die Natur bietet, andererseits unser Geist aufnimmt«209. Durch derartige ›Illustration‹ wird der abstrakte, »flüchtige« Verstandesbegriff der Unendlichkeit sinnliche Vorstellung. Zum anderen, gewissermaßen in der Gegenrichtung des Symbolisierungsprozesses, ist der Geist zugleich in der Lage, die anschaulichen Bilder, das sichtbare Maß, also die Sinnlichkeit der Darstellung als Unangemessenheit (inaequalitas) zu dechiffrieren:210
207
Ebd. Vgl. Prael. 63; 199. Gegenüber dem in Prael. VIII dargelegten Modus der Steigerung, einem Bildgebrauch, der von der sakralen Aura kultischer Gegenstände lebt und von daher mit wachsendem historischem Abstand zu der entsprechenden religiösen Kultur viel von seiner Wirkung einbüßt, rechnet Lowth anscheinend mit einer ungebrochenen Wirksamkeit des zweiten Steigerungsmodus, der in Prael. XVI vorgeführt wird, wo die Bilder oder Symbole dem Bereich der Natur entstammen. 209 Vgl. Prael. 202: »Deducunt nos per omnes spatii dimensiones; per longitudinem, latitudinem, altitudinemque; has ipsas non generalibus et confusis vocabulis designant, sed evidenti quadam mensura, eaque maxima, quam aut natura praebet, aut mens nostra recipit.« 210 Vgl. Prael. 204. 208
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
Vates Sacri Naturam Divinam sub humanis imaginibus adumbrant, eo quod illud necessario postulet humanae mentis imbecillitas; eoque modo, ut, quae a rebus humanis ad Deum transferuntur, nunquam proprie accipi possint. Semper remittitur intellectus ab umbra ad veritatem; neque in nuda haeret imagine, sed protinus quaerit et investigat id, quod in Divina natura ei imagini est Analogum; grandius quiddam et excelsius, quam quod possit plane concipere aut apprehendere, sed quod animum metu quodam et admiratione percellit.211
Die heiligen Seher zeichnen die göttliche Natur mit menschlichen Bildern, weil dies die Schwäche des menschlichen Geistes wohl notwendig erfordert; und auf diese Weise folgt, dass, was aus der menschlichen Sphäre auf Gott übertragen wird, niemals eigentlich genommen werden kann. Immer wird der Verstand vom Schatten [oder: von der Skizze] zur Wahrheit gewiesen; und er haftet nicht am bloßen Bild, sondern sofort sucht und forscht er, was in der göttlichen Natur diesem Bild analog ist; gewissermaßen ein Größeres und Höheres, als was er völlig erfassen oder aufnehmen kann, aber was die Seele mit einer gewissen Furcht und Bewunderung erschüttert.
Der menschliche Geist bedarf der »menschlichen« Bilder, also der Bilder aus seiner endlichen Welt, um überhaupt etwas vom göttlichen Wesen zu erfassen. Aber zugleich weiß er um die Analogizität der bildlichen, symbolischen Darstellung und negiert diese, insofern er sie nur in uneigentlichem Sinne gelten lässt. So greift er in eine Sphäre aus, die ihm »eigentlich« entzogen ist. Die für die erhabene Dichtung des Alten Testaments charakteristische Darstellung göttlicher Größe basiert also auf einem gegenläufigen Prozess der Setzung und Aufhebung von Versinnlichung. Mit der Verknüpfung dieses Symbolisierungsprozesses mit der Kategorie des Erhabenen leistet Lowth etwas wesentlich Neues gegenüber der longinischen Theorie. Demnach verdankt sich die Erhabenheit, nach ihrer inhaltlichen Seite betrachtet (Lowths sublimitas conceptuum), wesentlich symbolischer Gottesdarstellung und der von ihr ausgelösten Unendlichkeitsreflexion, die vermittels einer Endlichkeitsreflexion zustande kommt. Die Spannung dieser dialektischen Bewegung des Geistes spiegelt sich wider in dem eigentümlichen Affekt des Erhabenen, für den Lowth damit nicht nur eine originelle Beschreibung, sondern zugleich – zumindest in Ansätzen – auch eine eigenständige Erklärung bietet: Dem Ineinander von Unendlichkeits- und Endlichkeitsbewusstsein auf der Ebene des Verstandes entspricht das Ineinander von ›Bewunderung‹ und ›Schrecken‹, das den das Erhabene begleitenden Affekt ausmacht:212 die cum horrore quodam conjuncta admiratio213. – Das Affekt-
211
Prael. 205. Diese Erklärung hat, vermittelt über Mendelssohns Lowth-Rezension, womöglich auch die kantische Erhabenheitstheorie beeinflusst. 212
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thema rückt noch einmal in den Fokus, wenn im Folgenden die sublimitas affectuum als das letzte Grundmoment des Sublimen neben dem Stil(sublimitas in dictione) sowie dem Vorstellungs- (sublimitas conceptuum) und Gegenstandsaspekt (sublimitas rerum) behandelt wird. 4.3.4. Die Ausdrucksdimension Nachdem der Affekt als eine erhabenheitsrelevante Größe bereits durchgängig thematisch war, sei es als natürliche Quelle ursprünglicher Poesie, sei es als maßgebliches Element der Wirkung des Sublimen, kommt Lowth auf ihn in Prael. XVII De sublimitate affectuum eigens als wesentliche Dimension des Erhabenen zu sprechen. Hier wird sogleich deutlich, dass die beiden genannten Momente nicht vorschnell ineins gesetzt werden dürfen. Lowth unterscheidet dezidiert zwischen dem Affekt als Wirkung und dem Affekt als Wirkursache von Erhabenheit.214 Dieser Differenzierung entspricht diejenige zwischen Affekterregung (affectus concitare) als Ziel einerseits und Affektausdruck (affectus exprimere bzw. imitari) als Mittel der Dichtung andererseits.215 Der Begriff der sublimitas affectuum meint allein das Letztgenannte, also diejenige Kraft, die der (dichterischen) Rede vermöge der in ihr sich darstellenden Gemütsbewegungen eignet (und die nun freilich wiederum entsprechende Gemütsbewegungen erzeugt). Um die theoretisch-terminologische Differenz deutlich zu markieren, kann Lowth auch mit Longin216 die Möglichkeit von Erhabenheit ohne das Mittel des Affektausdrucks einräumen, wovon die konstitutive Affektwirkung des Erhabenen unbetroffen bleibt.217 Gleichwohl hat die sublimitas affectuum nach Lowth eine beträchtliche Bedeutung für die Erhabenheit der hebräischen Dichtung. 213 Prael. 202 (s.o.). Die Doppelung von abdrängendem und anziehendem Moment in diesem religiösen Grundaffekt weist auch auf Rudolf Ottos Konzeption des ›Heiligen‹ voraus. Auf dem Feld der alttestamentlichen Exegese findet sie sich klassisch wieder in der Ansicht H. GUNKELs, dass in den Hymnen des Psalters »die Grundstimmung die Ehrfucht und der Enthusiasmus ist« (Einleitung in die Psalmen, 71). Mit dieser Grundstimmung entsprechen die altisraelitischen Hymnen nach Gunkel »dem tieffsten und edelsten Bedürfnis aller wahren Religion […], im Staube anzubeten, was über uns ist« (69). 214 Vgl. Prael. 213: »Admiratio, ut est effectus semper consequens Sublimitatem, ita saepe etiam Sublimitatis est causa efficiens.« 215 Vgl. Prael. 209: »Porro, ut vehementioribus animae Affectibus originem suam debet poesis, ita in Affectibus exprimendis vim suam praecipue exerit, et Affectus concitando finem suum optime consequitur.« 216 Vgl. De subl. 8,2. S.o. Teil I/Kap. 3.1.1. 217 Vgl. Prael. 211. Lowth mag hier etwa an das Fiat Lux von Gen 1 denken, wo eine außerordentliche affektive Bewegung des menschlichen Sprechers nicht im Vordergrund steht (wenn man auch eine gewisse feierliche Gestimmtheit in den Worten mithören mag).
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Atque hic campus plane immensus nobis ostenditur. Quid enim est alium pars longe maxima Poematum Sacrorum, quam perpetua diversorum Affectuum Imitatio? quae alia materia et argumentum tot Carminum, quam Admiratio ex Divinae potentiae et majestatis contemplatione orta; Gaudium ex sensu Divini favoris prosperoque rerum exitu; Iracundia et Indignatio contra impios Deique osores; Dolor ex peccati conscientia, et poena delictorum divinitus irrogata; ex interminatione judiciorum Divinorum Terror?218
Und hier zeigt sich uns ein ganz unermessliches Feld. Was nämlich sonst ist der weitaus größte Teil der heiligen Gedichte, als eine durchgehende Darstellung verschiedener Affekte? Was sonst ist Stoff und Thema so vieler Gesänge, als Bewunderung, die aus der Betrachtung der göttlichen Macht und Majestät erwächst; Freude, die aus der Empfindung göttlicher Gunst und aus dem glücklichen Ausgang einer Sache entspringt; Zorn und Empörung über die Frevler und Gotteshasser; Schmerz, der dem Sündenbewusstsein und der von Gott verhängten Strafe über Vergehen entstammt; oder durch die Drohung göttlicher Gerichte erweckter Schrecken?
Der poetologisch-psychologischen Grundthese vom Affektursprung der Dichtung entsprechend219 gehört die Darstellung religiöser Gemütsbewegungen zu den herausragenden Charakteristika der alttestamentlichen Poesie. Und sie hat Lowth zufolge herausragenden Anteil an der eigentümlichen ›Kraft der Rede‹, welche die erhabene Dichtung der Hebräer auszeichnet. Denn anders als die Beschreibungen äußerer Dinge, die aufgrund der kognitiven Verarbeitung »relativ langsam« auf den Geist wirken, teilen sich die in das Gedicht eingegangenen Affekte dem Leser oder Hörer unmittelbar – quasi nude220 – mit und haben daher »die größte Gewalt«221 über dessen Gemüt. Lowths Begründung für diesen Effekt ist bemerkenswert. Ihr liegt einerseits das aristotelische bzw. longinische Motiv von der unmittelbaren Übertragung von Pathos bzw. Enthusiasmus zugrunde.222 Insofern ist sie relativ konventionell. Lowth gewinnt dem fraglichen Effekt aber noch einen weiteren Gesichtspunkt ab. Demnach verdankt sich der besondere Eindruck
218
Prael. 212. S.o. Kap. 4.2.1. Vgl. Prael. 208. 220 Ebd.: ›gleichsam nackt‹. 221 Prael. 210: maximam vim. Vgl. weiter ebd.: »quicquid ei extrinsecus exhibetur, utcunque grande et magnificum, minus eum, ut par est, commovet, quam quod intus percipit; cuius magnitudinem, et impetum, et vehementiam, ipse apud se persentit«. – Die Vorlesung über die sublimitas affectuum enthält auch einen Exkurs zur poetischen Affekterregung (210f). Lowth meint diesen poetologischen Standardtopos offenbar immer noch vor (neo-)stoischen Vorbehalten rechtfertigen zu müssen. Insofern ist die betreffende Passage als Reflex der antiken Debatten um die ethische und poetologische Legitimität der Affekte anzusehen; vgl. dazu oben Teil I/Kap. 4.1.2. 222 S.o. Teil I/Kap. 4.1.3. 219
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der Affektdarstellung beim Rezipienten einer durch sie herbeigeführten Selbstansicht: [C]um omni imitatione magnopere delectatur mens humana, fieri vix potest, quin illam et delectet maxime et percellat ea imitatio, quae ei suam ipsius imaginem exhibet, omnesque eos impulsus, flexiones, perturbationes, motusque secretos exprimit, quos in se agnoscit sentitque.223
Wenn sich das menschliche Gemüt an jeder Nachahmung erfreut, dann kann es gar nicht anders sein, als dass jenes am meisten diejenige Nachahmung erfreut und erschüttert, die ihm ein Bild seiner selbst darbietet und alle geheimen Antriebe, Modulationen, Erregungen und Bewegungen zum Ausdruck bringt, die es in sich empfindet.
Entzündet sich das Vergnügen an der Darstellung nach dem ImitatioNaturae-Modell generell an der Ähnlichkeit zu dem dargestellten Original, hat die Resonanz im Falle der Affektdarstellung gewissermaßen einen besonders intimen Grund. Hier stellt das Gemüt nicht eine Ähnlichkeit zwischen externen Größen fest, sondern eine Ähnlichkeit zwischen der Darstellung und sich selbst. Die mens des Rezipienten wird sich »ihrer selbst und ihrer Bewegungen bewusst«224. Sie erkennt im poetischen Affektausdruck ihr Spiegelbild und erlangt Klarheit über ihre zuvor nur dunkel wahrgenommenen innersten Strebungen. Die Affektdarstellung wirkt beim Rezipienten also nicht allein die Erweckung der nämlichen Affekte, sondern darüber hinaus das Sich-selbst-durchsichtig-Werden hinsichtlich der Struktur des affektiven Seelengrundes. Lowths Bemerkungen entwerfen ein eindrückliches Bild von der Rolle der Affektdarstellung in der erhabenen Dichtung. Ästhetikgeschichtlich sind sie allem Anschein nach ein (erstaunlich frühes) Dokument des Übergangs vom Nachahmungs- zum Ausdrucksparadigma. Einerseits werden die Termini imitari und exprimere noch synonym gebraucht, im allgemeinen Sinne von ›darstellen‹, d.h. exprimere ist noch nicht wie in der späteren Ausdrucksästhetik für den »Ausdruck eines Inneren, etwa eines Erlebnisses«225 reserviert. Andererseits kann der Ausdrucksbegriff bereits genau dieses bezeichnen: die sprachliche Objektivation der »Innensphäre eines Subjekts«226. Auf der einen Seite weist die Synonymität von imitatio und expressio darauf hin, dass das in der Rede abgebildete Innerpsychische wie ein anderer Gegenstand quasi objektiv dargestellt wird. Auf der anderen Seite zeigt Lowth durchaus schon ein Bewusstsein davon, dass solche Darstellung von den »Beschreibungen der übrigen Dinge«227 wesenhaft unterschieden 223
Prael. 209. Ebd.: conscia […] et sui et suorum motuum. 225 H.-G. GADAMER: Zum Begriff des Ausdrucks, 384. 226 H. U. GUMBRECHT: Art. Ausdruck, 420. 227 Prael. 209: caeterarum rerum descriptiones. 224
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und mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist. Insofern also einerseits das Ausdrucksverhältnis noch primär als ein Verhältnis zwischen einem Gegenstand und seiner sprachlichen Erscheinung vorgestellt ist anstatt als Relation eines Subjekts zu seiner Selbstdarstellung, kann man von einem objektiven Ausdrucksbegriff sprechen: »Ausdruck ist nicht primär als Ausdruck der eigenen Empfindungen zu verstehen, sondern als Ausdruck, der Empfindungen erregt.«228 Andererseits deutet sich eine »Subjektivierung des Ausdrucksbegriffs«229 nicht nur darin an, dass überhaupt Inneres ausgedrückt wird, sondern auch in der ansatzweise artikulierten Voraussetzung, dass der darzustellende innere Zustand auch selbst erlebt worden sein muss. So entsteht die sublimitas affectuum nach Lowth »aus dem heftigen Impuls der Affekte und deren Nachahmung«230. Die Darstellung muss durch affektives Erleben initiiert sein. Zu dieser Äußerung passen Lowths Ausführungen zum Ursprung der Dichtkunst. Die Poesie wird ursprünglich aus dem Affekt geboren, ist aber selbst nicht alleine dieser ›natürlichen‹ Regung entsprungen, sondern immer schon ›künstlich‹ geformt.231 Auf das Theorem des Affektausdrucks bezogen heißt das: Der im Gedicht sich mitteilende Affekt ist nicht unmittelbar aus der Empfindung in die Sprache eingegangen, sondern vermittels dichterischer Kunst, d.h. durch verschiedene Klärungs- und Gestaltungsvorgänge. Aber umgekehrt ist der Affektausdruck auch nicht möglich ohne ursprüngliche Empfindung.
228
H.-G. GADAMER: aaO. 385. Ebd. 230 Prael. 209f: ex vehementi Affectuum impulsu eorumque imitatione. Nach Lowth besteht die besondere Begabung des Dichters darin, »sich leicht beliebige Gemütsbewegungen anzueignen« (208: facile quemvis animae motum induere), »fremde Affekte in sich zu übertragen« (ebd.: alienos affectus in se transferre) »und diese angemessen, lebhaft, kräftig und naturgetreu auszudrücken« (ebd.: eosque apte vivide, fortiterque pro rei natura exprimere). Diese Beschreibung hebt nicht auf die Authentizität des Affektausdrucks ab, scheint aber doch mindestens ein Nachempfinden des Auszudrückenden als dessen Bedingung anzunehmen. Indessen liegen die Dinge im Falle der hebräischen Poesie anders. Lowth führt nämlich das außerordentliche Gelingen der außerordentlich schwierigen (vgl. 209) Darstellung der religiösen Affekte mindestens andeutungsweise auf göttliche Inspiration zurück. In Abhebung von einer gleichsam säkularisierten Auffassung vom poetischen Enthusiasmus, die eigentlich nur auf jenes besondere Ingenium des Dichters zur Vergegenwärtigung von Affekten abhebt, behauptet er, dass der verus ille et germanus enjousiasmow (ebd.: ›jener wahre und eigentliche Enthusiasmus‹) allein der alttestamentlichen Dichtung zuzuschreiben sei. Offenbar lokalisiert Lowth damit das Wirken des Heiligen Geistes im Prozess der Empfindung und Darstellung der religiösen Affekte durch die biblischen Autoren und formuliert damit eine Variante des Gedankens der Personalinspiration. Ganz ohne eigenes (wenn auch fremdgewirktes) Empfinden dürfte sich Lowth den Vorgang des Affektausdrucks bei den hebräischen Dichtern also nicht vorgestellt haben. 231 S.o. Kap. 4.2.1. 229
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Eine fundamentale Differenz zur späteren Ausdrucksästhetik besteht indessen sicher darin, dass Lowths Theorem der Affektdarstellung nicht die Sprachwerdung individueller Empfindung im Blick hat. Dem steht schon der Affektbegriff als solcher entgegen, der von seiner antiken Herkunft her lehrhaft-typisierenden Charakter hat. Aber auch die soeben angesprochenen Reflexionen zum Ursprung der Dichtkunst deuten in diese Richtung. Denn nach Lowth nimmt ja die Dichtkunst bereits in ihren Anfängen eine öffentliche Funktion wahr, indem sie Allgemeingültiges in tradierbare Sprachgestalt bringt.232 Mag also auch eine je individuelle Empfindung der Urquell der Poesie sein, so sorgt doch die künstlerische Bearbeitung bereits in den Anfängen dafür, dass sich in der Dichtung gerade nicht das Individuelle, sondern das allgemein Gültige und Relevante ausspricht. Das bedeutet nun wiederum für den Affektausdruck, dass sich in ihm nicht ein individuelles, sondern ein allgemeines Inneres darstellt. Ausdruck heißt hier nicht Ausdruck der je eigenen, besonderen Innerlichkeit des Einzelnen, sondern Ausdruck typischer Innerlichkeit. Von hier aus lässt sich auch die von Lowth so hoch eingeschätzte Wirkung des Affektausdrucks näher fassen. Denn offenbar beruht diese Wirkung gerade auf der allgemeinen Gültigkeit und Relevanz des dargestellten Inneren. Der Leser der hebräischen Dichtungen kann in ihnen nur deshalb über seine »geheimen« Antriebe und Regungen Klarheit gewinnen, weil es die Antriebe und Regungen der mens humana überhaupt sind, die sich darin in alter Zeit abgebildet haben. Weil der hebräische Dichter einst im Wechselspiel von Natur und Kunst – und mit göttlicher Hilfe233 – seinem Gedicht wesenhafte, gewissermaßen archetypische Züge menschlicher Subjektivität eingezeichnet hat, kann es hier auch über die Zeiten hinweg zu einer »Selbstbegegnung des menschlichen Geistes«234 kommen. Lowths Auffassung vom erhabenen Affektausdruck lässt eine implizite Hermeneutik erkennen, die ihr Fundament in der anthropologischen Prä232
S.o. Kap. 4.2.1. Vgl. oben Anm. 230. 234 H.-G. GADAMER: Wahrheit und Methode, 233. Bei Gadamer bezieht sich diese Wendung auf die Hermeneutik Diltheys. Das Zitat mag hier schon auf das zukunftsweisende hermeneutische Potential von Lowths Poetik des Alten Testaments hindeuten; vgl. oben Kap. 4.5. – Ein ähnlicher Gedanke findet sich im Übrigen in Luthers Rede vom Psalter als dem »Gnothiseauton« und »Spiegel« des Frommen. Hier ist es allerdings nicht die Selbsterkenntnis des wesentlich Menschlichen, sondern des wesentlich Christlichen, welche der Christ in den Psalmen gewinnt. Vgl. M. LUTHER: Psalmen-Auslegung, 5: »Summa, willst du die heilige christliche Kirche mit lebendiger Farbe und Gestalt gemalt und in einem kleinen Bilde gefaßt sehen, so nimm den Psalter vor dich, so hast du einen feinen hellen reinen Spiegel, der dir zeigen wird, was die Christenheit sei. Ja du wirst auch dich selbst und das rechte Gnothiseauton drin finden, dazu Gott selbst und alle Kreaturen.« 233
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misse eines zeitinvarianten Wesens des Menschengeistes hat. Die alttestamentlichen Dichtungen sind Offenbarungen dieses verborgenen Wesens. Sie werden verstanden, indem der Rezipient teilhat an den in ihnen dargestellten kognitiven und affektiven Gemütsbewegungen und indem er an ihnen zugleich Klarheit gewinnt über die ansonsten nur dunkel empfundenen wesenhaft menschlichen Impulse seines geistigen Lebens. Darüber hinaus tritt eine bestimmte Sicht vom Wesen des Menschen zutage. Schließlich impliziert die auf dem Imitatio-Naturae-Theorem beruhende Ansicht, die hebräischen Dichtungen seien in ihrer Affektausdrucksdimension ›Nachahmungen‹ der ›natürlichen‹ Gemütsbewegungen des Menschen, dass in der Tiefe eines jeden menschlichen Gemüts ›von Natur aus‹ religiöse Kräfte walten. Weil die gottbegeisterten »Seher« des Alten Testaments die verborgenen Antriebe der mens humana naturgemäß »abgemalt« haben, erkennt und empfindet der Leser in der Begegnung mit der hebräischen Dichtung deutlich, was er zuvor nur vage gefühlt hat: den religiösen Grundzug seines Geistes, seine wesenhafte Neigung zur Religion. Damit wird eine strukturelle und sachliche Verwandtschaft mit Longins Zentralidee vom Erhabenen als ›Widerhall von Hochsinnigkeit‹ sichtbar, wie sie im ersten Teil dieser Arbeit rekonstruiert wurde.235 Besteht das Spezifikum des Sublimen nach Longin darin, den von der Natur in die menschliche Seele eingesenkten Sinn für das Hohe, Ideale, Göttliche darzustellen und mittels solcher Darstellung beim Rezipienten zu wecken, sind es bei Lowth die im Ausdruck des frommen Affekts sich manifestierenden religiösen Strebungen der mens humana, die vermöge der unmittelbaren Dechiffrierung solchen Ausdrucks beim Leser der hebräischen Poesie angesprochen und zu Bewusstsein gebracht werden. Sowohl auf der Produzenten- wie auf der Rezipientenseite kann also auch das Lowth’sche Erhabene analog als ›Widerhall‹ einer dem menschlichen Gemüt wesenhaft eignenden Ausrichtung auf das Unendliche charakterisiert werden, oder christlich gesprochen: als ›Widerhall‹ einer »Richtung der Seele zu Gott« (Spalding). – Nachdem im Durchgang durch Teil II der Praelectiones alle Momente von Lowths Erhabenheitsbegriff klare Konturen gewonnen haben, soll zu guter Letzt eine resümierende Zusammenschau geboten werden. 4.3.5. Die Komplexität des Erhabenen Bereits der Stoffgesichtspunkt zeichnet die hebräische Poesie nach Lowth aus, insofern sie durchgehend religiöse Sujets bedichtet. Schon weil ihr eigentliches Thema stets das Göttliche ist, erhebt sie sich über jede andere Dichtung. Und doch kann diese thematische Seite ihrer Erhabenheit (subli235
S.o. Teil I/Kap. 3.2.
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mitas rerum) nur in der Theorie von der Seite des konkreten Vorstellungsgehalts (sublimitas conceptuum) abgesondert werden. Denn ohne die Gestaltung zu konkreten Vorstellungen könnten jene religiösen Sujets gar nicht zur Geltung kommen. Wie in jeder Dichtung ist es entscheidend, dass der Stoff in angemessene Vorstellungen umgesetzt wird, auf dass seine Größe nicht geschmälert werde. Dieser allgemeine poetologische Grundsatz, der etwa auch für die Ästhetik Baumgartens und Meiers fundamental ist,236 wirft freilich im Falle der biblischen Poesie besondere Probleme auf. Das scheinbar schlichte longinische Kriterium »würdiger« Darstellung des Göttlichen impliziert nämlich, so die grundlegende Einsicht Lowths, weitreichende erkenntnistheoretische Probleme. Denn wie soll ein an sich darstellungstranszendenter »Stoff« angemessen, ja, wie soll er überhaupt dargestellt werden? Im Lichte dieser religionsphilosophischen Frage steht und fällt die würdige Darstellung mit der Leistung, das unvorstellbare Göttliche für den sinnlich verfassten menschlichen Geist vorstellig werden zu lassen, ohne dabei seiner Majestät Abbruch zu tun. Insofern es gilt, das Göttliche dem Menschen als solches zu Bewusstsein zu bringen, gewinnt die ›Erhabenheit der Vorstellungen‹ eine fundamentale religiöse Funktion und fordert eine entsprechende symboltheoretische Explikation. Ihr zufolge realisiert die hebräische Poesie die Vorstellungsdimension von Erhabenheit dort in unübertroffener Weise, wo sie einen dialektischen Vorstellungsprozess abbildet bzw. in Gang setzt. Sie tut dies, indem sie die von ihr aufgerufenen Vorstellungen für das Göttliche selbst zugleich wieder zurücknimmt. In dem Maße, wie ein Gedicht derart die Schwebe hält zwischen der Repräsentation und der Aufhebung grandioser Vorstellungen von Gott, eignet ihm sublimitas conceptuum: das Potential, den menschlichen Geist über seine sinnlichen Schranken hinauszuführen in Richtung auf das schlechthin unsinnliche Göttliche. Oder umgekehrt formuliert: Es gewinnt die Kraft der Repräsentation Gottes, ohne diesen seiner Transzendenz zu berauben. Der so gezeichneten kognitiven Transzendierungs- bzw. Vergegenwärtigungsleistung der erhabenen Poesie entspricht in der affektiven Sphäre des Gemüts die gemischte Empfindung der schaudernden Bewunderung. Bewunderung ist die konstitutive seelische Resonanz angesichts des Göttlichen, welcher der Schauder angesichts der eigenen Endlichkeit und ihrer Überschreitung beigemischt ist. Die cum horrore quodam conjuncta admiratio nimmt als affektive Bewusstseinsgestalt der Transzendierung des Endlichen respektive der Repräsentation des Unendlichen demnach die Stelle
236
S.o. Kap. 3.4.2.
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eines religiösen Grundaffekts ein, der wiederum verschiedene Modifikationen erfahren kann.237 Dieser Grundaffekt teilt sich dem Leser der alttestamentlichen Poesie zum einen mit, indem dieser den im Gedicht dargestellten Prozess der Setzung und Aufhebung von Vorstellungen des Göttlichen mitvollzieht, also mittels kognitiver Akte, welche die ihnen entsprechende affektive Resonanz hervorrufen. Der Leser hat daran zum anderen auf dem Wege der Synhomopathie teil, insofern der Affekt des Produzenten, wie er in der poetischen Sprache manifest ist (sublimitas affectuum), sich gleichsam unmittelbar auf das Gemüt des Rezipienten überträgt. Dabei gerät dieser aber nicht nur in den fraglichen Gemütszustand religiöser Ergriffenheit, sondern zugleich erblickt er in der poetischen Darstellung des Affekts wie in einem Spiegel die innersten Motive seiner Seele, ihre geheime Unendlichkeitsintention. Nimmt man Lowths Auffassung der Affektdarstellung mit der Theorie des Symbolisierungsvermögens des menschlichen Geistes zusammen, ergibt sich ein anspruchsvolles Bild der religiösen Subjektivität. Das poetologische Konzept der sublimitas in sensibus, die sich in sublimitas conceptuum und sublimitas affectuum differenziert, wartet zum einen mit einer Beschreibung der Konstitution eines anschaulich-unanschaulichen Gottesbewusstseins in der Gegenbewegung von Transzendierung des Endlichen und Repräsentation des Unendlichen auf, dem als affektives Komplement das zwiespältige Gefühl der erschaudernden Bewunderung zugeordnet wird. Zum anderen bietet es auf der Basis der Annahme einer religiösen Anlage des Menschen den Gedanken, dass Religion nicht in Akten kognitiver und affektiver Bezugnahme auf das Göttliche aufgeht, sondern dass ihr daneben ein Moment der Selbstaufklärung über die eigene Wesensbestimmung zugehört. Es scheint demnach die Behauptung nur wenig übertrieben zu sein, dass Lowths Erhabenheitstheorie Ansätze einer Religionstheorie enthält, freilich einer Religionstheorie im ästhetischen Gewand. Zu dieser Religionstheorie im Modus der Bibelpoetik gehört schließlich auch die Reflexion auf die Sprachlichkeit des Religiösen konstitutiv hinzu. Das religiöse Bewusstsein ist nach seiner kognitiven wie nach seiner affektiven Seite sprachlich vermittelt, verdankt sich bestimmten Formen sprachlicher Darstellung. In Lowth’scher Terminologie heißt das: Die Vorstellungsund die Affektdimension des Erhabenen, sublimitas conceptuum wie sublimitas affectuum, sind nicht zu trennen vom Erhabenen der Ausdrucksweise (sublimitas in dictione). Die Konstitution des religiösen Bewusstseins ist also abhängig von der (erhabenen) Sprachgestalt. Oder noch allgemeiner gesprochen: Das Religiöse bedarf der ihm entsprechenden ästhetischen Form. 237 Prael. 211: »Sublimitas semper habet Admirationem; eamque vel cum gaudio, vel amore, vel odio, vel metu, plerumque conjunctam«.
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Die Erhabenheit (respektive das religiöse Bewusstsein) ist zunächst auf die basale Zeichenfunktion der Sprache angewiesen. Die sublimitas conceptuum kann nur evoziert werden, wenn entsprechende Vorstellungen und Bilder sprachlich aufgerufen werden. Dazu kommt, wie dargelegt wurde, dass bestimmte Wörter aufgrund angelagerter Assoziationen eine Steigerungswirkung erzielen können, die ebenfalls zur ›Erhabenheit der Vorstellungen‹ beizutragen vermag. Außerdem macht sich die Poesie in der ›Wahl der Umstände‹ sprachliche Verdichtungspotentiale zunutze, aufgrund derer das Gedicht seinen Gegenstand auf eine Weise fokussieren kann, die eine besonders konzentrierte und eindrückliche Vorstellung des Göttlichen generiert. Besonders augenfällig ist indessen die Wechselbeziehung zwischen Sprachgestalt und Affektausdruck. Sublimitas in dictione und sublimitas affectuum hängen deshalb besonders eng zusammen, weil Lowth die sprachliche Schlichtheit und Kürze – hier wieder ganz auf den Spuren Longins – als den angemessenen Ausdruck von heftiger seelischer Erregung versteht.238 Darüber hinaus deutet Lowth in unmittelbarer Aufnahme longinischer Theoreme den plötzlichen Wechsel der Personen239 und das Abweichen von den gewöhnlichen Zeitfolgeverhältnissen240 als pathetische Ausdrucksmittel und führt sie an biblischen Beispielen vor. Die sublimitas in dictione rangiert bei ihm mithin vorzüglich als die sprachlich-stilistische Seite der ausdrucksästhetischen Komponente von Erhabenheit. Als Beispiel kann das Exordium des oben bereits angeführten Ps 24 dienen, in dessen einfacher Diktion sich nach Lowth die ehrfürchtige Bewunderung der »höchsten und unendlichen Herrschaft Gottes«241 artikuliert: »Jehovae est, tellus et plenitudo ejus; Orbis, quique eum incolunt: Ille enim supra maria eum fundavit, Et supra flumina eum stabilivit.«242
Des Herrn ist die Erde und was sie erfüllt, der Erdkreis und die darauf wohnen. Er ist’s, der sie auf Meere gegründet, auf Strömen sie festgestellt hat.243
Es lässt sich an diesen Versen noch einmal das Zusammenwirken der verschiedenen Dimensionen des Lowth’schen Konzepts in den Blick nehmen. Nach dem mit dem Gottesnamen sogleich gesetzten Thema von unüber238
Entsprechend kann der hebräischen Dichtung überhaupt ein affektiver Sprachduktus zugeschrieben werden: »Attendenda est poeseos Hebraeae propria indoles; libera est, animosa, plena fervoris et audaciae: poeticam quasi proprium quendam sermonem esse, quo Affectus loquuntur, existimant Orientales« (Prael. 185). 239 Vgl. Prael. 182ff und De subl. 26,1. 240 Vgl. Prael. 185ff (bes. 192) und De subl. 23,1; Lowth nimmt hier auch Bezug auf das Prinzip der enargeia (= evidentia) aus De subl. 15,2. 241 Prael. 361: supremum atque infinitum Dei Dominium, creationis jure fundatum. 242 Ebd.: Ps 24,1f. 243 Ps 24,1f. Übers. Zürcher Bibel.
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trefflicher Erhabenheit (sublimitas rerum) fällt zuerst die sublimitas conceptuum ins Auge, die bildhafte Schilderung des göttlichen Erderbauers anhand eines einzelnen ›Nebenumstands‹ (›die Erde über den Wassern Gründen‹). Diese Schilderung bedient sich einer solch kurzen und schlichten Sprache (sublimitas in dictione), dass aus diesen Zeilen sofort die Ehrfurcht des Sprechers zu hören ist, der dieselben einst entflossen sind (sublimitas affectuum). Die Wirkung der erhabenen Kraft dieser wenigen Worte, die sich nach den drei (bzw. vier) verschiedenen Hinsichten beschreiben lässt, auf das Gemüt des Rezipienten hat wiederum eine kognitive und eine affektive Seite: Die Reflexion auf die ungeheure Größe Gottes – deren Unendlichkeit und eigentliche Undarstellbarkeit hier nicht ausdrücklich wird – und auf die eigene Kleinheit und Endlichkeit wird begleitet von derselben Ehrfurcht vor der göttlichen Majestät, die vormals den Psalmbeter bewegt hat. Diese Ehrfurcht entspringt teils der eigenen Reflexion des Lesers, teils der eigentümlichen Mitteilung des Affekts über das Medium der Sprache. Und sie bringt nach Lowth jenem schließlich auch die geheime Bestimmung des eigenen Gemüts zu Bewusstsein, die Ausrichtung auf die Verehrung des Weltengründers. Wie kaum ein anderer Theoretiker seiner Zeit hat Lowth die wechselseitige Bezogenheit der mannigfachen Komponenten des Sublimen herausgearbeitet und begrifflich festgehalten. Damit widersetzt sich sein Erhabenheitsbegriff augenfällig allen Verkürzungstendenzen in der Forschung.244 Er sperrt sich gegen die Fixierung des Sublimen auf die Wirkungsseite,245 so auch gegen die verbreitete Ansicht, es dominiere in der Bestimmung der Wirkung generell der Aspekt des Schreckens. Der ›angenehme Schauder‹ vor dem Erhabenen scheint zwar bei Lowth bereits einen relativ festen Platz in der Wirkungsbestimmung einzunehmen, entscheidend ist aber nicht die dadurch erreichte Intensität der psychischen Resonanz, sondern ihr religiöser Charakter. Damit ist der Punkt berührt, der im Zentrum der vorliegenden Lowth-Darstellung stand. Ihm hat sie sich nun noch einmal resümierend zuzuwenden, um dabei insbesondere die schrifthermeneutische Bedeutung der Praelectiones auszumessen.
244
S.o. Kap. 1. Diese Fixierung bringt sich auch in der Lowth-Interpretation selbst zur Geltung, etwa wenn D. TILL: Das doppelte Erhabene, die Praelectiones »innerhalb eines angelsächsischen Theoriekontextes« verortet, »in dem wirkungspsychologische Fragen die Oberhand über Probleme der Produktions- oder Textästhetik gewinnen« (185). 245
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4.4. Bibelhermeneutik im Gefolge Longins Der Erhabenheitsbegriff in Lowths Vorlesungen über die heilige Poesie der Hebräer hat – das ist das erste zentrale Ergebnis dieses Kapitels – unbestreitbar eine religiöse Signatur. Dieser Umstand ist angesichts des Vorlesungsgegenstandes an sich nicht sonderlich überraschend – wenngleich er in der Forschung oftmals geflissentlich übersehen wird.246 Bemerkenswert ist indessen, wie Lowth religiöse Motive Longin-Boileau’scher Provenienz aufgreift und zu einem systematischen Konzept von sublimitas formt. Wie ausführlich dargelegt wurde, manifestiert sich die religiöse Signatur des Lowth’schen Konzeptes unmittelbar auf den beiden Ebenen der ›Erhabenheit der Empfindungen‹ (sublimitas in sensibus). Erstens wird die kognitive Seite von Erhabenheit (sublimitas conceptuum) vorzüglich durch Vorstellungen religiöser Gegenstände konstituiert. Wahrhaft erhaben ist nur diejenige Dichtung, welche die Dei Majestas würdig vor Augen stellt. An diesen impliziten Grundsatz schließen sich Reflexionen über die Art und Weise adäquater Darstellung der Hoheit Gottes an. Daher findet sich im Herzen der Lowth’schen Konzeption des Sublimen eine ausgeführte Theorie religiöser Symbolisierung. In dieser Theorie, die Motive der Eigenschaftslehre insbesondere der negativen Theologie aufgreift und ins Ästhetische wendet, sowie in ihrer Verknüpfung mit der sublimitas, womit Lowth auf Kants Analytik vorausweist,247 ist die größte erhabenheitstheoretische Innovationsleistung der Praelectiones zu erblicken. Zur ›Erhabenheit der Vorstellungen‹ gehört demnach die Überschreitung der Vorstellungen auf das Unvorstellbare hin bzw. das gebrochene Vorstelligwerden des Unvorstellbaren. Lowths Erhabenheitstheorie entwickelt an der alttestamentlichen Poesie eine Theorie der Dialektik von Sinnlichkeit und Unsinnlichkeit des religiösen Bewusstseins und fundiert wiederum mit dieser Theorie die Ansicht der hebräischen Dichtung als Phänomen des Ausdrucks von Subjekti-
246 Es ist an dieser Stelle noch einmal exemplarisch auf B. HEPWORTH: Robert Lowth, zu verweisen (s.o. Anm. 35). Hepworth schreckt in seiner Darstellung aufgrund seiner Fixierung auf das Säkularisierungsparadigma vor keinem Anachronismus, vor keiner groben Simplifizierung und überhaupt vor keiner Verzeichnung zurück. Vgl. 94: »Lowth’s Old Testament […] is – in spite of occasional references to heaven that are not remarkable in a man who had his career to make in the church – based on current eighteenthcentury theories of perception. It embodies a ›Sublime‹ – an experience of the infinite – which is not a vision of a veiled God; it is an exploitation of man’s native imaginative resources«; ferner 98: »In Lowth, however, the significant emphasis is upon the prophetic ability of the mind, that is on the creative capacity of the human mind in poetry, to ignore, or mold, Time (and Space), and to make new infinite worlds of its own. For this reason, Lowth is a humanistic theorist, not a Christian.« 247 S.o. ›Systematischer Ausblick‹.
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vität. Vor allem in dieser letzten Hinsicht kann Lowth als Vorläufer von Hegels Ästhetik des Erhabenen gelten.248 Zweitens besteht die affektive Seite von Erhabenheit darin, dass einerseits religiöse Affekte zum Ausdruck kommen (sublimitas affectuum) und dass solche andererseits beim Rezipienten hervorgerufen werden, vor allem jene cum horrore quodam conjuncta admiratio, die sich in Anbetracht der göttlichen Majestät einstellt. Die sprachliche Dimension von Erhabenheit schließlich, die sublimitas in dictione, die sich in der alttestamentlichen Dichtung vor allem als ›schlichte Kürze‹ oder ›gedrängte Fügung‹ fassen lässt, dient nach Lowth zuallererst dem Affektausdruck. In Anknüpfung an Longins Begriff des ›abrupten Erhabenen‹ (hypsos apotomon) und an Boileaus sublime simple werden brevitas und simplicitas des hebräischen Dichtungsstils als Formen authentischer Mitteilung affektiver Erregung entschlüsselt und mithin ebenfalls der ausdrucksästhetischen Perspektive der Lowth’schen Bibelpoetik dienstbar gemacht. Lowth bietet mit diesem differenzierten Erhabenheitsbegriff eine prägnante Beschreibung des »Geistes« der hebräischen Poesie, der durchweg »heiliger«, religiöser Geist ist. Jedenfalls ist es im Kern eine religiöse Kraft religiöser Dichtung, die sich dem Ausdruck religiöser Subjektivität verdankt, und eine entsprechende religiöse Wirkung, die bei Lowth unter dem Titel sublimitas firmiert. Die Kategorie des Erhabenen erhält damit die Signatur einer Synthesekategorie, die gewissermaßen den Schnittpunkt der religiösen und der poetischen Sphäre kennzeichnet, allgemeiner gesprochen: den Schnittpunkt zwischen Religion und Sprache. Das Erhabene ist bei Lowth die poetologische Kategorie, welche die religiöse Potenz dichterischer Sprache beschreibt. Oder anders gewendet: Das Erhabene markiert die poetische Seite der Religion. Indem Lowth seinem aesthetic approach die besagte Synthesekategorie zugrundelegt, gelingt es ihm, auf ästhetischem Wege einen neuen Zugang zu den alttestamentlichen Dichtungen als religiösen Texten zu bahnen. Dank der Leitidee des Erhabenen schließen sich ästhetische und religiöse Schriftlektüre, anders als der literaturwissenschaftliche und der theologische common sense unterstellen, nicht aus. Vielmehr eröffnet die ästhetische Auslegung neue Wege zur religiösen Aneignung der Bibel. Im Lichte dieser Deutung der Praelectiones löst sich der innere Widerspruch, der für gewöhnlich zwischen dem Theologen und dem Ästhetiker Lowth konstruiert wird, auf. Die »seemingly contradictory attributes«249, 248
S.o. ›Systematischer Ausblick‹. D. NORTON: A history of the Bible, 63; vgl. 62: Lowth »is at once an aesthete and a religious moralist, an open-minded investigator and a representative of the old positions«. 249
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die der Gottesgelehrte auf dem Oxforder Poetiklehrstuhl in sich vereint, laufen einander nur scheinbar zuwider. Lowths poetologische Bibelstudien ergeben nicht eine heterogene Mischung »of biblical oil and literary water«250, sondern sie erschließen die poetischen Stücke des Alten Testaments als »Urlaute der Frömmigkeit« (Gunkel)251: als literarische Zeugnisse der innersten, d.h. der religiösen Strebungen des menschlichen Geistes. Versteht man Erhabenheit mit Lowth als Chiffre für den sprachlichen Niederschlag fundamentaler kognitiver und affektiver Regungen des frommen Gemüts, dann wird man sich der Einsicht kaum verschließen können, dass in den Praelectiones »religiöse und ästhetische Interpretation in eins zusammenfallen«252, wie schon Gutzen erkannt hat. Dieser Befund muss aber nicht mit Gutzen für illegitim erklärt werden, wie es die offenbarungstheologische oder säkularisierungstheoretische Prämisse der Unverträglichkeit beider Zugangsweisen gebietet. Es wird an alledem deutlich, dass sich in Lowths Vorlesungen ein bibelhermeneutischer Umbruch anbahnt. Die Ästhetisierung und die damit verbundene Historisierung der Schriftauslegung, wie sie von Lowth erstmals systematisch praktiziert wird, stellt tatsächlich »[a] revolution in biblical studies«253 dar. Aber der betreffende Umbruch bedeutet hinsichtlich der religiösen Valenz der Bibel, anders als die communis opinio insinuiert, keineswegs bloß einen Verlust. Damit ist das zweite wesentliche Ergebnis dieser Lowth-Interpretation angesprochen. Demzufolge dienen die Innovationen der Praelectiones auf dem Feld der Bibelhermeneutik nicht der Desakralisierung, sondern in gewisser Weise einer Resakralisierung der Schriftlektüre. Analog zu entsprechenden Entwicklungen in der pietistischen Schrifthermeneutik254 eröffnet Lowths Bibelpoetik mit ihren ausdrucksästhetischen Ansätzen den Weg für eine psychologische Schriftinterpretation. Die althebräischen Dichtungen werden im Zuge der ästhetischen Auslegung im Zeichen der Erhabenheitsidee durchsichtig auf die ursprüngliche religiöse Ergriffenheit, die sich in ihnen sprachlich manifestiert hat. Die nämliche Ergriffenheit vermag sich nun aber dem derartig sensibilisierten Rezipienten – so Lowths nicht zuletzt von Longin gestützte Überzeugung von der hinreißenden Macht des Erhabenen – über das Medium der Sprache selbst auch wieder mitzuteilen. Dieser Mitteilungswirkung muss die poetologische Analyse des Erhabenen keinen Abbruch tun, im Gegenteil: Indem sie die
250
W. L. REED: A Poetics of the Bible, 156. H. GUNKEL: Art. Psalmen, 1625. 252 D. GUTZEN: Poesie der Bibel, 110. 253 S. PRICKETT: Words, 33. 254 Vgl. U. BARTH: Die hermeneutische Krise des altprotestantischen Schriftprinzips. Francke – Baumgarten – Semler. 251
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hermeneutische Aufmerksamkeit für die unterschiedlichen Dimensionen schärft, in denen sich der religiöse Geist in der alttestamentlichen Dichtung ausspricht, schärft sie den Sinn für diesen Geist selbst. So lenkt die ästhetische Methode den Blick des Lesers von den verhandelten Themen und Wahrheiten auf die religiösen Bilder (sublimitas conceptuum) und Empfindungen (sublimitas affectuum), die in der biblischen Poesie in sprachlicher Verdichtung (sublimitas in dictione) artikuliert werden. Sie lenkt den Blick vom Abstrakt-Unanschaulichen auf das vorstellungs- und erlebnishaft Konkrete der alttestamentlichen Religion und trägt auf diese Weise dazu bei, dass die biblischen Texte zum Vehikel entsprechender Gemütsbewegungen werden. Es kann darum keine Rede davon sein, dass die ästhetische Lektüre zwangsläufig mit einem Profanierungseffekt einherginge. Sie zielt nicht auf ein vordergründiges Vergnügen an den poetischen Stücken des Alten Testaments, vermöge dessen das eigentlich Religiöse in den Hintergrund gedrängt würde.255 Vielmehr geht Lowth in seinem »religiösen, wissenschaftlichen und ästhetischen Ernst«256 offenbar fest davon aus, dass gerade die alttestamentlichen Dichtungen dazu geeignet sind, den zeitgenössischen Bibelleser – so sie seinem ästhetischen und historischen Verständnis zugänglich gemacht werden – mit derselben erschaudernden Bewunderung des Göttlichen in Beschlag zu nehmen, wie sie einst die hebräischen »Seher« erfüllte. Dazu sind sie gerade deshalb geeignet, weil in ihnen nicht unmittelbar »große Erlebnisse des Einzelnen«257 zum Ausdruck kommen, sondern weil sich die betreffenden Erlebnisse darin im Medium der Kunst artikulieren. Wie Lowths Reflexionen über natura und ars zu verstehen geben, gewinnt das individuell Erlebte erst durch den poetischen Prozess seine überindividuelle Bedeutung und Mitteilbarkeit. In den hebräischen Dichtungen hat sich die religiöse Erregung von Einzelnen so zum Typischen verdichtet, dass sie nunmehr geradezu als Urkunden des wesenhaft Menschlichen gelesen werden können. In der Wechselbeziehung von Erleben und Gestalten sind von den alttestamentlichen Dichtern die tiefsten, tief-religiösen Antriebe und Bewegungen des menschlichen Gemüts in Sprache gebracht worden. Nach Lowths Theorie vom Ursprung der Dichtkunst spricht sich in der alttestamentlichen Urpoesie gewissermaßen der menschliche Geist in seiner ursprünglichen kognitiven wie affektiven Bezogenheit auf das Unendliche, auf Gott, aus, und darum vermag sie beim Leser auch nach Hunderten von 255 So D. NORTON: aaO. 61. Solches hätte auch gar nicht den Statuten von Lowths Poetiklehrstuhl entsprochen, die ihrem Inhaber anheimstellten, »quod ad severioris literaturae, tam Sacrae quam Humanae, incrementum conducat« (Prael. 24). 256 F. MEINECKE: Die Entstehung des Historismus, 250. 257 H. GUNKEL: Einleitung in die Psalmen, 70.
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Jahren die entsprechenden Schichten des Gemüts wachzurufen. Und sie vermag ihm damit zugleich Einsicht in die wesenhaft religiöse Ausrichtung seiner Seele zu gewähren. Die hermeneutische Relevanz solcher Gedanken liegt auf der Hand. Der von Lowth entfaltete ästhetisch-religiöse Umgang mit der Bibeldichtung zielt auf die Teilhabe an dem daselbst aufgespeicherten Geist. Der poetologisch instruierte Leser sucht die in Sprache gefassten kognitiven und affektiven Gemütsbewegungen nachzuvollziehen und dabei sich selbst in religiöses Erleben hineinziehen zu lassen. Das heißt aber zugleich: Seine Lektüre richtet sich nicht auf die Erhebung von Lehren. Der aesthetical approach hebt sich mit seinem Interesse an der ästhetisch-religiösen Anschauung, die aus der Symboltheorie spricht, und an der ästhetisch-religiösen Empfindung, von dem die Prominenz des Affektthemas zeugt, deutlich von der dogmatischen Methode der altprotestantischen Theologie ab, sofern diese auf dem Wege der Kombination verschiedener dicta probantia ein Gefüge von Wahrheiten abzuleiten bestrebt war, das auf argumentative Weise überzeugen sollte.258 In dieser Differenz liegt die particula veri der gängigen »antitheologischen« Lowth-Deutung. Es ist aber, dies sei noch einmal eigens herausgestellt, eine Differenz im religiösen Zugang zur Bibel, und insofern geht eine säkularisierungstheoretische Interpretation fehl. »[T]he rediscovery of the Bible as work of literature«259 bedeutet bei Lowth nicht eine areligiöse Orientierung am bloßen literarischen Vergnügen, sondern die Wiederentdeckung der ästhetisch-religiösen Qualitäten der Schrift, also einen neuen Sinn für ihre Potentiale als Quelle frommer Anschauung und Empfindung. Die Anwendung poetologischer Kategorien auf die Bibel verschafft nicht primär neue Wege des Ergötzens, sondern sie erschließt, indem sie zum Nachvollzug der sprachlich repräsentierten Vorstellungen und Affekte anleitet, elementare religiöse Erlebniswelten. Insofern die Tendenz der alten Dogmatik zu einem lehrhaften Religions- und Schriftverständnis Züge eines theologischen Rationalismus trägt, kann demgegenüber jene im Namen des Erhabenen vollzogene Neuausrichtung der Bibelauslegung am Erlebnis des Heili258
Vgl. CH. BULTMANN: Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung. Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes, 81: »Mit seinen Poetikvorlesungen hat Lowth den Weg dahin geebnet, Texte des Alten Testaments nicht als lehrhafte Offenbarung, sondern als poetischen Ausdruck einer religiösen Einsicht zu verstehen, die ihre menschlichen Autoren durch die ursprüngliche Bewunderung der Schöpfung, durch die geschichtliche Erfahrung innerhalb eines bestimmten Traditionsraumes oder durch die prophetische Inspiration gewinnen. Die ästhetische Kritik befreit insofern das Verständnis der Bibel von einer engen Orientierung an der Dogmatik.« 259 S. PRICKETT: Words, 105.
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gen als Resakralisierung bezeichnet werden. Insofern konvergiert Lowths Bibelpoetik mit der schrifthermeneutischen Longin-Rezeption in der pietismusnahen Spätorthodoxie in Deutschland, die im vorangegangenen Kapitel dargestellt wurde.260 Nun mag die Abhebung des Lowth’schen Unternehmens von der altprotestantischen Schrifthermeneutik allzu schematisch und womöglich anachronistisch anmuten.261 Sie scheint aber Anhalt an Lowths Selbstverständnis zu haben. Immerhin macht sie plausibel, warum der Theologe sein poetologisches Projekt in Prael. II explizit von der Theologie abgrenzt. Lowth will als Lehrer der Poetik die alttestamentlichen Dichtungen untersuchen, »soweit es die Methode dieser Disziplin erlaubt«262, in dem Wissen, dass er in jener Funktion »nicht Theologiestudenten die Sprüche der göttlichen Wahrheit darzulegen«, sondern der literarisch geschulten Jugend »die ausgesuchtesten Dichtungen anzuempfehlen«263 habe. Diese Abgrenzung dürfte vorderhand der universitätsorganisatorischen Verortung des Poetiklehrstuhls außerhalb der theologischen Fakultät geschuldet sein. Sie verrät aber auch ein entsprechendes methodisches Differenzbewusstsein. Es kann in einer poetologischen Auseinandersetzung mit den alttestamentlichen Dichtungen nicht um die Entfaltung der in der Schrift verbürgten Glaubenswahrheiten gehen. Vielmehr sieht es Lowth als sein Geschäft an, wie er in derselben Vorlesung formuliert, »ihre Erhabenheit und ihre übrigen Qualitäten recht abzuschätzen«264, »d.h. zu verstehen, wieviel sie hinsichtlich der Erregung der Affekte der menschlichen Seele vermag«265. Nicht die Erhebung ihres Lehrgehalts, sondern ihres religiösen Erlebnispotentials ist das Feld, auf dem die Poetik ihren ureigenen Beitrag zur Erschließung der Bibel leisten kann. Der Grund dafür, dass die fraglichen wissenschaftlichen Bemühungen außerhalb der Theologie situiert werden, ist folglich nicht sachliche Unvereinbarkeit, sondern die herrschende Auffassung von den Obliegenheiten und Grenzen der betroffenen Disziplinen. Insoweit die Theologie ihr Primärziel in einer doctrina ex verbo Dei exstructa erblickt, wie Johann Gerhard klassisch formuliert hat, fällt die Beschreibung biblischer Texte in ihrer 260
S.o. Kap. 3.3. Das Bild würde sich noch differenzieren, berücksichtigte man analoge Entwicklungen innerhalb der theologischen Schrifthermeneutik, wie sie etwa in der pietistischen Applikation der Affektenlehre auf die Bibelauslegung vorliegen (s.o. Kap. 3.3.2). Inwieweit Lowth solches rezipiert hat, wäre näher zu untersuchen. 262 Prael. 28: quantum […] patitur hujusce disciplinae ratio. 263 Vgl. ebd.: »ut meminerim me, non Theologiae studiosis divinae veritatis oracula exponere, sed juventuti in politiori doctrina et literarum elegantiis exercitatae commendare lectissima Poemata«. 264 Prael. 25: ejus sublimitatem caeterasque virtutes recte aestimare. 265 Ebd.: hoc est, quantum in concitandis animi humani affectibus valeat, intellegere. 261
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Eigenschaft, Dokumente und Vehikel religiösen Erlebens zu sein, in die Zuständigkeit nicht der Gottesgelehrsamkeit, sondern der schönen Wissenschaften. Erkennt die Theologie als ihre Aufgabe hingegen die Reflexion auf die »frommen Gemütszustände« (Schleiermacher) und deren Ausdrucksformen – um der altprotestantischen eine klassische neuprotestantische Formel paradigmatisch gegenüberzustellen – und begreift sie die biblischen Texte dementsprechend in erster Linie als Dokumente religiöser Erfahrung, erscheint die Lowth’sche Grenzziehung nicht mehr zwingend. Die in den Praelectiones entwickelte Poetik der hebräischen Dichtung rückt dann in die Entstehungsgeschichte der modernen Religionstheologie und ihrer Bibelhermeneutik ein. Gegen diese Bewertung scheint indessen der theologische Vorbehalt zu sprechen, den Lowth am Ende von Prael. II gegenüber dem eigenen Vorlesungsprojekt formuliert. Bei der poetologischen Auseinandersetzung der Charakteristika der hebräischen Dichtung müsse Vorsicht walten, … ne, si in spatiis Poeticis nimis licenter vagamur, in Theologiae sacraria imprudentes irruamus; quod ne unquam temere fiat, sedulo mihi cavendum statui.266
… dass wir nicht, wenn wir in den poetischen Sphären allzu ungezügelt umherstreifen, ahnungslos in die heiligen Stätten der Theologie eindringen. Dass solches niemals blindlings geschehe, darauf will ich sorgfältig achten.
Lowth bringt metaphorisch die theologische Befürchtung zur Sprache, die Adaption poetologischer Fragestellungen auf die Bibel könne deren Geltung als autoritatives Offenbarungsbuch Abbruch tun. Mit solch profanen Instrumenten in den heiligen Bereich der Theologie »einzudringen« käme einer Entweihung gleich. Wie entgegnet Lowth dieser Befürchtung? Man könnte den zitierten Satz als Aufruf zur Achtung der Grenzen zwischen ästhetischer und theologischer Untersuchungsweise verstehen, als Selbstermahnung zur Beschränkung auf »rein poetologische« Fragen, etwa nach den spezifischen Schönheiten der hebräischen Dichtung und nach dem eigentümlichen Vergnügen, das sie erwecken können, unter sorgfältiger Aussparung der Frage nach dem religiösen Gehalt. Der Satz beinhaltete dann die Maxime, den Wechsel von der theologischen zur ästhetischen Perspektive, den der Theologe und Poetikprofessor Lowth ja auch in seiner eigenen Person vollziehen musste, jeweils möglichst konsequent zu vollziehen, um dann – gewissermaßen nach einem begrenzten (nimis licenter), nur ausnahmsweise unternommenen Ausflug in die profane Sphäre des ästhetischen Ergötzens – unbeeinträchtigt zur dogmatischen Lektüre der Bibel als Offenbarungsquelle zurückzukehren.
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Prael. 30.
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Von der Gesamttendenz der Praelectiones her liegt eine andere Lesart näher. Sie versteht die fragliche Kautel nicht im Sinne eines möglichst berührungslosen Nebeneinanders von poetologischem und theologischem Schriftstudium, sondern im Sinne einer qualifizierten Beziehung. Nach dieser Lesart problematisierte Lowth mit der Wendung vom »allzu ungebundenen« oder »allzu willkürlichen Umherstreifen« (nimis licenter propagari) in ästhetischen Betrachtungen eine theologisch ungebundene, religiös uninteressierte Ansicht der biblischen Poesie, durch welche diese unversehens zur bloßen Literatur entweiht würde. Gerade in der Beschränkung auf »bloße Poetik«, in der Restriktion der Perspektive auf die »reine Form« erblickte Lowth demzufolge die Gefahr einer »versehentlichen« (imprudens) Aushöhlung der religiösen Geltung. Kurz: Lowth artikulierte bereits dieselben Bedenken gegenüber einer ästhetischen Annäherung an die Bibel wie gut 200 Jahre später sein Kritiker Gutzen,267 nämlich die Befürchtung, ein derart falsch verstandener aesthetic approach könne den religiösen Zugang verdrängen und damit die Profanierung der Heiligen Schrift befördern. Lowth zielte mit seiner oben angeführten Bemerkung also auf die Idee einer theologisch gebundenen Poetik der alttestamentlichen Dichtung, die sich dem religiösen Schriftumgang, wie er in den »Heiligtümern der Theologie« betrieben wird, in irgendeiner Weise verpflichtet weiß. Ist diese Deutung richtig, dann ist nach dem vorliegenden Kapitel auch klar, mit welchen Mitteln er dieser Idee gerecht zu werden gedachte. Lowths Schlüssel zu einer religiös interessierten Bibelpoetik ist eine theoretische Leitkategorie, die den Gegensatz von Poetologie und Theologie in gewisser Weise übergreift. Wie festgehalten wurde, besteht die Eigenart der Erhabenheitskategorie seit Longin in einer entsprechenden Synthesestruktur. So kann Lowth mit dem Begriff des Sublimen die komplexe Sprachgestalt der alttestamentlichen Dichtungen analysieren, ohne dabei von ihrem religiösen Gehalt abzusehen. Vielmehr erlaubt es ihm die Analyse im Zeichen der sublimitas, jenen religiösen »Gehalt« auf neue Weise zu fassen. Im Lichte der Erhabenheitsidee wird neben den lehrhaften Inhalten die besondere ›Kraft‹ der biblischen Poesie beschreibbar, die ihr enormes religiöses Anregungspotential ausmacht. Die von Lowth vorgenommene Gegenüberstellung von poetologischer und dogmatischer Schriftauslegung deutet an, dass der Autor der Praelectiones hier zwar eine Differenz, aber keinen ausschließenden Gegensatz empfunden hat. Auch wenn vereinzelt eine gewisse Reserve gegenüber der Dogmatik anklingt,268 hat Lowth selbst die ästhetische Untersuchung allem Anschein nach nicht als Alternative, sondern eher als Ergänzung zur dog267 268
S.o. Kap. 4.1. Vgl. das oben in Kap. 4.3.3.1 angeführte Zitat zur alttestamentlichen Eschatologie.
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matischen Methode angesehen. Sie richtet sich ja mit der Dichtung des Alten Testaments auch nur auf einen begrenzten Teil der Bibel. Für die übrigen, die prosaischen Teile dürfte Lowth mehr oder weniger unverändert die Zuständigkeit der dogmatischen Methode vorausgesetzt haben. Damit gewinnt die literaturwissenschaftliche Unterscheidung von Poesie und Prosa eine schrifthermeneutische Pointe, insofern ihr eine Differenzierung verschiedener Weisen des religiösen Schriftumgangs korrespondiert. In dieser Korrespondenz spiegelt sich der Umstand, dass den Dichtungen der Bibel, insbesondere den Psalmen, seit jeher ein besonderer Rang innerhalb der christlichen Frömmigkeit zukommt und ausdrücklich zugeschrieben wird. So hatte beispielsweise Luther dem Psalter einen hervorragenden Wert für den innerlichen religiösen Vollzug, die »Andacht« des »Herzens«,269 beigemessen und ihn auf diese Weise gleichsam als »Enchiridion«270 der religiösen Innerlichkeit von den übrigen biblischen Büchern abgehoben. In demselben Sinne hat noch Hermann Gunkel den Psalter das »unserm Herz vertrauteste Buch des Alten Testaments«271 genannt. Das angesprochene Phänomen, dass der biblischen Dichtung in besonderem Maße religiöse Anregungsqualitäten eignen, hat Lowth erstmals in umfassender Weise theoretisch zu erfassen versucht. Indem er die in der klassischen Rhetorik wie in der zeitgenössischen Poetik verhandelten Zusammenhänge von Stil und Bildmächtigkeit der Sprache, von Sprachausdruck und Affektausdruck sowie von Sprache und Affektwirkung in seiner Bibelpoetik in Anschlag gebracht hat; indem er die überkommenen Theoreme um symboltheoretische Reflexionen zur sprachlichen Repräsentierbarkeit des unvorstellbaren Göttlichen erweitert und um die longinische Idee einer sprachlich vermittelten religiösen Kraft zentriert hat, konnte er zu derjenigen Textdimension vorstoßen, welche gerade die alttestamentliche Dichtung für die Konstitution religiöser Innerlichkeit prädestiniert: zu ihrer eigentümlichen Aura, ihrem einzigartig ›hohen Geist‹. Mag der »Entdecker des Parallelismus« auch in exegetischen Einzelfragen bahnbrechend gewirkt haben – seine vortrefflichste Leistung ist es, diese ästhetisch-religiöse Theorieperspektive erschlossen zu haben. Aufgrund dessen kommt den Praelectiones, deren zentrale Einsichten auf die Bibelauslegung Herders, de Wettes und Gunkels sowie auf die Auslegungstheorie Diltheys vorausweisen, epochale schrifthermeneutische Bedeutung zu. Es ist deutlich geworden, dass sich diese schrifthermeneutische Bedeutung von Lowths Vorlesungen wiederum deren elaborierter Erhabenheits269 Vgl. Luthers Psalmenvorreden: M. LUTHER: Psalmen-Auslegung, 1ff (passim). So findet man Luther zufolge im Psalter »für alles, was ein andächtig Herz zu beten wünschen kann, Psalmen und Worte« (6). 270 AaO. 3. 271 H. GUNKEL: Einleitung in die Psalmen, 9.
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theorie verdankt. Der von Longin und Boileau bezogene Begriff der sublimitas ermöglichte es dem Inhaber des Oxforder Poetik-Lehrstuhls – »that morning star of biblical criticism«272 – an den Dichtungen des Alten Testaments eine nicht lehr-, sondern erlebnisorientierte Schriftlektüre zu etablieren, bei der die alttestamentliche Poesie als Schatz archetypischer religiöser Erfahrung zur Geltung kommt, die sich durch sprachliche Mitteilung je und je aufs neue zu aktualisieren vermag. In der Applikation auf die Heilige Schrift hat Lowth die »religionspoetologische« Erschließungskraft des Erhabenen in einer bis dato unerreichten Entschlossenheit und systematischen Schlüssigkeit aufgewiesen. Es ist dies sicher einer der entscheidenden Gründe, warum Lowths »schönem und allgepriesenem Buch« (Herder) auch im Deutschland des 18. Jahrhunderts große Aufmerksamkeit zuteil geworden ist.273 272 T. K. CHEYNE: Job and Solomon or The Wisdom of the Old Testament, London 1887, VIII, zit. n. R. SMEND: Der Entdecker, 199. 273 Siehe zur Wirkungsgeschichte R. SMEND: Lowth in Deutschland. Der nach eigener Einschätzung des Autors »sehr unvollständige Bericht« (43) konzentriert sich auf die Beziehung zwischen Lowth und dem Göttinger Alttestamentler und Orientalisten J. D. Michaelis sowie auf die Lowth-Rezeption Herders, um schließlich einige Bemerkungen zur Aufnahme von Lowths Jesaja-Kommentar anzufügen. Lowths ästhetischer Ansatz ist laut Smend in der deutschen Wissenschaft des Alten Testaments eigentlich erst durch H. Gunkel zur Geltung gebracht worden (vgl. 62). Eine umfassendere Untersuchung der Wirkung der Praelectiones in der deutschen Exegese und Ästhetik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (und mithin der Verschränkung von Theologie- und Ästhetikgeschichte) wäre ein reizvolles Unterfangen. Hier wäre neben M. Mendelssohn etwa der Theologe J. F. W. JERUSALEM näher in den Blick zu nehmen, dessen Briefe über die mosaischen Schriften und Philosophie (1762) im vierten Brief ›Von der Schreibart des Ersten Buchs und der Ersten Capitel in demselben insbesondre‹ eine Fortbildung von Theoremen »des Herren Lowth« (95) enthalten, die schon in Richtung der Herder’schen Anverwandlung der Praelectiones geht. Auch nach Jerusalem bezeugt und erweckt das Erhabene der biblischen Poesie das »lebhafte Gefühl von der göttlichen Majestät« (93). Es prägt ihm zufolge die gesamte mosaische Urgeschichte und weist – das ist das exegetisch Zukunftsweisende – religionsgeschichtlich in vormosaische Zeit zurück. Eine Replik auf Jerusalems Lowth-Rezeption ist die Königsberger theologische Dissertation von J. G. LINDNER: De eo, quod est poeticum in Sacra Scriptura (1773), über weite Strecken ein Exzerpt der Praelectiones. Lindner schränkt mithilfe der Lowth’schen Kriteriologie des Poetischen Jerusalems Behauptung der Poetizität der mosaischen Urgeschichte ein, weil er darin eine Gefährdung von deren Wahrheitswert erblickt (vgl. 40ff). Ferner wäre J. G. SULZERs Allgemeine Theorie der schönen Künste von 1771 zu berücksichtigen. Hier heißt es im Art. ›Erhaben‹: »Daß große Vorstellungen bisweilen erst durch Entwiklung Erhaben werden, weil wir sie ohne diese nicht fassen oder abmessen könnten, beweisen die schon vorher angeführten Beyspiele von der Ewigkeit überhaupt, und besonders von der Ewigkeit Gottes. […] Die Poesien der Hebräer geben unzählige fürtrefliche Beyspiele von solcher Erhebung der Vorstellungen« (Bd. 1, 348). Die Anmerkung zur Stelle verweist auf Prael. XIIIff der Lowth’schen Vorlesungen. Die Praelectiones werden ebenfalls im Literatur-Anhang zum Erhabenheits-Artikel aufgeführt, der diesem in der zweiten Auflage von 1792 folgt: Bd. 2, 114. – Siehe ferner A. CULLHED: Original Poetry, 43ff. Lowths Einfluss auf die englische Frühromantik skizziert S. PRICKETT: Words, 114ff.
5. Poetik der Unsterblichkeit: Friedrich Gottlieb Klopstock 5.1. Die Rede über die epische Poesie Anlässlich seines Abganges von der Fürstenschule Pforta hält der 21-jährige Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) am 21. September 1745 die Valediktionsrede. Das selbstgewählte Thema des lateinischen Vortrags verrät sein Titel: Declamatio qua poetas epopoeiae auctores recenset F. G. K. – ›Redeübung, in welcher F. G. Klopstock die epischen Dichter durchmustert‹. Auf der Suche nach wahrer poetischer Größe schreitet der Redner die Länder Europas ab, um schließlich das brennende Verlangen nach einem großen deutschen Nationalepos kundzutun. In hochgestimmtem Ton und mit nicht weniger hohem Selbstbewusstsein spielt der Abiturient damit auf das eigene Messias-Projekt an. Indes dokumentiert Klopstocks Declamatio nicht nur die enthusiastischen Pläne des jungen Genies, sondern zugleich auch das poetologische Ideal, das jene Pläne befeuert. »Diese Abiturientenrede hat im Grunde nur einen einzigen Begriff, mit dem die bisherige hohe Dichtung bewertet, und durch den das Bild der kommenden, noch größeren Poesie bestimmt wird: den des Erhabenen.«1 Mit besagtem Begriff offenbart der frühe poetologische Versuch Klopstocks, der später als »Vater der modernen deutschen Lyrik«2 gelten wird, bereits die Idee, die zeitlebens im Zentrum seines Denkens und Schaffens stehen und die für die Wirkung seiner Dichtung auf die deutsche Klassik und darüber hinaus maßgeblich sein wird. »Der Gedanke des Erhabenen prägt Klopstocks gesamte Dichtungsauffassung und bestimmt bis in die Gegenwart die Rezeption seines Werkes.«3 Diese Einsicht hat sich freilich erst im Zuge der allgemeinen Neuentdeckung jenes Gedankens in Philosophie und Literaturwissenschaft seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts durchgesetzt. Noch in der großen Monographie von Gerhard Kaiser aus dem Jahre 1963 beispielsweise spielt die Erhabenheitskategorie keine 1
K. VIËTOR: Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur, 248. K. KOHL: Klopstock und das Erhabene in der Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts, 57. 3 AaO. 55. Vgl. auch die anderen Beiträge des Bandes: Das Erhabene und die Dichtung: Klopstock und die Folgen. 2
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Rolle.4 Erst Katrin Kohl hat sich dem Thema 1990 (engl.)5 und 1997 (dt.)6 eigens zugewandt. Zur Kontur des fraglichen Begriffs bei Klopstock bieten ihre Arbeiten allerdings nur knappe Bemerkungen. Vermöge des Einflusses von Peri Hypsous fokussiere Klopstock mit dem Erhabenen das »rhetorische Ziel der höchsten Stilebene, das movere«7. Kohl weist in diesem Zusammenhang auch auf einen religiösen Aspekt hin, wenn sie notiert, dass für Klopstock das Gedicht »vor allem ein Mittel [ist], den Dichter sowie die Leser zu Gott emporzuheben«8. Auch nach Ansicht von Joachim Jacob9 bezeichnet Klopstocks longinischer Erhabenheitsbegriff die besondere Wirkmächtigkeit poetischer Sprache. Diese mache sich Klopstocks Dichtung für religiöse Zwecke zu eigen, in der Überzeugung: »Das Heilige muß poetisch werden, weil die Verlebendigung des christlichen Geistes erst durch die bewegende Kraft des erhabenen Wortes ›wirklich‹ wirksam wird.«10 Ferner hat Bernd Auerochs11 hervorgehoben, dass die Bibel die zweite wichtige Quelle für Klopstocks Dichtungsideal darstellt. In Aufnahme von Longins Konzept schlichter Erhabenheit sowie von dessen Bewertung der mosaischen Genesis gelte Klopstock die Heilige Schrift als »Meisterin in der Kunst, mit wenigen Worten das Erhabene zu sagen«12. Sie sei für ihn zudem Inbegriff und Vorbild einer Poesie, die darauf aus sei, mittels solcher Erhabenheit »die ganze Seele eines Christen mächtig in Bewegung zu setzen«13. 4
G. KAISER: Klopstock. Religion und Dichtung. Dies gilt auch noch für das einschlägige Kapitel im literaturgeschichtlichen Lehrbuch von P.-A. ALT: Aufklärung (1996). Im Klopstock-Teil des Kompendiums von H.-G. KEMPER: Die deutsche Lyrik in der der Frühen Neuzeit, Bd. VI/I: Empfindsamkeit (1997) fällt der Erhabenheitsbegriff des öfteren (467, 470, 483, 494), bleibt aber unerläutert. 5 K. KOHL: ›Wir wollen weniger erhoben, und fleißiger gelesen sein‹: Klopstock’s Sublime Aspirations and their Role in the Development of German Poetry; DIES.: Rhetoric, the Bible, and the Origins of Free Verse. The Early ›Hymns‹ of Friedrich Gottlieb Klopstock. 6 K. KOHL: Klopstock und das Erhabene (1997). Vgl. DIES.: Friedrich Gottlieb Klopstock (2000), 55f. 7 K. KOHL: Klopstock und das Erhabene, 56. 8 AaO. 57. 9 J. JACOB: Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland (1997). 10 AaO. 141. 11 B. AUEROCHS: Die Entstehung der Kunstreligion (2006). 12 AaO. 196. 13 AaO. 201. Ansonsten ist noch der Aufsatz von M. NENON: The Psychology of the Sublime: On the Function of Poetry in Klopstock’s Aesthetic Essays (1998) zu nennen. Anders als es der Titel erwarten lässt, beschäftigt er sich mit dem Erhabenen konkret nur in einem Absatz, der in die Aussage mündet: »The language of the sublime is located at a higher level and is appropriate for the elevated object of poetry – themes such as religion, love, friendship, and fatherland« (115). Die entscheidende Innovation von Klopstocks Dichtungsauffassung sieht Nenon darin, dass sie der Poesie die Leistung der Vermittlung
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Der kurze Blick auf die Forschung lässt erkennen, dass bei Klopstock die wesentlichen Motive der ästhetisch-religiösen Renaissance des Erhabenen, wie sie in der vorliegenden Untersuchung nachgezeichnet worden ist, wieder begegnen. Der longinische Theorieimpuls14 bekommt durch eine bibelhermeneutische Perspektive15 ein eigentümlich christlich-religiöses Gepräge, so dass das mit dem Erhabenen angesprochene Wirkungspotential der Rede – mit modernen Mitteln erkenntnistheoretisch und psychologisch reflektiert16 – zum Ausgangspunkt eines Konzeptes religiöser Sprache wird, das auf die Weckung christlicher Gemütsbewegungen zielt.17 Es wird im Folgenden darum gehen, die genannten Motive auf der Basis der bisherigen Ergebnisse dieser Arbeit in ihrer spezifisch Klopstock’schen Prägung näher zu beschreiben. Dabei soll im Rekurs auf die poetologischen Schlüsseltexte Klopstocks die Signatur des Erhabenheitsbegriffs prägnanter gefasst werden, als dies in der Sekundärliteratur bislang erfolgt ist. Für die Leitfrage nach dem Verhältnis von ästhetischem und religiösem Aspekt wird sich einmal mehr die in der Peri-Hypsous-Interpretation des ersten Teils gewonnene Einsicht in den Synthesecharakter des longinischen Erhabenen als weiterführend erweisen. 5.1.1. Die Transzendierungsleistung der Dichtung Mit der Kategorie des Erhabenen war Klopstock wohl zuerst durch die Lektüre der zeitgenössischen Rhetoriklehrbücher18 und der lateinischen Rhetoriker bekannt geworden, die fest zum humanistischen Bildungskanon von Schulpforta gehörten.19 Aber auch in den dichtungstheoretischen Schriften der Zeit, die der poesiebegeisterte Schüler studierte, war ihm das Erhabene begegnet; hier allerdings weniger in Gestalt des stilus sublimis der klassischen Dreistillehre als in der modifizierten Fassung, wie sie die Poetik der Schweizer prägte. So schreibt Klopstock in seinem berühmten ersten Brief an Johann Jakob Bodmer20 (vom 10. August 1748) im Rückblick auf seine Schulzeit:
»[of] the soul’s awareness of itself« (113) zuschreibe. Diese Interpretation enthält einen interessanten poetologischen Gedanken, ist aber als Klopstock-Interpretation nicht hinreichend belegt und wirkt anachronistisch. 14 S.o. Teil I. 15 S.o. Kap. 1.1.4, Kap. 3.3 und Kap. 4. 16 S.o. Kap. 2.2. 17 S.o. bes. Kap. 2.3 und Kap. 3.5. 18 Siehe dazu D. TILL: Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. 19 Vgl. K. KOHL: Klopstock, 26f. 20 Zum Kontakt zu Bodmer siehe H.-G. KEMPER: Empfindsamkeit, 424ff.
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Nempe adolescenti puero Homerumque et Virgilium legenti, et subirascenti iam criticis Saxonum scriptis, Tua mihi Breitingerique scripta critica in manus venere. Lecta semel, seu hausta potius, cum ad dextram Homerus essent Virgiliusque, ad sinistram deinde, semper evolvenda, iacuere. Quam saepe tunc desideravi promissam Tuam de Sublimi tractationem, et adhuc desidero.21
Denn als ich in jungen Jahren Homer und Vergil las und mich schon über die kritischen Schriften der Sachsen zu ärgern anfing, da kamen mir Ihre und Breitingers kritische Abhandlungen in die Hand. Als ich sie gelesen oder vielmehr verschlungen hatte, lagen sie, wenn ich zur Rechten Homer und Vergil hatte, zum Nachschlagen immer zur Linken bereit. Wie oft habe ich dann Ihre versprochene Abhandlung über das Erhabene herbeigesehnt und tue es noch!
Bodmer und Breitinger hatten in ihrer Schrift Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft von 1727 einen Longin-Kommentar in Aussicht gestellt. In Erläuterung und Kritik Longins, »so der eintzige ist, der über diese Materie geschrieben hat«, sollte dieser Kommentar »durch gültige Schlüsse« »gantz neue Begrieffe von dem Erhabnen«22 entwickeln, um der Züricher Poetik eine durchgeklärte Zentralkategorie zur Verfügung zu stellen. Klopstock erwartet den versprochenen Kommentar (der nie erscheinen sollte) schon zu Schulzeiten mit Spannung, und auch 1748 hat er die Hoffnung auf jenes Werk wohl noch nicht aufgegeben. Jedenfalls scheint ihn die inzwischen veröffentlichte Skizze, auf die ihn Bodmer offenbar hingewiesen hat – gemeint sind die Lehrsätze von der erhabenen Schreibart, die 1746 in den Critischen Briefen abgedruckt worden sind23 – nicht recht zufrieden gestellt zu haben. Am 2. Dezember 1748 schreibt Klopstock an Bodmer (nun bereits im privateren Deutsch): Ihren Entwurf vom Erhabnen habe ich schon ehmals gelesen. Mein Verlangen, das ich Ihnen entdeckt habe, ist auf eine weitere Ausführung dieses mehr als longinischen Entwurfs gegangen. Mich deucht, es ist Ihrer würdig, den hohen Longin zu übertreffen.24
Wie schon als Schüler hegt der Student Klopstock ein Verlangen nach »weiterer Ausführung« des Erhabenheitsbegriffs, der ihm, wie die Valediktionsrede zeigt, längst zur kardinalen poetologischen Kategorie geworden ist. Es fragt sich, wie jener Begriff, der Klopstock offenbar auch 1748 noch nicht in gewünschter Klarheit vor Augen steht, für den Portenser Schüler überhaupt eine so zentrale Bedeutung erlangen konnte. Bei den Schweizern dürfte Klopstock immerhin die richtungsweisende Bedeutung des Erhabenen ge21
F. G. KLOPSTOCK: Briefe 1738–1750, 14. Übers. H. GRONEMEYER (201). J. J. BODMER/J. J. BREITINGER: Von dem Einfluß und Gebrauche der EinbildungsKrafft (1727), Vorrede (unpag.). 23 S.o. Kap. 3.4.3. 24 F. G. KLOPSTOCK an J. J. Bodmer, 2. Dezember 1748, in: Ders.: Ausgewählte Werke, 1073. 22
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spürt haben25 – materiale Explikationen dieser Kategorie suchte er hier vorerst vergebens. Von J. I. Pyra las Klopstock wahrscheinlich schon in Schulpforta den Tempel der wahren Dichtkunst.26 Hier hat er sicher etwas von dem Erhabenheitsenthusiasmus empfunden, der den Hallenser Dichtertheologen beseelte, und hat sich von dessen Versen auf »die hohe Bahn der wahren Dichtkunst«27 tragen lassen und das Ideal »heilger Poesie«28 gefasst. Aber für die Gewinnung eines konturierten Begriffs vom Erhabenen konnte Pyras Poesie nicht dienen – und seine einschlägigen theoretischen Erörterungen konnte Klopstock nicht kennen.29 Ferner kommt auch die rhetorische Dreistillehre als bestimmende Quelle für Klopstocks Erhabenheitsverständnis eigentlich nicht infrage. Denn dass er das Erhabene nicht in erster Linie als Stilkategorie auffasst, wird bei der Lektüre der Declamatio schnell deutlich. Abgesehen von Carl Heinrich Heineken, dessen Untersuchung was Longin durch das Erhabene verstehe (im Anschluss an seine Longin-Übersetzung von 1737 gedruckt) die Kategorie schon entschieden von der Sphäre des Stilistischen abhebt,30 war Longin bis 1746 für Klopstock wohl immer noch »der eintzige«, der ausführlich und instruktiv »über diese Materie geschrieben«31 hatte. Bei Longin konnte der junge Poet ersten Aufschluss über den zentralen Begriff der Schweizer finden. Wie bei so vielen dürfte sich also auch bei ihm das keimende Leitbild ›hoher‹ Dichtung tatsächlich am »hohen Longin« genährt haben.32 Allerdings scheint auch Klopstock den so oft bemängelten Makel des Traktats Peri Hypsous empfunden zu haben: die notorische Unbestimmtheit seiner Zentralkategorie, die den Wunsch nach einem »mehr als longinischen Entwurf« offenließ.
25
S.o. Kap. 1.2.4. Vgl. G. KAISER: Klopstock, 128. 27 J. I. Pyra: Der Tempel der wahren Dichtkunst, I,95f. 28 AaO. I,81. 29 Vgl. zu Pyra oben Kap. 3. 30 S.o. Kap. 3.1. 31 J. J. BODMER/J. J. BREITINGER: aaO. Pyras Aufzeichnungen waren unabgeschlossen und unveröffentlicht geblieben, und für die Lektüre von Boileaus Réflexions critiques (s.o. Kap. 1.1) dürften Klopstock die Französischkenntnisse gefehlt haben. 32 Dass Klopstock Longins Traktat tatsächlich nicht nur vom Hörensagen kannte, sondern immerhin eine Ausgabe von Peri Hypsous besaß, belegt ein Brief vom 30. 9. 1749 an den Verleger Hemmerde in Halle, in dem es um Bedingungen für den Druck des Messias geht. Dort heißt es: »Ich […] nehme überhaupt Ihre Vorschläge an bis auf diese kleinen Änderungen. 1) Machen Sie den Oct so groß, als die deutsche Übersetzung des Longins vom Erhabnen ist« (Briefe 1738–1750, 61). Die einzige deutsche LonginÜbersetzung ist seinerzeit diejenige von C. H. HEINEKEN: Dionysius Longin: Vom Erhabenen, 1. Aufl. Leipzig/Hamburg 1737, 2. Aufl. Leipzig/Hamburg 1738, 3. Aufl. Dresden 1742, 4. Aufl. Basel 1784. Ein Exemplar des antiken Traktats befand sich in Klopstocks nachgelassener Bibliothek; siehe G. KAISER: Klopstock, 135f. 26
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Mangels eines solchen Entwurfs zur Eigenständigkeit gezwungen, gelangt nun freilich auch der Abiturient Klopstock nicht eben zu einer prägnanten Fassung des Erhabenen. Die Declamatio hat »im Grunde nur einen einzigen Begriff« (Viëtor), aber dieser Begriff bleibt vage. Schon die Vielzahl der lateinischen Termini, mit denen Klopstock den unausgesetzt herrschenden Enthusiasmus des Hohen zum Ausdruck bringt, indiziert diese Vagheit. Es wird gewissermaßen das gesamte metaphorische Arsenal rings um den Begriff der ›Höhe‹ abgerufen, um das Erhabenheitsthema durchgängig präsent zu halten.33 Mag diese Vielfalt auch vornehmlich rhetorischem Variationswillen geschuldet sein, so spiegelt sich doch in der terminologischen auch eine begriffliche Unbestimmtheit. – Nichtsdestoweniger gewisse Konturen von Klopstocks frühem Erhabenheitsideal freizulegen ist das Ziel der folgenden Interpretation.34 Bereits Klopstocks erster Satz, der in hymnischem Ton das Lob der Dichtung anstimmt, gebraucht den Begriff sublimitas: Si quicquam ob amplitudinem suam et sublimitatem humano ingenio dignum est existimandum; si in augustam rerum seriem quicq[u]am mentem introducit, atque ibi exspatiatam immortali volupta-
Wenn irgendetwas wegen seines großen Umfangs [oder: wegen seiner Weite; wegen seiner Großartigkeit] und seiner Erhabenheit [oder: Höhe] als des menschlichen Geistes würdig befunden werden
33 Neben sublimitas findet sich (jeweils mit Derivaten) vor allem excellentia (›Hervorragen‹), außerdem eminentia (›Hervorragen‹: 151, 153, 160, 164), elevatio (›[sich] Emporheben‹: 162), culmen (›Gipfel‹: 158), fastigium (›Höhepunkt‹, ›Gipfel‹: 162), altus (›hoch‹: 161) und arduus (›steil‹, ›hoch‹: 146) und ex- und adsurgere (›[sich] erheben‹: 147, 148, 161). Weitere Termini, die die anvisierte Steigerung hinsichtlich Qualität und Rang artikulieren, sind majestas, magnitudo, magnificentia, perfectio, amplitudo (mit Derivaten), gravitas, ferner die Adjektive augustus und ingens. 34 Vgl. dazu die Auslegung von J. JACOB: Heilige Poesie, 114ff. – Es sei hier ein kurzer Überblick über die Declamatio gegeben. Sie hebt an mit einem allgemeinen Lob der Poesie, das in eine Verherrlichung der biblischen Poesie mündet: Mose, Hiob, David, Salomo und schließlich der »Sohn Gottes selbst« werden als Vorbilder einer »heiligen« Poesie vorgeführt, die Gott selbst als Sprachrohr für seine Offenbarung dient. Dann schwenkt die Rede auf ihr eigentliches Thema ein und schreitet, nach dem Ausweis der Exzellenz der Gattung des Epos, die großen Ependichter Europas ab. Das unerreichte griechische Urbild, Homer, führt die Reihe an, gefolgt von seinem römischen Nachahmer Vergil; die Italiener Tasso und Marino finden Erwähnung, bevor sich die Declamatio nach England wendet, um sogleich lange bei ihrem zweiten großen Idol, bei Milton zu verweilen. »Von diesem Gipfel« (Decl. 162: ex hoc Britannorum fastigio) steigt die Rede hinunter nach Frankreich, wo lediglich Fénelon mit Beifall bedacht wird, bis, nach kurzer Abschweifung in die Niederlande, der eigentliche Tiefpunkt erreicht ist: Deutschland. Dies ist das einzige Land, das immer noch des Sängers harrt, der ein großes deutsches Epos zu schaffen in der Lage ist. Die Declamatio endet mit einer Danksagung: mit einem Dankgebet an Gott, gefolgt von dem Dank an den Landesherrn und die »Väter« und Kommilitonen von Schulpforta.
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te perfundit: illud sane praecipua ac princeps naturae imitatrix, poesis est…35
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muss; wenn irgendetwas das Gemüt [oder: den Geist, die Seele] in die ehrwürdige Reihe der Dinge einführt, und, daselbst ausschweifend, mit unsterblicher Lust erfüllt: so ist es fürwahr jene vorzügliche und vornehmste Nachahmerin der Natur: die Dichtung…
Klopstocks Lob der Poesie bedient sich der seinerzeit geläufigsten kunsttheoretischen Bestimmung, indem es die Dichtung als naturae imitatrix apostrophiert. Kunst und mithin auch Poesie ist ›Nachahmung der Natur‹, wie seit Aristoteles jeder Gebildete weiß. Weniger trivial ist, was dieser Bestimmung vorausgeht. Der Dichtung eignet als »vornehmster Nachahmerin der Natur« eine besondere ›Weite‹ (amplitudo) und ›Höhe‹ (sublimitas). Oder ins Axiologische gewendet: Es kommt ihr der Rang besonderer ›Großartigkeit‹ (amplitudo) und ›Erhabenheit‹ (sublimitas) zu. Denn indem sie durch ihre Naturnachahmung dem menschlichen Geist die »ehrwürdige Reihe der Dinge« vor Augen stellt, lässt sie ihn »ausschweifen« und erfüllt ihn »mit unsterblicher Lust«. Diese Wendungen sind im Zusammenhang des Nachahmungstheorems ungewöhnlich. Traditionell wurde die Lust an der nachahmenden Kunst als Lust an der Ähnlichkeit von Vorbild und Abbild begriffen. Hier hingegen scheint die Lust der Poesie darin zu liegen, dass sie dem Gemüt zu einer gewissen »Erweiterung« und »Erhöhung« verhilft, und darum hat sie auch in vorzüglicher Weise als »dem menschlichen Ingenium würdig« zu gelten. In dieselbe Richtung weisen andere Formulierungen der Declamatio. Wo Klopstock auf die biblischen Dichter zu sprechen kommt, heißt es über Hiob: Sic ingenti quadam et summa laetitia unusquisque adficitur, qui mentem magna sentiendi aptam a Deo nactus, amplissimum illum, qui narratione Jobi aperitur, campum ingreditur. Hic […] mille miracula, augustamque rerum stupendarum seriem ob oculos ponit…36
So wird ein jeder, der von Gott einen Geist empfangen hat, Großes zu empfinden, von einer geradezu ungeheuren, höchsten Freude ergriffen, wenn er jenes höchst weite Feld betritt, das sich in Hiobs Erzählung auftut. Dieser stellt ihm tausend Wunder, eine ehrwürdige Reihe erstaunlicher Dinge vor Augen…
Die endlose Bilderfolge, mit der im Buch Hiob nicht nur die Klage Hiobs und die Nichtigkeit des Menschen, sondern vor allem die gewaltigen Werke Gottes besungen werden,37 führt den Geist auf »weitestes Feld«, einen Geist wenigstens, dem die Gabe gegeben ist, »Großes zu empfinden«. Es erscheint 35 Decl. 145 (Übers. M.F.). Die Übersetzung lehnt sich im Großen und Ganzen an diejenige von A. FREYBE an. 36 Decl. 148. 37 Vgl. z.B. Hiob 9,5ff.
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hier nicht eben abwegig, an den ›Eros des Großen‹ bei Longin zu denken: an die Vorstellung eines der Seele eingepflanzten Trachtens nach dem Großen und nach dem Transzendieren ihrer natürlichen Schranken. »Darum genügt dem kühnen Streben des menschlichen Betrachtens und Denkens nicht einmal der ganze Kosmos«, heißt es in Peri Hypsous, »sondern häufig überschreiten (ekbaínein) unsere Gedanken die Grenzen dessen, was uns umgibt.«38 Gerade Klopstocks Wendung vom ›Ausschweifen‹ des Geistes (exspatiari) erinnert an das longinische ekbainein der Gedanken.39 Es wird dem menschlichen Geist sogar eine ›fast göttliche Kraft‹40 attestiert, sich über seinen unmittelbaren Gesichtskreis zu erheben. Klopstock dürfte hier, ganz im Sinne seiner poetologischen Lehrer Bodmer und Breitinger, vorwiegend an die Einbildungskraft denken, mittels derer sich der Mensch Dinge vergegenwärtigen kann, die seinen Sinnen nicht unmittelbar gegeben sind.41 Dank dieser Kraft kann auch der Künstler und insbesondere der Dichter die ›Natur nachahmen‹, d.h. er kann dem Geist durch seine dichterische Darstellung ganze ›Reihen‹ von Dingen vor Augen stellen und ihn über den engen Horizont seiner Sinne hinausführen. Und mehr noch: Er kann auf diese Weise in Gefilde vordringen, die den menschlichen Sinnen generell unzugänglich sind. Darum stellt Klopstocks Exposition dem ersten Epitheton der Poesie (naturae imitatrix) ein zweites zur Seite und spricht präzisierend von jener Dichtung, … quae tanquam ceterarum omnium artium regina incedit, novoque res ordine ita componit, ut, pulcritudinis ubique naturalis ac perfectionis summae studiosa, creatricis nomine insignienda esse videatur.42
… die gleichsam als Königin aller übrigen Künste einherschreitet und die Dinge in neuer Ordnung zusammensetzt, so dass sie, überall nach natürlicher Schönheit und höchster Vollkommenheit strebend, mit dem Titel einer Schöpferin belegt werden zu müssen scheint.
Mit der doppelten Apostrophierung der Dichtung als naturae imitatrix und creatrix erweitert Klopstock den Begriff der Naturnachahmung um das Moment des Schöpferischen – und wandelt auch hier ganz auf den Spuren der Schweizer. Breitinger beispielsweise hatte den Dichter »als einen weisen Schöpfer einer neuen idealischen Welt oder eines neuen Zusammenhangs 38
De subl. 35,3 (Übers. M.F.). Vgl. oben Teil I/Kap. 3.2.3. Neben der bereits zitierten Exposition findet sich diese Wendung noch einmal; dort nämlich, wo Klopstock das epische Gedicht als höchsten Fall der hohen Dichtung preist: »Ecce campum, in quo maxima quaeque et excellentissima mens exspatiari, ingeniique humani divinam paene vim ostendere potest« (Decl. 152). 40 Ebd.: divinam paene vim. 41 Der Begriff dürfte dem Schüler Klopstock aus seiner Wolff-Lektüre (vgl. K. KOHL: Klopstock, 29) vertraut gewesen sein; vgl. DM § 229. 42 Decl. 145. 39
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der Dinge«43 charakterisiert. Der Poet, so die Züricher Lehre, ist mit seiner Nachahmung nicht strikt an die reale ›Natur‹, die wirkliche Welt, gebunden, sondern er kann durch die treffliche Auswahl und »Zusammenordnung«44 von Einzelelementen und Einzelzügen die Natur idealisieren.45 Mit dem ihm eigenen Schöpfungsvermögen kann der Dichter sogar »übersinnliche« Welten darstellen, Regionen, »welche ausser unserer Sphär liegen«46. Wenn Klopstock die Zusammensetzung der Dinge »nach neuer Ordnung« sowie das Streben nach »natürlicher Schönheit und höchster Vollkommenheit« als besondere Eigenschaften der poesis creatrix herausstellt, scheint er vorwiegend ihre Idealisierungsleistung im Auge zu haben. Die in der ›Natur‹ vorfindliche Schönheit wird nicht einfach »abgemalt«, sondern durch neue ›Zusammenordnung‹ (Bodmer) schöner Elemente wird eine höhere, »höchste Vollkommenheit«47 poetisch erschaffen. Poesie ist Schöpfung »einer neuen idealischen Welt« (Breitinger) höchster Schönheit. Dass Klopstock mit dem Gedanken poetischer Schöpfung zudem jene spezifische Transzendierungsleistung verbindet, die Bodmer vor allem im Blick auf den »erhabenen Milton«48 ausgewiesen hatte, legt sich angesichts der Metapher vom ›ausschweifenden Geist‹ nahe. Die ›Großartigkeit‹ und ›Erhabenheit‹ der Dichtung besteht, so viel sich anhand der wenigen bisher interpretierten Stellen sagen lässt, in ihrer Fähigkeit, den Geist durch die schöpferische Darstellung von Dingen aus der irdischen und überirdischen Sphäre in Gefilde zu erheben, die jenseits seines gewöhnlichen begrenzten Horizonts liegen; in Regionen, wo ihm eine Schönheit und Vollkommenheit begegnet, die höher ist als alles, was ihn in
43
J. J. BREITINGER: Critische Dichtkunst (1740), 426. J. J. BODMER: Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde der Dichter (1741), 19; vgl. 59. Vgl. De subl. 10,1. 45 J. J. BREITINGER: aaO. 28: »Darum kan man mit Grund sagen, daß er durch seine geschickte Nachahmung die Schönheit und Kraft seines Urbildes nicht nur erreichen, sondern auch übertreffen könne«. So hat Bodmer zufolge Milton bei der Schilderung des Paradieses »alle Ergetzlichkeiten, derer menschliche Sinnen fähig sind, von der besonderen Geburts-Stätte einer jeden herausgenommen, und in eine Schildertafel zusammengetragen, und durch dieses Mittel ist es ihm gelungen, uns einen so erhabenen Begriff eines Gartens von göttlicher Anordnung und Herrlichkeit in seiner Beschreibung vorzulegen« (J. J. BODMER: aaO. 59f.). 46 J. J. BODMER: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie […], 11. Bodmer bezeichnet eine gewisse »Art der Schöpfung« als »das Hauptwerck der Poesie«, »die sich eben dadurch von den Geschichtsschreibern und Naturkündigern unterscheidet, daß sie die Materie ihrer Nachahmung allezeit lieber aus der möglichen als aus der gegenwärtigen Welt nimmt« (32). 47 Der Vollkommenheitsbegriff ist Klopstock als Grundkategorie der schulphilosophischen Metaphysik geläufig. 48 J. J. BODMER: aaO. 26. 44
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der wirklichen Welt umgibt.49 Die Poesie erweitert und erhöht den Geist, und indem sie so seine immense Reichweite, seine »nahezu göttliche Kraft« dartut, lässt sie ihn zu sich selbst kommen. Daher ist die Dichtung in einziger Weise »des menschlichen Ingeniums würdig« zu achten, und daher erfüllt sie das Gemüt mit »unsterblicher Lust«. 5.1.2. Die Offenbarungsmittlerschaft der Dichtung Mit dem bisher Ausgeführten ist der Erhabenheitsbegriff der Declamatio indessen noch nicht ausreichend bestimmt. Denn die Erhabenheit der Dichtung kommt für Klopstock erst dann voll in den Blick, wenn sie als solche wahrgenommen wird, … quae […] ab ipso Deo ita profanis vulgi oculis est subducta, et tam sublimi consecrata loco, ut dignam eam, qua se suamque majestatem, hominibus antea incognitam, magna ex parte revelaret, arbitratus fuerit. Non igitur vanam esse poeseos gloriam videtis, si ceteris artibus sublimior, divinitatis sibi cujusdam honorem tribuit.50
… die von Gott selbst so den ungeweihten Blicken der Masse entzogen und einem so erhabenen Ort geheiligt wurde, dass er sie für würdig befunden hat, sich und seine den Menschen vorher unbekannte Majestät zum großen Teil durch sie zu offenbaren. Es ist also, wie ihr seht, keine eitle Anmaßung der Dichtung, wenn sie, erhabener als die übrigen Künste, sich den Ehrentitel einer gewissen Göttlichkeit zugesteht.
Die Erhabenheit der Poesie, ja ihre »gewisse Göttlichkeit«, wird erst dann in vollem Umfang sichtbar, wenn man ihre Offenbarungsmittlerschaft bedenkt. Um sich und seine Majestät den Menschen zu erkennen zu geben, hat sich Gott selbst der Dichtung bedient.51 Diese Ehre erhebt die Poesie über alle anderen Künste. Und es lässt sich daraus auch eine bestimmte Ei49
Im Blick auf die besagten Stellen aus der Declamatio ist es zutreffend, was M. NENON: The Psychology of the Sublime, über Klopstocks Begriff erhabener Dichtung generell sagt: »For Klopstock, the function of the poet is to elevate a human beeing out of his or her everyday life experience, to transcendend a merely vegetative existence« (112). 50 Decl. 146. 51 Vgl. RKW (1758) 986f: »Die Religion selbst, insofern die heiligen Schriften, in welchen sie enthalten ist, als menschliche Werke anzusehen sind, ich meine, insofern sie sich zu der Denkart der Menschen herunterlassen, um dieselben zu unterrichten, und zu rühren, die Religion ist durch Muster der Poesie und der Beredsamkeit offenbart worden, die sich der tiefsinnigste Kenner nicht reizender, stärker, und erhabner denken kann. Und es ist keine geringe Ehre für uns, daß die Sprache, welche in der Offenbarung geredet wird, unsre Sprache ist. Unsre Lieblinge haben alsdenn die wahrste Hoheit und die vielseitigste Nützlichkeit erreicht, wenn sie diesen großen Mustern auch nur von fern nachgefolgt sind«. Klopstock rekurriert hier auf das Theologoumenon der Akkommodation des Heiligen Geistes an die Erkenntnisgrenzen des Menschen. Vgl. zur Stellung der Bibel als Muster des Erhabenen oben Kap. 1.1.4. und 3.3.
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genschaft der Dichtung ablesen, nämlich die Fähigkeit, Gott und seine Majestät in vortrefflicher Weise zur Darstellung zu bringen. Gerade in dieser Fähigkeit, so kann geschlossen werden, gipfelt die Erhabenheit der Poesie, und aufgrund dieser Fähigkeit kann sie überhaupt eine so gewichtige Rolle bei der Genese der Offenbarung spielen: saepius hanc divinis illis vatibus inspiravit, quibus arduum ac sublime negotium dederat, ut, remoto velo, se atque adoranda religionis mysteria hominibus aperirent.52
Sehr oft hat er [sc. Gott] sie [sc. die Dichtung] jenen göttlichen Sehern eingegeben, denen er die schwierige und erhabene Aufgabe gegeben hatte, den Schleier zu lüften und sich [lies: ihn] und die anbetungswürdigen Geheimnisse der Religion den Menschen zu eröffnen.
Mehr als jede andere Kunst und mindestens ebenso wie die prosaische Rede ist die Poesie für »die schwierige und erhabene Aufgabe« geeignet, die Mysterien der Religion für die Menschen zugänglich zu machen. Denn sie verleiht ihnen Anschaulichkeit53 und Schönheit und lässt sie so auch zu einer Angelegenheit des menschlichen Herzens werden: … ac coeleste verum, tam ingenti cum pulcritudine ejus sub involucris atque inventionibus proposuerunt, ut convestitum ita ornatumque amabile prorsus hominibus atque exoptandum magnopere redderetur.54
… und die himmlische Wahrheit haben sie [sc. die göttlichen Seher] mit einer so außerordentlichen Schönheit unter ihren [sc. der Dichtung] Hüllen und Erfindungen vor Augen gestellt, dass sie, so bekleidet und geschmückt, den Menschen ganz und gar liebenswürdig und überaus anziehend wurde.
Aus dem Zitat spricht der common sense der frühen Aufklärungspoetik und -ästhetik. So hatte Breitinger die »vornehmste und erste Absicht« des Dichters darin erblickt, »die Wahrheit den Gemüthern auf eine angenehmergetzende Weise beyzubringen«55. Baumgarten hatte denselben Topos, mit den Mitteln der Wolff’schen Metaphysik gnoseologisch und psychologisch fundiert, zum Programm der Versinnlichung abstrakter Wahrheiten ausgebaut und seiner ›Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis‹ zugrundegelegt.56 Wie es ansatzweise bereits die Schweizer57 und programmatisch die Hallen52
Decl. 146f. Vgl. Decl. 147: »videndam«. 54 Ebd. 55 J. J. BREITINGER: Critische Dichtkunst, 78. Breitinger entfaltet diese Ansicht in Ausführungen zum horazischen aut prodesse aut delectare (100ff). 56 S.o. Kap. 2.2. 57 Vgl. z.B. J. J. BODMER: Critische Abhandlung, 31: Hier heißt es betreffs der Engelsdarstellung in Paradise Lost, Milton habe »in diesem Stück die Freyheit gebraucht, die ihm die poetische Kunst vergönnete, alldieweil sein Vorhaben nicht war, eine metaphysicalische Abhandlung von der Natur und dem Wesen dieser unsichtbaren Geister zu schrei53
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ser (allen voran Pyra)58 getan hatten, spitzt Klopstock diesen Gemeinplatz auf die Religion zu, auf die »himmlische Wahrheit«. Mit ihrem spezifischen Schöpfungsvermögen kann die Dichtung »Hüllen und Erfindungen« erschaffen, die der an sich unanschaulichen Wahrheit der Religion eine schöne Gestalt verleihen und den Herzen auf diese Weise ein inniges Verlangen nach dem coeleste verum eingeben. Ohne solche Veranschaulichung bliebe die Religion abstrakt und könnte kaum Herzensfrömmigkeit werden. Die Dichtung mit ihren poetischen Schöpfungen vollbringt also im Prozess der Offenbarung eine doppelte Vermittlung: Unsichtbares wird sichtbar und abstrakte Erkenntnis wird fromme Herzensregung.59 Veranschaulichungsund Verinnerlichungsleistung gehen Hand in Hand. Dieser Zusammenhang wird besonders deutlich an Klopstocks Kommentar zu Hiob, der als einer der Dichter solch »heiliger Poesie« (sancta poesis)60 angeführt wird.61 Dort heißt es direkt im Anschluss an die bereits zitierte Stelle, wo der weitläufige Bilderreigen des Buches Hiob gerühmt wird: ita is praecipue, sacro quodam horrore, percelli debet, qui Deum, cum Jobo, ex tempestate loquentem audiens, tremenda ejus vestigia procul mirabundusque adorat.62
So muss besonders derjenige von einem gewissen heiligen Schrecken [oder: Schauder] getroffen werden, der, zusammen mit Hiob, Gott aus dem Unwetter reden hört und dessen furchtbare Spuren von Ferne staunend anbetet.
Klopstock spielt auf die Gottesrede in Hiob 38–42 an: Gott spricht aus dem Sturm und schildert mit zahllosen Bildern seine Macht und Größe.63 Der ben, sondern nur die Phantasie mit wohlerfundenen und lehrreichen Vorstellungen auf eine angenehme Weise einzunehmen.« Vgl. dazu oben Kap. 3.4.1. (Anm. 303). 58 S.o. bes. Kap. 2.3 und 3.5. 59 Vgl. zum Verhältnis von kognitiver und affektiver Funktion der Poetisierung oben Kap. 2.2 und 3.5. 60 Decl. 150. 61 Im Übrigen hat auch die prosaische Beredsamkeit der Heiligen Schrift laut Klopstock als »vollkommenstes Muster eines erhabenen und wahrhaft göttlichen Stils« (Decl. 147: perfectissimum […] stili sublimis vereque divini exemplar) zu gelten. Erst recht jedoch sind ihre poetischen Stücke zu bewundern, wegen deren »hoher Redeweise und Großartigkeit, die sich mit heiliger Kühnheit bis zu Gott selbst erhebt« (ebd.: excelsum dicendi genus, magnificentia[ ]que ad Deum ipsum, sancta cum audacia exsurgen[s]). Es ist an dieser Stelle deutlich, dass Klopstock, in klassischer Rhetorik gründlich unterrichtet, mit dem Erhabenen auch die Höhe des Stils verbindet. Freilich zeigt der nachfolgende Durchgang durch die biblischen Dichter, dass dicendi genus hier durchaus im weitesten Sinne zu verstehen ist: nicht als bestimmte Stilhöhe, sondern als erhabene Sprachgestalt. Auch in Klopstocks Dichtung variieren hoher Stil und schlicht-erhabene Lakonik, die sich teils unmittelbar am biblischen Muster orientiert; vgl. B. AUEROCHS: Die Entstehung, 195f. 62 Decl. 148. 63 Vgl. Hiob 38: »Wo warst du, als ich die Erde gründete? … Wer hat ihre Masse bestimmt … oder wer die Meßschnur über sie ausgespannt? Wer hat das Meer mit Toren verschlossen, da es hervorbrach, aus dem Mutterschoß kam? … Führst du die Sterne des
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biblische Dichter dieser Rede führt »tausend Wunder« als »Spuren« Gottes64 vor und gibt dem unsichtbaren Gott auf diese Weise gleichsam ein sichtbares Kleid. Er malt Gott mit Worten, die er ihm selbst in den Mund legt, und wird so mit seiner Dichtung zum Werkzeug, durch das Gott selbst »sich und seine Majestät offenbart«. Signum solcher Dichtung ist ihrerseits eine »geradezu ungeheure Schönheit oder Majestät«65. Ihre Wirkung wird in der Spannung von Erstarrung66 und »höchster Freude«67 beschrieben. Durch die poetische Repräsentation fühlt das Gemüt die göttliche Majestät und erzittert in einem »gewissen heiligen Schauder« (sacro quodam horrore). Klopstock gebraucht hier jene Wendung aus alter Frömmigkeitsliteratur, die schon der Theologe J. J. Rambach 1722 mit dem Erhabenen in der Heiligen Schrift in Verbindung gebracht hatte68 – und die in Klopstocks religiöser Poesie als ›heiliger Schauer‹ vielfach wieder begegnen wird.69 Der junge Dichter zeichnet die seelische Resonanz des Erhabenen nach dem Paradigma der in sich gegenstrebigen religiösen Ergriffenheit von der Präsenz des Heiligen und lässt sie in ehrfürchtige Anbetung münden.70 Es liegt dem Dichtungsideal der Declamatio, so lässt sich das Verhandelte vorläufig summieren, ein gestufter Erhabenheitsbegriff zugrunde: Erhaben ist zunächst die höhere Poesie generell, sofern sie als schöpferische Nachahmerin der Natur, dank ihres Idealisierungs- und Transzendierungsvermögens, den Geist über seine gewöhnliche Sphäre erhebt. Im höchsten Maße erhaben ist die Dichtung indessen erst dann, wenn diese ihre Qualität im Zusammenhang mit der Offenbarung steht. Wo sie durch ihre ErfinTierkreises heraus zu seiner Zeit, und leitest du die Bärin mit ihren Jungen« (VV. 4.5.8. 32; Übers. Zürcher Bibel)? Vgl. dazu oben Kap. 4.3.3.2. 64 Vgl. zu diesem Topos oben Kap. 3.3.2 (Anm. 231). 65 Decl. 148: ingen[s] prorsus vel pulcritud[o] vel majest[as]. An anderer Stelle wird die besondere »Würde und Pracht« (Decl. 149: gravit[as] et magnificentia) der heiligen Poesie gerühmt. 66 Vgl. Decl. 148: »attonitis lectoribus«. 67 Vgl. ebd.: »ingenti quadam et summa laetitia«. 68 S.o. Kap. 3.3.2. Pyra fasst den Effekt des Erhabenen als »entzückungvollen Schauer«; s.o. Kap. 3.5. Vgl. ferner Lowths Wendung cum horrore quodam conjuncta admiratio; s.o. Kap. 4.3.3.2. 69 Vgl. Dem Allgegenwärtigen, Str. 17 u. 18. Der Messias IV, 1131; VIII, 322; IX, 283; X, 917; XVIII, 174 u. 732. Besonders sprechend ist V, 780ff: »Und ihr, die meine Seele noch füllen, / Die mit der Stille der Gegenwart Gottes noch über mich kommen, / Heilige Schauer, fahrt fort aus meiner Endlichkeit Grenzen / Mich ans Dunkle der Herrlichkeit Gottes hinüberzutragen!« Vermutlich ist die Klopstock’sche Dichtung eine Schlüsselstation auf dem Weg zur allgemeinen Geläufigkeit der Formel im späten 18. und im 19. Jahrhundert. 70 Nicht zuletzt aufgrund der Häufung einschlägiger Begriffe (sacr[um], tremend[um], mir[um], ferner 172f: numen) drängt sich hier der Gedanke an R. OTTO: Das Heilige, auf. Vgl. zum Verhältnis des Erhabenen zur religionsphänomenologischen Kategorie des ›Heiligen‹ die ›Einleitung‹ und den ›Systematischen Ausblick‹.
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dungen die Mysterien der Religion anschaulich und anziehend macht, wo sie Gottes Majestät schön und würdig zeichnet und den Menschen zu staunend-schaudernder Anbetung bewegt, dort hat die erhabene Poesie ihre höchste Bestimmung verwirklicht, dort kommt die Erhabenheit der Dichtung gleichsam zu sich selbst.71 Die skizzierte Stufung im Erhabenheitsbegriff spiegelt sich im weiteren Verlauf der Valediktionsrede vor allem im Verhältnis von Homer und Milton, den beiden größten Vorbildern des jungen Ependichters. Homer, das »gewaltige, göttliche Genie«72, nimmt für Klopstock aufgrund von Alter und herausragender Meisterschaft den ersten Rang auf dem »hohen Gipfel der Ehre« ein.73 Denn: »Ganz ist er einfache und natürliche Majestät«74. Nicht zuletzt in der einzigartigen schlichten Hoheit besteht die Vortrefflichkeit von Ilias und Odyssee. Ob dieser »unerreichbaren Größe«75 bleibt den nachfolgenden Dichtern nur die mehr oder weniger glückliche Nachahmung des großen Urbildes.76 Allerdings haftet Homer (wie auch seinem besonders erfolgreichen Nacheiferer Vergil) ein nicht unbeträchtlicher Makel an: At, umbrae amabiles defletaeque, una tantum res est, quae perfectioni vestrae deerat, propter quam sortem vestram doleo, una. Gentili religione eratis obcoecati; cum sacris nostris, adorandis illis mysteriis, essetis longe dignissimi.77
Jedoch, ihr liebenswürdigen und beweinten Schatten, eines nur fehlte euch zur Vollkommenheit, weshalb ich euer Los bedaure, eines! Durch heidnische Religion wart ihr verblendet; obwohl ihr unserer Heiligtümer, jener anbetungswürdigen Geheimnisse höchst würdig wäret.
Wieder greift Klopstock auf einen Topos der zeitgenössischen Poetik zurück, wonach die Mustergültigkeit der Alten ihre Grenze an deren Heidentum hat.78 Es ist das bedauernswerte Los der antiken Klassiker, noch nicht an der Wahrheit des Christentums teilgehabt zu haben. Genau dieser Mangel eröffnet denn auch für spätere Dichter ganz neue Aussichten im
71 Entsprechend heißt es an späterer Stelle, wo Klopstock noch einmal auf die biblischen Poeten zurückkommt: »Heic enim non modo naturalis illa pulchritudo, quae in praestantissimis profanis operibus summa est perfectio, reperitur; sed altius hi scriptores adsurgunt, veroque nomine enthei, divina simplicitate, majestatem nulli penitus imitandam ostendunt« (Decl. 161). 72 Decl. 153: ingens et dives ingenium. 73 Vgl. ebd.: »Jam vero quis primas, in tam excelso honoris fastigio, sedes tenet?« 74 Decl. 154: Totus ille simplex et naturalis majestas est. 75 Decl. 153: inaccessa magnitudo. 76 Vgl. zur Maxime der aemulatio und ihrer longinischen Herkunft D. TILL: Das doppelte Erhabene, 309ff. 77 Decl. 155. 78 Vgl. oben Kap. 1.2.1.
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Wettkampf um den höchsten Rang in der Poesie.79 In einzigartiger Weise hat Milton dies genutzt. Nur weil er mit seinem Epos das »Feld der Religion«80, und zwar der wahren Religion, betreten hat, hat er den höchsten »Gipfel der Größe«81 in der Poesie erklommen. Religionem enim, quo quis caelestiorem habet animum, eo sanctiore cum gaudio ac horrore82 contemplatur. Qua re omnibus, qui ita divinae religionis sacra colunt suspiciuntque, venerabile poetae nomen esse debet, qui principem quandam ejus doctrinam illustrem hominibus[que] amabilem carminibus reddit.83
Denn je mehr die Seele eines Menschen himmlisch gesinnt ist, desto heiliger sind Freude und Schauer, mit denen er die Religion betrachtet. Daher muss allen, die die Heiligtümer der göttlichen Religion auf diese Weise pflegen und verehren [wörtl.: zu ihnen ehrfürchtig emporblicken], der Name des Dichters verehrungswürdig sein, der eine ihrer vornehmsten Lehren durch Gesänge anschaulich und den Menschen liebenswürdig macht.
Was bereits im Blick auf die biblischen ›Seher‹ deutlich wurde, wiederholt sich mutatis mutandis im Blick auf den Dichter des (christlich-)religiösen Epos: Wie jene den religiösen Mysterien ihre anschauliche Offenbarungsgestalt gaben, so veranschaulicht dieser die gegebenen Offenbarungsgehalte und sorgt damit für deren affektive Aufnahme. Nicht nur die Bewunderung der biblischen Dichter, sondern auch deren Nachahmung, also die poetische Ausgestaltung eines christlichen Lehrgegenstandes, ist ein »verehrungswürdiges« Unterfangen, weil sie jede »himmlisch gesinnte« Seele in den Zustand frommer Erregung erhebt: zu »heiliger«, ehrfürchtiger Freude.84 Und je mehr der christliche Poet dabei seinen biblischen Vorbildern nahe kommt, desto mehr weiß er sich den großen heidnischen Epikern an Erhabenheit überlegen.85 79
Vgl. Decl. 160: »Cum Homero de excellentiae principatu non sine aemulo animi ardore generosaque superbia Miltonus contendit…«. 80 Decl. 158: religionis campum. 81 Vgl. ebd.: »Talis vates illud attigit culmen magnitudinis, quo celsius nullum uspiam in poesi reperitur.« 82 Das Schulpforta-Manuskript hat hier die Variante honore (»Ehrerbietung«). Der Herausgeber A. FREYBE hält die oben wiedergegebene Lesart für original. Vgl. Klopstocks Abschiedsrede über die epische Poesie, 93. 83 Decl. 158. 84 Man kann hier einen Longin-Anklang vernehmen, insofern auch in Peri Hypsous die Hochschätzung erhabener Rede an eine bestimmte psychische Disposition, die megalophrosynê (›Hochsinnigkeit‹) gebunden wird: an den Blick der Seele nach oben (vgl. Klopstocks suspicere) auf das Göttliche, Himmlische. Vgl. dazu oben Teil I/Kap. 3.2.3 und 5. 85 Vgl. Decl. 160: »Quotiescunque his aliquantummodo appropinquat, toties ceteros sese poetas vicisse sublimitate existimat.«
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Quam enim mirifice rationem Dei vincit revelatio: tam insigniter poeta, qui, supra communem hominum sortem grandis, caelestem sapientiam pietatemque canit, de humana sapientia virtuteque exponentem, superat.86
Denn so weit die Offenbarung Gottes die Vernunft übersteigt, so weit übertrifft auch der Dichter, der, über den gemeinen Rang der Menschen erhaben, himmlische Weisheit und Frömmigkeit besingt, denjenigen, der von menschlicher Weisheit und Tugend handelt.
Einmal mehr greift Klopstock einen Gemeinplatz der Aufklärungspoetik auf und fokussiert ihn auf die Religion. Auch für den Redner der Declamatio kommt alles darauf an, dass die Poesie »Lehrerin der Weißheit und Tugend«87 ist, wie Breitinger formuliert hatte, aber Klopstock behauptet im Blick auf diesen Endzweck der Dichtung eine Abstufung: Gegenüber dem Sänger menschlicher Weisheit und Tugend rangiert der Dichter religiöser Weisheit und Tugend (d.h. Frömmigkeit) noch höher. So weit nämlich nach theologischer Grundüberzeugung die göttliche Offenbarung über den Horizont der natürlichen Vernunft des Menschen hinausführt, so viel weiter führt auch eine Poesie, die jene Offenbarung gestaltet, gegenüber einer Dichtung, die mit ihren Lehren auf den Gesichtskreis der Vernunft eingeschränkt bleibt. Mag auch Homer Erhabenheit zukommen, sofern er durch das weite Panorama der von ihm geschilderten Ereignisse den Geist in ferne Gefilde führt, sofern er auf unnachahmlich majestätische Weise Weisheit und Tugend besingt – im vollen Umfang ist erst Milton erhaben zu nennen, weil er all die Qualitäten Homers noch zu steigern vermag durch sein christlich-religiöses Sujet. Weil ihm die Offenbarung den Schlüssel zu himmlischer Weisheit und Frömmigkeit gibt, erhebt Miltons Epos die »himmlisch gesinnte Seele« weit höher als das homerische und erfüllt sie »mit einer geradezu göttlichen Lust«88. Es steht, so lässt sich bekräftigen, eben jener gestufte Erhabenheitsbegriff im Hintergrund der Valediktionsrede, der oben bereits ausgewiesen wurde. Als erhaben gilt Klopstock die höhere Poesie überhaupt, sofern sie durch ihre schöpferische Darstellung den Geist über seinen engen Umkreis erhebt und ihn auf diese Weise seiner ›fast göttlichen Kraft‹ innewerden lässt; sofern sie außerdem, so ließe sich aus dem letzten Zitat schließen, menschliche Weisheit und Tugend lebendig vor Augen stellt. Erhabenheit im eminenten Sinne hingegen ist nur der christlich-religiösen Poesie zuzusprechen, weil sie die Seele bis in den Himmel hebt, weil sie höhere Weisheit und höhere Tugend, ja Gott selbst und seine Majestät zu anschaulicher Dar-
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Decl. 159. J. J. BREITINGER: Critische Dichtkunst, 103. 88 Decl. 159: divina quadam voluptate. 87
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stellung und mithin dem Herzen nahe bringt.89 Eigentliches Ziel solch erhabener Dichtung ist eine freudige Ehrfurcht, die in Anbetung mündet. – Es verwundert daher nicht, wenn die abschließende Danksagung der Declamatio anhebt mit dem Ausdruck solch »frommen Schauders« (pius horror) vor der Erhabenheit Gottes:90 Pietas et officium, quo sanctius nullum majorisque capax voluptatis mortalis homo nactus est, Tibi nempe, o aeternum Numen, gratum ostendendi animum, omnem me nunc incitat inflammatque. Sed primus me hoc ipso temporis momento majestatis Tuae adspectus turbat pioque horrore concutit volentemque multa loqui de Te Tuaque, o Deus, quodammodo digna sublimitate, infantem reddit.91
Die Frömmigkeit und die Pflicht – nichts Heiligeres hat der sterbliche Mensch empfangen und nichts, was Quelle wäre größerer Lust – dir, o ewige Gottheit, ein dankbares Herz zu zeigen, treibt mich jetzt an und entflammt mich ganz. Aber in diesem selben Augenblick setzt mich zuerst der Anblick Deiner Majestät in Bestürzung, erschüttert mich mit frommem Schauder und macht mich, der ich viel von Dir sagen wollte und Deiner Erhabenheit einigermaßen Würdiges, sprachlos.
5.2. Die Programmschrift ›Von der heiligen Poesie‹ Zehn Jahre nach dem Abschied aus Schulpforta wendet sich Klopstock 1755 erstmals mit poetologischen Reflexionen an die literarische Öffentlichkeit. Inzwischen hat er sich als Dichter des Messias einen vielgerühmten Namen gemacht und hat (nach Theologiestudium in Jena und Leipzig, Schweizbesuch bei Bodmer und Hauslehrertätigkeit in Langensalza) die Einladung an den dänischen Hof angenommen, um daselbst das große Werk zu vollenden. Nach dem anonymen Abdruck der ersten drei Gesänge in den Bremer Beiträgen (1748) – der Name des Autors war nicht zuletzt durch Bodmers und Meiers Propaganda92 schnell publik geworden –, erscheint 1755 der erste Band der Kopenhagener Messias-Ausgabe (mit den ersten fünf Gesängen). Diesem Band stellt der Autor die Abhandlung Von der heiligen Poesie voran, um sein poetisches Unternehmen zu erläutern und 89 Es entspricht dieser Stufung, wenn der Abiturient im (prophetischen) Ausdruck seines Sehnens nach einem großen deutschen Ependichter ausruft: »Ante oculos ejus sese aperiat totus naturae campus et inaccessa aliis adorandae religionis amplitudo…« (Decl. 171; Hvhg. M.F.). 90 Vgl. dazu K. HILLIARD: Schweigen und Benennen bei Klopstock und anderen Dichtern. 91 Decl. 172. 92 Vgl. K. KOHL: Klopstock, 30; H.-J. KERTSCHER: Gotthold Ephraim Lessings Kritik an Georg Friedrich Meiers Messias-Rezension. Vgl. oben Kap. 3.2.3.
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sich damit auch der Kritik zu erwehren, die gerade von theologischer Seite gegen sein christliches Epos erhoben worden war.93 Allerdings betont Klopstock gleich zu Beginn seine »Absicht«, nicht »vom Messias; sondern von derjenigen Poesie, die ich die heilige nenne, überhaupt zu reden«94. Der Autor des Messias handelt von (christlich-)religiöser Dichtung generell, von den Bedingungen und Möglichkeiten der Poetisierung der christlichen Religion. 5.2.1. ›Moralische Schönheit‹ Zuerst wendet sich die Abhandlung der Frage zu: »Ob es erlaubt sei, den Inhalt zu Gedichten aus der Religion zu nehmen«95. Klopstock billigt seinen Kritikern zu, dass diese Frage durchaus der redlichen »Sorgfalt« entspringen könne, »nichts Fremdes in die Religion einmischen zu lassen«96. Sie sei gleichwohl zu bejahen, weil die religiöse Dichtung lediglich eine bestimmte Art darstelle, »über die Religion nach[zudenken]«97 – ganz wie die Theologie. Wie zuvor schon J. I. Pyra und S. J. Baumgarten98 ist Klopstock sogar der Ansicht, die Poesie müsse der Theologie als Schriftauslegungsinstanz zur Seite treten.99 Denn die Offenbarung »besteht meistenteils nur aus Grundrissen« von Begebenheiten, die ursprünglich »ein großes ausgebilde93
Vgl. dazu H.-G. KEMPER: Empfindsamkeit, 239; 244; 417f. Eingehende Interpretationen von Klopstocks wichtigster poetologischer Abhandlung finden sich in den literaturwissenschaftlichen Arbeiten von J. JACOB: Heilige Poesie, 135–150, und B. AUEROCHS: Die Entstehung, 182–205. 94 HP 998. 95 Ebd. Beispielsweise hatte J. CH. GOTTSCHED: Critische Dichtkunst (4. Aufl. 1751), 224, es für »gottlos« befunden, »die geoffenbarte Religion mit […] abgeschmackten Erdichtungen zu erweitern, d.i. die Wahrheit mit Lügen zu verbrämen, und sie solchergestalt der heidnischen Mythologie gleich zu machen, die jeder Poet drehete und wendete wie er wollte« (zit. n. H.-G. KEMPER: Empfindsamkeit, 244). 96 HP 998. 97 Ebd. 98 S.o. Kap. 3.5. 99 Vgl. RKW 989. Dort wird in einem Gedankenexperiment beschrieben, was einer Nation im Falle der gänzlichen Abwesenheit der schönen Wissenschaften (also vor allem der Poesie und der Rhetorik) fehlen würde: »Die Erklärung der Offenbarung, die vorzüglich auf unsre Kenntnis gestützt werden sollte, weil die heiligen Bücher zugleich Muster der Poesie und der Beredsamkeit sind, arte[te] in theologische Spitzfündigkeiten aus. Die Beredsamkeit des Predigers [wäre] gemein, schwach, witzelnd, ohne Gedanken, ohne Empfindungen, kurz, derjenigen erhabnen Religion ganz unwürdig, durch deren Hülfe sie unterrichten und rühren soll. Die Lieder, die ganze Versammlungen zur Andacht entflammen sollten, [wären], wenn es möglich ist, noch platter, und der entzückenden Religion noch unwürdiger. Es st[ünden] keine rechtschaffnen Männer auf, die in andern Gedichten, aus jener reichen Quelle der Offenbarung schöpfen, und die Seele auf diese Art an ihren ganzen Wert und an ihre Unsterblichkeit erinnern.«
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tes Gemälde waren«100. Diese Grundrisse bedürften immer ergänzender Interpretation, um aktuell zum Leben erweckt zu werden. Genau diese Vermittlungsaufgabe bleibt in der zur unfruchtbaren »Spitzfindigkeit«101 neigenden Theologie nach Klopstocks Meinung auf der Strecke. Darum hält er es geradezu für geboten, die biblischen Grundrisse nicht nur theologisch auszulegen, sondern »auch nach poetischer Denkungsart […] weiter zu entwickeln«102. Die eigentliche Frage laute daher nicht: ob, sondern: »Unter welchen Bedingungen man von Materien der Religion dichten dürfe«103. Klopstock ist sich der »strengen Forderungen« wohl bewusst, die sich dem Poeten stellen, »der es unternimmt«, sein Publikum »auf den erhabenen Schauplatz der Religion zu führen«104. Und zwar seien derer vornehmlich drei: Erstens sei innige Kenntnis der Religion notwendig, zweitens tiefe Frömmigkeit und drittens poetisches Talent, oder mit den Worten des Autors: »Genie und Geschmack«105. Mit diesem Stichwort ist die Dimension poetischer Gestaltung angesprochen, die, neben dem religiösen Gehalt des Gedichts und neben der 100
HP 998. Vgl. oben Anm. 99. 102 HP 999. Der Autor des Aufsatzes Wie weit Erdichtungen in Epopeen, welche Begebenheiten in der Religion zum Gegenstand haben, zugelassen seyn können, der 1752 in den Neuen Bremer Beiträgen erschien – es ist laut C. F. CRAMER: Klopstock, Er; und über ihn, Bd. 4, 27, sein Vater J. A. CRAMER (vgl. G. KAISER: Klopstock, 33) – bringt zur Verteidigung von Klopstocks Messias dasselbe Argument vor: »Ein Poet, der zur Erläuterung oder Verschönerung wirklicher Begebenheiten oder Umstände etwas Wahrscheinliches hinzu dichtet, ist nichts anders, als ein Ausleger dieser wirklichen Begebenheiten« (aaO. 623). Die Frage der Zulässigkeit von Bibelpoesie hatte bereits J. J. BODMER: Critische Abhandlung (1740), im Blick auf Milton bejaht. Dieser Text stand Klopstock bei der Verfassung seines Traktats sicher vor Augen: »In der Abhandlung dergleichen Geschichte schreibet uns die Vernunft das Ziel vor, daß wir kein Stück und keinen Umstand in den Zusammenhang der Ausführung hineinbringen, der sich mit dem Zeugniß der H. Scribenten stosse, und daß wir den Personen keinen Gedancken zuschreiben, der wieder ihren Character laufe, und ihrer Würde zu nahe trete. Damit ist uns nicht verwehret, daß wir nicht in den abgebrochenen und kurtzbegriffenen Erzehlungen der H. Scribenten das leere und mangelnde mit solchen Umständen in den Begegnissen ersetzen und ausfüllen, welche mit dem geoffenbahreten ein Gewebe in einem ordentlichen Zusammenhang ausmachen. Das ist eine Freyheit, die in diesen Schrancken gefasset, vernünftig ist, dann wiewohl es ein Vorwitz ist, demjenigen in den Gedancken nachspüren zu wollen, und es zu ergäntzen zu suchen, was uns der Höchste nicht gut gefunden hat zu eröffnen, so ist es doch ein unschuldiger, und lehrreicher Vorwitz, der in einem Verlangen von himmlischen Dingen mehr zu wissen bestehet, und das Gemüthe schon in dieser Zeit zu dem künftigen himmlischen Leben erhebet, und näher mit den seligen Geistern bekannt macht, in deren Gesellschaft wir nach diesem vergänglichen Leben zu kommen hoffen« (50). 103 HP 999. 104 HP 998. 105 HP 999. 101
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religiösen Verstandes- und Herzensbildung des Dichters, über das Gelingen heiliger Poesie entscheidet. Die Gestalt der heiligen Poesie ist also das Thema der darauffolgenden Ausführungen – die als »Anmerkungen über die höhere Poesie«106 firmieren. Klopstock erörtert die ›höhere‹ Poesie, versteht diese Erörterungen aber zugleich als solche über die von jener unterschiedene ›heilige‹ Poesie, unter Absehung von deren christlich-religiösen Elementen. Nun ist die höhere Poesie laut Klopstock – wie schon zu Portenser Zeiten – »der Schauplatz des Erhabnen«107. Sonach rangiert das Erhabene immer noch als poetologische Zentralkategorie, mittelbar auch für die religiöse Dichtung, auf die der Traktat Von der heiligen Poesie abzielt.108 Denn »was in dem heiligen Gedichte von dem Genie und Geschmack allein abhängt«, ist nichts anderes, als was auch die höhere Poesie ausmacht: eben das Erhabene. Es tritt gleichsam in zwei Gestalten auf: als ›höhere‹ und, sofern der Dichter die entsprechende religiöse Haltung mitbringt und einen religiösen Stoff besingt, als ›heilige Poesie‹. In drei Bestimmungsversuchen nähern sich Klopstocks ›Anmerkungen über die höhere Poesie‹ ihrem Gegenstand. Zuerst werden die bei der Produktion notwendig beteiligten Seelenvermögen ausgewiesen: Die höhere Poesie ist ein Werk des Genie; und sie soll nur selten einige Züge des Witzes, zum Ausmalen, anwenden. Es gibt Werke des Witzes, die Meisterstücke sind, ohne daß das Herz etwas dazu beigetragen hatte. Allein, das Genie ohne Herz, wäre nur halbes Genie.109
Nicht der ›Witz‹, sondern ›Genie‹ und ›Herz‹ sind die maßgeblichen Seelenkräfte des Dichters höherer Poesie. Ist der ›Witz‹ für die Poetologie Leipziger Provenienz das zentrale psychische Vermögen, das vorwiegend eine »sinnreiche«, metaphorische Redeweise inspiriert,110 werden seine Leistungen von Klopstock zum schmückenden Beiwerk zurückgestuft, das im Rahmen höherer Poesie »nur selten« angebracht werden soll. Stattdessen wird das ›Genie‹ in den Vordergrund gerückt – ohne dass freilich ohne weiteres klar wäre, was damit gemeint ist. Der Begriff scheint auf eine gewisse »Zu106
HP 1000 (Hvhg. M.F.). Ebd. 108 Dies gilt, obgleich der Terminus selbst im Vergleich zur Declamatio wesentlich seltener gebraucht wird. Von ›dem Erhabenen‹ ist nur zweimal die Rede, wobei der Begriff einmal im Grunde genommen als Synonym für ›höhere Poesie‹ fungiert (HP 1004: »Das Erhabne, wenn es zu seiner vollen Reife gekommen ist, bewegt die ganze Seele…«). Ansonsten kommt einige Male das Adjektiv ›erhaben‹ und das Verb ›erheben‹ vor, außerdem ›Erhebung‹, ›Höhe‹ und ›Hoheit‹. 109 HP 1000. 110 Vgl. dazu A. BAEUMLER: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, 142ff. 107
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sammenstimmung […] des oberen und unteren Erkenntnisvermögens«111 zu deuten. Am ehesten dürfte Klopstock an eine Art modifizierte Einbildungskraft112 denken, die durch das ›Herz‹ geleitet ist, also etwa durch jene Kraft, »Großes zu empfinden«, von der einst in der Declamatio die Rede war.113 Prägnanter ist schon die zweite Bestimmung der höheren Poesie, nämlich in Betreff ihres psychischen Effekts: Die letzten und höchsten Wirkungen der Werke des Genie sind, daß sie die ganze Seele bewegen. Wir können hier einige Stufen der starken und der stärkern Empfindung hinaufsteigen. Dies ist der Schauplatz des Erhabnen.114
Kennzeichnend für die höhere Poesie ist, dass sie »die ganze Seele« in Bewegung setzt und auf diese Weise besonders »starke Empfindung« auslöst. Ihr »Zweck geht weiter«, wie es an anderer Stelle heißt, »als eine Kraft der Seele […] nur zu erregen, sie sanft zu unterhalten, und ihr einen stillen Beifall abzulocken«115. Im Gegensatz zu einem Werk des ›Witzes‹, das lediglich das Erkenntnisvermögen bzw. den Verstand anspricht und dem Gemüt höchstens »sanfte Unterhaltung« bereitet, zielt das »Werk des Genie« auch auf das Begehrungsvermögen, das ›Herz‹. Dort ruft es ganz andere Regungen hervor als jenen »stillen Beifall« des Verstandes: Es »bringt uns mit schneller Gewalt dahin, daß wir ausrufen, uns laut freuen; tiefsinnig stehn-
111
AaO. 157. Vgl. zur Terminologie oben Kap. 2.2. Der seinerzeit in Deutschland noch nicht fest konturierte Begriff hat sich hier offenbar vom lateinischen Terminus ingenium, der im Rahmen der Schulphilosophie mit ›Witz‹ wiedergegeben wird, gelöst. Vgl. J. RITTER: Art. Genie, 287ff. 112 Vgl. A. BAEUMLER: aaO. 162f. 113 In einer wenig später folgenden Reflexion werden sämtliche Seelenkräfte der Wolff’schen Psychologie auf den Dichter höherer Poesie bezogen. So ist ihm die Einbildungskraft »öfter eine Malerin des großen und furchtbaren Schönen in der Natur, und ihrer sanftrührenden Gegenstände« (HP 1002), also eine Kraft schöpferischer Naturnachahmung. »Und in dem Willen, oder dem Herzen, dieser vielseitigen und gewaltigsten Kraft der Seele, sucht er vorzüglich diejenigen Empfindungen zu treffen, die es erweitern, die es groß und edel sein lehren« (ebd.). Dementsprechend wäre es wohl – nach der alten rhetorischen Grundlehre von der Pathosübertragung vom Redner auf den Hörer – auch Sache des Dichterherzens, zunächst nämliche »großen« und »edlen« Empfindungen selbst zu hegen, um sie durch seine Dichtung auch bei anderen »zu treffen«. 114 HP 1000. 115 HP 1002. Vgl. HP 1009: »Wenn der Dichter diese Wahrheiten [sc. die Wahrheiten der Religion] nicht vergebens sagen will; so muß er sie so sagen, daß sie das Herz ebensosehr als den Verstand beschäftigen.« Vgl. ferner ASW § 35, 60: »Eine Erkentnis, die nicht lebendig ist, nimt nur die halbe Seele, die Erkentniskraft, ein; die lebendige beschäftiget aber zugleich die Begehrungskräfte, die andere Helfte der Seele, und sie erfült demnach das ganze Gemüth. […] Bey einer todten Erkentnis gähnt man; eine lebendige erhitzt die Lebensgeister, und bemächtiget sich der Herzen«. Auf den sachlichen Zusammenhang zum theologischen sowie schulphilosophischen Topos der ›lebendigen Erkenntnis‹ hat mit Recht J. JACOB: Heilige Poesie, 163, hingewiesen. Vgl. dazu oben Kap. 2.2.2.
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bleiben, denken, schweigen; oder blaß werden, zittern, weinen«116. Diese Äußerungen konvergieren in wesentlichen Zügen mit der wolffianisch fundierten Hallischen Ästhetik, die Baumgarten und Meier in den Jahren zuvor als psychologisch begründetes Programm der ästhetischen Affekterregung konzipiert hatten.117 Die beschriebenen Regungen erinnern aber auch an die longinische Charakteristik der erschütternden Erfahrung des hypsos, und daher nimmt es nicht Wunder, dass Klopstock den Begriff des Erhabenen gerade im Blick auf den sogearteten Effekt der höheren Poesie ins Spiel bringt.118 Die letzte Bestimmung der höheren Poesie ist die gewichtigste – und wohl auch die missverständlichste: Der letzte Endzweck der höhern Poesie, und zugleich das wahre Kennzeichen ihres Werts, ist die moralische Schönheit. Und auch diese allein verdient es, daß sie unsre ganze Seele in Bewegung setze.119
Eigentliches Ziel der höheren Poesie ist es, ›moralische Schönheit‹ zu verwirklichen und durch sie die ganze Seele in Bewegung zu setzen. Die Frage ist nur, was Klopstock unter ›moralischer Schönheit‹ versteht. Unumstritten ist: »It is thus nothing so crude as a moral lesson conveyed in pleasing form – the sugared pill of didactic poetry.«120 Für eine positive Antwort auf 116
HP 1002. S.o. Kap. 2.2.2. Vgl. U. GAIER: »… ein Empfindungssystem, der ganze Mensch«. Grundlagen von Hölderlins poetologischer Anthropologie im 18. Jahrhundert, bes. 741. 118 Wie so oft ist auch an dieser Stelle deutlich, »that Klopstock draws no essential distinction between poetry and rhetoric« (K. HILLIARD: Philosophy, letters, and the fine arts in Klopstock’s thought, 93). Vgl. dazu auch die (freilich begrifflich recht unscharf argumentierende) Studie von H. BENNING: Rhetorische Ästhetik. Die poetologische Konzeption Klopstocks im Kontext der Dichtungstheorie des 18. Jahrhunderts. 119 HP 1001. 120 K. HILLIARD: Philosophy, 95. In Konkordanz mit seiner Generalthese, die Tradition der klassischen Rhetorik habe als das schlechthin bestimmende Element in Klopstocks poetologischem Denken zu gelten, führt Hilliard den Begriff der ›moralischen Schönheit‹ auf den Ethosbegriff der aristotelischen Rhetorik zurück: »›Moralische Schönheit‹ is ethos as Aristotle understood it, namely moral character as manifested in the speech. In a piece of fiction the meaning would have to be widened to include the depiction of moral character in the persons and actions of the poem« (94). Demnach bedeutet ›moralische Schönheit‹ »[the] representation of [sc. high; M.F.] moral character in the oration or poem« (95). Mit J. JACOB sind Hilliard die schulphilosophischen Motive bei Klopstock entgegenzuhalten, angesichts derer eine einseitige Akzentuierung der Beziehung zur Rhetoriktradition bereits stark an Plausibilität einbüßt (vgl. Heilige Poesie, 145). Jacobs Auskunft, Klopstock ziele mit dem Ideal der ›moralischen Schönheit‹ auf die »Synthese der Seelenkräfte« (ebd.), ist freilich auch nicht eben erhellend. M. NENON: The Psychology of the Sublime, deutet den fraglichen Begriff i.S. ihrer Auffassung, Klopstocks Poesieverständnis verrate »a new understanding of the importance of the individual as such« (115). Klopstock zufolge sei diejenige Dichtung ›moralisch schön‹, die »the self-awareness of one’s own soul in its movement« (114) vermittele. Dass der fragliche Terminus auf das Selbstbewusstsein des Rezipienten zielt, hat Nenon m.E. richtig gese117
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jene Frage bietet Klopstocks Aufsatz Von dem Range der schönen Künste und der schönen Wissenschaften (1758) den Schlüssel. Dort spricht die Philosophie als Vertreterin der schönen Wissenschaften, zu denen auch die Poesie zählt: Die Menschen moralischer zu machen, ist und soll so sehr unsre Hauptabsicht sein, daß wir unsrer Neigung, zu gefallen, nur insofern folgen dürfen, als sie uns zu diesem letzten Endzwecke führt. Wir erniedrigen uns und wir sind nicht mehr schön, wenn uns die moralische Schönheit fehlt.121
Auf die Poesie bezogen heißt das: »Bloße« Schönheit entspränge der »Neigung« der Poesie, lediglich »zu gefallen«, wohingegen moralische Schönheit der eigentlichen »Hauptabsicht« der Poesie korrespondiert, »die Menschen moralischer zu machen«. In typisch aufklärungspoetischer Manier wird das delectare des Horaz zur Funktion des prodesse erklärt: Schönheit als solche soll nach Klopstocks Überzeugung lediglich »Aufwärterin der viel erhabnern moralischen Schönheit sein«122, wie es in demselben Aufsatz heißt. Sie soll ihre »Neigung zu gefallen« in den Dienst des moralischen Nutzens stellen.123 ›Moralische Schönheit‹ wäre demnach das Potential eines Gedichts, entsprechende »moralische Absichten«124 zu erzielen. Allerdings ist dann immer noch zu klären, welches die »moralischen Absichten« sind, welche die höhere Poesie hegt. Einen gewissen Aufschluss darüber gibt die Fortsetzung jenes Zitates aus der Abhandlung Von der heiligen Poesie: Der letzte Endzweck der höhern Poesie, und zugleich das wahre Kennzeichen ihres Werts, ist die moralische Schönheit. […] Der Poet, den wir meinen, muß uns über unsre kurzsichtige Art zu denken erheben, und uns dem Strome entreißen, mit dem wir fortgezogen werden. Es [lies: Er; M.F.] muß uns mächtig daran erinnern, daß wir unsterblich sind, und auch schon in diesem Leben, viel glückseliger sein könnten.125
Sofern man die betreffenden Sätze als Erläuterung zum Begriff der ›moralischen Schönheit‹ verstehen will, ist deutlich: »Das Wort moralisch« hat bei Klopstock »wie meist in seiner Zeit einen andern Sinn als heute«, wie Emanuel Hirsch im Blick auf Klopstocks Zeitgenossen Johann Salomo Semler (1725–1791) festgehalten hat.126 ›Moralisch‹ kann im 18. Jahrhundert viel hen, dass Klopstock dabei ein ganz bestimmtes Selbstbewusstsein vor Augen hat, bleibt jedoch unterbelichtet. 121 RKW 986. 122 RKW 991. 123 Vgl. oben Kap. 4.2.2. 124 HP 999f. 125 HP 1001. 126 E. HIRSCH: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 4, 55. Weiter heißt es dort: Moralisch »steht im Gegensatz zu physisch. Die physische Welt ist das Reich der Natur, die moralische das Geisterreich, die Gottesstadt im Sinne Leibniz’. Ebenso können die Gesetze, die die beiden Reiche bestimmen, als physische und morali-
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mehr bedeuten als den Bezug auf Sitte und Pflicht, nämlich alles, was die menschliche Lebensführung, Lebenshaltung, was überhaupt die Weltanschauung betrifft, mit der ein Mensch sein Leben bestreitet. Alle Fragen, die das Glück und Elend des Menschen, die Heil und Unheil der Seele anbelangen, sind ›moralische‹ Fragen in diesem Sinne, beispielsweise die Frage nach Gott oder nach dem ewigen Leben, wie Hirsch konstatiert. Von daher lassen sich auch die angezeigten Wirkungen der höhern Poesie ohne weiteres als ›moralische‹ Wirkungen verstehen, als Wirkungen ›moralischer Schönheit‹.127 Diese erhebt den Leser über seine »kurzsichtige Art zu denken«, d.h. sein Blick weitet sich, wendet sich ab von den Kleinigkeiten des gewöhnlichen Lebens und richtet sich nach oben, auf Größeres. Seine Seele wird nicht nur ganz in Bewegung gesetzt, sondern dabei auch den engen Bahnen des alltäglichen Daseins entrissen und zum Bewusstsein der eigenen Unsterblichkeit erhoben. Sie erlebt einen Augenblick fast überirdischen Glücks, in dem sie ihr Leben in neuem Licht sieht, in dem die kommende Glückseligkeit auch in ihr hiesiges Leben hineinstrahlt.128 Spätestens Klopstocks Begriff der ›moralischen Schönheit‹ zeigt an, dass die höhere Poesie nicht nur in besonderem Maße, sondern auch in besondesche einander gegenübergestellt werden. Die Eigenheit des Magisch-Sakramentalen ist, daß es das Gottesverhältnis nicht moralisch, sondern gleichsam physisch bedingt sein läßt. Ist auf den Gegensatz gegen das Physische oder Magische reflektiert, so übersetzt man moralisch am besten mit ›geistig-persönlich‹. Ist auf die Form des Moralischen reflektiert, so gibt ›sittlich-vernünftig‹ den Sinn wieder. Inhaltlich aber wird ›sittlich-religiös‹ am ehesten das bezeichnen, was Semler und die Neologie überhaupt unter moralisch verstehen. So gehören z.B. die Vorstellungen von Gott oder vom ewigen Leben zu den ›moralischen Gegenständen‹ unsrer Erkenntnis.« 127 Vgl. A. E. HOHLER: Das Heilige in der Dichtung. Klopstock/Der junge Goethe, 85: »[M]it ›moralischer Schönheit‹ [dürfte] nicht allein ›sittliche‹, sondern, umfassender, auch ›geistige‹, ›vorgestellte‹, überhaupt ›nicht-physische‹ Schönheit gemeint sein«. 128 Es ist eine Verengung von Klopstocks Begriff der ›moralischen Schönheit‹, wenn K. KOHL: Klopstock, in diesem Zusammenhang hervorhebt, für jenen stehe »der ethische Anspruch« (56) im Mittelpunkt der Dichtung. Auch K. HILLIARDs Zurückführung des betreffenden Begriffs auf die Ethos-Kategorie aus der aristotelischen Rhetorik, auf die sich Kohl hier bezieht, verliert in Anbetracht der angeführten Äußerungen Klopstocks gänzlich ihre Überzeugungskraft. Es ist bei Klopstock so offensichtlich, dass man es kaum meint eigens herausstreichen zu müssen: »Klopstocks Denken war in einem Maße religiös bestimmt, wie das bei keinem anderen Dichter vergleichbaren Ranges im 18. Jahrhundert der Fall ist« (K. HURLEBUSCH: Art. Klopstock, 272). »Das Ästhetische steht« bei ihm nicht vorwiegend »im Dienste des Ethischen« – so Kohl (aaO. 57) –, sondern im Dienste des Religiösen. J. JACOB hat diesen Sachverhalt ebenfalls im Blick auf den Konnex von ›moralischer Schönheit‹ und ›Unsterblichkeit‹ angesprochen (vgl. aaO. 146). M. NENON wiederum deutet die religiöse Dimension immerhin an, wenn sie Klopstocks oben zitierten Verweis auf den Unsterblichkeitsglauben kommentiert: »This passage points to an elevated perception of the role of art and the status of the human beeing, which is contrasted to the lowliness of normal life. Art bestows an ontological significance to human beings that points beyond them« (aaO. 115).
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rer Weise bewegt. Es geht nicht um eine mehr oder weniger heftige oder umfassende Seelenbewegung, sondern um eine ›moralische‹ Bewegung, um einen Einfluss auf die ›Denkart‹, auf die seelisch-geistige Grundverfassung des Lesers. Die umfassende Bewegung ist zugleich eine Erhebung der Seele zu höherem Bewusstsein. Bei der Beschreibung dieser Wirkung fallen die Analogien zum antiken Hochsinnigkeitsgedanken ins Auge.129 Durch die Dichtung soll der Blick »nach oben« gerichtet werden, über das Irdische hinaus, von diesem Leben auf das kommende. Insofern könnte man die poetische Schlüsselqualität ›moralischer Schönheit‹ treffend mit Rekurs auf jenes longinische Theorem definieren: als das Potential der höheren Poesie, Hochsinnigkeit zu wecken.130 5.2.2. Poesie natürlicher und geoffenbarter Religion Zwei Autoren werden von Klopstock als Muster der höheren Poesie, als Muster ›moralischer Schönheit‹ herausgestellt. Erstens – wenig überraschend: Homer. Man kann hier, auch ohne Offenbarung, schon weit gehen. Homer ist, außer seiner Göttergeschichte, die er nicht erfunden hatte, schon sehr moralisch. Wenn aber die Offenbarung unsre Führerin wird; so steigen wir von einem Hügel auf ein Gebirge.131
Homer ist »schon sehr moralisch«, d.h. seine Lektüre bleibt dank seiner ihm eigenen Hoheit nicht ohne seelenerhebende Wirkung. Allerdings ist diese Hoheit und deren Effekt durchaus noch zu übertreffen, dann nämlich, wenn statt heidnischer Göttergeschichten die christliche Offenbarung und mithin die wahre Religion das Gedicht bestimmt. Dann nämlich wird ›höhe129 S.o. Teil I/Kap. 3.2. Dass Klopstock mit dem antiken Hochsinnigkeitsbegriff vertraut war – wahrscheinlich durch die Klassikerlektüre in Schulpforta –, zeigt der Aufsatz von 1759 Von der wahren Hoheit der Seele für den Nordischen Aufseher. »Diese Hoheit ist nicht sowohl das Gefühl einer großen Seele, das sie von sich selbst hat, ob dies gleich auch mit in Betrachtung kömmt: sie zeigt sich vielmehr durch gewisse Handlungen, wobei eine außerordentliche Überwindung unsrer selbst nötig ist« (949). Es ist deutlich, dass hier aristotelische (Würdebewusstsein) und stoische Momente (Selbstüberwindung) des Hochsinnigkeitsideals in den Begriff der Seelenhoheit einfließen. Entscheidend jedoch ist die allgemeine Bestimmung derselben als »Bestrebung nach großen Endzwecken« (949). Vgl. auch oben Kap. 3.2. 130 Wie die Dichtung zu solch moralischer Schönheit gelangt, lässt Klopstock im Ungefähren. Sie bzw. ihr Inhalt muss »wirklich edel und erhaben« (HP 1001) sein. Solches erreicht sie etwa durch Schilderungen »des großen und furchtbaren Schönen in der Natur« (HP 1002) und durch Darstellung gewichtiger »Wahrheiten, die gewußt zu werden verdienen« (ebd.), vor allem aber durch »eine gewisse Hoheit in [der] Hauptidee des Gedichts« (HP 1003). 131 HP 1001.
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re‹ zu ›heiliger Poesie‹ und erreicht den Gipfel der Erhabenheit. Diese Bemerkungen zur poetischen Bedeutung der Offenbarung, die Klopstock im Folgenden noch eingehender entfaltet, decken sich mit den entsprechenden Aussagen der Declamatio. Neu ist hingegen das zweite Exempel für die höhere Poesie: Youngs Nächte sind vielleicht das einzige Werk der höhern Poesie, welches verdiente, gar keine Fehler zu haben. Wenn wir ihm nehmen, was er als Christ sagt, so bleibt uns Sokrates übrig. Aber wie weit ist der Christ über Sokrates erhaben!132
Klopstock spricht von den Night Thoughts Edward Youngs (1683–1765), erschienen 1742–46 unter dem Titel The Complaint: or, Night-Thoughts on Life, Death, & Immortality. Von ihrem französischen Übersetzer als »la plus sublime élégie qui ait jamais été faite sur les misères de la condition humaine«133 tituliert, waren die Nachtgedanken im 18. Jahrhundert auch in Deutschland eines der populärsten und einflussreichsten Werke der englischen Literatur.134 Die zitierte Eloge135 auf Young – der selbst stark unter longinischem Einfluss stand136 – gibt weiteren Aufschluss über Klopstocks Begriff der ›moralischen Schönheit‹. Denn die poetischen Meditationen des protestantischen Geistlichen über die Nichtigkeit und Vergänglichkeit des irdischen Lebens – die Young übrigens moral reflections137 nennt – haben, wie bereits der Titel andeutet, letztlich vor allem ein Thema, das sich trotz des herrschenden grüblerisch-schwermütigen Tons immer wieder in enthusiastischen Aufschwüngen Ausdruck verleiht: den christlichen Glauben an ein jenseitiges Leben der unsterblichen Seele.
132
Ebd. Le Tourneur: Les Nuits d’ Young, I, XI; zit. n. S. CORNFORD: Preface, IX. 134 Siehe dazu J. L. KIND: Edward Young in Germany. W. SPARN: »Der Messias«. Klopstocks protestantische Ilias, nennt Youngs Nachtgedanken ein »Kultbuch der Empfindsamkeit« (58). Auch auf den jungen Kant scheint die Lektüre Eindruck gemacht zu haben, wenngleich er kritisch bemerkt, dass Young »gar zu einförmig im erhabenen Tone anhält« (Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, A 11). Vgl. zu Young H. FORSTER: Edward Young. The poet of the Night Thoughts (1683–1765). 135 Klopstock hatte die Night Thoughts wohl über den eng befreundeten Bremer Beiträger J. A. EBERT kennengelernt, der etwa seit 1741 an seiner Übersetzung der Nachtgedanken arbeitete, die 1751 anonym im ersten Band von Eberts Uebersetzungen einiger Poetischen und Prosaischen Werke der besten Englischen Schriftsteller (Braunschweig/Hildesheim 1751) erschien. 1752 lernte Klopstock anhand der Night Thoughts (und mindestens auch um ihretwillen) Englisch (vgl. Briefe 1751–1752, 151). 136 Young ist laut A. ROSENBERG: Longinus in England bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, »dem eigentlichen Kern der Longinschen Gedanken nähergekommen […] als vielleicht irgend ein anderer« (74). Diese Aussage bezieht sich in dichtungstheoretischer Hinsicht auf Youngs Geniekonzeption in On Original Composition, aber auch auf sein dichterisches Schaffen. 137 E. YOUNG: Night Thoughts, Preface, 35. 133
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Klopstocks überschwängliche Huldigung ist ein weiteres Indiz dafür, dass er bei der ›moralischen‹ Wirkung höherer Poesie zuallererst ein wachzurufendes Unsterblichkeitsbewusstsein vor Augen hat.138 »Der Poet, den wir meinen, muß uns über unsere kurzsichtige Art zu denken erheben, und uns dem Strome entreißen, mit dem wir fortgezogen werden. [Er] muß uns mächtig daran erinnern, daß wir unsterblich sind«139. Wenn diese Beschreibung einen Dichter charakterisiert, dann den Dichter der Night Thoughts und ihrer Endlichkeits- und Unsterblichkeitsreflexionen, die das beschränkte Alltagsbewusstsein mit seinen vermeintlichen Werten durch ihr Memento mori harsch unterbrechen, um sogleich den Blick auf die große Bestimmung der Seele zu ewigem Leben zu lenken. Die moralische Schönheit der scheinbar so trüben Nachtgedanken besteht genau darin, dass sie die Schönheiten der Dichtung – etwa den Reiz der epigrammatischen Formulierung, den Reichtum poetischer Bilder und die Hoheit des souverän gehandhabten Blankverses – dazu nutzen, eine zentrale ›moralische Wahrheit‹ anschaulich und eindringlich vor Augen zu führen und die Seele des Lesers durch die Aussicht auf Tod und Unsterblichkeit »zugleich zu erniedrigen und zu erheben«, wie der Klopstock-Freund und Young-Übersetzer Johann Arnold Ebert (1723–1795) formulierte.140 Klopstock erklärt mit den Nachtgedanken ein Poem zum Modell höherer Poesie, das mit dem Unsterblichkeitsglauben um ein dezidiert religiöses Thema kreist. Über diesen Sachverhalt hinaus ist es im Blick auf Klopstocks Dichtungsverständnis aufschlussreich, wie Young die Religion traktiert.141 Der Dichter der Night Thoughts verfolgt mit seinem Opus explizit ein apologetisches bzw. missionarisches Ziel, nämlich die Widerlegung bzw. Bekehrung der Freigeister. Er bedient sich dabei eines zweifachen Verfahrens. Zuerst versucht er seinen fiktiven Gesprächspartner, den exemplarischen 138 Vgl. zur Dominanz der Unsterblichkeitsvorstellung in Klopstocks gesamtem Denken und Werk A. E. HOHLER: Das Heilige, 70ff; G. KAISER: Klopstock, 82f, und W. SPARN: aaO. 66ff. 139 HP 1001 (s.o.). 140 J. A. EBERT charakterisiert Young in seiner zweisprachigen, kommentierten Ausgabe der Night Thougths von 1760 wie folgt: »Unser Poet […] malt ihn [sc. den Menschen] nicht bloß von Einer, und noch dazu der schlechtesten Seite, sondern ganz, so wie er nach seinem gegenwärtigen Zustande, und nach seiner zukünftigen Bestimmung ist. Er sucht ihn zugleich zu erniedrigen und zu erheben; aber seine Absicht geht doch mehr auf dieses, als auf jenes; ja, er braucht sogar jenes als ein Mittel zu dem letztern; die Schatten in seinem Gemälde müssen den Glanz desselben nur noch mehr erhöhen, und zugleich den noch bewundernswürdiger vorstellen, ›der den Menschen so wunderbar gemacht hat.‹ Es ist wahr, der Mensch ist ›ein schwaches Kind des Staubes;‹ aber er ist doch auch ›ein Erbe der Herrlichkeit:‹ Er ist ›ein Wurm; aber auch ein Gott.‹ […] Freylich kann und darf nur ein Christ, wie Young […], von dem Menschen so denken« (Dr. Eduard Young’s Klagen, oder Nachtgedanken über Leben, Tod und Unsterblichkeit, 20f). 141 Vgl. zum Folgenden D. B. MORRIS: The Religious Sublime, 145ff.
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Atheisten Lorenzo, vom Dasein Gottes zu überzeugen, indem er ihm die Ordnung der Natur vor Augen stellt, die ihren weisen Schöpfer kundtut. Aber damit ist erst ein deistischer Standpunkt erreicht. Lorenzo müssen alsdann die Mysterien des Christentums nahegebracht werden, um den Deisten endlich auch zum Christen zu machen. Young zielt zuerst auf die Annahme der natürlichen Religion, um daraufhin auch die Offenbarungsreligion zu vermitteln. Diese Stufung innerhalb der Young’schen Meditationen bietet eine Erklärung für den etwas rätselhaften Satz im obigen Klopstock-Zitat: »Wenn wir ihm [sc. Young] nehmen, was er als Christ sagt, so bleibt uns Sokrates übrig.« Vor dem Hintergrund von Youngs gestuftem Bekehrungsverfahren heißt das: Die Nachtgedanken haben abgesehen von ihren Bezügen zur christlichen Offenbarung als Muster ›höherer Poesie‹ zu gelten. Höhere Poesie sind sie dort, wo sie sich in der Sphäre der natürlichen Religion bewegen und – wie etwa der Sokrates des Phaidon – deren zentrale Wahrheiten, Gott und Unsterblichkeit, verkünden. Auch hier gilt der Satz Klopstocks: »Man kann hier, auch ohne Offenbarung, schon weit gehen.« Und der andere: »Wenn aber die Offenbarung unsre Führerin wird; so steigen wir von einem Hügel auf ein Gebirge.«142 Sobald Young sich mit Motiven aus der christlichen Offenbarung an den Leser wendet, ist er als christlicher Sänger ›heiliger Poesie‹ anzusehen und über sich selbst in der Rolle eines poetischen Sokrates noch »weit erhaben«. Youngs Nachtgedanken stehen also im Grunde für beide Stufen erhabener Dichtung, für die höhere und die heilige Poesie. Und diese Stufung steht, so lässt sich aus Klopstocks Young-Bezug erschließen, in Analogie zur theologischen Stufung von natürlicher und geoffenbarter Religion. Die Verherrlichung Youngs verdeutlicht, dass für Klopstock bereits auf der Ebene der höheren Poesie eine religiöse Resonanz der eigentliche »Endzweck« der Dichtung ist. Für diesen Sachverhalt steht der Begriff der ›moralischen Schönheit‹. Dieser Zentralbegriff von Klopstocks Poesieverständnis kann nach allem, was über seine Bedeutung auszumachen war, geradezu als Explikat der Erhabenheitskategorie begriffen werden. Vor allem die Anklänge an den Hochsinnigkeitsgedanken legen dies nahe, aber auch der Konnex der moralischen Schönheit mit dem Motiv der umfassenden Seelenbewegung, das, wie gezeigt, von Klopstock ausdrücklich mit dem Erhabenen in Verbindung gebracht wird.143 Die besondere Höhe der höheren Poesie, ihre Erhabenheit, liegt eben darin, nicht nur eine besonders heftige, sondern eine bestimmte ›moralische‹ Wirkung zu erzielen, die der Sache nach auf dem 142
HP 1001. Vgl. ebd.: »Denn so sehr auch einige sich selbst klein machen wollen, so können sie sich doch niemals so weit herunterbringen, daß sie etwas anderm, als was wirklich edel und erhaben ist, diese große und allgemeine Bewegung aller Kräfte ihrer Seele erlaubten.« 143
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Feld des Religiösen liegt. Diese Fähigkeit nennt Klopstock ›moralische Schönheit‹. Begegnet uns eine derartige Schönheit – »Welche neue Harmonie der Seele entdecken wir dann in uns! Mit welchem ungewohnten Schwunge erheben sich die Gedanken und Empfindungen in uns! Welche Entwürfe! welche Entschlüsse!«144 Indes, die Erhebung der Seele, die die moralische Schönheit der höheren Poesie wirkt, ist noch zu übertreffen: Aber dieser unserer Erhebung hängt oft noch eine gewisse Mittelmäßigkeit an. Wir fühlens, wir wollten uns noch höher erheben. Unsre Seele ist noch weiter. Sie kann noch mehr fassen. Uns fehlte die Religion noch. Wir waren nur noch in der Sphäre, wo wir selbst die Wahrheiten erfunden haben. Wie glücklich ist gleichwohl derjenige, der hier viel weiß, viel denkt, und viel empfindet. Aber wie glückselig der, der auch nur angefangen hat, die viel höhern Wahrheiten der Religion zu verstehn, und zu empfinden.145
Die Religion – sprich: die geoffenbarte Religion, die Offenbarung in Form der Heiligen Schrift – eröffnet der Dichtung, eröffnet der Seele Klopstock zufolge die größten Höhen. Die Gedanken eines Sokrates über Gott und Unsterblichkeit und die ›moralischen Reflexionen‹ eines Young können zwar zu wahren Einsichten führen, aber ihnen haftet der Makel an, »selbst erfunden«, der natürlichen menschlichen Vernunft entsprungen zu sein. Es fehlt ihnen die übernatürliche Beglaubigung, die Klopstock der christlichen Offenbarung ganz selbstverständlich beimisst. Die »moralische Wahrheit der Bibel«146, alles also, was sie aus ihrer Gotteserkenntnis an Wahrheiten über den Menschen, über seine Bestimmung, sein Seelenheil schöpft, entstammt nicht der begrenzten und fehlbaren Einsicht des Menschen selbst, sondern der Kundgabe des allwissenden und unfehlbaren Gottes. Die Bibel vermittelt der Seele daher eine ungleich höhere, ja die höchste Gewissheit über ihre überirdische Glückseligkeit. Außerdem hält sie einen großen Schatz an Erkenntnissen bereit, die der natürlichen Vernunft ganz unzugänglich sind. Und auch diese »viel höhern Wahrheiten der Religion«147, »besonders da, wo sie eine Stufe höher, als die philosophische[n] [steigen]«148, haben allesamt eine mächtige ›moralische‹ Wirkung: Und welche erstaunungswürdige [!] Wahrheiten legt die Religion dem Verstande vor! Wie bringen diese in unsre Seele diejenige Hoheit zurück, die ihr angeschaffen war! Und wie vielseitig sind sie! Jeder ihrer Zweige gibt dem Wandrer, der von Kleinigkeiten ermüdet war, einen Schatten, unter dem er ausruhn, und sein wahreres Leben atmen kann.149 144
HP 1004. HP 1004f. 146 HP 1007. 147 HP 1005. 148 HP 1007. 149 HP 1008f. 145
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Die »erstaunungswürdigen Wahrheiten« der Religion vollbringen eine soteriologische Leistung, auch wenn sie durch die heilige Poesie bedichtet werden: Sie geben der Seele wieder, was sie durch den Sündenfall verloren hat, und versetzen sie in den Status urständlicher Hoheit zurück. Jedenfalls einen Aufschein dieser Hoheit kann auch die heilige Poesie vermitteln, wenn sie sich jener Wahrheiten annimmt und dem homo viator auf dem Pilgerweg durch sein Leben einen Ausblick auf die Pläne Gottes eröffnet und auf die hohe Bestimmung, die seiner Seele von Gott her zugedacht ward.150 Es tritt an dieser Stelle eine ähnliche Verbindung von Erhabenheitstheorie und theologischer Anthropologie zutage, wie sie bei J. I. Pyra knapp zwei Jahrzehnte zuvor begegnet.151 Die Hoheit der Dichtung ist mit der Hoheit des Menschen assoziiert – bzw. mit dem menschlichen Verlangen, dieselbe (wieder) zu gewinnen. Erst wenn die Dichtung den Menschen aus der Verstrickung in die endlichen Belange des Diesseits befreit und seinen Blick ›nach oben‹ lenkt auf Gott und auf die eigene Unsterblichkeit, so dass er die kleinen Sorgen des irdischen in der Gewissheit des künftigen Lebens vergessen und »sein wahreres Leben atmen kann«, erfüllt sie als heilige Poesie ihrerseits ihre letzte Bestimmung. Es ist deutlich geworden, dass die heilige Poesie im Grunde dasselbe Ziel verfolgt wie die höhere, nämlich die Weckung von Hochsinnigkeit in Gestalt von Unsterblichkeitsgewissheit. Die heilige Poesie hat lediglich andere Quellen und daher vor allem andere inhaltliche Möglichkeiten, um diesem Endzweck nachzukommen. In beiden Fällen der hohen Dichtung ist es die besondere Aufgabe des Dichters, mit den entsprechenden moralischen Wahrheiten »die ganze Seele [zu] bewegen«152: »Wenn der Dichter diese Wahrheiten nicht vergebens sagen will; so muß er sie so sagen, dass sie das Herz ebensosehr als den Verstand beschäftigen«153, so Klopstock – ganz analog den Aussagen über die ›höhere‹ – im Blick auf die ›heilige Poesie‹. 150 J. J. BODMER: Critische Abhandlung, hatte Miltons Darstellung der Engel eine ähnliche antizipatorische Leistung hinsichtlich der Letzten Dinge zugeschrieben: Die christlichen Leser »werden tausend Vergnügen darüber bey sich empfinden, daß der Poet alle Stärcke seines Geistes angespannet, dem Mangel der Nachrichten, so sie davon hatten, zu Hülfe zu kommen, und die Schrancken ihrer Wissenschaft in diesem Stücke weiter hinan zu setzen. Und da diese die Hoffnung der Unsterblichkeit und der ewigen Seligkeit haben, wird es ihnen überaus angenehm seyn, in den Miltonischen Vorstellungen der glückseligen Einwohner des Himmels dasjenige, was sie hoffen, vorzusehen und dadurch einigermassen vorzugeniessen« (26). 151 S.o. Kap. 3.2. Die Akzentuierung der menschlichen Hoheit im Messias hat aus der Perspektive orthodoxer Sündenlehre zum Widerspruch herausgefordert, z.B. L. F. HUDEMANN: Gedanken über den Messias in Absicht auf die Religion, Rostock/Wismar 1754 (siehe dazu G. KAISER: Klopstock, 84f). 152 HP 1000. 153 HP 1009.
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Insofern diese Seelenbewegung die besondere Leistung des Erhabenen ist, fällt auch die heilige Poesie, was ihre Gestalt betrifft, mit der höheren Poesie zusammen. »Einfalt und Hoheit«154, die klassischen Züge des Erhabenen,155 sind die maßgeblichen Eigenschaften beider Stufen hoher Dichtung. Das Erhabene ist ihr gemeinsames Charakteristikum, und die ›Herzensrührung‹ ihr gemeinsamer Zweck. Und doch verwirklicht sich das Erhabene vollkommen erst im Zusammenhang der geoffenbarten Religion. Das Herz ganz zu rühren, ist überhaupt, in jeder Art der Beredsamkeit, das Höchste, was sich der Meister vorsetzen, und was der Hörer von ihm fordern kann. Es durch die Religion zu tun, ist eine neue Höhe, die für uns, ohne Offenbarung, mit Wolken bedeckt war.156
Die ›heilige Poesie‹, so lassen sich Klopstocks Reflexionen zusammenfassen, ist Vermittlerin der Religion im Medium der ›höheren Poesie‹, im Medium des Erhabenen. Es ist ihr Beruf, die Wahrheiten der Religion der ganzen Seele nahezubringen, Verstand und Herz, und sie tut dies in Gestalt des Erhabenen. Umgekehrt gesprochen: Sie ist höhere Poesie, gesteigert durch ihren Bezug zur geoffenbarten Religion. Aus anderen Quellen schöpfend hat sie dasselbe ›moralische‹ Ziel wie jene, nämlich die Erhebung der Seele zum Bewusstsein der gottgegebenen Hoheit und Unsterblichkeit.
5.3. Erhabene Dichtung und religiöse Andacht Im Rückblick auf die beiden dargestellten Schriften gilt es nun eine summarische Skizze von Klopstocks Poetologie des Erhabenen zu zeichnen. Dazu ist zunächst festzuhalten, dass zwischen der frühen Declamatio und der Schrift Von der heiligen Poesie kaum substantielle Differenzen bestehen. Es sind allerdings gewisse Verschiebungen zu konstatieren. Diese betreffen einmal die Terminologie, insofern der Begriff des Erhabenen zugunsten des Begriffspaars von höherer und heiliger Poesie etwas zurücktritt. War früher von der erhabenen Dichtung schlechthin die Rede, die ihre höchste Verwirklichung in der religiösen Poesie findet, artikuliert sich dieselbe Steigerungslogik jetzt in der Stufung von ›höherer‹ und ›heiliger Poesie‹. Ferner klingt die Idee von der idealisierenden und transzendierenden Kraft der poesis creatrix, die 1745 noch von elementarer Bedeutung war, 1755 nur noch ganz am Rande an.157 Überhaupt ist die Beschreibung der Mittel, mit denen die höhere Poesie ihre Erhebungswirkung erlangt, eher noch dürfti154
HP 1008. S.o. bes. Kap. 1.1.2, 3.3.2 und 4.3.2. 156 HP 1009. 157 Vgl. HP 1002: »Malerin des großen und furchtbaren Schönen in der Natur«. 155
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ger als in der Declamatio. Schließlich lässt sich auch in der Bestimmung dieser Wirkung eine gewisse Modifikation notieren: Waren in der Abschiedsrede noch die Darstellung von Gottes Majestät und die dementsprechende Resonanz der Ehrfurcht zentrale Merkmale der religiösen Dichtung, scheint Klopstocks Poesieauffassung im späteren Traktat ganz auf das wachzurufende Hoheits- und Unsterblichkeitsbewusstsein fokussiert zu sein. Dass freilich auch schon für den Portenser Schüler Anbetung Gottes und Unsterblichkeitsgewissheit zusammengehören, zeigt eine Stelle aus der Danksagung der Declamatio: … quum pauca scire et Te, o sanctissimum Numen, adorare, eam demum summam hominis esse sapientiam meditaretur, se nullo modo errare videbat. Tui igitur contemplatione inprimis occupata, pura sinceraque laetitia perfundebatur dignitatisque suae et immortalitatis memor, divina illustris luce gestiebat.158
… wenig zu wissen und Dich, o heiligste Gottheit, anzubeten – als er [sc. der unsterbliche Geist (immortalis mens) des Redners] endlich bedachte, dass dies des Menschen höchste Weisheit sei, da sah er, dass er in keiner Weise irrte. Mit deiner Betrachtung also vorzüglich beschäftigt, wurde er von reinster Freude erfüllt und frohlockte, seiner Würde und Unsterblichkeit eingedenk, erleuchtet vom göttlichen Licht.
Es lässt sich aus diesem Gebet erschließen, dass wohl bereits der junge Klopstock bei der religiösen Wirkung religiöser Dichtung an ein Zugleich von Gottes- und Unsterblichkeitsbewusstsein dachte. Der letztere Aspekt tritt 1755, womöglich unter dem Einfluss der Young-Lektüre, stark hervor, der erstere tritt in den Hintergrund. Die Affinität von Klopstocks Erhabenheitsbegriff zum Religiösen hingegen zeigt sich in beiden Texten in gleicher Deutlichkeit. Wie bei den Hallenser und – in Ansätzen – bei den Züricher Protagonisten des Ästhetikdiskurses zielt Klopstocks Konzept heilig-erhabener Poesie auf Zustände des Subjekts, in denen das Gemüt, vermöge der poetischen Wirkung auf Einbildungskraft und Herz, nach seiner kognitiven wie nach seiner affektiven Seite gänzlich von den religiösen Gehalten erfüllt ist, sei es von der Majestät Gottes, sei es von der eigenen Bestimmung zur Unsterblichkeit (bzw. den göttlichen Heilsveranstaltungen, die der Verwirklichung jener Bestimmung dienen). Klopstock konzipiert das Erhabene, so könnte man diesen Befund zusammenfassen, als Funktion von Erbauungspoesie. In diesem Sinne ist Klopstocks Programm auch von den Zeitgenossen verstanden worden. Christoph Otto von Schönaich (1725–1807) etwa tönt in seinem gottschedianischen Pamphlet, dem Neologischen Wörterbuch (1754), in der parodie158
Decl. 173.
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renden Maske eines Klopstock-Jüngers: »Ich halte des Nachmittags ordentlich eine Erbauungsstunde, wo ich meine Schüler, an Statt eines Kapitels aus der Bibel, allezeit ein Stück aus der Meßiade vorlese, und in die gemeine Sprache übersetzen lasse. Ich habe auch bereits angefangen, die Bibel in Hexameter zu bringen…«159 Tatsächlich entsprach die Rezeption der Klopstock’schen Dichtung diesem Bild nicht wenig. »Klopstocks Messias und seine Geistlichen Oden sind noch wirklich als Erbauungsbücher gelesen worden«160. Messias-Lesungen im privaten Zirkel konnten deutliche Züge von Erbauungsstunden tragen, und selbst auf Gebetbänken katholischer Nonnen war neben der Bibel Klopstocks Epos zu finden.161 Indessen bietet sich zur Charakterisierung der religiösen Intention von Klopstocks Erhabenheitskonzeption noch ein anderer Terminus an. Demnach ist das Erhabene für Klopstock Inbegriff einer Dichtung, die ihren Leser zur Andacht führen will. Klopstock gebraucht für die von der heiligen Poesie hervorzurufenden Gemütszustände ausdrücklich die Begriffe ›Andacht‹ oder ›Anbetung‹. Er tut dies beispielsweise in der Einleitung seiner Geistlichen Lieder von 1758. Hier werden zwei Arten von heiliger Poesie voneinander abgegrenzt: ›Gesänge‹, deren Hoheit für die große Masse der Menschen zu hoch ist – ihnen entsprächen etwa Klopstocks religiöse Hymnen, aber auch der Messias –, und ›Lieder‹ von etwas »gemilderter Schreibart«162, die sich »zu den meisten herunterlassen«163, um für das Singen im öffentlichen Gottesdienst tauglich zu sein. Beide Formen von »heiligen Gedichten«164 sehen darauf ab, die Herzen zu religiöser »Empfindung«165, zu »Anbetung«166 und »Andacht«167 zu bewegen. Die einen sind für die »öffentliche Anbetung« bestimmt, die anderen, so muss man schließen, für die private Andacht der Wenigen.168 Im gleichen Jahr dehnt Klopstock die nämliche Funktionsbestimmung an anderer Stelle auf die schönen Künste aus:
159
CH. O. V. SCHÖNAICH: Die ganze Aesthetik in einer Nuss oder neologisches Wörterbuch, Ndr. der Ausg. 1754, Berlin 1900, 6 (zit. n. H.-G. KEMPER: Empfindsamkeit, 239). 160 R. MOHR: Art. Erbauungsliteratur III, 67. 161 Vgl. zur religiösen Klopstock-Rezeption G. KAISER: Klopstock, 158ff, und R. ALEWYN: Klopstocks Leser; G. F. MEIER teilt 1749 die »Nachricht« mit, »daß die Herrn Geistlichen in der Schweitz dieses Gedicht auf der Cantzel so gar anpreisen« (BHM 94). 162 Vgl. EGL 1012. 163 EGL 1010. 164 Ebd. 165 EGL 1013. 166 EGL 1013ff, passim. 167 EGL 1012. 168 Vgl. ferner oben Anm. 99. K. KOHL: Rhetoric, weist in diesem Zusammenhang auf den Bezug zum biblischen Psalter hin: Klopstock »destinguishes the church hymn or ›Lied‹ from the more elevated ›Gesang‹, while placing both in the Psalm tradition. ›Ge-
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Die Bildhauerkunst und die Malerei reizen die Andacht durch die Bilder, die sie aus der heiligen Geschichte nehmen und damit die vornehmsten Meisterstücke der Baukunst ausschmücken. […] Und zu welchen Empfindungen würde die Seele von der Musik erhoben werden, wenn sie in den Kirchen die wahre Sprache des Herzens und der Andacht zu reden und vornehmlich hier ihre Stärke in ihrem ganzen Umfange zu zeigen veranlaßt würde!169
Wie der Musik und der bildenden Kunst wies Klopstock der erhabenen Poesie die Aufgabe zu, den Rezipienten zur Andacht, zu »rührende[r] Vorstellung der Begebenheiten der Religion«170 zu verhelfen. Wie bereits angedeutet, hat die Rezeption von Klopstocks Dichtung dem lange in erstaunlichem Maße entsprochen. Klopstock erzielte mit seiner ›heiligen Poesie‹ eine ähnliche Resonanz wie seine großen Vorbilder Milton und Young171, und noch der erweckliche Schriftsteller Johann Heinrich Jung-Stilling (1740– 1817) berichtet, es hätten keine anderen Werke seine jugendliche Frömmigkeit so sehr genährt wie Paradise Lost, die Night Thoughts und der Messias.172 Die drei großen Werke der religiösen Dichtung, die von den Zeitgenossen als exemplarische Verwirklichungen des Erhabenheitsideals angesehen wurden, scheinen bei ihren Lesern tatsächlich jene fromme Erhebung der Seele bewirkt zu haben, die seit jeher dem Erhabenen zugeschrieben wurde. Die »gottseligen Rührungen« (Meier)173, die von jenen Werken ausgelöst wurden, mögen nicht unwesentlich zur Stabilisierung der ihrer fraglosen Gültigkeit beraubten Religion beigetragen haben.174 So stellte denn auch der Klopstock-Freund und -Verteidiger Johann Andreas Cramer (1723–1788) diese Form von »Gottseligkeit« dezidiert der rationalen Überzeugung von der Wahrheit der Religion, der »Andacht der Vernunft«, entgegen: als »Andacht der Einbildungskraft«175. Cramer beschreibt sie in Einklang mit Klopstocks Dichtungsauffassung als eine Form religiöser Besinnung, in der »die erhabensten und fruchtbarsten Wahrheiten der christlichen Religion« nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern dank der »frommen Erdichtungen« »recht lebendig empf[u]nden«176 werden. Klopstocks Theorie der höheren sang‹ is the term he applies to the free-verse hymns in their prefaces, and he overtly links them with the Psalter by reference to the poet’s harp« (16). 169 RKW 984. 170 Ebd. 171 Vgl. S. CORNFORD: Preface, IX. 172 Siehe J. L. KIND: Edward Young in Germany, 99f. 173 BHM 96. 174 Vgl. zur apologetischen Inanspruchnahme des Erhabenen, nicht zuletzt im Hinblick auf Klopstocks Dichtung, oben Kap. 3.2.3. 175 J. A. CRAMER: Gedanken über die Frage: Wie weit Erdichtungen in Epopeen, welche Begebenheiten in der Religion zum Gegenstande haben, zugelassen seyn können? (1752), 624. 176 Ebd.
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und heiligen Dichtung ist die Theorie einer solchen poetischen Andacht, und das Erhabene ist deren Leitidee. Die Begriffe ›Erbauung‹ und ›Andacht‹, die zur Kennzeichnung der religiösen Wirkungsabsicht des Erhabenen angeführt wurden, markieren die frömmigkeitsgeschichtliche Übergangsstellung von Klopstocks Poetik und Poesie. Weist ›Erbauung‹ historisch zurück ins 17. Jahrhundert, deutet der Terminus ›Andacht‹ voraus auf das moderne Phänomen, das Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773–1798) Jahrzehnte später ›Kunstandacht‹ nennen wird.177 Eine Differenz zur klassischen Erbauungsliteratur besteht schon in der avancierten ästhetischen Gestalt der Klopstock’schen Dichtung, die mit einem entsprechend hohen ästhetischen Reflexionsniveau einhergeht. Die religiös-erhabene Poesie, die von Klopstock und seinen Vorgängern gefordert und verwirklicht wird, indiziert einen ästhetisch-religiösen Geschmackswechsel. Offenbar sind – im Zuge des Aufkommens der wissenschaftlichen Ästhetik sowie der Renaissance des Erhabenen – die ästhetischen Erwartungen an die religiösen Medien gestiegen. Anders gesagt: Es hat sich die Einsicht in die besonderen ästhetischen Erfordernisse bei der Vermittlung des Religiösen durchgesetzt, die in der Erhabenheitstheorie bedacht wird. Die ästhetische Reflexion der religiösen Medien schafft damit auch ein neues Bewusstsein für den generellen Sachverhalt der ästhetischen Vermitteltheit religiöser Erfahrung. So kommt es zur Behauptung einer eigenständigen religiösen Funktion der Poesie als Partnerin der Theologie. Zugleich korrespondiert der ästhetischen Reflexion, insofern sie wesentlich psychologisch fundiert ist und insofern sie mit dem longinischen Leitbegriff die Assoziation von Erschütterung und Ekstase mitführt, ein gesteigertes Bedürfnis nach extraordinärer Intensität des religiösen Erlebens. Dies tritt bei Klopstock am deutlichsten im Ideal religiöser »Entzückung« hervor, die als extreme Steigerungsform der Andacht rangiert.178 Vergleichbar mit Wackenroder ist bereits bei Klopstock die religiöse Kunst auf eine Form subjektiver Vollzüge ausgerichtet, in der das Religiöse ästhetisch erlebbar wird. In struktureller Korrespondenz zum longinischen Synthesebegriff des Erhabenen, der die Differenz von Ästhetik und Religion übergreift,179 wird die Dichtung vorzügliches Mittel zur Generierung von Gemütsbewegungen, in denen Ästhetisches und Religiöses einander durchdringen. In diesem Sinne sind Poetik und Poesie Klopstocks als Pro-
177 Vgl. zu Wackenroder unten Kap. 6. Vgl. zum Folgenden auch die Kapitel 2.3, 3.5 und 4.4. 178 Vgl. RKW 1012: »Jener [sc. der Gesang] ist die Sprache der äußersten Entzückung, oder der tiefsten Unterwerfung: dieses [sc. das Lied] der Ausdruck einer sanften Andacht, und einer nicht so erschütterten Demut.« 179 Vgl. dazu oben Teil I/Kap. 5. und Teil II/Kap. 1.3.
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gramm und Durchführung einer Ästhetisierung der Frömmigkeit zu begreifen, der eine Sakralisierung der Dichtung entspricht. Man kann diese Tendenz von Klopstocks Dichten und Denken im Horizont einer frömmigkeitsgeschichtlichen Krise verorten. Zumindest legt das der Seitenblick auf eine Schrift nahe, die im selben Jahr erschien wie der Traktat Von der heiligen Poesie (1755). Sie stammt von dem Neologen Johann Joachim Spalding (1714–1804) und trägt den Titel Der Wert der Andacht.180 Der Pfarrer von Lassahn und spätere Propst von Berlin diagnostiziert in dieser Schrift einen allgemeinen Mangel an »innerlicher Religion«181, der an den Menschen trotz unveränderter äußerer Glaubenszugehörigkeit unverkennbar sei. Spalding fragt irritiert: »Warum ist doch bei denen im Herzen keine Andacht, wenn anders in ihrem Verstande Religion ist«182? Es müsse doch eigentlich schon der Glaube an die basalen Wahrheiten der natürlichen Religion genügen, »um Andacht zu empfinden«183: Der einzige Gedanke: Es ist ein Gott hätte schon Kraft genug, eine Seele, die da weiß, was sie denket und glaubet, mit Schaudern oder Entzücken zu erfüllen. […] Wird aber dies wirklich geglaubet, ist man noch dazu von einer Fürsehung und von einer zukünftigen Welt überzeuget (um an allem Übrigen mit Stillschweigen vorbeizugehen), so helfe man mir doch zu einer Erklärung, wie es möglich ist, daß das die Seele nicht mehr in Bewegung setzet. Ich verlange von einem, der überall noch Religion haben will, nur gerade soviel und nicht mehr Andacht, als er Religion hat.184
Nicht etwa ein offen grassierender Unglaube beunruhigt Spalding, sondern der Befund eines heimlichen Frömmigkeitsschwundes. Nach seiner Be180 Erschienen zuerst in: Beiträge zum Nutzen und Vergnügen […], Greifswald 1755, 151–154. In der Klopstock-Literatur werden immer wieder Bezüge zu Spalding hergestellt. In diesem Zusammenhang heißt es bei W. SPARN: Der Messias, über Klopstocks theologischen Standpunkt: »Auch in wichtigen Einzelzügen seines Verständnisses von Religion vertritt Klopstock eine neologische Position« (62f); vgl. H.-G. KEMPER: Empfindsamkeit, 443. Die ältere Forschung hat Klopstock näher an den Pietismus gerückt; vgl. G. KAISER: Klopstock, 123ff. Wie oben in Kap. 2.1. angedeutet, sind Aufklärungstheologie und Pietismus ohnehin nicht trennscharf voneinander zu scheiden. Beide heben etwa den ›Wert der Gefühle im Christentum‹ hervor, um es mit dem Titel von Spaldings Schrift aus dem Jahre 1761 zu sagen (Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthum), wenn auch die Fassung dieses Gefühlsbezugs im Einzelnen differieren mag. Trotz der großen Nähe erblickt W. Sparn bei Klopstock auch eine »Überbietung der Neologie« (aaO. 75), nämlich in der spezifischen Christusfrömmigkeit, die ihn wiederum am ehesten mit dem Herrnhuter Pietismus verbinde (vgl. 75ff; vgl. G. KAISER: aaO. 105ff und 123ff). Vgl. ferner D. TILL: »Der Gräber Todesnacht ist nun nicht mehr! erwacht!«. Pietismus, Neologie und Empfindsamkeit in Klopstocks Bearbeitung von Nicolais ›Wächterlied‹. 181 J. J. SPALDING: Der Wert der Andacht, 118. 182 AaO. 120. 183 AaO. 119. 184 Ebd.
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obachtung wird jede Äußerung religiöser Innerlichkeit von vielen bereits als ganz abseitig, ja peinlich empfunden. Obwohl doch nach Spaldings tiefer Überzeugung »die Beschäftigung des Herzens mit Gott« als »die würdigste und edelste Erhebung der menschlichen Seele« zu gelten hat!185 Schon die skizzierte Krisendiagnose wirft ein neues Licht auf Klopstocks Dichtungsauffassung, zumal mit der ›Seelenerhebung‹ dasselbe religiöse Phänomen fokussiert wird wie in den Zielbestimmungen von dessen Poetik des Erhabenen. Klopstocks dichterische Theorie und Praxis kann als das Streben begriffen werden, auf poetischem Wege zu erreichen, was mit den herkömmlichen Mitteln der Frömmigkeitskultur nicht mehr recht zustande kommt: religiöse Andacht. Die traditionellen »Andachtsbücher«186 jedenfalls – so wiederum Spaldings Urteil – sind weitgehend obsolet: Zu »schwach« und zu »kindisch« sind sie, als dass sie »den Umgang mit Gott vernunftmäßig, ehrwürdig und groß mache[n]«187 könnten. Aber eine gewisse höhere »Art der Beredsamkeit« wäre in den »eigentlichen Werke[n] der Andacht« ebenfalls fehl am Platz: Zuviel gesuchter Schmuck, eine Ziererei in der Sprache und in den Wendungen; große schimmernde Gewölke von Redensarten, die nichts Festes noch Lehrendes […] in sich finden lassen, die schicken sich in keine ernsthafte Schrift oder Rede; und am allerwenigsten schicken sie sich dahin, wo das Gemüt sich unmittelbar mit Gott, mit dem Gotte der Wahrheit, unterhalten soll. Wenn man da mühsam die Ausdrücke von den Dichtern entlehnet, die nur die Einbildungskraft beschäftigen; wenn es da genug zu merken ist, wie sehr der Kopf gearbeitet hat, um etwas so Schönes und Prächtiges herauszukünsteln, dessen Wahrheit das frostige fühllose Herz gar nicht oder doch viel schwächer erfahren hat: so ist der Leser sehr geneigt, dieses ganze Geschäfte in das Reich der Erdichtungen zu setzen.188
Spalding warnt, vermutlich nicht zuletzt in antipietistischer Stoßrichtung, vor einem künstlich-erhabenen, pseudo-poetischen Duktus in Andachtsbüchern. Er warnt vor religiösem »Schwulst«, um es mit der einschlägigen, von Longin entlehnten Kategorie der zeitgenössischen Ästhetik zu sagen.189 Kaum hat Spalding dabei unmittelbar Klopstock im Auge. Schließlich hatte er es sich einige Jahre zuvor aus Begeisterung selbst zur Aufgabe gemacht, »das Lob des Meßias zu verkündigen«, und hatte sich um eine Versorgung des jungen Dichters bemüht.190 Wahrscheinlich zählt er die heilige Poesie Klopstocks nicht zu den »eigentlichen Werken der Andacht«191, sondern – in 185
AaO. 120. AaO. 124. 187 Ebd. 188 Ebd. 189 Vgl. oben Kap. 3.4.2; ferner De subl. 3. 190 Vgl. G. KAISER: Klopstock, 32. 191 J. J. SPALDING: aaO. 124 (Hvhg. M.F.). 186
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Orientierung an den überkommenen Genregrenzen – zur Dichtkunst. Schließlich ist die Idee einer ›Andacht der Einbildungskraft‹ (Cramer) bzw. einer ›Kunstandacht‹ (Wackenroder) noch längst nicht etabliert. Wie dem auch sei, es ist bemerkenswert, dass Spalding zur gleichen Zeit wie Klopstock über die Möglichkeiten einer Poetisierung des Religiösen nachdenkt. Der neologische Theologe übt an den herkömmlichen religiösen Medien ästhetisch Kritik. Nicht nur wird der verbreitete religiöse Schwulst abgelehnt, indem seine besondere Inadäquatheit in religiösen Dingen herausgestellt wird – man denke an die theologischen Debatten über das longinisch-boileauische sublime simple192 –, sondern es werden zudem Dechiffrierungsprobleme ins Feld geführt, die im Rahmen der Hallischen Ästhetik als Problematik der Überführung symbolischer in anschauliche Vorstellungen verhandelt werden.193 Zu derselben Zeit, da die junge wissenschaftliche Disziplin die ästhetischen Bedingungen für das Zustandekommen ›lebendiger Erkenntnis‹ untersucht, auch und gerade auf dem Felde der Religion,194 und da theologisch gebildete Männer wie Pyra und Klopstock daraus programmatische poetologische Konsequenzen ziehen, rücken die Potentiale des Ästhetischen für die lebendige fromme Empfindung auch bei einem der »bedeutendsten lutherischen Theologen des 18. Jahrhunderts«195 in den Blick, und zwar im Kontext einer religiösen Krisendiagnose. Insgesamt fällt die diesbezügliche Reflexion bei Spalding freilich spürbar nüchterner aus als bei Klopstock. In einem wesentlichen Punkt sind sich beide jedoch einig, insofern sie jeweils die Notwendigkeit einer authentischen religiösen Empfindung für die Verfassung erbaulicher Texte herausstellen. Laut Klopstock kommt es auf die echte Herzensfrömmigkeit, auf die »wirkliche Empfindung der Schönheit der Religion«196 an, und Spalding betont: Nur die Sprache der Natur und der Wahrheit, die von einem geraden und aufrichtigen Herzen zeuget, die gehöret für den Umgang mit Gott und unserm Gewissen. Und eben diese Sprache kann Hohes und Edles genug haben, wenn die Seele die großen Dinge, mit welchen sie dann zu tun hat, recht zu empfinden und sie in ihrer reinen Einfalt auszudrücken weiß.197
Hoheit und Einfalt, die laut Spalding die Sprache des Andachtsbuches zu vereinen hat, sind auch für Klopstock die wichtigsten Züge der erhabenen, heiligen Poesie. Beiderseits ist der bereits angesprochene Begriff des ›einfa192
S.o. Kap. 1.1.4, 3.3.1, 3.3.2 und 4.3.2. In dem Satz »Wenn man da mühsam…« Vgl. dazu oben Kap. 2.2.1. 194 S.o. Kap. 2.2 und 2.3. 195 A. BEUTEL: Aufklärung in Deutschland, 257. 196 HP 1009. 197 J. J. SPALDING: aaO. 125. 193
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chen Erhabenen‹ zu erkennen. Gleichwohl unterscheidet sich beider Ideal erbaulichen Sprechens. So hat jener offenbar prosaische Texte vor Augen, dieser ausschließlich Dichtung. Spalding ist wohl vorwiegend an der klassischen Erbauungsliteratur orientiert, Klopstock hingegen verfolgt eine neuartige Form von Andachtspoesie. Dieser Differenz korrespondiert allem Anschein nach eine unterschiedliche Vorstellung von der angestrebten Erhebung der Seele. So heißt es dazu bei Spalding: Und wenn wir auch bisweilen darinnen bei einer strengen Zusammenhaltung unserer Gedanken zu einer außerordentlichen, obgleich den Gegenstand nie übersteigenden, Höhe entzückt werden, so können unsere denkenden und fühlenden Kräfte das doch nur eine sehr kurze Zeit aushalten und müssen bald zu sanftern und ruhigern Regungen zurückkommen.198
Für Spalding ist die »Entzückung« des Gemüts zu »außerordentlicher Höhe« nur eine Ausnahmeerscheinung, auf die entsprechend auch die Andachtsliteratur gar nicht abzuheben hat. Ihr Metier ist die »niedrigere Gegend der Andacht«199, in der sich die fromme Seele für gewöhnlich aufhält. Spalding schätzt die mögliche Intensität des frommen Gefühls merklich geringer ein als Klopstock, der sich mit solch niederen Sphären gerade nicht zufrieden gibt. Wie sich an der oben referierten Unterscheidung zwischen ›Lied‹ und ›Gesang‹ ablesen lässt, geht er durchaus davon aus, dass immerhin wenige vermittels der heiligen Poesie über die »sanfte Andacht« hinaus auf die Stufe »äußerster Entzückung« geführt werden können. Mögen zwischen dem Aufklärungstheologen und dem Dichter des Messias auch große Übereinstimmungen im theologischen und womöglich auch im ästhetischen Denken geherrscht haben – hinsichtlich ihrer Frömmigkeit ist doch ein deutlicher Temperaturunterschied zu spüren.200 Klopstocks enthusiastisches Frömmigkeitsideal wird besonders gut greifbar in einem Beitrag zum Nordischen Aufseher von 1758 mit dem Titel Von der besten Art über Gott zu denken.201 Klopstock unterscheidet drei Arten, »über Gott zu denken«. Erstens »eine kalte, metaphysische, die Gott beynahe nur als ein Objekt einer Wissenschaft ansieht, und eben so unbewegt über ihn philosophirt, als wenn sie die Begriffe der Zeit oder des
198
AaO. 120. Ebd. 200 Um die »Gefühlstemperatur« der neologischen Religiosität von Klopstocks Enthusiasmus abzuheben, hat G. KAISER etwas überspitzt formuliert: »Neologie ist wohltemperierte Frömmigkeit« (Klopstock, 99). 201 Vgl. dazu aaO. 96ff; ferner J. JACOB: Heilige Poesie, 161ff. Laut U. GAIER: Empfindungssystem, rezipiert Klopstock in dem Essay »mit großer Wahrscheinlichkeit« (740) den Renaissance-Gelehrten AGRIPPA VON NETTESHEIM: De triplici ratione cognoscendi Deum (1532). 199
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Raums entwickelte«202. Dieses Denken »nach einer gewissen Schulmethode«203 – hier denkt der Autor sicher an Wolff – steht in der »Gefahr«, »gar zu selten, oder beynahe gar nicht, Gott, als den unendlich liebenswürdigen, als den über allen Ausdruck bewundernswürdigen, zu denken und zu empfinden«204. Das kalte Räsonieren über Gott lässt es am religiösen Gefühl fehlen und denkt darum »nicht würdig genug« von ihm: »denn dieß Denken« – das Denken an Gott – »kann von der Empfindung nicht getrennt werden«.205 Die einzig wahre Art, Gott zu erfassen, ist, ihn mit der ganzen Seele, mit Verstand und Herz zu erfassen. Ein Begreifen Gottes, das die Seele nicht zu andächtiger Empfindung bewegt, kann Gott nicht wahrhaft begriffen haben. Die zweite, mittlere Art kommt dieser wahren Auffassung Gottes schon näher. Klopstock nennt sie ›Betrachtungen‹. »Die Betrachtungen verbinden eine freyere Ordnung mit gewissen ruhigen Empfindungen; und nur selten erheben sie sich bis zu einiger Bewundrung Gottes.«206 Gemeint ist eine Kontemplation, die sich nicht an das strenge Schlussverfahren der Schulmethode kettet, sondern »freier« verfährt und dabei auch der frommen Empfindung einen gewissen Raum gibt. Aber auch diese Art – sie kommt wohl dem, was Spalding vorschwebt, recht nahe – denkt Klopstocks Ansicht nach noch zu niedrig von Gott. Sie wird in ihrer Mäßigkeit nicht wirklich dessen Majestät gerecht. »Dieser Vorstellung Gottes fehlt die Erfahrung der Differenz, der Unangemessenheit und Vorläufigkeit der menschlichen Bilder, oder anders: das Gespür für das Erhabene, welches die treibende Kraft für die von Klopstock intendierte Bewegung ist.«207 Die eigentliche Gotteserkenntnis ist erst mit dem »Erstaunen über Gott« erreicht, der »obersten Stufe« der religiösen Seelenerhebung: Sich der obersten Stufe nähern, nenne ich, wenn die ganze Seele von dem, den sie denkt, (und wen denkt sie?) so erfüllt ist, daß alle ihre übrigen Kräfte von der Anstrengung ihres Denkens in eine solche Bewegung gebracht sind, daß sie zugleich und zu einem Endzwecke wirken; […] wenn wir uns nicht enthalten können, unser Nachdenken durch irgend einige kurze Ausrufungen der Anbetung zu unterbrechen; wenn, wofern wir darauf kämen, das, was wir denken, durch Worte auszudrücken, die Sprache zu wenige und schwache Worte dazu haben würde…208 202
BAG 210. BAG 211. 204 BAG 210f. 205 BAG 211. Derselbe Grundgedanke, der auf die hallische Ästhetisierungsidee zurückweist (s.o. Kap. 2.3), findet sich auch bei G. W. ZAPF: Von dem Erhabenen der Dichtkunst in den geistlichen Liedern (1769), 11f: »Ein Lied, zum Beyspiele, von den Werken Gottes wird die Menschen mehr zur Empfindung, als zum Nachdenken bewegen. Die Anbetung Gottes ist mehr als die bloße Betrachtung.« 206 BAG 212. 207 J. JACOB: aaO. 167. 208 BAG 214. 203
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Klopstock beschreibt einen Punkt äußerster Gotterfülltheit, in der alle kognitiven und affektiven Seelenkräfte von dem einen Gehalt in Beschlag genommen, in eine einzige religiöse »Bewegung gebracht« sind. Das Nachdenken über Gott ist zugleich so sehr Empfindung, dass die Seele dazu drängt, diesem ihrem Enthusiasmus – im wörtlichen Sinne des Durchdrungenseins vom Göttlichen – durch »kurze Ausrufungen« Ausdruck zu verleihen. Die Gottbegeisterung drängt zur Sprache – und weiß doch ob ihres Inhalts um die Unmöglichkeit, wirklich Sprache werden zu können. Insofern das wahre religiöse Bewusstsein das sanctissimum Numen, an das sich der Portenser Schüler am Schluss seiner Abschiedsrede einst wandte,209 als »den über allen Ausdruck bewundernswürdigen«210 Gott denkt und empfindet, weiß es um die Unangemessenheit jedes sprachlichen Ausdrucks, um die Unsagbarkeit seines Gehaltes, und verfällt am Ende wieder in anbetendes Schweigen.211 Es ist eben diese höchste Stufe der zwischen religiösem Ausdrucksbedürfnis und frommer Sprachlosigkeit changierenden Gottinnigkeit, auf die Klopstocks heilige Poesie führen will.212 Und wie eine Äußerung zu der Hymne Dem Allgegenwärtigen aus demselben Jahr verrät, kann nach seiner Überzeugung eigentlich nur die Poesie dorthin führen. Denn: Es giebt Gedanken, die beynahe nicht anders als poetisch ausgedrückt werden können; oder vielmehr, es ist der Natur gewisser Gegenstände so gemäß, sie poetisch zu denken, und zu sagen, daß sie zu viel verlieren würden, wenn es auf eine andere Art geschähe. Betrachtungen über die Allgegenwart Gottes gehören, wie mich deucht, vornämlich hierher.213
Es zeichnet nach Klopstock das Wesen der religiösen »Gegenstände« aus, nur poetisch angemessen »gedacht« werden zu können. Das gilt von Gott selbst wie etwa auch von der Unsterblichkeit der Seele. In anderer, prosaischer Form würden die Gegenstände »zu viel verlieren«, als dass sie noch als göttlich gelten und das religiöse Subjekt wirklich in seinem Denken und Empfinden ganz einnehmen könnten. Bereits Pyra hatte in der Abhandlung Über das Erhabene die Ansicht formuliert, dass von Gott allein in erhabener 209
Decl. 173 (s.o.). BAG 210f (s.o.). 211 Vgl. oben die am Ende von Kap. 5.1.2 zitierte Sequenz aus der Abschiedsrede (Decl. 172); ferner K. HILLIARD: Schweigen. 212 Vgl. K. KOHL: Rhetoric, 24: »In the hymns, Klopstock presents the poet aspiring to the highest state of contemplation, and thereby seeks to elevate the reader’s soul. Every aspect of the hymns is designed to move the reader to ›think God‹ in this highest mode; interpolated ›Ausrufungen der Anbetung‹ and frequent exclamation marks convey the poet’s ecstasy and enthuse the reader. The poet’s task gains supreme importance: through poetry he leads the reader to religious truth, and strengthens the reader’s faith. […] The poet thus attains a pastoral and prophetic role in a very real sense.« 213 Zit. n. H.-G. KEMPER: Empfindsamkeit, 470. 210
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Rede adäquat zu sprechen sei, und hatte die Poesie daher der Theologie als Helferin zur Seite gestellt.214 Weil die religiösen Gehalte nur in erhabener Gestalt ihre Würde wahrten und weil sie nur in solcher Gestalt die ganze Seele des Menschen erreichten, daher sei das religiöse Leben auf die Dichtung angewiesen. Allein die erhabene Poesie sei die Sprache der Religion, darin stimmen Pyra und Klopstock überein, und aus dieser Maxime leitet sich beiden der unabweisbare religiöse Beruf des Dichters ab. Wesentlich stärker indessen als der Hallenser Poet und Poetologe ist Klopstock von einem »Gefühl der Unerforschlichkeit, Unerschöpflichkeit und Unermesslichkeit Gottes«215 bestimmt. Wie die Portenser Abschiedsrede und der Essay Von der besten Art Gott zu denken legt seine religiöse Dichtung davon vernehmlich Zeugnis ab.216 Klopstocks Ideal heiliger Poesie ist von der »Einsicht in eine letztliche Unfaßbarkeit Gottes«217 geprägt, die eine Berührung mit der Tradition der negativen Theologie verrät. Sie manifestiert sich in dem poetologischen Bewusstsein, dass die Gott eignende (wie die dem Menschen verliehene) Ewigkeit an die Grenzen des Sagbaren führt – und dass gerade deshalb allein poetisch von ihr zu sprechen sei. Wie Klopstock in seiner Dichtung vielfach vorführt, ist nur der Überschwang der poetischen Sprache imstande, auf die Spur der göttlichen Majestät sowie der menschlichen Unsterblichkeit zu führen.218 Was über allen Ausdruck erhaben ist, vermag sie ohne Schmälerung zur Sprache zu bringen, nicht zuletzt indem sie nach enthusiastischem Aufschwung das Verstummen vor dem Unsagbaren poetisch inszeniert.219 Weisen die nachgezeichneten Andeutungen zur Darstellung des Undarstellbaren im Besonderen zurück zu Lowth220 und voraus auf Kant und Hegel221, kann Klopstocks Poetik insgesamt als wirkmächtiges Resümee der ästhetisch-religiösen Renaissance des Erhabenen im zweiten Drittel des deutschen 18. Jahrhunderts gelesen werden. Die Grundeinsichten der Hallischen Ästhetik von der notwendigen Poetisierung der Religion durch das Erhabene sind bei Klopstock lediglich stärker auf die Unsterblichkeitsidee fokussiert, um das Bewusstsein der Inkommensurabilität Gottes ergänzt und ins Enthusiastische gesteigert. Auch bei Klopstock ist das Erhabene nicht bloß ein äußeres ästhetisches Mittel, das in den Dienst der Religion 214
S.o. Kap. 3.5. G. KAISER: Klopstock, 76. 216 Vgl. z.B. Dem Allgegenwärtigen, Str. 3ff; Dem Unendlichen, Str. 1 u. 5; Das große Halleluja, Str. 1 u. 6. 217 G. KAISER: aaO. 41. 218 Vgl. zur Rhetorik des enthusiastischen Überschwangs oben Teil I/Kap. 4.1.1.4. 219 Vgl. z.B. Die Glückseligkeit aller, Str. 1; Die Welten, Str. 1ff; Das Schweigen, Str. 5. 220 Vgl. oben Kap. 4.3.3. 221 Vgl. unten ›Systematischer Ausblick‹. 215
5. Poetik der Unsterblichkeit: Friedrich Gottlieb Klopstock
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gestellt wird, sondern eine Idee, die das Ästhetische und das Religiöse umgreift, insofern sie die erlebnisintensive Darstellung Gottes und der himmlischen Bestimmung des Menschen bedeutet. Nach dieser Idee soll die Poetisierung christlich-religiöser Gehalte das Gemüt in ›heiligen Schauder‹ ob der Erhabenheit Gottes versetzen. Sie soll durch überschwängliche Verse die Seele erheben in einen Zustand überschwänglicher Gottbegeisterung und Unsterblichkeitsgewissheit, der in »kurzen Ausrufungen« laut wird, um endlich vor dem Unsagbaren zu verstummen. Letztes Ziel der erhabenen Poesie ist ein äußerster Gipfel hochgespannt-schweigender Andacht.
6. Das Religiös-Erhabene und die Ästhetisierung des Christentums Nach der Untersuchung maßgeblicher Stationen der frühmodernen Renaissance des Traktats Peri Hypsous und seiner Leitidee soll abschließend eine Zusammenschau der Ergebnisse gegeben werden. Dazu ist zunächst der Begriff des Religiös-Erhabenen nachzuzeichnen, wie er sich in der besagten Longin-Rezeption herausgebildet hat, um daraufhin deren religionsgeschichtliche Folgen ins Auge zu fassen. Es ist zunächst zu notieren, dass sich die im ersten Kapitel geltend gemachten Korrekturen am gängigen Bild vom Erhabenheitsbegriff des 18. Jahrhunderts durchweg bestätigt haben. An den behandelten Autoren ist erstens deutlich geworden, dass eine einseitige Hervorhebung der Wirkungsseite des Erhabenen an den frühmodernen Theorien sämtlich vorbeigeht, insofern diese ausnahmslos auf die Korrespondenz von darstellungsästhetischer und wirkungsästhetischer Dimension abheben. Es herrscht durchgehend die Überzeugung, dass die affektive Resonanz, auf die sich das Interesse am Sublimen (wie überhaupt am Ästhetischen) in der Tat vorzüglich richtet, nur durch bestimmte Sujets und deren angemessene Präsentation zu erzielen ist. Auch wenn also das Erhabene nicht unmittelbar über die Gehalte definiert wird, sondern primär über den Effekt, haben die fraglichen Entwürfe – unbeschadet ihrer wirkungsästhetischen Absicht – faktisch durchaus einen darstellungsästhetischen Fokus. Zweitens ist zutage getreten, dass die betreffende Wirkung unterkomplex beschrieben ist, wenn darin das Unlustmoment, das Element des Schreckens oder Grauens, überakzentuiert wird, um als das psychologische Proprium des Erhabenen die innere Widersprüchlichkeit sowie die besondere Intensität der Empfindung herauszustellen. Eine derartige negativemotionalistische Reformulierung erweist sich angesichts der rekonstruierten Erhabenheitstheorien als inadäquate Formalisierung. Gleich ob Pyra, Rambach, Lowth oder Klopstock, immer versuchen die Autoren eine spezifische Qualität der erhabenen Empfindung zu konturieren, für die zuallererst das Moment staunender Bewunderung konstitutiv ist und der dann mehr oder weniger deutlich auch ein abdrängendes Moment eingeschrieben wird. Damit sind zwar schon früh Ansätze zu erkennen, die psychische
6. Das Religiös-Erhabene und die Ästhetisierung des Christentums
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Resonanz des Erhabenen als ›vermischte Empfindung‹ aufzufassen. Es ist aber nur eine ganz bestimmte vermischte Empfindung, der das Attribut ›erhaben‹ beigelegt wird. Nicht jedem beliebigen ›angenehmen Grauen‹ kommt es zu – etwa des Typs, der mit dem Lukrez’schen Schiffbruchstopos seit jeher thematisiert wird –, sondern allein jener eigentümlichen cum quadam horrore adjuncta admiratio (Lowth), für deren Beschreibung im deutschen 18. Jahrhundert mehr und mehr die aus dem religiösen Bereich stammende Wendung vom ›heiligen Schauer‹ gebräuchlich wird.1 Auch das von Longin her geläufige Merkmal besonderer Intensität findet in den einschlägigen Wirkungsbestimmungen in gewisser Weise Berücksichtigung. Die Rede von der erhabenen ›Erschütterung‹ oder Ähnlichem scheint aber teilweise wiederum mehr als Signum einer besonderen Qualität zu fungieren, die man – metaphernlogisch paradox – als die besondere ›Tiefe‹ der Erfahrung des ›Hohen‹ bezeichnen könnte. So bemerkt Baumgarten, das Erhabene müsse sich nicht unbedingt »in heftigen Affekten« niederschlagen, sondern könne auch »in einer ruhigen Stille«2 wirken. Es geht hier nicht um die Gefühlsintensität als solche, sondern um ein inneres Ergriffensein, das sich von einem oberflächlichen Ergötzen dadurch abhebt, dass es die Ganzheit des Menschen betrifft. Nämliches artikuliert der Begriff der ›moralischen Schönheit‹, der bei Klopstock als Äquivalent für das Erhabene rangiert.3 Es ist damit eine ästhetische Erfahrung angesprochen, in der eine ›moralische‹, das heißt – dem weiten zeitgenössischen Sprachgebrauch nach – eine sittlich-religiöse Dimension mitschwingt. Der Mensch wird im Erhabenen mit seiner hohen Bestimmung konfrontiert,4 die ihm, so wiederum Klopstock, Unsterblichkeit verheißt. Gerade in diesem anthropologischen Akzent der frühmodernen Erhabenheitstheorie, der neben dem longinischen Motiv von der Bestimmung zum Hohen gleichermaßen auf den stoisch-christlichen Menschenwürdegedanken wie auf das christliche Gottebenbildlichkeitsmotiv verweist, liegen das Ethische und das Religiöse nahe beieinander, und insofern wird gerade hier die Signatur des ›dreifachen Erhabenen‹, sein Changieren zwischen Ästhetik, Ethik und Religion gut sichtbar.5 Die Tendenz, von der ethischen wie von der religiösen Seite der ästhetischen Kategorie gänzlich zu abstrahieren, war als weiteres Defizit der Sekundärliteratur benannt worden. Im Hinblick auf die vorgestellten Autoren der Frühaufklärung fällt die Gewaltsamkeit einer solchen Abstraktion ins 1
S.o. Kap. 3.3.2 u. 4.3.3.2. Koll. 165f. Auch I. KANT kennt die »ruhige Bewunderung« als mögliche Form des erhabenen Gefühls (Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, A 5). 3 S.o. Kap. 5.2.1. 4 S.o. Kap. 3.2.1, ferner Teil I/Kap. 3.2.3. 5 S.o. Kap. 1.3. 2
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Auge, besonders was den religiösen Aspekt angeht. Denn wie dargelegt wurde, gewinnt die Kategorie nicht nur durch die Wirkungsbeschreibung, sondern noch deutlicher durch die darstellungsästhetischen Bestimmungen einen dezidiert religiösen Zuschnitt. Ist die Renaissance des Erhabenen schon in England und in der Schweiz früh mit der Konjunktur von Miltons religiösem Epos Paradise Lost verbunden,6 kreisen auch die Reflexionen von Pyra und Klopstock um die Idee einer ›heiligen Poesie‹, durch die die Lehren des Christentums Veranschaulichung erfahren sollen. Darüber hinaus wird in der bibelhermeneutischen Longin-Rezeption der Begriff des Sublimen im Gefolge Boileaus fast exklusiv mit religiösen Sujets verknüpft.7 Die religiösen Züge sind in den angeführten Theorien überaus markant, und Ähnliches ließe sich anderwärts auch im Blick auf das Ethische zeigen.8 Wer die beschriebenen Aspekte ausblendet, verfehlt wesentliche Intentionen der fraglichen Autoren. Dies dürfte kaum ernsthaft zu bestreiten sein. Weniger eindeutig mag die Entscheidung ausfallen, ob es sich bei diesen Autoren womöglich um Vertreter einer schmalen religiösen Sonderentwicklung handelt, wie in der Literatur suggeriert wird. Es soll diesbezüglich der Hinweis genügen, dass mit der Hallischen Ästhetik, in deren Umfeld Pyra gehört, sowie mit Lowth und mit Klopstock jeweils Theoretiker oder Theoriekonstellationen untersucht worden sind, die im weiteren Verlauf der Literatur- und Ästhetikgeschichte keineswegs Nebenrollen gespielt haben. Zieht man die nachgezeichnete Traditionslinie der frühmodernen Erhabenheitstheorie in Betracht, sind die dominanten religiösen Motive in jedem Falle unübersehbar. Damit wird das eingeschliffene Bild korrigiert, wonach das Erhabene eine rein ästhetische Erfahrung beschreibe, die sich in erster Linie durch ihre negative Affektkomponente sowie durch ihre besondere Intensität auszeichne. Demgegenüber rückt es in seiner Ästhetik und Religion umfassenden Signatur in den Blick. Über diese Feststellung hinaus ist nun näher anzugeben, was sich in der Longin-Rezeption bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts als Idee des ReligiösErhabenen abzeichnet. Der Erhabenheitsbegriff fungiert hier als Exponent sprachlicher Repräsentationsformen, die zugleich ästhetisches wie religiöses Erleben evozieren, und er firmiert damit als Inbegriff der notwendigen ästhetischen, also der anschaulichen sowie erlebnishaften Seite der Religion. Die darstellungsästhetische Komponente der Kategorie lässt sich allgemein durch die Korrelation von religiösem Gehalt und adäquater Sprachgestalt bestimmen, die im Einzelnen sprachästhetisch9, semiotisch10 und symbol6
S.o. Kap. 1.2. S.o. Kap. 1.1.4, 3.3 u. 4. 8 Vgl. Kap. 1.1.2 u. 1.2.4. 9 S.o. Kap. 3.3.1 u. 4.3.2. 10 S.o. Kap. 3.4.2. 7
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theoretisch11 reflektiert wird. Ziel solcher Darstellung ist – damit ist die wirkungsästhetische Komponente angesprochen – ein Empfinden, das als ›Erhebung der Seele‹ oder als Affektzustand ›heiligen Schauers‹ beschrieben wird. Was die produktionsästhetische Seite betrifft, wird von den theologischen Rezipienten Longins (Budde, Rambach)12 dessen Enthusiasmustopos im Anschluss an Boileau13 christlich umgedeutet und inspirationstheologisch überhöht. Wie bereits erwähnt, gewinnen einige Autoren dem Begriff überdies eine anthropologische Bedeutung ab. Ihrer Ansicht nach gelangt der Mensch im Erleben des Erhabenen in Einklang mit seiner wesenhaften Bestimmung. Mit den nachgezeichneten Konturen nimmt das Erhabene das Gepräge einer Synthesekategorie an, die den Verschränkungsbereich von religiöser und ästhetischer Sphäre markiert. Als solche reflektiert es den religionstheoretischen Sachverhalt, dass religiöse Vorstellungen samt ihrer sprachlichen Gestalt immer auch ästhetische Bedingungen erfüllen müssen, zumal wenn sie Resonanz in der affektiven Dimension des Menschen erzielen sollen. Das religiöse Bewusstsein, obwohl auf ein gänzlich Unanschauliches gerichtet, lebt von gewissen anschaulichen Gestalten – um dieses paradoxe Verhältnis näher zu bestimmen, greifen die Theoretiker des 18. Jahrhunderts zum infrage stehenden Begriff. So betrachtet bildet das Erhabene nicht nur den Inhalt des religiösen Bewusstseins, sondern kennzeichnet geradezu dessen strukturelle Verfasstheit. Dieser Gedanke ist, wie vorgreifend bemerkt werden kann, vor allem von Kant und Hegel weiterverfolgt worden.14 Von der basalen, die strukturelle Beziehung von Religion und Ästhetik betreffenden Funktion des Begriffs ist eine mehr inhaltliche Seite zu unterscheiden, die dem religiös-erhabenen Bewusstsein darüber hinaus eine spezifische Prägung verleiht. Diese religiös-ästhetische Charakteristik kann je nach Autor recht verschieden ausfallen. Gleichwohl lassen sich in der Theoriegeschichte übergreifende Tendenzen namhaft machen. So können grundsätzlich alle ›Wahrheiten‹ der Religion zum Gegenstand des Erhabenen werden, aber die zentralen Themen sind Gott, seine Eigenschaften und Werke. Unter den Eigenschaften wiederum sind es die göttliche Majestät und Allmacht, seine Erhabenheit über alles Weltliche, die besonders im Blickpunkt stehen. Der Konzentration auf die Dei maiestas entspricht auf der wirkungsästhetischen bzw. religionspsychologischen Seite des Begriffs eine Fokussierung auf bestimmte religiöse Affekte. Zwar wird etwa auch die Liebe zu Gott als Wirkung des Erhabenen genannt, durchgängig präsent 11
S.o. Kap. 4.3.3. S.o. Kap. 3.3.2. 13 S.o. Kap. 1.1.4. 14 S.u. den ›Systematischen Ausblick‹. 12
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sind jedoch Affektlagen, die den Abstand zwischen Gott und Mensch signalisieren: Bewunderung, Schauder, Ehrfurcht. Das Erhabene beinhaltet also nicht von vornherein eine Festlegung auf gewisse Erlebnisformen oder Gehalte,15 akzentuiert aber ein bestimmtes Element innerhalb der Religion. Der Begriff steht demnach nicht nur für die generelle religionstheoretische Einsicht in die Notwendigkeit einer ästhetischen Vermittlung des Religiösen, sondern auch für die Unverzichtbarkeit eines spezifischen Momentes der Religion: des Bewusstseins der Abständigkeit des Göttlichen, das sich auch in dessen Vergegenwärtigung nicht verliert. Das Erhabene ist nicht nur Inbegriff eines ästhetischen Religions- oder Christentumsverständnisses, sondern schreibt der Frömmigkeit überdies das konstitutive Bewusstsein der Inkommensurabilität des Göttlichen ein. Dieses Bewusstsein umfasst wiederum den schon genannten religionspsychologischen, aber auch einen erkenntnistheoretischen Aspekt. Zum einen ist das Erhabene mit dem religiösen Grundaffekt der Ehrfurcht verbunden. Es korrespondiert damit, um eine Formulierung Hermann Gunkels aufzugreifen, »dem tiefsten und edelsten Bedürfnis aller wahren Religion […], im Staube anzubeten, was über uns ist«16. Zum anderen impliziert das Erhabene tendenziell das Bewusstsein, dass das Göttliche niemals wesenhaft in das Endliche eingeht, sondern noch in seiner Gegenwart entzogen bleibt. Insofern kann die Kategorie gewissermaßen als das ästhetisch-religiöse Korrelat zum dogmatischen Grundsatz finitum non capax infiniti bezeichnet werden. Es ist insbesondere dieses Begriffselement, das im Fortgang der Ästhetik des Erhabenen eine zentrale Rolle spielen wird.17 Nach der summarischen Beschreibung des religiösen Erhabenheitsbegriffs ist noch einmal auf den geistesgeschichtlichen Kontext einzugehen, in dem sich der nämliche Begriff in Deutschland ausgebildet hat. Es ist erneut der oben ausgeführte Sachverhalt zu reflektieren, dass der Aufstieg des Erhabenen zu einer Schlüsselidee der Ästhetik seinen Ausgang in der Hallischen Überschneidungssphäre von Pietismus und Aufklärung genommen hat.18 Mit dieser Feststellung verbinden sich – das gilt es im Folgenden zu zeigen – weitreichende Konsequenzen für die historische und systematische Beurteilung des Phänomens der Kunstreligion. 15 Die nachmalige Differenzierung der religiösen Gemütszustände bei de Wette, der zwischen ›Begeisterung‹, ›Ergebung‹ und ›Andacht‹ unterscheidet (vgl. dazu M. BUNTFUSS: Die Erscheinungsform des Christentums. Zur ästhetischen Neugestaltung der Religionstheologie bei Herder, Wackenroder und De Wette, 193ff), kann demnach beispielsweise durchaus als Binnendifferenzierung innerhalb des Religiös-Erhabenen gelesen werden. 16 H. GUNKEL: Einleitung in die Psalmen. Die Gattungen der religiösen Lyrik Israels, 69. 17 S.u. den ›Systematischen Ausblick‹. 18 S.o. Kap. 2.1.
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Wie dargelegt, rezipiert der Hallenser Theologiestudent und Dichter Jakob Immanuel Pyra die longinische Kategorie als Leitidee einer Poesie, die der Theologie zur Seite tritt, um den Gegenständen dieser abstrakten Begriffswissenschaft durch poetische Versinnlichung zu religiöser Resonanz in den Gemütern der Menschen zu verhelfen. Im Sinne der Hallischen Ästhetik soll sie mit ihren poetischen Mitteln die ›tote Erkenntnis‹ der wissenschaftlichen Theologie mit Leben erfüllen. Sie soll die von der Theologie reflektierten religiösen Wahrheiten so gestalten, dass sie in den affektiven Regionen der Seele des Christen lebendig werden. Eine derartige religiöse Abzweckung weist ein gutes Jahrzehnt später auch Klopstock der ›heiligen Poesie‹ zu. Ausgehend von der Überzeugung, dass allein die poetische Sprache ›das Herz ganz zu rühren‹ vermag, begreift er die erhaben-religiöse Dichtung als unverzichtbares Mittel zur Erweckung frommer Empfindung. Sowohl bei Pyra wie bei Klopstock, die auf entsprechende Überlegungen der Züricher Poetologen bzw. der Hallenser Ästhetiker zurückgreifen, begründet das Erhabene also eine Konzeption von Dichtung, die vorzüglich an der Illustration religiöser Gehalte zum Zwecke ihrer erlebnismäßigen Aneignung ausgerichtet ist. Die enge Verkopplung der Dichtung mit der Religion, im Zuge derer die Andacht des Rezipienten zum höchsten poetischen Wirkungsziel avanciert, lässt sich als Sakralisierung der Poesie bezeichnen. Die erhabene Dichtung widmet sich religiösen Sujets und wird dabei zum Medium religiöser Innerlichkeit. Sie übernimmt damit zentrale Funktionen des institutionellen religiösen Kultes sowie der privaten Frömmigkeitspraxis, wie sie sich insbesondere protestantischerseits in der Lektüre von Bibel und Erbauungsschrifttum ausgebildet hat. Exemplarische Verwirklichung findet das betreffende Dichtungsideal in der Poesie Klopstocks, dessen Messias samt den Geistlichen Oden im religiösen Leben mancher Zeitgenossen einen maßgeblichen Platz eingenommen hat.19 Wie der Zusammenhang mit dem Leipzig-Züricher Literaturstreit zeigt, gehören die fraglichen poetologischen Bestrebungen in den Umkreis der Kritik an einer als trocken empfundenen »Verstandesdichtung« Gottsched’scher Provenienz. In den Augen der Hallenser Theoretiker, die allesamt von der Baumgarten’schen Lesart der wolffischen Schulphilosophie geprägt sind, wird die Leipziger Position als eine verengte, einem schulmäßig überdehnten Wolffianismus entspringende Auffassung des Poetischen abgelehnt, die die Dichtung um ihre schönsten Früchte bringt. In einem ganz spezifischen Sinn kann daher auch von einer antirationalistischen Stoßrichtung der Longin-Renaissance in der Frühaufklärung gesprochen
19
S.o. Kap. 5.3.
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werden.20 Es findet mit dem Erhabenen nicht etwa eine generelle Aufwertung des Irrationalen in der Dichtung statt. Vielmehr wird der Poesie im Rahmen ihrer Zuordnung zu den nichtrationalen Seelenvermögen die Aufgabe der sinnlichen Vermittlung von religiösen (und ethischen) ›Wahrheiten‹ zugewiesen. Damit wendet sich die Poetik des Erhabenen gegen eine »rationalistische« Lehrdichtung, die, im Bann der Regeln, die imaginativen und affektiven Potentiale der Poesie weitgehend unausgeschöpft lässt. Erst die Religion führt die phantasiegeleitete Dichtung indes auf den Gipfel ihrer Möglichkeiten. Denn sie erschließt ihr Formen der Resonanz – so die Überzeugung der christlichen Longin-Adepten –, die alles sonstige poetische Vergnügen an Wert weit übersteigen. So erreicht die Dichtung nach Maßgabe des Erhabenheitsideals die höchste Schönheit erst dann, wenn sie sich, mit dem Schwung einer die Grenzen der Regelpoetik hinter sich lassenden Einbildungskraft, religiöser Gehalte annimmt und den Rezipienten durch deren poetische Repräsentation »über die Sphäre der Endlichkeit erhebt« (G. F. Meier).21 Nun ist das Phänomen offensichtlich noch nicht vollständig erfasst, wenn die unter longinischem Einfluss betriebene Sakralisierung der Poesie lediglich als Befreiung von absoluter Verstandesherrschaft in der Dichtung gedeutet wird, vermöge derer ihr neue ästhetische Qualitäten zugänglich gemacht werden sollen. Aus literaturgeschichtlicher Sicht ist dies eine adäquate Beschreibung. Allem Anschein nach bedarf es aber eines Perspektivwechsels, um die infrage stehende Renaissance des Erhabenen in ihrer kulturellen Doppelsinnigkeit zu verstehen. Denn wie die Quellen unmissverständlich zu erkennen geben, zielt die programmatische Akzentuierung des Religiösen innerhalb der Dichtung nicht allein auf eine Hebung der ästhetischen Qualität, sondern ebenso auf eine Beförderung der Frömmigkeit. Die Sakralisierung der Poesie ist nicht allein als eine poetologische Innovation zu begreifen, sondern zugleich als Versuch einer Neuformierung der Religion. Indem sie auf neue Formen der poetisch-anschaulichen Vermittlung des Religiösen dringt, betreibt sie eine Erneuerung, die sich am besten als Ästhetisierung fassen lässt. Um der Konjunktur der Synthesekategorie des Erhabenen gerecht zu werden, sind die literaturgeschichtliche und die religionsgeschichtliche Perspektive zur Deckung zu bringen. Die im Namen der longinischen Idee propagierte Sakralisierung der Poesie, so lässt sich die
20 Darin liegt das Wahrheitsmoment von C. Zelles These, im Erhabenen artikuliere sich der Widerstand gegen die ästhetischen Rationalisierungsentwicklungen des 18. Jahrhunderts. S.o. Kap. 1.1.1. 21 S.o. Kap. 3.2.3.
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behauptete Doppelseitigkeit des Prozesses auf den Begriff bringen, intendiert zugleich die Ästhetisierung der Religion.22 In Anbetracht dieser Formel ist freilich sogleich herauszustellen, dass die gängigen säkularisierungstheoretischen Implikationen des Ästhetisierungsbegriffs zu hinterfragen sind. Nichts weist in den einschlägigen Theorien darauf hin, dass die mit der Sakralisierung der Poesie einhergehende Ästhetisierung der Religion per se deren Geltungsverlust impliziert. Sonach betreibt das Programm erhaben-religiöser Poesie nicht die Depotenzierung der Religion, sondern ihre Transformation. Diese Einschätzung ergibt sich paradoxerweise aus derselben Beobachtung, von der auch die säkularisierungstheoretische Lesart jener Ästhetisierungsbestrebungen ihren Ausgang nimmt: aus dem Umstand, dass die deutsche Longin-Renaissance offenbar nicht zuletzt als Reflex einer Krise der Religion zu verstehen ist. Dabei ist allerdings nicht pauschal an die Schwächung oder Auflösung der Religion überhaupt zu denken, sondern spezifischer an die Abnahme der religiösen Prägekraft der zuständigen Institutionen.23 Der Zusammenhang zwischen Ästhetisierung und Religionskrise ist demzufolge nicht so zu fassen, als habe sich die Aufklärungsästhetik nach dem Niedergang der Religion der religiösen Gehalte zu eigenen, gänzlich religionsfremden Zwecken bemächtigt. Für die behandelten Autoren ist die Idee der heiligen Poesie vielmehr die produktive Antwort auf eine Krise der religiösen Mitteilungs- und Erlebniskultur – mit genuin religiösem Ziel. Im Hintergrund der Erhabenheitstheorien ist fast durchgehend die für den Pietismus bestimmende Überzeugung präsent, dass das Christentum in seiner institutionellen Gestalt, wie man sie vor allem durch die protestantische Schuldogmatik und Lehrpredigt repräsentiert sieht, seinem ureigenen Zweck, der Erbauung des inneren Menschen, nicht mehr nachzukommen vermag. Die abstrakten Vorstellungen und die entsprechend formelhafte Sprache der altprotestantischen Theologenreligion, so die in Pietismus und Neologie vorherrschende Sicht, kann aufgrund ihrer begrifflichen Verfasstheit, wie sich anhand der zeitgenössischen (schulphilosophischen) Psychologie ohne weiteres dartun lässt, kaum affektive Resonanz erzeugen und bleibt sonach erlebnismäßig folgenlos. Dem entsprechenden Erfahrungsdefizit, dem Mangel an innerer Religion trotz äußerer Zustimmung zu den Glaubenswahrheiten, dem augenscheinlich auch die Frömmigkeitsbewegungen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts nicht nachhaltig wehren konnten, soll nun die Dichtung durch die erhabene Gestaltung selbiger Wahrheiten 22 Vgl. zu dieser Doppelformel U. BARTH: Ästhetisierung der Religion – Sakralisierung der Kunst. Wackenroders Konzept der Kunstandacht. 23 Schon die Erbauungs- und Meditationsliteratur des 17. Jahrhunderts ist von einem entsprechenden Krisenbewusstsein getragen. Vgl. dazu U. STRÄTER: Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts, 9–33.
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abhelfen. Was religiöse Institutionen wie Dogma, Bekenntnis und Predigt nicht vermögen, sofern sie einseitig an der lehrhaften Seite des Christentums ausgerichtet sind, und was die herkömmliche Erbauungsliteratur mit ihren Vermittlungsbemühungen nicht zuwege bringt, weil sie womöglich nicht den ästhetischen Ansprüchen der Zeit genügt, das soll die erhabene Poesie kraft ihrer sinnlichen Wirkungspotentiale gewährleisten, auf dass der ›ganze Mensch‹ mit »Verstand und Empfindung« (Spalding) religiös angesprochen wird. Die religiösen Gehalte sollen in der Vergegenwärtigung durch adäquate poetische Sprache eine anschauliche Gestalt gewinnen, vermöge derer sie auch die affektive Erlebnisschicht des Gemüts erreichen und diesem zu Erbauung und Andacht verhelfen. Die Ästhetisierung der Religion im Namen des Erhabenen erfolgt in dezidiert religiösem Interesse, womit sich das schlichte Säkularisierungsmodell erübrigt. Die vorgeführten Poetiken zielen auf die Generierung einer religiösen Sprach- und Vorstellungswelt, die anders als die Begrifflichkeit der Dogmatik der innerlich-religiösen Erhebung der Seele zu dienen vermag. Demnach bedeutet solche Ästhetisierung nicht die Auflösung der Religion in Kunst, sondern es handelt sich um eine wechselseitige Bereicherung, die nicht auf die Verdrängung des je anderen schielt. Die Kunst verschafft der Religion ihre Erlebnisqualität, während die Religion der Kunst eine metaphysische Tiefendimension verleiht. Der Einwand, eine solche Wechselbeziehung verstoße gegen die jeweilige Autonomie der beiden Größen und liefe damit der allgemeinen Modernisierungstendenz mit ihrer Ausdifferenzierungsdynamik zuwider, sie sei mithin entweder unmöglich oder rückwärtsgewandt, wäre anachronistisch. Es verhält sich vielmehr umgekehrt: Die enge Verschränkung zwischen Kunst und Religion, die sich an verschiedenen Autoren herausarbeiten ließ, ist als Indiz dafür zu werten, dass das Bild von einem einlinigen Ausdifferenzierungsprozess die fragliche Epoche nicht trifft. Die Verhältnisse sind offenbar wesentlich komplexer. So erhebt – um noch zwei spätere Ästhetiker anzuführen – Lessing im Laokoon-Aufsatz von 1766 explizit die Forderung der Eigenständigkeit der Kunst gegenüber der Religion, während Mendelssohn der Poesie etwa zeitgleich – wiederum unter dem Leitbegriff des Erhabenen – sowohl religiöse als auch ethische Leistungen zuschreibt.24 Gerade das Erhabene scheint im Übrigen aufgrund seiner antiken Ursprungskonzeption als Komplexbegriff, in dem rhetorische, psychologische, ethische sowie metaphysische Elemente verschmolzen sind, dafür prädestiniert zu sein, eine entsprechende Segmentierung in unabhängige Bereiche zu unterlaufen. 24 Hier sind insbesondere die Betrachtungen über das Erhabene und das Naive in den schönen Wissenschaften (1758/1771) zu nennen.
6. Das Religiös-Erhabene und die Ästhetisierung des Christentums
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Indessen hat die neuere Debatte um den Säkularisierungsbegriff ohnehin das Modell eines geradlinigen Emanzipationsprozesses von der geschlossenen religiösen Gesellschaft des konfessionellen Zeitalters hin zu einer mehr oder weniger religionslosen Moderne obsolet werden lassen,25 womit die Voraussetzung eines eindimensional säkularisierungstheoretischen Ästhetisierungsbegriffs weggefallen ist. Es hat sich inzwischen im Großen und Ganzen die Ansicht durchgesetzt, dass solche Bilder auf Rückprojektionen aus der jeweiligen Gegenwart beruhen.26 Im Lichte jener Debatte und ihrer Neubewertungen stellt sich stattdessen die Frage, ob sich die im Einflussbereich der pietistischen Reformbewegung anhebende Erhabenheitsrenaissance nicht geradezu als Element einer ›Rückkehr der Religion‹ begreifen lässt. Es erscheint jedoch plausibler, sie als Moment eines vieldeutigen Transformationsprozesses zu werten.27 Mit seiner Intention auf Anschaulichkeit und Erlebnistiefe stellt sich das Programm der erhabenen Poesie als Versuch dar, die vom Pietismus breitenwirksam propagierte Verinnerlichung der Religion mit den Mitteln der Ästhetik umzusetzen. Betrachtet man die Innenwendung als Signum moderner Religiosität, erweist sich die Poetik des Erhabenen um die Mitte des 18. Jahrhundert als Faktor der Modernisierung des Christentums. In eine ähnliche Richtung deutet die bibelhermeneutische Longin-Rezeption. Die ästhetische Dechiffrierung der Poesie des Alten Testaments mithilfe des Erhabenen ist nicht auf einen rein ästhetischen Umgang mit der alten Urkunde gerichtet und führt nicht zu einer Entsakralisierung des heiligen Buches, sondern zielt auf eine ästhetisch-religiös orientierte Schriftlektüre ohne engere Bindung an das dogmatische Lehrsystem. Die affektiven Komponenten dieses Umgangs lassen sich nicht randscharf auf ästhetische und religiöse Elemente verteilen. Es greift also zu kurz, den durch das Erhabene eröffneten ästhetischen Zugang zur Bibel als areligiös zu beschreiben, wie es in der Literaturwissenschaft für gewöhnlich geschieht. Dieses Urteil lebt von der stillschweigenden Voraussetzung von Unverträglichkeitsverhältnissen. Aber warum sollte eine anspruchsvolle ästhetische 25
Vgl. J. ZACHHUBER: Die Diskussion über Säkularisierung am Beginn des 21. Jahrhunderts; U. BARTH: Säkularisierung und Moderne. Die soziokulturelle Transformation der Religion; D. POLLACK: Säkularisierung – ein moderner Mythos?; H. LEHMANN (Hg.): Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektiven der Forschung. 26 Vgl. im Blick auf den literaturwissenschaftlichen Gebrauch des Säkularisierungsparadigmas D. KEMPER: Literatur und Religion. Von Vergil bis Dante, 37–44; ferner U. RUH: Bleibende Ambivalenz. Säkularisierung/Säkularisation als geistesgeschichtliche Interpretationskategorie. 27 Vgl. H. LEHMANN: Säkularisierung, Transformation der Religion oder Rückkehr der Religion. Drei konkurrierende Konzepte zur Erklärung der Bedeutung des Religiösen in der modernen Welt.
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Lektüre das Religiöse ausschließen? Das Modernisierungspotential der ästhetischen Schriftauslegung liegt nicht allein in der »Adaption des Bibeltextes als poetisches Kunstwerk«28. Vielmehr spricht aus der erhöhten Sensibilität für die ästhetische Dimension der heiligen Texte, die in der schrifthermeneutischen Applikation des Erhabenen zum Ausdruck kommt, zugleich ein gesteigerter Sinn für die überlehrmäßige Erlebnisdimension der christlichen Religion. Die Konjunktur des Erhabenen, verstanden als Inbegriff eines nicht lehrhaft, sondern anschaulich vermittelten religiösen Erlebens, ist ein frühes Zeugnis dafür, dass die Ästhetisierung – neben der Ethisierung – einen zweiten wesentlichen Modus der Umformung des neuzeitlichen Christentums repräsentiert. Mag auch die ethische Transformation spätestens seit dem 19. Jahrhundert in der protestantischen Theologie das vorherrschende Paradigma gewesen sein – die mit dem Begriff des Erhabenen angezeigte Ausbildung einer ästhetisch-religiösen Kultur macht deutlich, dass das Christentum noch andere Wege gefunden hat, sich eine zeitgemäße Gestalt zu geben und auf diese Weise seine Lebendigkeit zu bewahren. Dass sich jene Kultur auch neben der kirchlichen Frömmigkeitspraxis etabliert hat und dass ihre Reflexion, von wenigen Ausnahmen abgesehen, vorwiegend außerhalb der Theologie – in der Ästhetik – stattgefunden hat, widerlegt nicht die These von der Ästhetisierung des Christentums, sondern belegt allenfalls die Vermittlungs- und Reflexionsdefizite von Kirche und Theologie.29 Es soll nun nicht geleugnet werden, dass das Zeitalter der Aufklärung nicht nur eine Vermittlungs- und Erfahrungskrise, sondern auch eine Geltungskrise der christlichen Religion heraufgeführt hat. Aber diese Krise führte auch zu neuen Wegen der Vergewisserung über die Wahrheit der Religion. Einer dieser Wege ist der Diskurs über das Erhabene. Religionstheorie und Schrifthermeneutik nehmen die betreffende ästhetisch-religiöse Erfahrung als Instanz zur Bezeugung der Wahrheit des Christentums in Anspruch, teilweise mit der ausdrücklichen Versicherung, damit der ›Freigeisterei‹ entgegenzutreten. Sofern dieser Rekurs auf das Erhabene zudem in expliziter Abgrenzung von der Tradition der Gottesbeweise statthat, kann man durchaus von einer apologetischen Tendenz sprechen. Es wird eine neue Gestalt von Apologetik sichtbar, die nicht mehr das rationale Argument, sondern die unmittelbare Evidenz ästhetisch-religiösen Erlebens zur Rechenschaft über die christliche Religion ins Feld führt. Diese Evidenz wiederum findet eine anthropologische Plausibilisierung, indem sie mit der 28 G. SCHORCH: Das Erhabene und die Dichtkunst der Hebräer. Transformationen eines ästhetischen Konzepts bei Lowth, Mendelssohn und Herder, 67. 29 Vgl. M. BUNTFUSS: Zur ästhetischen Umformung des neuzeitlichen Christentums. Ich danke Markus Buntfuß für die Überlassung des unveröffentlichten Manuskripts. Vgl. ferner W. GRÄB: Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, 98–102.
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Frage nach der Bestimmung des Menschen in Verbindung gebracht wird. Damit gehören die Reflexionen zum Erhabenen in einen unvermuteten Zusammenhang mit der ›anthropologischen Wende‹, die im Allgemeinen die geistesgeschichtliche und im Besonderen die theologiegeschichtliche Tendenz seit der Mitte des 18. Jahrhunderts charakterisiert.30 Mit der Einzeichnung des Programms der erhabenen Poesie in die religiöse Modernisierungsbewegung des 18. Jahrhunderts ist noch nicht die Frage nach seiner weiter reichenden historischen und systematischen Bedeutung beantwortet. Lässt sich ein spezifischer Beitrag der ästhetisch-religiösen Longin-Entdeckung zur modernen Religion namhaft machen, der über das 18. Jahrhundert hinausweist? Eine historische Antwort auf diese Frage lässt sich geben, wenn man noch einmal die doppelte Idee der Sakralisierung der Poesie zum Zweck der Ästhetisierung der Religion in Betracht zieht. Denn mit der wechselseitigen Verweisungsrelation zwischen Kunst und Religion, die mit dieser Formel ausgesprochen wird, ist eine treffende Beschreibung dessen gegeben, was man gemeinhin als ›Kunstreligion‹ tituliert. Als summarische geistesgeschichtliche These der vorliegenden Arbeit lässt sich daher formulieren: Die frühmoderne Longin-Renaissance ist die Geburtsstunde der modernen Kunstreligion. Sollte sich diese These bewahrheiten, bedeutete dies eine Korrektur der bisherigen Forschung. Wird der Beginn der Kunstreligion herkömmlich mit der Frühromantik angesetzt – hier sind besonders die Namen Wackenroder und Schleiermacher einschlägig –,31 wurde er vor kurzem in die Mitte des 18. Jahrhunderts vorverlegt. So sind für den Literaturwissenschaftler Bernd Auerochs die Debatten um das christliche Epos um 1750 und dessen Verwirklichung durch Klopstocks Messias die entscheidenden Daten für die »Entstehung der Kunstreligion«32. Demgegenüber werden deren Anfänge hier noch einmal früher lokalisiert, nämlich im Zeitraum der Formierung der Hallischen Ästhetik in den späten dreißiger und vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts. Aber nicht die Vordatierung ist die entscheidende Pointe jener These, sondern ihre Implikationen betreffs der Bestimmung und Bewertung des in Rede stehenden Phänomens. Denn die historische Behauptung, dass die Entdeckung der longinischen Erhabenheitsidee eine Schlüsselrolle für die Entstehung der Kunstreligion gespielt hat, wirft ein neues Licht auf diesen Begriff selbst. Der gängige Begriff der Kunstreligion, der sich auf die (früh-)romantischen Konzepte einer Darstellung des Unendlichen in der Kunst bezieht, 30
Vgl. dazu U. BARTH: Religion und Vernunft. Vgl. M. BUNTFUSS: Die Erscheinungsform, 115ff.; ferner J. ROHLS: ›Sinn und Geschmack fürs Unendliche‹. Aspekte romantischer Kunstreligion; U. BARTH: Ästhetisierung der Religion. 32 Vgl. B. AUEROCHS: Die Entstehung der Kunstreligion. 31
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
setzt die Autonomie der Kunst voraus, welche sich am augenfälligsten darin manifestiert, dass diese sich nicht mehr an gegebene religiöse Gehalte gebunden weiß. Kunstreligion in diesem Sinne hat keine unmittelbare Beziehung mehr zur traditionellen Gestalt von Religion, auch wenn sie sich zur Artikulation ihres religiösen (oder quasireligiösen) Charakters traditioneller religiöser Begriffe und Motive bedienen kann. Der Terminus ›Kunstreligion‹ beschreibt demzufolge jede Form von Kunstpraxis, bei der Werk, Produktion oder Erfahrung von Kunst nicht aufgrund von ausdrücklichen Bezügen zur positiven Religion, sondern in dem jeweiligen »ästhetische[n] Eigenwert […] religiös gedeutet«33 werden. Das Verhältnis zwischen Kunstreligion und expliziter Religion wird denn auch im Allgemeinen als Zugleich von Affinität und Konkurrenz beschrieben. Dabei erblickt man die Affinität in bestimmten Funktionsäquivalenzen, vermöge derer die Kunst zum funktionalen Surrogat von Religion, zur »Ersatzreligion« avancieren kann.34 Der Kunst wird in ihrer religiösen Überhöhung eine Tiefenschicht zugesprochen, welche sie der Religion in hohem Maße anähnelt. Der Religion erwächst in einer derartigen Kunstpraxis deshalb eine ernstzunehmende Konkurrenz, weil sie nicht die obsolet gewordenen Geltungsansprüche jener stellt – so die säkularisierungstheoretische Standardmeinung –, bzw. weil sie, gemessen an deren Komplexitätsanforderungen, den Vorzug hat, »in faszinierender Anschaulichkeit und eindrücklicher Erlebnistiefe gehaltvolle Sinnwelten zu erschließen, ohne von den spezifischen Zumutungen Gebrauch machen zu müssen, die expliziter Religion nun einmal zu eigen sind«35 – so die religionstheoretisch differenziertere Auffassung. Erkennt man in der frühmodernen Renaissance des Erhabenen den Ausgangspunkt für die Entstehung der Kunstreligion, rückt auch das Endresultat der Entwicklung in ein anderes Licht. So lässt sich der Schlüsselbegriff der Frühgeschichte der Kunstreligion aufgrund seiner Synthesestruktur als Indiz für eine innere Verwandtschaft von Kunst und Religion36 begreifen, 33
J. ROHLS: Sinn und Geschmack fürs Unendliche, 1. Hier ist beispielsweise an den Unterbrechungs- und den Transzendierungscharakter der ästhetischen Erfahrung zu denken; vgl. U. BARTH: Religion und ästhetische Erfahrung. Interdependenzen symbolischer Erlebniskultur, 245ff. Auch B. AUEROCHS unternimmt im Blick auf das »moderne Konzept von Kunst als Ersatzreligion« (aaO. 82) den »Versuch einer Klärung« (72), stiftet aber nicht zuletzt aufgrund der Überfülle des herangezogenen Materials eher Verwirrung. 35 U. BARTH: Religion und ästhetische Erfahrung, 262. 36 Die elaborierteste Begründung dieser inneren Verwandtschaft hat Schleiermacher mit seiner Gefühlstheorie gegeben; vgl. U. BARTH: Religion und Vernunft, 93: »Aus der gemeinsamen Verwurzelung in der Performanz des Gefühls erklärt sich […], weshalb Religion nicht in der Sprache, sondern in der Kunst das ihr angemessenste Darstellungsmedium findet.« Vgl. DERS.: Was heißt ›Vernunft der Religion‹? Subjektsphilosophische, 34
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welche sich auch im Phänomen der Kunstreligion selbst zur Geltung bringt. Steht das Erhabene für die unverzichtbare ästhetische Dimension der Religion, legt es sich nahe, Kunst als legitime Ausdrucksgestalt der Religion zu würdigen und folglich in der Kunstreligion mehr zu sehen als ein verführerisches Surrogat – womit eine mögliche Konkurrenz nicht per se geleugnet sein muss. Tatsächlich finden sich in den frühromantischen Texten Äußerungen, die das Verhältnis von Kunst und Religion im Sinne der besagten Ausdrucksrelation verstehen und in diesem Zusammenhang enge sachliche Bezüge zur frühmodernen Erhabenheitstheorie erkennen lassen. Das lässt sich am besten an einem Wackenroder-Zitat belegen: Die Kunst ist eine Sprache ganz anderer Art, als die Natur; aber auch ihr ist, durch ähnliche dunkle und geheime Wege, eine wunderbare Kraft auf das Herz des Menschen eigen. Sie redet durch Bilder der Menschen, und bedienet sich also einer Hieroglyphenschrift, deren Zeichen wir dem Äußern nach, kennen und verstehen. Aber sie schmelzt das Geistige und Unsinnliche, auf eine so rührende und bewundernswürdige Weise, in die sichtbaren Gestalten hinein, daß wiederum unser ganzes Wesen, und alles, was an uns ist, von Grund auf bewegt und erschüttert wird.37
Wackenroders Sätze lesen sich wie eine gedrängte Zusammenfassung des Hallischen Programms der Ästhetisierung der Religion zum Zweck ihrer erlebnismäßigen Resonanz.38 Sie liefern bei Wackenroder die Begründung der Ansicht, dass die Kunst als vorzügliche Sprache der Religion zu gelten hat, und konvergieren auch in dieser Hinsicht mit der Hallischen Ästhetik. Wie sich zeigen ließ, ist das Erhabene als Schlüsselkategorie der nämlichen Ästhetisierungsbestrebungen rezipiert worden,39 und daher verwundert es nicht, dass es auch in Wackenroders Schriften durchgängig präsent ist. Allerdings hat das Programm der Kunstreligion gemessen an seiner hallischen Vorläuferform eine Ausweitung erfahren, insofern hier nicht mehr vorwiegend die Poesie, sondern alle Künste im Blick sind, vor allem Malerei und Musik.40 Es besteht freilich noch eine elementarere Differenz zwischen den betreffenden Entwicklungsstufen der Kunstreligion. So ist das zur Frage stehende Verhältnis von Kunst und Religion in der Ästhetik der Frühaufklä-
kulturtheoretische und religionswissenschaftliche Erwägungen im Anschluss an Schleiermacher, 195ff. 37 W. H. WACKENRODER: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, 98. Vgl. dazu U. BARTH: Ästhetisierung der Religion, 237f; ferner A. BEUTEL: Kunst als Manifestation des Unendlichen. Wackenroders »Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders« (1796/97), 311ff. 38 S.o. Kap. 2.3. 39 S.o. Kap. 3, bes. 3.5. 40 Vgl. zu Wackenroders religiöser Musikästhetik und zu den verwandten Auffassungen bei Herder und De Wette M. BUNTFUSS: aaO. 71ff; 125ff; 213ff.
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Teil II: Die neuzeitliche Renaissance des Erhabenen
rung in Bezug auf die positive Religion ausgeführt worden, wohingegen die Frühromantik mit einem allgemeinen Begriff von Religion operiert, der diese etwa als Wahrnehmung des Unendlichen im Endlichen fasst. Baumgarten oder Pyra zielen mit ihrem Versinnlichungsprogramm auf die konkreten Wahrheiten des Christentums, während bei Wackenroder »das Geistige und Unsinnliche«, das die Kunst nach Maßgabe des obigen Zitats sichtbar und spürbar macht, fraglos als etwas wesentlich Unkonkretes gedacht ist. Hier liegt ohne Zweifel eine beträchtliche Umstellung zwischen der Anfangs- und der Endgestalt der Kunstreligion vor. Auch hier mag die Erhabenheitstheorie den Weg bereitet haben. Es ist an dieser Stelle an das konstitutive Vagheitsmoment des Erhabenen zu erinnern. Wie entfaltet worden ist, hat die neuentdeckte ästhetische Kategorie ihre religionstheoretische Attraktivität offenbar nicht zuletzt aus der eigentümlichen Ungreifbarkeit bezogen, die sie der durch sie bezeichneten Erfahrung seit jeher eingeschrieben hat, und aus der Verortung dieser Erfahrung in der affektiven Region des Gemütslebens.41 Die poetologische Kategorie erlaubte es, gegenüber einer an dogmatischen Lehrbeständen orientierten Auffassung des Christlichen religiöse Erlebnisse zu beschreiben, die sich einer durchgängigen dogmatischen Bestimmtheit entzogen, noch bevor mit dem Allgemeinbegriff der Religion eine entsprechende theologische Kategorie zur Verfügung stand, und lange bevor Schleiermacher im Anschluss an Spalding und andere jenem Begriff eine elaborierte gefühlstheoretische Fassung gab. Historisch gehört die Renaissance des Erhabenen also nicht nur in die Frühgeschichte der Kunstreligion, sondern auch in den Zusammenhang der Genese einer Religionstheologie, die allen hochstufigeren Ausdrucksformen von Religion als Wurzelboden eine basale Erlebnissphäre zugrundelegt, welche wesentlich in den affektiven Schichten des Gemüts gründet. Das mit der entstehenden ästhetischen Religiosität verbundene und mit dem Erhabenen auf den Begriff gebrachte Unbestimmtheitsmoment der Frömmigkeit wurde von den Zeitgenossen der aufziehenden Moderne offenbar nicht als Defizit aufgefasst, sondern als Konstituens von Religion. Dasselbe Moment scheint sich dann gewissermaßen verselbständigt zu haben, bis sich in der modernen Kunstreligion ein Typ religiöser Einstellung ausbildete, der sich auf bloße Sinnvermutungen und Transzendenzgefühle beschränkt. Trotz der deutlichen Differenz zwischen solcher Vagheit und den Bestimmtheits- und Reflexionsanforderungen der positiven Religion zeichnet sich neben dem Konkurrenzmodell im Lichte der Erhabenheitstheorie auch die Möglichkeit einer positiven Zuordnung von Kunstreligion und expliziter 41
S.o. Kap. 1.1.4, 3.3.3 u. 3.5.
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Religion ab.42 Fungiert im frühaufklärerischen Konzept des Religiös-Erhabenen das Ästhetische mit seiner numinosen Erlebnisqualität gewissermaßen als Gegengewicht gegen die Überbestimmtheit der dogmatischen Gestalt von Religion, wäre das Verhältnis von ästhetischer und expliziter Religiosität in einem analogen Balancemodell zu denken. Demzufolge ist die explizite Religion in zweifacher Hinsicht auf die Kunstreligion angewiesen. Zum einen kommt der Kunst die Leistung zu, überhaupt ein Sensorium für das Unbedingte zu wecken, ohne dass damit sofort bestimmte Unbedingtheitsreflexionen verbunden wären. Die »Begegnung mit Kunst […] führt in der zeitgenössischen Erlebnis- und Mediengesellschaft in Erfahrungen, in denen der Sinn für die Religion, der ›Sinn fürs Unendliche‹ in Menschen wach wird«43. Ohne die Voraussetzung eines entsprechend vagen Unendlichkeitshorizontes im Subjekt dürfte es der Religion schwerfallen, überhaupt Relevanz für sich zu beanspruchen. Demgegenüber besteht der Mehrwert der expliziten Religion darin, dass in ihr jene dunkle Unbedingtheitsahnung zur ausdrücklichen Deutung kommt. Erst wenn das ästhetisch-religiöse Gefühl sich in den konkreten Vorstellungen der Religion artikuliert, kann der solchermaßen bestimmte Glaube lebensbestimmende Kraft entfalten. Zum anderen bedarf die explizite Gestalt von Religion der autonomen Kunst und ihrer religiösen Aura nach Maßgabe jenes Balancemodells zur Korrektur der immanenten Tendenz zur Absolutsetzung ihrer bestimmten und damit endlichen Gehalte. Der Kunst wächst im Gegenüber zur expliziten Religion die Aufgabe zu, vermöge der radikalen Unbestimmtheit ihrer religiösen Bedeutungsschicht auf die letzte Unbestimmbarkeit des Unbedingten hinzuweisen, auf das sich die Religion bezieht. Theo-logisch gesprochen erhält die Kunst die kritische Funktion, gegenüber den Bestimmtheitsansprüchen der Offenbarungsreligion die Erhabenheit Gottes, seine bleibende Transzendenz und letzte Unbegreiflichkeit, im Modus der ästhetisch-religiösen Erfahrung des Erhabenen in Erinnerung zu rufen. Damit kommt es paradoxerweise gerade der Kunst zu, mit der ihr immanenten »Skepsis gegenüber jeder affirmativen Substantialisierung des Absoluten«44 innerhalb der Religion das alttestamentliche Bilderverbot zur Geltung zu bringen. – Der anschließende philosophisch-systematische Ausblick wird deutlich machen, dass die Theorie des Erhabenen in ihrem Fortgang genau in dem zuletzt genannten Gesichtspunkt eines ihrer Hauptthemen erblickt hat. 42 Auf diese Möglichkeit hat U. BARTH mehrfach hingewiesen: vgl. Religion und ästhetische Erfahrung, 262; Ästhetisierung der Religion, 255. 43 W. GRÄB: Sinn fürs Unendliche, 98. 44 W. GRÄB: Lebenskulturen und Selbstdeutungen. Religion und Kunst, 134.
Systematischer Ausblick Die vorliegende Arbeit wurde angestoßen durch die Beobachtung, dass das Erhabene in prominenten ästhetischen Theorien des 20. Jahrhunderts implizit oder explizit in große Nähe zum Religiösen gerückt wird. Mit der Wendung von der ›Darstellung des Nicht-Darstellbaren‹ schreibt Jean-François Lyotard dem Sublimen eine Funktion zu, die sich unschwer mit der Tradition der negativen Theologie in Verbindung bringen lässt, und bereits Theodor W. Adorno weist ausdrücklich darauf hin, dass das Erhabene seiner traditionellen Fassung nach die ästhetische Erfahrung »eines gegenwärtig Unendlichen«1 bezeichne und daher gewissermaßen als ein Hineinragen der Theologie in den Bereich der Ästhetik einzustufen sei. Eine Affinität des Erhabenen zur Religion legte sich überdies auch vonseiten der Theologie nahe, insofern sich das Heilige, die Zentralkategorie der klassischen Religionsphänomenologie, jenem ästhetischen Begriff (in seiner kantischen Konzeption) als hochgradig strukturäquivalent erwies. Es deutet sich in alledem an, dass das Erhabene einen Punkt indiziert, an dem sich ästhetische und religiöse Sphäre berühren. Mag auch die Erfahrung des Schönen in der ›doppelten Ästhetik der Moderne‹ (Zelle) als eine Form von Sinnerfahrung in gewisser Beziehung zur Religion stehen,2 tritt doch eine derartige Beziehung beim Erhabenen deutlicher in den Vordergrund. So scheint es zu seinen hervorstechenden Merkmalen zu gehören, gleichsam auf eine Tiefenschicht der Kunst- oder Naturbetrachtung zu zielen. Es scheint ein ästhetisches Erlebnis zu beschreiben, in dem eine außergewöhnliche Anschauung das gewöhnliche Bewusstsein des Betrachters erschüttert und eine Art von ›unbedingtem Betroffensein‹ hervorruft, um Paul Tillichs berühmte Bestimmung der Religion zu gebrauchen. Offenbar führt das Erhabene auf die Spur einer religiösen Dimension des Ästhetischen bzw. einer ästhetischen Dimension der Religion. Eine religionstheoretische Untersuchung der Ästhetik des Erhabenen verspricht daher auch eine Erhellung von kulturellen Phänomenen, die sich unter je1
TH. W. ADORNO: Ästhetische Theorie, 294. Vgl. U. BARTH: Religion und ästhetische Erfahrung; ferner W. GRÄB: Kunst und Religion in der Moderne. Thesen zum Verhältnis von ästhetischer und religiöser Erfahrung. 2
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nem Begriff der ›Kunstreligion‹ subsumieren lassen, den schon Adorno mit dem Erhabenen assoziiert hat.3 Gemeint ist die Entwicklung, dass mit dem Abnehmen der Bindekraft der kirchlichen Institutionen in der Moderne vermehrt die Kunst zum Ort religiöser Erfahrungen wird – oder vorsichtiger formuliert: von Erfahrungen, denen ein religiöses Moment eignet. Bei gleichbleibend schwachem Gottesdienstbesuch ist der Andrang auf die Aufführungen von Requiem und H-Moll-Messe ungebrochen, und als museale Zeugnisse sakraler Kunst erfreuen sich Kirchengebäude nach wie vor regen Zulaufs. In gleichem Maße ist auch außerhalb der Kirchen ein großes Interesse an Kunst zu beobachten, das durchaus religiöse Züge erkennen lässt. Konzertsäle, Theater und Museen gewinnen geradezu eine sakrale Aura, insofern sie gewissermaßen als »Orte der Andacht«4 besucht werden. »Im Kunsterleben finden die Menschen nun diejenige Erbauung, die ihnen in früheren Zeiten der Kult zu geben vermochte.«5 Aber nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Natur gewärtigen Zeitgenossen offenbar etwas von dem, was ihnen die institutionellen Formen der Religion nicht mehr ohne weiteres vermitteln. Nicht wenige suchen Befriedigung ihrer spirituellen Bedürfnisse eher auf einer Bergwanderung oder bei einem Küstenspaziergang als im Gottesdienst, weil dort eher ihr »Sinn und Geschmack fürs Unendliche« (Schleiermacher) angesprochen wird als durch die Worte und Handlungen des kirchlichen Ritus. Die kulturdiagnostische These, dass sich die Religion in der Moderne vermehrt auch im Medium des Ästhetischen realisiert, hat im Erhabenen ihr kategoriales Gegenstück. Dies ließ bereits die Affinität des ästhetischen Begriffs zum Religiösen vermuten, die in den genannten Theorien des 20. Jahrhunderts hervortritt. Jene Annahme konnte durch die Untersuchung der Vor- und Frühgeschichte der neuzeitlichen Ästhetik des Erhabenen erhärtet werden. So wurde an Schlüsselfiguren der Literaturgeschichte der deutschen Frühaufklärung, vor allem an Pyra und Klopstock, deutlich, dass sich die Wiederentdeckung des ursprünglich rhetorischen Begriffs teils in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Programm einer Ästhetisierung des Christentums vollzogen hat. Eine derartige Inanspruchnahme lag aufgrund der überkommenen Signatur der Kategorie nahe. So lässt sich als das allgemeinste Ergebnis dieser Arbeit festhalten, dass das Erhabene bereits seit seinen antiken Anfängen bei ›Longin‹ die Strukturmomente eines Synthese3
Vgl. TH. W. ADORNO: aaO. 294. Gestaltung und Kritik. Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert. Ein Impulspapier der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Vereinigung Evangelischer Freikirchen, 35. 5 W. GRÄB: Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, 98. Vgl. ferner etwa S. NATRUP: Ästhetische Andacht. Das postmoderne Kunstmuseum als Ort individualisierter und impliziter Religion. 4
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begriffs aufweist, der neben dem Konnex von Ästhetik und Ethik den Schnittpunkt von Ästhetik und Religion anzeigt. Der Rückgang zu den antiken und den frühmodernen Anfängen der Erhabenheitstheorie hatte zunächst den Effekt, dass sich das Auge des Interpreten vermöge der historischen Abständigkeit seiner Texte eingeschliffener Sehgewohnheiten entwöhnte. Auf diese Weise verblasste die inzwischen zum common sense gewordene Ansicht, charakteristisch für das Erhabene sei vorzüglich sein Unlust- oder Schreckensmoment bzw. die daraus sich ergebende Intensität der Wirkung. Unbeschadet des Umstandes, dass ein solches Element eine Rolle spielt, kam zutage, dass für ›Longin‹ – und dann auch für viele seiner neuzeitlichen Nachfolger – nicht der Schrecken, sondern ein eigentümlicher Seelenzustand des Erhobenseins das zentrale Bestimmungsmerkmal des Erhabenen ausmacht. Anhand des ›longinischen‹ Schlüsselbegriffes der Hochsinnigkeit wurde denn auch wieder die gewichtige ethische Seite des Begriffs sichtbar, die in der Literatur zum Thema in aller Regel stark unterbelichtet bleibt. Und es trat hervor, dass das besagte Erhobensein, worin ein Reflex der platonischen Metaphysik des Seelenaufschwungs zu erkennen ist, von maßgeblichen ›Longin‹-Interpreten der Neuzeit als Ausgangspunkt für eine dezidiert religiöse Konzeption des Erhabenen diente. So rückte eine nicht unbedeutende Linie in der frühmodernen Theorietradition in den Blick, wo in der Konzeptualisierung des Erhabenen jene charakteristische Erhebung der Seele mehr oder weniger exklusiv mit religiösen Sujets und religiösen Affektwirkungen korreliert wird, um selbiges als religiöse Tiefendimension der ästhetischen Erfahrung bzw. als ästhetische Ausdrucksgestalt der Religion zu konturieren. Das Interesse an dem derart religionstheoretisch profilierten Erhabenheitsbegriff ließ sich als Reaktion auf eine religiöse Vermittlungskrise verständlich machen. Denn insbesondere die Autoren im Umkreis der Hallischen Ästhetik (Klopstock eingeschlossen) verfolgen mit ihrer Aufnahme der ›longinischen‹ Idee das Programm einer Poetisierung der Religion zum Zwecke ihrer Revitalisierung, weil sie die Lebendigkeit des Christentums aufgrund von dogmatischen Rationalisierungstendenzen bedroht sehen. Analog kann schon Boileaus und erst recht Lowths schrifthermeneutische Applikation von Peri Hypsous als Antwort auf eine Krise der Bibellektüre begriffen werden, spricht doch aus der emphatischen Fokussierung auf die poetischen Bestände ein Ungenügen an der dominierenden dogmatischen Lesart der Heiligen Schrift. Für alle vorgestellten Autoren steht das Erhabene für eine mit ästhetischen Mitteln erreichbare Erlebnisdimension der Religion, die es durch eine entsprechende ästhetische Theorie und Praxis vor dem drohenden Verlust zu bewahren gilt. Angesichts dieser begriffsgeschichtlichen Zusammenhänge und der unübersehbar religiösen Konturen scheint denn auch das Erha-
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bene für die Beschreibung der allgemeinen kulturellen Tendenzen einschlägig zu sein, die aus jenen Ästhetisierungsbestrebungen hervorgegangen sind. Wie keine andere Kategorie dürfte es als kulturhermeneutischer Leitbegriff zur Analyse von Phänomenen der Kunstreligion oder Kunstandacht sowie der modernen Naturreligiosität infrage kommen. Denn die Eigenschaft, als Synthesekategorie Religion und Ästhetik zu umgreifen, prädestiniert das Erhabene für die Analyse von Praktiken und Erlebnissen, die sich selbst nicht eindeutig einer der betreffenden Regionen des geistigen Lebens zuordnen lassen. Gehört es zu den Aufgaben der Theologie, auch religiöse Erscheinungen jenseits der institutionell verfassten Religion zu reflektieren, ist der fragliche Begriff daher ein äußerst hilfreiches Instrument. Darüber hinaus kann die Erhabenheitsidee eine schrifthermeneutische und, wie unten noch weiter auszuführen ist, eine religionstheoretische Funktion erfüllen, der wiederum auch und gerade für die kirchliche Religionspraxis eminente Bedeutung zukommt. Freilich steht und fällt die aktuelle religionstheoretische Plausibilität des Erhabenen mit der Frage, ob sich die für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts herausgearbeitete religiöse Signatur auch in der darauffolgenden Geschichte des Begriffs durchhält. Hier kommt es aber allem Anschein nach zu einem deutlichen Bruch. Die religiös interessierte Wiederentdeckung des Erhabenen hatte sich innerhalb der Koordinaten einer Poetologie vollzogen, die noch stark in den Bahnen der Rhetoriktradition verlief und daher unmittelbar an den antiken Traktat Peri Hypsous anschließen konnte. Dies gilt auch für die Züricher Poetologie und die Hallische Ästhetik, wenngleich den rhetorisch-poetologischen Kategorien dort Theoreme aus der wolffischen Metaphysik unterlegt werden. In der weiteren Entwicklung emanzipiert sich indes die Ästhetik mehr und mehr von ihren rhetorischen Wurzeln und wird, was sie bei Baumgarten erst der Idee nach ist: zu einer eigenständigen philosophischen Disziplin. Infolge dieser Entwicklung werden denn auch in der Ästhetik des Erhabenen die ausdrücklichen Bezüge zu ›Longin‹ spärlicher, bis sie, etwa bei Kant, auch ganz entfallen können. Gleichzeitig wandelt sich mit dem Fortgang der Aufklärungsepoche auch die religionskulturelle, religionsphilosophische und theologische Lage – man denke nur an Kants Destruktion der klassischen philosophischen Theologie. So drängt sich die Annahme auf, es könnte sich das Erhabene mit Aufkommen der Autonomieästhetik und mit zunehmender Entfremdung des Zeitalters gegenüber tradierten Gestalten der Religion von der Mitte des 18. Jahrhunderts an – mit Übertreten der Schwelle zur sogenannten Sattelzeit – seiner überkommenen religiösen Implikationen mehr und mehr entledigt haben, um fürderhin nur noch eine besonders intensive und in sich widersprüchliche Erfahrung ›angenehmen Grauens‹ (Zelle) zu beschreiben. Als Beleg dieser naheliegenden These wäre etwa auf den wach-
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senden Einfluss von Edmund Burkes Theorie des Sublimen in Deutschland zu verweisen, die mit ihrem Empirismus einen einschneidenden »Wendepunkt in der Geschichte der Idee«6 zu kennzeichnen scheint. Es wird daher sinnvoll sein, zur Abrundung des Bildes noch einen Blick auf die philosophische Ästhetik des Erhabenen zu werfen, die aus der im Vorigen untersuchten Epoche seiner Wiederentdeckung hervorgeht.7 Eine Reihe von Autoren kämen hierfür infrage. Es wäre etwa an den einschlägigen Artikel in Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste (1771/74) zu denken, der eine Zusammenschau der rhetorisch-poetologischen Erhabenheitstheorie des frühen 18. Jahrhunderts bietet, wobei er deutlich einen ethischen und einen religiösen Grundtyp von Erhabenheit profiliert, deren letzterer sich vornehmlich durch »Vorstellungen von der Ewigkeit und von der unermeßlichen Größe Gottes«8 auszeichnet. Es könnte Moses Mendelssohns langjährige Auseinandersetzung mit Burkes Enquiry in Augenschein genommen werden, im Zuge derer bemerkenswerterweise weder das »Erhabene in den Gesinnungen«9 noch das »heilige Schauern« ob der »unermeßlichen Vollkommenheit Gottes«10 aus dem Erhabenheitsbegriff verbannt wird. Ansonsten drängt sich selbstverständlich Kant auf, dessen ›Analytik des Erhabenen‹ für die nachfolgende Theoriegeschichte maßstabgebend war. Neben Schiller als Exponent einer entschieden ethischen Konzeption wären schließlich – im Sinne des ›langen 18. Jahrhunderts‹ – Schelling, Schlegel oder Solger zu berücksichtigen, allesamt Vertreter einer romantischen Auffassung des Erhabenen als »Einbildung des Unendlichen ins Endliche«11. Für die Schlussreflexionen dieser Arbeit dürfte indessen Hegel der aufschlussreichste Autor sein. In seiner Konzeption, die in gewisser Hinsicht einen Abschluss der idealistischen Erhabenheitstheorie darstellt, laufen wesentliche Linien der im Vorausgehenden erörterten Tradition zusammen. Daher eignet sich seine Position bestens als übergeordneter Standpunkt, von dem aus sich anhand von theoriegeschichtlichen Rückblenden (vor allem auf Herder und Kant) und Ausblicken (auf Otto und Tillich) systema-
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K. VIËTOR: Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur, 254. Auf die anhaltende poetologische Wirksamkeit von Peri Hypsous im späten 18. Jahrhundert sei an dieser Stelle wenigstens hingewiesen. Für sie können die Namen Friedrich Hölderlin und Ludwig Tieck angeführt werden. Vgl. M. VÖHLER: Hölderlins LonginRezeption; E. H. ZEYDEL: Tiecks Essay Über das Erhabene. 8 J. G. SULZER: Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 1, 345. 9 M. MENDELSSOHN: Betrachtungen über das Erhabene und das Naive in den schönen Wissenschaften (1771), 219. 10 M. MENDELSSOHN: Rhapsodie oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen, 141f. 11 F. W. J. SCHELLING: Philosophie der Kunst, 289. 7
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tische Überlegungen zur gegenwärtigen religionsphilosophischen Relevanz der fraglichen Kategorie anstellen lassen. Es sticht an Hegels Begriffsgebrauch zuallererst ins Auge, dass das Erhabene in zwei unterschiedlichen Feldern seiner Realphilosophie begegnet, nämlich sowohl in der Kunst- als auch in der Religionsphilosophie. Dort kommt ihm die prominente Rolle zu, einen ersten Höhepunkt der Kunstgeschichte zu markieren, hier bezeichnet es die erste adäquate Form von Religion. Schon angesichts dieser Doppelfunktion ist zu vermuten, dass Hegel das Erhabene in Übereinstimmung mit den behandelten Autoren des 18. Jahrhunderts als eine Kategorie konzipiert, welche die Sphären von Religion und Kunst in irgendeiner Weise übergreift. Hegels Ausführungen in den Vorlesungen über die Ästhetik bestätigen diese Vermutung. Steht nämlich der Titel »Religion der Erhabenheit«12 für diejenige Religionsgestalt, in der Gott in seiner Weltüberlegenheit rein aufgefasst wird, firmiert als »Kunst der Erhabenheit«13 eine Form von Kunst, die ebenjenen weltüberlegenen Gott zur Darstellung bringt. Die erhabene Kunst ist demnach unmittelbarer Ausdruck der erhabenen Religion, deren anschauliche Seite und ästhetische Entsprechung. Sie wird aus dem religiösen Streben des Geistes geboren, der ein Gottesbewusstsein nur auf dem Wege der Anschauung gewinnen kann und sich dieses Bewusstseins immer wieder durch Anschauung versichern muss, indem er dessen Gehalt anschaulich zur Darstellung bringt. Das Erhabene in seiner systematischen Doppelstellung ist somit Ausdruck des Sachverhalts, dass die Darstellung des Absoluten zugleich eine ästhetische und eine religiöse Seite hat. Es liegt auf der Hand, dass sich die skizzierte Konzeption in wesentlichen Punkten mit den Hallenser Reflexionen über die notwendige Ästhetisierung der Religion durch erhabene Dichtung trifft. Auch Jakob Immanuel Pyra und seine Gefährten hielten eine künstlerische, insbesondere poetische Veranschaulichung der religiösen Gehalte für unerlässlich und hoben daher die Angewiesenheit der Religion auf die Poesie als notwendige Vermittlungsgestalt hervor. Dieser Standpunkt verdankte sich den Grundeinsichten der Hallischen Ästhetik, einer Weiterentwicklung der wolffischen Schulphilosophie. Mit dem schulphilosophischen Erbe war präfiguriert, dass das Ästhetische in enge Beziehung zur Psychologie rückt. Auch Pyras poetologische Reflexionen sind demgemäß psychologisch fundiert. Für ihn hängt von der anschaulichen Vermittlung die Lebendigkeit der Religion ab, die Möglichkeit ihrer innerlichen Aneignung. Die Religion kann affektive Kraft nur gewinnen, kann nur dann auch eine Sache inneren Erlebens werden, wenn ihr eindrückliche Bilder vom Göttlichen den Zugang zu den vorratio12 13
G. W. F. HEGEL: Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd. 2, 50. G. W. F. HEGEL: Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 1, 362.
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nalen Tiefenschichten der Seele bahnen, und darum bedarf sie der Hilfestellung vonseiten der Dichtung als Kunst der Erschaffung solcher Bilder. Es ist damit eine grundlegende Einsicht in den psychologischen Zusammenhang von Kunst und Religion formuliert, die noch in der frühromantischen Idee der Kunstandacht nachklingt. Hegel führt diese Linie in seiner Philosophie der religiösen Kunst nicht weiter. Er argumentiert nicht psychologisch, sondern geisttheoretisch und bewegt sich damit auf einer mittleren Ebene zwischen Metaphysik des Absoluten, Ontologie und Theorie der Subjektivität. Mit dem geistphilosophischen Zugriff drängt sich für ihn zugleich die historische Frage nach der Genese des Erhabenen in der Geschichte von Religion und Kultur auf. Hier ergeben sich wieder Berührungspunkte mit der Diskussion um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Hegel sieht die ›Kunst der Erhabenheit‹ im Kontext der ›Religion der Erhabenheit‹ verwirklicht, und das heißt für ihn: im Judentum. Dort gelangt der kunst- und religionsgeschichtliche Weg von den vielen Göttern über die naturhafte Gottheit zu dem einen überweltlichen Gott zu seinem Höhepunkt und vorläufigen Abschluss, insofern er in der Religion zum Gottesprädikat der Erhabenheit und in der Kunst zur »heiligen Poesie der Erhabenheit«14 führt. In der erhabenen Poesie des Alten Testaments wird die Gottesvorstellung erstmalig in Reinheit ergriffen. Hegel nimmt – analog zu Robert Lowths Behauptung vom religiösen Ursprung der Dichtung – einen direkten Zusammenhang zwischen der Entstehung der Kunst und der Religion an. Sofern dieser Zusammenhang hervortritt, kommen beide allererst zu sich selbst. Dies geschieht erstmalig in der »hebräischen Poesie«15, weil hier die Erhabenheit Gottes, noch ohne als abstrakter Gedanke gefasst zu sein, auf zuvor unerreichte Weise »der Anschauung nähergebracht«16 wird. Indem die alttestamentliche Dichtung erstmals eine adäquate Anschauung Gottes gewinnt, lässt sie die Kunst der Vorzeit mit ihrer dunklen »Ahnung eines Höheren«17 als bloße »Vorkunst«18 hinter sich. Während die Kunstschöpfungen der Naturreligion das Göttliche noch in trüber Vermischung mit den weltlichen Phänomenen erfassten, gelangt der Mensch in der erhabenen Poesie zu einem klaren Bewusstsein des Absoluten als solchem: Die Gottheit wird in ihrem »Fürsichsein«19 offenbar, in voller Geschiedenheit von der endlichen Welt.
14
AaO. 364. AaO. 315. 16 Vgl. aaO. 355. 17 G. W. F. HEGEL: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst 1823 (Mitschrift H. G. Hotho), 125. 18 G. W. F. HEGEL: Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 1, 309. 19 AaO. 363. 15
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Mit der Verortung des Erhabenen in der Dichtung des Alten Testaments stimmt Hegel in den Chor der Poetologen und Theologen des 18. Jahrhunderts ein, für den in dieser Untersuchung stellvertretend die Namen Pyra, Klopstock und insbesondere Lowth zu stehen kamen. Vor allem aber tritt er in enge Nachbarschaft zu Johann Gottfried Herders Schriften zum Alten Testament, in denen die Tendenz zur ästhetischen Dechiffrierung der Bibel in gewisser Weise kulminiert. Dass Hegel selbige Schriften vermutlich gekannt hat, legt schon das Stichwort ›hebräische Poesie‹ nahe, das auf Herders Buch Vom Geist der ebräischen Poesie anzuspielen scheint – welches sich wiederum ausdrücklich als Nachfolgewerk von Lowths Vorlesungen über die heilige Poesie der Hebräer versteht.20 Herders psychologisch, ästhetisch und religionstheoretisch angelegte Hermeneutik erblickt in der alttestamentlichen Poesie den Inbegriff »erhabner Simplizität«21. In der sublimen Einfachheit der Dichtung des Buches Genesis, in den Psalmen, bei Hiob und den Propheten verkörpert sich für ihn ein poetisches Ideal und zugleich eine originäre Form von Religion – Poesie und Religion konvergieren. Wie Roderich Barth jüngst gezeigt hat, wird dabei ein Begriff des Erhabenen sichtbar, der – analog zu Grundstrukturen der in dieser Arbeit analysierten Theorien des frühen 18. Jahrhunderts – als »dreistellige Konstellation« von »Unbedingtheitsideen«, »ästhetischer Ausdrucksgestalt« und »affektiver Erlebnisdimension« beschrieben werden kann.22 Die poetischen Bilder solcher Dichtung bringen religiöse Ideen und korrespondierende religiöse Empfindungen zum Ausdruck, so dass sie wiederum den Menschen »die reinsten, erhabensten Ideen von Gott einpflanzen«23 und damit jenen religiösen Uraffekt evozieren, den Herder als »Schauer der Ehrfurcht«24 bezeichnet. Wie seine Vorgänger benutzt Herder den Erhabenheitsbegriff als Synthesekategorie, in deren Gebrauch ästhetische und religiöse Auslegung koinzidieren, und wie sie betrachtet er die mithilfe jener Kategorie geadelten Dichtungen als frühe Höhepunkte der Kulturgeschichte. Charakteristisch für Herder sind indes die darin mitgesetzten anthropologischen Implikationen. Sie ergeben sich aus der Lokalisierung der hebräischen Dichtung am Ursprung der Menschheitsgeschichte. Ausgehend von der theoretischen Prämisse, dass geschichtliche Anfänglichkeit und anthropologische Ursprünglichkeit zusammengehören, formuliert Herder die geschichtsphilo20 Ein weiterer Beleg für Hegels Kenntnis der einschlägigen Herder-Schriften kann in seiner Vorliebe für Herders Begriff des ›Volksgeistes‹ erblickt werden. Vgl. H. G. GADAMER: Volk und Geschichte im Denken Herders (1942). 21 J. G. HERDER: Über die ersten Urkunden des menschlichen Geschlechts, 51. 22 R. BARTH: Seele nach der Aufklärung. Studien zu Herder und Harnack, 168. 23 J. G. HERDER: aaO. 63. 24 J. G. HERDER: Vom Geist der ebräischen Poesie, 698f.
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sophische Ansicht, dass dieser Zusammenhang im Alten Testament seinen exemplarischen Ausdruck gefunden habe. Nach Maßgabe dieser Doppelthese blickt die »uralte Erhabenheit«25 jener Poesie den modernen Interpreten nicht etwa nur als urtümliche Form anschaulich-lebendiger Religion an, die als solche allein von historischem Interesse wäre, sondern es offenbart sich in diesem Uranfänglichen zugleich das über die Zeiten hin Gültige. Die Verortung des Erhabenen in der »Kindheit« der Menschheit bedeutet mithin dessen Nobilitierung zum humanen Grunddatum. Seine Versetzung in die orientalische Ursprungsregion der Geschichte rückt es zugleich in den Bezirk des anthropologisch Fundamentalen. Durch die Verklammerung von historischer und anthropologischer Ursprungskonstruktion wird das Erlebnis des Erhabenen, in dem sich die Seele, eingedenk der eigenen Endlichkeit, mit ehrfürchtigem Schauer zu Gott erhebt, zu einem Wesensmoment von Religion. Seine Gegenwartsrelevanz sieht Herder in der Überbrückung des Gegensatzes von allzu schlichter Empfindungsfrömmigkeit einerseits und abstrakter Formelgläubigkeit andererseits. Entsprechend zielt Herders Theorie der erhabenen Poesie der Hebräer, ganz im Sinne der religiös motivierten Renaissance des Erhabenen im frühen 18. Jahrhundert, auf die aktuelle Wiederentdeckung einer durch ästhetische Vermittlung intensivierten Form religiösen Erlebens. Zu diesem Entwurf steht derjenige Hegels im Verhältnis großer äußerer Nähe – bei gleichzeitig größter innerer Distanz. Hegel schließt sich mit seiner Verortung des Erhabenen im altorientalischen Israel Herder und seinen Vorgängern an, ja er nimmt die Identifikation von Erhabenheit und hebräischer Dichtung sogar noch entschiedener vor. Auch für ihn ist die heilige Poesie des Alten Testamentes Inbegriff des Erhabenen, aber seiner Ansicht nach gilt dies in ganz exklusivem Sinne: Hier und nur hier hat es sich in seiner Eigentlichkeit verwirklicht. Schon in dieser Akzentuierung deutet sich an, dass sich bei Hegel gegenüber Herder eine Umwertung vollzieht. Denn mit seiner ausschließlichen Zuordnung zum alten Orient betreibt Hegel eine Archaisierung des Erhabenen, die nicht Nobilitierung, sondern historische Distanzierung und sachliche Relativierung bedeutet. Maßgeblich für diese Umwertung ist ein Wechsel des geschichtsphilosophischen Grundmodells. Nach Hegels Auffassung ist das Vollkommene, Essentielle generell nicht Ausgangspunkt, sondern Resultat einer Entwicklung. Ursprünglichkeit impliziert nicht mehr wie bei Herder Wesentlichkeit, sondern Vorläufigkeit. Nun entstammt die hebräische Poesie für Hegel nicht dem ersten Anfang der Kulturgeschichte, sondern sie beschließt bereits eine Entwicklung, indem sie die Epoche der Naturreligion und ihrer »Vorkunst« beendet. Insofern drückt sich in der Identifikation von Erha25
AaO. 1001.
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benheit und hebräischer Poesie auch unter Hegel’schen Prämissen Hochschätzung aus. Aus Hegels geschichtsevolutionärer Sicht stehen das alttestamentliche Judentum und seine Dichtung jedoch immer noch auf der Stufe der kulturellen Anfänge. Das Erhabene zeugt von kultureller Ursprünglichkeit, aber diese Einstufung steht, gemessen an Herder, unter entgegengesetzten Vorzeichen. Mit der exklusiven Zuweisung zur Religion des alttestamentlichen Judentums wird das Erhabene der Religions- bzw. Literaturgeschichte übergeben. Seine ästhetische Gegenwartsrelevanz wird als vergleichsweise bescheiden eingeschätzt, weil es längst vom Klassischen und Romantischen überholt zu sein scheint – wie auch das Judentum vom Christentum. Einer derartigen Archaisierung des Erhabenen hätte wiederum Kant strikt widersprochen. Anders als Hegel misst er der Kategorie mit Herder hohe aktuelle Bedeutsamkeit bei. Doch anders als für Herder gilt dies für ihn nur unter der Bedingung, dass sie alle ihre archaischen Konnotationen abstreift. Bereits in den frühen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764), die unter Bezugnahme auf die deutsche und englische Theorietradition eine möglichst umfassende Typologie des Erhabenen zu erstellen versuchen, ist ein deutlicher Modernisierungswille zu spüren. So wird hier die anvisierte »natürliche« Konzeption des Erhabenen in einen förmlichen Gegensatz zu gewissen religiösen Traditionen gestellt, die als »Abartungen« desselben angeführt werden.26 Dies geschieht augenscheinlich in dem Bestreben, in Absetzung von einer religiösen Fassung, die unter Obskurantismusverdacht gestellt wird, einen modernitätstauglichen Erhabenheitsbegriff zu profilieren, der infolgedessen nicht mehr vorzugsweise im Bereich der Religion, sondern in der Sphäre der Moralität gesucht wird. Daher neigen die Beobachtungen insgesamt bereits stark zu einem ethischen Bild vom Erhabenen, in dessen Zentrum das »hohe[ ] Gefühl von der Würde der menschlichen Natur«27 steht. Im Rahmen der in Kants Religionsschrift (1793) entwickelten Christentumstheorie spielt die Erhabenheitskategorie denn auch keine tragende Rolle und drückt dort ebenfalls vorwiegend ethische Sachverhalte aus. Dies gilt freilich mit der Einschränkung, dass die metaphysisch-religiösen Konnotationen des traditionell mit dem Erhabenen
26 Als Beispiele pseudo-erhabener Heiligkeit werden neben den Kreuzzügen das Mönchtum und dessen Bußübungen sowie die religiösen Medien der Vergegenständlichung des Heiligen genannt: »[h]eilige Knochen, heiliges Holz und aller dergleichen Plunder, den heiligen Stuhlgang des großen Lama von Tibet nicht ausgeschlossen« (I. KANT: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, 18). 27 AaO. 33.
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verknüpften Motivs von der Würde und »Bestimmung«28 des Menschen, die im Laufe der vorliegenden Arbeit wiederholt hervortraten, dabei durchaus mitschwingen.29 Wie sich der ›Analytik des Erhabenen‹ in der Kritik der Urteilskraft entnehmen lässt, hat Kant für die Vermeidung eines pointiert religiösen Begriffsgebrauchs nicht zuletzt religionsphilosophische Gründe. Er identifiziert hier nämlich die religiöse Erhabenheitsvorstellung mit dem archaischen Bild einer Gottheit, die »im Ungewitter, im Sturm, im Erdbeben«30 ihren furchtbaren Zorn offenbart. Weil ein solches Gottesbild, wie es im Anklang an Passagen aus dem Buch Hiob gezeichnet wird, aufseiten des Menschen indessen notwendig mit »Unterwerfung, Niedergeschlagenheit und Gefühl der gänzlichen Ohnmacht«31 verbunden sei, widerstreite es klar einer modernen Religion der Freiheit, die nach Kants tiefer Überzeugung mit dem Bewusstsein der Erhabenheit der menschlichen Natur vereinbar sein, ja sich aus ihm speisen muss. Vor dem Hintergrund dieser Assoziation des Erhabenen mit einer atavistischen Religion der Angst, die aus moderner Sicht nur als »Superstition«32 eingestuft werden kann, ist Kants ›Analytik‹ als Plädoyer für eine Entarchaisierung des Erhabenen zu begreifen. Auch in dieser Fassung hat nun das Erhabene eine anthropologisch essentielle Funktion, insofern es nämlich die axiologische Spannung zwischen Naturvorfindlichkeit und ideeller Telosbestimmtheit des Menschen thematisiert. Damit rückt der Erhabenheitsbegriff bei Kant in den Horizont eines vernunfttheoretischen Moralkonzepts ein. Demzufolge stößt das Subjekt in der Erfahrung des Erhabenen auf einen internen Hiat zwischen verschiedenen Vermögen des Gemüts, der aber nicht in destruktiver, sondern in konstruktiver Weise zum Zuge gelangt. Im Erhabenen erlebt das Subjekt ästhetisch vermittelt die Inkommensurabilität von Einbildungskraft und Vernunft: die Unfähigkeit seines Vorstellungsvermögens zur Darstellung von Vernunftideen. Aber in diesem Scheitern werden doch selbige unvorstellbare Vernunftideen auf eigentümliche Weise »rege gemacht und ins Gemüt gerufen«33. Im Erhabenheitserlebnis wird das 28
Vgl. I. KANT: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 11: »ein Gefühl des Erhabenen unserer eigenen Bestimmung«; ferner 59: »Gefühl der Erhabenheit seiner moralischen Bestimmung«. 29 Vgl. dazu auch die Stellen, an denen das Erhabenheitsprädikat verschiedenen christlichen Vorstellungen beigelegt wird: Himmel und Hölle (aaO. 72f), göttliche Allgegenwart (209f), unsichtbare Kirche (271) bzw. Reich Gottes (306). 30 KU B 107. 31 Ebd. 32 KU B 109. 33 KU B 77.
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Bewusstsein mit dem Sachverhalt konfrontiert, an die Sphäre der endlichen Sinnenwelt gebunden zu sein und zugleich nicht in ihr aufzugehen. Auf diese Weise versichert es sich – auf einen okkasionellen ästhetischen Anlass hin – seiner überempirischen Bestimmung. Die skizzierte Konzeption zeigt mannigfache Bezüge zur älteren Tradition. Neben dem von Kant fortgeschriebenen Motiv der ›Bestimmung des Menschen‹ ist etwa an den Topos von der Zwischenstellung des Menschen zwischen Engel und Tier zu denken, der in den frühaufklärerischen Erhabenheitstheorien begegnet ist. Durch das Misslingen des Versuchs, die Unbedingtheitsideen vorstellig zu machen, wird der Mensch in die Region des Endlich-Sinnlichen zurückgestoßen, um sich aufgrund der mittelbaren Präsenz selbiger Ideen im Gemüt über jene Region gleichzeitig erhoben zu fühlen. Als derart doppeltes Inkommensurabilitätsbewusstsein repräsentiert das Erhabene bei Kant gewissermaßen das Erlebnis der Zwischenstellung des Menschen zwischen Himmel und Erde – und weist damit zurück auf Peri Hypsous, wo Nämliches im platonischen Begriff des ›Daimonischen‹ anklingt. Auch könnte man Kants Konzept gleichsam als subjektivitätstheoretische Reformulierung von ›Longins‹ These ansehen, das Erhabene sei ›Widerhall von Hochsinnigkeit‹. Insofern sich der Mensch in der begrenzenden Erfahrung seiner selbst als eines endlichen Sinnenwesens doch zugleich unsagbar über diese Grenze hinaus weiß, erwacht in seinem Gemüt eine hohe »Denkungsart«34, ein emphatischer Sinn für das Hohe. Sein Gemüt richtet sich auf das bildlose Reich der übersinnlichen Ideen aus, womit es, dem homerischen Helden gleich, auch das hohe Bewusstsein einer letzten ›Unbezwinglichkeit durch Gefahr‹35 erwirbt. Dass eine solche Grenzerfahrung, die sich in subjektivitätstheoretischer Konzeptualisierung als internes Inkommensurabilitätsbewusstsein darstellt, eine Affinität zum Religiösen hat, liegt offen zutage. So umgeht denn auch Kant, bei aller Reserve gegenüber einer superstitiösen Religion der Erhabenheit, sprachlich nicht in letzter Konsequenz die überkommenen religiösen Anklänge. In der Kritik der Urteilskraft findet sich etwa die Wendung vom »heiligen Schauer«36 des Erhabenen, die in der vorliegenden Untersuchung erstmalig bei einem pietistischen Theologen begegnete, sowie ein Hinweis auf das alttestamentliche Bilderverbot als äußerst »erhabene Stelle im Gesetzbuche der Juden«37. Kant deutet sogar ausdrücklich auf die Möglichkeit einer Konvergenz zwischen religiösem und ethischem Erhabenheitsbegriff hin. Seiner Ansicht nach eröffnet dem Subjekt das Innewerden 34
KU B 107. Vgl. KU B 106. 36 KU B 117. 37 KU B 124. 35
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der »Erhabenheit seiner Bestimmung«38 immerhin die Möglichkeit, vermöge der Frage nach dem Woher dieser Bestimmung »zur Idee der Erhabenheit desjenigen Wesens zu gelangen«, welches als Urheber unserer Erhabenheit »innige Achtung in uns wirkt«.39 Entsprechend kann Kant die wahre Religion denn auch als »Ehrfurcht für das Erhabene«40 bestimmen und mithin als Gefühl, welches die Achtung vor der eigenen menschlichen und vor der göttlichen Erhabenheit umgreift. So bildet das Erhabene geradezu den Maßstab der »Idee der Erhabenheit einer Religion«41. Gleichwohl hat es den Anschein, als habe der Wille zur Aktualisierung respektive Entarchaisierung Kant davon abgehalten, den religionsphilosophischen Aspekt des Erhabenen in den Vordergrund zu stellen. Es ist daher noch einmal auf Hegel zurückzukommen mit der Frage, ob sich hier womöglich – gegen dessen Archaisierungsintention – Perspektiven für eine aktuelle religionsphilosophische Fassung des Begriffs auftun. Dabei ist zunächst aufschlussreich, dass sich Hegel mit seiner Konzeption ausdrücklich in Kontinuität zu Kants ›Analytik des Erhabenen‹ stellt. Er schließt sich Kant in einem kardinalen Punkt an, den er in der folgenden Bestimmung zusammenfasst: »Das Erhabene überhaupt ist der Versuch, das Unendliche auszudrücken, ohne in dem Bereich der Erscheinungen einen Gegenstand zu finden, welcher sich für diese Darstellung als passend erwiese.«42 Der Konvergenzpunkt beider Theorien besteht in der Auffassung des Erhabenen als »negativer Darstellung«43 des an sich undarstellbaren Unendlichen, um 38
KU B 105. KU B 109. 40 Ebd. 41 KU B 108. Es ist hier nochmals an die weithin vergessene Schrift des Simmel-Schülers H. SCHMALENBACH zu erinnern, der sich für die Beschreibung von Kants Religion (1929) vorzüglich auf dessen (frühe wie späte) Theorie des Erhabenen stützt. Interessant ist die Schrift, weil sie dabei auch Äußerungen aus der Kosmogonie von 1755 (Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt) einbezieht, deren physikalisch-metaphysische Reflexionen etwa ›Von der Schöpfung im ganzen Umfange ihrer Unendlichkeit‹ (Siebentes Hauptstück) immer wieder in eine poetisch-religiöse Sprache hinüberspielen – es werden Haller, Pope und Addison zitiert –, in der sich Motive aus der im Vorigen dargelegten Erhabenheitstradition des 18. Jahrhunderts wiederfinden. Es wäre lohnend, die damit berührte Spur einer Kosmosfrömmigkeit des vorkritischen Kant, die sich in kritisch-ästhetischer Transformation auch noch in der ›Analytik des Erhabenen‹ niederschlagen mag, eingehend zu untersuchen. Die Monographie von K. H. PARK: Kant über das Erhabene. Rekonstruktion und Weiterführung der kritischen Theorie des Erhabenen Kants (2009) geht auf die vorkritischen Texte (ohne Nennung Schmalenbachs) relativ ausführlich ein, ohne daraus allerdings die Konsequenz einer religionsphilosophischen »Weiterführung« von Kants Theorie zu ziehen. 42 G. W. F. HEGEL: Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 1, 353. 43 KU B 124. 39
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einen zentralen kantischen Terminus zu gebrauchen. Das Erhabene zeichnet sich neben dem besonderen Darstellungsgehalt – dem Unendlichen – auch durch einen besonderen Darstellungsmodus aus: Es veranschaulicht den unendlichen Gehalt, indem es seine Undarstellbarkeit zum Ausdruck bringt. Die Pointe jener Bestimmung ist die Zuspitzung auf die in der Darstellung hervortretende Unangemessenheit einer jeden Darstellung des Unendlichen. Hegel übernimmt von Kant das Inkommensurabilitätstheorem und macht es zum Herzstück eines Erhabenheitsbegriffes, der im Unterschied zu Kants Konzeption dezidiert religionsphilosophisch angelegt ist, indem er es auf die religiöse Dichtung des Alten Testamentes bezieht und in einen absolutheitstheoretischen Rahmen einstellt. Anders als für Kant ist für Hegel das im Erhabenen darzustellende Undarstellbare von vornherein die Idee des absoluten Wesens, wie sie in der hebräischen Poesie unübertroffen zur Anschauung gebracht worden ist. Eine extern beigebrachte Theorie des Absoluten stellt die grundlegende Rekonstruktionsperspektive zur Verfügung, von der aus das Erhabene im Voraus als Darstellung des Absoluten aufgefasst wird. So wird das historische Material, das sich von der bibelhermeneutischen Erhabenheitstradition her nahelegt, nämlich die religiöse Poesie des Alten Testaments, unter Beiziehung von Kants Inkommensurabilitätsmotiv als Darstellung der undarstellbaren Gottesidee gelesen. Die konkreten Modi der negativen Darstellung des Absoluten ergeben sich Hegel zufolge aus der spezifischen Gottesidee der ›Religion der Erhabenheit‹. Gott wird hier primär in seiner Weltabgeschiedenheit vorgestellt. Unendliches und Endliches, Gott und Welt stehen im Rahmen dieser Anschauung zueinander in einem wesentlich negativen Verhältnis. Gott gilt als in sich zurückgezogenes, sich über alles erhebendes »höchstes Wesen«44. Gegenüber dieser absoluten Substanz der Welt sind die Erscheinungen der Natur folgerecht nur »machtlose Akzidenzien«45, die in absoluter Abhängigkeit von ihr stehen. Der beschriebenen wechselseitigen Negationsrelation, die den charakteristischen Gehalt der erhabenen Poesie der Bibel ausmacht, korrespondiert nun auch die eigentümliche Gestalt derselben. Die negative Beziehung auf der Seite des Inhalts spiegelt sich im Modus von dessen Darstellung. Denn das göttliche Wesen, als absoluter Gegensatz alles endlichen Seienden, entzieht sich naturgemäß jeder endlichen Anschauung. »Gott selbst als dieses reine Fürsichsein der einen Substanz ist in sich ohne Gestalt und in dieser Abstraktion genommen der Anschauung nicht näherzubringen.«46 Die Darstellung Gottes kann folglich nur mittelbar stattfin44
Vgl. G. W. F. HEGEL: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, 140. AaO. 141. 46 G. W. F. HEGEL: Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 1, 363. 45
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den, nämlich durch die Darstellung seines Verhältnisses zu der von ihm erschaffenen Welt. Dieses Verhältnis ist auf zweierlei Art und Weise zu veranschaulichen. So stellt die »heilige Poesie« Gott zum einen als Subjekt des Schöpfungsaktes vor, und zwar in unübertroffener Weise im Fiat lux der Genesis, was Hegel im ausdrücklichen Verweis auf ›Longin‹ feststellt: Gott ist der Schöpfer des Universums. Dies ist der reinste Ausdruck der Erhabenheit selber. […] ›Gott sprach: es werde Licht! und es ward Licht‹, führt schon Longin als ein allerdings schlagendes Beispiel der Erhabenheit an. Der Herr, die eine Substanz, geht zwar zur Äußerung fort, aber die Art der Hervorbringung ist die reinste, selbst körperlose, ätherische Äußerung: das Wort, die Äußerung des Gedankens als der idealen Macht, mit deren Befehl des Daseins nun auch das Daseiende wirklich in stummem Gehorsam unmittelbar gesetzt ist.47
Neben der Schilderung des Schöpfungsaktes ist als zweiter Modus der erhabenen Gottesdarstellung die Repräsentation durch außerordentliche Naturerscheinungen zu nennen. Denn die Logik des Substanz-Akzidens-Verhältnisses, in dem die Gott-Welt-Relation im Erhabenen vorgestellt wird, beinhaltet zwar ein Gegenüber von Gott und Welt, nicht aber einen starren Dualismus, so dass die eine Substanz an ihren Akzidenzien zwar nicht ihr eigentliches Wesen »erscheinen«, immerhin aber »scheinen«,48 aufscheinen lassen kann. Indem prächtige Naturphänomene geschildert und im Vergleich mit ihrem Schöpfer lediglich als Abglanz der göttlichen Herrlichkeit aufgefasst werden, als verschwindender Reflex des göttlichen Wesens,49 wird dieses immerhin durch die Logik der Steigerung mittelbar anschaulich. Auf dem Wege der »Herabsetzung«50 des Herrlichen in der geschaffenen Welt gegenüber ihrem Schöpfer kommt es zur »Erhebung des Gemüts«51 zu einer mittelbaren Vorstellung von dessen unvorstellbarer Pracht und Größe. Das Zustandekommen einer solchen Vorstellung macht nach Hegels Auffassung das Erhabene aus. Es ist daher klassisch in jener biblischen »Poesie des Herrlichen« verwirklicht, … welche den bildlosen Herrn des Himmels und der Erden nur dadurch zu feiern und zu erheben weiß, daß sie seine gesamte Schöpfung nur als Akzidenz seiner Macht, als Boten seiner Herrlichkeit, als Preis und Schmuck seiner Größe verwendet und in diesem Dienste das Prächtigste selbst als negativ setzt – weil sie keinen für
47
AaO. 364. Ebd. 49 Vgl. aaO. 366: »Besonders ist in dieser Rücksicht der 104. Psalm von großartiger Gewalt. ›Licht ist dein Kleid, das du anhast, du breitest aus den Himmel wie einen Teppich‹ usf. – Licht, Himmel, Wolken, die Fittiche des Windes sind hier nichts an und für sich, sondern nur ein äußeres Gewand, ein Wagen oder Bote zu Gottes Dienst.« 50 AaO. 362. 51 AaO. 366. 48
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die Gewalt und Herrschaft des Höchsten adäquaten und affirmativ zureichenden Ausdruck zu finden imstande ist…52
Es ist deutlich geworden, dass Hegels Begriff des Erhabenen sein schlechthin zentrales Motiv in der mittelbaren Darstellung des im eigentlichen Sinne undarstellbaren Absoluten hat. Eine derartige Darstellung, die das Verhältnis von Gehalt und Gestalt immer nur im Zugleich von partieller Angemessenheit und partieller Unangemessenheit zum Ausdruck zu bringen vermag, ist gemäß Hegels einschlägigen Bestimmungen symbolisch zu nennen. Damit wird eine weitere Verbindungslinie zu Kant sichtbar. Denn wie die sogenannte Nürnberger Propädeutik53 zeigt, hat Hegel seinen Begriff des Symbols wie den Begriff des Erhabenen in der Auseinandersetzung mit Kant gewonnen, der bereits in den Prolegomena54 von 1783 und dann in der Kritik der Urteilskraft das Desiderat einer Symbollehre in Angriff genommen hatte. Kant war dabei ebenfalls auf das Problem der Vorstellung des an sich unvorstellbaren ›höchsten Wesens‹ zu sprechen gekommen,55 dessen Lösung er mit dem Konzept eines »symbolischen Anthropomorphismus«56 verfolgte.57 Hegels »Symbolik der Erhabenheit«58 verkörpert eine Zusammenführung von Theorieelementen, die in der Kritik der Urteilskraft noch nebeneinander herlaufen und allenfalls verdeckt zur Synthese drängen: der Ästhetik des Erhabenen (§§ 23–29) auf der einen und der Theorie des Schönen als Symbol sittlicher Ideen (§ 59) auf der anderen Seite. Beide Elemente finden zusammen, indem sie von Hegel im Horizont der Ausführungen der Prolegomena (§§ 57f) zum ›symbolischen Anthropomorphismus‹ gelesen werden. Hegel hat damit einen systematischen Konnex zwischen Erhabenheitstheorie und Theorie des religiösen Symbols offengelegt. Von daher erklärt sich auch der Umstand, dass sich etwa Paul Tillichs klassische Reflexionen über das Wesen der religiösen Sprache streckenweise wie eine Reformulierung von Hegels Gedanken über die Kunst der Erhabenheit lesen.59 Hat das religiöse Bewusstsein, wie Tillich im Anschluss an Hegel hervorhebt, seinen intentionalen Gehalt grundsätzlich in symbolischer Gestalt, dann, so lässt 52
AaO. 315f. Vgl. G. W. F. HEGEL: Philosophische Enzyklopädie für die Oberklasse (1808ff), § 154, 50f. 54 I. KANT: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. 55 Vgl. aaO. 355ff passim. 56 AaO. 357. 57 Vgl. dazu J.-I. KWON: Die Metamorphosen der »symbolischen Kunstform«. 58 So der Titel des einschlägigen Kapitels in der Druckfassung von Hegels Ästhetikvorlesungen (Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 1, 352). 59 Vgl. z.B. P. TILLICH: Das religiöse Symbol (1928). 53
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sich schlussfolgern, hat solches Bewusstsein auch grundsätzlich eine Erhabenheitsdimension. Es impliziert ein Bewusstsein der »unendlichen« Inkommensurabilität der eigenen Gestalt gegenüber seinem absoluten Gehalt, wie Tillich wiederholt herausstellt.60 Und, so wird man im Blick auf die konstitutive Affektkomponente des Erhabenen ergänzen können, es ist zugleich von einem ›heiligen Schauer‹ gegenüber dem Symbolisierten tangiert sowie von einem Gefühl des Erhobenseins über die Sphäre des Endlichen. Der systematische Zusammenhang zwischen Symboltheorie und Erhabenheitstheorie hat vor und seit Hegel kaum ausdrückliche Beachtung gefunden. Eine Ausnahme sind diesbezüglich Robert Lowths Vorlesungen über die heilige Poesie der Hebräer, die bereits den Gedanken einer Darstellung des unendlichen Wesens mittels Negation bzw. Steigerung als ein kardinales Element des Erhabenheitskonzepts entfalten und dabei auch auf das Unangemessenheitsmoment im religiösen Bewusstsein reflektieren. Für Lowth wie für Hegel zeichnet sich die symbolische Darstellung der Gottheit durch eine innere Spannung, eine immanente Negativität aus, insofern sie durch einen Prozess der Setzung und Aufhebung der jeweiligen Anschauung zustande kommt. Die »positive Beziehung«61 der Angemessenheit zwischen der Anschauung und ihrer Bedeutung schlägt ob dieser absoluten Bedeutung um in ein »negatives Verhältnis«62, in das Bewusstsein der schlechthinnigen Inkommensurabilität einer jeden Anschauung, infolgedessen die jeweilige konkrete Anschauung, die zu diesem Bewusstsein geführt hat, wieder zurückgenommen wird. »Dieses Gestalten, welches durch das, was es auslegt, selbst wieder vernichtet wird, so daß sich die Auslegung des Inhalts zugleich als ein Aufheben des Auslegens zeigt, ist die Erhabenheit«63. Als Inkommensurabilitätsbewusstsein hat das Erhabene demnach die Struktur der Selbstnegation, die später Tillich als zentrales Merkmal des religiösen Symbols ausgewiesen hat.64 Indem Hegel Kants Inkommensurabilitätstheorem im Lichte des Problems religiöser Symbolisierung expliziert, weist er dem Erhabenen den Rang 60 Laut Tillich versuchen alle Symbole eine Bedeutung zum Ausdruck zu bringen, welche die Darstellung transzendiert. Im Fall der religiösen Symbole verschärft sich die Divergenz von Gestalt und Bedeutung insofern, als diese ihre Darstellungsweise »unendlich«, »unbedingt« übersteigt. Vgl. z.B. P. TILLICH: Das religiöse Symbol, 214; DERS.: The Meaning and Justification of Religious Symbols, 418; DERS.: Wesen und Wandel des Glaubens, 141: »Das wahrhaft Unbedingte läßt den Bereich alles Bedingten unendlich weit hinter sich. Darum kann es von keiner endlichen Wirklichkeit unmittelbar und angemessen ausgedrückt werden. Religiös gesprochen: Gott transzendiert seinen eigenen Namen.« 61 G. W. F. HEGEL: Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 1, 354. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Vgl. P. TILLICH: Systematische Theologie, Bd. 1, 159ff; dazu L. HEINEMANN: Symboltheoretische Anfänge: Paul Tillichs frühe Privatdozentenjahre in Berlin, 245f.
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einer religionsphilosophischen Schlüsselidee zu. Diese Pointe von Hegels Ästhetik ist freilich im komplexen Theoriegeflecht derselben leicht zu übersehen. Doch in den Erörterungen zur alttestamentlichen Poesie der Erhabenheit lässt sich der Gedanke greifen. So findet sich dort die Bemerkung, jene sei das »Muster für alle Zeit, wo auf das glänzendste die Empfindungen der Menschen gegen Gott dargestellt sind«65. Die Poesie der Hebräer steht dieser Äußerung zufolge nicht nur für eine archaische Position innerhalb der sich ästhetisch manifestierenden Religionsgeschichte, sondern zugleich für eine anthropologisch fundamentale Gestalt von Religiosität. Nach Hegels Auffassung der Religion der Erhabenheit als »einfachster Religion«66 handelt es sich bei der erhabenen Poesie um den Ausdruck »einfachster« religiöser Empfindungen, womit sie »für alle Zeit« paradigmatische Geltung gewinnt. Geht man mit Hegel davon aus, dass auch hochstufigere Gestalten der Religion aus der »einfachsten Religion« hervorgehen; versteht man solches Hervorgehen wiederum nicht allein historisch, sondern im Sinne der anthropologischen Genese von Religion, dann ist es nur noch ein Schritt bis zu jener Überzeugung Herders von der bleibenden Aktualität des ReligiösErhabenen. Die erhabene Poesie des Alten Testaments repräsentiert demzufolge die Ausdrucksgestalt humaner Grundschichten des Religiösen und hat mithin als bleibend aktuelle Quelle der Religion zu gelten sowie als »Muster« für gegenwärtige Formen der ästhetischen Darstellung und Mitteilung religiöser Grundempfindungen. Trifft diese Einschätzung zu, dann ist jedoch die Ästhetik des Erhabenen nicht nur von historischem Interesse, sondern es kommt ihr eine integrale Bedeutung für eine gegenwärtige Theorie der Religion zu. Ausgehend von dieser Überlegung soll abschließend die Funktion des Erhabenheitsbegriffs in dem betreffenden Theoriekontext skizziert und jener dadurch weiter profiliert werden. Eine Ästhetik des Erhabenen in religionstheoretischer Absicht hat beim Thema der religiösen Symbolisierung anzusetzen. Der symboltheoretisch gefasste Erhabenheitsbegriff bezeichnet ein ästhetisches Objekt bzw. den dadurch evozierten Akt, im Zuge dessen sich, durch eine anschauliche Vorstellung vermittelt, im Subjekt ein konkretes, Kognition und Affektion umfassendes religiöses Bewusstsein bildet, das seinen eigentlichen Gehalt in der Weise der Entzogenheit vergegenwärtigt. Das Erhabene beschreibt die in sich spannungsvolle ästhetisch-religiöse Erfahrung, in der im Scheitern des Gemüts an der Vorstellung des Absoluten dieses doch per negationem vor-
65 G. W. F. HEGEL: Philosophie der Kunst oder Aesthetik. Nach Hegel. Im Sommer 1826 (Mitschrift F. C. H. V. von Kehler), 91. 66 G. W. F. HEGEL: Religionslehre für die Mittel- und Oberklasse (1811–1813), § 14, 283.
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stellig wird. Durch eine bestimmte Anschauung auf die Spur eines Unendlichen jenseits aller Anschauung gesetzt, erfährt das Subjekt einerseits die Inkommensurabilität seines Vorstellungsvermögens hinsichtlich der fraglichen Vernunftidee, andererseits aber kommt es vermöge dieses Scheiterns zu einer zwar anschaulich vermittelten, aber letztlich unanschaulichen Präsenz derselben. Denn im Versinken aller anschaulichen Vorstellung angesichts des Unvorstellbaren erhascht es doch gleichsam einen Eindruck von diesem. In der Konfrontation mit der Grenze seines Vorstellungsvermögens erhebt sich das Gemüt zugleich auf eigentümliche Weise über diese Grenze. Es kommt zu einer »negativen Vorstellung« des letztgemeinten Gehaltes, des unvorstellbaren Absoluten. Die im Anschluss an Kant gezeichnete Gebrochenheit des Erhabenheitserlebnisses lässt sich mit Hegel auch als Prozess abbilden. Um sich als religiöses Bewusstsein anschaulich zu werden, muss sich demzufolge das Bewusstsein, in dem die Idee des Absoluten unausdrücklich vorhanden ist, zunächst eine Anschauung gegenüber setzen, die dieser Idee in gewisser Hinsicht angemessen ist. Als dem Absoluten höchst unangemessen nimmt sich diese Anschauung sodann aber wieder zurück. Fasst man die Elemente dieses Prozesses wiederum nicht als Sequenz, sondern als Spannungsverhältnis auf, ergibt sich das Bild vom »Schweben« des Bewusstseins »zwischen Setzung und Aufhebung des religiösen Gegenstandes«67, wie Tillich die entsprechende Relation im symboltheoretischen Zusammenhang beschrieben hat. Diese Charakteristik des Erhabenen im Horizont des Symbolisierungsthemas erfährt nun durch den Rückgriff auf die Tradition der Erhabenheitsästhetik eine mehrfache Präzisierung. Dies soll in vier Schritten entfaltet werden. Zunächst fällt auf, dass sich die dem Inkommensurabilitätsbewusstsein eignende Opakheit auch in den frühmodernen Theorien des Erhabenen wiederfinden lässt. Es sei nur an den Topos vom Je ne sais quoi du Sublime erinnert oder an das Motiv vom Erschauern vor dem Wunderbaren. Der Bezug zu den genannten Theorien deutet bereits an: Jene Opakheit des religiösen Bewusstseins, das spezifische Oszillieren zwischen Gegenwärtigkeit und Entzogenheit seines Gehaltes, führt in die psychologische Region des Gefühls. Während dieser Aspekt bei Hegel auffallend zurücktritt, ist er in der vorausgehenden Tradition durchweg präsent. Aufschlussreich ist diesbezüglich nicht zuletzt Kants ›Analytik des Erhabenen‹, die eigentlich eine Analytik des »Gefühls des Erhabenen«68 ist. Spielt die affektive Wirkung innerhalb der rhetorischen Koordinaten der frühen Erhabenheitstheorie seit jeher eine konstitutive Rolle, weist Kant dem Gefühl endgültig eine 67 68
P. TILLICH: Das religiöse Symbol, 222. KU B 80.
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systematische Schlüsselfunktion zu, insofern er es zum maßgeblichen Ort der Grenzerfahrung des Erhabenen erklärt. Hier nämlich haben die undarstellbaren Vernunftideen, auf die das Subjekt durch das Scheitern seines Darstellungsvermögens gestoßen wird, ihre unanschauliche Präsenz im Gemüt. Für das zu skizzierende religionsphilosophisch relevante Konzept des Erhabenen folgt daraus, dass das Aufscheinen des Absoluten im Schwinden aller Anschauung nicht allein auf kognitiver Ebene, als bloßes Verwiesensein auf ein Jenseits der Anschauung, zu denken ist, sondern dass es die affektive Dimension des Gemüts einbezieht. Wenn vermittels des Inkommensurabilitätsbewusstseins die Idee des Absoluten »rege gemacht und ins Gemüt gerufen«69 wird, geschieht dies wesentlich am Orte des Gefühls. Die undarstellbare Absolutheit des Höchsten spiegelt sich gleichsam im Gefühl des ehrfürchtigen Schauers, im »Gefühl des Unendlichen« (Schleiermacher), das dem kognitiven Verwiesensein auf das Jenseits der Vorstellungsgrenze erst seine Erlebnisqualität verleiht. Die Akzentuierung der konstitutiven Gefühlskomponente ist die erste Pointe der ins Religionstheoretische gewendeten Ästhetik des Erhabenen. Sie bedeutet eine subjektivitätstheoretische Präzisierung der Theorie religiöser Symbole. Während die herkömmliche Symboltheorie primär auf der Ebene des Kognitiven argumentiert und sich an der logischen Differenz von Endlichem und Unendlichem abarbeitet, gehört, wie die Untersuchung gezeigt hat, zum Begriff des Erhabenen unabdingbar die Reflexion auf die psychologische Dimension des Affektiven. Eine gewichtige Funktion der Erhabenheitstheorie für die Religionsphilosophie und Theologie besteht sonach darin, dass sie dem emotiven Resonanzraum der religiösen Symbole und Symbolisierungsakte zu angemessener Beachtung verhilft und damit einen Sinn für die unverrechenbare Erlebnisdimension des Religiösen befördert. Insofern der Begriff des Erhabenen seinem Herkommen nach mit dem ›heiligen Schauer‹ einen ästhetisch-religiösen Grundaffekt und mit der ›Erhebung der Seele‹ gewissermaßen deren ästhetisch-religiösen Grundakt beschreibt, kann er geradezu als »Chiffre für ein undogmatisches Christentums- bzw. Religionsverständnis«70 dienen, wonach gewisse sinnlich vermittelte Gefühlszustände, die sich lehrhafter Bestimmung letztlich entziehen, zum Urbestand religiösen Lebens gehören. Diese Überlegungen zum Erhabenen lassen unweigerlich an Rudolf Ottos Phänomenologie des Heiligen denken. Der Vergleich beider Kategorien wird auf einen zweiten Aspekt der religionstheoretischen Relevanz des Er69
KU B 77. R. BARTH: Seele nach der Aufklärung, 303. Es gilt damit vom Erhabenheitsbegriff als dem Herzstück theologischer Ästhetik, was innerhalb der theologischen Anthropologie vom Seelenbegriff gesagt werden kann. Die Ästhetik des Erhabenen ist demnach auch eine notwendige Konkretion einer Anthropologie der Seele in theologischer Perspektive. 70
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habenen führen. Von dessen struktureller Nähe zum Heiligen war schon zu Beginn dieser Arbeit die Rede. Otto zufolge vertritt das Heilige ebenfalls die unverzichtbar irrationale Komponente von Religion und beansprucht damit innerhalb der Religionstheorie eine ähnliche Funktion und einen ähnlich fundamentalen Rang wie das hier konturierte Erhabene. Es ist nun freilich auch ein entscheidender Differenzpunkt zu benennen. Er dürfte in der unwiderruflichen Archaik des Heiligkeitsbegriffs zu erblicken zu sein, die sich auch in Ottos Konzeption niederschlägt. Diesbezüglich ist insbesondere auf die Betonung der Realitätsvermeinung im religiösen Erlebnis zu verweisen. Otto akzentuiert das Gefühl des Heiligen als »Realitätsgefühl«, als Gefühl der Gegenwart »eines objektiv gegebenen Numinosen«71. Die Heiligkeitserfahrung ist damit durch ein eigentümliches Zugleich von Präsenz und Absenz des Numinosen charakterisiert, insofern die darin erlebte Gegenwärtigkeit einerseits – unbeschadet der idealistischen Theorieanlage Ottos – ganz realistisch gefasst ist, insofern sie aber andererseits nicht in der Weise »klaren Begreifens«72, sondern im verschleierten Modus des Gefühls, in der »geheimnisvoll-dunklen Sfäre«73 des Irrationalen, erlebt wird. Auch die Erfahrung des Erhabenen kennzeichnet ein Zugleich von Präsenz und Absenz des religiösen Gehalts. Beide Momente sind hier allerdings von anderer Qualität als beim Heiligen. Durch die Verknüpfung mit dem Symbolgedanken ist für das Erhabene das Bewusstsein der grundlegenden Entzogenheit seines letztgemeinten Gehalts konstitutiv, und entsprechend kommt es auch nicht zu einem Erlebnis realer Gegenwart. Nach Hegel ist die ›Religion der Erhabenheit‹ erreicht, sobald das erhabene Objekt als Symbol der weltjenseitigen, irrepräsentablen Gottheit gewusst wird. Unter Hinzunahme des konstitutiven Gefühlsmoments bedeutet das für die Phänomenologie des Erhabenheitserlebnisses: Es ist nicht Ahnung eines gegenwärtigen Numinosen, sondern Ahnung einer Spur des abwesenden Absoluten. Nach Maßgabe von Hegels Bild der Religionsgeschichte verhält sich das Erhabene demnach zum Heiligen wie der Monotheismus zur Naturreligion. Klammert man wiederum Hegels religionsgeschichtliche Verortung des Erhabenen im Alten Israel ein und begreift es dezidiert als aktuelle Kategorie, lässt sich jene Beschreibung noch einmal präzisieren. Das erhabenheitstypische Entzogenheitsbewusstsein, so kann von Kant her hinzugefügt werden, verschärft sich durch die moderne Einsicht, dass sich in aller Überschreitung der Sphäre des Endlich-Sinnlichen ein menschliches Vermögen zur Geltung bringt, nämlich die Vernunft als das Vermögen der Ideen. 71
R. OTTO: Das Heilige, 11 (Hvhg. vom Vf.). AaO. 76. 73 Ebd. 72
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Durch diese Einsicht wird das Subjekt in der Religion auf sich selbst zurückgeworfen: Die religiöse Erfahrung ereignet sich im Bewusstsein der Subjektivität und Idealität aller religiösen Transzendenz- oder Unbedingtheitsvermeinungen. Unter dieser Bedingung kann sich das religiöse Erleben nicht mehr auf ein objektiv gegebenes Numen beziehen. So bezeichnet das Erhabene nicht das Erlebnis der Realpräsenz des Numinosen, sondern das Erlebnis der Präsenz der Idee des Absoluten im Gemüt. Von der Subjektivierung bleibt freilich der Widerfahrnischarakter jenes Erlebnisses unbetroffen. Als okkasionelle Begegnung mit der eigenen Vernunftnatur eignet ihm in gewissem Sinne ebenfalls Objektivität. Das Erhabenheitserlebnis wird verständlich als eine sich ungesucht aufdrängende, im Gefühl sich geltend machende Deutung einer Anschauung als Darstellung der gestaltlosen Idee des Absoluten, die dem sinnlichen Objekt eine übersinnliche Aura verleiht und sich unbeschadet ihrer Okkasionalität im mehr oder weniger deutlichen Wissen darum vollzieht, subjektiver Akt zu sein. Das erhabene Gefühl setzt sich demzufolge aus einem Objekt- und einem Selbstgefühl zusammen: Es ist die Intuition einer übersinnlichen Aura am sinnlich Gegebenen, in der sich das Subjekt als Träger der Idee des Absoluten gleichsam spiegelt, was sich in dem Gefühl manifestiert, als dieser Träger dem Bedingten in gewisser Weise enthoben zu sein.74 Der Begriff des Erhabenen ist nicht zuletzt aufgrund seiner ästhetischen Wurzeln dazu prädestiniert, religiöse Erlebnisse in den Blick zu nehmen, die derart zwischen Widerfahrnis und Deutungsakt oszillieren. So konvergiert die fragliche Gebrochenheit, welche die ästhetisch-religiöse Kategorie der von ihr angesprochenen Erfahrung einzeichnet, mit dem, was Adorno den Scheincharakter der Kunst genannt hat. Wie der Betrachter noch in der emphatischsten Begegnung mit dem Kunstwerk nicht gänzlich von dessen Gemachtsein abstrahieren kann, so vollzieht sich das religiöse Erleben im Horizont der Moderne mindestens mit einem geheimen Wissen um das kulturelle Gemachtsein des Symbols sowie um das produktive Moment in der Begegnung mit ihm. Dasselbe Schweben zwischen »Transzendenz und Entzauberung«75, das Adorno der ästhetischen Erfahrung zugeschrieben hat, eignet daher auch der religiösen Erfahrung. Diesen Sachverhalt bringt das Erhabene als ästhetisch-religiöse Kategorie zum Ausdruck. Als solche zeigt es an, dass das religiöse Subjekt das Aufscheinen des Absoluten im sinnlichen Symbol nicht für ein Ereignis im realistischen Sinne hält, sondern als Produkt menschlicher Vermittlungs- und Deutungsvollzüge anerkennt. Teilt das Erhabenheitserlebnis mit jeder ästhetischen Erfahrung das Moment des 74
Das entsprechende Verhältnis von Selbst- und Objektgefühl im Erhabenheitserlebnis hat I. KANT auf den Begriff der »Subreption« (KU B 97) gebracht. 75 TH. W. ADORNO: Ästhetische Theorie, 123.
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Okkasionellen, umfasst es also zugleich das Bewusstsein von der Scheinhaftigkeit des Unbedingtheitswiderfahrnisses, insofern ihm das Wissen um dessen Subjektivität und Idealität innewohnt.76 Wie in Abgrenzung zum Heiligen zutage getreten ist, gewinnt das Erhabene aufgrund der skizzierten Konturen seine besondere Aktualität. Lässt sich die Religion in der Moderne als eine »Sinnperspektive« begreifen, »die um den Deutungscharakter ihrer Weltsicht selber weiß«77, dann ist das Erhabene gegenüber dem Heiligen, in dem die archaischen Züge dominieren, die geeignetere Kategorie für eine spezifisch moderne Form religiösen Erlebens. Damit ist die zweite religionsphilosophische Leistung der Erhabenheitsästhetik benannt: Indem sie das Changieren zwischen erlebnismäßiger Unmittelbarkeit und reflexiver Distanz zum Widerfahrnis des Unbedingten hervorhebt, gibt sie der Beschreibung des konkreten religiösen Bewusstseins eine entschieden modernitätstheoretische Fassung, die alle archaisierenden Töne ausschließt, welche etwa in Tillichs Symboltheorie noch anklingen.78 Der Eigenschaft des Erhabenheitsbegriffs, als Synthesekategorie den Bereich der Interferenz von Religion und Ästhetik zu markieren, lässt sich indessen noch eine weitere modernitätstheoretische Pointe entnehmen. Kraft seiner charakteristischen Weite und der entsprechenden Unbestimmtheit vermag das Erhabene dem Umstand gerecht zu werden, dass sich die moderne Kunst- oder Naturreligion keinesfalls immer im Zusammenspiel mit überkommenen religiösen Symbolen (etwa dem Zentralsymbol ›Gott‹) verwirklicht. Es ist imstande, auch religiöse bzw. spirituelle Erlebnisse oder Stimmungen zu thematisieren, die sich nicht in bestimmten Symbolen auslegen, womöglich gar keinen bestimmten intentionalen Gehalt haben, aber gleichwohl als Formen von Transzendenzerfahrung anzusprechen sind, insofern in ihnen eine gewisse Erhebung der Seele über die Grenzen des endlichen Bewusstseins statthat.79 76
Das nämliche Wissen hat beispielsweise J. G. HERDER seiner Schilderung der erhabenen Erfahrung der Morgenröte eingezeichnet: »Es ist wie eine Geburt des Tages: sanfter Schauer bebt durch alle Wesen, als ob sie die Gegenwart Jehovas fühlten« (Vom Geist, 696; Hvhg. M.F.). Das ästhetisch-religiöse Erlebnis ist nicht ein »Realitätsgefühl« (Otto) der Gottesnähe, sondern lebt von der aufgerufenen Vorstellung göttlicher Gegenwart, die sich über ihre Fiktionalität durchaus im Klaren ist. 77 U. BARTH: Ästhetisierung der Religion – Sakralisierung der Kunst. Wackenroders Konzept der Kunstandacht, 254. 78 Zumindest legt sich ein entsprechendes Missverständnis nahe, wenn P. TILLICH: Das religiöse Symbol, von der »Selbstmächtigkeit« (213) und »magischen Kraftgeladenheit« (214) der religiösen Symbole spricht. 79 Die klassische Beschreibung eines solchen Typs von Religiosität stammt von G. SIMMEL: Die Religion; DERS.: Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch, 141–195 (›Religiöse Kunst‹).
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Die »weihevolle Ruhe«80, die sich beim Betreten des gotischen Doms im Besucher einstellt und ihn unwillkürlich seinen Schritt dämpfen lässt, ist weder Erschaudern vor einem gegenwärtigen Numen, noch muss sie sich wesentlich aus der religiösen Bestimmung des Gotteshauses oder aus den darin präsenten christlichen Symbolen speisen. Mag hier gleichwohl noch eine Reminiszenz an den kultischen Zweck des Sakralraums zur Wirkung kommen – das Hochgefühl beim Ausblick in die weite Landschaft, die feierliche Ergriffenheit beim Hören des langsamen Sonatensatzes oder die innere Sammlung beim Betrachten des abstrakten Gemäldes, all diese eigentümlichen Stimmungen sind nicht einmal mehr implizit von einem Bezug auf religiöse Symbolik getragen. Dennoch erscheint es nicht abwegig, sie als Formen »spiritueller« Resonanz anzusehen, die im Grenzbereich zwischen Religion und Ästhetik angesiedelt sind. Die fraglichen Gemütszustände sind – mit dem traditionellen Begriff formuliert – Erlebnisse »heiligen Schauers«, ohne dass dieser Schauer auf ein Numen als intentionales Relat bezogen wäre. Sie lassen sich mit einer Wendung Dieter Henrichs als religiöse Stimmungen »ohne Adresse«81 auffassen. Selbige intentionale »Unadressiertheit« kommt auch in Kants Formel von der »Ehrfurcht für das Erhabene« zum Ausdruck, sofern man sie in Differenz zu einer »Ehrfurcht vor dem Erhabenen« liest, in welcher sich der religiöse Affekt auf ein bestimmtes Objekt, das höchste Wesen, richtet. Um jene Erlebnisse in ihrem Charakter unausdrücklicher Nähe zum Religiösen, als Gestalten einer unbestimmten Religiosität ohne symbolischen Gegenhalt zu beschreiben, bietet sich der Begriff des Erhabenen an. Eine entsprechende Theorieperspektive öffnet sich in Kants ›Analytik‹, die das Gefühl des Erhabenen als Gefühl des Übersinnlichen begreift, ohne dabei im Gegensatz zu Hegel von vornherein die Idee des Unbedingten, die Vorstellung eines unbedingten Wesens oder andere religiöse Ideen in Anspruch genommen zu sehen. Ausgehend von dem kantischen Inkommensurabilitätsmotiv und dem damit angezeigten Gefühl eines Nicht-Aufgehens-imEndlichen kann das Erhabenheitserlebnis als Ahnung einer unbestimmten Tiefendimension der Wirklichkeit bzw. einer Transzendenzdimension des Ich gefasst werden. In einem derartigen Theorierahmen finden sowohl jene vorreligiösen oder implizit-religiösen als auch explizit religiöse Erlebnisse ihren Ort und werden beide als Varianten eines ästhetisch-religiösen Grundvollzuges von Subjektivität verständlich. Der Begriff des Erhabenen ermöglicht es, religiöses Bewusstsein in einer graduellen Abstufung symbolischer Bestimmtheit
80 81
G. SIMMEL: Rembrandt, 148. Vgl. D. HENRICH: Gedanken zur Dankbarkeit, passim.
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vorzustellen.82 Diese Ausweitung und Flexibilisierung im Bild des religiösen Lebens ist der dritte Beitrag der Ästhetik des Erhabenen zur Ausarbeitung einer zeitgemäßen Theorie der religiösen Symbolisierung respektive der Konstitution konkreter religiöser Subjektivität. Das Erhabene stellt die religionsphänomenologisch unplausible und kulturhermeneutisch unfruchtbare Gewohnheit gerade der protestantischen Theologie des Wortes infrage, die Zäsur zwischen ›religiös‹ und ›außerreligiös‹ anhand des Kriteriums zu setzen, ob sich das betreffende Erleben unter Beteiligung überkommener religiöser Symbole konstituiert. Auf diese Weise befreit der religionstheoretisch ausgelegte Erhabenheitsbegriff von der theologischen Reserve gegenüber der zeitgenössischen Kunst- und Naturreligiosität, die infolge der herkömmlichen Grenzziehung lediglich als Religionssurrogate gewertet werden konnten. Stattdessen rücken jene Phänomene als ein Fundus von Erfahrungen in den Blick, an welche die institutionelle Religion mit ihren Symbolen produktiv anknüpfen kann. Eine spezifische Leistung des Erhabenheitskonzepts für die Religionstheorie ist schließlich – viertens – darin zu erblicken, dass es aufgrund seiner Herkunft aus den schönen Wissenschaften auf die ästhetische Vermittlung des religiösen Erlebens reflektiert.83 Die Kategorie ist seit jeher mit einem ausgeprägten Sinn für die Bedeutung der Gestaltung für die Genese religiöser Erfahrung verbunden und leistet damit eine notwendige Konkretion der religionsphilosophischen Symboltheorie. Richtet diese ihr Augenmerk neben der Grundstruktur des Symbolisierens auf die Grundeigenschaften der Symbole, so nimmt die Ästhetik des Erhabenen näherhin die konkrete anschauliche Gestalt der religiösen Ausdrucksformen in den Blick. Während die herkömmliche Theorie vorwiegend die Unangemessenheit zwischen Gehalt und Gestalt und die entsprechende Selbstnegation des religiösen Symbols hervorkehrt, kann mit der Erhabenheitstradition ebenso festgehalten werden, dass sich die religiöse Symbolisierungsfunktion auch einer partiellen, aber nichtsdestoweniger konstitutiven Angemessenheit zwischen religiöser Vorstellung und deren Darstellung verdankt. Mag sich auch jede Anschauung im Vergleich mit dem letztgemeinten Gehalt des religiösen Bewusstseins nichtig ausnehmen, so kommen doch – darauf haben die Auto82 Nach G. SIMMEL: Rembrandt, treten die symbolisch unbestimmte »subjektive« und die symbolisch bestimmte »objektive« Religion realiter immer »in einer gewissen Mischung« (142) auf. 83 In dem Interesse an der konkreten Anschauungsform des Religiösen konvergieren das hier angedeutete Konzept einer religionstheoretischen Ästhetik des Erhabenen und das Programm einer ästhetischen Christentumstheorie, dessen historisch-systematische Grundlegung M. BUNTFUSS vorgelegt hat: Die Erscheinungsform des Christentums. Zur ästhetischen Neugestaltung der Religionstheologie bei Herder, Wackenroder und De Wette.
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ren der frühmodernen Erhabenheitstheorie seit Boileau hingewiesen – gleichwohl nur besondere, in irgendeiner Weise »ungemeine« Gestaltungen infrage, um die göttliche Majestät »der Anschauung näherzubringen« (Hegel) und das Gefühl des Übersinnlichen hervorzurufen. Eine wichtige Aufgabe einer religionsphilosophisch relevanten Ästhetik des Erhabenen bestünde demnach im Ausweis von Grundkriterien für die Adäquanz basaler Ausdrucksformen von Religion. Wie in dieser Arbeit gezeigt werden konnte, stellt sich die Tradition als reiches Reservoir an Versuchen dar, solche Kriterien zu bestimmen. Es sei hier nur an die Einsichten der Hallischen Ästhetik über die enge Korrelation von Vorstellung und Sprachgestalt erinnert, an Lowths Analyse des Zusammenhangs von Stil-, Vorstellungs- und Ausdrucksdimension des Erhabenen, an Klopstocks Gedanken über das Transzendierungspotential der Einbildungskraft oder endlich an ›Longins‹ Rhetorik des erhabenen Kairos. Eine ausgeführte Ästhetik des Religiös-Erhabenen hätte in Anknüpfung an die grundlegenden Gedanken der Theorietradition eine umfassende Konzeption des religiösen Stils zu entwickeln,84 um durch die Reflexion auf sprachliche wie nichtsprachliche Formen des religiösen Ausdrucks den Boden zu bereiten für eine anspruchsvolle ästhetisch-religiöse Analyse von Predigt, Liturgie, Kirchenmusik und Kirchenbau sowie von Werken der autonomen Kunst, sei es in der Literatur oder in der Musik, in der bildenden Kunst oder im Film. – Nachdem das religionstheoretische Potential der Ästhetik des Erhabenen nach vier maßgeblichen Gesichtspunkten erörtert wurde, ist das Ausgeführte zu guter Letzt noch einmal thesenartig zu resümieren: (1) Anknüpfend an die Theorie des religiösen Symbols als einer Theorie der Konstitution und Artikulation der konkreten religiösen Subjektivität hält der Begriff des Erhabenen fest, dass sich das fromme Bewusstsein wesentlich im Zusammenspiel von Wahrnehmung, Vernunft und Gefühl aufbaut. Mit der Akzentuierung der fundamentalen Rolle des Gefühls fungiert das Erhabene als Inbegriff undogmatischer Frömmigkeit sowie als Chiffre für die konstitutive Erlebnisförmigkeit der Religion auch unter den Bedingungen der aufgeklärten Moderne. (2) Das Erhabene steht dementsprechend für eine spezifisch moderne Form religiösen Erlebens. Die modernitätstheoretische Ausrichtung einer religionsphilosophischen Ästhetik des Erhabenen ergibt sich daraus, dass die ästhetisch-religiöse Kategorie die Einsicht in den Deutungscharakter religiöser Erfahrung mitführt. Das mit dem Erhabenheitsbegriff bezeichnete religiöse Erleben vollzieht sich als Widerfahrnis, das zugleich um die Idealität des darin präsenten Unbedingten weiß. Daraus resultiert innerhalb des 84 Der Begriff des ›religiösen Stils‹ findet sich in Schleiermachers Berliner Ästhetikvorlesung: F. D. E. SCHLEIERMACHER: Ästhetik (1819/25), 22.
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Bewusstseins eine eigentümliche Spannung von Präsenz und Distanz des religiösen Gehalts. Die mit dem Erhabenen angezeigte Ästhetisierung der Religion in der Moderne bedeutet mithin eine unwiderrufliche Brechung religiöser Unmittelbarkeit. (3) Der modernitätstheoretische Zug verdankt sich außerdem der charakteristischen Weite des Erhabenheitsbegriffs, welcher ausdrückliche und unausdrückliche Gestalten religiösen Lebens umgreift. Als ästhetisch-religiöse Kategorie für sinnlich vermittelte Transzendenzgefühle ist das Erhabene auf der einen Seite der natürliche Schlüsselbegriff für das Phänomen ästhetischer Kontemplation als einer typischen Vollzugsform der Religion in der Moderne. Daneben kennzeichnet das Erhabene aber auch Frömmigkeitsakte, die unter Bezugnahme auf bestimmte religiöse Symbole zustande kommen. Einheit und Differenz von impliziter und expliziter Religiosität ist dabei nach dem Modell zunehmender symbolischer Bestimmtheit zu denken. Das konkrete religiöse Leben wird auf diese Weise in seinem Changieren zwischen verschiedenen Bestimmtheitsgraden beschreibbar. Wie die unausdrückliche Religion symbolischer Bestimmung zugänglich ist, so sehr gründet die explizite Religion in unbestimmten religiösen Gefühlen. (4) Als ästhetisch-religiöse Synthesekategorie macht das Erhabene auf die konstitutive Formdimension der Religion aufmerksam. Fromme Subjektivität konstituiert sich nicht zuletzt unter der Bedingung adäquater anschaulicher Gestalt. Die Aufmerksamkeit auf die ästhetische Dimension der Religion führt daher nicht zur Veräußerlichung, sondern zur Intensivierung des Frömmigkeitslebens. Wie die Religion um ihrer Lebendigkeit willen der künstlerischen Gestaltung bedarf, so bedürfen Religionsphilosophie und Theologie folglich der ästhetischen Reflexion. Mit den aufgeführten Perspektiven leistet die Ästhetik des Erhabenen einen gewichtigen Beitrag zu einer modernitätstauglichen Religionstheorie. Sie schärft damit nicht nur grundsätzlich den Sinn für den Wert der religiösen Erlebnisschichten im Grund der Seele, sondern auch den Sensus für die Fragilität modernen religiösen Erlebens. Sie fördert die Flexibilität im Umgang mit den ausdrücklichen wie unausdrücklichen Gestalten des Religiösen und trägt mit dem Ausweis angemessener Formen der ›Darstellung des Undarstellbaren‹ zur ästhetischen Sensibilität der Religion und mithin zur Pflege religiöser Gefühlskultur bei. Der Theologie verleiht sie zudem die Kompetenz, die christlichen Symbole auf ihr ästhetisch-religiöses Potential hin durchsichtig zu machen. Auf diese Weise dient sie der ästhetischen Vermittlung des Christlichen. Vom Gelingen solcher Vermittlung hängt es ab, ob das Christentum bei den Menschen weiterhin jenen ›Sinn für das Hohe‹ (Longin) anzusprechen und jene ›Ehrfurcht für das Erhabene‹ (Kant) zu erwecken vermag, die den Wurzelgrund für die Lebendigkeit aller Religion darstellen.
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Personenregister Accius, Lucius 120, 122 Addison, Joseph 23, 202, 207–213, 215, 218, 221f, 225, 385, 441, 537 Adler, Hans 252 Adorno, Theodor W. 5–10, 12, 17, 19, 160, 168, 525f, 546 Aichele, Alexander 252 Aischylos 99 Albert, Karl 10f, 161 Alewyn, Richard 398, 497 Alonso Schökel, Luis 396 Alt, Peter-André 213, 249f, 253, 466 Anton, Paul 236 Appold, Kenneth G. 333 Archilochos 54, 58, 82, 87, 154 Aristoteles 35, 37–40, 51, 54–57, 60, 66– 70, 72f, 79ff, 92, 111–118, 120, 122f, 129, 131, 137, 146, 157, 163, 197, 226, 232, 375, 386, 446, 471, 486, 488f Arndt, Johann 275, 297, 299 Arnoldt, Daniel Heinrich 269 Auerochs, Bernd 466, 476, 482, 519f Augustin 185, 334 Bach, Johann Sebastian 21, 526 Baeumler, Alfred 230, 248f, 251, 253, 261, 270, 484f Bahr, Petra 233 Baillie, John 206, 218 Balthasar, Hans Urs v. 14f Barone, Paul 2 Barth, Karl 400 Barth, Roderich 532, 544 Barth, Ulrich 5, 8, 21, 75, 238, 248, 297, 303, 457, 515, 517, 519ff, 523, 525, 547 Bartoli, Daniello 345 Bauerschmidt, Frederick Ch. 15 Baumgarten, Alexander Gottlieb 23, 162, 230–234, 238ff, 243–279, 281f,
286f, 294, 298, 304f, 307, 309ff, 314, 320f, 323, 357f, 360, 362f, 365, 381f, 385ff, 394, 442, 451, 475, 509, 513, 522, 527 Baumgarten, Siegmund Jakob 235–238, 248, 278, 320f, 326f, 391, 394, 482, 486 Beethoven, Ludwig v. 21 Begemann, Christian 207, 441 Bender, Wolfgang 226 Benner, Johann Hermann 333, 338 Benning, Hildegard 486 Benzi, Laura 226 Bergmann, Ernst 230 Berlaymont, Philippe de 345 Beutel, Albrecht 235, 297, 502, 521 Blackmore, Richard 364 Blössner, Norbert 112ff, 117, 125 Bodmer, Johann Jakob 23, 162, 220–228, 231, 234, 243, 251, 254, 256, 287, 294f, 317, 335, 358, 369, 371–381, 383, 385f, 388, 390, 392ff, 417f, 467ff, 472f, 475, 481, 483, 494 Bohrer, Karl-Heinz 9 Boileau-Despréaux, Nicolas 23, 149f, 162–178, 180–201, 203, 206, 215, 218, 225, 285, 293ff, 313, 328ff, 335, 337f, 342ff, 348, 350ff, 378, 384, 396, 412, 417f, 422, 424ff, 437, 455f, 464, 469, 502, 510f, 527, 550 Bouhours, Dominique 23, 174f, 185 Brandt, Reinhard 3, 31f, 54, 56, 143, 333, 408 Breithaupt, Joachim Justus 236 Breitinger, Johann Jakob 23, 162, 220f, 223–227, 231, 243, 249, 254, 256, 287, 294f, 317, 358, 369, 378, 383, 388, 390, 392ff, 467ff, 472f, 475, 480 Brockes, Barthold Heinrich 281 Brunner, Emil 400
592
Personenregister
Buchenau, Stefanie 251 Budde, Johann Franz 242, 326, 330–341, 343f, 348f, 351ff, 355, 511 Bühler, Winfried 32, 48, 66, 104 Bultmann, Christoph 401, 410, 415, 459 Buntfuß, Markus 512, 518f, 521, 549 Burke, Edmund 4, 18, 160, 162, 198, 207, 210, 214–220, 223, 397, 529 Caecilius v. Kaleakte 29f, 32 Caesar, Gaius Julius 121f Calepio, Pietro dei Conti di 226 Casaubon, Isaac 164, 295 Caswell, Caroline P. 113, 125 Celentano, Mari S. 39 Chrysipp 111f Chrysostomos, Johannes 365 Cicero 24, 35, 38f, 42, 56, 66f, 71–79, 81, 83, 89, 92f, 95ff, 99, 110, 116–119, 122f, 135, 141f, 146, 153, 163, 179, 185, 255, 297, 364 Clericus, Johannes s. Le Clerc, Jean Colpe, Carsten 23, 25 Cook, James H. 400 Corneille, Pierre 124, 174f, 181, 203, 343 Cornford, Stephen 490, 498 Cramer, Carl Friedrich 483 Cramer, Johann Andreas 483, 498, 502 Crockett, Clayton 15 Cronk, Nicholas 165, 190 Cullhed, Anna 408, 464 Curtius, Ernst Robert 28, 158 D’Alessandro, Giuseppe 303 Dante Alighieri 290 Delehanty, Ann T. 167, 179 (Pseudo-)Demetrius 44, 132, 144, 147f, 164 Demokrit 119 Demosthenes 24, 43, 54, 59, 82, 104– 108, 119, 126f, 130ff, 140ff, 146, 333, 364 Dennis, John 23, 197–207, 211, 213, 225, 385, 394, 404, 408 Descartes, René 176 de Wette, Wilhelm Martin Leberecht 463, 512 (Pseudo-)Dionysius Areopagita 16f Dionysius v. Halikarnass 29f, 148
Dockhorn, Klaus 63, 95–98, 124, 134f Dohm, Burkard 293 Dubos, Jean-Baptiste 203, 216, 225 Ebert, Johann Arnold 490f Eckart 297 Epiktet 87ff, 93 Erhart, Walter 39 Eupolis 106 Euripides 24, 56 Fabricius, Johann Andreas 361 Federlin, Wilhelm L. 231f Fehr, James J. 235 Fénelon, François 190, 470 Feuerbach, Ludwig 2 Fillion-Lahille, Janine 116, 120 Flacius, Matthias 49 Fleury, André-Hercule de 190 Forschner, Maximilian 110f Forster, Harold 490 Fortenbaugh, William W. 111 Francke, August Hermann 232, 236ff, 243, 248, 260, 280, 285, 287, 297, 299, 306, 308, 311, 328, 346 Franke, Ursula 250, 254, 270 Freimarck, Vincent 396 Freud, Sigmund 2 Freybe, Albert 471, 479 Freylinghausen, Johann Anastasius 241, 287, 298ff Fries, Johann Friedrich 16, 20 Fuhrmann, Manfred 28, 30, 32, 47, 51f, 134, 137, 143, 152, 403 Fumaroli, Marc 124, 162, 175 Füßli, Johann Heinrich 223 Gabriel, Gottfried 252 Gadamer, Hans-Georg 447ff, 532 Gaier, Ulrich 486, 503 Gawlick, Günter 298 Gerhard, Johann 275, 460 Gill, Christopher 42, 51 Goldenbaum, Ursula 234, 330f Gottsched, Johann Christoph 162, 259, 286, 294, 317, 331, 383, 386f, 390, 482, 496, 513 Gräb, Wilhelm 518, 523, 525f Gronemeyer, Horst 468
Personenregister
Groß, Steffen W. 232 Grote, Simon 232f Grube, Georges M. A. 45, 53, 55, 148 Guerlac, Suzanne 149 Gumbrecht, Hans Ulrich 447 Gunermann, Heinz 72f, 78 Gunkel, Heinrich 420, 445, 457f, 463f, 512 Gutzen, Dieter 398ff, 457, 462 Haas, Alois Maria 14 Haase, Wolfgang 67 Hache, Sophie 161, 174 Halbig, Christoph 111 Haller, Albrecht von 537 Häussler, Reinhard 29 Heath, Malcolm 29 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 11, 13, 161, 456, 506, 511, 529–534, 537–543, 545, 548, 550 Heidrich, Peter 185 Heineken, Carl Heinrich 285, 332, 364, 372, 469 Heinemann, Lars 541 Heininger, Jörg 215 Heinz, Jutta 293, 297 Henn, Claudia 328 Henrich, Dieter 235, 548 Hepworth, Brian 396, 400, 455 Herder, Johann Gottfried 161f, 208, 220, 246, 302, 395f, 399, 402f, 412, 463f, 521, 529, 532ff, 542, 547 Herrmann, Jörg 9, 16 Hertz, Neil 149f Hilliard, Kevin F. 272, 481, 486, 505 Hinske, Norbert 303 Hipple, Walter J. 161, 202, 208, 210ff, 214–217 Hirsch, Emanuel 109, 330, 332, 342, 487f Hoeps, Reinhard 13ff Hoffmann, Thomas S. 306 Hoffmann, Torsten 2 Hohler, August E. 488, 491 Homann, Renate 1ff, 161 Home, Henry (Lord Kames) 217 Homer 24f, 29, 39, 53, 56, 59f, 65–68, 79–82, 87, 92, 101–104, 113, 121, 124f, 132, 138f, 172, 205, 209ff, 284, 313f, 319, 325, 367, 376, 386f, 409, 435, 468, 470, 478ff, 489, 536
593
Horaz 56, 123, 163, 197, 284, 410f, 475, 487 Horn, Hans-Jürgen 61 Horner, David A. 67 Horstmann, Rolf Peter 298 Huet, Pierre-Daniel 171f, 187, 189–193, 330, 337f, 342, 344, 350, 437 Hüning, Dieter 314 Hurlebusch, Klaus 488 Hypereides 43 Innes, Doreen C. 30 Jacob, Joachim 232f, 235, 241, 261f, 280, 292f, 306, 328, 466, 470, 482, 485f, 488, 503f Jaucourt, Louis Chevalier de 180f Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm 304, 342, 366, 464 Jesus 37ff, 259, 281f Josephus, Flavius 48 Jung-Stilling, Johann Heinrich 498 Kähler, Ernst 236 Kaiser, Gerhard 465f, 469, 483, 491, 494, 497, 500f, 503, 506 Kania, Elke 2 Kant, Immanuel 5ff, 11–20, 49, 155f, 160ff, 198, 202, 209–212, 214, 216, 220ff, 229f, 235, 245, 267, 342, 344, 439, 441, 444, 455, 490, 506, 509, 511, 525, 528f, 534–538, 540f, 543, 545f, 548, 551 Kemper, Dirk 290, 517 Kemper, Hans-Georg 284, 290f, 293, 327, 342, 394, 466f, 482, 497, 500, 505 Kerslake, Lawrence 177, 180, 190–193 Kertscher, Hans-Joachim 233, 239, 286, 317, 481 Kierkegaard, Sören 2 Kind, John L. 490, 498 Kliche, Dieter 267 Klopstock, Friedrich Gottlieb 23, 162, 203, 245, 248, 256, 284, 319, 321, 355, 366, 393, 399, 465–510, 513, 519, 526f, 532, 550 Knape, Joachim 35, 43 Knoche, Ulrich 72, 78 Knutzen, Martin 342, 376 Kohl, Katrin 465ff, 472, 481, 488, 497, 505
594
Personenregister
Köhler, Erich 166, 168f, 183, 185, 196 Kositzke, Boris 54 Koski, Suvi-Päivi 299 Köster, Beate 331 Kräuter, Philipp David 333, 338 Krummacher, Hans-Henrik 275 Kühn, Joseph H. 29, 62, 64, 83f, 152 Kwon, Jeong-Im 540 Lange, Joachim 236ff, 260, 287, 298 Lange, Samuel Gotthold 234, 236, 240, 245f, 263, 266, 269, 275, 284, 287, 291, 293, 297f, 300–303, 308, 313–317, 322, 332, 338, 342, 369ff, 374f, 380f, 391 Langen, August 297f, 329 Lausberg, Heinrich 421 Le Clerc, Jean (Johannes Clericus) 171, 189ff, 337f Le Fèvre, Tanneguy 163, 165, 333, 336 Leibniz, Gottfried Wilhelm 250, 263, 357, 487 Le Maistre, Louis Isaac (de Sacy) 187, 190, 339 Lehmann, Hartmut 517 Lessenich, Rolf P. 409 Lessing, Gotthold Ephraim 180, 229, 342, 516 Ley, Klaus 163 Lindner, Johann Gotthelf 396, 464 Litman, Theodore A. 161, 165ff, 169f, 189 Lohenstein, Daniel Casper v. 363 Longinus, Cassius 23, 28f Lovibond, Sabina 111 Lowth, Robert 23, 208, 218f, 333, 395– 464, 477, 506, 508ff, 527, 531f, 541, 550 Lüers, Grete 297, 334 Lukrez 207, 509 Luther, Martin 8, 331, 365, 449, 463 Lynch, John P. 113 Lyotard, Jean-François 3ff, 7, 9–13, 15ff, 19, 23, 160, 525 Manetti, Gianozzo 297 Marc Aurel 87, 89, 93 Marino, Giambattista 470 Martens, Wolfgang 235, 239f Marx, Karl 2 Matthias, Markus 279
Maurer, Karl 163f, 167 Meier, Albert 180, 226 Meier, Georg Friedrich 23, 230f, 234, 237, 239f, 243, 245ff, 249, 256, 258f, 261–268, 271–275, 278, 284, 298, 300, 313, 317–323, 325, 363–366, 369, 372, 379, 381f, 385ff, 391, 394, 434, 451, 481, 486, 497f, 498, 514 Meinecke, Friedrich 398, 400f, 458 Mendelssohn, Moses 18f, 123, 162, 198, 208, 215, 217, 220, 229, 344, 385, 396, 444, 464, 516, 529 Mertin, Andreas 16 Meyer-Kalkus, Reinhart 345 Milbank, John 15 Miles, Gary B. 113 Mirbach, Dagmar 233, 245, 261, 304f Mohr, Rudolf 497 Monk, Samuel H. 23f, 161, 163–168, 170, 189, 196f, 199ff, 203, 206, 209f, 213–216, 396f, 404, 413 Morris, David B. 23f, 197, 204, 207f, 396f, 404, 491 Mozart, Wolfgang Amadeus 526 Müller, Armin 161 Müller, Ernst 16, 18, 232f, 289f, 322, 330 Müller, Hermann F. 31 Müller, Hieronymus 115 Müller, Klaus 18 Musil, Robert 4 Nagl, Ludwig 8 Nancy, Jean-Luc 1 Natrup, Susanne 526 Nenon, Monika 466f, 474, 486, 488 Nettesheim, Agrippa von 503 Neumann, Florian 404f Newman, Barnett 4 Nicolai, Friedrich 229 Nicolson, Marjorie H. 207, 440 Nietzsche, Friedrich 2 Norden, Eduard 48, 89 Norton, David 396ff, 411, 417, 456, 458 Nüssel, Friederike 341 Oesterreich, Peter L. 30, 135 Origenes 185, 303 Otto, Rudolf 18–22, 25, 445, 477, 529, 544f, 547
Personenregister
Paetzold, Heinz 251 Panaitios 72, 79, 83 Pannenberg, Wolfhart 302, 304 Park, Kap Hyun 2, 537 Perrault, Charles 169f, 313 Peschke, Erhard 297, 299, 346 Pfister, Friedrich 37f Philon v. Alexandria 29, 48 Pico della Mirandela, Giovanni 297 Pimpinella, Pietro 255 Pindar 82, 114, 188 Platon 23, 29, 32, 35, 37f, 40f, 54, 57, 62, 64ff, 70f, 73, 79, 81–88, 90, 93f, 108– 116, 119, 123–126, 140ff, 146, 152f, 155, 162, 184f, 188, 228, 303, 312, 324, 527, 536 Plotin 38 Poenicke, Klaus 212, 214 Polansky, Ronald 67 Pollack, Detlef 517 Pope, Alexander 197, 207, 537 Pöpperl, Christian 17f Poseidonios 84, 86f, 89, 93, 111 Poser, Hans 234 Prickett, Stephen 395, 400f, 411, 457, 459, 464 Pries, Christine 2, 9–13, 155 Procopé, John 67–70, 72 Pyra, Immanuel Jakob 23, 162, 232, 234, 236, 238, 243, 245f, 248, 266, 282, 284–301, 303–309, 311ff, 315, 320, 323–332, 335, 337ff, 341, 353–372, 374, 379–394, 410, 422, 424, 434, 469, 476f, 482, 494, 502, 505f, 508, 510, 513, 522, 526, 530, 532 Pythagoras 119 Quintilian 38f, 47ff, 52, 55f, 163, 242 Raguž, Ivica 14 Rambach, Johann Jakob 236, 240–243, 247, 260, 279–282, 330, 332, 338–349, 351f, 355, 382, 477, 508, 511 Rapin, René 179 Reed, Walter L. 396, 457 Reichel, Gerhard 297 Reimarus, Hermann Samuel 342 Reinhard (von Linz) 345 Richter, Christian Friedrich 241, 297ff
595
Riefenstahl, Leni 11 Ritschl, Albrecht 306 Ritter, Joachim 485 Robortello, Francesco 28 Rodi, Frithiof 385 Rohls, Jan 176, 519f Rosenberg, Alfred 197, 490 Ruh, Ulrich 289, 517 Russell, Donald A. 28–32, 38, 44, 46ff, 53f, 56, 61f, 64, 82f, 88, 104, 143, 153 Rutherford, Ian 44 Sack, August Friedrich Wilhelm 342 Saint Girons, Baldine 176 Sappho 41, 60f, 350 Schadewaldt, Wolfgang 51, 138 Scheitler, Irmgard 239 Scheliha, Renata v. 31, 143 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 6, 161, 529 Schenk, Günter 233, 239, 286, 317 Schian, Martin 260 Schicketanz, Peter 235 Schiller, Friedrich 161, 180, 229, 529 Schings, Hans-Jürgen 279 Schirren, Thomas 47 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 4, 16, 20, 22, 38, 62, 66, 70, 114, 323, 345, 383, 399f, 461, 519f, 522, 526, 544, 550 Schloemann, Martin 235 Schmalenbach, Herman 18, 537 Schmidt, Johann Andreas 243 Schmidt, Johann Lorenz 330f, 338 Schmidt, Karl Benjamin 398 Schmitt, Wolfgang 239 Schneider, Ferdinand J. 234, 236f, 286f Schönaich, Christoph Otto v. 496f Schönberger, Otto 31, 143 Schopenhauer, Arthur 11 Schorch, Grit 400, 518 Schultz, Franz Albert 235 Schümmer, Franz 320 Schütz, Werner 318 Schwabl, Hans 111 Schwaiger, Clemens 232, 238, 248, 274, 303 Schweizer, Hans Rudolf 253 Séguy-Duclot, Alain 83
596
Personenregister
Semler, Johann Salomo 487f Seneca 47, 62, 79, 88f, 93, 116–124 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of 207, 211f Silvain, François 23, 177–180, 185, 218 Simmel, Georg 537, 547ff Smend, Rudolf 395ff, 403, 410, 464 Sokrates 37f, 67, 84, 86, 146, 490, 492f Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 6, 529 Sophokles 82 Spalding, Johann Joachim 212, 303f, 450, 500–504, 516, 522 Spang, Kurt 35 Sparn, Walter 236, 238, 332, 490f, 500 Spener, Philipp Jakob 235, 248 Steiger, Johann A. 308 Stierle, Karlheinz 289f Stöckmann, Ernst 261f, 271 Stover, James 67 Strassberger, Andres 259 Sträter, Udo 235, 354, 515 Strube, Werner 167f, 199, 208, 214, 217f, 220, 245, 248f, 251, 271, 286, 288, 368 Stübner, Friedrich Wilhelm 331 Sullivan, Shirley D. 113f Sulzer, Johann Georg 124, 229, 464, 529 Tasso, Torquato 256, 319, 470 Tauler, Johannes 297 Tedesco, Salvatore 257, 271 Theophrast 116 Theopomp 41 Thomas v. Aquin 334 Thomson, James 207f Thukydides 60 Thümmig, Ludwig Philipp 237 Tieck, Ludwig 372, 529 Till, Dietmar 2, 47, 49, 162ff, 171f, 184, 187, 190f, 229, 293, 327–331, 333, 350, 361, 372, 397f, 403f, 409, 424f, 454, 467, 478, 500 Tillich, Paul 15, 432, 525, 529, 540f, 543, 547 Tonelli, Giorgio 161 Torbruegge, Marilyn K. 223 Tuveson, Ernest 207, 440 Utzschneider, Helmut 403
Valtink, Eveline 16 Vergil 211, 319, 367, 386f, 468, 470, 478 Verweyen, Theodor 239f Vierle, Andrea 2, 161f Viëtor, Karl 161, 287f, 465, 470, 529 Vietta, Silvio 290 Villwock, Jörg 25, 61ff, 152 Vöhler, Martin 529 Voit, Ludwig 38, 44, 132 Vries, Gerrit J. de 47, 143 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 345, 499, 502, 519, 521f Walch, Johann Georg 262, 279 Wallmann, Johannes 236f, 280, 299 Walther, Johann Georg 364 Waniek, Gustav 236, 287f Warnick, Barbara 164 Warton, Joseph 207 Weber, Max 290 Weischedel, Wilhelm 2f Wellmer, Albrecht 7ff Welsch, Wolfgang 5, 9–13 Wendel, Saskia 15f, 18 Wesseling, Klaus-Gunther 242, 338 Weyhenmayer, Johann Heinrich 345 Wheeler, David M. 204 Whitehead, Alfred N. 23 Wilke, August Lebrecht 333 Winckelmann, Johann Joachim 329 Wisse, Jakob 51 Wolff, Christian 223, 230, 234, 236ff, 242, 248, 250ff, 262f, 267, 273, 279f, 285f, 306f, 310, 317, 320, 357f, 372, 388, 472, 475, 485, 504, 513, 528, 530 Wolle, Christoph 333, 337, 342 Wörner, Markus H. 51 Zapf, Georg Wilhelm 323, 504 Zedler, Johann Heinrich 1, 3 Zelle, Carsten 20, 24, 43, 156, 161ff, 165–172, 175f, 179, 181f, 189, 197– 201, 203, 206, 208, 212ff, 216f, 221ff, 225, 284ff, 288–295, 369, 371, 392, 397, 399, 442, 514, 525, 528 Zeydel, Edwin H. 529 Zima, Peter V. 2 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf v. 297
Sachregister das Absolute 5–13, 84f, 153, 523, 531, 538, 541, 544f – Abwesenheit 9, 545 – Darstellung 7, 530, 538, 540, 542f, 546 – Erscheinung/Präsenz 5–9, 16, 544, 546 – Idee 9, 532, 536, 542, 544, 546, 548 Abstraktheit – des Gottesbegriffs 219, 438f, 531, 537 – des Religiösen 244, 355, 430, 443, 458, 476, 533 – der Theologie 275, 355, 513, 515 Abstraktion 249, 252, 358, 387f, 430, 438, 388 Adiaphora 239, 247 Affekt 36f, 51ff, 100–138, 142–145, 150, 157, 200–206, 220ff, 242, 345f, 366ff, 380, 385, 404–410, 413–420, 423–426, 444–454, 459, 509–512, 541f, 544 – religiöser 228, 282, 347–351, 360, 382, 390, 424f, 452, 456, 511f, 527, 532, 544, 548 Affektausbruch 57f, 103–113, 116, 120– 138, 142, 146, 151, 156, 174, 404, 419 Affektausdruck 57–60, 108, 127, 129f, 135f, 170, 404–410, 414f, 424f, 445– 450, 452f, 456, 463, 550 Affekterregung 36, 39, 42, 44, 51f, 55f, 59f, 94, 100, 150, 197–203, 225, 242, 260–272, 279, 359, 362, 366f, 391, 405ff, 417, 445–448, 456, 460, 485f, 495 Affektmitteilung 128f, 137f, 347, 368, 420, 448, 454, 456f Affekttheorie 110, 112, 116, 122, 157, 201, 203, 267, 345, 351, 354, 359, 367, 384f Ahn(d)ung 16, 129, 136, 158, 183ff, 194, 218, 352, 355, 523, 531, 545, 548 Altes Testament 395–464, 517, 523, 531–534, 536, 538, 542
– Exodus 423, 426 – Genesis 25, 48f, 139, 186–189, 191, 193, 296, 298, 325, 328–333, 336–339, 343, 345, 349, 351, 353, 366, 437, 466, 532, 539 – Hiob 218, 435, 439f, 470, 471, 476, 532, 535 – Jesaja 1, 21, 325, 364, 437f, 464 – Psalter 208, 220, 325, 424ff, 432, 440f, 449, 453, 463, 497f, 539 Amplifikation 142–145, 429, 432f, 436, 442f Anakreontik 240, 245, 272 Analogie 17, 19, 319, 444 analogon rationis 276f, 307, 320, 323 Andacht 21, 204, 241f, 281, 296, 317– 321, 323f, 348, 382, 463, 495, 497–504, 507, 513, 516, 526 Aneignung des Religiösen 392, 456, 513, 530 Angemessenheit 37, 40f, 44, 74, 105, 128, 130 – von Sujet und Darstellung 40f, 109, 144, 170, 195, 304, 307, 337f, 362–368, 386f, 451, 508 – von religiösem Sujet und Darstellung 48f, 190–195, 205f, 219, 293, 335–340, 344–350, 364f, 370f, 382–387, 392, 412, 433–438, 451ff, 455, 505f, 510, 516, 549ff – und Unangemessenheit der Darstellung 191, 387, 441, 439f, 443f, 481, 502, 504f, 538–543, 549 Angst 4, 52, 98, 100, 103, 535 Anlage 45, 50, 54, 65, 85f, 90f, 205, 296, 299–306, 316, 413 – religiöse 91, 153, 303, 305, 309, 314ff, 323f, 450, 452, 454, 458f Anschaulichkeit 56, 259, 418, 429, 520
598
Sachregister
Anschauung 263, 272, 274, 436, 441, 459, 525, 529ff, 538, 541–544, 546, 549f Anthropologie 86, 108, 116, 135, 294, 297, 303f, 309, 312, 314ff, 324, 449f, 509, 511, 518f, 532f, 535, 542 – theologische 298, 302, 316, 494 – anthropologische Wende 519 Anthropomorphismus 438, 540 Antike 23–26, 28, 67, 110, 157, 164, 169, 301, 308 Apathie 52, 67, 69, 73, 96, 103, 110, 116, 120, 122ff, 135, 156, 181 Apologetik 314f, 317, 322, 339ff, 351f, 491, 518 Ästhetik 1, 160, 176, 198, 203, 207f, 211– 214, 217, 230ff, 236, 239, 245, 248f, 254, 258ff, 269–272, 278, 286, 369, 411, 442, 475, 499, 512, 521, 528 – Ausdrucksästhetik 447ff, 453, 455– 458 – Autonomieästhetik 528 – Darstellungsästhetik 51, 91, 136, 171, 194f, 270, 340f, 343f, 350, 366, 368, 370, 508, 510 – »doppelte Ä.« 20, 43, 167, 198f, 212, 245, 525 – des Erhabenen 5, 9, 16f, 25f, 160, 168, 198, 208, 213, 225, 230, 245, 512, 525f, 528f, 542, 544, 549ff – Formästhetik 272 – Hallische 26, 230–283, 286f, 304–311, 317–324, 357f, 363–367, 382, 385–394, 399, 434, 475f, 486, 496, 502, 506, 510, 513, 519, 521, 527f, 530, 550 – Inhaltsästhetik 201f, 245, 272 – Produktionsästhetik 32, 57, 60, 91f, 166, 182, 188, 194, 305, 345, 351, 368, 378f, 511 – Regelästhetik 40, 165f, 168ff, 181f, 184, 195f, 200, 258f, 514 – Religionsästhetik 234, 328, 343f, 464 – Rezeptionsästhetik 91f, 372, 377 – Werkästhetik 8, 50f, 91, 166, 171, 200, 270 – Wirkungsästhetik 32, 50, 57, 60, 166, 172, 175, 181f, 185, 194, 200ff, 206, 270, 340, 344f, 350, 367f, 370f, 508, 511
– als ›Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis‹ 249f, 268, 287, 292, 475 Ästhetikgeschichte 11, 26, 166, 175, 287, 329, 397, 447, 510 das Ästhetische 5f, 8, 167ff, 194, 235, 245f, 249, 254, 267, 272, 277, 288f, 291, 379, 388, 392, 508, 523, 530 – Funktion des Ä. 249f, 254, 258–261, 266–272, 278f, 391f, 516f, 527 – und das Ethische 63, 80, 152, 176–179, 182, 228f, 233, 244, 305, 381, 509, 527 – und das Religiöse 8f, 16, 19–22, 25, 186, 208, 228f, 231–234, 260f, 272f, 276ff, 291, 318–324, 354f, 391ff, 401, 452, 482f, 499, 502, 506f, 509–528, 533, 547–551 Ästhetisierung – der Bibelauslegung 328, 353ff, 457 – des Christentums 482, 508, 518, 526f – der Religion 234, 273, 278f, 281f, 288– 291, 310, 318, 381, 386, 392, 394, 482, 500, 502, 506f, 514–519, 521, 530, 551 Aufklärung 162, 179f, 230, 237f, 282, 289, 297, 333, 387, 528, 550 – Frühaufklärung 26, 160, 332, 411, 509, 513, 526 Aufklärungsästhetik 167, 324, 411, 475, 480, 487, 515, 518 Aufklärungsphilosophie 282, 285, 306, 318, 420 Aufklärungstheologie 238, 503 »Aufschwung der Seele« 45f, 61f, 84f, 91, 94, 98f, 101, 138, 150f, 154ff, 184f, 218, 228, 312, 315, 322, 350, 527 Augenblick 4, 37, 40, 58, 60, 99ff, 103, 108, 127, 136, 142, 151, 336, 347, 481, 488 Aura 49, 169, 184f, 196, 427, 432f, 463, 523, 526, 546 Ausdifferenzierung 20f, 152, 176, 182, 194, 289, 516 Ausdruck 99, 103, 105, 108f, 129, 132, 142, 151, 195, 257, 337, 403, 410, 417, 447ff, 455f, 458, 538f – des Religiösen 21, 192f, 205f, 292, 455f, 461, 504ff, 521f, 527, 530, 532, 538ff, 542, 549f – sprachlicher 31, 57ff, 107ff, 149, 165, 173, 175, 179, 186, 191, 378, 402, 417– 420, 437, 452f, 463, 504ff
Sachregister
das Außerordentliche 35, 38, 44, 53, 90f, 108, 129, 165, 173, 179–186, 303, 359– 370, 375, 380f, 383f, 432, 525, 539, 550 Autonomie – des Ästhetischen 20ff, 24, 152, 176, 179, 229, 248, 288–292, 388, 516, 520, 523, 528, 550 – des Religiösen 20, 152, 393, 516 Baukunst 21, 498 Bedrohung 60, 77, 96–109, 121, 124, 130, 133–138, 155f Begehren/Begierde 73, 90, 111, 114, 119, 124, 226, 262–269, 279, 300, 307, 357ff, 362f, 367, 384 – sinnliche(s) 264, 267ff Begehrenstheorie 264, 267, 270f, 273, 345, 359, 377, 385 Begehrungsvermögen 262, 265, 270, 272, 275, 277f, 358f, 366, 390, 485 Beispiel 251, 253, 255, 257f, 384 Bewunderung 37, 65, 73, 96, 147, 156f, 178, 183, 209, 226, 361, 372f, 375ff, 384f, 521 – des Göttlichen 205f, 296, 319f, 323– 326, 353, 359f, 373–376, 382, 392, 414, 423, 440–446, 451ff, 504f, 512 – »heilige B.« 325f, 353, 355, 376, 392 – als Wirkung des Erhabenen 39, 90, 129, 155, 179f, 199f, 204ff, 213, 217, 222, 329, 345, 355, 367, 375, 380, 424, 444, 458, 508 Bewusstsein 4, 403, 420, 542 – religiöses 6, 275ff, 439–444, 451–455, 488, 491, 495f, 505, 511f, 530f, 535f, 540–543, 547–551 Bibel 25, 186–195, 219f, 296, 301, 324– 355, 370f, 382, 395, 398–401, 457–464, 466, 493, 497, 513, 517f, 532 – »Wertheimer B.« 234, 330f, 338 – als poetologisches Muster 189, 219f, 291, 324–328, 358, 382, 389, 391, 466, 470, 474, 476, 479, 482 – als Werk der Literatur 398ff, 459, 462, 518 Bibelauslegung 189, 193, 325, 329, 339, 353f, 389, 391, 398, 400, 459, 462f, 482f, 532 – ästhetische 189, 330, 339, 518, 532
599
– ästhetische und dogmatische 354, 459–464, 517, 527 – ästhetische und religiöse 339, 398ff, 456–459, 462f, 517f, 532 – Ästhetisierung 328, 353ff, 457 – Entdogmatisierung 354 – Historisierung 457 – psychologische 457 – Psychologisierung 354 Bibelhermeneutik 25, 189, 193ff, 324– 330, 338–346, 354, 381f, 396–400, 428, 449f, 455–464, 467, 510, 517, 532, 538 Bibelpoetik 452, 456f, 460, 462f Bibelübersetzung 187, 330f, 331, 338, 423f, 426 Bilderverbot 5, 7f, 523, 536 Bildlichkeit 403, 406, 408, 417f, 420f, 426–436, 442ff Bildung 50, 91, 94, 153, 180, 246, 259, 297, 302, 311, 316, 320–323, 377f, 484 »Blick nach oben« 71, 73, 80f, 84, 90, 94, 103, 120, 146, 153, 312, 479, 488f, 494 Charakterdarstellung 51, 131f, 137f, 158, 226 Christentum 15f, 246f, 277, 308, 319, 321f, 328, 330, 478, 492, 510, 512, 515f, 522, 527, 534, 551 – Ästhetisierung 482, 508, 518, 526f – Ethisierung 518 – Transformation 518 – undogmatisches 544 – und Heidentum 25, 205, 296, 319, 325, 341ff, 365, 387, 391, 478f, 489 concinnitas 421, 423 daimôn/daimonios 82, 85–89, 109, 139, 536 Darstellung 10ff, 232f, 268f, 434 – negative 5, 7, 11, 13, 123f, 135, 439– 444, 537f, 541ff – des Undarstellbaren 5, 17, 413, 451, 455, 463, 476f, 506, 511, 525, 535–546, 551 decorum 73ff, 77f, 93 deinotês 44, 131ff, 141, 147f, 199f delectare 35f, 42, 52, 272, 274, 374, 405, 407, 447 delight 18, 209, 215, 221
600
Sachregister
– »delightful horrour« 198f, 213, 215 Denken 4, 49, 65, 82, 251f, 277, 371, 472, 482, 486ff, 491, 503ff – schönes 244, 247, 253ff, 257, 261, 264–267, 272, 277, 365 – ästhetikodogmatische Denkart 254f, 257 – ästhetikohistorische Denkart 254, 256ff – erhabene Denkart 363ff, 382, 386, 390 – poetische Denkart 254ff Deutlichkeit 252ff, 264, 268, 274ff, 368, 377, 381, 387–390 Deutung 523, 546f, 550 dialektische Theologie 399f docere 35f, 43, 52, 374 Dogma 188, 194f, 282, 300, 351, 516 Dogmatik 15, 259, 275, 277, 279, 299, 330, 335, 338, 340, 350–355, 459, 462, 515f Drama 96, 180, 226 Dreistillehre 24, 35f, 42, 44, 163f, 244, 335, 403, 467, 469 Ehre 65–69, 79f, 103, 114ff, 118f, 122, 125f Ehrfurcht 123, 219f, 228, 281f, 319f, 323f, 333, 347ff, 351, 375f, 384f, 392, 425, 432, 453f, 477, 479, 481, 496, 512, 532f, 537, 544, 548, 551 Einbildungskraft 55, 100f, 136, 209, 212, 222–225, 230, 240ff, 281f, 309, 334, 357, 359f, 387f, 472, 498, 501f, 514, 550 – Scheitern 209, 210, 439, 441, 535, 542ff – und Herz/Begierden 242, 261, 266f, 281f, 357, 378f, 390, 496 – und Vernunft 388, 535 Einfachheit/Einfalt 48, 165, 173ff, 189, 195, 327ff, 335, 422–426, 437, 453f, 456 – erhabene 170, 187, 329, 425f, 456, 478, 502f, 532 – und Erhabenheit 188, 329, 335, 339f, 353, 397, 495, 502 ekplêxis 38, 56, 61, 98 Ekstase 35–38, 42, 45, 61, 84, 98, 109, 149, 185, 188, 193, 499
Emotionalismus 166f, 182, 197, 200, 203, 206, 214, 216, 225, 442, 508 Empfindsamkeit 238, 290, 490 Empfindung 173–179, 183–186, 192, 210, 263, 313, 316, 323, 352, 378, 385, 402–405, 411, 418ff, 447–450, 455, 471, 485, 493, 498, 502, 511 – erhabene 178, 185, 200, 215, 291, 380, 508 – religiöse 189, 194, 322ff, 345, 354, 446, 458f, 497, 500–505, 513, 532f, 542 – vermischte 19, 198, 215, 217, 222, 380, 385, 451, 509 – und Denken 150, 314, 316, 324, 493, 498, 503ff, 516 emphasis 47ff, 104, 345 Empirismus 214f, 218, 529 enargeia 56, 378, 418 Endlichkeit 108, 254, 494, 523, 531, 536, 548 Endlichkeitsreflexion 444, 451, 454, 491, 533, 536 Engel 21, 222ff, 227, 370, 376, 383ff, 536 Enthusiasmus 18, 37f, 54f, 105, 127f, 137, 154, 166, 188, 193, 201, 204f, 287, 346, 351, 404, 446, 469f, 505, 511 – »Synenthusiasmus« 127f, 136ff, 446 Entzückung/Verzückung 54, 58, 317f, 367f, 374, 376, 378, 384f, 499f, 503 Epos 39, 104, 113, 131, 465 – christliches 170, 223, 227, 321, 383, 387, 393, 479f, 482, 497, 510, 519 Erbauung 275, 279ff, 292, 327, 392, 496f, 499, 515f, 526 Erbauungsliteratur 392f, 496f, 499, 503, 513, 516 Erfahrung 296, 301, 341, 352, 378, 501 – ästhetische 4, 38, 43, 83, 90, 96, 101, 169, 213, 215, 510, 525, 546 – religiöse 154, 194, 196, 220, 238, 281f, 340, 352–355, 374, 461, 464, 499, 515, 545f, 549f – religiöse und ästhetische 16, 19, 22, 157f, 352, 509f, 517f, 520, 523, 525ff, 542, 544, 546f Erfindungskraft 224, 357 Ergötzen 209, 212, 221, 227, 251, 257, 270ff, 274, 279, 289, 291, 373ff, 383f, 399, 401, 410, 459, 461, 475, 509
Sachregister
das Erhabene – Aktualität und Inaktualität 1ff, 6, 10, 13, 525f, 528ff, 533ff, 537, 542, 545– 551 – Definitionen 34–42, 63f, 149ff, 154f, 165, 172f, 179f, 183, 194–198, 201, 206, 215f, 226ff, 322ff, 350f, 361f, 364f, 367ff, 376, 377–381, 417–420, 450–453, 480f, 494f, 510ff, 538–543, 546 – das »dreifache E.« 228f, 381, 509 – Einheit des Begriffs 134, 138, 147, 151f – ethische Dimension 31, 46, 62f, 96, 101, 133f, 150ff, 170–182, 185, 190, 194ff, 227ff, 305, 375, 381, 411, 509f, 516, 527, 529, 534, 536 – das Feierlich-E. 141, 143, 145f, 218 – das Heroisch-E. 172–176, 186 – das »latente E.« 7ff, 160 – Komplexität des Begriffs 147, 149ff, 170–173, 179f, 200–203, 361–368, 379f, 418ff, 450–454, 477f, 508–511 – das Majestätisch-E. 53, 94, 139, 145, 147, 367f – das Mathematisch- und das Dynamisch-E. 221 – das Metaphysisch- und das Kritisch-E. 10ff – Missbrauch 6, 10–13 – das Natur-E. 198, 207, 208, 211, 222, 225, 369f, 373f, 381, 440f – das Pathetisch-E. 53, 59, 94f, 100–104, 108ff, 128–147, 155ff, 175 – religionstheoretische Valenz 22f, 25, 208, 349, 398, 511f, 519–528, 540–551 – das Religiös-E. 193f, 292, 344, 391, 499, 508, 510f, 523, 542, 550 – religiöse/metaphysische Dimension 3–10, 13–26, 54f, 82–94, 108f, 139f, 152–158, 184–196, 201–208, 218ff, 227ff, 244–247, 287–293, 311f, 316f, 322ff, 327f, 343f, 350f, 381f, 391f, 435–444, 450–456, 466f, 477–481, 495–499, 505ff, 509–519, 525–551 – das Rhetorisch-E. 208 – das Schrecklich-E. 133f, 156, 168, 176, 198ff, 203, 206, 212–218, 221f, 367f, 384f, 440ff, 451f, 476f, 481, 508f, 535
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– das Schroff-E. 103, 115, 125, 132f, 141, 144, 147f, 151, 155, 424, 456 – subjektive und objektive Seite 150, 172, 175, 179–182, 195, 200–203, 370, 508 – Widersprüchlichkeit/Dialektik 7f, 14, 98, 135–138, 155f, 217, 222, 438–444, 451f, 455, 477, 504–508, 528, 535–547, 550f – als ästhetisch-religiöser Synthesebegriff 19, 152–155, 228f, 231, 238, 291ff, 401, 456, 462, 467, 499, 507, 510f, 514, 520, 526ff, 530, 532, 546f, 551 – und der erhabene Stil 42–45, 149, 160, 165, 171, 195, 229, 329, 378, 417f, 469 Erhabenheit – des ästhetischen Gegenstandes/Sujets 44, 149ff, 170–175, 192–196, 200–206, 244ff, 336–340, 361–368, 379ff, 434– 437, 450–455, 508ff – des Charakters/der Gesinnung 29, 31, 66, 91, 101, 153, 172–175, 179ff, 226f, 366–370, 375–380, 529 – der Empfindung/des Affekts 34, 44f, 149ff, 173–184, 192–206, 210, 324, 366ff, 379, 384f, 420, 441–446, 451– 456, 508ff, 543f – des Gedankens/der Vorstellung 47ff, 63f, 101, 147, 172–179, 201, 204f, 210, 285, 323f, 361–368, 380–386, 419f, 432–441, 451–455 – des Stils/Sprachausdrucks 44, 130, 140–151, 165, 171–175, 179f, 191–195, 202f, 335–340, 361f, 366ff, 378ff, 420– 426, 452–458, 510 »Erhebung der Seele« 18, 77, 86, 106, 117, 173, 176–187, 206, 217f, 227, 299, 312, 315–318, 321–324, 344, 351f, 356, 383ff, 392, 411, 419, 441, 472f, 488f, 493ff, 501, 503f, 511, 527, 539, 543f, 547 Erinnerung 84ff, 90, 99, 406, 491 Erkenntnis 79, 84, 247, 249f, 253f, 257f, 373, 431, 476, 493 – anschauliche (cognitio intuitiva) 258, 275, 358, 502 – lebendige (viva) 232, 257, 261–267, 270–282, 292f, 307–311, 358, 390ff, 485, 502
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Sachregister
– lebhafte (vivida) 241, 253, 261, 267, 269f, 275, 276ff, 310f, 321, 358, 388 – sinnliche (sensitiva) 233, 248, 249– 253, 258, 264f, 268–271, 274–279, 287, 292, 320, 382f, 385–390, 437f, 443, 475 – symbolische (symbolica) 258, 274f, 358, 390, 502 – tote (mortua) 262, 274f, 280, 358, 391, 513 Erkenntnistheorie 248–254, 276, 381, 388, 432, 443, 451, 467, 475, 512 Erkenntnisvermögen 12, 307, 310f, 485 – untere(s) 248f, 277, 307, 320, 323, 386ff – untere(s) und obere(s) 252ff, 276ff, 485 – und Begehrungsvermögen 262, 268, 278, 357, 390 Erleben/Erlebnis 392, 447f, 458, 544 – ästhetisches 4, 169, 184, 269, 520, 525 – religiöses 18, 185f, 193, 219, 343, 352ff, 392f, 458–461, 464, 499, 507, 510–518, 521ff, 527, 532f, 543–551 – religiöses und ästhetisches 22, 184f, 355, 393, 398f, 499, 510, 518, 523–528, 530 Ernst 76, 210, 458, 501 Erschütterung 34, 38, 44, 49, 56, 97–104, 107f, 136ff, 142, 148f, 155f, 166, 184, 336ff, 367, 380, 405, 414, 417, 440, 444, 447, 481, 486, 499, 509, 521, 525 – »erhebende E.« 98–102, 104, 133, 135, 137, 156 Eros – »E. des Großen« 83f, 88, 91, 93, 120, 140, 304f, 312, 314, 472 – »E. des Schönen« 84ff Eschatologie 88, 109, 227f, 246, 311, 430f, 483, 488, 491, 500, 494 Ethik 66, 176, 227, 237, 302, 307ff, 321, 410ff, 420, 514, 516, 518 – antike 24, 40, 61ff, 67, 80, 93, 96f, 109, 130–134, 153, 156, 218 Ethos 74, 78f, 83, 93 êthos 51 – und pathos 42f, 137 Evidenz 314, 322, 351, 518 Ewigkeit 6, 16, 65, 109, 246, 311, 464, 488, 491, 494, 506, 529
Fabel 256f, 259 das Fabelhafte 212f, 224, 257f, 376 Faschismus 11, 13 das Feierliche 53, 140–146, 149, 151, 155, 218, 220 Feierlichkeit 18, 53, 126, 141, 147, 548 Fiat lux 25, 48f, 139f, 155, 186–193, 296, 324f, 328–332, 336–339, 342, 343, 345, 349ff, 353, 366, 437, 445, 466, 539 – Querelle du fiat lux 187, 190, 194, 333, 337, 350 Fiktion 61, 101, 212, 255ff finitum non capax infiniti 191, 512 flectere 35f, 42, 44 Form 21, 272, 401, 406, 421, 449, 462, 499, 550 – Formdimension des Religiösen 25, 279, 290, 292, 311, 318, 322–328, 352ff, 382, 392, 398f, 451f, 476, 479, 506, 510f, 516, 521, 525, 527, 530ff, 542, 549ff – und Inhalt 50, 145, 151, 170f, 248, 250, 290, 326, 353, 398f, 418f, 486, 538, 540f Freude 45f, 49, 61, 80ff, 91ff, 101, 155, 176, 282, 347, 414, 423, 446f, 471, 477, 479, 496 Frömmigkeit 154, 238, 276, 283, 288f, 292, 303, 322, 325f, 354, 389–393, 457, 463, 477, 480f, 483, 498–503, 512–515, 518, 522, 533, 550f – Herzensfrömmigkeit 274, 277, 279, 476, 502, 533 furor poeticus 195, 334, 351 Gebet 66, 102f, 121, 185, 348, 355, 392, 476ff, 481, 496f, 504f, 512 Gedanke 296, 304, 313f, 319ff, 324, 325, 359, 361–368, 378–382 – und Gegenstand 361–368, 370, 380, 386, 434f, 437, 439, 505 Gefahr 56, 60, 69, 77ff, 96, 98, 105, 114, 117, 123, 132, 151, 156, 181, 213, 215ff, 536 das Gefällige 34, 36, 42, 158, 166 Gefühl 4, 16, 19ff, 37, 52, 55, 215, 322, 399, 510, 520, 522, 543–546, 550f – erhabenes 18, 20f, 178, 194, 202, 215f, 543, 546, 548
Sachregister
– religiöses 18, 21, 400, 477, 503–506, 522, 535, 537, 544f, 551 – religiöses und ästhetisches 16, 20ff, 459, 523 – Transzendenzgefühl 136, 522, 536, 541, 546, 548, 550f Gefühlsdissonanz 18f, 98, 135–138, 155f, 198ff, 203, 209, 212–217, 220ff, 228, 380, 384f, 442, 444, 451f, 456, 477ff, 508f, 527f Geheimnis 352, 475, 478 das Geheimnisvolle 18, 169, 183–186, 334, 345f, 545 Geist 7, 13, 145, 153f, 156f, 190, 227, 254, 315f, 334, 356, 403, 412, 416f, 419, 436, 456–459, 463, 470–474, 477, 530f – Schranken des menschlichen G. 191f, 219, 375, 412, 431, 435–441, 444, 451, 472, 480 Geistesgröße 313–316, 372f, 379 generositas/génerosité 88, 174, 176, 181, 411, 479 Genie 163, 166, 169, 185, 196, 288f, 478, 483ff genera dicendi 35, 403 – genus figuratum 401, 403, 406, 420f, 427ff, 431f, 436, 442 – g. grande/sublime 35, 42, 44, 149, 164, 345, 401, 403, 418, 420, 466f – g. medium/floridum 35 – g. sententiosum 401, 403, 406, 408, 417, 420–424, 426f – g. tenue/humile 35, 43 Genuss 43, 81f, 288, 392, 405 Geschmack 320–323, 437, 483f, 499 – »Sinn und G. fürs Unendliche« 16, 526 Gesinnung 65f, 72f, 80f, 91, 93, 105f, 120, 131, 146, 153, 175, 369f, 375, 377f, 380, 529 Gewalt 11, 60, 116, 131, 141, 213, 336f, 442 – der Rede 34, 42, 131, 141f, 147f, 155, 157, 182f, 336f, 346, 383f, 417, 437, 446, 457, 485 Gewissheit, religiöse 322, 353, 493–496, 507 Glaube 6, 187, 280, 319, 322, 340, 352f, 389f, 392, 460, 490, 500, 515, 523
603
Gleichgültigkeit 262, 366, 390f Glück(seligkeit) 18, 69, 71, 84, 86, 93, 123, 279, 309, 311, 325, 359, 382, 487f, 493 Gott 84, 222f, 244, 246f, 325f, 328, 350, 360, 370f, 373ff, 381f, 386, 389ff, 426, 474, 492ff, 501–507, 511f, 531, 538f, 547 – Darstellung 21, 25, 48, 140, 147, 190– 194, 219f, 227, 278f, 296, 310, 328, 337, 340, 343–352, 364, 371, 382, 386– 390, 432–438, 442ff, 451–455, 463, 475ff, 480f, 496, 505ff, 530, 538–541, 550 – Dasein 244, 492, 500 – Ehre 241, 276f, 281, 303, 308, 310, 344 – Eigenschaften 201, 246, 255, 273–276, 279, 281, 308, 344, 360, 382, 435, 438f, 440, 455, 511 – Erhabenheit 1, 3, 350f, 481, 507, 511, 523, 531, 537 – Gegenwart 14, 189, 192, 194, 196, 220, 352, 433, 505, 512 – Güte 220, 350, 406, 414, 446 – Handeln 334, 351f, 365, 438 – Herrlichkeit 14, 296, 309, 348, 425, 433, 539 – Macht 49, 205, 219f, 296, 337, 360, 373, 375f, 425, 435, 437–440, 446, 476, 511, 539f – Majestät/Größe 21, 47, 49, 192–195, 296, 335, 344–352, 360, 414, 432–444, 446, 451, 454ff, 474–478, 480, 496, 504, 506, 511, 550 – Schöpfer 48f, 139, 186, 228, 281f, 296, 299, 303, 331, 337, 358, 373ff, 414, 437f, 453f, 492, 539 – Spuren 192, 196, 333f, 340, 350, 352– 355, 476f, 545 – Transzendenz 350, 352, 451, 511f, 523, 530f, 538, 545 – Unbegreiflichkeit 17, 191, 375f, 506, 512, 523 – Undarstellbarkeit 9, 191, 451, 454f, 463, 477, 505f, 512, 538, 540, 545 – Unendlichkeit 191, 205, 281, 315, 344, 375f, 435, 439ff, 453f, 504, 506, 529, 541 – Verborgenheit 8f, 375, 545
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Sachregister
– Weisheit 358, 373, 414, 432, 435, 493 – Werke 282, 359f, 370, 373–376, 382, 406, 435, 471, 496, 511 – Zorn 220, 350, 535 Gottähnlichkeit 84–93, 99, 139f, 298– 303, 308, 315 Gottebenbildlichkeit 297–304, 308, 509 Götter 86, 101ff, 105, 139, 147, 151, 296, 319, 366f, 376, 489, 531 Gottesbegriff 15, 205, 276, 315f, 322, 375f, 547 – Abstraktheit 219, 439, 503f Gottesbeweis 244, 255, 313f, 317, 518 Gottesdienst 392, 497, 526 Gotteserkenntnis 152, 192, 246, 273– 279, 308–311, 373, 376, 391, 493, 504 Gottesgedanke 204f, 219f, 244, 247, 310, 500, 503ff, 532, 538 Gottesvorstellung 219, 244, 273–278, 315f, 349f, 376, 387, 444, 451ff, 503ff, 530ff, 535, 538ff, 548 das Göttliche 48f, 71, 84–88, 93, 139f, 152ff, 185f, 192, 274–279, 305, 325, 337, 340, 350, 355, 392, 435, 450–453, 458, 463, 505, 530f – Gegenwärtigkeit und Entzogenheit 194, 196, 352, 512 – und das Menschliche/Irdische 70, 86f, 91, 109, 304, 436 Gottverähnlichung 93, 303 Grauen 18, 156, 198, 213, 441f, 508f, 528 das Große 82, 85, 90f, 147f, 208–213, 216f, 221–225, 303, 367f, 372f – Streben nach dem G./Hohen 71, 82– 93, 106, 119–123, 129, 133, 136, 140, 145f, 150f, 153f, 300, 304ff, 312, 314, 323, 472 Größe, ästhetische 244f, 257, 270f, 304, 363 Großmut 66, 176, 226f, 304, 315f, 369, 375–379, 381, 386 das Gute 73ff, 77, 79, 108, 123, 359f, 384 Halle a. d. Saale 230–241, 285ff, 312, 316, 512 Handeln (ethisch) 262, 273, 280, 357f Handlung (poetologisch) 51, 60, 99f, 104 das Hässliche 83, 168, 217, 428 das Heilige 345, 466, 477, 481
– und das Erhabene 18–22, 25, 185, 348ff, 525, 544f, 547 Heiliger Geist 187f, 192ff, 242f, 282, 299, 340, 345ff, 349, 353, 355, 364f Heiligkeit 220, 227, 282, 320, 346–351, 375f, 411f, 414f, 432, 479ff, 496, 534 Heiligung 241, 280f Hermeneutik 449f, 463 das Heroische 66–70, 80, 92, 96, 99–102, 126, 137ff, 147f, 156f, 173–176, 180f, 203, 226, 322, 536 Hochsinnigkeit 61–110, 115f, 120–138, 140f, 145–148, 150–156, 177f, 180, 218, 224, 228, 233, 304f, 313f, 375, 379, 420, 450, 489, 492, 494, 527, 536 – Definitionen 65–68, 70–73, 75f, 81ff, 88, 91, 93, 133 – das Erhabene als »Widerhall von H.« 63f, 66, 81, 91, 94, 102, 106, 134, 138, 147, 154, 174, 305, 312, 315, 379, 450, 536 – metaphysisch-religiöse Dimension 83–94, 152f – Mitteilung 105f, 129f, 133f, 145, 147, 156f, 177, 180, 227, 379 Homiletik 259f, 347f, 364 honestum 73–78, 93, 406, 428 Humanismus 28, 163f, 297, 400, 467 Hyperbolik 58, 107ff, 127, 135 hypsos 29, 295 – apotomon 125, 132, 141, 424, 456 – und pathos 50, 52f, 61, 94f, 98ff, 134, 139 das Ideale 81, 83f, 103, 105f, 108f, 150, 185, 539 – Streben nach dem I. 71ff, 77ff, 98, 106, 123f, 129, 131, 134, 146, 150, 153, 156, 450 Idealisierung 212, 472f, 477, 495 Idealismus 93, 153, 157, 529 Idee 70f, 77–81, 84ff, 108, 125–128, 153, 156, 302, 535, 540 – Vernunftidee 5, 9, 11, 219, 532, 535– 538, 542–546, 548 Ideologiekritik 5f, 10–13 Imagination 56, 61, 136, 209, 240f Inkommensurabilität 11, 506, 512, 535f, 538, 541, 543f, 548
Sachregister
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Innerlichkeit 77, 99, 142, 145f, 154, 158, 449 – religiöse 282, 318, 322, 328, 392, 463, 500f, 513, 516, 530 – Verinnerlichung der Religion 282, 354, 392, 476, 517, 530 Inspiration 356, 412 – dichterische 54, 59, 154, 196, 346, 415, 505 – prophetische 38, 54f – Schriftinspiration 171, 187ff, 190, 192–196, 325f, 335, 339–355, 412, 436, 448, 511 Instinkt 136, 246, 267, 269, 305 Irrationalität 157, 168, 170, 196, 514, 545
366f, 370, 374f, 381, 392f, 410, 458, 471, 521f, 525, 546, 550 – bildende 498, 548, 550 – Funktion 5, 7, 248, 260, 288–291, 499, 516, 520, 523 – und Religion 6f, 21, 278, 288–291, 393, 499, 505f, 516, 519–526, 530f Kunstandacht 499, 502, 528, 531 Kunstfeindlichkeit 235, 239ff, 288 Kunstreligion 22, 232, 393, 512, 519– 523, 526, 528, 547, 549 Kunstwerk 4, 6–9, 169, 188, 245f, 270ff, 291, 375, 398, 400, 518, 546 Kürze 37, 44, 49, 53, 143, 148, 165, 173, 175, 195, 336ff, 366, 405–408, 422– 427, 453f, 456, 504f
Jammer 51f, 100, 102f, 137 Je ne sais quoi 169, 176, 182f, 185, 352, 417f, 543 Jesus Christus 242, 246, 259, 281f, 299, 470 Judentum 48, 531, 534
Leben 69ff, 84, 103, 105f, 153, 266, 493f – ewiges 88, 227f, 430f, 483, 488–491, 494 – religiöses 275, 277, 281f, 299, 328, 506, 513, 544, 549, 551 Lehrdichtung 254, 287, 486, 514 Literaturstreit, Leipzig-Züricher 286f, 317, 383–388, 482, 513f Literaturwissenschaft 161, 207, 284, 287ff, 398–401, 456, 463, 465, 514, 517, 519 Liturgie 550 logos 111f, 114, 135 Lust 24, 43, 73, 137f, 176, 212f, 239, 242, 263f, 271f, 274, 318, 471, 474, 480f – negative 12, 156 – Unlust 508, 527 – und Unlust 19, 155f
kairos 39ff, 44, 99f, 103, 141f, 550 Katharsis 137, 157, 226 Kirche 289, 291, 355, 389, 391, 393, 498, 518, 526, 528 – Entkirchlichung 526 Kirchenbau/-gebäude 218, 526, 548, 550 Kirchenlied 1, 299, 323, 392f Klarheit 252, 265, 271, 274, 307 – intensive und extensive 253, 276, 358 Klassizismus 30, 49, 132, 163–169, 174, 181, 200, 413 Kontemplation 62, 204, 242f, 355, 392, 446, 496, 504, 551 Kreuzestheologie 8 das »Kriechende« 364f Kult 154, 415, 432f, 513, 526, 547 Kultur 11f, 20f, 169f, 194, 230, 236, 238, 240, 258, 356, 405, 428, 525f, 528, 546 – Religionskultur 320, 393, 501, 515, 518, 528, 551 Kulturgeschichte 189, 238, 415, 531–534 Kulturhermeneutik 525, 528, 549 Kulturphilosophie 11f, 414 Kunst 6ff, 21f, 169f, 188, 191, 195, 200, 207, 240f, 253, 278f, 289f, 305, 361,
magnanimitas/magnanimité 66, 173f, 176f, 179, 181, 227, 304 – aesthetica 304, 387 magnitudo animi 63, 66, 72–79, 92, 95f, 110, 120f, 153, 173, 227 Majestät 18, 145, 147, 188, 194, 218, 314, 335f, 339, 341, 353, 367f, 384, 412f, 427, 430, 432, 478, 480 Malerei 211, 498, 521, 548 mania 37f, 58, 84, 155 mashal 401f, 416, 427 Medien 523 – religiöse 321, 393, 499, 502
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Sachregister
megalophrosynê 46, 61–66, 72, 79f, 83, 92ff, 100, 109, 125, 140, 151f, 173, 227f, 304, 315, 411 megalopsychia 66, 68f, 80, 115, 227 Mensch – Adel/Hoheit 70, 83, 85, 88ff, 92ff, 103, 153, 178, 296–305, 308f, 312–316, 323f, 494, 535 – Bestimmung 76, 83, 88–92, 94, 129, 137, 150, 154, 158, 294, 296, 299–306, 309, 312, 314ff, 323, 454, 491, 493f, 496, 507, 509, 511, 519, 535ff – Exzellenz 74–79, 83, 93f, 177ff, 297f, 303 – ganzer 279, 509, 516 – Größe 83, 85, 87, 91, 94, 177, 216, 218 – Schwäche 191f, 312, 375, 441, 444 – Wesen 72–79, 82–94, 108, 153, 177ff, 228, 254, 296–309, 312–316, 322f, 378, 383ff, 450, 452, 458, 511, 534f, 546 – Zwischenstellung 86f, 94, 154, 227, 254, 298, 315, 491, 536 Menschenbild 93, 296, 299, 306, 312 Menschenwürde 68f, 71–79, 83, 91ff, 100, 103, 120, 122, 179, 297–303, 308, 314ff, 496, 509, 534f Metapher 58, 127, 255, 364f, 418, 427f Metaphysik 2f, 7f, 13, 94, 149, 260, 262, 267, 273ff, 277, 286, 313f, 316, 475, 503, 527f, 531 Metaphysikkritik 2, 10–13 das Metaphysische 2–13, 88, 93f, 100, 108f, 152–158, 233, 312, 344, 516, 527, 534 Metriopathie 110, 112, 117 Mitleid 36, 101, 144, 222, 226, 377f Mitteilung 249, 261, 368, 420, 458 – religiöse 308, 331, 347, 351, 356, 383, 457f, 464, 515, 542 Moderne 7, 14, 15, 21f, 194, 229, 289, 330, 516f – Kunst/Ästhetik in der M. 5ff, 166– 170, 198, 229, 465, 526 – postmetaphysische 3, 6–13 – Religion in der M. 7, 9, 15, 16, 22, 25, 289, 349, 393, 499, 517–523, 526ff, 535, 545–551 – Theologie in der M. 17, 26, 238, 396, 461, 518f, 542–551
Modernisierung 516f – des Christentums 517, 527 – des Erhabenen 534f – der Religion 330, 517–523, 527f, 535 – der Theologie 238, 461, 518f, 522, 527f, 549ff Monotheismus 531, 545 Moral 60, 62, 89, 152, 176f, 179, 182, 190, 239f, 260, 289, 335, 360, 376, 410ff, 415, 429f, 486–495, 509, 534f movere 35f, 44f, 52, 241, 267f, 272, 374, 466 Musik 21, 258, 260, 498, 521, 548, 550 – geistliche 21, 241, 498, 526, 550 Mut 113f, 123 mysterium fascinosum et tremendum 18 Mystik 16, 185, 297, 299 Mythologie 256, 319, 323, 387, 482 Mythos 86, 132, 139f Nachahmung 130f, 137, 212, 224, 257, 374, 445–450, 471ff, 478f Natur – als Gegenstand der Poesie 205, 208, 220, 281, 367, 369f, 428, 432f, 443, 539 – als Offenbarungsbuch 374, 440, 492 – und Kunst 45, 54, 367, 370, 374f, 404– 410, 415, 423ff, 448f, 458, 521 Naturbetrachtung 70, 206, 281, 361, 366, 369f, 373–376, 432, 492, 525, 548 Naturerfahrung 6, 85, 90f, 155, 198, 208f, 211, 213, 222, 225, 303, 369f, 374, 440f, 525f, 548 Naturfrömmigkeit 373f, 376, 432, 526, 528, 547ff Negation 6ff, 17, 265, 439–444, 538–542, 549 Negativität 7ff, 541 Neologie 342, 488, 500, 502, 503, 515 das Neue 209, 224, 227 Neues Testament 246, 259, 333, 358 Neuzeit 3, 21f, 189, 289, 518 Nichtigkeitsbewusstsein 4, 6, 18, 219, 281, 454, 471, 490, 538 das Numinose 18–21, 181, 184–187, 190, 194, 196, 334, 344ff, 523, 545f Ode 188, 195, 245, 255, 423, 426, 497, 513
Sachregister
Offenbarung 8, 14, 70, 192, 244, 280, 301, 387, 399f, 430f, 440, 450, 474– 480, 482, 489–495, 523, 533, 535 Offenbarungstheologie 14, 192, 353, 457 officia oratoris 35f, 42ff, 52 Orientalismus 409 Orthodoxie, altprotestantische 239, 275, 298–301, 308, 322, 332f, 340, 343, 352ff, 459ff, 515 – Reformorthodoxie 275, 297, 354, 392 Paradox 14, 17, 39, 59, 165ff, 198, 217, 509, 511 Parallelismus membrorum 395f, 402, 421f, 463 das Pathetische 52, 100, 142ff, 368 Pathos 31f, 37f, 40f, 50–63, 84, 91, 94– 112, 120, 124–141, 144–148, 156f, 404, 424, 446 – »edles P.« 54, 98, 100–108, 134ff – »enthusiastisches P.« 50, 101, 107– 110, 113, 124–136, 139f, 145, 151, 156f, 201, 204, 206 – ästhetische Pathologie 267 peithô 35f, 42 Peri Hypsous – Aufbau 30ff, 45, 50, 64 – Fünf-Quellen-Schema 30ff, 50, 52, 63, 173, 419, 434 – Übersetzungen 31, 163f, 166, 174, 178, 187, 231, 285, 294, 315, 332, 337, 356, 360, 469 – als Bezugstext der neuzeitlichen Ästhetik 23–26, 160–170, 174, 187, 196f, 205, 210, 214ff, 220f, 224ff, 245f, 285, 294ff, 304, 325, 329–338, 342, 345f, 349–352, 364, 368–371, 386, 417, 435, 468f, 490, 528, 529, 539 Peripatos 110, 112, 116–124 Pflicht 274, 305–311, 358, 385, 389, 391 phantasia 36, 38, 55, 56, 64, 99, 136, 334 Philosophie 1f, 5, 9, 13f, 72, 161, 237ff, 243, 255, 261, 292, 321, 410f, 465, 487, 530f Pietismus 230, 235–243, 247f, 273ff, 280ff, 287f, 291, 293, 297, 306–311, 324, 328f, 335, 338, 353f, 392, 515ff – hallischer 236–241, 248, 280, 285ff, 297ff, 311, 328f
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– und Aufklärung 231–235, 238ff, 243, 248, 261, 285, 293, 302, 306, 312, 316, 324, 332, 512 Plötzlichkeit 37, 44, 55, 58, 60, 98, 105, 125, 130, 142, 146, 157, 165, 179f, 216, 374, 404, 408, 423, 453 Poesie 55f, 153, 166, 169f, 197, 200, 240ff, 251, 253, 286f, 387f, 404–416, 422, 431f, 448f, 453, 471ff, 487, 505, 513f, 521 – alttestamentliche 395–464, 471, 475ff, 517f, 531–534, 538–542 – Funktion 153, 241–244, 253, 260, 279– 282, 292, 306, 321ff, 344, 358, 382, 389–392, 408–416, 474–483, 487ff, 494–499, 513–516 – »heilige P.« 22, 293, 355, 395, 469, 476, 481f, 484, 490, 492, 494–498, 501ff, 505f, 510, 513, 515, 531, 533, 539 – »heilige« und »höhere P.« 480, 484– 495, 498f – religiöse 241ff, 247, 278–284, 287, 320–323, 390ff, 436, 451, 480–483, 495–499, 513ff – und Prosa 199, 331, 421, 463, 475, 503, 505 – und Religion 241–244, 260, 317–323, 389–393, 411–416, 431f, 474–484, 492–507, 513–519, 530ff – und Theologie 288, 389–393, 482f, 499, 506, 513 Poetik 25, 30, 51, 97, 153, 157, 163, 166, 168, 175, 197–203, 207, 211, 221, 241, 243, 258, 260, 294, 381, 395, 465, 475, 478, 480, 513, 516 – des Erhabenen 52, 180, 225, 292, 297, 324, 327f, 360, 495, 501, 514, 517 – und Bibelhermeneutik 193ff, 325–328, 343, 351f, 398–401, 456–464, 517f, 527 Poetologie 1, 149, 174, 193ff, 247, 284, 294, 351, 462, 484, 528 Politik 10–13, 429f Port-Royal 187, 190 Postmoderne 3, 11ff, 15f Pracht 41, 53, 126, 140–148, 155, 173, 216, 295f, 301, 324, 367f, 373, 381ff, 433, 501, 539 Predigt 258ff, 278f, 347ff, 364f, 392f, 482, 515f, 550
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Sachregister
prepon 40, 144 Primitivismus 409, 414 probare 35, 42, 430 prodesse und delectare 410f, 475, 487 Produktion 54–60, 98ff, 136, 151, 194ff, 345ff, 351, 368, 378, 484, 511, 520 Produzent 62, 91ff, 104–107, 151, 304f, 319, 378f, 450, 452, 484 Psychologie 19f, 202, 217, 238, 413, 457, 499, 530ff, 543f – antike 109–138, 142, 146f, 150, 156f, 185, 314, 516 – Schulpsychologie 215, 223, 242, 248– 254, 262–265, 267, 275, 278, 282, 305, 323, 356ff, 366, 379, 384f, 475, 486, 515 Querelle des Anciens et des Modernes 164, 169f, 196f, 205, 313 Rationalisierung 166ff, 290, 527 Rationalismus 166ff, 234, 238, 243, 285, 317, 330f, 334, 388, 459, 513f Rätsel/Verrätselung 8, 46ff Religion – archaische 535, 542, 545, 547 – Ersatzreligion 17, 22, 520f, 549 – implizite und explizite 522f, 544, 547ff, 551 – Krise 2, 8, 500ff, 515, 519, 527 – Lebendigkeit 273ff, 278–282, 466, 513, 518, 527, 530, 533, 551 – Lehre und Erleben in der R. 194, 273– 282, 352–355, 430f, 459–464, 498ff, 503ff, 515–518, 522f, 544f – natürliche 282, 415, 500 – natürliche und geoffenbarte 301, 480, 489, 492–495 – Naturreligion 531, 533, 545 – Privatreligion 497, 513 – Transformation 17, 282, 355, 514–518 – »überlehrmäßige« Dimension 194, 352f, 518, 522f, 544f Religionsbegriff 154, 193, 522 Religionsgeschichte 20, 508, 514, 531, 542, 545 Religionskritik 2, 313f, 322, 523 Religionsphänomenologie 18–22, 525, 544, 549
Religionsphilosophie 16, 26, 530, 544, 551 Religionspsychologie 350, 511f Religionstheologie 16, 26, 461, 522 Religionstheorie 273, 344, 386, 394, 398, 452, 522 Religiosität 9, 154, 288, 400, 517, 522f, 528, 542, 548f, 551 Repräsentation 151, 157, 190, 194, 225, 352, 357, 451f, 477, 510, 514, 539 Rezeption 92, 100f, 104, 128ff, 135ff, 156f, 372f, 377 Rezipient 91, 129f, 377, 379 Rhetorik 24f, 30, 35, 44f, 52, 63, 95ff, 108ff, 149f, 160, 163ff, 177, 241f, 258ff, 361, 404, 417f, 463, 467, 528 – des Erhabenen 44, 52, 62, 91 Romantik 6, 519, 529 – Frühromantik 519, 521f, 531 – Präromantik 398, 408 Rührung 203, 225, 241f, 259, 262, 264, 267ff, 272, 281, 291, 319, 321, 342, 495, 498, 513, 521 Sakralisierung der Kunst 288–291, 318, 328, 500, 513ff, 519 – Desakralisierung 290, 318, 353, 398, 457f, 461f, 517 – Resakralisierung 355, 457, 460 Säkularisierung 17, 22, 189, 284, 289ff, 330, 339, 392, 399f, 455, 457, 459, 515ff, 520 Schau(d)er 18, 39, 51, 137, 185, 205, 209, 211, 213, 220, 345, 355, 384f, 392, 440ff, 451f, 454, 458, 476–479, 481, 500, 512, 532f, 543f, 548 – »entzückungsvoller Sch.« 384f, 392 – »heiliger Sch.« 18, 220, 344–349, 351f, 354, 442, 476f, 479, 507, 509, 511, 529, 536, 541, 544, 548 das Schöne 82, 84ff, 88, 144, 196, 209, 212, 244–248, 259ff, 264ff, 270ff, 277, 318–321, 373, 398f, 401, 406, 412, 428, 430, 461, 472f, 475–478, 501f, 540 – Idee 84f – und das Erhabene 5, 12, 20, 43, 167ff, 176, 181f, 198f, 208, 211, 215ff, 221, 227, 230f, 245f, 304, 321f, 368, 426f, 514, 525
Sachregister
– »moralische Schönheit« 482, 486–493, 509 Schöpfung 186, 228, 246, 281f, 296–299, 301, 303, 308, 312, 358, 373f, 437f, 440, 492, 539 – poetische 288, 357, 472f, 476f, 480, 485 Schöpfungserzählung 25, 186ff, 246, 298, 329, 337f, 340, 345f, 414 Schrecken 18, 61, 133, 157, 183, 198ff, 203, 206, 209, 212–218, 221f, 226, 345, 366ff, 370, 377f, 380, 384f, 441f, 444, 446, 454, 476, 508, 527 das Schreckliche 38, 60, 133, 137, 168, 176, 183, 212–219, 222, 359, 368, 382, 384, 535 Schulphilosophie 223, 230, 234, 237f, 248f, 259, 282, 285f, 307, 310ff, 316, 320f, 323, 357, 359, 366, 384f, 513, 515, 530 Schweigen 65, 92, 149, 174, 481, 486, 505ff Schwulst 42, 145, 349, 364, 390, 501f Seele 5, 45f, 49, 64, 82–94, 110–118, 122ff, 128f, 134ff, 144f, 154ff, 178, 203, 262–265, 279–282, 312, 359–362, 366f, 369, 383, 405, 407, 430f, 439f, 443f, 450, 452, 459f, 479f, 490–494, 500–505, 544 – Adel/Hoheit 83, 88, 90, 98, 114, 135ff, 154f, 178ff, 185, 196, 297ff, 308, 313f, 494ff – ganze 466, 485f, 492, 494f, 504ff – Sorge für die S. 306–311 Seelengröße 31, 66, 72, 77, 83, 89f, 94– 97, 107, 120, 156, 173–181, 195, 224, 304f, 313–316, 381, 386 Seelengrund 174, 305, 447, 551 Seelenheil 311, 488, 493 Seelenruhe 72f, 181, 215 Seelenteil 86, 111–114, 124ff, 129, 135, 151, 277, 308, 357 Seelenvermögen 36, 111ff, 121f, 124, 129, 242, 252, 254, 262, 276f, 307, 309, 311, 356f, 484, 514, 535, 545 Seelsorge 308f, 311f Selbstachtung 68, 79f, 85, 178f, 185 Selbstbehauptung/-erhaltung 111f, 114ff, 119, 122f, 216 Selbstgefühl 45f, 68ff, 122, 157, 178f, 184f, 216, 218, 378, 534, 536, 546
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Selbsterkenntnis 85, 88f, 447, 449, 452 Selbstverlust 178, 441 Selbstverständnis 90, 93, 178f Semiotik 362, 381, 510 Sicherheit 212f, 215f Sinn 6ff, 520, 522, 525, 547 – absoluter 6 Sinnlichkeit 250–260, 264, 267–272, 274f, 279, 443, 516, 546 – des menschlichen Geistes 244, 254, 279, 442, 444, 451, 536, 545 – des religiösen Bewusstseins 443f, 451f, 455, 511, 530, 551 das Sinnreiche 49, 372, 388, 484 Sittlichkeit 72, 83, 240, 410f, 509, 540 Sophistik 35, 42, 109 Spiritualität 154, 526, 547f – ästhetische 8f Sprache 129, 150, 346, 358, 403, 405, 419, 453f, 457, 463, 466 – religiöse 467, 516, 540 – und Religion 190, 192, 432, 452, 456, 505f, 516 Sprachrhythmus 133, 333, 405f »Spruchhaftigkeit« 403, 406, 408, 421 Staunen 18, 37ff, 183f, 196, 205, 209, 211, 213, 220, 222, 295f, 366–369, 372ff, 377, 380, 441, 471, 476, 478, 493f, 504, 508 – das Erstaunliche 34, 36, 38, 183 Sternenhimmel 11, 218 Stil 29, 43, 50, 53, 82, 108, 130–136, 147– 150, 157, 166, 347, 402–408, 416–426, 463 – erhabener/hoher 140–148, 151, 155, 191, 339, 349, 416f – heiliger/religiöser 346ff, 353ff, 550 Stilfigur/-mittel 31, 41, 47, 58f, 105ff, 125, 130ff, 144, 149, 165, 406f, 424, 428, 453 Stiltheorie 32, 130–134, 149f, 336, 403 Stimmigkeit 8, 41f, 44, 270, 272 Stimmung 22, 46, 49, 547f Stoa 62, 66, 83, 86, 89, 93, 153, 157, 303, 509 – stoische Ethik 52, 62f, 71–74, 79, 93, 95f, 103, 110, 116, 120, 122f, 135, 153, 156, 181, 297 – stoische Psychologie 110ff, 118f
610
Sachregister
Stolz 29, 45f, 61, 91f, 101, 157, 174, 176ff, 181f, 196 Subjektivität 238, 393, 449, 452, 456, 546–551 Subjektivitätstheorie 20, 531, 536, 544 sublime, le/the 3f sublimitas – affectuum 420, 434, 445f, 448, 452ff, 456, 458 – conceptuum 419ff, 433ff, 437, 444, 451–455, 458 – in dictione 418–421, 426, 452ff, 456, 458 – in sensibus 418ff, 452, 455 Sujet – des Erhabenen 145ff, 150f, 172f, 195f, 202–206, 227, 244, 260, 316–322, 350, 360, 366f, 370–377, 380–384, 435, 450, 480, 510–513, 527, 530, 538 – religiöses 147, 151, 203ff, 244, 247, 278–282, 288ff, 311, 318ff, 392f, 435f, 450f, 461f, 482ff, 496, 506f, 510–516, 520, 530 Sünde 239–242, 247, 280, 298–302, 446, 494 Symbol 91, 427, 431, 433, 438, 540f, 544–551 Symbolisierung 429f, 443f, 452, 455, 541–544, 549 Symboltheorie 432, 437–444, 451f, 455, 459, 463, 510f, 540–544, 547, 549f »Synhomopathie« 137f, 446, 452 Tapferkeit 66, 71f, 77ff, 96, 102, 114, 117f thaumazein 39, 183f, 200, 367, 380 Theologie 6, 13–18, 236ff, 244, 279f, 285, 316, 332, 353, 389ff, 400, 481f, 518f, 522, 528, 544, 549 – Erfahrungstheologie 238, 353 – negative 9, 15ff, 455, 506, 525 – protestantische 324, 330, 333, 340, 343, 350–354, 459ff, 515, 518, 549 – und Ästhetik 9, 17, 19, 233, 241–244, 254, 260f, 276–282, 288, 292, 312, 324, 330, 332, 339, 349, 389–393, 399, 456f, 460ff, 464, 482f, 499, 506, 513, 518, 525, 551 – und Religion 273f, 277–280, 389–393, 460f, 482f, 513, 515, 528
thymos 110–137, 141f, 146f, 151, 156f Tiefe 5, 47, 49, 63, 90, 128f, 157f, 175, 179, 184, 190, 196, 249, 352, 408, 410, 440, 450, 509, 516f, 520, 525, 527, 531, 548 Tiefsinn 204, 286, 372, 377, 485 Tod 51, 66f, 73, 79, 98, 100, 102f, 121, 125, 181, 216, 491 Todesverachtung 77, 103 Totalitarismus 12f Tragödie 39, 51, 120, 124, 131, 137, 181, 223, 226, 343 Tragödientheorie 60, 137, 156f, 180, 227, 229, 377 Transzendenz 55, 88, 91, 191, 289, 431, 451, 522f, 546ff, 551 Transzendenzstreben 108, 140, 153, 156, 452, 472 Transzendierung 109, 136, 140, 290f, 318, 435f, 439–443, 451f, 455, 467, 472f, 477, 495, 520, 550 Triebfeder 262ff, 271, 273f, 277, 300, 305 Tugend 24, 68, 72, 78–81, 93, 102, 106, 146, 153, 156, 177f, 180f, 226, 243f, 272, 303f, 312, 325, 357–361, 377, 382, 384, 391, 406, 410f, 480 Tugendethik 24f, 63, 72, 78, 80, 82, 96, 149, 152, 173f, 180, 195, 227, 314 Übermacht 7f, 18, 44, 213, 350, 377 Übermaß/das Übermäßige 34ff, 38, 41, 57–61, 91, 105–109, 122, 126, 130f, 136, 376 das Übermenschliche 53, 55, 86, 92ff, 99, 108f, 121f, 136, 139f, 146f, 153, 188, 222, 322, 350, 376f, 381 Überredung 35, 42 Überschwang 105, 108f, 128f, 136, 138, 154, 506f das Übersinnliche 2f, 436, 473, 536, 546, 548, 550 Übertreibung 42, 58, 109, 127, 363 Überwältigung 36ff, 45, 94, 374, 384, 438 das Überweltliche 18, 84–93, 108f, 136f, 140, 154, 158, 223, 227f, 431, 473, 488f, 493 Überzeugung/das Überzeugende 34–37, 42–45, 51ff, 157f, 178, 199, 271, 322, 340, 352, 459
Sachregister
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Unbestimmtheit – des Erhabenen 2, 4, 19, 149f, 169, 183f, 218, 224, 334, 344, 349, 352, 417, 469f, 522ff, 543f, 547f – der erhabenen Empfindung 150, 178, 184f, 194, 345, 352f, 385, 522ff, 551 Uneigentlichkeit 204, 390, 408, 427–432, 444 Unendlichkeit 216, 218, 434, 440–444, 450–454, 519, 523, 537f, 543 – und Endlichkeit 6, 16, 315–318, 321– 324, 375, 444, 451f, 512, 514, 522, 529, 538, 541, 544f, 547 Unendlichkeitsbewusstsein 6, 444, 525, 541, 544, 547f Unendlichkeitsreflexion 315, 444, 454, 491 Unendlichkeitssinn 16, 108, 316, 323, 450, 452, 458, 523, 526 Unermesslichkeit 210, 435, 438f, 440ff das Ungestüme 221ff, 225 das Ungewöhnliche 4, 29, 37ff, 44, 59, 61, 88, 105, 145, 179f, 183, 200, 204, 209, 212f, 222ff, 363, 366–372, 377, 392, 406, 414, 453, 473, 525, 550 Unmittelbarkeit 128f, 157 – religiöse 547, 551 Unordnung 57–61, 108, 130, 136 – »schöne U.« 166, 188, 195 das Unsagbare 17, 169, 412f, 433, 505ff das Unsichtbare 223, 376, 381, 430, 436, 476f Unsterblichkeit 34, 67, 84–87, 90ff, 153f, 300, 303f, 430, 465, 471, 474, 487f, 490–496, 505ff, 509 Unterbrechung 4, 290, 520 Unterhaltung 196, 211, 213, 485 Unverfügbarkeit 55, 60, 98, 182, 546 Ursprung – der Dichtung 404–416, 423–426, 445f, 448f, 457f, 531 – der Menschheit 414, 532ff Urteil 17, 36f, 43, 51f, 127, 157, 323 Urteilsvermögen 20, 36, 270
– des Ethischen 244, 272, 429, 480, 491, 514 – des Religiösen 21, 139, 244, 256, 259f, 272–279, 282, 292f, 386–390, 393f, 429–433, 436ff, 442f, 451, 458f, 475– 481, 510–522, 529ff, 538f, 542f, 549f Vergnügen 73, 157f, 198, 212, 215, 222, 263–266, 270ff, 288ff, 320, 369f, 383f, 447, 458f, 461, 514 Vermittlung 227, 258, 291, 341 – des Christlichen/Religiösen 327, 354, 392f, 431, 476, 483, 499, 512–518, 527, 530, 533, 546, 549ff Vernunft 11f, 20, 76, 81, 110ff, 114, 122, 129, 166, 280, 341f, 351, 372ff, 386– 390, 435, 498, 535, 543–546, 550 Versöhnungsphilosophie 8–12 Verstand 4, 252, 280, 292, 356, 443f, 493, 513f – und Herz 314, 410, 484f, 494f, 500, 504, 516 Verwunderung 39, 183, 205, 209, 227, 295, 361, 366f, 369–373, 380 Vollkommenheit 247, 250, 262–265, 269–272, 276, 281, 306–312, 316, 320, 323, 326, 341, 356f, 360, 472f, 478, 533 – ästhetische 221, 248, 253, 265, 268– 272, 277, 294, 307, 310, 326, 384, 392, 473 – formale und materiale 307, 309ff, 326, 339, 341 – Gott als ›vollkommenstes Wesen‹ 309f, 316, 320, 322, 344, 440, 529 – Vervollkommnung 306–312, 316, 321 Vorstellung 240ff, 249–253, 258, 262– 271, 275–279, 307, 312, 323f, 356–367, 382–390, 419f, 432, 439, 443, 451–455, 542ff – religiöse 228, 275–282, 316f, 350, 360, 382–390, 437ff, 451–455, 458f, 498, 511, 515f, 523, 529, 542f, 549 Vorstellungskraft 263, 277f, 312, 356ff Vorstellungsvermögen 277, 357, 360, 535, 543
Veranschaulichung 422, 434 – des Abstrakten/Geistigen 244, 248– 261, 268–272, 278, 292f, 358, 385–390, 429, 442f, 475, 502, 513, 521f, 543
Wahl der Nebenumstände 41, 224f, 365, 434–438, 443, 453f, 473 Wahrheit 70f, 76ff, 86, 119, 249f, 253– 261, 271, 356, 475, 501f
612
Sachregister
– ästhetikologische 254f, 276 – ästhetische 253f, 257, 259f, 270f – religiöse/christliche 313ff, 322, 398, 444, 475f, 493, 498, 518 Wahrnehmung 212, 215, 270, 354, 388, 522, 550 Wahrscheinlichkeit 224, 256, 257, 260, 388, 483 Weltenthobenheit 87–91, 98–101, 135ff, 546 Weltverachtung 69, 71, 96, 121 Wert 68–71, 80, 103, 105, 111f, 122f, 136, 245, 253, 318, 373, 377, 380, 491 Werturteil 39, 85, 111f, 120, 122, 129, 156, 373, 377, 380 Widerfahrnis 54–60, 98, 101, 107, 133, 137f, 546f, 550 Widerstand 7, 101–108, 112, 114, 119, 124, 135f, 156 Wille 4, 125, 136, 261–264, 293, 302, 358, 366 Wirkung – affektive 36–39, 42, 44, 51, 60, 137f, 149f, 182, 197–206, 348, 359f, 370f, 379–385, 417f, 440f, 444f, 456, 460, 463, 479, 496, 508–513, 516f, 527, 532, 543f
– des Erhabenen 34–39, 44–49, 91f, 129f, 136ff, 149ff, 154–158, 177–185, 194–206, 212–222, 227f, 317–324, 350f, 366ff, 379f, 383ff, 439–444, 451f, 476f, 485–489, 496, 507–512, 535ff, 541–548 – Intensität 4, 36, 43ff, 99, 141, 155, 216, 393, 397, 499, 503, 507, 533, 551 – Intensität und Qualität 100, 155, 182, 184f, 195ff, 203–206, 213f, 228f, 350f, 442, 454, 508ff, 527f Witz (ingenium) 388, 471, 474, 484f Wohlgefallen 43, 49, 97, 169, 182, 199, 211, 216f, 263, 290, 487 – interesseloses 267, 270, 272 Wort Gottes 191, 242, 296, 326f, 339f, 354 das Wunderbare 38f, 41, 165, 172, 177f, 183–186, 194, 220, 223–228, 317f, 369f, 381, 383, 521, 543 Zeichen 86, 90, 258, 275, 353, 362, 430, 453 Zorn 60, 65, 103, 113–126, 174, 446